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German Pages 282 Year 2016
Christian Wendelborn Der metaethische Relativismus auf dem Prüfstand
Practical Philosophy
Edited by Herlinde Pauer-Studer, Neil Roughley, Peter Schaber, and Ralf Stoecker
Volume 21
Christian Wendelborn
Der metaethische Relativismus auf dem Prüfstand
ISBN 978-3-11-047743-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048718-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048654-4 ISSN 2197-9243 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Das Nachdenken über philosophische Fragen und Probleme lebt von Diskussion und kritischer Auseinandersetzung. Ich hatte das Glück, bei der Beschäftigung mit dem Thema dieser Untersuchung von vielen Personen unterstützt zu werden. Ulla Wessels, Christoph Fehige und Holger Sturm haben mich mit kritischen Ratschlägen und Kommentaren zu zentralen Punkten meiner Arbeit begleitet und ermutigt. Ich möchte ihnen dafür ganz herzlich danken. Von Susanne Mantel, Stephan Padel, Peter Ruhrberg und Eva Schmid habe ich in zahlreichen Diskussionen profitiert und gelernt. Auch von Hannah Altehenger, Vuko Andrić, Rüdiger Bittner, Jochen Briesen, Stefan Fischer, Cord Friebe, Axel Honneth, Werner Konitzer, Sebastian Köhler, Michael Münch, Oliver Petersen, Jacob Rosenthal, Antje Rumberg, Stephan Schweitzer, Titus Stahl, Peter Stemmer, Tatjana Vi˘sak, Marcus Willaschek habe ich wichtige Kommentare und Verbesserungsvorschläge erhalten. Für ihre persönliche Unterstützung und Hilfe bei der Fertigstellung der Arbeit danke ich Kai Angermann, Lars Aulbach, Marius Kalfelis, Rene Kaiser, Il-Tschung Lim, Sang-Min Park, Marianne Razafindrafafy, Arnim Streek, Mériem StreekDiouani, Steffen Wendelborn, meinen Eltern Christa und Horst Wendelborn und meiner Tochter Amandine. Rafael Hüntelmann danke ich für die Vermittlung des Kontakts zu DeGruyter. Den Herausgebern und den Gutachtern bei DeGruyter möchte ich für die Aufnahme in die Reihe „Practical Philosophy“ und insbesondere Gertrud Grünkorn und Maik Bierwirth für die gute Zusammenarbeit und Betreuung herzlich danken. Ein großer Dank geht auch an Olena Gainulina, die mir bei der Fertigstellung des Manuskripts stets zur Seite gestanden hat.
Inhalt Danksagung | V 1 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung | 1 Motivation für die Arbeit | 1 Argumente gegen den Objektivismus | 3 Metaethischer Relativismus | 4 Aufbau der Arbeit | 7
2 2.1 2.2
Moralischer Objektivismus und Relativismus | 10 Die Vorstellung eines moralischen Objektivismus | 10 Formen des Relativismus in der Moral | 15
Teil I: Argumente gegen den Objektivismus 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
3.3.3 3.3.4 3.4
Argumente aus der Meinungsverschiedenheit | 25 Einleitung | 25 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? | 26 Hartnäckige moralische Meinungsverschiedenheiten | 33 Moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemisch gut situierten Individuen | 38 Zusammenfassung: Explanatorische Argumente aus der Meinungsverschiedenheit | 51 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? | 52 Mögliche fundamentale Meinungsverschiedenheiten | 52 Faktisch bestehende fundamentale Meinungsverschiedenheiten | 61 Das Argument aus den peer-disagreements | 64 Zusammenfassung: Epistemologische Argumente | 70 Schluss | 71
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Normativitätstheoretische Argumente I: Internalismus | 72 Einleitung | 72 Terminologische Vorbemerkungen | 72 Internalismus und Moralischer Objektivismus | 76 Das Argument aus der motivationalen Bedingung | 78 Ein Versuch zur Begründung der HTM | 85
3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2
VIII | Inhalt
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.7 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Smiths teleologisches Argument | 87 Das teleologische Argument und „besires“ | 89 Smiths Kritik an „besires“ | 95 Zusammenfassung | 101 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments | 101 Motivierte und unmotivierte Wünsche | 102 Kann das teleologische Argument erweitert werden? | 104 Schluss | 108 Normativitätstheoretische Argumente II: Normativität | 109 Einleitung | 109 Mackies Argument aus der Absonderlichkeit | 109 Inexplikable Normativität? | 114 Erster Einwand: Interne Gründe und Normativität | 118 Zweiter Einwand: Epistemische Gründe und Normativität | 124 Schluss | 133
Teil II: Metaethischer Relativismus 6 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3
Metaethischer Relativismus | 137 Einleitung | 137 Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit | 143 Formen des Relativismus | 149 Varianten des Sprecher-Relativismus | 151 Varianten des Assessor-Relativismus | 156 Zusammenfassung | 159
7 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2
Disagreement regained? | 163 Einleitung | 163 Der nicht-indexikalische Kontextualismus | 163 Der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane | 168 Assessment-Sensitivity | 169 Eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit: MacFarlane über Geschmacksurteile | 174 Die Pointe von Assessment-Sensitivity | 179 Schluss | 187
7.3.3 7.4
Inhalt
| IX
8 8.1 8.2 8.3 8.4
Der indexikalische Kontextualismus | 189 Einleitung | 189 Kontextualismus und Meinungsverschiedenheiten | 192 Kontextualismus und normative Gründe | 198 Schluss | 205
9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.4.1 9.4.2 9.5
Der indexikalische Kontextualismus: Einwände | 207 Einleitung | 207 Relativierte Urteile? | 207 Zuviel Wahrheit in der Moral? | 216 Ridges Einwand | 218 Hat der indexikalische Kontextualismus doch ein Problem mit Meinungsverschiedenheiten? | 218 Diskussion von Ridges Einwand | 221 Kontextualismus und fundamentale moralische Urteile | 226
10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6
Metaethischer und deskriptiver Relativismus | 234 Einleitung | 234 Zwei Formen des deskriptiven Relativismus | 239 How broad is the moral domain? | 243 Moral dumbfounding | 244 Kritik der Interpretation von Prinz | 247 Schluss | 253
11
Schluss | 256
12 12.1 12.2
Anhang | 262 Positionen: Objektivismus und Relativismus | 262 Weitere metaethische Thesen | 264
Literatur | 267 Register | 272
1 Einleitung Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, den metaethischen Relativismus auf den Prüfstand zu stellen. Zum einen untersuche ich, ob einige der zentralen Argumente gegen einen moralischen Objektivismus überzeugend sind und eine Rechtfertigung dafür bieten, den metaethischen Relativismus als alternative Position in Betracht zu ziehen. Zum anderen geht es mir um eine Auseinandersetzung mit der Annahme, der Relativismus stehe vor erheblichen theoretischen Schwierigkeiten, denen kaum begegnet werden könne. Die beiden Ergebnisse meiner Arbeit lauten: 1. Zwei zentrale Überlegungen, die die Ablehnung des Objektivismus und die Frage nach dem Relativismus motivieren, lassen sich nicht in überzeugende Argumente ummünzen. Eine Überlegung lässt jedoch durchaus einen begründeten Zweifel am moralischen Objektivismus zu und rechtfertigt die Suche nach einer alternativen metaethischen Theorie. 2. Der metaethische Relativismus bietet eine recht plausible alternative Theorie unserer moralischen Praxis, die in relevanter Hinsicht nicht-revisionär ist. Entgegen der Einschätzung vieler Philosophen steht der Relativismus nicht von vornherein vor unüberwindbaren theoretischen Schwierigkeiten.
1.1 Motivation für die Arbeit Die Motivation für meine Untersuchung speist sich aus einer bemerkenswerten Beobachtung: Einerseits erfreut sich die Ansicht, dass die Moral irgendwie relativ ist und dass moralische Fragen keine objektiven Antworten haben, außerhalb philosophischer Fachkreise großer Beliebtheit. Viele Menschen scheinen relativistische Intuitionen bezüglich der Moral zu haben, auch wenn sie diese Intuitionen nicht immer in systematischer Weise artikulieren können. Andererseits jedoch hat der Relativismus keinen guten Stand innerhalb der philosophischen Diskussion. Der Relativismus wird zumeist in ein paar Sätzen als völlig unplausibel beiseite geschoben. So wird oft angeführt, dass der Relativismus eine sehr kontraintuitive Implikation habe, von der dann angenommen wird, dass sie den Relativismus ins philosophische Abseits bringt: Fälle, die wir als moralische Meinungsverschiedenheiten verstehen, sind im relativistischen Bild nicht mehr als Meinungsverschiedenheiten zu verstehen, da in diesem Bild die Disputanten nur noch darüber sprechen, was ihre je eigene Moral als richtig oder falsch bestimmt. Bemerkenswert ist nun, dass – zumindest meiner Erfahrung nach – viele Menschen mit relativistischen Neigungen mehr oder weniger unbeeindruckt
2 | 1 Einleitung
von dieser philosophischen Kritik bleiben. Und das nicht, wie ich denke, weil sie starrsinnig sind, sondern weil sie den Eindruck haben, dass mit dieser Kritik letztlich nicht viel über ihre eigene relativistische Intuition ausgesagt ist. Denn zum einen ändert die (angebliche) Tatsache, dass der Relativismus eine kontraintuitive Implikation hat, nichts an ihrem Eindruck, dass der moralische Objektivismus unplausibel ist.¹ Zum anderen haben sie das Gefühl, dass ihnen der Philosoph hier eine Position anbietet, die ihre – wie sie möglicherweise zugeben würden – unklare relativistische Intuition nicht angemessen auf den Punkt bringt. Der Relativismus wird in der Metaethik zumeist als Kontextualismus präsentiert, wonach z.B. das moralische Urteil „Abtreibung ist moralisch falsch“ je nachdem, wer urteilt, eine unterschiedliche Bedeutung haben kann. Dieser spezifisch semantischen These zufolge urteilen oder sprechen moralisch Urteilende letztlich aneinander vorbei. Ich habe es nun sehr oft erlebt, dass Studierende, die ihre relativistische Neigung kenntlich gemacht haben, auf diese These reagieren, indem sie sagen: „Das ist eigentlich nicht das, was ich mit Relativismus meine!“ Auch wenn sie auf Nachfragen oftmals ihre Intuition nicht klar artikulieren konnten, so wurde doch deutlich, dass sie unter Relativismus eine Position verstehen, die divergierende moralische Urteile sowohl als relativ als auch als divergierend begreift. Diese Intuition wird auch in der Philosophie oft mit dem Stichwort „irrtumsfreie Meinungsverschiedenheiten“ auf den Punkt gebracht: Angenommen wird damit, dass sich Menschen in moralischen Fragen uneinig sein können, obwohl keiner der Opponenten einem Irrtum unterliegt. Dass alles andere als klar ist, wie diese Intuition konsistent artikuliert werden kann, ändert zunächst einmal nichts an der Tatsache, dass der Relativismus, der in der Metaethik diskutiert wird, diese Intuition gar nicht auf den Punkt zu bringen scheint. Die Position, die in der Metaethik als Relativismus bezeichnet wird, befindet sich demnach in einer misslichen Lage: Einerseits beschränkt sich das philosophische Interesse an dieser Position überwiegend darauf, ihre manifeste Falschheit zu demonstrieren. Andererseits scheinen die weit verbreiteten Zweifel am moralischen Objektivismus relativistische Intuitionen zu nähren, die diese Position scheinbar ohnehin nicht angemessen artikuliert. Ein zentrales Anliegen meiner Arbeit ist es deshalb, zu prüfen, ob der metaethische Relativismus aus dieser La-
1 Einen ähnlichen Punkt bemerkt (Schmidt2009), S. 118: Er spricht von einer gewissen Nonchalance, „mit der relativistische Positionen von einigen ihrer philosophischen Gegner gleichsam zwanglos und schlicht als falsch hingestellt werden. Es ist nachvollziehbar, dass sich mancher, der relativistische Neigungen hat, hiermit nicht zufrieden gibt. Für viele ist der Relativismus in der Ethik auch Ausdruck eines Unbehagens angesichts des ethischen Objektivismus. Dieses Unbehagen bleibt von Argumenten, die die Falschheit des Relativismus erweisen sollen, unbeschadet [...].“
1.2 Argumente gegen den Objektivismus | 3
ge befreit werden kann. Ist es möglich, eine theoretisch ernstzunehmende und plausible relativistische Analyse moralischer Urteile zu bieten, die zugleich die (vortheoretische) relativistische Intuition vieler Menschen angemessen artikulieren kann?
1.2 Argumente gegen den Objektivismus Bevor ich jedoch in meiner Arbeit dieses Anliegen verfolge, möchte ich die Motive für die relativistische Intuition untersuchen und der Frage nachgehen, ob sich aus ihnen philosophisch haltbare oder überzeugende Argumente ergeben. Ich denke, dass die relativistische Intuition vieler Menschen zunächst und vor allem eine anti-objektivistische Intuition ist. Der moralische Objektivismus ist in den Augen vieler abwegig oder nicht haltbar. Zwei Motive scheinen mir dabei eine zentrale Rolle zu spielen: Erstens stellt die Existenz von weit verbreiteten und tiefgreifenden moralischen Meinungsverschiedenheiten wohl eines der Hauptmotive für den Zweifel am moralischen Objektivismus dar. Wie kann es sein, dass Menschen so grundlegende und scheinbar unauflösbare moralische Meinungsverschiedenheiten haben, wenn es doch objektive Antworten auf moralische Fragen gibt? Zweitens besteht ein Unbehagen bezüglich der mit dem Objektivismus assoziierten Annahme, die Moral habe eine spezifische Autorität über Handelnde. Diese Annahme wird oft auf den Punkt gebracht, indem gesagt wird, dass moralische Fakten oder Tatsachen Gründe für Handlungen geben. Anders gesagt: Wenn es für jemanden moralisch falsch ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, dann hat er einen normativen Grund, diese Handlung zu unterlassen. Es ist nun allerdings eine weit verbreitete Vorstellung, dass Gründe für Handlungen instrumentalistisch zu verstehen sind, Gründe also letztlich immer von den Wünschen der Handelnden abhängen. Warum sollte jemand einen Grund für eine Handlung haben, wenn diese Handlung keinen einzigen seiner Wünsche zu erfüllen hilft? Wie soll es Gründe für Handlungen geben, die unabhängig von den Wünschen der jeweils Handelnden sind? Wenn es aber keine wunschunabhängigen Gründe gibt, dann muss die Moral entweder auch wunschabhängig sein – in dem Sinne, dass es für jemanden nur dann moralisch richtig ist, eine Handlung auszuführen, wenn diese Handlung dazu beiträgt, einen seiner Wünsche zu erfüllen – oder die Moral gibt von sich aus keine Gründe zum Handeln. Beide Optionen sind aber kaum mit dem common-sense-Verständnis der Objektivität der Moral vereinbar: Die Objektivität der Moral schließt aus, dass moralische Richtigkeit und Falschheit notwendig von den Wünschen Handelnder abhängen und dass moralische
4 | 1 Einleitung
Richtigkeit und Falschheit nicht von sich aus, d.h. intrinsisch, normativ oder autoritativ im Sinne von „Gründe-gebend“ sind. Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich untersuchen, ob die genannten beiden Motive in philosophische Argumente übersetzt werden können, die überzeugend sind. Den moralischen Objektivismus werde ich als eine metaethische Position verstehen, die versucht, ein vortheoretisches Verständnis einer objektiven Moral auf den Punkt zu bringen. Diesem Verständnis zufolge müsste für eine objektive Moral gelten, dass bestimmte Handlungen in bestimmten Situationen wirklich und unabhängig davon, aus welcher Perspektive man schaut, unterlassen oder getan werden müssen. Moralische Forderungen müssten demnach, will man die Moral denn als spezifische objektive Autorität begreifen, einen besonderen Handlungsdruck auf ihre Adressaten ausüben, einen Handlungsdruck, der wirklich und unabhängig von den Adressaten und denjenigen, die diese Forderungen „zitieren“ (also die moralisch Urteilenden), besteht. Diese ontologische Voraussetzung eines objektivistischen Moralverständnisses lässt sich philosophisch mit dem Begriff der „wunschunabhängigen Normativität“ moralischer Werte oder Tatsachen theoretisch fassen, wobei „wunschunabhängig“ hier bedeutet, dass die mit einer moralischen Forderung verbundene Normativität – ihre Gründe-gebende Kraft – nicht von entsprechenden Wünschen der Adressaten abhängig ist. In Verbindung mit einer semantischen und einer erkenntnistheoretischen These ergibt sich daraus die z.B. in der Aussage „Es ist einfach so, dass Person P Handlung h aus moralischen Gründen unterlassen muss“ zum Ausdruck kommende Ansicht des moralischen Objektivisten: (i) Moralisch Urteilende versuchen moralische Tatsachen mit einer spezifischen Normativität zu erkennen,(ii) es gibt solche Tatsachen und (iii) manchmal erkennen moralische Urteilende diese Tatsachen tatsächlich.
1.3 Metaethischer Relativismus Ganz unabhängig davon, wie sie zu der Frage stehen, ob Zweifel am moralischen Objektivismus angebracht sind, sind sich die meisten Philosophen darin einig, dass relativistische Entwürfe, wie Thomas Schmidt es formuliert, „von Anfang an mit erheblichen theoretischen Hypotheken belastet sind: Anhänger relativistischer Positionen stehen vor theoretischen Schwierigkeiten, von denen fraglich ist, ob ihnen begegnet werden kann.“² So sind sich moralische Objektivisten mit Irrtumstheoretikern und Non-Kognitivisten darüber einig, dass der Relativismus in
2 (Schmidt2009), S. 118.
1.3 Metaethischer Relativismus | 5
der Metaethik keine ernstzunehmende Position ist.³ Obwohl die Frage nach dem Relativismus die Moralphilosophie seit ihren Anfängen begleitet und auch oftmals als eine der zentralen Herausforderungen für das Nachdenken über Moral bezeichnet wird,⁴ ist die Auseinandersetzung mit dem Relativismus in der zeitgenössischen metaethischen Diskussion zumeist schnell beendet. Das liegt daran, dass der Relativismus in Form der oben genannten semantischen These auf den Punkt gebracht wird, welcher dann mit sprachphilosophischen Überlegungen ihre theoretischen Schwierigkeiten und vermeintliche Unplausibilität nachgewiesen wird. Der Relativismus wird damit auf eine Position festgelegt, die man auch als indexikalischen Kontextualismus bezeichnet. Für einen moralischen Satz wie „Abtreibung ist moralisch falsch“, den eine Person P in einem Kontext C ausdrückt, gilt diesem indexikalischen Kontextualismus zufolge: Indexikalischer Kontextualismus: Wenn S der moralische Standard der Person P ist, die in C den Satz äußert, dann drückt diese Person P in C die Proposition aus, dass Abtreibung relativ zu Standard S moralisch falsch ist. Das folgende Argument kann man als Standard-Argument gegen diese Form des metaethischen Relativismus bezeichnen: Wenn zwei Personen P und P* jeweils unterschiedliche Standards haben und P urteilt, dass Abtreibung moralisch falsch ist, und P* urteilt, dass Abtreibung nicht moralisch falsch ist, dann drücken beide Personen Propositionen aus, die miteinander vereinbar sind – ergo haben sie keine Meinungsverschiedenheit. Es scheint aber doch offensichtlich zu sein, dass P und P* unterschiedlicher Meinung bezüglich des moralischen Status von Abtreibung sind, wenn sie die genannten Urteile fällen. Daraus, dass der Kontextualismus diese kontra-intuitive Implikation hat, schließen die meisten Gegner des Relativismus, dass seine semantische Analyse schlicht falsch ist. Der zweite Teil meiner Arbeit setzt nun an neueren Entwicklungen in der sprachphilosophischen Debatte um den Relativismus an. Denn dem indexikalischen Kontextualismus stehen neue Entwürfe von relativistischen Theorien gegenüber, die gerade mit dem Anspruch antreten, das – wie ich es nennen werde – „Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit“ lösen zu können. So haben etwa Berit Brogaard, John MacFarlane, Max Kölbel und Peter Lasersohn relativistische Ansätze mit dem Anspruch entwickelt, die theoretischen Probleme des
3 Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit dem Relativismus durch den Irrtumstheoretiker Joyce in: Joyce (2001, 2011). Für die non-kognitivistische Seite siehe z.B. (Blackburn1998). 4 So wird das Thema z.B. auf dem Buchcover von (Harman1996) als „the key question of contemporary ethical theory“ beschrieben.
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Kontextualismus in verschiedenen Diskursbereichen zu vermeiden.⁵ Diese neuen Entwürfe sind zwar nicht primär bzw. nicht alle im Kontext der Frage nach einem plausiblen metaethischen Relativismus angesiedelt, sie sind aber auch für diese Frage einschlägig. Im deutschsprachigen Raum werden diese Theorien jedoch kaum in metaethischen Zusammenhängen diskutiert. Der metaethische Relativismus wird hier fast ausschließlich als indexikalischer Kontextualismus verstanden und kritisiert.⁶ Ich möchte mich daher im zweiten Teil mit den auch als genuin relativistisch bezeichneten Entwürfen vor allem im Hinblick auf die Frage nach einem metaethischen Relativismus und dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit auseinandersetzen. Allerdings ist die Theorienlandschaft mittlerweile einigermaßen unübersichtlich, so dass ich zunächst eine Taxonomie verschiedener Positionen vorstelle. Ich werde dann zwei Theorien – den nicht-indexikalischen Kontextualismus und den Wahrheits-Relativismus –, die sich vom indexikalischen Kontextualismus abgrenzen lassen, daraufhin untersuchen, ob sie das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit lösen können. Dabei werde ich den nicht-indexikalischen Kontextualismus in idealtypischer Form und den Wahrheits-Relativismus anhand des konkreten Entwurfs von John MacFarlane diskutieren. Auch wenn, wie ich darstellen werde, der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit auf gewisse Art und für meine Fragestellung angemessen lösen kann, möchte ich zeigen, dass es letztlich unnötig ist, den Weg mit den neueren Relativisten in unorthodoxe semantische Gefilde anzutreten. Neben diesen neuen relativistischen Entwürfen ist nämlich auch ein interessanter Ansatz entwickelt worden, der, wie ich denke, den indexikalischen Kontextualismus wieder in die Debatte zurückholt. Gunnar Björnsson und Stephen Finlay haben eine instruktive Strategie entwickelt, wie der metaethische Kontextualist mit dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit plausibel umgehen kann. Sie verfolgen dabei das Projekt, aufzuzeigen, dass der Kontextua-
5 Vgl. (Brogaard2008), (MacFarlane2007), (MacFarlane2014), (Koelbel2002), (Koelbel2009), (Lasersohn2005). 6 So sind die im deutschsprachigen Raum einschlägigen Auseinandersetzungen mit dem „moralischen“ oder „ethischen“ Relativismus von (Ernst2006), (Halbig2009) und (Schmidt2009) ausschließlich auf den Kontextualismus fokussiert. Ernst merkt zwar in einer Fußnote an, dass es neben der „indexikalischen Analyse“ den relativistischen Entwurf von Max Kölbel zu berücksichtigen gelte, er verweist aber darauf, dass er sich mit diesem Entwurf an anderer Stelle beschäftigen möchte, vgl. (Ernst2006), S. 337 Fn 3. Bisher ist keine Veröffentlichung von Ernst zu diesem Thema erschienen.
1.4 Aufbau der Arbeit | 7
lismus eine nicht-revisionäre Theorie unserer moralischen Praxis zu bieten hat. Unter einer „nicht-revisionären metaethischen Theorie“ möchte ich eine Theorie bezeichnen, die unsere moralische Praxis und unsere moralische Sprache im Großen und Ganzen rechtfertigen kann und sie nicht als wesentlich defizitär oder irrtumsbehaftet verstehen muss. Ich möchte aufzeigen, dass Björnssons und Finlays Ansatz die Ressourcen bietet, um einen plausiblen und nicht-revisionären metaethischen Relativismus in Form des Kontextualismus zu formulieren. Ihr Ansatz ist zudem in der Lage, eine angemessene Artikulation der angesprochenen relativistischen Intuitionen zu geben.
1.4 Aufbau der Arbeit Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich drei Argumente gegen den moralischen Objektivismus kritisch untersuchen. Kapitel 2 klärt zunächst, was im Fortgang der Arbeit unter Objektivismus und Relativismus in der Moral zu verstehen ist. Kapitel 3 widmet sich dem sogenannten Argument aus der Meinungsverschiedenheit. Ich werde verschiedene Argumente voneinander unterscheiden und darstellen, dass sie nicht überzeugend sind. In Kapitel 4 wird ein einflussreiches Argument für den Internalismus in Bezug auf normative Gründe untersucht. Dieses von mir sogenannte Argument aus der motivationalen Bedingung soll also die Ansicht begründen, normative Gründe seien abhängig von den Wünschen der Handelnden. Ich werde dort zunächst darstellen, inwiefern der Internalismus ein Problem für den moralischen Objektivismus darstellt, um dann das Argument kritisch zu durchleuchten. Ich werde zu dem Schluss kommen, dass auch dieses Argument nicht überzeugend ist. Die beiden ersten Kapitel kommen demnach zu einem – zumindest für jemanden mit relativistischen Neigungen – negativen Ergebnis: Zwei zentrale Argumente gegen den Objektivismus sind nicht haltbar. In Kapitel 5 werde ich dann ein Argument entwickeln, das meines Erachtens einen Zweifel am moralischen Objektivismus begründen kann. Dazu werde ich in Auseinandersetzung mit John Mackies bekanntem Argument aus der Absonderlichkeit erläutern, was mir am moralischen Objektivismus mysteriös erscheint. Insgesamt komme ich damit im ersten Teil zu einem geteilten Ergebnis, was die Überzeugungskraft zentraler Argumente gegen den Objektivismus angeht. Ich möchte dennoch das Ergebnis des fünften Kapitels als ausreichende Begründung für die Suche nach einem alternativen metaethischen Verständnis unserer moralischen Urteilspraxis verstehen. Die Frage ist, ob der Relativismus als Alternative in Betracht kommt.
8 | 1 Einleitung
Im zweiten Teil der Arbeit werde ich mich daher mit den Problemen und Aussichten eines metaethischen Relativismus beschäftigen. Ich werde in Kapitel 6 zunächst den Anspruch einer relativistischen Metaethik erläutern und klären, in welchem Sinne eine solche Metaethik revisionär ist. Der Relativismus, so wie ich ihn in dieser Arbeit diskutieren möchte, versteht sich als eine deskriptive Metaethik, d.h. als eine Metaethik, die unsere tatsächliche moralische Sprache zu analysieren und zu erklären beansprucht. Revisionär ist diese Metaethik in dem Sinne, dass sie dem vortheoretischen Verständnis der Moral einen Irrtum nachweist, der jedoch nicht auf die moralische Praxis zurückwirkt. So lautet zumindest die These des Relativisten. Dieser These zufolge ist unsere moralische Praxis, so wie sie ist, nicht revisionsbedürftig – einer Revision bedürftig ist lediglich das vorreflexive common sense-Verständnis der moralischen Sprache und Praxis. In den auf Kapitel 6 folgenden Kapiteln möchte ich danach fragen, ob und wie es dem Relativisten gelingen kann, eine Analyse der moralischen Sprache zu bieten, die keine oder kaum ausschlaggebende revisionäre Implikationen für unsere moralische Praxis hat. Die Kapitel 7 und 8 setzen sich daher vorrangig mit der Frage auseinander, ob und wie der Relativismus dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheiten begegnen kann, da dieses Problem dem eben genanten Anspruch des Relativismus offensichtlich entgegensteht: Unsere moralische Praxis scheint vorauszusetzen, dass es in Fällen wie jenem von P und P* eine Meinungsverschiedenheit gibt. Ich werde zunächst in Kapitel 7 neuere relativistische Entwürfe untersuchen, die sich von der semantischen Analyse des indexikalischen Kontextualismus abgrenzen. Ich komme dort zu dem Ergebnis, dass nur eine dieser neuen relativistischen Theorien – John MacFarlanes Wahrheits-Relativismus – das Problem zu lösen vermag. Dafür muss aber eine sehr radikale Abkehr von orthodoxen semantischen Vorstellungen in Kauf genommen werden. Ich werde dann in Kapitel 8 zeigen, dass es keinen Grund gibt, diesen Preis zu zahlen: Der Kontextualismus kann mit Überlegungen zur Pragmatik von moralischen Diskursen das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit lösen. Das möchte ich anhand der Ideen von Björnsson und Finlay vorführen. In Kapitel 9 werden dann verschiedene Einwände diskutiert, die Zweifel daran artikulieren, dass der metaethische Relativismus in Form des Kontextualismus, wie ich ihn mit Bezug auf Björnsson und Finlay in Kapitel 8 verteidigt habe, tatsächlich den Anspruch einlösen kann, eine nicht-revisionäre Analyse unserer moralischen Praktiken und Diskurse zu bieten. Ich werde mich mit Einwänden von Richard Joyce, Michael Ridge und Jonas Olson auseinandersetzen und versuchen, den Kontextualismus gegen diese Einwände zu verteidigen.
1.4 Aufbau der Arbeit | 9
Kapitel 10 untersucht zum Abschluss der Arbeit, ob der metaethische Relativismus ein zentrales Unbehagen ihm gegenüber mildern kann. Dieses Unbehagen besteht in folgender Befürchtung: Wenn der Relativismus wahr ist und es tatsächlich so viele grundlegende Meinungsverschiedenheiten gibt, dann haben wir in vielen moralischen Konflikten keine Möglichkeit für eine rationale Auseinandersetzung und damit auch keine Aussicht auf eine argumentative Beilegung der Konflikte. Ich möchte in dem Kapitel zeigen, dass diese Angst übertrieben ist. Die Wahrheit des metaethischen Relativismus impliziert nicht, dass Menschen tatsächlich grundlegend verschiedene Standards haben. Zudem sind Zweifel angebracht, ob die Beschreibungen von radikal divergierenden Wert- oder Moralvorstellungen, die neuerdings sogar mit Verweis auf moralpsychologische Studien gegeben werden, angemessen sind. Ich möchte in diesem Kapitel in Auseinandersetzung mit Jesse Prinz’ Diagnose von radikal divergierenden Werten diesen Zweifel begründen.
2 Moralischer Objektivismus und Relativismus 2.1 Die Vorstellung eines moralischen Objektivismus Für die Auseinandersetzung mit dem Relativismus in der Moral und für das Verständnis dieser Arbeit ist es zentral, ein klares Bild davon zu haben, was mit Objektivismus und Relativismus in der Moral gemeint sein kann und in den folgenden Kapiteln gemeint ist. Ich möchte daher zunächst darstellen, welche Position hier unter „Objektivismus“ zu verstehen ist. Im Anschluss daran werde ich verschiedene Formen des Relativismus in der Moral unterscheiden und klarstellen, welche dieser Formen Gegenstand meiner Untersuchung ist. Den moralischen Objektivismus möchte ich hier als eine metaethische Position verstehen, die zum einen auf den Punkt bringt, was der common sense unter einer objektiven Moral versteht,¹ und zum anderen dazu dienen kann, ganz verschiedenartige konkrete Entwürfe als objektivistisch zu begreifen und von nichtobjektivistischen Positionen zu unterscheiden. Sie stellt also die zentralen und wesentlichen Bestandteile dessen heraus, was wir meinen, wenn wir – ob in affirmativer oder abgrenzender Weise – von objektiven Antworten auf moralische Fragen sprechen. Die Vorstellung eines moralischen Objektivismus besteht aus einem Bündel von Thesen, die semantische, ontologische und epistemologische Aspekte betreffen und den gemeinsamen Nenner verschiedenartiger Theorien des moralischen Objektivismus darstellen. 1. Zunächst drückt der moralische Objektivismus ein kognitivistisches Bild der Moral aus. Moralische Urteile sind demnach wahrheitsfähig, sie drücken Propositionen aus, die wahr oder falsch sein können. Moralisches Urteilen ist insofern eine kognitive Angelegenheit – im Gegensatz zu nicht-kognitivistischen Ansätzen geht der Objektivismus also davon aus, dass moralische Urteile genuine Überzeugungen ausdrücken und keine nicht-kognitiven, d.h. wunschartigen ProEinstellungen. Kognitivismus: Moralische Urteile sind wahrheitswertfähig. Sie drücken Propositionen aus.
1 Dabei möchte ich nicht unterstellen, dass der common sense objektivistisch eingestellt ist. Es geht hier darum, was sich gemeinhin unter einer objektiven Moral vorgestellt wird. Auch jemand, der den Objektivismus ablehnt, hat eine Vorstellung davon, was der Fall wäre, wenn die Moral objektiv wäre.
2.1 Die Vorstellung eines moralischen Objektivismus | 11
2. Auch der Relativismus ist eine kognitivistische Theorie der Moral. Auch er geht davon aus, dass moralische Urteile Propositionen ausdrücken, die wahr oder falsch sein können. Je nach spezifischer Form des Relativismus ist ein moralisches Urteil U jedoch nicht entweder absolut richtig oder falsch, sondern immer nur in Abhängigkeit zu einem bestimmten Parameter wie etwa dem Standard einer Kultur, einer Gruppe oder einer Person. Manchen Formen des Relativismus – sogenannten kontextualistischen Formen – zufolge, ist ein moralisches Urteil U deshalb nicht absolut richtig oder falsch, weil es je nach Kontext verschiedene Propositionen ausdrücken kann, die einen Bezug auf einen der genannten Parameter enthalten und vom Kontext bestimmt sind. Solche Varianten nehmen also einen sogenannten Bedeutungs-Variantismus an: Je nach Kontext bedeutet ein Urteil U etwas anderes. Andere Varianten des Relativismus nehmen an, dass die Richtigkeit eines Urteils U deshalb relativ ist, weil die Wahrheit der von ihm ausgedrückten Proposition abhängig von einem dieser Parameter ist. Diese Varianten bezeichnet man auch als Wahrheits-Relativismus. Diese verschiedenen Formen werden im Laufe der Arbeit noch näher erläutert und untersucht. Der Objektivist nimmt jedenfalls dagegen an, dass die Richtigkeit (oder Falschheit) moralischer Urteile absolut ist: Weder drückt ein moralisches Urteil U je nach Kontext bzw. je nach dem, wer das Urteil fällt, unterschiedliche Propositionen aus, noch ist die Wahrheit der ausgedrückten (invarianten) Proposition relativ. Auf den Punkt gebracht behauptet also der moralische Objektivismus sowohl einen Bedeutungs-Invariantismus als auch einen Wahrheits-Absolutismus: Die Bedeutung moralischer Urteile ist über verschiedene Kontexte hinweg gleichbleibend und die Wahrheit der ausgedrückten Propositionen ist absolut. Der Kürze halber bezeichne ich diese beiden Thesen als „Absolutismus“: Absolutismus: Wenn ein moralischer Satz S wahr ist, dann ist er absolut wahr, d.h. unabhängig davon, in welchem Kontext bzw. von wem dieser Satz verwendet oder bewertet wird.² Sowohl die Bedeutung als auch die Wahrheit von morali2 Um genau zu sein und Missverständnisse auszuschließen: Natürlich kann der Objektivist sagen, dass allgemeine Sätze wie „Lügen ist moralisch falsch“ je nach Kontext verschiedene Wahrheitswerte haben können. Ein Utilitarist kann z.B. sagen, dass in einer bestimmten Handlungssituation zu lügen richtig ist und in einer anderen moralisch falsch. Wenn hier und im Folgenden von moralischen Sätzen gesprochen wird, dann geht es immer um Sätze, die sich auf bestimmte Handlungs-Token beziehen – also um Sätze wie „In Situation S ist es für Person P moralisch richtig, zu lügen.“. Und die Kontexte, um die es in der Definition geht, sind keine Handlungskontexte, die durch spezifische Eigenschaften der Handlungssituation determiniert sind, sondern Äußerungs- oder Bewertungskontexte, die von solchen Parametern wie Standards oder Einstellungen determinert sind. Zu den Begriffen des Äußerungs- und Bewertungskontext siehe Kapitel 6.
12 | 2 Moralischer Objektivismus und Relativismus
schen Urteilen ist invariant. D.h., wenn zwei Urteilende einen moralischen Satz S verwenden, dann i) bedeutet dieser Satz dasselbe (d.h. er drückt dieselbe Proposition aus) und ii) ist die Wahrheit der von ihm ausgedrückten Proposition absolut. 3. Die These des Absolutismus würde schon hinreichen, um den Objektivismus von den verschiedenen Formen des metaethischen Relativismus abzugrenzen und zu unterscheiden. Zusammen mit der kognitivistischen These alleine ist er jedoch nicht hinreichend, um einen Objektivismus zu charakterisieren, der der common sense-Vorstellung einer objektiven Moral gerecht wird. Mit den beiden Thesen alleine bleibt nämlich noch offen, wovon moralische Urteile überhaupt handeln. Die wesentliche Pointe der Rede von einer objektiven Moral scheint mir in einer zentralen Vorstellung zum Ausdruck zu kommen, die einen ontologischen und einen semantischen Teil hat: Es gibt Handlungen, die in bestimmten Situationen von bestimmten Personen getan werden oder unterlassen werden müssen, und von diesem Müssen handeln moralische Urteile. Dieses spezifische „Müssen“ soll dabei zum einen unabhängig davon sein, ob die jeweiligen „gemussten“ Handlungen (oder Unterlassungen) den Wünschen der entsprechenden Personen zuträglich sind oder nicht, und zum anderen mit einer bindenden Kraft oder einem spezifischen Handlungsdruck verbunden sein. Metaethiker sprechen in diesem Zusammenhang von der besonderen Autorität moralischer Normen, Forderungen oder Verpflichtungen oder von der Normativität der Moral. Die zentrale Vorstellung des Objektivismus besagt, dass moralische Urteile Urteile über das Bestehen dieses normativen Müssens oder anders: normativer Gründe sind, und dass es dieses Müssen bzw. diese Gründe wirklich gibt: Es gibt normative Handlungsgründe, die unabhängig von den Wünschen des Handelnden bestehen und zwar in dem Sinne, dass die Handlung, für die jene Gründe sprechen, nicht notwendigerweise der Erfüllung der Wünsche des Handelnden zuträglich sind. Ein Beispiel für einen solchen Handlungsgrund: Hazal hat einen Grund, ihr Versprechen zu halten – ob das einen ihrer Wünsche erfüllt oder nicht. Oder anders: Hazal muss ihr Versprechen halten, auch wenn das für sie nachteilig ist.³ Normativismus: Moralische Urteile behaupten (oder implizieren Behauptungen über) das Bestehen (oder Nicht-Bestehen) von normativen Handlungsgründen, die (im erläuterten Sinne) wunschunabhängig sind.
3 Mit der These, dass moralische Urteile von diesem normativen Müssen bzw. von normativen Gründen handeln, ist der Objektivismus nicht auf die stärkere These festgelegt, dass sie von Gründen handeln, die immer overriding sind.
2.1 Die Vorstellung eines moralischen Objektivismus | 13
Festgelegt ist der Objektivismus damit auf die Sicht, dass es ein spezifisches und irreduzibles Phänomen der moralischen Normativität gibt. Damit fallen naturalistische Konzeptionen des Realismus aus meiner Definition des Objektivismus heraus. Naturalistische moralische Realisten nehmen an, dass sich moralische Prädikate und bestimmte deskriptive Prädikate auf ein und dieselben Eigenschaften beziehen, sie also die gleiche Extension haben. So könnte z.B. „moralisch richtig“ dasselbe bedeuten, wie „maximiert den Gesamtnutzen“. Naturalisten sind damit jedoch gezwungen, zu leugnen, dass moralische Urteile von den oben genannten normativen Tatsachen oder Gründen handeln (oder Urteile über solche Tatsachen oder Gründe implizieren): Wenn „Es ist moralisch richtig, dass Hazal ihr Versprechen hält“ dasselbe bedeutet wie „Es maximiert den Gesamtnutzen, dass Hazal ihr Versprechen hält“, dann handelt das moralische Urteil nicht davon, was Hazal tun muss oder wozu sie Grund hat. Was der naturalistische Realist damit verfehlt, ist den objektiv präskriptiven oder normativen Charakter moralischer Urteile einzufangen. Ich möchte hier aber davon ausgehen – und das insbesondere in den Kapiteln 4 und 5 noch näher begründen –, dass eine wesentliche Pointe des objektivistischen Moralverständnisses darin besteht, die Moral als „normativ“ zu begreifen. Moralische Urteile sagen uns demnach, wie wir handeln müssen oder zu welchen Handlungen (oder Unterlassungen) wir Grund haben. Das bedeutet: Der moralische Objektivismus wird in dieser Arbeit als ein nicht-naturalistischer, normativistischer Objektivismus konzipiert, da ein solcher im Wesentlichen auf den Punkt bringt, was viele Menschen mit der Hoffnung auf eine „objektive Moral“ verbinden: Dass sie Handelnden objektiv und ganz unabhängig von ihren Wünschen vorschreibt, wie sie zu handeln haben. Ein naturalistischer, nicht-normativistischer Objektivismus mag zwar einen anderen wesentlichen Aspekt der (Idee der) Objektivität der Moral einfangen – nämlich den Aspekt, dass es objektive Antworten auf moralische Fragen gibt⁴ –, seine Unfähigkeit, den normativen Aspekt angemessen zu berücksichtigen, lässt ihn aber als halbierten Objektivismus erscheinen. Abgesehen davon, dass dieser Normativismus die zentrale Pointe des Objektivismus ausdrückt und von daher mit in die Charakterisierung dieser Ansicht aufgenommen werden sollte, spielt diese These für meine Arbeit eine wichtige Rolle: Es ist genau diese Idee einer wunschunabhängigen Normativität, die mir suspekt erscheint und den Objektivismus unplausibel macht. Vielleicht steht und fällt mit dem Normativismus auch der Absolutismus: Vielleicht kann der Relativismus bes-
4 Das kann der Naturalist einfangen: Da die Frage, ob es moralisch richtig ist, dass Hazal ihr Versprechen hält, z.B. reduziert wird auf die Frage, ob es den Gesamtnutzen maximiert, hat diese Frage eine objektive Antwort.
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ser erklären – ohne auf die suspekte Idee angewiesen zu sein –, was wir mit moralischen Urteilen ausdrücken und was es mit dem praktischen handlungsleitenden Aspekt moralischer Rede auf sich hat. Der semantischen These des Normativismus korrespondiert eine ontologische These – nämlich die These, dass es diese wunschunabhängigen normativen Tatsachen oder Gründe tatsächlich gibt: Ontologische These: Es gibt normative Tatsachen oder Gründe, die wunschunabhängig sind. 4. Der Objektivismus wäre gewissermaßen witzlos, wenn er nicht noch eine epistemologische These beinhalten würde. Die Rede von „objektiven Antworten“ auf moralische Fragen, also auf Fragen, was in einer bestimmten Situation moralischerweise zu tun ist und die sich Disputanten in einer moralischen Diskussion stellen, setzt nicht nur voraus, dass moralische Urteile wahr sein können und von moralischen Tatsachen oder Gründen handeln, und dass es solche Tatsachen oder Gründe tatsächlich gibt. Der Witz dieser Rede besteht auch in der Annahme, dass moralisch Urteilende diese objektiven Antworten finden können, dass sie also normative Tatsachen oder Gründe erkennen können und manche dieser Tatsachen auch bereits erkannt haben. Den bisher erläuterten Thesen ist also eine epistemologische hinzuzufügen: Epistemologische These: Wir können Wissen von normativen moralischen Tatsachen oder Gründen erlangen und manche unserer moralischen Urteile sind wahr. 5. Damit sind die zentralen Thesen eines objektivistischen Moralverständnissen dargestellt. Auf viele dieser Thesen komme ich im Laufe der folgenden Untersuchungen zurück und erläutere sie zum Teil noch näher. Zur besseren Übersicht ist auf der nächsten Seite noch mal das Bündel der Thesen zusammengestellt.
2.2 Formen des Relativismus in der Moral | 15
Normativistischer moralischer Objektivismus Semantische Thesen: [Kognitivismus] Moralische Urteile sind wahrheitsfähig. Sie drücken Propositionen aus. [Absolutismus] Wenn ein moralischer Satz S wahr ist, dann ist er absolut wahr, d.h. unabhängig davon, in welchem Kontext bzw. von wem dieser Satz verwendet oder bewertet wird. Sowohl die Bedeutung als auch die Wahrheit von moralischen Urteilen ist invariant. D.h., wenn zwei Urteilende einen moralischen Satz S verwenden, dann i) bedeutet dieser Satz dasselbe (d.h. er drückt dieselbe Proposition aus) und ii) ist die Wahrheit der von ihm ausgedrückten Proposition absolut. [Normativismus] Moralische Urteile behaupten (oder implizieren Behauptungen über) das Bestehen (oder NichtBestehen) von normativen Handlungsgründen, die wunschunabhängig sind. Ontologische These: Es gibt normative Tatsachen oder Gründe, die wunschunabhängig sind. Epistemologische These: Wir können Wissen von diesen Tatsachen oder Gründen erlangen und manche unserer moralischen Urteile sind wahr.
2.2 Formen des Relativismus in der Moral Ich habe eben schon angedeutet, dass es verschiedene Varianten des Relativismus gibt. Ein großer Teil dieser Arbeit setzt sich mit diesen Varianten auseinander. Der im Titel der Arbeit verwendete Begriff „metaethische Relativismus“ zeigt an, dass es auch andere Formen des Relativismus gibt, die nicht metaethisch sind. Die genannten Varianten des Relativismus (Kontextualismus und WahrheitsRelativismus) sind metaethische Theorien, die vor allem semantische Annahmen über die Bedeutung und Wahrheitsbedingungen moralischer Begriffe und Urteile machen. Sie sind insofern Alternativen zu der im vorherigen Abschnitt vorgestellten metaethischen Position des Objektivismus. Nun habe ich in der Einleitung eine meiner Motivationen für diese Untersuchung genannt: Außerhalb der Philosophie erfreut sich der moralische Relativismus einiger Beliebtheit, ohne dass die üblichen Reaktionen der Abwehr von philosophischer Seite diesen relativistischen Intuitionen gerecht zu werden scheinen. Kompliziert wird der Versuch, philosophisch mit diesen Ansichten (oder auch Befürchtungen) angemessen umzugehen, auch dadurch, dass nicht immer eindeutig ist, ob die relativistischen
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Intuitionen des Laien tatsächlich metaethische Intuitionen sind. Unklar bleibt oft, ob die Aussage, dass Moral relativ sei, im Sinne einer Aussage über den Status oder die Bedeutung moralischer Begriffe und Urteile zu verstehen ist. Manchmal scheinen solche Aussagen nämlich auf etwas hinauszulaufen, was gar nicht mit dem Objektivismus in Spannung steht, und einige Aussagen, die von Relativität in der Moral handeln, sind eher als normative Aussagen zu interpretieren – ohne dass sich jedoch die jeweils Urteilenden darüber im Klaren sind. Um etwas Ordnung in dieses teils verwirrende Feld der möglichen Bedeutungen relativistischer (oder scheinbar relativistischer) Aussagen und Thesen zu bringen, möchte ich hier kurz verschiedene Formen des Relativismus vorstellen und erläutern. 1. Kaum ein Phänomen motiviert zu relativistischen Aussagen wie das Phänomen moralischer Meinungsverschiedenheiten und dabei vor allem die scheinbare Tatsache, dass verschiedene Kulturen ganz unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Ein besonders interessantes Phänomen ist, dass es scheinbar tiefgreifenden Dissens in moralischen Fragen gibt, der jedoch nicht auf Dissens über die für die jeweilige Frage relevanten nicht-normativen (z.B. empirischen) Sachverhalte zurückgeführt werden kann. In solchen Meinungsverschiedenheiten drückt sich prima facie das Phänomen aus, dass Menschen ganz unterschiedliche Werte oder Prinzipien akzeptieren. Solche genuinen moralischen Meinungsverschiedenheiten sind scheinbar weit verbreitet und schwer aufzulösen. Ob sich aus der Annahme der weiten Verbreitung und dem hartnäckigen Bestehen solcher Dissense ein Problem für den Objektivismus ergibt, möchte ich im nächsten Kapitel näher untersuchen. Wichtig ist hier zunächst, diese These klar von metaethischen und normativen Thesen zu unterscheiden: Sie ist eine deskriptive Behauptung, die aber nichts darüber aussagt, welchen Status und welche Bedeutung moralische Urteile (oder moralische Meinungsverschiedenheiten) haben: Deskriptiver Relativismus [Meinungsverschiedenheiten]: Es gibt de facto zwischen unterschiedlichen Personen (oder Gruppen oder Kulturen etc.) tiefgreifende moralische Meinungsverschiedenheiten, für die es plausibel ist anzunehmen, dass sie auch bei Einigkeit über die nicht-moralischen Fakten bestehen bleiben. Von dieser These ist eine ähnliche These zu unterscheiden, die ebenfalls oft als deskriptiver Relativismus bezeichnet wird: Deskriptiver Relativismus [Werte]: Es gibt de facto Personen (oder Gruppen oder Kulturen), die zur Orientierung in moralischen Fragen unterschiedliche grundlegende Werte, Prinzipien oder Standards akzeptieren und anwenden.
2.2 Formen des Relativismus in der Moral | 17
Diese These stellt eine wesentlich stärkere Behauptung auf, die nicht aus der ersten These folgt, aber von vielen Menschen durch jene plausibilisiert wird. Manchmal wird auch der deskriptive Relativismus in der zweiten Form herangezogen, um zu erklären, wieso es sich so verhält, wie die erste These behauptet: Diese tiefgreifenden Dissense existieren, weil Menschen ganz unterschiedliche Werte oder Prinzipien haben. Beide Thesen sind jedenfalls empirische Diagnosen bzw. Behauptungen über die Diversität moralischer Überzeugungen. 2. Eine genuin relativistische These, die oftmals mit der Aussagen „Moral ist relativ“ verbunden ist, die aber keine metaethische These darstellt, ist folgende: Das, was für einen Angehörigen einer Kultur in einer bestimmten Situation moralisch gefordert ist, hängt von dem Standard dieser Kultur ab. Diese These ist eine normative These: Sie behauptet etwas darüber, was zu tun richtig oder falsch ist. Und insofern ist sie prinzipiell mit dem Objektivismus vereinbar. Der (metaethische) Objektivismus legt sich mit seinem Bündel an Thesen auf keine bestimmte normative Ansicht fest. Das Interessante, oder besser: das Kontroverse an dieser relativistischen These ist nicht, dass sie in Spannung oder in Widerspruch zum Objektivismus steht, sondern dass sie eine ziemlich dubiose normative Ansicht formuliert. Warum sollte die moralische Richtigkeit oder Falschheit der Handlung eines Angehörigen einer Kultur davon abhängen, welche Normen oder Standards diese Kultur zufälligerweise hat? Hier wird moralische Richtigkeit von einem Faktor abhängig gemacht (und insofern relativiert), der scheinbar keine normative Relevanz hat – oder zumindest nicht in dieser kruden Weise. Als normative These lässt sich diese Ansicht als normativer Relativismus bezeichnen: Normativer Relativismus: Eine Person P hat in Handlungssituation S nur dann eine moralische Pflicht, h zu tun, wenn der moralische Standard der Kultur von P eine solche Pflicht postuliert. Gerhard Ernst spricht in diesem Zusammenhang von einem „Vulgärrelativismus“⁵, um ausdrücken, dass es sich um eine recht extreme Position handelt. Tatsächlich wird jedoch kaum jemand diese Position vertreten wollen. Was sie auf den ersten Blick wohl für einige Menschen attraktiv macht, ist die Nähe zu zwei Thesen, die durchaus plausibel sind, die aber wiederum keine relativistische Thesen sind und auch nicht in Spannung zum Objektivismus stehen. Die erste These macht auf Folgendes aufmerksam: Wenn wir das Verhalten von Angehörigen anderer Kulturen bewerten und ggf. verurteilen, dann ist es natürlich
5 (Ernst2008), S.4.
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relevant zu wissen, wie sie sozialisiert wurden und unter welchen gesellschaftlichen Einflüssen sie moralisch urteilen und handeln. Dieses Wissen kann einen großen Unterschied für unsere Zuschreibung von Schuld und Verantwortung machen und für die Art und Weise, wie (und ob) wir unsere moralische Bewertung vermitteln wollen. Um die Motive eines Handelnden zu verstehen und zu bewerten, ist das kulturelle und persönliche Verständnis von Moral, vor dessen Hintergrund gehandelt wird, zu berücksichtigen. Aber dies ist etwas anderes, als zu behaupten, dass die moralische Richtigkeit einer konkreten Handlung alleine von kulturspezifischen moralischen Überzeugungen oder Standards abhängig ist. Die zweite These, die dazu verführt, Formulierungen zu wählen, die dem normativen Relativismus nahe stehen, lautet: Moralische Prinzipien sind kontextsensitiv, d.h. je nach Kontext fordern sie unterschiedliche Handlungen oder führen zu unterschiedlichen Ableitungen. Diese, wie ich denke, sehr plausible These steht in keinem Widerspruch zu einem objektivistischen Moralverständnis. Das lässt sich an einem Beispiel gut verdeutlichen. Die sogenannten Akan in Ghana haben ein Familienverständnis, dass für europäische Standards ungewöhnlich ist. Hier haben leibliche Väter keine materiellen und sozialen Pflichten, sich um ihre Kinder zu kümmern, Stattdessen übernimmt die Rolle, die in europäischen Kontexten der leibliche Vater zu übernehmen hat, der Bruder der Mutter: Er ist es, der die männliche Rolle der Bezugsperson für das Kind übernimmt. Nun ist es ziemlich plausibel anzunehmen, dass auch die Akan folgende moralische Ansicht mit Europäern teilen: Das leibliche und psychische Wohl von Kindern sollte durch verantwortungsvolles Handeln seiner Bezugspersonen garantiert werden. Diese „Prinzip“ lässt sich aber offensichtlich unterschiedlich verwirklichen und anwenden. Die Akan haben einen Weg gefunden, der diesem Prinzip gerecht wird – hier wachsen Kinder in wohlbehüteten Verhältnissen mit verantwortlichen Bezugspersonen auf. Dass ihr Standard, der diese Bezugspersonen bestimmt, ein anderer ist als der europäische Standard, hat zwar zur Folge, dass hier leibliche Väter andere Pflichten haben als leibliche Väter in Europa – aber dieser unterschiedliche Standard ist nur Ausdruck der kontextspezifischen Ableitung aus einem mit den Europäern geteilten Standard oder Prinzip: Sorgt für das Wohl der Kinder. Hier ist zwar die Richtigkeit von Handlungen der Akan-Mitglieder relativ zu den abgeleiteten Standards der Akan-Gesellschaften, aber es ist nicht die Tatsache alleine, dass die Akan sich diesen Standard „ausgesucht“ haben, die die Handlungen richtig macht, sondern die Tatsache, dass die Standards aus einem wichtigen Prinzip abgeleitet sind – einem Prinzip, das als normativ richtig angesehen werden kann. Diese These der Kontextsensitivität moralischer Prinzipien ist also nicht zu verwechseln mit der These des normativen Relativismus. Letzterer versteht die Standards anderer Kulturen nicht deshalb als normativ relevant, weil sie möglicher-
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weise Ausdruck oder Umsetzung plausibler normativer Prinzipien sind, sondern nur weil sie der Standard dieser Kulturen sind. Wer also meint, dass man die Standards der Akan berücksichtigen muss, um etwas über die Pflichten von leiblichen Vätern bei den Akan auszusagen, der ist damit noch nicht auf einen normativen Relativismus festgelegt. Und mit dem metaethischen Objektivismus ist die These von der Kontextsensitivität natürlich vereinbar: Sie ist nur eine These darüber, dass moralische Prinzipien in verschiedenen Kontexten zu unterschiedlichen abgeleiteten Prinzipien führen können. Eine letzte These muss hier noch Erwähnung finden, weil auch sie immer wieder im Kontext von relativistischen Aussagen auftaucht und sie meines Erachtens oftmals das ist, was selbsternannte Relativisten eigentlich aussagen wollen. Auch hier ist das Problem, dass sie keine relativitische Aussage ist und von jedem Objektivisten guten Gewissens akzeptiert werden kann. Es ist die These von der Toleranz. Leider wird auch diese These nicht immer klar von anderen Thesen unterschieden: So wird zum Beispiel oftmals die Toleranzforderung einfach nur in dem Sinne verstanden, dass „wir hier im Westen“ nicht so überheblich davon ausgehen sollten, dass wir die moralische Wahrheit für uns gepachtet haben. Das ist eine sehr sinnvolle Erinnerung daran, dass natürlich auch „wir im Westen“ fehlbar sind und nicht alle unserer moralischen Überzeugungen richtig sein müssen. Aber dies ist eben keine These, die mit dem Objektivismus unvereinbar wäre, noch ist es eine relativistische These, noch ist es eine These, die von Toleranz handelt. Möglicherweise lässt sich mit Bezug auf die Fallibilität moralischer Urteile eine Toleranzforderung begründen, aber der Hinweis auf menschliche Fehlbarkeit ist doch etwas anderes als das Einfordern von Toleranz. Was also besagt die Toleranzforderung? Es gibt ganz unterschiedliche Verständnisse von Toleranz und davon, wann sie gefordert ist und wo ihre Grenzen liegen. Hier soll eine formale Charakterisierung ausreichen: Toleranzforderungen handeln von der moralischen Richtigkeit oder Notwendigkeit, eine Haltung der Duldung oder wohlwollenden Akzeptanz in Situationen einzunehmen, in denen man mit widerstreitenden Überzeugungen oder Handlungen konfrontiert ist, die man selbst für moralisch falsch oder bedenklich hält. Nach meiner Erfahrung wird die Formulierung „Aber Moral ist doch relativ“ oftmals nur deshalb gewählt, weil die Toleranzforderung (in welcher genauen Ausprägung auch immer) als wichtige Forderung wahrgenommen wird und der Objektivismus mit einer intoleranten Haltung assoziiert wird. Dahinter muss also keine spezifische und wirklich relativistische Ansicht stehen, sondern lediglich der folgende falsche Gedankengang: Wenn Relativismus das Gegenteil von Objektivismus ist und Toleranz und Objektivismus einander ausschließen, dann muss wer für Toleranz ist, für den Relativismus sein. Abgesehen von der nicht schlüssigen Schlussfolgerung krankt dieser Gedankengang an der Annahme, dass der Ob-
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jektivismus mit Toleranz nicht vereinbar sei. Die Toleranzforderung ist eine normative Forderung und als solche vereinbar mit den metaethischen Thesen des Objektivisten. Der Objektivismus als metaethische Position sagt nichts darüber aus und hat auch keine Implikationen dafür, was zu tun richtig oder falsch ist. Wer glaubt, dass moralische Fragen objektive Antworten haben, legt sich auf keine bestimmte Ansicht darüber fest, wie man mit moralischen Meinungsverschiedenheiten umgehen sollte. Und wenn der moralische Objektivist behauptet, dass moralische Urteile objektiv wahr sein können, dann ist das nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass seine eigenen moralischen Urteile allesamt wahr sind und er deshalb Menschen anderer Meinung angreifen darf. 3. Damit komme ich zu relativistischen Thesen oder Positionen, die metaethisch sind. Die Aussage „Moralische Wahrheit ist relativ“ ist genau dann eine metaethische Aussage, die relativistisch ist, wenn damit gesagt sein soll, dass zwei moralische Urteile, die einander (scheinbar) widerstreiten, beide wahr sein können. Nehmen wir das Beispiel zweier Personen, Selim und Klara, die sich über die Handlung von Klaus streiten. Selim urteilt, dass Klaus moralisch falsch gehandelt hat, während Klara urteilt, Klaus hätte moralisch richtig gehandelt. Wenn nun jemand behauptet, dass es möglich ist, dass sowohl Selim als auch Klara ein wahres Urteil fällen, dann behauptet er etwas, das nicht mit dem Objektivismus vereinbar ist: Er leugnet damit nämlich die objektivistische These des Absolutismus. Mit dem Absolutismus ist es nicht vereinbar, dass der von Selim verwendete Satz S wahr ist und der von Klara verwendete Satz nicht-S ebenfalls. Um solche Formulierungen wie „Moralische Wahrheit ist relativ“ auf ihre metaethische Bedeutung zu überprüfen (und zu testen, ob damit nicht eine der oben genannten nicht-relativistischen oder nicht-metaethischen Thesen gemeint ist), muss man den Sprecher also festnageln und nachfragen: Meinst Du, dass zwei moralische Urteile, U und nicht-U beide wahr sein können?⁶ Wer hier zustimmend antwortet, scheint eine nicht-absolutistische, also relativistische Intuition in Bezug auf moralische Urteile zu haben. 6 Es reicht meines Erachtens nicht aus, wenn man die in der philosophischen Fachliteratur übliche Formulierung der „fehlerfreien Meinungsverschiedenheit“ wählt und fragt: Meinst Du, dass es möglich ist, dass zwei Urteilende, die jeweils U und nicht-U urteilen, beide keinen Fehler machen? Der Begriff des fehlerhaften Urteils kann vom Laien einfach auch im Sinne von „nichtgerechtfertigtes Urteil“ verstanden werden. Dasselbe gilt, wie ich denke, auch für den Begriff des Irrtums. Leider habe ich es auch schon erlebt, dass nicht zwischen „wahr“ und „gerechtfertigt“ unterschieden wird – was meinen Optimismus etwas dämpft, dass die im Fließtext gestellte Frage einen sicheren Test für metaethische Intuitionen zum Relativismus darstellt. Für eine kritische Auseinandersetzung mit empirischen Studien, die testen sollen, wie weit verbreitet relativistische Intuitionen sind, siehe Kapitel 9.2 und 9.4.
2.2 Formen des Relativismus in der Moral | 21
Doch wie lässt sich diese metaethische relativistische Intuition genau verstehen und näher erläutern? Wie soll das eigentlich gehen, dass zwei Urteile wie die genannten, beide wahr sein können? Wie gesagt, gilt ein Hauptteil der folgenden Untersuchung der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen, einen metaethischen Relativismus auszubuchstabieren. Hier möchte ich mich damit begnügen, den metaethischen Relativismus als die verschiedenen Varianten umgreifende, allgemeine These zu notieren: Metaethischer Relativismus: Wenn ein moralischer Satz S wahr ist, dann ist er nicht absolut wahr. Es kann sein, dass ein moralischer Satz S in einem Kontext K wahr ist und in einem anderen Kontext K’ nicht – wobei die jeweiligen Kontexte durch einen Parameter wie dem Standard einer Kultur, Gruppe oder eines Individuums determiniert sind. Bevor ich mich in Teil II näher mit dem metaethischen Relativismus auseinandersetze, untersuche ich in Teil I verschiedene Argumente gegen den Objektivismus. Den Beginn machen im folgenden Kapitel sogenannte Argumente aus der Meinungsverschiedenheit.
| Teil I: Argumente gegen den Objektivismus
3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit 3.1 Einleitung Wohl kaum ein Argument wird so sehr mit dem Moralischen Relativismus assoziiert wie das so genannte „Argument aus der Meinungsverschiedenheit“. Zumindest für den philosophischen Laien ist das Phänomen von grundlegenden moralischen Meinungsverschiedenheiten eines, das Zweifel am Moralischen Objektivismus bzw. an der Voraussetzung des common-sense, dass die Moral objektiv ist, nährt, und die Annahme motiviert, der Moralische Relativismus sei wahr. Auch in der Metaethik wird das Argument aus der Meinungsverschiedenheit überwiegend mit dem Relativismus in Verbindung gebracht. So wird dieses Argument meist als das Argument für den Relativismus verstanden und viele Relativisten beziehen sich auf dieses Argument als ein zentrales Motiv für ihre metaethische Position.¹ Das Argument wird allerdings nicht nur von Relativisten für sich beansprucht: So zieht es z.B. John Mackie in einem Schritt zur Begründung seiner Irrtumstheorie heran und viele Moralische Objektivisten verteidigen sich gegen das Argument aus der Meinungsverschiedenheit als ein Argument gegen den Objektivismus und nicht als ein Argument für den Relativismus (oder die Irrtumstheorie).² Zudem gibt es nicht ein Argument aus der Meinungsverschiedenheit, sondern verschiedene Formen von Argumenten, von denen ich in diesem Kapitel lediglich – von mir so genannte – explanatorische und epistemologische Argumente kritisch untersuchen werde. Ich werde diese Argumente hier nicht als Argumente für den Relativismus, sondern als Argumente gegen den Objektivismus verstehen, als Argumente also, die offen lassen, welche alternative anti-objektivistische Position zu bevorzugen ist. Darauf werde ich im Folgenden noch näher eingehen. Ich möchte in den folgenden Abschnitten zeigen, dass diese Argumente nicht überzeugend sind. Die Annahme der Existenz objektiver moralischer Tatsachen lässt sich nicht – zumindest nicht so, wie in diesen Argumenten – mit Bezug auf moralische Meinungsverschiedenheiten widerlegen oder in Frage stellen. Das Ka-
1 So z.B. Gilbert Harman in seinem Beitrag zu (Harman1996) und David Wong in (Wong2006). Kritisch diskutieren das Argument z.B. (Halbig2009) und (Schmidt2009). Insbesondere Kulturanthropologen haben immer wieder das Phänomen moralischer Diversität, d.h. kulturspezifische Unterschiede in den Inhalten moralischer Überzeugungen, als Indiz oder Argument für einen moralischen Relativismus verstanden, so etwa (Westermarck1932) und (Herskovitz1973). Für eine kritische Auseinandersetzung mit Argumenten und Positionen eines solchen kulturanthropologisch inspirierten „Kulturrelativismus“ siehe (Cook1999). 2 Vgl. (Mackie1977), (Brink1984) und (1989), (Enoch2009). (Gesang2008) verteidigt das Argument als eines gegen den Moralischen Objektivismus.
26 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
pitel ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil werde ich mich mit der Behauptung beschäftigen, der Objektivismus könne bestimmte Arten von moralischen Meinungsverschiedenheiten nicht erklären oder habe zumindest große Probleme, sie zu erklären (Abschnitt 1.2). Diese Behauptung spielt in den genannten explanatorischen Argumenten aus der Meinungsverschiedenheit die zentrale Rolle. Ich werde dafür argumentieren, dass diese Behauptung unbegründet ist. Der Objektivismus hat kein explanatorisches Problem angesichts bestimmter Phänomene des moralischen Dissenses. Im zweiten Teil werde ich Argumente untersuchen, mit denen versucht wird (oder versucht werden könnte), dem Objektivismus mit Verweis auf moralische Meinungsverschiedenheiten epistemologisch nicht akzeptable Konsequenzen nachzuweisen (Abschnitt 1.3). Diese epistemologischen Argumente kommen alle zu dem Schluss, der Objektivismus führe angesichts von möglichen oder tatsächlichen Meinungsverschiedenheiten zu einem Skeptizismus, der die Annahme objektiver moralischer Tatsachen letztlich witzlos macht oder den Objektivismus unplausibel erscheinen lässt. Auch hier werde ich zeigen, dass diese Argumente nicht überzeugend sind.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? In diesem Abschnitt möchte ich untersuchen, ob sich aus dem Phänomen moralischer Meinungsverschiedenheiten ein explanatorisches Problem für einen Moralischen Objektivismus ergibt. Dazu werde ich zunächst in Abgrenzung zu John Mackies bekanntem Argument aus der Relativität (argument from relativity) erläutern, wie ich diese Frage verstanden wissen möchte. Mackies Argument aus der Relativität hat Grenzen und Probleme, die ich im Folgenden darstellen möchte. Sein Argument lässt sich als ein so genannter Schluss auf die beste Erklärung, also als ein abduktives Argument verstehen. Diesem Argument zufolge sind objektivistische Positionen auf eine Erklärung von moralischen Meinungsverschiedenheiten (im Folgenden: mMV) festgelegt, die im Vergleich zu einer bestimmten anderen Erklärung dieses Phänomens weniger plausibel bzw. schlechter ist. Mackie schreibt: In short, the argument from relativity has some force simply because the actual variations in the moral codes are more readily explained by the hypothesis that they reflect ways of life than by the hypothesis that they express perceptions, most of them seriously inadequate and badly distorted, of objective values.³
3 (Mackie1977), S. 36.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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In diesem Zitat kommen drei bemerkenswerte Punkte zusammen, anhand derer sich die Grenzen und Probleme von abduktiven Argumenten aus der Meinungsverschiedenheit verdeutlichen lassen. Ich werde im Folgenden diese Punkte der Reihe nach diskutieren: Erstens spricht Mackie davon, dass dieses Argument lediglich „some force“ hat. Zweitens deutet er eine alternative Erklärung an, bei der jedoch fraglich ist, ob sie hinreichend bestimmt ist, um einen Schluss auf die beste Erklärung zu rechtfertigen. Und drittens nimmt Mackie in diesem Zitat auf ein spezifisches Explanandum Bezug, bei dem sich die Frage stellt, ob es überhaupt eine besondere Herausforderung für objektivistische Positionen darstellt. Zu Punkt 1: Zunächst ist festzuhalten, dass abduktive Argumente nicht die Wahrheit ihrer Konklusion garantieren, ihre Konklusion ist also nicht notwendig wahr, wenn die Prämissen wahr sind. Die Wahrheit ihrer Konklusion ist lediglich wahrscheinlich bzw. wahrscheinlicher als eine alternative (logisch mit den Prämissen ebenfalls vereinbare) Konklusion. Das muss nicht unbedingt eine Schwäche sein. Je wahrscheinlicher die Angemessenheit einer Erklärung ist, umso stärkere Gründe haben wir natürlich, an diese Erklärung zu glauben. Aber das heißt eben auch, dass die Stärke des Arguments davon abhängt, wie viel besser die antiobjektivistische Erklärung im Vergleich zur objektivistischen ist. Ein weiterer Grund, warum Mackie dem Argument aus der Meinungsverschiedenheit (im Folgenden: AMV) nur „some force“ zugestehen will, könnte der folgende sein: Metaethische Positionen müssen generell eine Reihe von Adäquatheitsbedingungen erfüllen, wobei keine Einigkeit darüber besteht, wie umfangreich diese Bedingungen sind und wie sie angemessen formuliert werden sollten. Dazu gehört z.B. die Bedingung, der Oberflächengrammatik moralischer Urteile gerecht zu werden und die logische Kombinierbarkeit moralischer Sätze zu garantieren,⁴ die Verbindung zwischen moralischen Urteilen und Motivation zu erklären, sowie die Bedingung, die Supervenienz moralischer Eigenschaften über nicht-moralische Eigenschaften zu erklären. Nun hat so gut wie jede metaethische Theorie ihre jeweils eigenen Probleme damit, bestimmte dieser Bedingungen überzeugend zu erfüllen. Man kann demnach nicht aus der Feststellung, dass eine bestimmte Theorie bei einer Bedingung Probleme hat, schließen, sie sei insgesamt eine problematische Position. Das hängt eben davon ab, wie sie im Gesamtkontext der metaethischen Fragen und im Vergleich mit alternativen Theorien abschneidet. 4 So können moralische Sätze negiert werden oder in Konditionalen, Disjunktionen und anderen komplexen Sätzen vorkommen. Dem Expressivismus wird vorgeworfen, diese Eigenschaft moralischer Sätze nicht befriedigend erklären zu können. Zu einer aktuellen und umfassenden Diskussion dieses sogenannten Frege-Geach-Problems für den Expressivismus siehe auch (Schroeder2010).
28 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
Zu Punkt 2: Mackie bietet als Erklärung der von ihm als „well-known“ bezeichneten Diversität von moralischen Überzeugungen die Hypothese an, diese würden verschiedene Lebensweisen oder Lebenswelten „reflektieren“. Weiter behauptet er, dass diese Hypothese das Phänomen einfacher erklärt als die Annahme, hier seien fehlerhafte oder verzerrte Erkenntnisleistungen im Spiel. Nun fragt sich allerdings, was Mackie genau damit meint, dass solche Variationen Lebensweisen reflektieren. Offensichtlich meint er damit nicht, dass moralische Überzeugungen überhaupt keine genuinen Überzeugungen sind, sondern lediglich konative Einstellungen, die durch spezifische ways of life geformt werden. Denn Mackie argumentiert auf den vorhergehenden Seiten für ein These, derzufolge moralische Überzeugungen wahrheitsfähig sind und von objektiven, präskriptiven Tatsachen handeln.⁵ Wie aus seinen Ausführungen im späteren Abschnitt Patterns of Objectification deutlich wird, will er seine Reflexions-These wie folgt verstanden wissen: Moralische Überzeugungen sind das Ergebnis einer „projection or objectification“ von konativen („wunschartigen“) Einstellungen auf externe Objekte. Diese Einstellungen sind nun Mackie zufolge sozialen Ursprungs, d.h. sie werden durch Sozialisation und durch Internalisierung von sozial etablierten „patterns of behaviour“ erworben. Durch die Notwendigkeit der Regulation von interpersonalen und sozialen Beziehungen besteht ein Druck, diese Einstellungen in dem Sinne zu objektivieren, dass der Eindruck entsteht, es gebe objektive Werte. Diese Objektivierung vollzieht sich nach Mackie mittels einer Umkehrung der Abhängigkeitsrichtung: We get the notion of something’s being objectively good, or having intrinsic value, by reversing the direction of dependence here, by making the desire depend upon the goodness, instead of the goodness on the desire.⁶
Von dem mit dieser Umkehrung entstehenden Eindruck objektiver Werte ausgehend, so kann man Mackie verstehen, werden wahrheitsfähige Überzeugungen über diese (tatsächlich aber nicht existierenden) objektiven Werte ausgebildet.⁷ Ich möchte nicht näher auf die Einzelheiten von Mackies Argumentation eingehen, die viele Fragen aufwirft. Ich möchte hier nur festzuhalten, dass Mackie eine ganz spezifische Interpretation der Reflexions-These anbietet, die Thesen über die
5 Vgl. (Mackie1977), S. 30–35. 6 (Mackie1977), S. 43. 7 Vgl. (Mackie1977), S. 42–46.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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semantischen und psychologischen Eigenschaften⁸ moralischer Überzeugungen sowie über deren Ursprung beinhaltet. Mein Punkt ist nun, dass wir nur vor dem Hintergrund dieser spezifischen Interpretation seine Behauptung überprüfen können, die Reflexions-Erklärung sei einfacher oder besser als die Erklärung des Objektivismus. Dieser Punkt wird jedoch in der Literatur zum Argument aus der Relativität oft nicht berücksichtigt. Oftmals wird nämlich gar nicht genau bestimmt, wie die zum Vergleich herangezogene und angeblich bessere Erklärung im Vergleich zu objektivistischen Erklärungen aussehen soll. Don Loeb fragt z.B. mit Bezug auf Mackies Argumentation, ob dessen Hypothese, „that we pick up our values from our culture“,⁹ besser sei als die des Objektivisten. Was genau soll diese Hypothese aber aussagen? Entweder nimmt Loeb damit auf Mackies Bündel an Thesen Bezug, die dessen ReflexionsThese näher bestimmen. Also auf seine Irrtumstheorie, die aus der These zum kognitiven Gehalt moralischer Überzeugungen und der These zur objectification besteht. Das kann Loeb aber nicht meinen, da er das Argument als eines gegen den Objektivismus bespricht und nicht als eines gegen den Objektivismus und für die Irrtumstheorie. Oder Loeb versteht diese Hypothese irgendwie allgemeiner, also ohne dass sie auf bestimmte metaethische Positionen wie etwa Mackies Irrtumstheorie festlegt. Dann ist aber seine Frage „why should we think that Mackie’s hypothesis is better?“¹⁰ schwer zu beantworten, denn die Hypothese, „that we pick up our values from our culture“ ist zu unterbestimmt: Was genau bedeutet es, Werte von der eigenen Kultur zu übernehmen oder aufzugreifen? Erst eine Antwort auf diese Frage kann mMV bzw. die von Mackie angesprochenen Variationen erklären! Und als Kandidaten für diese Antwort stehen verschiedenen Interpretationen davon bereit, was es überhaupt bedeutet, „Werte zu haben“ bzw. moralische Überzeugungen zu haben und diese von der eigenen Kultur zu „übernehmen“: Relativistische Positionen geben darauf eine andere Antwort als etwa expressivistische oder irrtumstheoretische Positionen.¹¹
8 Mit „Thesen über die psychologischen Eigenschaften moralischer Überzeugungen“ meine ich Thesen darüber, ob es sich bei diesen um konative oder kognitive Einstellungen handelt. 9 (Loeb1998), S. 282. 10 (Loeb1998), S. 282. 11 Dieser Punkt trifft auch für die folgende Formulierung von Shafer-Landau zu: „The claim is that this evidence [of disagreement] is best accounted for on the assumption that moral judgements give voice solely to relatively parochial views, there being no objective truth that they might capture.“ (Shafer-Landau2003). Was soll es aber bedeuten, dass „moral judgements give voice to relatively parochial views“? Dass sie Urteile über solche Sichtweisen sind? Oder dass sie ihren Ursprung in solchen haben? Oder dass sie Ausdruck von sozial konstituierten non-kognitiven Einstellungen sind?
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Dieses Problem der oftmals ungenügenden Spezifizierung der alternativen Erklärung tritt bei manchen Autoren noch klarer zutage als bei Loeb: So schreibt z.B. David Brink mit Bezug auf tiefgreifende und hartnäckige mMV, „that the best explanation of this kind of disagreement is that there are no moral facts.“¹²Aber wie kann die These, dass es keine „moral facts“ gibt, die Existenz von moralischen Meinungsverschiedenheiten erklären? Warum streiten sich denn Menschen über Dinge, die es gar nicht gibt? Um moralische Meinungsverschiedenheiten zu erklären, muss man etwas dazu sagen, wie diese Meinungsverschiedenheiten zustande kommen, und welche Art von Phänomen sie eigentlich sind, und dazu ist die antirealistische These alleine ungeeignet, solange sie nicht mit Thesen zur Bedeutung und der psycholgischen Eigenschaften moralischer Überzeugungen und zu ihrem Ursprung oder zu Prozessen ihrer Ausbildung ergänzt wird. Wenn man also das Argument als Schluss auf die beste Erklärung konzipiert, dann sollte man konkret angeben, worin die gegenüber dem Objektivismus angeblich bessere Erklärung besteht - und das beinhaltet als erstes Informationen darüber, wie in dieser Erklärung moralische Überzeugungen metaethisch begriffen werden. Und wie gesagt sind verschiedene anti-realistische Positionen im Angebot, die dann jeweils auf ihre spezifische Erklärungskraft hin untersucht werden müssten, um den abduktiven Schluss des AMV zu begründen. Im Kontext meiner Arbeit würde es nun naheliegen, zu untersuchen, ob der Objektivist oder der Relativist die bessere Erklärung von mMV bieten kann. Das würde aber voraussetzen, dass ich schon an dieser Stelle mit der Darstellung und Analyse der verschiedenen relativistischen Positionen beginne. Um das AMV zu bewerten, reicht es jedoch aus, wenn ich frage: Gelingt es denn überhaupt, ein explanatorisches Problem im Zusammenhang mit mMV für den Objektivismus zu etablieren? Ich schlage also vor, das Argument aus der Meinungsverschiedenheit nicht als Schluss auf die beste Erklärung, sondern lediglich als Explikation einer explanatorischen Herausforderung für den Objektivismus zu verstehen. Abhängig davon, ob respektive in welchem Maße er dieser Herausforderung gerecht werden kann, bestimmt sich diesem Argument zufolge die Plausibilität des Objektivismus als metaethische Theorie. Vereinfacht gesagt, geht das Argument, wie ich es im Folgenden verstehen möchte, so vor: Es stellt fest, dass der Objektivismus Probleme bei der Erklärung des (oder bestimmter Aspekte des) Phänomens moralischer Meinungsverschiedenheiten hat, um dann dem Objektivismus Plausibilitätspunkte abzuziehen. Damit ist das Argument zunächst einmal nicht auf den Vergleich zweier oder mehrerer Theorien angewiesen und kann ohne den Rekurs
12 (Brink1989), S. 197.
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auf alternative Theorien ein Problem für den Objektivismus explizieren. Natürlich bringt dieses Problem den Objektivismus gegenüber alternativen Theorien nur dann ins Hintertreffen, wenn diese Theorien keine vergleichbaren explanatorische Probleme haben. Das gilt es dann im dritten Kapitel meiner Arbeit für relativistische Theorien gesondert zu überprüfen. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich mit Bezug auf die Dialektik meiner Arbeit: Ich frage danach, auf welche Gründe sich jemand mit relativistischen Neigungen stützen kann, um den Objektivismus abzulehnen und seine Suche nach einer adäquaten relativistischen Theorie zu motivieren. Wenn nun das AMV tatsächlich ein signifikantes explanatorisches Problem für den Objektivismus etabliert, dann wäre schon mal ein Motiv für diese Suche gefunden, wobei dieses Motiv eben auch eine Bedingung mit sich bringt: Die angestrebte relativistische Theorie sollte keine vergleichbaren Probleme bei der Erklärung von mMV haben. Zu Punkt 3: Aus dem Vorhergehenden folgt: Das AMV muss ein entsprechend herausforderndes Explanandum anbieten, um den Objektivismus in Erklärungsnöte zu bringen. Mackie spricht in dem oben genannten Zitat von „actual variations in the moral codes“, die es zu erklären gelte. Ein paar Sätze vorher hat er dieses Explanandum ein wenig näher beschrieben: The argument from relativity has as its premise the well-known variation in moral codes from one society to another and from one period to another, and also the differences in moral belief between different groups and classes within a complex community.¹³
Ich denke, Mackie hat hier eine ganz spezifische Eigenheit moralischer Meinungsverschiedenheiten im Auge und will nicht einfach nur die offensichtliche Tatsache der Existenz von mMV als Prämisse seines Arguments einführen. Mir scheint das spezifische, von Mackie als erklärungsbedürftig empfundene Phänomen in der bemerkenswerten Kovarianz zwischen bestimmten moralischen Überzeugungen und bestimmten Lebensweisen, Kulturen oder Klassen zu bestehen. Auffällig ist doch bei vielen mMV, dass die jeweiligen Fronten ziemlich genau den Grenzen zwischen Lebensweisen oder (räumlich oder ideologisch verbundenen) Gemeinschaften entsprechen. Mackie scheint in diesen Mustern bei der Verteilung von bestimmten moralischen Überzeugungen eine charakteristische Eigenschaft von mMV zu sehen, die einen Unterschied zwischen mMV und Meinungsverschiedenheiten etwa in den Naturwissenschaften markiert und ein explanatorisches Problem für den Objektivismus darstellt. Auf die Bestimmung einer solchen Eigenschaft ist sein Argument natürlich angewiesen, da Meinungsverschiedenheiten in
13 (Mackie1977), S. 36.
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den Naturwissenschaften (zumindest prima facie) kein explanatorisches Problem für den Objektivismus bezüglich naturwissenschaftlicher Urteile darstellen. Mackie selbst geht davon aus, dass Meinungsverschiedenheiten in den Naturwissenschaften ganz einfach durch Irrtümer und kognitive Fehler erklärt werden können und vor der Folie einer objektivistischen Theorie der Naturwissenschaften erwartbar und nicht ungewöhnlich sind. Die von Mackie genannte Kovarianz bei moralischen Überzeugungen soll dagegen unter Voraussetzung des Objektivismus ungewöhnlich und unerwartet, also schwer oder nicht so einfach zu erklären sein. Das Problem von Mackies Wahl des Explanandums ist, dass es keineswegs ein moralspezifisches Phänomen bezeichnet. Sarah McGrath macht z.B. auf die ebenfalls auffällige Kovarianz zwischen verschiedenen Überzeugungen über den Ursprung des Menschen und bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Gemeinschaften aufmerksam.¹⁴ Mackies Argument beweist demnach zu viel, denn in McGraths Beispiel ist der Schluss auf einen Anti-Objektivismus wohl kaum überzeugend. Auch Geoffrey Sayre-McCord hat diesen Punkt im Zusammenhang mit der These, moralische Überzeugungen würden deshalb divergieren, weil sie ihren Ursprung in kulturspezifischer Sozialisierung haben, gesehen. Ich möchte ihn zustimmend zitieren: To whatever extent moral convictions do depend on our socialization and environment, one must wonder whether it’s to an extent greater than, or different from, that to which any of our non-moral beliefs depend on our socialization and environment. [...] One’s non-moral beliefs, however, no less than one’s moral convictions, evidently find their source largely in one’s education, and in the views of those with whom one interacts; we are usually in a position to offer at least the sketch of a sociological/psychological explanation of why the people in question hold the views (moral or not) that they do. To have any special application to morality, the dependence argument need to be supplemented in a way that shows that moral convictions differ from non-problematic beliefs by being either more dependent, or dependent in a different way, on socialization, etc.¹⁵
Da bisher, so weit ich sehe, niemand den Versuch unternommen hat, eine solche Ergänzung des Arguments herauszuarbeiten, kann man sagen, dass die Kovarianz-These (bisher) noch kein herausforderndes Explanandum expliziert. Von diesen Bemerkungen zu Mackies Wahl des Explanandums ausgehend, können wir jedoch schon mal eine wichtige Bedingung formulieren, die das AMV erfüllen muss: Es muss im Zusammenhang mit mMV ein Phänomen oder eine Eigenschaft gefunden werden, die nicht (oder zumindest nicht in derselben Weise) in für den Objektivismus paradigmatischen Diskursen zu beobachten ist. Denn
14 (McGrath2007), S. 89. 15 (Sayre-McCord1991), S. 167f.
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sonst übergeneralisiert das Argument – zumindest unter der Voraussetzung, dass ein Anti-Objektivismus in diesen Diskursen nicht akzeptabel oder zumindest vom Vertreter des AMV nicht beabsichtigt ist. Von letzterer Voraussetzung gehe ich in dieser Arbeit jedoch aus: Es soll ein Problem spezifisch für den Moralischen Objektivismus formuliert werden. Und von daher sollten die jeweiligen Argumente nicht zu viel beweisen. Zusammenfassung: Ich habe vorgeschlagen, das AMV nicht als Schluss auf die beste Erklärung zu untersuchen, sondern als ein Argument, das dem Moralischen Objektivismus zunächst ein explanatorisches Problem nachzuweisen versucht. Ein erfolgreiches Argument in diesem Sinne würde zum Verlust von Plausibilitätspunkten auf Seiten des Objektivismus führen, wobei im Hinterkopf zu behalten ist, dass es letztlich auf die relative Erklärungskraft alternativer Positionen ankommt, wie schwer dieser Plausibilitätsverlust für den Objektivismus wiegt. Einem erfolgreichen AMV muss es zudem gelingen, ein Explanandum ausfindig zu machen, welches ein ausreichend großes explanatorisches Problem für den Objektivismus darstellt und das moralspezifisch ist. In seiner generellen Form lässt sich dieses AMV wie folgt fassen: (1) Moralische Meinungsverschiedenheiten weisen eine Eigenschaft E auf, während Meinungsverschiedenheiten in nicht-moralischen Diskursbereichen diese Eigenschaft nicht aufweisen. (2) Der Objektivismus hat große Probleme zu erklären, warum moralische Meinungsverschiedenheiten diese Eigenschaft E aufweisen. (K) Also verliert der Objektivismus Plausibilitätspunkte. In den beiden folgenden Unterabschnitten (3.2.1 und 3.2.2) werde ich zwei Argumente kritisch untersuchen, die jeweils verschiedene Eigenschaften von mMV als Explanandum vorschlagen.
3.2.1 Hartnäckige moralische Meinungsverschiedenheiten Das erste Argument geht von einer empirischen Behauptung aus, die durch alltägliche Beobachtung sowie historische und kulturanthropologische Berichte scheinbar gestützt wird: Es gibt mehr und (/oder) mehr hartnäckige, d.h. lang anhaltende, Dissense in der Moral als in anderen Diskursbereichen. Einer Begründung dieser Behauptung stellen sich zunächst drei Herausforderungen:
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Drei Herausforderungen Erstens ist der Forderung nachzukommen, diejenigen moralischen Meinungsverschiedenheiten auszuscheiden, die sich nicht-moralischen Aspekten moralischer Fragen oder Probleme verdanken. Eine Uneinigkeit etwa in der moralischen Bewertung der Todesstrafe, die sich alleine der unterschiedlichen Einschätzung ihrer abschreckenden Wirkung verdankt, lässt sich nicht als rein moralische Meinungsverschiedenheit verstehen, insofern hier keine Uneinigkeit bezüglich der moralischen Bewertung relevanter nicht-moralischer Fakten besteht, sondern lediglich bezüglich der Frage, ob und welche moralisch relevanten Fakten überhaupt bestehen. Solche nicht-genuinen moralischen Dissense lassen sich also durch die Herstellung eines Konsenses bezüglich nicht-moralischer Fakten beilegen. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, die Unterscheidung zwischen moralischen Meinungsverschiedenheiten, die auf Uneinigkeit in den nicht-moralischen Fakten beruhen, einerseits, und solchen, die das nicht tun, andererseits, terminologisch zu fixieren: Ich werde letztere als genuin moralische Meinungsverschiedenheiten verstehen. Die erste Forderung lautet also: Finde genuin moralische Meinungsverschiedenheiten. Die zweite Herausforderung besteht darin, dem von John W. Cook sogenannten Projektionsirrtum zu entgehen.¹⁶ The error itself consists of thinking, on account of similarity, that actions of an alien people are actions of the same sort as actions that might occur in—or that one is familiar with from— one’s own culture.¹⁷
Einen solchen Irrtum begeht z.B. jemand, der aus der Akzeptanz von Säuglingstötungen bei Gesellschaften der Inuit schließt, diese Gesellschaften hätten fundamental andere moralische Werte. Dieser Schluss basiert jedoch auf einer unzulässigen Projektion unserer Umstände auf die Situation der Inuit. Unter den Bedingungen von Überfluss und Sicherheit in westlichen Industriestaaten mag ein Befürworter von Säuglingstötungen als Vertreter fundamental verschiedener moralischer Werte einzuordnen sein, aber unter den bedrohlichen Lebensbedingungen von Knappheit der Inuit steht eine solche Befürwortung nicht unbedingt in einer fundamentalen Spannung zu „unseren“ Werten: Wenn Nahrung so knapp ist, dass Familien nicht die Versorgung aller ihrer Kinder sicherstellen können und der Versuch sogar das Überleben aller bedrohen kann, dann ist - auch aus „unserer“ Sicht - die schmerzlose Tötung eines Neugeborenen vielleicht die mo-
16 Vgl. (Cook1999), insb. Kapitel 10. 17 (Cook1999), S. 93.
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ralisch richtige Lösung. Mackie macht übrigens selbst darauf aufmerksam, dass die verschiedenen „moral codes“ unterschiedlicher Kulturen oder Lebensformen möglicherweise als (korrekte) kontextspezifische Anwendungen von „very gerneral basic principles which are recognized at least implicitly in every society“¹⁸ verstanden werden können und sich insofern in ihrer Diversität nicht unbedingt eine Meinungsverschiedenheit ausdrückt. Die zweite Forderung lautet demnach: Finde moralische Meinungsverschiedenheiten. Drittens stellt sich die Herausforderung, das Ausmaß genuin moralischer Meinungsverschiedenheiten im Vergleich zu Dissensen in anderen Diskursbereichen zu bestimmen. Hier stellen sich gleich mehrere Fragen und Probleme: Zunächst ist die Frage, ob der Vergleich mit allen nicht-moralischen Diskursbereichen oder z.B. nur mit dem Spezialdiskurs der wissenschaftlichen Disziplin Physik angestellt werden soll. Beide Möglichkeiten scheinen mir problematisch zu sein. Im ersten Fall ist es sehr gewagt, ein größeres Ausmaß an Dissensen im Bereich der Moral zu behaupten. Es scheint mir unwahrscheinlich zu sein, dass die Anzahl der Gegenstände, über die sich im Bereich der Moral gestritten wird, größer ist als diejenige der Gegenstände in allen anderen nicht-moralischen Bereichen. Im zweiten Fall – also beim Vergleich der Moral mit einem Spezialdiskurs wie etwa der Physik – scheint mir die für das Argument notwendige Zuspitzung nicht zu erfolgen. Denn dass es in der Moral möglicherweise mehr Meinungsverschiedenheiten als in der Physik gibt, kann doch einfach daran liegen, dass zu moralischen Fragen so gut wie jeder eine Meinung hat, während sich Fragen der Physik nur einem ausgewählten, kleinen Kreis von Physikern (und Hobby-Physikern) stellen.¹⁹ Hinzu kommt die Frage, ob es um synchrone oder diachrone Meinungsverschiedenheiten geht und ob die jeweiligen Vertreter bestimmter moralischer Überzeugungen sich dieser Meinungsverschiedenheiten bewusst sein müssen. Oftmals wird nämlich zur Stützung der These des besonderen Ausmaßes an mMV eine grobe Liste von allen jemals von Menschen vertretenen moralischen Überzeugungen vorgelegt. Wenn man so vorgeht, ist die Aussicht auf einen relevanten Unterschied zum nicht-moralischen Bereich gering: Was haben Menschen in ihrer langen Geschich-
18 (Mackie1977), S. 37. 19 Naheliegend wäre auch ein Vergleich des Ausmaßes von mMV einerseits mit dem Ausmaß in Bereichen, von denen es relativ unstrittig ist, dass sie keine objektiven Diskursbereiche sind – so etwa der ästhetische Bereich –, und andererseits mit Bereichen, die als paradigmatische objektive Bereiche aufgefasst werden. Aber selbst wenn sich bei einem solchen Vergleich herausstellen würde, dass das Ausmaß von mMV vergleichbar groß ist wie im ästhetischen Bereich und zudem größer als im objektiven Bereich, sind die im nächsten Abschnitt angestellten Überlegungen zur Erklärung einschlägig.
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te und in den entlegensten Erdteilen nicht so alles an mehr oder weniger absurden Dingen über ihre Umwelt geglaubt! Wenn es aber um synchrone, also in unserer heutigen Zeit auftretende mMV gehen soll, derer die sich die Menschen bewusst sind, dann stellt sich die Frage, wie man denn überhaupt sinnvoll einen empirischen Vergleich anstellen will. Es ist wohl nicht übertrieben, einen solchen empirisch durchgeführten Vergleich als Mammutprojekt zu bezeichnen. Hinzu kommt die Frage, wie lange denn eine Meinungsverschiedenheit bestehen muss, um in die Rechnung einzugehen. Kurzfristige mMV kommen dafür offensichtlich nicht in Frage, wenn man bedenkt, worüber man alleine an einem beliebigen Tag seines Lebens über nicht-moralische Fragen mit anderen kurzfristig uneinig ist. Wenn man dagegen über einen längeren Zeitraum persistierende, also hartnäckige mMV betrachten will, muss man eine langfristig angelegte empirische Untersuchung durchführen. Das mögen alles keine unüberwindbaren Hindernisse sein, aber zu erkennen ist damit doch (auch vor dem Hintergrund der ersten beiden Forderungen), wie groß die methodische Herausforderung für eine empirische Überprüfung der These des besonderen Ausmaßes von mMV ist. Bisher werden jedenfalls zur Stützung dieser These nur Eindrücke und grobe Listen von mMV angeboten. Ich denke, solche Eindrücke reichen zur Begründung kaum aus – insbesondere wenn man bedenkt, dass moralische Dissense in der Regel mehr Aufmerksamkeit erregen als moralischer Konsens einerseits und Dissens in nicht-moralischen Bereichen andererseits.
3.2.1.1 Objektivistische Erklärungen Doch selbst wenn man annimmt, dass es wesentlich mehr genuine und hartnäckige Meinungsverschiedenheiten in der Moral als in anderen Bereichen wie den Naturwissenschaften gibt, ist nicht zu sehen, wieso das den Objektivismus in Erklärungsnöte bringen sollte. Einschlägig sind hier Erklärungen, die auf den besonderen Gegenstand und den charakteristischen Kontext moralischer Fragen einerseits und den Zusammenhang moralischer Überzeugungen mit Selbstund Weltbildern andererseits verweisen. Dass Überlegungen zu moralischen Ansprüchen, die oftmals unbequeme und dem Eigeninteresse (oder den eigenen altruistischen Interessen und Neigungen) entgegenstehende Implikationen haben, besonders anfällig für andauernde Irrtümer, Täuschungen und verzerrenden Einflüsse wie emotionale Betroffenheit oder Vorurteile sind, ist kaum verwunderlich.²⁰ Und dass einmal erworbene moralische Überzeugungen manchmal auch durch rationale Argumentation schwer zu verändern sind, ist ebenfalls nicht
20 Vgl. (Shafer-Landau2003), 219.
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überraschend, wenn man sich vor Augen führt, dass von solchen Überzeugungen die Zugehörigkeit zu sozialen oder kulturellen Zusammenhängen und das eigene Selbst- und Weltbild abhängt. Generell kann man sagen: Wenn von der Antwort auf eine Frage viel abhängt, also der Lebensstil, das Handeln, das Selbstverständnis und die Weltanschauung eines Menschen betroffen sind, dann neigen Menschen dazu, Evidenzen oder gute Gründe zu ignorieren, bestimmte Gesichtspunkte nicht angemessen zu gewichten oder überhaupt zu thematisieren, und unvernünftige Schlüsse zu ziehen. Und solche verzerrenden Rationalisierungen sind nicht notwendig auf Egoisten beschränkt: Auch der Tierliebhaber mag emotionalen oder gruppen-dynamischen Effekten ausgesetzt sein, die ihn die Relevanz von Tierinteressen überbewerten lassen. Dieser Bezug auf den (besonderen) Forderungscharakter der Moral setzt also keine inhaltliche Bestimmung der Moral voraus (in dem Sinne, dass z.B. ein moralischer Egoismus ausgeschlossen würde), sondern macht lediglich auf diesen formalen Forderungscharakter aufmerksam. So oder so: Moral ist immer für irgendjemanden unbequem. Hinzu kommen Erklärungen, die auf die besonderen Anforderungen an die epistemischen Fähigkeiten und die Urteilskraft moralisch Urteilender hinweisen. Oftmals gilt es, konfligierende normative Ansprüche gegeneinander abzuwägen, nicht-moralische Evidenzen in ihrer Relevanz angemessen einzuschätzen, Analogien zu erkennen und angemessene Schlüsse daraus zu ziehen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ungewöhnliche Situationen zu imaginieren, Implikationen und Konsequenzen für die relevanten Zusammenhänge zu erkennen, usw. Ist es da nicht naheliegend, Bequemlichkeit, Unfähigkeit und den Hang zu einfachen Lösungen für das Fortbestehen von moralischen Dissensen verantwortlich zu machen? Im Übrigen ist es sehr bezeichnend, dass genau in jenen nicht-moralischen Bereichen viele langlebige Dissense festzustellen sind, die in einigen der genannten Hinsichten mit der Moral vergleichbar sind. Um es etwas polemisch auszudrücken: Ist es überraschend, dass Reiche hartnäckig an der Überzeugung festhalten, weniger Steuern (für Reiche) führten zu mehr Wirtschaftswachstum, während Arme die gegenteilige Überzeugung verteidigen?²¹ Abgesehen von diesen Punkten ist der angestellte Vergleich von vornherein unfair: Verglichen wird hier die Langlebigkeit moralischer Dissense mit Dissensen in wissenschaftlichen Diskursbereichen, ohne sicherzustellen, dass die Subjekte im einen Bereich in entsprechender Anzahl vergleichbare epistemische Fähigkeiten und Ausgangspositionen haben wie im anderen Bereich. Da nun einmal – um es drastisch auszudrücken – jeder beliebige Idiot seinen Senf zu moralischen Fragen abgibt, ist es zu erwarten, dass Uneinigkeit in solchen Fragen langlebiger
21 Vgl. dazu auch (Tersman2006), S. 27.
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ist als in Bereichen, in denen überwiegend epistemisch besonders qualifizierte und interessierte Menschen miteinander debattieren. Wir können nicht erwarten, dass die in diesem Vergleich herangezogenen moralisch Urteilenden alle in ausreichendem Maße gut informiert, klar denkend und rational sind.
3.2.2 Moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemisch gut situierten Individuen Nötig ist also eine weitere Qualifizierung des Phänomens der Meinungsverschiedenheit, um das Argument in Gang zu bringen. Naheliegend ist es, sich auf langlebige Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemisch gut situierten²² und aufrichtigen Subjekten zu konzentrieren. Doch auch dieser Version des Arguments stellen sich zunächst zwei Probleme: (1) Erstens muss bei der Diagnose der Existenz solcher Meinungsverschiedenheiten sichergestellt werden, dass tatsächlich die oben genannten epistemischen Verzerrungen ausgeschlossen sind. Das ist keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass man sich für die zu untersuchenden Meinungsverschiedenheiten die jeweiligen Opponenten und ihre epistemischen Fähigkeiten und Situationen ganz genau anschauen muss. Das ist offensichtlich keine Aufgabe, die man ohne empirische Untersuchungen einfach aus dem Lehnstuhl erledigen kann. (2) Zweitens muss auch hier der Unterschied zu Meinungsverschiedenheiten in anderen Bereichen herausgearbeitet werden. Denn langlebigen Dissens gibt es z.B. auch in der Naturwissenschaft zwischen epistemisch gut situierten und aufrichtigen Forschern. Der Hinweis auf moralischen Meinungsverschiedenheiten, die sich auch in Expertenkommissionen oder in philosophischen Seminaren hartnäckig halten,²³ obwohl hier ideale Bedingungen herrschen, (es treffen informierte Menschen aufeinander, „an der Wahrheit interessiert, 22 Ich werde in den folgenden Ausführungen den Begriff des epistemisch gut situierten Subjekts noch näher bestimmen. 23 Den Verweis auf Expertenkommissionen gibt z.B. (Halbig2011), S. 343. Auf „gute Universitätsseminare“ verweist (Gesang2008), S. 167. Halbig selbst weist später darauf hin, dass es viele komplexe und schwierige moralische Fragen gibt, insbesondere solche, die durch den technologischen Fortschritt und die Globalisierung aufgeworfen werden. Üblicherweise sind genau diese Fragen Gegenstand von Debatten in Expertenkommissionen, so dass hier langlebiger Dissens nicht unbedingt verwunderlich ist. Zudem liegt hier nahe, dass der Dissens auch viel mit ungeklärten Fragen zu nicht-moralischen Fakten zu tun hat.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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im (moraltheoretischen) Urteilen geübt, manchmal von konkretem Zeitdruck befreit und nicht von Fremdinteressen gesteuert“²⁴), ist hier, denke ich, nicht ausreichend – man denke nur wieder an wirtschaftswissenschaftliche Expertenkommissionen.²⁵ Was soll also moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemisch gut situierten und aufrichtigen Subjekten besonders auszeichnen? Eine Möglichkeit wäre, dass sie in größerem Ausmaß als in anderen Bereichen auftreten; eine andere, dass sie sogar bei relativ einfachen Fragen auftreten. Ich möchte im Folgenden einen Vorschlag untersuchen, der die genannten zwei Problemen zu lösen versucht, der also versucht, erstens methodisch sicherzustellen, dass epistemisch gut situierte Individuen eine genuine mMV haben, und zweitens, dass diese mMV ein Merkmal hat, das sie von Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen unter vergleichbaren epistemischen Bedingungen in nicht-moralischen Bereichen unterscheidet. Der Vorschlag bezieht sich auf die Ergebnisse einer Studie zu einem moralphilosophischen Gedankenexperiment und lautet: Die Studie zeigt, dass epistemisch gut situierte Individuen in idealen epistemischen Bedingungen zu einer signifikanten Anzahl einander widersprechende Urteile bezüglich einer einfachen moralischen Frage fällen. Die Pointe des Vorschlags besteht erstens darin, dass durch die Methode des Gedankenexperiments und die Auswahl der Probanden in der Studie ideale epistemische Bedingungen und der Ausschluss von epistemischen Verzerrungen sichergestellt werden soll (Lösung des ersten Problems), und zweitens, dass die Auswahl des moralischen Problems die Aussichten trübt, für diesen Typ des moralischen Dissenses einen ähnlich gelagerten Fall in nicht-moralischen bzw. paradigmatischen objektiven Bereichen ausfindig zu machen (Lösung des zweiten Problems). Ich werde nun zunächst diese Studie vorstellen, um dann zu erläutern, warum sie geeignet erscheint, ein explanatorisches Problem für den Objektivismus zu etablieren. Anschließend werde ich zeigen, dass genau das der Studie letzlich doch nicht gelingt, da keines der beiden genannten Probleme gelöst wird.
24 (Gesang2008), S. 167. 25 Dass in wirtschaftswissenschaftlichen Expertenkommissionen der Einfluss von Fremdinteressen ausgeschaltet ist, mag man wohl bezweifeln können. Wer jedoch diesen Zweifel hegt, der sollte ihn auch in Bezug auf ethische Expertenkommissionen hegen: Üblicherweise sitzen in solchen Kommissionen Kirchenvertreter. Und dass in philosophischen Seminaren frei von konkretem Zeitdruck diskutiert wird, mag zwar in dem Sinne stimmen, dass man dort nicht schnell zu einem Ergebnis kommen muss, aber dass die Zeit in Seminaren ausreicht, um alle relevanten Aspekte eines moralischen Problems zu diskutieren, ist zumindest durch meine Erfahrung nicht gedeckt.
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3.2.2.1 Ein Argument aus den Trolley Cases Sebastian Köhler hat sich in seinem Essay „Thought-Experiments, Disagreement and Moral Realism“²⁶ mit einer Studie zu Varianten des berühmten Trolley Case beschäftigt. In dieser von Hauser und Kollegen durchgeführten Studie²⁷ wurden Probanden verschiedenen Alters und Geschlechts aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit unterschiedlichem Bildungsgrad mit folgendem Gedankenexperiment konfrontiert: Fall 1: Anne hat die Möglichkeit, einen Zug von einem Gleis A auf ein Gleis B umzulenken. Lenkt sie den Zug nicht um, sterben 5 Menschen, die sich auf dem Gleis aufhalten und dem Zug nicht entkommen können. Lenkt sie den Zug um, stirbt ein Mensch X und hält den Zug auf, der ansonsten wieder zurück auf Gleis A geführt und die 5 Menschen töten würde. Fall 2: Fall 2 ist identisch mit Fall 1 mit dem Unterschied, dass hinter X ein großer Felsen liegt, der den Zug auch dann zum Stillstand bringen würde, wenn sich X nicht auf dem Gleis aufhielte.
In Bezug auf beide Fälle wurde nun gefragt, ob es moralisch erlaubt oder verboten ist, den Zug umzulenken. 56% der Befragten urteilten im ersten Fall, es sei erlaubt, während 44% urteilten, es sei nicht erlaubt. Im zweiten Fall waren 72% der Meinung, es sei erlaubt, während 28% das Umstellen der Weiche als nicht erlaubt beurteilten. Köhler ist der Meinung, dass der Moralische Objektivismus²⁸ mit diesem Ergebnis ein Problem hat. Er behauptet, dass dieses moralphilosophische Gedankenexperiment (und moralphilosophische Gedankenexperimente generell) ideale Bedingungen für moralische Urteile bereitstellen: It is obvious which properties the scenarios have, which are morally relevant, all possibly disturbing factors are filtered out.²⁹
In diesem Experiment sind Köhler zufolge drei epistemische Bedingungen erfüllt, „which, given the epistemic situation (e.g. the individual’s epsitemic capacities), provide the best guarantee that the judgements about phenomenon X are correct“³⁰. Erstens seien die nicht-moralischen Tatsachen der zu bewertenden Situation bekannt und für alle Beteiligten klar. Die Meinungsverschiedenheiten lie-
26 (Koehler2010). 27 Vgl. (Hauser2007). 28 Köhler bezieht sich in seinem Essay auf den Moralischen Realismus. Das macht aber für meine Zwecke keinen Unterschied. 29 (Koehler2010), S. 247. 30 (Koehler2010), S. 246.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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ßen sich demnach nicht auf divergierende Einschätzungen der nicht-moralischen Tatsachen zurückführen. Zweitens würde garantiert, dass die Beteiligten wohlinformiert, mit klarem Kopf und rational³¹ urteilen. Und drittens könnten verzerrende Effekte von psychologischen oder soziologischen Faktoren wie Eigeninteresse oder Vorurteile ausgeschlossen werden. Dass in dem Experiment die beiden letzten Bedingungen erfüllt sind, schließt Köhler vor allem aus der statistischen Unwahrscheinlichkeit, dass die Urteile einer Gruppe durch Irrationalität wie fehlerhaftes Überlegen oder durch Vorurteile zustande gekommen sind: Among both groups are surely people who can be regarded as well-informed, clear-headed, rational, etc. on any reasonable formulation of these conditions.³²
Nun könnte der Objektivist natürlich zugestehen, dass in diesem Experiment tatsächlich einigermaßen ideale epistemische Bedingungen im Sinne Köhlers herrschen, und dennoch ungerührt bleiben. Denn, so könnte der Objektivist argumentieren, ideale epistemische Bedingungen in diesem minimalen Sinne garantieren eben keine korrekten Urteile und damit auch keinen Konsens - wie man z.B. an fortbestehenden Dissensen in den Naturwissenschaften sehen kann. Und so wie dort der Dissens trotz idealer Bedingungen mit Hinweis auf die epistemisch anspruchsvolle und komplizierte Aufgabe des Naturwissenschaftlers erklärt werden kann, so kann man die moralische Meinungsverschiedenheit mit der besonderen Schwierigkeit des moralischen Problems erklären. Köhler hält diese Entgegnung jedoch für nicht überzeugend. Denn auch wenn das Trolley-Problem nicht gerade die einfachste moralische Frage stellen würde, so gehöre es dennoch zu den „easier ones“³³ und sei insofern nicht mit den schwierigen Fragen etwa der Quantenphysik vergleichbar. Zur Begründung schreibt Köhler: Now, although I admit that the issue in question is harder than others, I disagree that its difficulty suffices to explain the disagreement. Of the difficult moral questions, it is still among the easier ones: Only a limited number of moral considerations could be relevant and it is clear which these are. And the considerations relevant are quite familiar to common moral thought: Under which circumstances, if ever, is it permissible to harm some for the sake of others. Since the features to be taken into account are limited to a few very familiar ones, it seems implausible that the evaluative question could be hard to answer.³⁴
31 Köhler sagt nichts Genaues dazu, was er hier unter rational verstanden wissen möchte. Anzunehmen ist, dass er unter einem „rational judgement“ eines versteht, dass z.B. nicht durch eine fehlerhafte Überlegungen zustande gekommen ist. 32 (Koehler2010), S. 250. 33 (Koehler2010), S. 248. 34 (Koehler2010), S. 248.
42 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
Hier habe wir also eine, wie es aussieht, echte Herausforderung für den Objektivisten und man kann das explanatorische Argument aus der Meinungsverschiedenheit wie folgt zusammenfassen:
Das explanatorische Argument (1) Wenn es objektive moralische Tatsachen gibt und moralische Urteile wahrheitsfähige Überzeugungen über diese Tatsachen ausdrücken, dann beinhaltet eine Erklärung für moralische Meinungsverschiedenheiten, dass mindestens einer der Opponenten einen kognitiven Fehler in Bezug auf diese Tatsachen macht.³⁵ (2) Es gibt moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen in idealen epistemischen Bedingungen mit Bezug auf einfache moralische Fragen. (3) Eine Erklärung solcher Meinungsverschiedenheiten, die beinhaltet, dass mindestens einer der Opponenten einen kognitiven Fehler in Bezug auf diese Tatsachen macht, ist unplausibel. (K) Also ist es unplausibel, anzunehmen, dass es objektive moralische Tatsachen gibt und moralische Urteile wahrheitsfähige Überzeugungen über diese Tatsachen ausdrücken. Hinter diesem Argument bzw. hinter Prämisse (3) steht folgender Gedanke: Es ist unplausibel, anzunehmen, dass sich so viele verschiedene Individuen in idealen epistemischen Bedingungen in solch einer vergleichsweise einfachen Frage irren (eine falsche Überzeugung ausgebildet haben) - und zwar weil es einfach unwahrscheinlich ist. Auch wenn ich das Argument aus der Meinungsverschiedenheit – wie oben angemerkt – nicht als Schluss auf die beste Erklärung untersuchen möchte, also keinen Vergleich zwischen respektiven Erklärungskraft alternativer metaethischer Theorien anstellen möchte, ist hier kurz anzumerken, dass mit dem in (3) ausgedrückten Gedanken im Hintergrund auch die Irrtumstheorie unplausibel ist. Denn wieso sollte es unplausibel sein, dass mindestens einer der Opponenten einem kognitiven Irrtum unterliegt, wenn es nicht unplausibel ist, dass alle Beteiligten einem kognitiven Irrtum unterliegen – wenn das eine unwahrscheinlich ist, dann ist das andere wohl erst recht unwahrschein-
35 Realisten wie Shafer-Landau versuchen einige mMV mit der Unbestimmtheit mancher moralischer Wahrheiten zu erklären, vgl. (Shafer-Landau1994). Diese Erklärung muss aber letztlich auch wieder einen Irrtum auf Seiten der Opponenten annehmen, solange diese keine Einigkeit darüber erzielen, dass die Antwort auf die umstrittene Frage unbestimmt ist.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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lich. Dem Relativismus und dem Expressivismus eröffnet sich mit diesem Gedanken dagegen tatsächlich die Möglichkeit, eine bessere, plausiblere Erklärung der Meinungsverschiedenheiten aus Prämisse 2 zu geben. Der Relativist könnte argumentieren: Statt mindestens einer Gruppe einen kognitiven Irrtum zuzuschreiben, sollten wir davon ausgehen, dass sich die beiden Gruppen z.B. auf verschiedene Standards beziehen und in Bezug auf diese Standards korrekte Urteile fällen. Der Expressivist könnte argumentieren: Statt der unplausiblen Annahme eines solch weit verbreiteten Irrtums bei rationalen Leuten, sollten wir es mal mit der These versuchen, dass moralisch Urteilende keine kognitiven Urteile fällen.³⁶ Wie auch immer diese alternativen Erklärungen dann im Einzelnen aussehen mögen – und wie gesagt interessieren mich an dieser Stelle die Erfolgsaussichten alternativer nicht-objektivistischer Erklärungen nicht, da es mir nur um die Plausibilität und/oder Verfügbarkeit einer objektivistischen Erklärung geht –, dem Argument zufolge steht jedenfalls fest: Der Objektivist kann nur eine unplausible Erklärung bieten, und das gilt erst mal unabhängig davon, ob plausiblere Erklärungen verfügbar sind. Doch wie steht es mit der Überzeugungskraft des ganzen Arguments?
3.2.2.2 Kritik des Arguments aus den Trolley Cases Zunächst scheint mir der hinter Prämisse (3) stehende Gedanke nicht hinreichend klar formuliert zu sein. Wenn wir uns Fälle anschauen, in denen verschiedene Individuen unter idealen epistemischen Bedingungen eine einfache epistemische Aufgabe lösen sollen, dann machen wir die Erfahrung, dass sie in der Regel richtige und übereinstimmende Urteile fällen. Und aufgrund von dieser Erfahrung können wir annehmen und erwarten, dass verschiedene Individuen in solchen Bedingungen generell zu richtigen und übereinstimmenden Urteile kommen. Wir können also sagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass epistemisch ideal situierte Individuen bei einfachen Aufgaben einen Fehler machen und einander widersprechende Urteile fällen. So weit, so gut. Aber liegt es daher nahe, im Falle eines Dissenses zwischen ideal situierten Individuen in einer einfachen Frage anzunehmen, es sei unplausibel, dass sich mindestens eine Gruppe irrt? Das scheint mir nur dann nahe zu liegen, wenn man schon anti-objektivistisch eingestellt ist. Vergleichen wir das mit einem nicht-moralischen Fall:³⁷ Eine Gruppe von Mathe-
36 An dieser Stelle wird auch wieder mein oben angesprochener Punkt deutlich, dass es seltsam ist, zu sagen, die beste Erklärung sei, dass hier keiner einen Fehler macht. Wenn man sagt, es sei plausibler, dass sich niemand irrt, dann muss man erklären, was die Leute denn dann mit ihren Aussagen machen – wie das gehen soll, dass sie keinen Fehler machen. 37 Das folgende Beispiel ist an David Enochs Fall einer mathematischen Meinungsverschiedenheit angelehnt. Vgl. (Enoch2009), S. 42f.
44 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
matikern macht sich daran, eine nicht übermäßig komplexe Rechenaufgabe zu lösen. Sie haben genug Zeit, keiner ist betrunken, die Taschenrechner sind gezückt. Noch bevor diese Leute anfangen zu rechnen, würden wir erwarten, dass sie zu einer übereinstimmenden Lösung der Rechenaufgabe gelangen. Stellen wir uns nun aber vor, sie gelangen zu keinem einstimmigen Urteil. Das Ergebnis der einen Hälfte der Gruppe ist 15, das Ergebnis der anderen Hälfte ist 23,75. Natürlich können wir jetzt sagen: „Das hätten wir jetzt wirklich nicht erwartet. Das ist seltsam.“ Und vielleicht sogar: „Das muss erklärt werden!“ Aber liegt es nahe, dann zu sagen: „Es ist unplausibel, dass sich mindestens eine Gruppe geirrt hat? Es ist unplausibel, dass eine Gruppe falsch gerechnet hat?“ Ich denke, das liegt nicht nahe. Warum sollten wir das aber dann im moralischen Fall des Gedankenexperiments annehmen? Mir scheint die Bereitschaft, das im moralischen Fall unplausibel zu finden, sehr stark von der Neigung zu einer anti-objektivistischen Auffassung abzuhängen, die unabhängig von der Betrachtung der konkreten moralischen Meinungsverschiedenheit besteht. Wenn das Argument jedoch eine solche anti-objektivistische Auffassung überhaupt erst motivieren soll, dann kann es nicht zur Plausibilisierung einer seiner Prämissen eine anti-objektivistische Neigung voraussetzen. Der Vertreter des Argument könnte nun erwidern: Es gibt einen Unterschied zwischen dem beschriebenen mathematischen Fall und dem Fall moralischer Meinungsverschiedenheiten. Bei menschlichen Rechenkünsten machen wir überwiegend die Erfahrung, dass sich rationale Leute früher oder später auf eine Lösung einigen. Daher sind wir geneigt, im Falle, dass sie sich mal nicht einigen, einen Irrtum anzunehmen. In der Moral dagegen einigen sich rationale Leute ziemlich selten, so dass hier eine Neigung, Irrtümer anzunehmen, weniger gut begründet ist. Ich denke, dieser Einwand ist nicht überzeugend. Zunächst kann man bezweifeln, dass es tatsächlich Meinungsverschiedenheiten zwischen rationalen Individuen in einem beträchtlichen Ausmaß gibt. Köhler merkt dazu lediglich an, dass es „many other interesting cases“³⁸ geben soll, ohne jedoch auf konkrete Fälle zu verweisen. Doch auch wenn es viele analoge Fälle zum TrolleyCase gibt, in denen rationale Individuen in signifikanter Anzahl divergierende Urteile fällen, hängt letztlich viel von der Frage ab, wie das Verhältnis von diesen Fällen der Uneinigkeit zu den Fällen moralischer Einigkeit ist. Schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es in vielen grundlegenden moralischen Fragen besonders unter rationalen Individuen Übereinstimmung gibt – und das sogar über Kulturgrenzen hinweg. Köhler selbst merkt an, „[...]if we consider easier questions, for example, whether it is permissible to torture innocent children
38 (Koehler2010), S. 248.
3.2 Ein explanatorisches Problem für den Objektivismus? |
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for pleasure, we will find agreement close to 100%.“³⁹ Wenn tatsächlich Einigkeit in sehr vielen einfachen moralischen Fragen besteht, dann kann der Objektivist dem Einwand begegnen. Wenn nämlich die überwiegende Übereinstimmung in mathematischen Fragen uns geneigt sein lässt, in den seltenen Fällen von Meinungsverschiedenheiten zwischen rationalen Individuen einen Irrtum auf mindestens einer Seite anzunehmen, dann sollte uns die große Übereinstimmung in moralischen Fragen in den Fällen moralischer Meinungsverschiedenheiten ebenso geneigt sein lassen – selbst wenn diese Fälle etwas häufiger sein sollten als Fälle von MV bezüglich mathematischer Fragen. Doch damit ist das Problem für den Objektivisten nicht ganz gelöst. Zwar kann er nach den eben angestellten Überlegungen berechtigterweise darauf verweisen, dass mindestens eine Seite einem Irrtum unterliegt, aber er sollte dennoch erklären können, warum es in der Moral solche Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen in idealen epistemischen Bedingungen im Sinne Köhlers gibt, während das in nicht-moralischen Bereichen kaum der Fall ist. Im Folgenden möchte ich die Möglichkeiten aufzeigen, wie der Objektivist eine plausible Erklärung liefern kann. Zum Einen (a) lässt sich bestreiten, dass jene Bedingungen, die Köhler als ideale epistemische Bedingungen bezeichnet, die Erwartung rechtfertigen, dass sich alle Individuen einigen bzw. kein Individuum einen kognitiven Fehler macht. Die Frage ist hier also, ob Köhlers Annahme berechtigt, dass es sich bei diesen Bedingungen, unter denen die Subjekte in der Studie urteilen, tatsächlich um ideale epistemische Umstände handelt. Und zum Anderen (b) kann die Behauptung Köhlers widerlegt werden, es handele sich beim Trolley-Problem um ein einfaches moralisches Problem. Zu (a): Ideale epistemische Bedingungen im Trolley Case? Um die Behauptung zu problematisieren, in der Studie würde unter idealen epistemischen Bedingungen geurteilt, möchte ich noch einmal auf das Mathematik-Beispiel zurückkommen. Zuvor möchte ich jedoch noch die Unterscheidung zwischen der epistemischen Ausstattung eines Individuums und den epistemischen Umweltbedingungen, in denen ein Individuum urteilt unterscheiden: Mit epistemischer Ausstattung möchte ich die epistemischen Fähigkeiten von Individuen bezeichnen (also z.B. ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum logischen Denken oder zum Beschaffen von relevanten Informationen). Verschiedene Individuen können für eine bestimmte epistemische Aufgabe in unterschiedlichem Maße ausgestattet sein. Mit dem Begriff der epistemischen Umweltbedingungen werde ich auf die Situationen Bezug nehmen, in denen Individuen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten urteilen. So
39 (Koehler2010), S. 248.
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wäre z.B. eine nicht-ideale Umweltbedingung für das Lösen einer komplizierten Rechenaufgabe, wenn man diese Aufgabe in zehn Sekunden oder in einer lärmenden Disko lösen muss. Damit komme ich auf das Mathematik-Beispiel zurück. In diesem Beispiel haben wir es mit Mathematikern zu tun, also mit Leuten, von denen wir einfach erwarten, dass sie aufgrund ihrer nachgewiesenen epistemischen Ausstattung (besonderes mathematisches Talent, die Tugenden der Genauigkeit und Achtsamkeit beim Rechnen, usw.) die richtige Lösung finden und sich von daher einigen. Wenn wir das Beispiel aber mit rationalen Normalbürgern konstruieren, also mit Bürgern, die mit üblichen rationalen Fähigkeiten gut ausgerüstet sind (gut gebildet, durchschnittlich begabt im logischen Denken, usw.), die aber nicht ausgewiesene Rechenkünstler sind, dann würden wir vielleicht nicht unbedingt erwarten, dass alle zu der richtigen Lösung gelangen – zumindest wäre es nicht besonders überraschend, wenn es nicht dazu kommt.⁴⁰ Und warum nicht? Weil wir einfach davon ausgehen, dass nicht alle Normalbürger in gleichem und ausreichendem Maße mit den für eine halbwegs komplexe Rechenaufgabe nötigen epistemischen Fähigkeiten ausgestattet sind – insbesondere die Tugenden der Genauigkeit und Achtsamkeit können wir, so denke ich, nicht jedem Normalbürger unterstellen. Ich denke, der Fall der moralischen Meinungsverschiedenheit bezüglich des Gedankenexperiments ist viel eher mit dem Fall des rechnenden Normalbürgers vergleichbar als mit jenem der Mathematiker. Denn wo ist in der Beschreibung der epistemischen Bedingungen unter denen die moralisch Urteilenden stehen, angemerkt, dass es sich um Individuen handelt, die vergleichbare und hinreichende kognitive Kapazitäten zur Beantwortung moralischer Fragen haben? Die epistemischen Bedingungen bestehen lediglich in der Zugänglichkeit aller nicht-moralischen Fakten, der rationalen Fähigkeiten eines Normalbürgers (keine falschen Schlüsse, usw.) und der Abwesenheit von Vorurteilen und des Einflusses von Eigeninteressen. Insofern sind die epistemischen Bedingungen der moralisch Urteilenden vergleichbar mit jenen der rechnenden Normalbürger. In keinem der beiden Fälle ist sichergestellt, dass für alle Beteiligten ideale epistemische Bedingungen bezüglich der jeweils relevanten kognitiven Fähigkeiten bestehen, dass also alle Beteiligten gleichermaßen „sufficiently capable of dicovering the facts in question“⁴¹ sind. Und warum sollte der Objektivist nicht analog zu der spezifisch für Rechenaufgaben nötigen epistemischen Ausstattung annehmen
40 Wäre es überraschend, wenn die eine Hälfte zu einem bestimmten Ergebnis kommt und die andere Hälfte zu einem anderen? Ich denke nicht. Warum sollte nicht eine Hälfte einen ganz bestimmten Fehler gemacht haben? 41 (Koehler2010), S. 246.
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dürfen, dass moralische Aufgaben eben auch eine ganz spezifische epistemische Ausstattung erfordern? Um diesen Punkt zu machen, muss der Objektivist nicht unbedingt auf eine moralische Fähigkeit wie einen moral sense oder eine moralische Intuition verweisen. Zunächst genügt es, denke ich, auf die sicherlich unstrittige Voraussetzung einer Begabung zur Abstraktion von Details moralischer Szenarien und der hinreichenden Imagination der Szenarien selbst hinzuweisen. Und auch eine Sensibilität für die Bedeutung und Interaktion von relevanten und nicht-relevanten Gesichtspunkten sollte man als notwendige Fähigkeit für moralisches Urteilen annehmen dürfen. Eine solche Sensibilität ist vor allem in Situationen gefragt, in denen es das Gewicht verschiedener normativer Ansprüche abzuwägen gilt. Hinzu kommt die Tugend der intellektuellen und für moralische Fragen besonderen Sorgfalt (Habe ich mich wirklich mit allen relevanten Aspekten, möglichen Implikationen und Konsequenzen vertraut gemacht? Kann ich mir Gegenargumente vorstellen und wie kann ich überhaupt selbst mein Urteil begründen? Habe ich mir die Brisanz des Szenarios hinreichend vor Augen geführt?). Und nicht zuletzt scheint mir das Trolley-Problem gerade aufgrund seiner Dilemma-Struktur anfällig für unbewusstes special pleading zu sein, also für das Nicht-WahrhabenWollen einer unangenehmen Verpflichtung. Vielleicht sehen einige Leute, dass es richtig wäre, die Weiche zu verstellen, wollen das aber nicht wahrhaben, weil es ihnen unangenehm ist, über Leben und Tod zu entscheiden.⁴² Für verzerrende Einflüsse weniger oder nicht anfällig zu sein, ist sicherlich eine epistemisch relevante „Fähigkeit“ in diesem Zusammenhang, die jedoch nicht jedem gleichermaßen unterstellen werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es, denke ich, gerechtfertigt, zu sagen: So wie wir bei den rechnenden Normalbürgern nicht unterstellen können, dass sie alle gleichermaßen genau und sorgfältig rechnen (können), sollten wir nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass „moralische Normalbürger“ die genannten Fähigkeiten und Tugenden in gleichem und ausreichendem Maße besitzen oder anwenden. Die Relevanz dieses Punktes wird noch weiter verstärkt, wenn man sich die epistemischen Umweltbedingungen der Studie anschaut. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass alle Teilnehmer der Studie gleichermaßen mit diesen Fähig-
42 Damit möchte ich nicht sagen, dass es richtig ist, die Weiche zu verstellen, und dass das Gefühl, man dürfe nicht über Leben und Tod entscheiden, ein verzerrender Einfluss ist. Es geht darum, dass insbesondere in Dilemma-Situationen, aber wohl auch generell in moralischen Fragen, der Einfluss von die Urteilskraft trübenden Emotionen und psychologischen Dispositionen zu erwarten ist. Wie man diese bestimmt und von nicht-verzerrenden Emotionen und anderen Einflüssen abgrenzt, ist eine heikle Frage und hängt vor allem wiederum von normativen (moralischen) Annahmen ab.
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keiten ausgerüstet sind, so bleibt fraglich, ob diese Fähigkeiten im Rahmen der Studie überhaupt hinreichend zur Geltung kommen können. Sicherlich gehören zu idealen epistemischen Umweltbedingungen zur Urteilsfindung im Trolley-Case ausreichend Zeit zur Reflexion und Auseinandersetzung sowie die Kenntnis und die Möglichkeit zur Erwägung von Argumenten und Gegenargumenten. Denn auch wenn man mit Köhler von einer vergleichsweise Übersichtlichkeit des moralischen Problems ausgeht, sollten wir doch mit David Brink ideale epistemische Bedingungen nur dann annehmen, wenn „all cognizers were fully informed and fully rational and had sufficient time for deliberation“⁴³ Diese Bedingung ist aber in der Studie nicht erfüllt: Hauser und Kollegen haben ihre Studie mit einer „web-based technology“⁴⁴ durchgeführt, d.h. sie haben freiwillige Besucher der so genannten „Moral Sense Test“-Webseite mit den Varianten des Trolley-Case konfrontiert. Es ist anzunehmen, dass sich die Besucher für den Test ungefähr so viel Zeit genommen haben, wie sich ein durchschnittlicher Besucher einer Internet-Website auf einer solchen beim Surfen aufhält: Nicht sehr viel Zeit. Unwahrscheinlich ist auch, dass besonders viele der Teilnehmer vor der Abgabe ihres Urteils per Mausklick einen Diskussionsabend mit ihren Freunden zu dem Thema veranstaltet haben. Kurz: Auszugehen ist bei dieser Studie von spontanen Urteilen, die weder durch ausreichende Reflexion noch hinreichender Erwägung von Argumenten zustande gekommen sind. Zu (b): Ein einfaches moralisches Problem? Nun steht immer noch Köhlers Behauptung im Raum, beim Trolley-Case handle sich um ein vergleichsweise einfaches moralisches Problem. Ich denke, es bleibt ziemlich unklar, was genau mit einem einfachen moralischen Problem oder einer einfachen moralischen Frage gemeint sein soll. Speziell für die Frage, die sich im Trolley-Case stellt, können wir Köhler zwar zustimmen, dass es sich dabei nicht um eine hoch komplexe und theoretische Frage handelt, mit denen sich etwa Quantenphysiker herumschlagen. Dennoch bleibt mir schleierhaft, wie Köhler zu seiner Einschätzung gelangt. Zunächst habe ich den Eindruck, dass viele Leute, die mit dem Trolley-Case konfrontiert werden, als Erstes sagen: „Puh, das ist schwer zu bewerten“. Und auch die Tatsache, dass dieses Problem in moralphilosophischen Artikeln und Seminaren in nicht gerade geringem Maße diskutiert wird, während die Frage, ob man ein unschuldiges Kind zum Vergnügen foltern darf, nicht einmal für diskussionswürdig angesehen wird, scheint mir auf den ersten Blick gegen Köhlers Einschätzung zu sprechen. Köhler zufolge spielen in dieser Frage nur eine begrenzte Zahl an
43 (Brink1989), S. 199, (meine Herv.). 44 (Hauser2007), S. 4.
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moralischen Erwägungen eine Rolle, und das Problem sei zudem „quite familiar“⁴⁵. Ich finde die erste Behauptungen unzutreffend und die zweite nicht sehr relevant. Zur zweiten Behauptung: Sicher, viele haben sich schon mal gefragt, unter welchen Umständen es erlaubt ist, einen Menschen für das Wohl anderer zu verletzen. Aber wird durch diese Vertrautheit das Problem zu einem einfachen? Man muss sich doch nur vor Augen führen, was hier auf dem Spiel steht: Die Probanden werden gebeten, sich zu entscheiden, ob sie Konsequentialisten oder Deontologen sein wollen. Ist das einfach zu entscheiden? „Quite familiar“ bedeutet in diesem Zusammenhang sicher nicht „easy to answer“. Auch Köhlers andere Behauptung, hier sei nur eine begrenzte Zahl an moralischen Erwägungen einschlägig, lässt sich bestreiten. Man kann ihm zwar zugeben, dass die moralisch relevante Situation einigermaßen übersichtlich ist und es nicht besonders viele Informationen bezüglich der konkreten Situation zu verarbeiten gilt. Aber das bedeutet nicht, dass die moralischen Gesichtspunkte, die hier zu erwägen sind, übersichtlich sind. Da hier prima facie verschiedene normative Ansprüche konfligieren und verschiedene (wahrscheinlich von allen in gewissem Maße geteilte) moralische Intuitionen (oder Prinzipien) in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, scheinen mir die relevanten moralischen Gesichtspunkte, die es zu erwägen gilt, über diese konkrete Situation hinauszugehen. Dem moralischen Denken stellen sich hier viele weitere und grundsätzlichere Fragen: Was bedeutet mein Urteil für ähnlich gelagerte Fälle? Passt mein (intuitives) Urteil mit anderen Intuitionen in anderen Fällen zusammen? Wie kann ich mein konkretes Urteil in mein umfassendes Verständnis von moralisch richtigem Handeln einordnen? Kann ich den prima facie-Konflikt zwischen den normativen Ansprüchen in einem systematischen Bild davon, was Handlungen richtig macht, auflösen? Kann ich dieses Bild dann wiederum mit anderen meiner grundlegenden Intuitionen vereinbaren? Diese Aufzählung von für den Trolley-Case moralisch relevanten Fragen ist, denke ich, bei Weitem nicht vollständig. Aber sie zeigt doch an, was diesen Fall von „wirklich“ einfachen moralischen Fragen unterscheidet: Während die Frage, ob man ein unschuldiges Kind zum Vergnügen foltern darf, keinen besonderen Anlass dazu gibt, nach einem Gleichgewicht der eigenen moralischen Intuitionen und vor-theoretischen Prinzipien zu suchen, erhöht der Trolley-Case aufgrund der genannten Spannungen den Druck auf das moralische Denken, die eigenen Intuitionen und Grundüberzeugungen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen.
45 (Koehler2010) , S. 248.
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Und die Aufgabe, einen solchen kohärenten Zusammenhang zu finden, ist wohl kaum als eine der einfacheren Aufgaben zu bezeichnen.⁴⁶ Um diesen Punkt zusammenzufassen: Indem man die Weichen im Trolley-Case stellt, stellt man Weichen mit zunächst unübersichtlichen Konsequenzen und Implikationen für das eigene moralische Verständnis. Abgesehen von dieser spezifischen Aufgabe, sich umfassender mit den eigenen Intuitionen und Urteilen zu beschäftigen, provoziert das Szenario doch weitreichende moralphilosophische Fragen, die nun alles andere als einfach und übersichtlich sind – und das nicht nur für den Normalbürger. Eine einschlägige Frage ist hier wohl: Gibt es einen Unterschied zwischen „doing harm“ und „allowing harm“? Wenn meine These richtig ist, dass der Trolley-Case ein methodisch durchaus anspruchsvolles moralisches Reflektieren erfordert und auf komplexe Frage verweist, die für die Bewertung des Falls relevant sind, dann lässt sich Köhlers optimistische Einschätzung der epistemischen Bedingungen noch weiter problematisieren. Denn die Aufgabe, die sich angesichts des Trolley-Case dem moralischen Denken stellt, ist sicherlich keine Aufgabe, die sich in fünf Minuten am Computerbildschirm lösen lässt.
3.2.2.3 Ein zweites Argument aus den Trolley-Cases Köhler merkt an, dass es bezüglich der Trolley-Cases sowie anderer vergleichbarer Gedankenexperimente auch zwischen Philosophen anhaltende mMV gibt. Nun ist die Annahme plausibel, dass zumindest einige dieser Moralphilosophen unter epistemischen Bedingungen urteilen, die in wesentlichen Aspekten idealer sind als jene Bedingungen, unter denen die Studienteilnehmer urteilen. Erstens können wir unterstellen, dass sie sich ausreichend Zeit zum Urteilen und Reflektieren genommen haben und dass sie alle relevanten Argumente und Gegenargumente kennen und über diese nachgedacht haben. Und zweitens können wir annehmen, dass sie sich um Kohärenz ihrer verschiedenen moralischen Intuitionen und Überzeugungen bemüht haben. Angesichts dieser Situation ließe sich das Argument neu und wie folgt formulieren: Es gibt viele moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemisch gut situierten Moralphilosophen. Eine objekti-
46 Mit diesem Bezug auf die Kohärenz zwischen Überzeugungen möchte ich mich nicht darauf festlegen, die Suche nach Kohärenz als eine hinreichende Methode für gerechtfertigte oder gar wahre moralische Überzeugungen zu verstehen. Auch der Fundamentalist kann und sollte anerkennen, dass der Versuch, seine moralischen Intuitionen und Grundüberzeugungen in einen kohärenten, systematischen Zusammenhang zu bringen, eine wenn auch nicht hinreichende, so aber doch notwendige Bedingung für rationale Deliberation ist.
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vistische Erklärung dieser Meinungsverschiedenheiten ist unplausibel. Also ist der Objektivismus unplausibel. Das Problem dieses Arguments ist nur leider, dass viele moralische Fragen, wie man am Beispiel des Trolley-Case sieht, eben keine einfachen moralischen Fragen sind und die Beantwortung dieser Fragen – auch für den epistemisch gut situierten Moralphilosophen – kein einfaches und übersichtliches epistemisches Unternehmen ist. Wenn wir aber in Fällen von anspruchsvollen nicht-moralischen Gegenständen der Erkenntnis (wie etwa den Erkenntnisgegenständen der Wirtschaftswissenschaften oder der Physik) keine Einigkeit zwischen rationalen und epistemisch gut situierten Individuen erwarten und feststellen, warum sollte das im Falle der Moral anders sein?
3.2.2.4 Fazit Der Objektivist kann also durchaus plausible Erklärungen von mMV bezüglich des moralischen Problems in den Trolley-Cases liefern - und zwar sowohl für MV zwischen den „Normalbürgern“ der von Köhler zitierten Studie als auch für MV zwischen Moralphilosophen. Insbesondere angesichts der anspruchsvollen epistemischen Aufgabe, die eigenen moralischen Intuitionen und Überzeugungen angesichts der Trolley-Cases in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, ist die Annahme plausibel, dass nicht alle Menschen für diese Aufgabe gleich gut ausgerüstet sind. Der Moralische Objektivismus steht hier also vor keinem explanatorischen Problem.
3.2.3 Zusammenfassung: Explanatorische Argumente aus der Meinungsverschiedenheit Der Moralische Objektivismus, so meine Schlussfolgerung, steht vor keinem explanatorischen Problem im Zusammenhang mit Phänomenen moralischer Meinungsverschiedenheit. Ich habe erstens gezeigt, dass der Moralische Objektivismus plausible Erklärungen für hartnäckige moralische Meinungsverschiedenheiten liefern kann. Zweitens habe ich dafür argumentiert, dass die Meinungsverschiedenheiten aus der von Köhler angeführten Studie keine explanatorischen Probleme für den Objektivismus mit sich bringen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Moralische Meinungsverschiedenheiten sind auch unter der Voraussetzung eines Moralischen Objektivismus nicht überraschend, sondern zu erwarten. Das gilt auch für Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen, die aufrichtig, gut informiert und klar denkend sind. Viele moralische Fragen stellen auch solche Menschen vor eine epistemisch anspruchsvolle Aufgabe. Zudem sind ideale epis-
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temische Bedingungen gerade in moralischen Fragen schwer zu erfüllen und es kann nicht angenommen werden, dass die Protagonisten aus den Beispielen für moralische Meinungsverschiedenheiten unter Bedingungen urteilen, die als ideal zu bezeichnen sind.
3.3 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? Mein bisheriger Rekurs auf die Notwendigkeit, moralische Intuitionen und Überzeugungen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, könnte den AntiObjektivisten dazu inspirieren, das AMV anders zu konzipieren. Denn es scheint so, als würde sich der Objektivist mit diesem Rekurs aus dem (explanatorischen) Regen in die (epistemologische) Traufe begeben. Der Anti-Objektivist könnte wie folgt argumentieren (wobei die folgende Argumentation noch einigermaßen ungenau bleibt und im Verlaufe des Abschnitts zu präzisieren ist): „Gut, lieber Objektivist, du kannst möglicherweise plausibel erklären, warum rationale und epistemisch gut situierte Individuen in den Trolley-Cases zu einander widersprechenden moralischen Überzeugungen gelangen. Der Preis, den du dafür aber zahlen musst, ist die Anerkennung eines Skeptizismus in diesem Fall. Denn aus einem bestimmten epistemischen Prinzip (das im Folgenden noch genannt und näher bestimmt wird), das du als Objektivist anerkennen musst, folgt in diesem Fall, dass keines der Individuen gerechtfertigte Überzeugungen in Bezug auf die Trolley-Cases hat. Und da es analoge Fälle mit Bezug auf sehr viele moralische Fragen gibt, musst du einen Skeptizismus mit Bezug auf sehr viele moralische Fragen akzeptieren. So ein weitreichender Skeptizismus ist aber absurd: Es ist absurd, dass es moralische Tatsachen gibt, wir (bzw. rationale Individuen) aber über so viele dieser Tatsachen kein Wissen erworben haben oder erwerben können.“ Angesichts dieser noch ungenauen Formulierung des Arguments stellen sich drei Fragen: Auf welches epistemische Prinzip wird hier angespielt? Welche analogen Fälle gibt es? Und wie viele solcher Fälle muss es geben, damit ein unplausibler Skeptizimus folgt? Im Folgenden werde ich drei verschiedene Versionen dieses epistemologischen Arguments aus der mMV gegen den Moralischen Objektivismus darstellen und kritisch beurteilen.
3.3.1 Mögliche fundamentale Meinungsverschiedenheiten Das erste Argument geht von der Annahme aus, dass fundamentale mMV bezüglich aller substantiellen moralischen Überzeugungen möglich sind. Fundamenta-
3.3 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? | 53
le moralische Meinungsverschiedenheiten (FMV) möchte ich dabei wie folgt verstehen: Zwei Individuen A und B haben eine FMV bezüglich p, wenn beide Individuen ihre moralischen Intuitionen und Überzeugungen auf eine systematische Weise in einen kohärenten Zusammenhang gebracht haben und zu einander widersprechenden Überzeugungen bezüglich p gekommen sind. Nun ist es, wie ich denke, eine plausible Annahme, dass zwei Individuen A und B, die jeweils von hinreichend vielen verschiedenen Intuitionen und Überzeugungen als Ausgangspunkt ausgehend ein kohärentes Überzeugungs-System herstellen, zu substantiell verschiedenen moralischen Überzeugungen gelangen können. D.h. also: FMV sind möglich, wenn es möglich ist, dass zwei Individuen A und B von unterschiedlichen „starting points“, also von unterschiedlichen moralischen Intuitionen und Überzeugungen ausgehend ihre moralischen Überzeugungen in einen kohärenten Zusammenhang bringen. Und da es sicher möglich ist, dass zwei Individuen A und B von unterschiedlichen „starting points“ ausgehen, sie also hinreichend viele unterschiedliche vortheoretischen Intuitionen oder Überzeugungen haben, sind FMV möglich. Man kann sich die Möglichkeit von FMV vielleicht am Besten mit der Vorstellung eines ideal kohärenten Caligulas vor Augen führen, die Sharon Street in Anschluss an Allan Gibbard formuliert: „At least on the face of things, it seems easy to imagine someone who values above all else, and in a way that is utterly consistent with his own other values plus the non-normative facts, torturing others for fun.“⁴⁷ Street spricht in dem Zitat nun
47 (Street2010), S. 371. Die Möglichkeit eines ideal kohärenten Caligula verneinen allerdings einige Objektivisten: Kantianische Konstruktivisten wie etwa Christine Korsgaard behaupten, dass ein substantieller „value of humanity“ aus den konstitutiven Merkmalen der praktischen Vernunft – wenn auch nicht auf offensichtliche Weise – folgt. Demzufolge bedingt (entails) der praktischen Standpunkt eines jeden Handelnden, unabhängig von seinen normativen „starting points“, bestimmte moralische Werte; vgl. (Korsgaard1996), Kapitel 3. Auch der Realismus von Michael (Smith1994) geht von der Annahme aus, dass vollständig rationale Individuen in ihren moralischen Überzeugungen konvergieren. Und insbesondere Intuitionisten wie Robert (Audi1998) und (Shafer-Landau2003), die von bestimmten, nicht-offensichtlichen aber dennoch selbstevidenten moralischen Wahrheiten ausgehen, verneinen die Möglichkeit eines rationalen ideal kohärenten Caligula: Caligula mag ihnen zufolge zwar ein kohärentes Überzeugungssystem haben, aber da er selbst-evidente moralische Wahrheiten nicht erkennt, ist er nicht rational. Da diese intuitionistischen Positionen selbst-evidente Propositionen als schwer fassbar (elusive) und von daher als nicht-offensichtlich bezeichnen und es unklar bleibt, auf welche Weise man die Selbst-Evidenz einer Proposition nachweisen oder feststellen kann, kann ich hier nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Positionen nicht sogar bestreiten würden, dass Caligula kohärent ist. Jemand, der eine komplexe und nicht-offensichtliche begriffliche Wahrheit (etwa zum Begriff der Rechtfertigung) verneint, scheint mir in irgendeinem Sinne nicht vollständig kohärent zu sein. Dass eine selbst-evidente Proposition nicht inferentiell gestützt werden kann (und braucht), schließt, denke ich, nicht aus, dass ein Irrtum in Bezug auf diese Proposition etwas mit
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lediglich davon, dass Caligulas Werte konsistent sind. Damit man aber von einem ideal kohärenten Caligula sprechen kann, müsste sie noch mehr Bedingungen als erfüllt betrachten. Als „coherence criteria“ gibt z.B. Laurence Bonjour folgende an: 1. A system of beliefs is coherent only if it is logically consistent. 2. A system of beliefs is coherent in proportion to its degree of probabilistic consistency. 3. The coherence of a system of beliefs is increased by the presence of inferential connections between its component beliefs and increased in proportion to the number and strength of such connections. 4. The coherence of a system of beliefs is diminished to the extent to which it is divided into subsystems of beliefs which are relatively unconnected to each other by inferential connections. 5. The coherence of a system of beliefs is decreased in proportion to the presence of unexplained anomalies in the believed content of the system.⁴⁸
Wenige Moralphilosophen, die sich auf den Begriff der idealen Kohärenz beziehen, erklären genau, was sie darunter verstehen.⁴⁹ Ich möchte daher im Folgenden voraussetzen, dass unter idealer Kohärenz etwas verstanden wird, das der klassischen Verwendungsweise in der epistemologischen Debatte entspricht und die Bonjour mit seinen Kriterien versucht, näher zu bestimmen. Nun scheint es plausibel zu sein, die argumentativen Möglichkeiten zweier Individuen, die eine FMV haben, wie folgt zu beschreiben: Keiner der beiden kann nicht-petitiöse Argumente oder Gründe liefern, die dazu in der Lage wären, den jeweiligen Opponenten zu überzeugen. Stellen wir uns dazu den ideal kohärenten Caligula vor: Wenn Caligula tatsächlich ideal kohärent ist, dann können wir zur Begründung unserer Überzeugung, dass das Foltern anderer aus Vergnügen moralisch falsch ist, nur auf Überzeugungen verweisen, die von Caligula nicht geteilt
Inkohärenz zu tun hat. Die eben genannten Positionen bestreiten daher eine zentrale Prämisse des folgenden Arguments. Ich möchte dem Vertreter des Arguments allerdings diese Prämisse schenken, um zu zeigen, dass selbst unter der Voraussetzung ihrer Wahrheit das Argument nicht überzeugend ist. 48 (Bonjour1985), S. 97-99. 49 Es ist anzunehmen, dass der Rekurs auf (ideale) Kohärenz bei vielen Moralphilosophen in Verbindung mit ihrem Verständnis der von John Rawls prominent gemachten Methode des Überlegungsgleichgewichts steht. So bezieht sich Scanlon, den ich gleich im Fließtext zu seinen Überlegungen zu idealer Kohärenz zu Wort kommen lasse, affirmativ auf diese Methode, vgl. (Scanlon2002), S. 149. Smith sieht es gar als eine Plattitüde an, dass moralische Deliberation „a certain characteristic coherentist form“ im Sinne der Methode des Überlegungsgleichgewichts habe, vgl. (Smith1994), S. 40-41. Zur Methode des Überlegungsgleichgewichts siehe unter anderen: (Daniels1996) und (Rawls1971). Eine explizit kohärentistische Theorie der moralischen Rechtfertigung, in welcher der Begriff der Kohärenz näher bestimmt wird, formuliert (Brink1989).
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werden. Mit Thomas Scanlon können wir diese Situation so beschreiben: „[t]here is no account that either side could offer to convince the other“,⁵⁰ denn „the normative outlooks are ideally coherent and, in relevant aspects, non-overlapping“.⁵¹ Man kann sagen, dass wir gegenüber Caligula mit unserem argumentativen Latein am Ende sind. FMV sind demnach (prinzipiell) rational nicht auflösbare mMV, wobei wir „rational auflösbar“ mit Thomas Bennigson wie folgt bestimmen können: A disagreement is resolvable in principle if and only if we can – given actual human capacities – come to have a justification for our disputed beliefs which is suitably ‘neutral’[...] The essential idea is that our justification for believing a disputed claim needs to be nonquestion-begging between the rival total belief system at issue. If, for example, [Caligula’s] belief is as well justified by [his] standards, then neutral justification requires some reason for holding that our standards are superior, such that [Caligula] cannot make an analogous case, in [his] terms, for the superiority of [his] standards.⁵²
Damit können wir den Begriff der FMV noch näher bestimmen: FMV: Eine fundamentale moralische Meinungsverschiedenheit ist eine rational nicht auflösbare mMV zwischen ideal kohärenten Individuen. Der Vertreter dieser ersten Version des epistemologischen AMV behauptet nun, dass die Möglichkeit einer FMV bezüglich einer moralischen Überzeugung, dass p, die Rechtfertigbarkeit dieser Überzeugung untergräbt. Denn da die Opponenten einer FMV ihre respektiven Überzeugungen gegenüber dem anderen prinzipiell nur petitiös rechtfertigen können, können sie keinen Anspruch auf Rechtfertigbarkeit ihrer Überzeugungen erheben und sollten nicht unverändert an ihnen festhalten. Ohne neutrale Rechtfertigung keine Rechtfertigung – so das generelle Credo dieses Arguments. Und das spezifische Credo lautet: Ohne neutrale Rechtfertigung gegenüber möglichen kohärenten Opponenten keine Rechtfertigung. Mit der Prämisse bezüglich der Möglichkeit von FMV und der weiteren Prämisse zur Nicht-Rechtfertigbarkeit von moralischen Überzeugungen im Falle von möglichen FMV lässt sich nun folgendes Argument gegen den Objektivimus in Form einer reductio ad absurdum formulieren:
50 (Scanlon1995), S. 353. 51 (Scanlon1995), S. 354. 52 (Bennigson1996), S. 414. Ich habe die von Bennigson im Zitat anvisierten Yanomamo durch Caligula ersetzt.
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Argument aus möglichen fundamentalen Meinungsverschiedenheiten (1) Der Moralische Objektivismus ist wahr: Es gibt substantielle objektive moralische Tatsachen und moralische Überzeugungen sind Überzeugungen über diese Tatsachen. (Annahme zum Zwecke der reductio) (2) Für alle substantiellen Tatsachen p gilt notwendigerweise: Wenn es möglich ist, dass es fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich p gibt, dann ist die Überzeugung, dass p, nicht gerechtfertigt. (3) Für alle substantiellen moralischen Tatsachen p, gilt notwendigerweise: Es ist möglich, dass es fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich p gibt. (4) Für alle substantiellen moralischen Tatsachen p gilt notwendigerweise: Die Überzeugung, dass p, ist nicht gerechtfertigt. (aus 2,3) (5) Es ist absurd oder witzlos, anzunehmen, dass es moralische Tatsachen gibt, wenn notwendigerweise keine moralische Überzeugung gerechtfertigt ist. (K) Also ist der Moralische Objektivismus absurd oder witzlos. Zur Erläuterung des Arguments: Prämisse 1 nimmt zum Zwecke der reductio an, dass der Moralische Objektivismus wahr ist. Prämisse 2 formuliert das oben genannte Credo bezüglich der Rechtfertigbarkeit von Überzeugungen im Falle möglicher fundamentaler Meinungsverschiedenheiten und drückt damit ein epistemisches Prinzip aus, das für Überzeugungen generell (also nicht nur für moralische Überzeugungen) gelten soll und das daher der Moralische Objektivist auch für moralische Überzeugungen akzeptieren müsste. Diesem Prinzip zufolge gilt notwendigerweise, dass eine Überzeugung p nicht gerechtfertigt ist, wenn eine fundamentale Meinungsverschiedenheit bezüglich p möglich ist, d.h. wenn ein Szenario möglich ist, in dem die Überzeugung p nur petitiös begründet werden kann. Denn, wie Shafer-Landau es ausdrückt: „[...] question-begging arguments never confer justification“.⁵³ Mit der dritten Prämisse wird behauptet, dass es notwendigerweise fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich jeder beliebigen moralischen Überzeugung, dass p, geben kann. Begründet wird diese Behauptung mit Bezug auf die Vorstellung eines ideal kohärenten Caligulas. Es scheint möglich zu sein, die Überzeugung, dass Kinder aus Vergnügen zu foltern moralisch erlaubt ist, kohärent zu vertreten. Ebenso scheint es möglich zu sein, jede beliebige moralische Überzeugung kohärent zu vertreten: Ob eine beliebige moralische Überzeugung kohärent vertreten werden kann, hängt von entsprechenden
53 (Shafer-Landau2006), S. 221.
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anderen oder Hintergrund-Überzeugungen ab, die man vertritt, und es ist nicht zu sehen – so die Annahme – warum es nicht möglich sein soll, diese entsprechenden anderen Überzeugungen zu haben. Aus diesen drei Prämissen folgt: Jede beliebige moralische Überzeugung ist notwendigerweise nicht gerechtfertigt (4). Prämisse 5 zufolge ist es absurd oder witzlos, anzunehmen, dass es zwar moralische Tatsachen gibt, aber niemand jemals gerechtfertigte Überzeugungen über diese Tatsachen erlangen kann. Was bringt die Annahme objektiver moralischer Tatsachen überhaupt, wenn man zugestehen muss, dass wir in moralischen Fragen vor einem radikalen Skeptizismus stehen? Der Witz der Annahme moralischer Tatsachen besteht doch darin, dass wir uns in unserem Handeln an diesen orientieren sollen. Wenn wir aber niemals gerechtfertigte Überzeugungen über diese Tatsachen ausbilden können, können wir uns eben auch nicht an diesen Tatsachen orientieren, und damit verliert die Idee, dass es eine objektive Moral gibt, ihren Witz. Aus Prämissen 4 und 5 folgt die angestrebte reductio: Der Moralische Objektivismus ist absurd oder witzlos. Ist dieses Argument überzeugend? Das Argument ist zwar gültig, aber insbesondere seine zweite Prämisse ist fragwürdig. Ich werde im Folgenden zeigen, dass diese Prämisse, also das in Anspruch genommene epistemische Prinzip 1. möglicherweise self-defeating ist, 2. übergeneralisiert, 3. mit einem sogenannten Moore-Shifting-Argument bestritten werden kann und 4. auch intuitiv nicht sehr plausibel ist. 1. Möglicherweise ist P2 self-defeating: Self-defeating: Ein epistemisches Prinzip ist self-defeating, wenn für dieses Prinzip gilt: Wenn ich akzeptiere, dass das Prinzip richtig ist, dann sollte ich akzeptieren, dass meine Akzeptanz des Prinzips nicht gerechtfertigt ist und ich an diesem Prinzip nicht länger unverändert festhalten sollte. Warum ist P2 self-defeating? Weil für dieses Prinzip (möglicherweise) gilt: Es sind FMV bezüglich dieses Prinzips möglich (und ich sehe nicht, warum FMV in der Moral möglich sein sollen, bezüglich dieses Prinzips aber nicht). Das Prinzip sagt aber in etwa, dass ein Überzeugung nicht gerechtfertigt ist, wenn FMV bezüglich dieser Überzeugung möglich sind. Wenn aber FMV bezüglich des Prinzips selbst möglich sind, dann sollte man, wenn man das Prinzip richtig findet, akzeptieren, dass die Akzeptanz dieses Prinzips nicht gerechtfertigt ist und man nicht an diesem Prinzip festhalten sollte.
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2. P2 übergeneralisiert: Eine Annahme oder ein Argument übergeneralisiert, wenn es (entweder nach den Maßstäben des Vertreters des Arguments selbst oder nach allgemein geteilten Maßstäben) zu viel beweist. Wenn z.B. eine Annahme, die moralisches Wissen in Frage stellt, mutatis mutandis auch unser Wissen über die Außenwelt in Frage stellt, dann beweist diese Annahme zu viel, wenn alle Beteiligten an der Debatte unser Wissen über die Außenwelt nicht in Frage stellen wollen. Da das AMV, wie ich es hier untersuche, einen Objektivismus in nicht-moralischen Bereichen als gewiss oder unproblematisch voraussetzt und nur den Moralischen Objektivismus treffen will, würde der Nachweis der Übergeneralisierung des Arguments zeigen, dass es sein Beweisziel nicht (oder zumindest nicht in der angestrebten Form) erreicht. Übergeneralisiert das Argument? Das scheint mir klarerweise der Fall zu sein: Es ist sicher möglich, dass jemand ideal kohärent die Überzeugung vertritt, dass die Erde erst vor einer Sekunde von Gott erschaffen wurde, mitsamt uns voll entwickelten Menschen und unseren Erinnerungen. Und auch der von David Christensen beschriebene Foil-Hat-Guy ist sicherlich möglich: Dieser Mensch trägt einen Aluminium-Hut und behauptet innerhalb eines völlig kohärenten Überzeugungssystems, dass Elvis ihm heute morgen eröffnet habe, dass nur wenige Menschen – nämlich jene, die einen Aluminium-Hut tragen – vernünftig sind, während alle anderen in epistemischer Hinsicht völlig durchgedreht sind.⁵⁴ Nun können wir, wie es scheint, weder dem Alte-Welt-Ungläubigen noch dem Foil-Hat-Guy auf nicht-petitiöse Weise zeigen, dass sie verrückt sind und dass sie falsche Überzeugungen haben. Und niemand in der Debatte um den Moralischen Objektivismus wird wohl annehmen wollen, wir seien nicht gerechtfertigt, die Beiden für verrückt zu halten (bzw. zu glauben, dass die Erde definitiv älter als eine Sekunde ist und dass Elvis sich nicht heute morgen dem Foil-Hat-Guy offenbart hat). Aus dem epistemischen Prinzip aus P2 folgt aber, dass unsere in diesen beiden möglichen Fällen umstrittene Überzeugungen nicht gerechtfertigt sind – denn wir können sie nur petitiös verteidigen. Wer von diesem Nachweis der Übergeneralisierung nicht überzeugt ist, weil er relevante Unterschiede und Disanalogien für möglich hält, die eine Übergeneralisierung zu blocken vermögen, den überzeugt aber vielleicht folgendes Argument gegen P2: 3. Ist P2 gewisser als bestimmte moralische Überzeugungen? Dem Argument zufolge können wir prinzipiell keine Rechtfertigung auch für ziemlich grundlegende moralische Überzeugungen beanspruchen. Die Möglichkeit eines ideal kohären-
54 Vgl. (Christensen2011), S. 15.
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ten Caligula soll z.B. die Rechtfertigung der (wohl von den meisten gesunden Menschen geteilten) Überzeugung, dass das Foltern aus Vergnügen moralisch verwerflich ist, untergraben bzw. prinzipiell unmöglich machen. Nun bin ich mir in der Frage, ob das Foltern „just for fun“ moralisch verwerflich ist, sehr gewiss (Ja! Es ist moralisch verwerflich!), und ich muss sagen, dass dies nicht für die Frage gilt, ob das hinter P2 stehende epistemische Prinzip wahr oder gültig ist. Nun könnte man entgegnen, ich sollte mir gewisser sein, dass dieses Prinzip wahr ist. Diese Entgegnung wirft komplizierte erkenntnistheoretische Fragen auf, die ich nur ansatzweise überblicke und hier sicherlich nicht beantworten kann (z.B.: In welchem Verhältnis stehen Wahrnehmungsurteile oder andere „alltäglichen“ Überzeugungen zu Überzeugungen über den epistemischen Status solcher Überzeugungen?). Mir scheint diese Entgegnung dennoch solange auf tönernen Füßen zu stehen, wie nicht gute Gründe für das epistemische Prinzip vorgebracht werden. Bislang scheint mir das Prinzip nur auf einer Intuition zu beruhen, nämlich auf der Intuition, dass Überzeugungen prinzipiell nicht gerechtfertigt werden können, wenn sie in hypothetischen FMV nur petitiös verteidigt werden können. Petitiöse Argumente, das gestehe ich zu, sind in alltäglichen Fällen von Meinungsverschiedenheiten tatsächlich nicht „justification- conferring“. Wenn ich z.B. zur Begründung meiner Ansicht, ein Politiker X sei korrupt, nur auf Hintergrundannahmen verweisen kann, die ebenfalls in dieser Frage zur Debatte stehen, dann ist meine Argumentation question-begging und kann insofern meine Ansicht nicht begründen. Dennoch scheint mir ein relevanter Unterschied zwischen solchen alltäglichen Situationen und Situationen von FMV zu bestehen, der fraglich werden lässt, ob die im einen Fall plausible Intuition bezüglich des epistemologischen Status von petitiösen Argumentationen ohne Weiteres auf den anderen Fall übertragen werden kann. Denn im Falle meiner Annahme zum korrupten Politiker X kann ich davon ausgehen, dass es prinzipiell Gründe und Evidenzen gibt, die entweder dafür oder dagegen sprechen, dass Politiker X korrupt ist, und die sowohl von mir als auch von meinen Disputanten vor dem Hintergrund unserer sonstigen Überzeugungen über Politiker und generell über die Welt als solche erkannt und akzeptiert werden können. D.h. bezüglich meiner Überzeugung zum Politiker X ist es prinzipiell möglich, mir nach meinen eigenen Maßstäben, also vor dem Hintergrund meines Wissens über Politiker und die Welt Gründe oder Evidenzen für oder gegen meine Annahme zu liefern. Das ist aber im Falle von FMV per definitionem ausgeschlossen: Hier ist prinzipiell jeder Grund oder jede Evidenz, die man mir zum Nachweis der Richtigkeit oder Falschheit meiner Überzeugungen liefern könnte, question-begging. In FMV ist jeder der Beteiligten ideal kohärent und konsistent, und die Annahme ist, dass keiner der Beteiligten durch das Auftauchen weiterer Evidenzen in seinem Überlegungsgleichgewicht gestört werden
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kann. Hier ist es also prinzipiell ausgeschlossen, dass die Beteiligten aus ihrer unglücklichen Situation, in der sie ihre jeweilige Position nur petitiös verteidigen zu können, „ausbrechen“ und angesichts von Evidenzen auf geteilte Hintergrundüberzeugungen zurückgreifen können. Nun scheint mir das epistemische „Verbot“ petitiöser Argumentation in Fällen wie meiner Annahme zum Politiker X gerade deshalb plausibel oder sinnvoll zu sein, weil in solchen Fällen eben die prinzipielle Möglichkeit besteht, nicht-petitiös die entsprechende umstrittene Annahme zu begründen oder zu widerlegen. Die Übertragung des „Verbots“ aus diesem Fall auf den Fall von FMV, in denen diese Möglichkeit eben nicht gegeben ist, lässt sich jedenfalls nicht mit dem Gesichtspunkt begründen, dass questionbegging epistemisch willkürlich ist, „wenn“ man die (prinzipielle) Möglichkeit hat, eine in Frage stehende Überzeugung nicht-petitiös zu überprüfen. Solange nun aber keine geeigneten Gründe geliefert werden, warum man das hinter P2 stehende epistemische Prinzip akzeptieren sollte, kann der Moralische Objektivist gegen P2 einwenden: „Meine Gewissheit, dass Foltern aus Vergnügen moralisch verwerflich ist, ist wesentlich größer als meine Gewissheit, dass dieses epistemische Prinzip wahr ist.“ 4. Ist P2 intuitiv plausibel? Ich habe eben bereits versucht, Zweifel an der Plausibilität des hinter P2 stehenden Prinzips zu nähren. Einen wichtigen Grund, der m.E. gegen dieses Prinzip spricht, habe ich bisher noch nicht genannt: Warum sollte die bloße Möglichkeit einer FMV etwas am Status der Rechtfertigung meiner moralischen Überzeugungen ändern? Die bloße Möglichkeit, dass ich mich z.B. mit meiner durch einen Blick auf den Fahrplan gebildeten Annahme, dass der Zug nach Saarbrücken heute um 9 Uhr am Frankfurter Hauptbahnhof abfährt, irre, ist wohl kaum ein Grund, an dieser Annahme zu zweifeln und ihre Rechtfertigung in Frage zu stellen. Zum Zweifeln brauche ich Gründe, die die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Irrtums aufweisen. Solche Gründe wären im Falle meiner Annahme zur Abfahrt des Zuges etwa: Mein Freund erzählt mir, dass er gestern Abend am Hauptbahnhof gesehen hat, wie Mitarbeiter der Bahn neue Fahrpläne ausgehängt haben. Dagegen ist die bloße Möglichkeit, dass er mir so etwas erzählt, sicher kein entsprechender Grund. Warum sollte das mit moralischen Überzeugungen anders sein? Warum sollte also die bloße Möglichkeit eines ideal kohärenten Caligula die Rechtfertigung meiner Überzeugung, dass Foltern aus Vergnügen moralisch verwerflich ist, in Frage stellen oder sogar prinzipiell unmöglich machen? Anders sieht es vielleicht aus, wenn es aktuale (tatsächliche) FMV bezüglich meiner moralischen Überzeugungen gibt – dann habe ich (möglicherweise) einen Grund, an meinen Überzeugungen zu zweifeln: „Da ist tatsächlich jemand mit fundamental anderen moralischen Überzeugungen, wir können beide nur petitös argumentieren – wie kann ich gerechtfertigterweise davon aus-
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gehen, dass meine grundlegenden Prämissen/Intuitionen/Überzeugungen die Wahrheit ‘tracken’?“ Damit ist auch schon die Idee angesprochen, die das zweite epistemologische AMV verfolgt und das ich gleich vorstellen und untersuchen werde. Um kurz die Ergebnisse meiner Kritik am ersten epistemologischen AMV zusammenzufassen: Das Argument scheitert, weil es in seiner zentralen Prämisse P2 ein epistemisches Prinzip in Anspruch nimmt, das sich möglicherweise selbst untergräbt, aber auf jeden Fall übergeneralisiert. Davon abgesehen, ist die Motivation bzw. Begründung für dieses Prinzip unklar, nicht zuletzt weil unklar bleibt, warum die bloße Möglichkeit von FMV die Rechtfertigung von (moralischen) Überzeugungen prinzipiell unmöglich machen soll. Hinzu kommt, dass der Moralische Objektivist m.E. gerechtfertigterweise P2 ablehnen kann - und zwar mit Hinweis auf die Frage, warum er ein lediglich auf einer schwammigen Intuition beruhendes Prinzip akzeptieren sollte, aus dem folgt, dass seine grundlegenden moralischen Gewissheiten kein Wissen darstellen. Der Vertreter dieses Arguments muss, um sich gegen diese Einwände zu immunisieren, viel Arbeit leisten: Erstens muss er plausibel machen können, warum FMV in der Moral, aber nicht in Bezug auf P2 möglich sind. Zweitens muss er begründen, warum P2 in der Moral, aber nicht im Falle des Alte-Welt-Ungläubigen oder des Foil-Hat-Guy einschlägig ist. Drittens muss er die hinter P2 stehende Intuition ausführlicher (bzw. überhaupt einmal) begründen und zeigen, wie sie in der Lage ist, grundlegende moralische Gewissheiten in Frage zu stellen. Das beinhaltet vor allem viertens eine Begründung der Ansicht, die bloßen Möglichkeiten seien epistemisch relevant.
3.3.2 Faktisch bestehende fundamentale Meinungsverschiedenheiten Das zweite epistemologische Argument entgeht der Frage, warum hypothetische FMV überhaupt epistemisch relevant sein sollen, indem es auf faktisch bestehende FMV fokussiert. Auch dieses Argument hat die Form einer reductio. Zusammengefasst lautet es wie folgt:
Argument aus faktischen fundamentalen Meinungsverschiedenheiten (1*) Der Moralische Objektivismus ist wahr: Es gibt substantielle objektive moralische Tatsachen und moralische Überzeugungen sind Überzeugungen über diese Tatsachen. (Annahme zum Zwecke der reductio)
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(2*) Für alle substantiellen Tatsachen p gilt notwendigerweise: Wenn es fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich p gibt, ist die Überzeugung, dass p, nicht gerechtfertigt. (3*) Es gibt sehr viele substantielle moralische Tatsachen p für die gilt: Es gibt FMV bezüglich p. (4*) Es gibt sehr viele substanzielle moralische Tatsachen p für die gilt: Die Überzeugung, dass p, ist nicht gerechtfertigt. (aus 2, 3) (5*) Wenn (4*) wahr ist, dann ist der Moralische Objektivismus absurd/witzlos. (K*) Also ist der Moralische Objektivismus absurd/witzlos. Der mit dem Fokus auf tatsächliche FMV verbundene Vorteil des Arguments bringt allerdings zwei Probleme mit sich, die auf der Hand liegen: Erstens stellt sich die Frage, wie denn festgestellt werden kann, dass es sich bei aktualen mMV tatsächlich um FMV handelt. Und zweitens muss die Anzahl der substantiellen Tatsachen bezüglich derer – laut Prämisse P3* – FMV bestehen sollen, hinreichend groß sein, damit der daraus folgende Skeptizismus den Moralischen Objektivismus witzlos oder gar absurd macht. Auch wenn uns der Vertreter des Argument keine präzise Angabe darüber schuldet, wie groß eine problematische Menge an betroffenen Tatsachen sein muss, so lässt sich doch sagen, dass sie sehr groß und vor allem größer als die Menge nicht-umstrittener Tatsachen sein muss. Bevor ich auf diese beiden Probleme eingehe, möchte ich jedoch noch einige Bemerkungen zu Prämisse 2* machen. Prämisse 2* setzt sich, wie ich meine, Einwänden aus, denen sich auch schon Prämisse 2 des Arguments aus der möglichen Meinungsverschiedenheit ausgesetzt sah. Zunächst ist auch der Übergeneralisierungs-Einwand für P2* einschlägig: Denn auch wenn es möglicherweise zur Zeit keine ideal kohärenten Alte-WeltUngläubigen und Foil-Hat-Guys gibt, folgt aus P2*, dass wir, wenn wir einmal im unwahrscheinlichen Falle solchen Menschen begegnen, nicht berechtigt sind, an unseren entsprechenden Überzeugungen festzuhalten. Und ich nehme an, dass auch das nicht nachvollziehbar ist und dass, so wie wohl jeder, der AntiObjektivist diese Konsequenz vermeiden möchte. Ein Prinzip, das solche Konsequenzen hat, muss schon sehr gut begründet werden und wie gesagt, trifft das auf dieses Prinzip (zumindest bislang) nicht zu: Es beruht lediglich auf der Intuition, dass es angesichts von FMV epistemisch willkürlich und nicht gerechtfertigt ist, an seinen Überzeugungen festzuhalten. Zudem bleibt unklar, wie mit Bezug auf epistemische Normen, die in Fällen von nicht-fundamentalen Meinungsverschiedenheiten einschlägig sind, für eine epistemische Norm in Fällen von FMV
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argumentiert werden kann. Hier sind Disanalogien zu berücksichtigen, die eine einfache Übertragung erschweren. Hinzu kommt, dass das auch von P2* beanspruchte Prinzip nicht offensichtlich oder selbst-evident ist und in einer ziemlich ungewöhnlichen Situation, nämlich im Falle von FMV, gelten soll. Angesichts der Ungewöhnlichkeit solcher Situationen sollte man von einem Vorschlag für eine epistemische Norm eine stärkere Begründung erwarten dürfen, als der Rekurs auf die in gewöhnlichen Situationen gebildete Intuition, dass petitiöse Argumente keine Rechtfertigung liefern. Damit trifft der oben genannte dritte Einwand eben auch P2*: Was des einen Modus Ponens ist des anderen Modus Tollens. Der Objektivist kann sagen: „Ich weiß, dass Foltern aus Vergnügen moralisch verwerflich ist, und ein nur intuitiv motiviertes philosophisches Prinzip, demzufolge ich das nicht weiß, kann nicht wahr sein!“. Damit liegt jedenfalls die (ziemlich schwere) Beweislast auf Seiten des Vertreters von P2*. Aber selbst wenn man dem Vertreter des Arguments Prämisse 2* schenkt, ist nicht zu sehen, wie er Prämisse 3* – also die These, dass es sehr viele FMV gibt – begründen will. FMV sind moralische Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen, die (bzw. deren epistemische Situation) in hohem Maße idealisiert sind. Die Opponenten einer FMV sind ideal kohärent und es ist fraglich, ob und wie wir überhaupt feststellen können, dass eine Person ein ideal kohärentes Überzeugungssystem hat. Wenn man das in diesem Kontext immer wieder angeführte Beispiel des Dissenses zwischen Utilitaristen und kantianischen Deontologen betrachtet, dann scheint es mir nicht offensichtlich zu sein, dass sich die Vertreter beider Parteien in einem idealen Überlegungsgleichgewicht befinden. Im Gegenteil. Beide Seiten kämpfen bis heute mit ihren eigenen Problemen und ein Großteil dieser Probleme hängt damit zusammen, dass widersprüchliche oder konfligierende Intuitionen mit der jeweiligen Position in Einklang gebracht werden müssen.⁵⁵ Doch selbst wenn man einigermaßen hieb- und stichfest zeigen könnte, dass es sich bei bestimmten mMV um FMV handelt, stellt sich die Frage, ob das eine für den Objektivisten problematische Menge von FMV ist. Wenn man sich einmal die von verschiedenen Autoren angebotenen Listen von genuinen mMV anschaut, die als Kandidaten für FMV in Frage kämen, dann muss man sagen, dass diese Listen nicht besonders lang sind. Sie gehen meist nicht über 10 Einträge hinaus. Man kann wohl sagen, dass das kaum ausreicht, um einen weitreichenden und
55 Um nur ein einschlägiges Beispiel für die utilitaristische Seite zu nennen: Die von Derek Parfit formulierte repugnant conclusion hat sicherlich nicht wenige Utilitaristen aus ihrem, möglicherweise bis dato vorhandenen, idealen Überlegungsgleichgewicht gebracht.
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für den Objektivismus problematischen Skeptizimus zu begründen. Auch dieses zweite epistemologische AMV scheitert demnach.
3.3.3 Das Argument aus den peer-disagreements Das letzte epistemologische Argument, das ich vorstellen möchte, löst sich von der Vorstellung fundamentaler Meinungsverschiedenheiten und konzentriert sich auf sogenannte peer-disagreements. Der Grundgedanke dieses Arguments lässt sich mit Bezug zu meinen bisherigen Bemerkungen zum Überlegungsgleichgewicht erläutern: Wenn viele moralische Fragen und Probleme eine schwierige und herausfordernde epistemische Aufgabe stellen, weil viele verschiedene moralische Fragen miteinander zusammenhängen und moralische Deliberation von daher im Sinne der Methode des Überlegungsgleichgewichts verstanden werden sollte,⁵⁶ dann sollte eine Person x angesichts von Meinungsverschiedenheiten mit Menschen, die sie als epistemic peers ansehen sollte, nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass sie selbst – im Gegensatz zu ihren Opponenten – fehlerfrei nachgedacht oder alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hat. Wenn diese Person aber in solchen Situationen keinen Grund für die Annahme hat, sie selbst sei im Recht, während sich die anderen irren, dann sollte sie in diesen Situationen ihren Anspruch auf gerechtfertigte moralische Überzeugungen aufgeben. Der Begriff des epistemic peer lässt sich mit Thomas Kelly wie folgt definieren: Let us say that two individuals are epistemic peers with respect to some question if and only if they satisfy the following two conditions: (i) they are equals with respect to their familiarity with the evidence and arguments which bear on the question, and (ii) they are equals with respect to general epistemic virtues such as intelligence, thoughtfulness, and freedom from bias.⁵⁷
Das Argument geht also davon aus, dass es mMV gibt, in denen mindestens eine Partei keinen Grund zu der Annahme hat, dass sich die Gegenpartei irrt, und zwar in Situationen, in denen sie dazu genötigt sind, den Opponenten in Bezug auf die fragliche Überzeugung als epistemic peer anzuerkennen.
56 Wie bereits oben angemerkt, soll hier die (korrekte) Anwendung dieser Methode zwar als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für korrektes moralisches Urteilen verstanden werden. 57 (Kelly2005), S. 174f.
3.3 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? |
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Argument aus den peer-disagreements (1) Person x verfügt über moralische Überzeugung, dass p. (2) Person y verfügt über moralische Überzeugung, dass non-p. (3) Person x ist sich bewusst, dass y über moralische Überzeugung, dass non-p, verfügt. (4) Person x verfügt über keine Gründe für die Annahme, dass sie selbst Recht hat, während y sich täuscht. (5) Wenn für Person x P1 - P4 erfüllt sind, darf x nicht länger unverändert an ihrer moralischen Überzeugung festhalten. (K) Person x darf nicht länger unverändert an ihrer Überzeugung festhalten.⁵⁸ Da nun – so geht das Argument mit einer weiteren Prämisse (P6) weiter – für jeden einzelnen von uns P1 - P4 in Bezug auf sehr viele unserer moralischen Überzeugungen erfüllt sind, wird die Rechtfertigung sehr vieler unserer moralischen Überzeugungen unterlaufen. Der letzten Prämisse (P7) des Arguments zufolge ist das aber eine sehr unplausible Konsequenz: Es ist unplausibel, dass es moralische Tatsachen gibt, wir aber von so vielen dieser Tatsachen noch kein Wissen erworben haben.⁵⁹ Daher lautet die abschließende Konklusion auch dieses dritten epistemologischen AMV wieder: Der Moralische Objektivismus ist unplausibel. Das Hauptproblem dieses Arguments ist seine letzte Prämisse P7. Denn selbst wenn tatsächlich bezüglich der Mehrzahl aller moralischen Fragen (die wir uns bisher gestellt haben) Meinungsverschiedenheiten zwischen epistemic peers bestehen würden, ist fraglich, ob das die Annahme moralischer Tatsachen so unplausibel aussehen lässt. Denn schließlich folgt aus dem Argument nur, dass wir momentan noch kein Wissen in solchen Fällen haben, und nicht, dass hier prinzipiell kein Wissen möglich ist. Und wenn man mir die These zugesteht, dass für die Beantwortung vieler moralischer Fragen ein anspruchsvolles (Selbst)Reflektieren nötig ist, dann ist es nicht überraschend, wenn wir angesichts von mMV feststellen müssen, dass wir für viele dieser Fragen noch kein sicheres Wissen beanspruchen können. Dieser Punkt ist vor allem dann überzeugend, wenn man sieht, dass auch Prämisse P6 in wesentlicher Hinsicht abgeschwächt werden muss. Dazu drei Anmerkungen.
58 Ich habe hier die Formulierung des Arguments von (Halbig2011), S. 348, übernommen. Ich habe Halbigs Ausdruck „moralische Überzeugung p“ durch „moralische Überzeugung, dass p“ ersetzt. 59 Ich setze hier voraus, dass Wissen Rechtfertigung impliziert.
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Erstens scheint mir hier zu gelten: „numbers count“. Ich denke nicht, dass peer-disagreements schon dann in der vom Argument benötigten Weise epistemisch relevant sind, wenn die Verteilung der jeweiligen Überzeugungen in hohem Maße ungleich ist. Wenn ich etwa mit einem Freund eine Meinungsverschiedenheit über die Abfahrt eines Zuges habe, dann mag es sein, dass ich keinen Grund habe, anzunehmen, dass ich Recht habe und sich mein Freund irrt. Wenn aber nun zehn meiner Kollegen meine Überzeugung bestätigen, habe ich einen Grund, zu glauben, dass mein Freund sich irrt.⁶⁰ Und so bleibt, denke ich, auch für jede mMV zu prüfen, wie hier die Verteilung der Überzeugungen insgesamt aussieht. Das ist natürlich eine empirische Aufgabe. Dennoch scheint mir eine vorsichtige Diagnose für zumindest einige hartnäckige Meinungsverschiedenheiten gerechtfertigt zu sein. Um das gerne zitierte Beispiel der mMV um den moralischen Status der Todesstrafe zu nehmen: Diejenigen Befürworter der Todesstrafe, die mit ihren Gegnern übereinstimmen, dass die Todesstrafe keine abschreckende Wirkung hat, und die zudem als einigermaßen rational gelten dürfen, scheinen mir in der Unterzahl zu sein. Zweitens: Das Problem für P6 wird noch durch den Umstand verschärft, dass die Frage, ob die Bedingungen für epistemische Parität aus Prämisse P4 für hinreichend viele mMV erfüllt ist, nur schwer zu beantworten ist. Zunächst ist hier festzuhalten, dass Prämisse P4 nicht davon handelt, dass Person x tatsächlich eine mMV mit epistemic peers hat, sondern, dass sie Grund dazu hat, anzunehmen, dass sie sich sich einer solchen Situation befindet, und von daher keinen Grund hat, anzunehmen, dass sie – im Gegensatz zu ihren Opponenten – Recht hat. Damit stellt sich aber vor allem das Problem, wie man aus der Perspektive der ersten Person überhaupt feststellen kann, ob ein dissenter als epistemic peer einzuordnen ist. Hannah Altehenger und Nathan King haben auf folgende Probleme in diesem Zusammenhang aufmerksam gemacht:⁶¹ Wie kann ich feststellen, dass mein Opponent die gleichen Evidenzen und Argumente kennt und zudem in gleicher Weise mit diesen vertraut ist? Je komplexer eine epistemische Aufgabe ist, umso schwerer fällt es, dies festzustellen. Und wie kann ich sicher gehen, dass mein Opponent in der Bewertung dieser Evidenzen so sorgfältig und umsichtig wie ich vorgeht, dass er also die von Kelly genannten epistemischen Tugenden in gleichem Maße wie ich besitzt und anwendet? Diese Probleme mögen bei mMV mit eng Vertrauten und Freunden nicht besonders groß sein, so dass man in solchen
60 Damit ist nicht gemeint, dass sich die Mehrheit der peers nicht irren kann. Es geht darum, dass, wenn die zehn Kollegen und mein Freund meine peers sind, ich gerechtfertigt bin, davon auszugehen, dass sich mein Freund irrt – einfach weil es wahrscheinlicher ist, dass sich einer irrt und nicht zehn. 61 Vgl. (Altehenger2013) und (King2012).
3.3 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? |
67
Fällen tatsächlich keinen Grund hat, anzunehmen, man selbst habe den besseren Zugang zu den relevanten Evidenzen und sei sorgfältiger bei der Bewertung vorgegangen. Aber es ist wahrscheinlich, dass sich die mMV zwischen Vertrauten und Freunden in Grenzen halten und hier nicht besonders viele moralische Fragen umstritten sind. Wenn es dagegen um mMV mit weniger gut bekannten Menschen geht, dann scheinen mir diese Probleme einschlägig zu sein, so dass die Frage, ob es sich bei ihnen um epistemic peers handelt, schwer zu bejahen ist. Ein Einwand liegt nun auf der Hand: Wenn ich nicht feststellen kann, dass es sich bei fremden oder weniger gut bekannten Menschen um epistemic peers handelt, dann kann ich eben auch nicht ausschließen, dass sie genauso gut mit den Argumenten und Gegenargumenten vertraut und sorgfältig und umsichtig mit diesen umgegangen sind wie ich. Und das heißt doch, dass ich keinen Grund zu der Annahme habe, dass sie mir in epistemischer Hinsicht unterlegen sind. Und das wiederum bedeutet: Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass ich Recht habe und die anderen sich irren. Weil ich wenig von diesen Leuten weiß, habe ich auch keinen Grund zu der Annahme, dass ich mich mit der umstrittenen moralischen Frage angemessener auseinandergesetzt habe. Also habe ich auch keinen Grund zu der Annahme, dass ich Recht habe. Insbesondere wenn ich es mit vielen Opponenten zu tun habe, sollte ich nicht einfach davon ausgehen, dass sie mir alle in epistemischer Hinsicht unterlegen sind. Auch wenn ich denke, dass an diesem Einwand etwas dran ist, möchte ich doch zur Vorsicht raten. Mir scheint generell in der Debatte um peer-disagreements sehr viel von der Ausgestaltung der Details von den in Anspruch genommenen Beispielen für potentielle Meinungsverschiedenheiten zwischen peers abzuhängen. Ein beliebtes Beispiel beschreibt Sarah McGrath wie folgt: Suppose that you and your friend Alice intend to take the train togehter but discover that you have different views about what time it is scheduled to depart: you think that the train departs at a quarter past the hour, while she thinks that it departs at half past. Perhaps you have some good reason to think that Alice is the one who has made a mistake. For example, perhaps you know that she arrived at her view by consulting a train schedule that is out of date, while you arrived at yours by consulting a current schedule. Or perhaps you know that Alice is prone to carelessness with respect to such matters, as she has a past history of having made similar mistakes. But suppose instead that you have no such reason to think that it is Alice who has made the mistake: as far you know, it is just as likely that you are mistaken as that she is. In that case, it seems that your belief about what time the train leaves does not amount to knowledge.⁶²
62 (McGrath2007), S. 91f.
68 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
Nun mag man die Intuition von McGrath in diesem Fall teilen. Aber wie sieht es aus, wenn mir statt meiner Freundin Alice ein völlig Unbekannter sagt, der Zug fahre um 10.30 Uhr ab? Habe ich dann wirklich keinen Grund zu der Annahme, dass ich Recht habe? Das hängt wiederum von einigen Details ab: Wenn ich z.B. weiß, dass ich generell etwas schlampig bei der Beschaffung von Informationen vorgehe, dann mag die Information über des Unbekannten Überzeugung etwas am epistemischen Status meiner Überzeugung ändern. Aber angenommen, ich bin kein schlampiger Informations-Beschaffer⁶³, habe zudem noch einen wichtigen Termin und habe, um sicher zu gehen, sowohl im Internet als auch auf den ausgehängten Fahrplänen nachgeschaut und zusätzlich noch drei Schaffner gefragt, wann der Zug abfährt. Habe ich dann immer noch keinen Grund, davon auszugehen, dass ich Recht habe und der Unbekannte sich irrt? Ich denke nicht. Wenn ich nun von dem Unbekannten erfahre, dass er ebenfalls einen wichtigen Termin hat und sich mehrmals über die Abfahrt des Zuges versichert hat, mag es wiederum anders aussehen. Der Punkt ist aber, dass ich dann relevante Informationen über den Unbekannten habe und er in der epistemisch relevanten Hinsicht kein Unbekannter mehr ist. Ich denke, dieser Punkt lässt sich auf unseren Fall von moralischen Meinungsverschiedenheiten übertragen: Sehr viele der Menschen, die in moralischen Fragen anderer Meinung sind als ich, sind mir völlig unbekannt.⁶⁴ Ich weiß, dass es diese Menschen gibt, aber ich weiß nicht, ob ihnen z.B. diese Fragen aufrichtig am Herzen liegen und sie intensiv über sie nachgedacht haben. Und wenn ich selbst nun weiß, dass mir diese Fragen aufrichtig am Herzen liegen und ich sorgfältig und umsichtig über sie nachgedacht und diskutiert habe, dann scheint mir die Annahme übertrieben, dass ich angesichts von unbekannten Opponenten keinen Grund habe, davon auszugehen, dass ich Recht habe und sie sich irren.Und selbst wenn man zugesteht, dass doch unter den vielen Opponenten ein paar Leute dabei sein werden, die mir in epistemischer Hinsicht gleich kommen, hängt eben immer noch viel davon ab, wie groß man rationalerweise die Zahl dieser Leute einschätzen sollte. Und das hängt wiederum und schließlich davon ab, wie man seine eigene epistemische Situation in der jeweiligen Frage einschätzt: Wenn ich weiß, dass ich über diese Frage überdurchschnittlich intensiv und sorgfältig nachgedacht habe, verringert sich die Zahl derjenigen, von denen ich aus statistischen Gründen ausgehen sollte, dass sie mir epistemisch ebenbürtig sind. Damit sind wir letztlich auch wieder auf meine erste Bemerkung zu diesem Nexus verwiesen: Es kommt auf die Verteilung der Überzeugungen insgesamt 63 Bzw.: wenn ich keinen Grund zu der Annahme habe, dass ich in dieser Beziehung üblicherweise schlampig bin. 64 Ich kenne z.B. niemanden persönlich, der die Todesstrafe befürwortet oder Abtreibung für prinzipiell moralisch verwerflich hält.
3.3 Ein epistemologisches Problem für den Objektivismus? |
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an. Wenn 200 Unbekannte mir zustimmen; ich mich rationalerweise als epistemisch überdurchschnittlich situiert verstehen darf und aus statistischen Gründen ca. zehn der Unbekannten als epistemic peers betrachten sollte; 100 Unbekannte mir widersprechen, von denen ich aus statistischen Gründen fünf Leute als epistemisch ebenbürtig ansehen sollte; dann habe ich einen Grund für die Annahme, dass ich auf der richtigen Seite liege.⁶⁵ Drittens – und das ist meine letzte Anmerkung zur Plausibilität von Prämisse P6 – sollte man auch hier wieder berücksichtigen, dass ein, wie ich denke, hinreichend breiter Konsens in vielen moralischen Fragen besteht und es nicht offensichtlich ist, dass diese Fragen gegenüber den umstrittenen in der klaren Unterzahl sind. Ich kann Halbig in seiner Argumentation zustimmen, dass insbesondere für moralische pro tanto-Gesichtspunkte große Einigkeit besteht, auch wenn in Einzelfällen Uneinigkeit sowohl darüber besteht, wann und durch welche anderen Gesichtspunkte jene überstimmt werden können, als auch darüber, was in letzter Instanz diese Gesichtspunkte als moralische begründet.⁶⁶ Nun lässt sich allerdings für diese Einzelfälle der Uneinigkeit in der Gewichtung moralischer Gesichtspunkte das Argument aus den peer-disagreements anwenden: Demnach dürfen wir an moralischen Überzeugungen, die auf solchen umstrittenen Gewichtungen beruhen, nicht länger unverändert festhalten. Dazu zwei Anmerkungen: Erstens sind auch hier wieder meine zwei ersten Punkte zu bedenken. Wie groß ist die Anzahl der peers, die mit mir nicht übereinstimmen? Und wen sollte ich überhaupt gerechtfertigterweise als peer ansehen? Zweitens: Selbst wenn in diesen Fällen der Schluss gerechtfertigt ist, dass ich (oder jeder andere) nicht länger an meinen entsprechenden Überzeugungen unverändert festhalten darf, so ist das keine unplausible oder gar absurde Konsequenz für den Moralischen Objektivismus. Was ist daran absurd, anzunehmen, dass es moralische Tatsachen gibt, wir aber vorerst in einigen oder sogar in vielen moralischen Fragen noch keine gerechtfertigten Überzeugungen haben? Und auf die Tatsache bezogen, dass es Uneinigkeit bezüglich der Frage gibt, was in letzter Instanz unsere moralischen Überzeugungen begründet: Was ist daran absurd, dass es verschiedene grundlegende moralische Theorien gibt? Ist etwa die Annahme physikalischer Tatsachen absurd, nur weil es verschiedene physikalische Grundlagentheorien gibt und die Vertreter dieser Theorien epistemic peers sind? Ich denke, diese Annahme findet deshalb niemand absurd. Und ich denke, es gibt keinen Grund, das im Falle der Moral anders zu sehen.
65 Denn auch die Tatsache, dass mir ca. 190 Unbekannte (von denen ich nicht annehmen kann, dass sie epistemic peers sind) zustimmen, ist Evidenz dafür, dass ich richtig liege. 66 Vgl. (Halbig2009), S. 367.
70 | 3 Argumente aus der Meinungsverschiedenheit
Meine drei Anmerkungen stellen die Plausibilität von Prämisse 6 in Frage. Es ist keineswegs so eindeutig, dass für jeden einzelnen von uns P1–P4 erfüllt sind und viele der moralischen Überzeugungen jedes Einzelnen durch die Existenz mMV in ihrer Rechtfertigung untergraben werden. Damit scheitert das Argument in seinem Versuch, den Moralischen Objektivismus ad absurdum zu führen: Da fraglich bleibt, ob tatsächlich hinreichend viele moralische peer-disagreements bestehen, um einen weitreichenden Skeptizismus zu begründen, und dieser Skeptizismus in jedem Fall nur als kontingent (und nicht prinzipiell) verstanden werden muss, kann der Objektivismus die Schlüssigkeit des Arguments mit guten Gründen in Frage stellen.
3.3.4 Zusammenfassung: Epistemologische Argumente Ich habe in diesem Abschnitt dafür argumentiert, dass die drei von verschiedenen Prämissen ausgehenden epistemologischen Argumente aus der Meinungsverschiedenheit nicht überzeugend sind. Mit dem ersten Argument (Argument aus möglichen fundamentalen Meinungsverschiedenheiten) wird versucht, dem Moralischen Objektivismus auf einen radikalen Skeptizismus festzulegen. Ich habe gezeigt, dass sich die zentrale Prämisse (P2) des Arguments auf ein sehr fragwürdiges epistemisches Prinzip beruft und das wir keinen Grund haben, dieses Prinzip zu akzeptieren. Damit scheitert aber dises Argument. Das zweite Argument (aus faktischen fundamentalen Meinungsverschiedenheiten) versucht, einen zwar nicht prinzipiellen, radikalen Skeptizismus zu begründen, so aber einen Skeptizismus bezüglich einer so großen Anzahl von moralischen Überzeugungen, dass die Annahme moralischer Tatsachen als absurd oder witzlos erscheint. Das Argument hat dazu den Bezug auf ein zwar schwächeres epistemisches Prinzip genutzt, aber auch dieses Prinzip konnte, wie ich gezeigt habe, nicht überzeugen. Zudem blieb fraglich, wie die andere zentrale Prämisse des Arguments (P3*), wonach es eine große Anzahl von faktisch bestehenden fundamentalen moralischen Meinungsverschiedenheiten gibt, begründet werden kann. Das dritte Argument (aus den peer-disagreements) versucht mit Bezug auf sogenannte peer-disagreements zu zeigen, dass der Objektivismus einen Skeptizismus zur Folge hat, der die Annahme eines Objektivismus unplausibel macht. Ich habe in der Diskussion dieses Arguments gezeigt, dass schon die Behauptung, ein aus peer-disagreements resultierender Skeptizismus sei für den Objektivismus problematisch, keinerlei Grundlage hat. Dass wir über viele moralische Tatsachen noch keine gerechtfertigten Überzeugungen haben, ist eine Konsequenz, die kein Objektivismus fürchten muss. Zudem habe ich argumentiert, dass auch der angebliche weitreichende Skeptizismus nicht ohne Weiteres begründet werden
3.4 Schluss
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kann, und dass ein Skeptizismus höchstens mit Bezug auf moralische Fragen, in denen es um die Gewichtung von pro-tanto-Gesichtspunkten geht, etabliert werden kann. Ein solcher Skeptizismus stellt aber keine Bedrohung für den Objektivismus dar. Ich denke also, dass die epistemologischen Argumente aus der Meinungsverschiedenheit nicht überzeugend sind. Solange keine anderen epistemologischen Argument formuliert werden, sieht sich der Objektivismus keiner Bedrohung aus epistemologischen Überlegungen im Zusammenhang mit moralischen Meinungsverschiedenheiten ausgesetzt.
3.4 Schluss Das Phänomen moralischer Meinungsverschiedenheiten stellt wohl für viele Menschen einen der Hauptgründe dar, skeptisch gegenüber dem Moralischen Objektivimsus eingestellt zu sein. Wenn meine kritische Diskussion der verschiedenen Argumente aus der Meinungsverschiedenheit überzeugend ist, dann zeigt sich, dass die Einschätzung dieser Menschen verfehlt ist: Der Objektivismus kann erstens plausible Erklärungen für moralische Meinungsverschiedenheiten – und zwar auch für hartnäckige, fortbestehende Meinungsverschiedenheiten zwischen prima facie epistemisch gut situierten Individuen – liefern. Der Vorwurf, der Objektivismus habe in diesem Zusammenhang ein explanatorisches Problem, ist demnach unbegründet. Zweitens kann dem Objektivismus kein epistemologisches Problem nachgewiesen werden: Die Annahme objektiver moralischer Tatsachen verpflichtet angesichts von (möglichen oder tatsächlichen) fundamentalen moralischen Meinungsverschiedenheiten (oder moralischen peer-disagreements) nicht auf einen Skeptizismus, der den Objektivismus witzlos oder absurd macht. Damit entfällt aber eines der Hauptmotive, einen Metaethischen Relativismus als Alternative zum Objektivismus zu formulieren.
4 Normativitätstheoretische Argumente I: Internalismus 4.1 Einleitung In diesem Kapitel werde ich ein einflussreiches Argument für den Internalismus in Bezug auf normative Gründe kritisch untersuchen. Der Internalismus wird oft als unvereinbar mit einer objektivistischen Moralauffassung verstanden. Dem Internalismus zufolge sind normative Gründe für Handlungen notwendigerweise abhängig von den Wünschen der jeweils Handelnden. Damit wird aber die objektivistische Vorstellung von moralischen Tatsachen fragwürdig, derzufolge diese Tatsachen normativ sind. Dieser Vorstellung zufolge hat eine Person einen normativen Grund, eine bestimmte Handlung auszuführen (oder zu unterlassen), wenn es für diese Person moralisch richtig (oder moralisch falsch) ist, diese Handlung auszuführen. Wenn jedoch der Internalismus wahr ist, dann ist entweder moralische Richtigkeit (und moralische Falschheit) abhängig von den Wünschen der jeweils Handelnden oder moralische Tatsachen sind nicht normativ oder „Gründegebend“. Beide Optionen sind aber nicht mit der Objektivität der Moral vereinbar. Ich werde mich mit einem klassischen Argument für den Internalismus beschäftigen, das ich als das „Argument aus der motivationalen Bedingung“ bezeichne. Diesem Argument zufolge lässt sich der Internalismus mit Überlegungen zur Rolle von Motivation im Zusammenhang mit normativen Gründen und Handlungen begründen. Ich werde das Argument kritisch beleuchten und prüfen, ob es überzeugend ist. Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst terminologische Vorbemerkungen machen (Abschnitt 4.2). Anschließend werde ich erläutern, wie die Herausforderung des Objektivismus durch den Internalismus genau zu verstehen ist (Abschnitt 4.3), um dann das Argument aus der motivationalen Bedingung vorzustellen (Abschnitt 4.4). Im Anschluss werde ich prüfen, ob und wie die zentrale Prämisse des Argument begründet werden kann (Abschnitt 4.5 und 4.6).
4.2 Terminologische Vorbemerkungen Zentrale Begriffe: Zunächst möchte ich die Bühne für den Internalismus und das Argument aus der motivationalen Bedingung vorbereiten, indem ich zentrale Begriffe und Positionen erläutere.
4.2 Terminologische Vorbemerkungen |
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Da ist zuerst die Unterscheidung zwischen normativen und motivierenden Handlungsgründen und, mit dieser eng zusammenhängend, die Unterscheidung zwischen normativer und deskriptiver Rationalität. Der ersten Unterscheidung nähert man sich am Besten, wenn man sich vor Augen führt, dass Handelnde manchmal zwar aus Gründen handeln, aber dann nicht immer aus guten Gründen. Stellen wir uns dazu Paul vor, der einen Schluck aus einem Glas nimmt. Wenn man nun davon ausgeht, dass Paul absichtlich einen Schluck nimmt, und dann danach fragt, warum er das tut, dann fragt man nach dem Grund, aus dem er das tut. Und der Grund, warum Paul einen Schluck aus dem Glas nimmt, ist hier, dass er Durst hat und glaubt, das Glas enthielte Wasser. Dieser Grund ist ein motivierender Grund, er ist der Grund, der Paul dazu motiviert, den Schluck zu nehmen, und er erklärt Pauls Handlung. Obwohl Paul demnach einen motivierenden Grund hat, einen Schluck aus dem Glas zu nehmen, muss er jedoch nicht auch einen guten, einen normativen Grund dazu haben. Denn wie Paul gleich bemerken wird, enthält das Glas tatsächlich kein Wasser, sondern Benzin. Wenn wir unterstellen, dass Paul nicht gerne Benzin trinkt, können wir sagen: Paul hat eigentlich keinen Grund, aus dem Glas zu trinken. Damit verneinen wir nicht, dass er einen motivierenden Grund hat, sondern wir sagen, dass er in dieser Situation nicht aus dem Glas trinken muss. Die Tatsache nämlich, dass sich im Glas Benzin befindet, spricht dagegen, aus dem Glas zu trinken, und es gibt nichts, was dafür spricht. Normative Gründe sind demnach Gründe, die objektiv für oder gegen bestimmte Handlungen sprechen und diese rechtfertigen. Mit objektiv ist hier gemeint: Unabhängig davon, was der Handelnde rationalerweise über diese Gründe glaubt.¹ Sie legen also fest oder bestimmen, welche Handlungen jemand ausführen sollte. Und wie man an Pauls Beispiel sieht, führen wir nicht immer 1 Es ist üblich zwischen objektiven und subjektiven Handlungsgründen zu unterscheiden: Es kann Gründe geben, die aus der Sicht eines Handelnden für eine Handlung sprechen, die das aber in Wirklichkeit nicht tun. Nun muss der Handelnde mit seiner Sicht nicht unbedingt irrational sein: Es kann in seiner Situation durchaus rational sein, zu glauben, dass Gründe für diese Handlung sprechen. Ein Beispiel: Paul will nach Amorbach und steht an einer Kreuzung mit einem Wegweiser. Um nach Amorbach zu gelangen, muss man den linken Weg einschlagen, aber da Kinder den Wegweiser verstellt haben, weist dieser auf den rechten Weg. Nun hat Paul keinen Grund anzunehmen, dass der Wegweiser verstellt wurde, und er entscheidet sich rationalerweise dafür, den rechten Weg zu nehmen. In einem Sinne, nämlich im objektiven Sinne, hat er aber gar keinen Grund, den rechten Weg einzuschlagen, denn Amorbach liegt links herum. In einem anderen Sinne, nämlich im subjektiven Sinne, ist Paul aber gerechtfertigt, den rechten Weg zu wählen, denn es wäre irrational zu denken, dass der Wegweiser nicht dafür spricht, den rechten Weg zu wählen. Vgl. (Joyce2001), S. 53f, (Stemmer2008), S. 131f, 151f. Ich werde mich im Folgenden nur mit objektiven Gründen beschäftigen. Anzumerken ist noch: Die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Gründen fällt nicht mit der Unterscheidung zwischen normativen und motivierenden Gründen zusammen. Jemand kann aus einem Grund handeln,
74 | 4 Normativitätstheoretische Argumente I: Internalismus
jene Handlungen aus, für die (überwiegende) normative Gründe sprechen, also jene Handlungen, die wir ausführen sollten.² Ich werde im Verlaufe dieses Kapitels noch Näheres zu normativen und motivierenden Gründen sagen. Hier sollte diese Erläuterung für ein grobes Verständnis von beiden Begriffen ausreichen. Eine Bemerkung ist allerdings noch wichtig: Ich habe gesagt, dass normative Gründe bestimmen, welche Handlungen jemand ausführen muss. Dieses normative Müssen ist dabei als ein besonderes, nämlich bindendes oder autoritatives Müssen zu verstehen. Man kann sich dieses spezifische Müssen verständlich machen, wenn man es mit jenem Müssen kontrastiert, das durch Institutionen konstituiert wird. Die Institution bzw. die Regeln der Etikette legen zum Beispiel fest, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten muss. Wenn jemandem beim Sonntagsbrunch die Nase läuft, dann muss er sich gemäß der Etikette mit dem Taschentuch die Nase abwischen. Doch dieses Müssen ist für sich genommen nicht bindend, nicht autoritativ: Der Punker, der sich zum Vorsatz genommen hat, seinen Eltern zu zeigen, was er von Sonntagsbrunch hält, kann dieses Müssen der Etikette einfach ignorieren. Es hat für ihn keine bindende Kraft. Er kann einfach sagen: „Ja, stimmt. Ich muss mir gemäß der Etikette die Nase putzen. Na und? Das ist völlig irrelevant für mich!“³ Wenn der Punker aber einen normativen Grund dazu hat, sich die Nase zu putzen (etwa weil er seine Eltern nicht verärgern will), dann kann er nicht sagen: „Ja stimmt. Ich habe einen normativen Grund, mir die Nase zu putzen. Na und? Das ist völlig irrelevant für mich. Das muss mich überhaupt nicht interessieren.“
der weder im objektiven noch im subjektiven Sinne ein guter Grund ist. Dieser andere Grund ist dann der motivierende Grund, während weder der objektive noch der subjektive Grund die Person motivieren. Die Person würde dann irrational handeln. 2 Zur Unterscheidung zwischen motivierenden und normativen Gründen siehe auch (Dancy2000), (Halbig2007), (Smith1987) und (1994). 3 Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht ausreicht, die „Normativität“ von normativen Gründen mittels des Begriffs „müssen“ zu erklären, wie das etwa John Broome versucht. Broome schreibt: „Catholicism requires you to abstain from meat on Fridays. This is a rule and is incorrect according to Catholicism to eat meat on Fridays. So Catholicism is normative in this sense. But I do not use ‘normative’ in this sense. In my sense, it means to do with ought or reasons. Given a rule or a requirement we can ask whether you ought to follow it, or whether you have a reason.“ ((Broome2007), S. 162.) Die Begriffe „müssen“ und „Grund“ sind mehrdeutig: Man kann eben auch davon sprechen, dass man gemäß des Katholizismus an Freitagen auf den Konsum von Fleisch verzichten muss oder dass man gemäß des Katholizismus einen Grund hat, an Freitagen auf Fleisch zu verzichten. Um also das Normative von normativen Gründen zu erklären, hilft der Rekurs auf „müssen“ wenig – wie umgekehrt der Rekurs auf Gründe wenig hilft, um das spezifisch normative Müssen zu erklären. An irgendeiner Stelle muss man die Metapher der bindenden Kraft oder der Autorität einbringen, um den intuitiv vorhandenen Unterschied zwischen normativen, „wirklichen“ Gründen und Gründen der Etikette oder des Katholizismus zu fassen.
4.2 Terminologische Vorbemerkungen |
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Das mit normativen Gründen einhergehende Müssen ist zwar nicht immer ein konklusives Müssen, sondern oft nur ein pro-tanto-Müssen, aber es hat immer und von sich aus – im Gegensatz zum Müssen der Etikette – eine bindende Kraft für den Handelnden. Anders gesagt: Wer das Müssen der Etikette nicht berücksichtigt, macht nicht notwendigerweise etwas verkehrt; wer aber das Müssen seiner normativen Gründe nicht berücksichtigt, macht notwendigerweise einen Fehler.⁴ Nun biete ich hier zur Erläuterung von normativen Gründen viele Metaphern an (bindende Kraft, autoritativ, Fehler). Ich werde im nächsten Kapitel argumentieren, dass tatsächlich alles andere als klar ist, was normative Gründe überhaupt sein sollen. Mit der Unterscheidung zwischen normativen und motivierenden Gründen hängt die zweite Unterscheidung zwischen normativer und deskriptiver Rationalität zusammen. Wer aus einem normativen Grund handelt, ist im normativen Sinne rational. Wer dagegen zwar aus einem motivierenden, aber nicht aus einem guten, d.h. normativen Grund handelt, der ist zwar im normativen Sinne irrational, aber im deskriptiven Sinne rational.⁵. Rational im deskriptiven Sinne kontrastiert mit nicht-rational. Mit Schueler kann man sagen: „[...] it seems to be an important fact about humans that, even when they don’t live up to the standards of rationality [in the normative sense, C.W.], they are still rational in a way that other things in nature are not: they do things for reasons“.⁶ Wer aus einem motivierenden Grund handelt, dessen Handlung ist demnach – auch wenn sie normativ irrational ist, weil kein normativer Grund für diese Handlung vorhanden ist – einer im deskriptiven Sinne rationalen bzw. einer rationalisierenden Erklärung zugänglich.
4 Auch die Rede von Fehler ist hier natürlich wieder nicht sehr hilfreich: Schließlich macht der Punker etwas gemäß der Etikette falsch. 5 Der Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Gründen entsprechend (s. Fn. 1), müsste man zwichen objektiv und subjektiv rational (bzw. irrational) im normativen Sinne unterscheiden. Jemand wäre im normativen Sinne objektiv rational, wenn er seinen tatsächlich bestehenden normativen (also den objektiven) Gründen gemäß handelt, während jemand im normativen Sinne bloß subjektiv rational wäre, wenn er zwar nicht seinen objektiven Gründen gemäß handelt, aber gemäß dessen, was er gerechtfertigterweise als seine objektiven Gründe ansieht – also seinen subjektiven Gründen gemäß. Ob man jemanden als irrational bezeichnen kann, der nicht entsprechend seiner objektiven Gründe handelt, weil er diese gar nicht kennen kann und es ungerechtfertigt wäre, ihnen entsprechend zu handeln, ist eine Frage, die die Anwendung des Rationaliätsbegriffs bei objektiven Gründen prima facie zweifelhaft macht. Ich möchte diese Frage hier nicht weiter verfolgen. 6 (Schueler2009), S. 103.
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4.3 Internalismus und Moralischer Objektivismus Nun möchte ich erläutern, welche Relevanz die Frage nach der Wahrheit des Internalismus für den Moralischen Objektivismus hat. Wieso stellt der Internalismus eine Bedrohung für den Objektivismus dar? Der Internalismus behauptet eine notwendige Bedingung für des Bestehen normativer Handlungsgründe. Er besagt: Internalismus: Eine Person P hat nur dann einen normativen Grund für Handlung h, wenn diese Handlung dazu beiträgt, einen Wunsch von P zu erfüllen. Demzufolge gibt es nur sogenannte interne Gründe – Gründe, deren Existenz von Wünschen abhängig ist. Der Objektivismus beinhaltet, so habe ich in Kapitel 2 gesagt, die semantische These, dass moralische Urteile von Gründen handeln, die wunschunabhängig sind (bzw. dass sie solche Urteile implizieren), und die ontologische These, dass es solche Gründe tatsächlich gibt. Man bezeichnet solche Gründe auch als kategorische Gründe oder – in Abgrenzung zu internen Gründen – als externe Gründe. Die semantische These des Objektivismus ergibt sich aus zwei grundlegenden Überlegungen. Die erste lautet: Es gibt Handlungen, die moralisch richtig sind, unabhängig davon, ob diese Handlungen dazu beitragen, einen Wunsch des Handelnden zu erfüllen. Diese These ist, wie ich denke, nicht wirklich umstritten. Auf jeden Fall scheint sie mir ein wesentlicher Bestandteil objektivistischer Moralauffassungen zu sein. Wenn ein Kind in einen Brunnen gefallen ist, dann ist es für jemanden, der es retten kann, moralisch richtig (bzw. moralisch gefordert), es zu retten – und zwar auch dann, wenn damit keiner seiner Wünsche erfüllt wird. Die zweite Überlegung wird in der Literatur mit dem Namen Moralischer Rationalismus bezeichnet und sie lautet: Moralischer Rationalismus: Wenn es für eine Person P moralisch richtig ist, eine Handlung h auszuführen, dann hat diese Person einen normativen Grund, diese Handlung auszuführen. Diese These wird in der metaethischen Literatur auch als „morality / reasonsinternalism“ bezeichnet.⁷ Um jedoch die Anzahl der Thesen, die als internalistisch
7 Vgl. (Darwall1997), S. 306. (Brink1984), S. 114, spricht einfach von „reasons internalism“.
4.3 Internalismus und Moralischer Objektivismus | 77
bezeichnet werden, gering zu halten und damit der Verwechslungsgefahr zu entgehen, werde ich im Folgenden den ebenfalls üblichen Begriff des „Moralischen Rationalismus“ verwenden.⁸ Die rationalistische These ist eine begriffliche These über den Zusammenhang zwischen moralischer Richtigkeit und dem Vorliegen normativer Gründe. Sie besagt, dass das Vorliegen normativer Gründe zum Handeln ein Element der Wahrheitsbedingungen einer zentralen Klasse moralischer Urteile ist und zwar von Urteilen über die moralische Richtigkeit von Handlungen oder über moralische Verpflichtungen. Demnach ist es begrifflich nicht korrekt, zu sagen, eine Handlung h sei für eine Person P zwar moralisch richtig, die Person habe aber keinerlei normativen Grund, diese Handlung auszuführen. Ich denke, dass diese These intuitiv plausibel ist und ausdrückt, welchen Anspruch wir mit moralischen Urteilen verbinden. Mir scheint der „Witz“ moralischer Urteile oder Forderungen verloren zu gehen, wenn wir sie nicht auch als normative Urteile, d.h. als Urteile über das Vorliegen von normativen Gründen verstehen. Es wird fraglich, welche Relevanz und Autorität die Moral überhaupt beanspruchen kann, wenn sie die Möglichkeit erlaubt, dass es Personen gibt, die keinerlei Grund haben, moralisch zu sein. Welchen Sinn und Zweck haben moralische Urteile, was „bringt“ die Moral denn noch, wenn man sie ungerührt zur Kenntnis nehmen kann und aus normativer Perspektive keinen Fehler macht, wenn man anders handelt, als moralisch gemusst? Ohne eine notwendige Verbindung zwischen Moral und normativen Gründen scheint mir die Moral auf eine Institution, vergleichbar der Etikette, reduziert zu sein. Auf eine Institution also, die zwar Regeln und Verpflichtungen formuliert, welche aber legitimerweise ignoriert werden können, wenn man sich nicht um diese Regeln oder Verpflichtungen schert. Die begriffliche These des Moralischen Rationalismus ist allerdings umstritten. Es gibt eine Reihe von moralischen Realisten, die sie bestreiten und eine externalistische, d.h. anti-rationalistische Position in diesem Zusammenhang vertreten.⁹ Eine Moral ohne normative Autorität mag zwar noch genug Objektivität besitzen, um von einer objektiven Moral zu sprechen – schließlich bleibt es weiterhin wahr, dass eine Handlung moralisch richtig ist, auch wenn der Handelnde keine Lust hat, so zu handeln. Damit ist die Moral aber objektiv ohne präskriptiv zu sein. Mir scheint damit aber genau das verloren zu gehen, was der commonsense unter der Objektivität der Moral versteht: Dass ihre Forderungen bindend
8 Vgl. (Halbig2007), S. 23, (Smith1994), S. 62f. 9 So etwa David Brink, wenn er sagt, dass Gründe für einen Handelnden, sich an den moralischen Tatsachen zu orientieren, „will depend upon contingent (even if deep) facts about the agent’s desires and interests“, (Brink1984), S. 114. Seine dezidiert anti-rationalistische Position arbeitet er heraus in (Brink1989). Weitere Anti-Rationalisten sind (Boyd1988) und (Schaber1997). Zur Diskussion vgl. auch (Tarkian2000).
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sind, dass man sich ihren Forderungen eben nicht entziehen kann. Richard Garner umschreibt treffend, was ohne Normativität von der Moral übrig bleibt: Learning that something is wrong would be like learning what time it is—its relevance would depend on other commitments.¹⁰
Und ich möchte Mackie zustimmen, dass der „ordinary user of moral language“ etwas sagen will, „that involves a call for action or for the refraining from action, and one that is absolute, not contingent upon any desire or preference or policy or choice, his own or anyone else’s.“¹¹ Aus dem Gesagten möchte ich schließen: Ein echter moralischer Objektivismus ist auf die These des Moralischen Rationalismus festgelegt. Wenn das richtig ist, dann ist der Objektivismus – da er auch den oben genannten Gedanken enthält, dass moralische Richtigkeit (üblicherweise) wunschunabhängig ist – auf die semantische These festgelegt, dass moralische Urteile Urteile über kategorische bzw. externe Gründe sind (bzw. dass sie solche Urteile implizieren). Und da solche Urteile eben nur wahr sein können, wenn es diese externen Gründe gibt, muss der Objektivismus auch die ontologische These enthalten, wonach es externe Gründe tatsächlich gibt. Der Internalismus verneint jedoch die ontologische These des Objektivismus: Es gibt keine externen Gründe, es gibt nur interne Gründe. Das bedeutet also, wenn der Internalismus wahr ist, dann ist zumindest die ontologische These des Objektivisten falsch.
4.4 Das Argument aus der motivationalen Bedingung Ich werde in diesem Abschnitt ein einflussreiches Argument für den Internalismus in Bezug auf normative Gründe vorstellen und kritisch untersuchen. Das Argument, das ich als Standardargument¹² bezeichnen möchte, formuliert in seiner ersten Prämisse eine für das Bestehen oder Vorliegen eines normativen Grundes notwendige Bedingung: Eine Person P hat nur dann einen normativen Grund für eine Handlung h, wenn sie unter bestimmten Umständen U zu h motiviert wäre – wobei U Umstände bezeichnet, in denen P vollständig informiert und praktisch rational ist. Ich werde gleich näher erläutern, was es mit dieser motivationalen Be-
10 (Garner1990), S. 139. 11 (Mackie1977), S. 33. 12 In ihrem Stanford-Encyclopedia-Artikel zu internen und externen Gründen bezeichnen Finlay und Schröder dieses Argument als „The Central Argument“, vgl. (Finlay2012).
4.4 Das Argument aus der motivationalen Bedingung | 79
dingung¹³ auf sich hat und wie sie begründet werden kann. Die zweite Prämisse des Arguments behauptet, dass die sogenannte Humeanische Theorie der Motivation (im Folgenden: HTM) wahr ist: Wünsche sind notwendig und Überzeugungen nicht hinreichend für Motivation. Demzufolge kann eine Person niemals von einer oder mehreren ihrer Überzeugungen alleine zum Handeln motiviert werden – notwendig zum motivierten Handeln ist das Vorliegen eines Wunsches in der Person. Aus diesen beiden Prämissen scheint der Internalismus zu folgen. Ich denke aber, dass alles andere als klar ist, wie das Argument funktionieren soll. Um den Internalismus zu begründen, müssten die beiden Prämissen in einer ersten Annäherung wie folgt lauten: (1) Wenn eine Person P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann ist es möglich, dass P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun. (2) Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun, dann hat P einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. (K) Wenn P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann hat P einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. Das Problem dieser Formulierung des Arguments besteht darin, dass Prämisse 2 unklar bleibt. Der Internalismus behauptet, dass eine Person nur dann einen Grund haben kann, wenn sie einen Wunsch hat. Nehmen wir Klara zum Beispiel: Damit wir Klara jetzt einen Grund zuschreiben können, um 7.50 Uhr in den Bus zu steigen, muss sie – so verlangt es der Internalismus – jetzt schon einen Wunsch haben. Es reicht nicht, dass sie erst später – irgendwann zwischen der Zuschreibung des Grundes und der Abfahrt des Busses – einen Wunsch ausbildet. Denn dann würde – dem Internalismus zufolge – der Grund nicht jetzt schon bestehen, sondern erst später. Wenn sie erst später einen Wunsch ausbildet, dann hat sie eben erst dann einen Grund – jetzt noch nicht. Prämisse 2 (bzw. die HTM) lässt nun aber zwei Lesarten zu und eine der beiden schließt (zusammen mit Prämisse 1) den Internalismus nicht aus: Ist es nur möglich, dass P zu t1 motiviert ist, wenn der Wunsch bereits vor dem Zeitpunkt des Motiviertseins – also vor t1 – vorhanden ist? Oder reicht für die Möglichkeit der Motivation aus, dass P erst zu t1 einen Wunsch hat? Muss Klara also, damit es möglich ist, dass sie um 7.50 Uhr motiviert ist, in den Bus zu steigen, schon vor diesem Zeitpunkt einen Wunsch haben oder 13 In der Literatur wird diese Bedingung auch als internalistische Bedingung bezeichnet, vgl. (Halbig2007), S. 19f., (Wallace1990), S. 357. (Dancy2000), S. 16, spricht von einem „motivational constraint on good reasons“. Um auch hier der Verwirrung der unterschiedlichen internalistischen Thesen vorzubeugen, werde ich von motivationaler Bedingung sprechen.
80 | 4 Normativitätstheoretische Argumente I: Internalismus
reicht es aus, wenn sie erst um 7.50 diesen Wunsch hat? Wenn die Bedingung der Möglichkeit zur Motivation dann schon erfüllt ist, wenn Klara um 7.50 Uhr einen Wunsch hat, dann folgt aus dieser Bedingung zusammen mit Prämisse 1 (der motivationalen Bedingung) nicht der Internalismus: Denn dann ist es ja möglich, dass Klara um 7.50 motiviert ist, in den Bus steigen, obwohl sie vor diesem Zeitpunkt noch keinen Wunsch hatte – es reicht, wenn er bis dahin ausgebildet wurde. Klara könnte also in dieser Lesart von Prämisse 2 einen Grund haben, in den Bus zu steigen, obwohl sie noch gar keinen Wunsch hat – denn dieser Grund würde die motivationale Bedingung erfüllen: Es ist möglich, dass sie um 7.50 Uhr motiviert ist, weil sie bis dahin einen Wunsch ausbilden könnte. Wenn man die relevanten Zeitpunkte in der Formulierung der Prämissen berücksichtigt, sieht man unmittelbar den Fehlschluss (ich werde Prämisse 2 dieser ungültigen Version des Arguments als Lesart 1 bezeichnen):
Das Standardargument (nicht-gültige Version) (1) Wenn eine Person P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann ist es möglich, dass P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun. (2) Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun, dann hat P zu t1 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. (Lesart 1) (K) Wenn P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. Prämisse 2 muss also einen Wunsch fokussieren, der bereits zu einem Zeitpunkt vor t1 vorhanden ist: Einen Wunsch, den P zu t0 schon hat. Nur dann ist das Argument gültig (Prämisse 2 wird hier in der benötigten Lesart 2 präsentiert):
Standardargument (gültige Version) (1) Wenn eine Person P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann ist es möglich, dass P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun.
4.4 Das Argument aus der motivationalen Bedingung | 81
(2) Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun,¹⁴ dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. (Lesart 2)¹⁵ (K) Wenn P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. Diese Unterscheidung von zwei Lesarten der HTM ist im Folgenden noch wichtig: Die grundlegende Idee des Standardarguments scheint ja zu sein, dass theoretische Überlegungen darüber, was es heißt, motiviert zu sein oder zu einer Motivation zu gelangen, aufzeigen, dass es eine Bedingung dafür gibt, dass gilt: Wäre jemand rational, wäre er zu einer bestimmten Handlung motiviert. Und diese Bedingung ist – so das Standardargument – derart, dass zusammen mit der ersten Prämisse der Schluss auf den Internalismus folgt. Die Frage ist nun, welche theoretischen Überlegungen die gesuchte Bedingung aufzeigen. Da die wohl elaboriertesten Überlegungen dazu, was es heißt, motiviert zu sein, und was es mit dem Humeschen Diktum „Wünsche sind notwendig für Motivation“ auf sich hat, von Michael Smith stammen, bietet es sich an, zu überprüfen, ob sich der Vertreter des Standardarguments auf diese Überlegungen berufen kann, um sein Argument bzw. die benötigte zweite Prämisse zu begründen. Ich möchte daher im Folgenden Smiths sogenanntes teleologisches Argument für die Humeanische Motivationstheorie darstellen und im Anschluss an Jay Wallace zeigen, dass dieses Argument lediglich die HTM in der eben genannten ersten Lesart begründet: Um zu einem Zeitpunkt t1 motiviert zu sein, muss man zu diesem Zeitpunkt einen Wunsch haben. Der Vertreter des Standardarguments benötigt daher entweder ein anderes Argument oder muss Smiths Argument so wenden, dass es die HTM in der zweiten Lesart stützt. Ich werde zeigen, dass ein Versuch, Smiths Argument so zu wenden, dass die zweite Lesart begründet wird, nicht überzeugend ist. Im Folgenden werde ich als HTM immer die HTM in der zweiten Lesart bezeichnen.
14 Genau genommen müsste hier in Klammern folgend stehen: und P ist durch eigene Tätigkeit bzw. einen Prozess des Überlegens in diesen Zustand der Motivation gelangt. Siehe zu diesem Punkt den folgenden Abschnitt zur Erläuterung der ersten Prämisse. 15 Man könnte meinen, dass diese Prämisse offensichtlich falsch ist: Es ist doch möglich und nicht selten der Fall, dass eine Person zu einer Handlung motiviert ist, die nicht dazu beiträgt, einen Ihrer Wünsche zu erfüllen. Dabei vergisst man aber, dass es in der Prämisse um eine Person in Umständen U geht, um eine Person also, die nicht willensschwach und dazu noch vollständig informiert ist über die relevanten Fakten – und zu diesen Fakten gehören eben auch Tatsachen darüber, welche Handlungen geeignet sind, um die eigenen Wünsche zu erfüllen. Und unter diesen Umständen – so besagt die Prämisse bzw. die HTM – ist jemand nur zu Handlungen motiviert, die tatsächlich dazu beitragen, eigene Wünsche zu erfüllen.
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Erläuterung von Prämisse 1: Normative Gründe sind praktische Gründe, d.h. Gründe für Handlungen. Gründe sagen uns, wie wir handeln müssen oder handeln sollen. Ich möchte hier davon ausgehen, dass das Prinzip „Sollen impliziert Können“ wahr ist. Das heißt, dass wir dazu in der Lage sein müssen, die Handlungen auszuführen, für die normative Gründe sprechen. Wenn es nicht möglich ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, dann kann es auch keinen Grund geben, diese Handlung auszuführen. So kann ich etwa keinen Grund dazu haben, in diesem Moment in Chicago in einen See zu springen, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten: In diesem Moment in Chicago in einen See zu springen, ist für mich – der hier in Frankfurt sitzt und in einer Welt, in der noch keine „Beamer“ entwickelt wurden – physisch unmöglich. Ebenso kann es für mich keinen normativen Grund zu einer Handlung geben, die auszuführen für mich psychologisch unmöglich ist: Ich kann nicht in einer Sekunde 200.000 Rechenoperationen durchführen, das ist (nicht nur) für mein Gehirn unmöglich. Wenn normative Gründe uns also zum Handeln anleiten und uns sagen, welche Handlungen wir ausführen müssen, dann muss es auch möglich sein, dass wir Handlungen ausführen können. Das Vorliegen von normativen Gründen für jemanden setzt also voraus, dass er ein handlungsfähiges Wesen ist, dass er also absichtlich handeln kann. Denn Handlungen unterscheiden sich von bloßem Verhalten dadurch, dass sie absichtlich oder intentional ausgeführt werden. Ein Stolpern ist noch keine Handlung, erst wenn man absichtlich „stolpert“, ist das Stolpern eine Handlung. Vielleicht ist nicht jede absichtliche Handlung eine Handlung, für die der Handelnde einen motivierenden Grund hat – das kann ich hier offen lassen. Aber oft handeln Menschen aus Gründen. Im Folgenden werde ich als Handlungen, also als absichtliches Verhalten, nur jene Handlungen bezeichnen, die aus motivierenden Gründen getan werden. Denn wenn normative Gründe unser Handeln anleiten sollen, dann müssen wir aus Gründen handeln können. Wir müssen also motivierende Gründe haben können. Dann setzt ein absichtliches Stolpern voraus, dass man einen motivierenden Grund zum Stolpern hat. Man muss zum Stolpern motiviert sein, damit ein Stolpern eine Handlung ist und als Handlung verständlich wird. Wer sich nicht in einem Zustand des Zum-StolpernMotiviert-Seins befindet, d.h. wer nicht zum Stolpern motiviert ist, aber dennoch stolpert, der tut hier nichts absichtlich und handelt demnach nicht. Wenn Klaus einen normativen Grund hat, in den See zu springen, dann impliziert das also, dass Klaus überhaupt Handlungen ausführen kann, d.h. – im eben stipulierten Sinne – aus motivierenden Gründen handeln kann. Es impliziert aber auch, dass Klaus aus einem motivierenden Grund in den See springen kann. Wenn Klaus nicht dazu motiviert ist, also keinen motivierenden Grund dazu hat, in den See zu springen, und dann dennoch springt, etwa weil er stolpert, dann tut er nicht das, wozu er normativen Grund hat: Er hat normativen Grund zu
4.4 Das Argument aus der motivationalen Bedingung | 83
handeln, aber er handelt nicht, es passiert ihm einfach. Und wenn es nun Klaus unmöglich ist, zum Springen motiviert zu sein (also einen motivierenden Grund zum Springen zu haben), dann ist es ihm unmöglich, die Handlung des Springens auszuführen und damit ist es für ihn unmöglich, das zu tun, wozu er Grund hat. Und das bedeutet: Klaus kann dann keinen Grund zu dieser Handlung haben. Klaus kann also nur dann einen Grund für eine Handlung h haben, wenn er zu dieser Handlung h motiviert sein kann, denn nur dann kann er sie als Handlung ausführen, also das tun, wozu er Grund hat. Welche Art von Möglichkeit ist hier relevant? Reicht es aus, Klaus durch einen Schlag auf den Kopf dazu zu bringen, motiviert zu sein? Ob das möglich ist oder nicht, kann der Philosoph nicht beantworten. Das ist eine empirische Frage. Aber selbst, wenn es möglich wäre, Klaus so zu motivieren: Das ist sicherlich nicht die Möglichkeit, auf die die motivationale Bedingung Bezug nimmt. Relevant scheint mir hier vielmehr die Möglichkeit zu sein, dass Klaus in einem deskriptive Sinne rational zu einer Motivation gelangt. Dass die Möglichkeit, Klaus durch einen Schlag auf den Kopf zu motivieren, im Zusammenhang mit normativen Gründen irrelevant ist, liegt daran, dass normative Gründe Gründe für freiwillige Handlungen sind. Ich denke, die motivationale Bedingung sagt aus, dass Personen nur dann einen Grund für eine Handlung haben können, wenn sie fähig sind, mittels eines durch sie selbst gesteuerten rationalen Prozesses zu dieser Handlung zu gelangen. Dass eine Person durch einen solchen Prozess zu einer Handlung gelangt ist, bedeutet, dass diese Handlung einer rationalisierenden Erklärung zugänglich ist. Wenn Klaus nur durch einen Schlag auf den Kopf zu einer Motivation und damit zu einer Handlung gebracht werden kann, dann kann er sich nicht selbst zu dieser Motivation bringen. Dann liegt es nicht in seiner Macht, die entsprechende Handlung auszuführen, denn er ist dazu auf den (von ihm unabhängigen) Einfluss von außen angewiesen. Das Vorliegen eines normativen Grundes für eine Person impliziert aber, dass diese Person sich selbst, durch ihre eigene Tätigkeit, zu der entsprechenden Handlung motivieren kann.¹⁶ Das bedeutet, dass in der Formulierung des Standardarguments bzw. der motivationalen Bedingung berücksichtigt werden müsste, dass es um ein Motiviertsein geht, das durch eigene Tätigkeit (und nicht etwa durch einen Kopfschlag) hervorgebracht wird. Damit jemand einen Grund hat, muss es also möglich sein, dass er durch die eigene Tätigkeit
16 Klaus könnte sich natürlich dadurch selbst motivieren, indem er Klara bittet, ihm einen Schlag auf den Kopf zu versetzen. Dann ist letztlich Klaus der Urheber seiner Motivation und damit seiner Handlung, denn sie wird im relevanten Sinne durch seine eigene Tätigkeit hervorgebracht – auch wenn er nicht auf „natürlichem“ Wege zur Motivation und zur Handlung gelangt. Und damit kann er im hier relevanten Sinne zu der Handlung motiviert werden und kann demnach auch einen Grund zu der Handlung haben.
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dazu kommt, zum Handeln motiviert zu sein. Das sollte im Hinterkopf behalten werden. So wie ich die motivationale Bedingung bisher erläutert habe, deckt sie sich nicht ganz mit der Bedingung, die verschiedene Autoren als motivationale (oder internalistische) Bedingung bezeichnen. Bernard Williams formuliert z.B. die Bedingung, dass es möglich sein muss, aus einem normativen Grund zu handeln: If there are reasons for action, it must be that people sometimes act for these reasons, and if they do, their reasons must figure in some correct explanation of their action.¹⁷
Meine Bedingung ist schwächer, denn sie impliziert nicht, dass eine Person aus dem für sie bestehenden normativen Grund handeln können muss, sondern lediglich, dass sie dem Grund entsprechend handeln können muss. Einem Grund entsprechend zu handeln kann man auch, wenn man den Grund gar nicht kennt. In Anlehnung an Kants Unterscheidung von pflichtgemäßem Handeln und Handeln aus Pflicht könnte man sagen: Man kann grund-gemäß handeln, ohne aus diesem Grund zu handeln. Die Bedingung, dass man nur dann einen normativen Grund hat, wenn man auch aus diesem Grund handeln kann, impliziert jedoch meine schwächere Bedingung: Aus einem normativen Grund handeln kann man sicherlich nur, wenn man überhaupt aus einem Grund die Handlung ausführen kann, für die der normative Grund spricht. Nun stellt sich die Frage: Warum sollten manche Menschen nicht dazu in der Lage sein, bestimmte Handlungen auszuführen? Warum sollte es z.B. für Klaus nicht möglich sein, rational dazu motiviert zu sein, in den See zu springen, um ein Kind zu retten? Die motivationale Bedingung wäre witzlos, wenn sich mit ihr keine Grenzen für das Vorliegen von Gründen für Personen ergeben, die enger gezogen sind, als jene Grenzen, die sich aus der Bedingung ergeben, dass es Personen physisch und psychologisch möglich sein muss, entsprechend ihrer Gründe zu handeln. In Verbindung mit der HTM erhält die motivationale Bedingung nun eine für das Argument zentrale Pointe: Wenn rationale Motivation ihre Quelle in gegebenen Wünschen von Personen hat, dann kann es sein, dass manche Personen keine Gründe für bestimmte Handlungen haben, selbst wenn sie physisch dazu in der Lage sind, diese Handlungen auszuführen. Im Folgenden werde ich Argumente zur Begründung der zweiten Prämisse des Standardarguments (also der HTM) kritisch unter die Lupe nehmen. Dazu werde ich zunächst Michael Smiths sogenanntes teleologisches Argument darstellen, das dieser zur Begründung des Humeanischen Diktums „Keine Motivation ohne
17 (Williams1981), S. 102, Meine Herv.
4.5 Ein Versuch zur Begründung der HTM |
85
Wünsche“ formuliert hat (Abschnitt 4.5).¹⁸ Ich werde einige Probleme des Arguments ansprechen und dann einen Einwand darstellen, demzufolge Smiths Argument eine Lücke hat. Ich möchte dann zwei zusätzliche Argumente von Smith, die diese Lücke schließen sollen, untersuchen und zeigen, dass das erste Argument nicht überzeugend ist. Das zweite Argument ist jedoch, so weit ich sehe, dazu geeignet, den genannten Einwand abzuwehren (Abschnitt 4.5.3). Im Anschluss werde ich dann den Versuch von James Lenman untersuchen, Smiths Argument für eine Begründung der starken Lesart der HTM, also der Prämisse 2 des Standardarguments, fruchtbar zu machen (Abschnitt 4.6).¹⁹ Hier werde ich aufzeigen, dass Lenmans Argument zirkulär ist. Abschließend werde ich die Ergebnisse der vorhergehenden Diskussion zusammenfassen (Abschnitt 4.7).
4.5 Ein Versuch zur Begründung der HTM Richard Joyce ist ein prominenter Vertreter des Standardarguments, dessen Konklusion – der Internalismus – er dazu nutzt, um – analog zu den Überlegungen, die ich unter 3.3 angestellt habe – gegen den Objektivismus zu argumentieren. Joyce bezieht sich unter Rekurs auf Williams auf die motivationale Bedingung²⁰ und behauptet, dass diese Bedingung zusammen mit einer humeanischen
18 Dabei ist anzumerken, dass Smith selbst kein Vertreter des Standardarguments ist. S. auch nächste Fußnote. 19 Auch hier ist anzumerken, dass Lenman sein Argument nicht zur Begründung des Standardarguments formuliert, sondern zum Zwecke der Begründung einer expressivistischen Position, derzufolge normative Urteile, weil sie motivierend sind, konative (wunschartige) Zustände sind. Ich habe Smiths und Lenmans Argumente ausgewählt, da sie mir die bisher elaboriertesten Versuche zu sein scheinen, eine explizite Begründung einer humeanischen Motivationstheorie zu liefern. Autoren, die das Standardargument vertreten, geben sich meist nicht lange damit ab, überhaupt eine Begründung für die zweite Prämisse zu geben. So begnügt sich z.B. (Joyce2001), S. 110, (der ein prominenter Vertreter des Standardarguments ist) mit der Bemerkung: „[...] in the present study I am content to accept it as a reasonably stable premise.“ Auch im StanfordEncyclopedia-Artikel von (Finlay2012) findet sich kein Hinweis auf eine Begründung, sondern nur kritische Anmerkungen zu dieser Prämisse. Üblicherweise wird das Standardargument Bernard Williams zugeschrieben, vgl. z.B. (Heuer2004), S. 46, (Parfit1997), S.112, (Setiya2007), S.102. Es ist aber fraglich, ob (Williams1981) seine Argumentation tatsächlich auf eine humeanische Motivationstheorie stützt. Ich persönlich finde Williams Aufsatz „Internal and External Reasons“ schwer zugänglich und sehe diesen Eindruck durch die Tatsache gestützt, dass z.B. (Finlay2009) vier verschiedene Standard-Interpretationen sowie eine eigene Interpretation von Williams Argument vorstellt, die sich alle auf eine Textstelle bei Williams berufen können. 20 Vgl. (Joyce2001), S. 108.
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Konzeption der Motivation den Internalismus begründet²¹. Seine Formulierung dieser Konzeption der Motivation lautet: In short, if Hume is correct that an action requires belief and desire operating together, [then a consideration of an external reason could never motivate an action], for even if the subject believes the reason claim, action will ensue only if certain desires are present.²²
Nun lässt diese Formulierung die oben genannten zwei Lesarten zu. Einerseits kann damit gemeint sein: Eine Person ist zu t1 nur dann motiviert, wenn zu t1 ein Wunsch in der Person präsent ist. Andererseits kann damit aber auch gemeint sein: Eine Person ist zu t1 nur dann motiviert, wenn sie zu t0 einen Wunsch hat. Wie gesagt, wird die zweite Lesart benötigt, um eine Prämisse zu begründen, mit der das Standardargument gültig ist. Joyce gibt keine näheren Erläuterungen, wie er die humeanische Konzeption genau versteht. Er sagt nur, dass er sie als „reasonably stable premise“ akzeptiert. Seine folgenden Bemerkungen darüber, dass der Anti-Humeaner auf die Annahme von sogenannten „besires“ angewiesen sei²³, und sein affirmativer Bezug auf Michael Smiths kritische Auseinandersetzung mit dieser Annahme und dessen Verwendung der direction-of-fit-Metapher lässt vermuten, dass er Smiths Versuch im Hinterkopf hat, die humeanische Konzeption der Motivation mit einem Argument zu begründen. Ich möchte daher im Folgenden Smiths Argument vorstellen und zeigen, dass erstens seine Konklusion nur folgt, wenn weitere substantielle Annahmen getroffen werden, und dass zweitens mit diesem Argument – wenn überhaupt – nur die erste, schwache Lesart einer Motivationstheorie etabliert werden kann. Das Argument ist also entweder nutzlos für eine Begründung der zweiten Prämisse des Standardarguments oder es muss anders gewendet werden. Auf einen Versuch, Smiths Argument so zu wenden, dass die starke Lesart der HTM begründet wird, und auf den sich Joyce (bzw. der Vertreter des Standardarguments) berufen könnte, werde ich dann im Anschluss kritisch eingehen.
21 Vgl. (Joyce2001), S. 109f. 22 (Joyce2001), S.110. Ich habe Joyces Satz „then an external reason could never explain an action“ durch meine Formulierung ersetzt. Das ist gerechtfertigt, da Joyce auf S. 108 explizit sagt, dass er Williams These, wonach normative Gründe Handlungen erklären können müssen, wie folgt versteht: „In other words, something is a reason only if its consideration could potentially motivate the agent.“ 23 Ich werde im Folgenden noch näher auf das Konzept der „besires“ eingehen.
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4.5.1 Smiths teleologisches Argument Michael Smith hat sich explizit zum Ziel gesetzt, die humeanische Theorie der Motivation mit einem Argument zu begründen.²⁴ Diesem Argument zufolge ergibt sich bereits aus dem Begriff des Handelns, also des intentionalen Verhaltens, dass rationale Motivation auf die Wünsche des Handelnden angewiesen ist. Smith behauptet, dass Handlungen einen teleologischen Charakter haben und mit Bezug auf das Ziel, um dessen Verwirklichung es dem Handelnden geht oder ging, verständlich gemacht werden können. Handlungen sind für Smith motivierte Handlungen, d.h. Handlungen aus motivierenden Gründen. Handlungen können demnach durch die Motivationen des Handlenden bzw. seine motivierenden Gründe erklärt werden. Handlungen durch die Motivationen oder Gründe des Handelnden zu erklären, bedeutet nach Smith, sie mit Hilfe des Gedankens zu erklären, dass der Handelnde ein Ziel mit seiner Handlung verfolgt. Von der begrifflichen These ausgehend, dass aus Gründen handeln bedeutet, ein Ziel zu verfolgen, und dass Handlungserklärungen damit teleologisch sein müssen, entwickelt Smith folgendes Argument:
Das teleologische Argument (1) Having a motivating reason is, inter alia, having a goal. (2) Having a goal is being in a state with which the world must fit. (3) Being in a state with which the world must fit is desiring. Nun folgt aus diesen Prämissen entgegen Smiths Behauptung nicht, dass ein motivierender Grund unter anderem ein Wunsch ist. Es folgt lediglich: Einen motivierenden Grund zu haben, ist unter anderem, etwas zu wünschen (Having a motivating reason is, inter alia, desiring). Was ein motivierender Grund ist, bleibt damit offen. Bewiesen wäre jedenfalls, dass motiviert sein darin besteht, etwas zu wünschen. Denn einen motivierenden Grund zu haben, bedeutet, zu einer Handlung motiviert zu sein.
(K) Having a motivating reason is, inter alia, desiring (Being motivated is, inter alia, desiring). Zur ersten Prämisse: Wie gesagt geht Smith davon aus, dass intentionales Handeln bzw. Handeln aus motivierenden Gründen nur teleologisch erklärt werden 24 (Smith1987), (Smith1994).
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kann. Das bedeutet, dass eine intentionale Handlung nur als zielgerichtete Handlung verständlich wird. Nun gibt es für die These, dass eine Handlung zielgerichtet ist, zwei Lesarten. In der ersten Lesart ist die These gehaltvoll, in der zweiten ist sie trivial. 1. Lesart: Mit Rüdiger Bittner lässt sich sagen, dass im normalen Sprachgebrauch mit „Ziel“ nicht das bezeichnet wird, „was man tut, sondern das Resultat dessen, was man tut – wenn alles gut geht.“²⁵ Um Klaus’ Handlung, in den See zu springen, in dieser Lesart als zielgerichtete Handlung zu verstehen, muss es etwas geben, was Klaus mit dieser Handlung angezielt hat, also z.B. einen Fisch fangen. Klaus ist in den See gesprungen, weil er das Ziel hatte, einen Fisch zu fangen. Smith scheint diese Lesart intendiert zu haben, denn ihm zufolge besteht ein motivierender Grund R für eine Handlung h aus einem Wunsch, dass q, und einer Zweck-Mittel-Überzeugung, dass man durch h-en q erreicht. Bittner macht nun auf eine Reihe von Handlungen aufmerksam, die nur angestrengt als zielgerichtet in diesem Sinne gedeutet werden können. Da ist z.B. die Handlung, zu Michael zurückzukehren, weil man jemanden in einer solchen Lage nicht im Stich lassen kann. Eine solche Handlung muss nicht mit Bezug auf ein Ziel des Handelnden (etwa: damit es Michael besser geht) erklärt werden. „Es liegt näher zu sagen: dieser Mensch tat, was er tat, einfach aus dem Grund, dass es das Rechte war, das zu tun, und es gibt keinen Zustand, den er damit herbeizuführen suchte“.²⁶ Angesichts dieses und ähnlicher Beispiele müsste Smith seine erste Prämisse, wenn sie denn im Sinne dieser Lesart von „Ziel“ gemeint ist und da er sie als „conceptual truth“ bezeichnet²⁷, ausdrücklich verteidigen – was er aber nicht tut. In der zweiten Lesart von „zielgerichtet handeln“ ist Smiths Prämisse trivial: In dieser Lesart ist das Ziel des Handelnden die betreffende Handlung selbst. Klaus springt in den See, weil er das Ziel hat, in den See zu springen. Allerdings klingt es seltsam, zu sagen, jemand, der zu Michael zurückkehrt, weil man jemandem in einer solchen Lage nicht im Stich lassen kann, tut dies, mit dem Ziel, zurückzukehren. Jedenfalls wird mit diesem Begriff von zielgerichtetem Handeln unserem Begriff von intentionalem Handeln nichts Gehaltvolles hinzugefügt und keine substantielle Erklärung von intentionalen bzw. motivierten Handlungen geliefert. Dass jemand, der eine intentionale Handlung h ausführt, damit diese Handlung anzielt (und nicht eine andere), sagt nichts anderes aus, als dass er diese Handlung intendiert. Gewonnen ist für Smith damit jedenfalls eine etwas präzisere Fassung davon, was es heißt, einen motivierenden Grund zu haben bzw. zu einer Handlung motiviert zu sein. 25 (Bittner2001), S. 15. 26 (Bittner2001), S. 14. In diesem Sinne argumentiert auch (Shafer-Landau2003), S.136, gegen Smiths Gleichsetzung von intentionalem mit zielgerichtetem Handeln. 27 (Smith1987), S. 55, (Smith1994), S. 116.
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Im nächsten Abschnitt werde ich die beiden übrigen Prämissen von Smith näher vorstellen, um dann zu zeigen, dass dieses Argument nur funktioniert, wenn mit einem gesonderten Argument ausgeschlossen wird, dass andere mentale Zustände als Wünsche jene Rolle spielen können, die im telelogischen Argument Wünschen zugeschrieben wird.
4.5.2 Das teleologische Argument und „besires“ Wir können also akzeptieren, dass aus einem motivierenden Grund handeln oder zu einer Handlung motiviert sein, bedeutet, etwas anzuzielen (sei es die Handlung selbst oder etwas, das mit der Handlung erreicht wird). Smith behauptet nun mit seiner zweiten Prämisse: Etwas anzielen, oder ein Ziel haben, ist nichts anderes als in einem mentalen Zustand zu sein, dem die Welt angepasst werden soll. Oder genauer, denn Smiths Formulierung ist hier elliptisch: Ein Ziel haben heißt, in einem mentalen Zustand zu sein, mit dessen propositionalem Gehalt die Welt übereinstimmen soll. Smith nutzt hier die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen „Passensrichtungen“ (directions of fit), die auf Elizabeth Anscombe²⁸ zurückgeht und die sie anhand eines Beispiels erläutert. In diesem Beispiel stellt sie die Einkaufsliste eines Mannes der Auflistung, dessen was er einkauft, durch einen Detektiv gegenüber. Wenn das, was der Mann einkauft, nicht mit seiner Einkaufsliste übereinstimmt, dann liegt der Fehler nicht in der Liste, sondern im Verhalten des Mannes. Wenn dagegen die Auflistung des Detektives nicht mit dem, was im Einkaufswagen des Mannes liegt, übereinstimmt, dann liegt der Fehler in der Auflistung. Dieser Unterschied zwischen beiden Listen hat nun die Bezeichnung direction of fit erhalten: Der Unterschied zwischen der Einkaufsliste und der Auflistung durch den Detektiv besteht darin, dass erstere Liste angibt, was im Einkaufswagen liegen soll – und der Einkaufswagen in diesem Sinne der Liste angepasst werden soll –, und die zweite Liste angeben soll, was der Mann tatsächlich in den Einkaufswagen legt – und die Auflistung in diesem Sinne dem Einkaufswagen angepasst werden soll. Die Richtung des Passens verläuft demnach im Falle des Einkaufszettels von diesem zur Wirklichkeit, die ihm entsprechend umgestaltet werden soll, im Falle der Auflistung durch den Detektiv von der Wirklichkeit zur Auflistung, die der Wirklichkeit angepasst werden soll. Smith überträgt nun die Metapher zweier unterschiedlicher Passensrichtungen auf mentale Zustände, um zwei Arten solcher Zustände zu charakterisieren: Demnach haben Wünsche, gleich dem Einkaufszettel, die Passensrichtung vom mentalen Zustand zur Wirk-
28 Vgl. (Anscombe1972), S. 32.
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lichkeit – mind-to-world-direction of fit. Überzeugungen haben, gleich der Auflistung des Detektivs und im Gegensatz zu Wünschen, die Passensrichtung von der Wirklichkeit zum mentalen Zustand – world-to-mind-direction of fit. Das Problem einer solchen Charakterisierung von Überzeugungen und Wünschen mit Hilfe der aus dem Einkaufsbeispiel gewonnenen Metapher der Anpassungsrichtung liegt darin, dass hier normative Begriffe im Spiel sind, die im Kontext von Überzeugungen und Wünschen problematisch sind. Bei Überzeugungen mag es noch einleuchtend sein, davon zu sprechen, dass bei nicht Übereinstimmung mit der Welt ein Fehler vorliegt. Bei Wünschen ist aber gerade fraglich, ob mit der Nicht-Übereinstimmung zwischen dem Gehalt eines Wunsches und der Welt immer ein Fehler – sei es der Welt oder des Handelnden – korrespondiert. Und es ist auch nicht klar, ob ein Wunsch tatsächlich angibt, wie die Welt sein soll: Es gibt schließlich Wünsche, von denen wir sagen würden, dass die Welt gerade nicht an sie angepasst werden soll und dass die Welt oder der Handelnde hier keinen Fehler „macht“, wenn die Welt dem Wunsch nicht angepasst ist oder wird. Um einerseits der Charakterisierung mentaler Zustände durch normativ aufgeladene Begriffe wie „sollen“ und „Fehler“ zu entgehen und andererseits die metaphorischen Redeweise von Passensrichtungen näher zu erläutern, versucht Smith die Differenz über die unterschiedlichen funktionalen Rollen von Wünschen und Überzeugungen zu charakterisieren. Er behauptet, dass Wünsche und Überzeugungen in unterschiedlicher kontrafaktischer Abhängigkeit zu bestimmten „Wahrnehmungen“ stehen: [...] a belief that p tends to go out of existence in the presence of a perception with the content that not p, whereas a desire that p tends to endure, disposing the subject in that state to bring about that p. Thus, we might say, attributions of beliefs and desires require that different kinds of counterfactuals are true of the subject to whom they are attributed. We might say that this is what a difference in their direction of fit is.²⁹
Zustände mit der Geist-Welt-Anpassungsrichtung tendieren demnach dazu, sich bei Wahrnehmungen mit gegenteiligem Gehalt aufzulösen, während Zustände mit der Welt-Geist-Anpassungsrichtung die Tendenz haben, bestehen zu bleiben und das Subjekt zur Veränderung der Wirklichkeit zu bewegen. Das Problem dieser Charakterisierung des Unterschiedes zwischen Überzeugungen und Wünschen ist, dass es offensichtlich Überzeugungen gibt, für die es gar keine „perceptions with the content that not p“ geben kann: So etwa Überzeugungen über unbeobachtbare Dinge oder über die Vergangenheit. Und auch
29 (Smith1994), S. 115.
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Wünsche haben nicht immer Sachverhalte zum Gegenstand, die sich wahrnehmen lassen. Bittner gibt in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Wunsches, das beste Buch der letzten hundert Jahre in Philosophie zu schreiben.³⁰ Ein weiteres Problem stellen einfache Beobachtungsmeinungen von Fanatikern dar: Ihre Überzeugungen lassen sich nicht durch Wahrnehmungen oder empirische Evidenzen erschüttern.³¹ Ich möchte diese Probleme nicht weiter verfolgen und mich im Folgenden mit einem ungefähren Verständnis der Rede von unterschiedlichen Anpassungsrichtungen und ihrer jeweiligen Zuordnung zu Überzeugungen und Wünschen begnügen. Smith zufolge kann man also verschiedene Arten von mentalen Zuständen über ihre Anpassungsrichtung differenzieren: Wenn eine propositionale Einstellung, dass p, angesichts der Wahrnehmung, dass nicht-p, dazu tendiert, zu verschwinden, dann hat diese Einstellung die Geist-Welt-Ausrichtung. Und eine Einstellung mit der Geist-Welt-Ausrichtung ist eine Überzeugung. Wenn dagegen eine propositionale Einstellung, dass p, angesichts der Wahrnehmung, dass nicht-p, dazu tendiert, bestehen zu bleiben und das Subjekt zur Verwirklichung von p anzutreiben, dann hat diese Einstellung die Welt-Geist-Ausrichtung. Und eine Einstellung mit einer solchen Ausrichtung ist ein Wunsch. Damit scheint Smith die Bausteine in der Hand zu haben, um die beiden letzten Prämissen seines teleologischen Arguments zu begründen. Zur Begründung der zweiten Prämisse „Having a goal is being in a state whith which the world must fit“ schreibt Smith, sie sei unangreifbar, denn: For becoming apprised of the fact that the world is not as the content of your goal specifies suffices not for giving up that goal, it suffices rather for changing the world.³²
Ein Ziel haben heißt eben, so Smith, dieses Ziel nicht aufzugeben, wenn man bemerkt, dass es nicht verwirklicht ist, und es heißt zudem, darauf aus zu sein, dieses Ziel zu verwirklichen, die Welt also so umzugestalten, dass sie mit dem Ziel übereinstimmt. Und genau dies ist nach Smith nur bei jemandem der Fall, der sich in einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung befindet: Nur dann können wir ihm ein Ziel zuschreiben, denn nur dann trifft auf ihn zu, dass er darauf aus ist, ein Ziel zu verwirklichen. Nur eine Person, die sich in einem mentalen Zustand befindet, der sie dazu disponiert, den durch den propositionalen Gehalt dieses Zustandes spezifizierten Sachverhalt herbeizuführen, ist eine Person, die ein Ziel verfolgt.
30 (Bittner2001), S. 17. 31 Vgl. (Schulte2010), S. 161. 32 (Smith1994), S. 117.
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In einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung zu sein ist Smith zufolge aber nichts anderes, als: wünschen. Und damit wäre die dritte Prämisse etabliert: „Being in a state with which the world must fit is desiring“. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass das teleologische Argument von Smith eine Lücke enthält, die der Anti-Humeaner für sich nutzen kann. Denn es scheint so, als stünde Smith vor einem Dilemma: (1) Entweder hat nur eine propositionale Einstellung, dass p, die dazu tendiert, das Subjekt zur Verwirklichung ihres propositionalen Gehalts anzutreiben, die Welt-Geist-Ausrichtung. Dann ist aber eine solche Einstellung zu haben nicht die einzige Möglichkeit, ein Ziel zu haben. (2) Oder auch Einstellungen, die dazu tendieren, das von ihrem propositionalen Gehalt spezifizierte Ziel zu verwirklichen, haben die Welt-Geist-Ausrichtung. Dann mag Prämisse 2 die einzige Möglichkeit beschreiben, ein Ziel zu haben, aber dann beschreibt Prämisse 3 nicht die einzige Möglichkeit, sich in einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung zu befinden. Je nachdem in welcher Lesart der Begriff „Welt-Geist-Ausrichtung“ in die Prämissen eingesetzt wird: Entweder kann Prämisse 2 oder Prämisse 3 nicht ausschließen, dass es Überzeugungen gibt, die von sich aus motivieren. 1. Horn: Smith scheint anzunehmen, dass ein mentaler Zustand nur dann die WeltGeist-Ausrichtung hat, wenn für diesen Zustand gilt: Er disponiert das Subjekt dazu, die Welt mit seinem propositionalen Gehalt in Übereinstimmung zu bringen, wenn das Subjekt bemerkt, dass die Welt nicht mit diesem Gehalt übereinstimmt. Oder anders: Ein mentaler Zustand hat nur dann die Welt-Geist-Ausrichtung in Bezug auf p, wenn dieser mentale Zustand die Proposition dass p zum Gehalt hat. „[...] a desire that p tends to endure, disposing the subject in that state to bring about that p“. Ich möchte diese Lesart des Begriffes der Welt-Geist-Ausrichtung eines mentalen Zustandes als die starke Lesart bezeichnen. Wenn man nun plausiblerweise annimmt, dass propositionale Einstellungen nicht zwei verschiedene propositionale Gehalte haben können, ist damit ausgeschlossen, dass Überzeugungen, also mentale Zustände mit der Geist-Welt-Ausrichtung, gleichzeitig auch eine Welt-Geist-Ausrichtung haben. Das heißt, in dieser starken Lesart ist Prämisse 3 plausibel: Nur Wünsche haben die Welt-Geist-Ausrichtung. Aber warum sollte ein Ziel haben, nichts anderes sein, als sich in einem Zustand mit der Welt-GeistAusrichtung in diesem Sinne zu befinden? Warum sollte jemand also nur dann
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ein Ziel verfolgen (können), wenn er eine propositionale Einstellung hat, die ihn dazu disponiert, den Gehalt dieser Einstellung zu verwirklichen? Wie wäre es hiermit: Ein Ziel haben bedeutet, sich in einem mentalen Zustand zu befinden, der einen dazu disponiert, das vom Gehalt des Zustandes spezifizierte Ziel zu verwirklichen. Betrachten wir dazu eine normative Überzeugung: „Ich soll kein Fleisch essen“. Wenn Klaus diese Überzeugung hat, befindet er sich in einem Zustand des Glaubens mit dem propositionalen Gehalt „dass ich kein Fleisch essen soll“. Nun scheint es mir nicht abwegig zu sein, dass dieser propositionale Gehalt ein Ziel angibt und zwar das Ziel, kein Fleisch zu essen. Der Anti-Humeaner könnte behaupten, die Überzeugung von Klaus rationalisiert die Handlung von Klaus, wenn er kein Fleisch mehr isst, und zwar genau auf die Weise, die Smith fordert: Indem sie verständlich macht, dass Klaus ein Ziel verfolgt und welches Ziel er verfolgt. Und diese Beschreibung ist auch mit einer funktionalen oder dispositionalen Analyse der Überzeugung vereinbar: Die Überzeugung von Klaus ist ein mentaler Zustand mit der Geist-Welt-Ausrichtung, die ihn dazu disponiert, den Zustand aufzugeben, wenn er bemerkt, dass er Fleisch essen darf, und die ihn dazu disponiert, den Zustand beizubehalten, wenn er bemerkt, dass er Fleisch isst, und die ihn dazu disponiert, kein Fleisch zu essen. Smith muss hier ein Argument geben, warum eine Überzeugung wie jene von Klaus nicht sinnvoll als Zustand verstanden werden kann, der begreiflich macht, dass die entsprechende Person ein Ziel (und vor allem welches) verfolgt. Es ist voreilig von Smith, zu behaupten, dass man sich, um ein Ziel zu haben, in einem Zustand befinden muss, der dazu tendiert, die Welt mit dessen propositionalen Gehalt in Übereinstimmung zu bringen. Ein Ziel haben könnte man auch (und das Beispiel macht das zumindest plausibel), wenn man in einem Zustand ist, der dazu tendiert, die Welt mit dem von seinem propositionalen Gehalt spezifizierten oder angegebenen Ziel in Übereinstimmung zu bringen.³³ Unter Voraussetzung dieser starken Lesart von Geist-Welt-Ausrichtung ist man (jedenfalls ohne weitere Argumente) nicht gezwungen, Prämisse 2 zu akzeptieren. Stattdessen könnte man folgende These anbieten: (2*) Das Ziel p haben ist entweder, (i) in einem Zustand mit der Welt-GeistAusrichtung und Gehalt p zu sein, oder, (ii) in einem Zustand mit der Geist-
33 Smith schreibt übrigens zur Begründung seiner zweiten Prämisse: „For becoming apprised of the fact that the world is not as the content of your goal specifies suffices not for giving up that goal, it suffices rather for changing the world.“, (Smith1994), S. 116f. Damit bleibt aber gerade offen, wie der Gehalt meines Ziels selbst spezifiziert wird: Muss der Gehalt meines Ziels identisch mit dem Gehalt meiner propositionalen Einstellung sein? Und wenn ja, warum?
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Welt-Ausrichtung mit Gehalt q zu sein, wenn q das Ziel p spezifiziert und der Zustand dazu tendiert, p wahr zu machen. Die weitere Argumentation müsste dann entsprechend lauten: (3) In einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung und dem Gehalt p zu sein, ist wünschen (wünschen, dass p). (4) In einem Zustand mit der Geist-Welt-Ausrichtung und dem Gehalt q zu sein, wenn q das Ziel p spezifiziert und der Zustand dazu tendiert, p wahr zu machen, ist eine normative Überzeugung zu haben (glauben, dass man p tun soll). (K*) Einen motivierenden Grund zu haben, ist entweder (i) wünschen oder (ii) eine normative Überzeugung zu haben. 2. Horn: Nun könnte man den Begriff der Welt-Geist-Ausrichtung schwächer fassen und damit eben auch mentale Zustände bezeichnen, die nicht dazu tendieren, die Welt ihrem Gehalt anzupassen, die aber dazu tendieren, die Welt dem von ihrem Gehalt spezifizierten Ziel anzupassen. Anders: Ein mentaler Zustand hat auch dann die Welt-Geist-Ausrichtung in Bezug auf p, wenn dieser Zustand die Proposition dass p der Fall sein soll zum Gehalt hat und eine Geist-Welt-Ausrichtung auf die Proposition dass p der Fall sein soll hat. Das würde bedeuten, dass man mentalen Zuständen auch beide Anpassungsrichtungen zuschreiben kann. Die oben genannte normative Überzeugung könnte dann beide Richtungen haben. Einerseits die Geist-Welt-Ausrichtung: Die Überzeugung tendiert angesichts von „Wahrnehmungen“ mit gegenteiligem Gehalt dazu, zu verschwinden. Andererseits die Welt-Geist-Ausrichtung: Die Überzeugung tendiert dazu, das Subjekt dazu zu bewegen, das vom Gehalt angegebene Ziel in die Tat umzusetzen. In dieser Lesart würde Prämisse 2 gesichert, aber Prämisse 3 bliebe dann unbegründet: In einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung zu sein, ist dann eben nicht notwendig wünschen. (3*) In einem Zustand mit der Welt-Geist-Ausrichtung zu p zu sein, ist entweder (i) wünschen, dass p, oder (ii) glauben, dass p sein sollte. (K*) Einen motivierenden Grund zu haben, p wahr zu machen, ist entweder (i) wünschen, dass p, oder (ii) glauben, dass p sein sollte. Welche Lesart von Welt-Geist-Ausrichtung auch immer in das teleologische Argument in Prämissen 2 und 3 eingesetzt wird: Das Argument schließt nicht aus,
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dass es Überzeugungen gibt, die motivieren, Überzeugungen also, deren funktionale Rolle neben ihrer Geist-Welt-Ausrichtung auch darin besteht, zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Solche Überzeugungen, die zusätzlich zu ihrer kognitiven Rolle auch eine motivierende Rolle haben, werden in der Debatte um die Humeanische Motivationstheorie im Anschluss an J.E.J. Altham als „besires“ bezeichnet.³⁴ Positionen, die mit dem Konzept des „besires“ arbeiten, werde ich im Folgenden mit dem Begriff Motivations-Kognitivismus benennen.
4.5.3 Smiths Kritik an „besires“ Ich habe mich oben auf normative Überzeugungen als Beispiel für solche „besires“ bezogen. Smith hat allerdings zwei Argumente gegen die Annahme, dass man mit dem Haben einer normativen Überzeugungen alleine schon zum Handeln motiviert ist. Ich möchte beide Argument vorstellen. Das erste Argument kann, wie ich zeigen werde, zurückgewiesen werden. Das zweite Argument ist ein starkes Argument, aber ich möchte zeigen, dass der Motivations-Kognitivist Möglichkeiten hat, auf Smiths Einwand zu reagieren.
Smiths erstes Argument gegen „besires“ Dem ersten Argument zufolge verpflichtet einen die Annahme von „besires“ auf eine unhaltbar starke Form des Motivations-Internalismus³⁵, die sich mit Smith wie folgt auf den Punkt bringen lässt: If an agent judges that it is right for her to ϕ in circumstances C, then she is motivated to ϕ in C.³⁶
Smith zufolge ist diese Form des Motivations-Internalismus jedoch nicht haltbar, da sie nicht mit Phänomenen der praktischen Irrationalität wie Willensschwäche
34 Vgl. (Altham1986). Besires werden zumeist als Zustände bezeichnet, die im Sinne meiner schwachen Lesart von direction-of-fit zwei verschiedene Ausrichtungen haben: Sowohl die WeltGeist-Ausrichtung als auch die Geist-Welt-Ausrichtung. Im Sinne meiner starken Lesart (1. Horn) lassen sie sich aber auch als Zustände mit nur einer Ausrichtung (der Geist-Welt-Ausrichtung) konzipieren, die aber dazu tendieren, die Welt an etwas durch ihren Gehalt Spezifiziertem anzupassen. Welche Lesart des Begriffes der Ausrichtung auch immer man wählt: Wichtig ist jedenfalls, dass besires Überzeugungen sind, die das Subjekt dazu bewegen (bzw. disponieren), das von ihrem Gehalt spezifizierte Ziel zu verwirklichen. 35 Vgl. (Smith1994), S. 120f. 36 (Smith1994), S. 61.
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oder Antriebslosigkeit (z.B. aufgrund von Depressionen) vereinbar ist. Solche Fälle von praktischer Irrationalität sind durch die geminderte oder sogar völlige Abwesenheit eines motivierenden Antriebes in Personen, die aufrichtige evaluative oder moralische Urteile fällen, charakterisiert. Obwohl solche Personen also z.B. aufrichtig und „intact“ urteilen, dass es richtig für sie wäre, h zu tun, fehlt es ihnen an einem entsprechenden Antrieb, auch wirklich h zu tun. Wenn normative Überzeugungen aber „besires“ sind, also Überzeugungen, die von sich aus – intrinsisch – motivieren, dann könnte es solche Fälle gar nicht geben. Dann wäre es unmöglich – so Smiths Einwand –, dass eine Person urteilt, dass sie h tun soll, und dennoch nicht zu h motiviert ist. Unsere Erfahrung mit Depressiven zeigt uns aber, dass dies möglich ist.³⁷ Schließt der Motivations-Kognitivismus tatsächlich Fälle von praktischer Irrationalität aus? Ich denke nicht. Der Motivations-Kognitivist muss nicht behaupten, dass „besires“ notwendig motivieren. Er muss lediglich behaupten, dass sie intrinsisch motivieren. Intrinsisch motivierend sind Zustände, die, um ein Subjekt zum Handeln zu bewegen, keine anderen motivierenden Zustände benötigen. Sie erledigen die Aufgabe alleine und von sich aus. Jemand, der einen „besire“ hat, benötigt zur Motivation keinen separaten Wunschzustand. Das bedeutet aber nicht, dass „besires“ ihre Aufgabe in allen Umständen erledigen können. Es bedeutet also nicht, dass sie in jeder Situation notwendigerweise zum Handeln bewegen. Ihre motivationale Funktion kann unter bestimmten Umständen ausgeschaltet oder blockiert werden. Der Verweis auf die Unterscheidung von notwendig und intrinsisch motivierenden Zuständen nutzt dabei nur eine Unterscheidung, die auch der Humeaner in Bezug auf die motivierende Kraft von Wünschen treffen muss. Denn auch Wünsche sind nicht notwendig, sondern nur intrinsisch motivierend. Das kann man sich an folgendem Beispiel vor Augen führen: Sabine hat schon immer den Wunsch gehabt, von einer Klippe in einen See zu springen. Heute spaziert sie in einem Steinbruch umher und entdeckt die perfekte Klippe. Sabine ist aber leider ein großer Angsthase und der bloße Gedanke daran, von dieser Klippe zu springen, löscht in ihr jede Motivation aus. Nun könnte man denken, dass Sabine, weil sie ja den Wunsch hat, von Klippen zu springen, zumindest dazu motiviert wird, irgendwelche Dinge in die Wege zu leiten, die sie irgendwann mal dazu bringen, von Klippen zu springen: Vielleicht nimmt sie sich vor, eine Therapie gegen ihre Angst zu machen. Und darin manifestiert sich ihre vom Wunsch ausgehende Motivation. Aber was ist, wenn Sabine das nicht tut? Was ist, wenn sie tatsächlich von ihrer Angst so beherrscht ist, dass sie nicht mal ansatzweise irgendwelche Dinge in die Wege leitet, um von Klippen springen zu
37 Vgl. (Smith1994), S. 120.
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können? Müssen wir ihr dann absprechen, diesen Wunsch zu haben? Ich denke nicht. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel und zwar das vom depressiven Hans: Hans wünscht, dass er seinen Kindern bei den Hausaufgaben hilft, dass er sie zum Sporttraining fährt, dass er ihnen Mittagessen kocht. Aber Hans ist depressiv und seine Depression verursacht den Verlust jeglicher Motivation, diese Dinge zu tun. Hans liegt den ganzen Tag im Bett und schafft es nicht, sich um seine Kinder zu kümmern. Seinem Psychologen bestätigt er auf Nachfrage, dass er natürlich wünscht, für seine Kinder zu sorgen. Sollte der Psychologe daraus schließen, dass Hans lügt oder sich irrt, weil Wünsche ja schließlich motivierende Zustände sind? Nein. Der Psychologe kann Hans ruhig Glauben schenken und darauf verweisen, dass die Depression verhindert, dass die den Wunsch konstituierenden Dispositionen effektiv oder manifest werden. Smith selbst geht ja davon aus, dass Wünsche motivierende Zustände sind, d.h. Zustände die das Subjekt zu bestimmten Handlungen disponieren. Wenn diese Dispositionen nun manifest werden, also zu bestimmten Handlungen führen, dann können wir sagen, dass sich das Subjekt dann in einem motivierten Zustand befindet. Wenn diese Dispositionen allerdings aufgrund gewisser psychologischer Umstände, wie einer Depression, nicht manifest oder getriggert werden und damit einen motivierten Zustand verursachen, dann ändert das nichts daran, dass sich das Subjekt immer noch in einem motivierenden Zustand, also einem Wunsch-Zustand, befindet. Um dem Phänomen der praktischen Irrationalität in Bezug auf Wünsche gerecht zu werden, muss Smith und mit ihm der Humeaner also tunlichst vermeiden, Wünsche als motivierte Zustände zu konzipieren, also als Zustände, die z.B. darin bestehen, einen Drang („pull“) zu einer Handlung zu verspüren oder zu einer Handlung bewegt zu sein und sie auszuführen. Er muss sie als motivierende Zustände begreifen, also als Zustände, die das Subjekt dazu disponieren, unter bestimmten Umständen einen Drang zu einer Handlung zu verspüren oder zu einer Handlung bewegt zu sein und sie auszuführen. Das bedeutet aber auch, dass er sie als lediglich intrinsisch motivierend verstehen muss: Als Zustände, deren Funktion darin besteht, unter bestimmten Umständen Motivationen zu erzeugen, und deren Funktion aber auch durch externe Faktoren – wie Depressionen oder Willensschwäche – behindert oder blockiert werden kann.³⁸
38 Im Übrigen muss Smith die Möglichkeit der Funktionsstörung bei mentalen Zuständen zulassen, um auch mit den oben genannten Phänomenen von Fanatikern, die trotz gegenteiliger Evidenzen an ihren Überzeugungen festhalten, zurechtzukommen. Oder um ein anderes Beispiel zu nehmen: Jemanden der nicht glauben kann, dass sein Bruder ums Leben gekommen ist, obwohl alle Beweise dafür offen auf dem Tisch liegen, muss Smith als jemanden beschreiben, dessen Überzeugung, dass sein Bruder lebt, z.B. durch einen psychologischen Schutzmechanismus am
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Letztlich muss der Motivations-Kognitivist keine konkrete Lösung für das Problem formulieren, sondern darauf aufmerksam machen, dass er und der Humeaner in Bezug auf praktische Irrationalität im selben Boot sitzen. Er kann den Humeaner vor folgendes Dilemma stellen: Entweder ist es unmöglich, „besires“ als motivierende Zustände mit dem Phänomen der praktischen Irrationalität zu vereinbaren, dann ist es aber auch unmöglich, Wünsche als motivierende Zustände mit diesem Phänomen zu vereinbaren. Oder es gibt eine Möglichkeit, Wünsche als motivierende Zustände mit praktischer Irrationalität zu vereinbaren, dann gibt es aber keinen Grund, anzunehmen, dass diese Möglichkeit nicht auch für „besires“ als motivierende Zustände besteht.
Smiths zweites Argument gegen „besires“ Doch Smith hat noch ein zweites Argument gegen die Konzeption von normativen Überzeugungen als „besires“. Smith merkt zunächst an: [...] it is always at least possible for agents who are in a belief-like state to the effect that their ϕ -ing is right to none the less lack any desire-like state to the effect that they ϕ ; that the two can always be pulled apart, at least modally. And, correspondingly, anti-Humeans must say precisely the opposite. They must claim that it is impossible for agents who are in a belieflike state to the effect that their ϕ -ing is right not to be in a desire-like state to the effect that they ϕ ; that the two cannot be pulled apart, not even modally.³⁹
Worauf will Smith hier hinaus? Warum muss der Anti-Humeaner, also der Motivations-Kognitivist bestreiten, dass eine Person der Überzeugung sein kann, dass eine Handlung auszuführen für sie richtig ist, ohne damit in einem motivierenden Zustand, also in einem desire-like state, zu sein? Kann der Motivations-Kognitivist nicht einfach zugeben, dass das möglich ist, aber anmerken, dass diese Person dann eben keinen „besire“ hat? Das Problem scheint mir darin zu liegen, dass der Motivations-Kognitivist darauf festgelegt ist, zu sagen, dass jemand, der eine solche Überzeugung hat, aber in keinem motivierendem Zustand ist, keine wirkliche normative (oder moralische) Überzeugung hat. Denn dem MotivationsKognitivismus zufolge gilt: Eine Person, die zu der Erkenntnis oder Überzeugung gelangt, dass sie eine Handlung ausführen soll, gelangt damit auch in einen motivierenden Zustand. Wer erkennt, dass er ϕ -en soll, ist eo ipso auch in einem motivierendem Zustand. Wenn es aber nun möglich ist, zu der Überzeugung oder Erkenntnis zu gelangen, dass man ϕ -en soll, ohne damit in einem motivierenFunktionieren gehindert wird: Die Disposition dieser Überzeugung, bei gegenteiliger Wahrnehmung zu verschwinden, wird hier nicht getriggert oder wird an ihrer Manifestation gehindert. 39 (Smith1994), S. 119f.
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dem Zustand zu sein, kann die Erkenntnis dieser Tatsache nicht darin bestehen, auch in einem motivierendem Zustand zu sein. Und dass es (logisch) möglich ist, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass man ϕ -en soll, ohne in einem motivierendem Zustand zu sein, liegt daran, dass eine „reine“ Überzeugung die Proposition „Ich soll ϕ -en“ zum Gehalt haben kann. Anders gesagt: Der MK muss behaupten, dass es zwischen einem „besire“ mit dem propositionalem Gehalt „Ich soll ϕ -en“ und einem ordinary belief mit demselben propositionalem Gehalt einen kognitiven Unterschied gibt. Wer einen „besire“ mit diesem Gehalt hat, der erkennt wirklich, dass er ϕ -en soll. Wer aber nur einen belief mit diesem Gehalt hat, der erkennt eben nicht wirklich, dass er ϕ -en soll. Das Problem, das Smith hier zu sehen scheint, ist folgendes: Wie kann es einen kognitiven Unterschied zwischen zwei mentalen Zuständen geben, wenn beide denselben propositionalen Gehalt haben? Oder mit Bezug auf die Personen A und B – A mit „besires“, B mit „ordinary belief“ – gefragt: Wie kann es sein, dass der eine die normative Wirklichkeit richtig sieht oder erkennt, während der andere keine vollständige Erkenntnis derselben hat, obwohl beide doch dasselbe propositionale Wissen haben? Margaret Little hat einen interessanten Ansatz formuliert, mit dem der Motivations-Kognitivist auf Smiths Einwand reagieren könnte. Sie argumentiert, dass kognitive Unterschiede nicht auf Unterschiede im propositionalen Gehalt von Überzeugungen reduzierbar sein müssen. Dazu schreibt sie: [...] the difference between the virtuous and non-virtuous person’s appreciation of the situation (also zwischen der Erkenntnis oder dem Wissen, die eine Person mit besire hat und der Erkenntnis, die eine Person mit einem ordinary belief hat, C.W.) is not meant to be a difference in what proposition is believed or known. Indeed, it is not claimed to be a difference that can be captured in propositional terms at all. The point of virtue theorist’ allusion to ‘ways of perceiving’ or ‘ways of conceiving’ moral situations is to make reference to the fact that there are cognitive differences not reducible to differences in propositional content.⁴⁰
Um diesen Punkt zu illustrieren bezieht sich Little auf das bekannte Phänomen der Kippfiguren. So kann es vorkommen, dass man z.B. bei der Betrachtung eines pointilistischen Gemäldes von Marilyn Monroes Gesicht zunächst gar nicht erkennt, dass auf dem Bild Marilyn Monroe oder überhaupt ein Gesicht abgebildet ist. Und plötzlich kommt man dazu, die einzelnen Punkte als Marilyns Gesicht zu sehen und gelangt dadurch zu propositionalem Wissen: Das ist Marilyn Monroe auf dem Bild. Nun kann dieser Prozess auch umgekehrt verlaufen: Man verliert plötzlich den Zugang zum Bild und kann einfach nicht mehr Monroes Gesicht erkennen. Und dennoch hat man immer noch das propositionale Wissen, dass es sich um ein Bild von Monroe handelt, auch wenn man es nicht mehr „sehen“ 40 (Little1997), S. 73.
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kann. Die Erfahrung oder das Sehen des Bildes ist Little zufolge ein Wissen, das über das propositionale Wissen hinausgeht und nicht auf dieses reduziert werden kann. Littles Punkt ist nun, dass sich moralische Erkenntnis ähnlich verstehen lässt: Indem man Situationen auf eine bestimmte Weise sieht, setzen sich die „individual elements of the situation“ zu einem moralischen Ganzen zusammen, so dass das Subjekt z.B. eine Handlung als moralisch gesollt versteht und nicht nur glaubt, dass die Handlung moralisch gesollt ist. Und dieses Wahrnehmen („ways of perceiving“) als moralisch gesollt beinhaltet nach Little eben etwas, das dem bloßen Glauben, dass die Handlung gesollt ist, fehlt: das motivierende Element. What it is to ‘take’ elements as having, separately or together, a kind of moral relevance, is or entails having one’s will or motivation oriented in a certain way.⁴¹
Der Motivations-Kognitivist, der sich auf Littles Argumentation bezieht, um Smiths Einwand zu begegnen, muss sich damit allerdings auf starke substantielle epistemologische (und wahrscheinlich auch metaphysische) Behauptungen stützen, die nicht jeden überzeugen werden. Vor allem scheint es so, als würde er sich damit den Überzeugungs-Begriff so zurecht biegen, wie er ihn für seine Zwecke benötigt. Zudem muss auch Little zwischen einem „ordinary normative belief“ und einer „echten“ normativen Überzeugung unterscheiden. Wenn man nur Zustände, die motivieren, als „echte“ normative Überzeugungen analysiert, dann stellen sich diese Zustände als zusammengesetzt heraus, nämlich aus dem „ordinary normative belief“, dass man h soll, und einem wahrnehmungsähnlichen motivationalem Gefühl oder Erlebnis. Diese zwei Teile können aber wiederum auseinanderfallen, so dass sich die normative Überzeugung, die Little beschreibt, als ein Konglomerat aus einem „ordinary belief“ und einem motivationalem Element entpuppt. So wie ein Wahrnehmungszustand fehlen kann, obwohl man einen propositionalen Zustand hat, kann ein motivierender Zustand fehlen, obwohl man einen „ordinary normative belief“ hat. Ein solches Konglomerat gilt nach Smith aber nicht als „besire“, und stellt auch kein Problem für das teleologische Argument dar. Little kann also nicht zeigen, dass es besires gibt, d.h. überzeugungsartige Zustände, die intrinsisch motivieren.
41 (Little1997), S. 74.
4.6 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments |
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4.5.4 Zusammenfassung Ich habe in diesem Abschnitt untersucht, welche Probleme Smiths teleologisches Argument hat. Zunächst bleibt der Begriff der Anpassungsrichtung und seine Anwendung auf mentale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche bei Smith unklar. Zweitens folgt aus dem teleologischen Argument, wie ich gezeigt habe, nur unter der Annahme, dass es keine „besires“ gibt, die Konklusion, dass Wünsche notwendig für Motivation sind. Daraus folgt drittens, dass sich die Frage, ob Wünsche notwendig für Motivation sind, letztlich an der Frage entscheidet, ob die Annahme von „besires“ verteidigt werden kann. Ich habe zwei Argumente von Smith gegen diese Annahme untersucht und argumentiert, dass das erste Argument zurückgewiesen werden kann. Das zweite Argument stellt dagegen eine starke Herausforderung für Vertreter einer besire-Konzeption dar. Die Überlegungen von Little, wie man dieser Herausforderung begegnen kann, erweist sich als nicht überzeugend. Ich bin daher zu dem Schluss gekommen, dass die Annahme von „besires“ angesichts von Smiths zweiten Arguments nicht verteidigt werden kann. Das teleologische Argument hat demnach keine Lücke – Smith geht mit diesem Argument nicht unbegründet davon aus, dass es keine „besires“ gibt. Damit verbleiben nur die erwähnten Probleme bezüglich des Konzepts der Anpassungsrichtung, die das Argument, wie ich denke, nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern eher auf die Notwendigkeit verweisen, die zentralen Begriffe noch weiter zu klären. Im nächsten Abschnitt werde ich im Anschluss an Jay Wallace zeigen, dass das teleologische Argument, selbst wenn es erfolgreich wäre und die verbleibenden Probleme gelöst wären, nicht ausreicht, um Prämisse 2 des Standardarguments für den Internalismus zu begründen.
4.6 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments Die Konklusion des teleologischen Arguments lautet: (K) Having a motivating reason is, inter alia, desiring (Being motivated is, inter alia, desiring). Ist mit dieser Konklusion schon die für das Standardargument benötigte Prämisse 2, also die Humeanische Motivationstheorie in der starken Lesart, etabliert? Selbst wenn man Smith zugesteht, dass es keine besires gibt, und damit die Konklusion seines teleologischen Arguments akzeptiert – Wünsche sind notwendige
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Bestandteile von Motivationen –, legt man sich noch lange nicht auf eine Ansicht fest, die im Zusammenhang des Standardarguments benötigt wird: Man legt sich damit nicht darauf fest, dass eine Person, die zu t0 keinen Wunsch hat, h zu t1 zu tun, unmöglich dazu motiviert werden kann, h zu t1 zu tun. Man akzeptiert nur, dass diese Person nur dann zu t1 motiviert ist, wenn sie zu t1 einen Wunsch hat. Wie sie zu diesem Wunsch gelangen kann, und vor allem ob sie zu diesem Wunsch gelangen kann, wenn sie zu t0 nicht schon einen einschlägigen Wunsch hat, bleibt mit der Smithschen Konklusion unbeantwortet. Wenn man also, wie Joyce das zu tun scheint, mit der Smithschen Version der HTM an das Standardargument herangeht, erhält man lediglich die oben bereits genannte ungültige Version des Argument:
Das Standardargument (nicht-gültige Version) (1) Wenn eine Person P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann ist es möglich, dass P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun. (2) Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun, dann hat P zu t1 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. (Lesart 1) (K) Wenn P zu t0 einen normativen Grund hat, h zu t1 zu tun, dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. Das Problem des Versuchs, das Standardargument mit Smiths Überlegungen zu stützen, ist also folgendes: Mit dem teleologischen Argument bleibt offen, wie es für eine Person zu t0 rational möglich ist, zu einem für Motivation notwendigen Wunsch zu t1 zu gelangen. Mit der Konklusion des teleologischen Arguments ist es also vereinbar, dass der für motiviertes Handeln notwendige Wunsch zum Beispiel aus einem rein kognitiven Überlegungsprozess, der sich nicht auf gegebene Wünsche bezieht oder von solchen ausgeht, resultiert und durch einen solchen Prozess rationalisiert wird.
4.6.1 Motivierte und unmotivierte Wünsche Im Anschluss an Überlegungen von Thomas Nagel hat Jay Wallace auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht.⁴² Er bezieht sich dabei auf Nagels Unter-
42 Vgl. (Wallace1990).
4.6 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments |
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scheidung zwischen motivierten und nicht-motivierten Wünschen.⁴³ Motivierte Wünsche sind demnach das Ergebnis praktischer Überlegungen, während nicht-motivierte Wünsche vom Subjekt einfach als gegeben vorgefunden werden. Wallace schreibt dazu: The basic idea, I would suggest, is that when a person has a motivated desire, it will always be possible to explain that desire in a way that shows it to be rationalized by other propositional attitudes that the person has.⁴⁴
Nagels Beispiel für einen motivierten Wunsch ist der Wunsch, einkaufen zu gehen, weil man Hunger hat. Dieser Wunsch wird durch eine praktische Überlegung erzeugt, die vom eigenen Hunger, dem Wunsch, den Hunger zu stillen und z.B. der Tatsache, dass der Kühlschrank leer ist, ausgeht. Der Wunsch, meinen Hunger zu stillen, ist dabei ein nicht-motivierter Wunsch, da er zwar einer kausalen Erklärung, aber keiner rationalisierenden Erklärung zugänglich ist: Man hat ihn eben nicht aufgrund von Überlegung gebildet. Der Humeaner muss nun behaupten, dass rationalisierende Erklärungen von motivierten Wünschen letztlich immer auf bereits gegebene, nicht-motivierte, Wünsche Bezug nehmen müssen. Diese Behauptung ist Nagel zufolge aber begründungsbedürftig und nicht offensichtlich wahr: But if the desire is a motivated one, the explanation of it will be the same as the explanation of his pursuit, and it is by no means obvious that a desire must enter into this further explanation.⁴⁵
Warum also sollte ein Wunsch, eine bestimmte Handlung auszuführen, nicht auch durch eine Überzeugung, etwa über die moralische Richtigkeit dieser Handlung, erklärt werden können? Warum sollte man auch im Falle von solchen Überzeugungen wiederum einen bereits gegebenen Wunsch annehmen müssen, um den dann motivational wirksamen Wunsch zu erklären? Wallace überträgt diese Argumentation auf Smiths teleologisches Argument und zeigt, was diesem hinzugefügt werden müsste, um zu begründen, dass normative Gründe „are always fixed or determined by the agent’s intrinsic desires“.⁴⁶ Das teleologische Argument zeigt lediglich, dass Wünsche präsent sein müssen,
43 Vgl. (Nagel1970), S. 29, (Wallace1990), S. 262ff. 44 (Wallace1990), S. 364. 45 (Nagel1970), S. 29. 46 (Wallace1990), S. 370. Wallace spricht im Original nicht von normativen Gründen, sondern von evaluativen oder rationalen Prinzipien und Normen. Ich gehe hier davon aus, dass der Unterschied für meine Zwecke ignoriert werden kann.
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wenn jemand aus einem motivierenden Grund handelt: Having a motivating reason is, inter alia, desiring. Da solche Wünsche aber entweder motiviert oder nichtmotiviert sein können, fragt sich, wodurch Wünsche motiviert werden können. Der Humeaner, den das Standardargument benötigt, muss antworten: Nur Wünsche können Wünsche motivieren. Denn nur dann gilt die zweite Prämisse aus dem Standardargument, also die zweite, starke Lesart der Humeanischen Motivationstheorie (HTM): (2) Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist (und P ist durch eigene rationale Tätigkeit zu dieser Motivation gelangt), h zu tun, dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. (Lesart 2 der HTM) Für die These, dass die für Motivation notwendigen Wünsche entweder bereits gegeben sein müssen oder nur durch bereits gegebene Wünsche (und nicht durch Überzeugungen) des Handelnden rational erzeugt werden können, muss aber ein Argument gegeben werden. Denn angesichts von Menschen, die von sich behaupten, zumindest manchmal aus moralischer Überzeugung sogar gegen ihre eigenen vorgängig gegebenen Wünsche zu handeln, ist diese These nicht offensichtlich wahr.
4.6.2 Kann das teleologische Argument erweitert werden? James Lenman versucht für diese These zu argumentieren, indem er das teleologische Argument von Smith einfach auf motivierte Wünsche anwendet.⁴⁷ Dazu merkt er zunächst an, dass unsere Wünsche nicht in derselben Weise unter unserer Kontrolle sind, wie dies für Handlungen der Fall ist. Daher könne das teleologische Argument nicht ohne Weiteres gegen Nagels Strategie gewendet werden:
47 Smith selbst hat in seinem Aufsatz „The Humean Theory of Motivation“ aus dem Jahre 1987 sein Argument auf motivierte Wünsche angewendet, um auf Nagels Strategie aus der HTM die Luft raus zu lassen (statt sie zu widerlegen), zu reagieren. In dem Kapitel zur HTM (das größenteils aus diesem Artikel besteht) aus seinem 1994 erschienenen Buch The Moral Problem findet sich diese Passage nicht mehr. Im Buch argumentiert Smith, dass Überzeugungen Wünsche verursachen und rationalisieren können – und zwar Überzeugungen darüber, was man wünschen würde, wenn man vollständig rational wäre, vgl. (Smith1994), S. 177-180. Smith vertritt also explizit eine Position, derzufolge eine Person durch rationale Überlegung zu einer Handlung gebracht werden kann, obwohl sie keine vorgängig gegebenen Wünsche hat, die durch diese Handlung erfüllt werden. Auf den späteren Smith kann man sich also nicht zur Begründung von P2 des Standardarguments berufen.
4.6 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments |
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[...] we do not speak of arriving at desires as a result of intentions so to arrive in the same way as we speak of performing actions as a result of intentions so to perform. It’s natural enough to speak of intentional action but intentional desire is a rather peculiar notion.⁴⁸
Um das teleologische Argument auf motivierte Wünsche zu übertragen kann man sich also nicht auf die Unterscheidung zwischen intentionalem Handeln und bloßem Verhalten („mere bodily movement“) beziehen. Die Rede von motivierten Wünschen setzt jedoch, so Lenman, eine Unterscheidung voraus, die es ermöglicht, das teleologische Argument auch auf der Ebene motivierter Wünsche anzuwenden: die Unterscheidung zwischen rational und nicht-rational erzeugten Wünschen. Rationale Wünsche sind demnach im deskriptiven Sinne rational, d.h. sie sind einer rationalisierenden Erklärung zugänglich, auch wenn sie nicht unbedingt einer im normativen Sinne rechtfertigenden Erklärung zugänglich sind. Notice that the distinction we want is that between rational and nonrational processes, not that between rational and irrational processes. [...] All practical reasoning is rational as opposed to nonrational just in virtue of being reasoning but it only counts as rational as opposed to irrational when certain standards of rationality are met. But much human reasoning is irrational, where this means that it is defectively rational. Rationality in the sense opposed to nonrationality is not only compatible with irrationality, but is presupposed by it.⁴⁹
Das teleologische Argument zeigt nun aber Lenman zufolge, „that there are constraints on what is admissible in the way of rational explanation“. Und insofern zeigt dieses Argument eben auch die Bedingungen für die rationale Erklärung von Wünschen auf. Lenman setzt sich zur Erläuterung mit dem von Stephen Darwall stammenden Beispiel von Roberta auseinander, die, nachdem sie einen Film über ausgebeutete Arbeiter gesehen hat, dazu motiviert ist, etwas gegen solche Zustände zu unternehmen. Nach Darwall kann man Robertas Wunsch, etwas gegen solche Zustände zu unternehmen, nun mit Bezug auf ihre Überzeugung, dass das Leid der Arbeiter nicht rechtfertigbar ist, erklären. Robertas Überzeugung motiviert nach Darwall ihren Wunsch.⁵⁰ Lenman hakt hier ein und behauptet, das teleologische Argument zeige, dass dies nicht sein kann: My coming to believe that P only begins to provide a rational explanation for my coming to desire that not-P if there is something about P to which I am averse. This is just the teleological argument over again. Because desires have a common direction of fit that beliefs do not share, it follows that not all the rational psychological antecedents of desire are strictly
48 (Lenman1996), S. 293. 49 (Lenman1996), S. 293. 50 Vgl. (Darwall1983), Kapitel 3.
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cognitive states: no beliefs can motivate any desire all by themselves, just as no amount of information about my beliefs would tell you anything about what I was liable to do unless you have some additional data on what I wanted.⁵¹
Der Grund warum man geneigt ist, diesen Punkt in Robertas Beispiel nicht zu sehen, ist Lenman zufolge dem Umstand geschuldet, dass es so natürlich ist, Roberta den Wunsch zu unterstellen, dass Arbeiter nicht ausgebeutet werden. Wenn wir ihr diesen Wunsch nicht unterstellen würden, dann könnte es uns die Erklärung „She saw the film so she came to want to join the boycott“ eben so wenig eine rationalisierende Erklärung für ihren Wunsch, dem Boykott beizutreten, liefern, wie die Aussage „Watching that documentary gave me a craving for cherry trifle“ für den Wunsch nach einem Kirschdessert.⁵² Lenman illustriert das noch anhand eines weiteren Beispiels: Die Überzeugung, dass auf dem Mond keine Petersilie wächst, kann alleine nicht erklären, warum jemand den Wunsch ausbildet, Petersilie zum Mond zu transportieren. Denn auch wenn es möglich sein mag, dass diese Überzeugung den Wunsch kausal verursacht, kann sie dennoch keine rationalisierende Erklärung für den Wunsch darstellen.⁵³ Für Lenman scheint also aus dem teleologischen Argument zu folgen: Hätte Roberta keinen bereits gegebenen Wunsch, dem Boykott beizutreten und keinen bereits gegebenen Wunsch, der einen Wunsch, dem Boykott beizutreten, rational erklären könnte, dann könnte man Robertas Wunsch, dem Boykott beizutreten, nur noch als lediglich kausal verursacht verstehen – also letztlich in dem Sinne als „nicht-rational-erzeugt“, wie ein Wunsch als „nicht-rational-erzeugt“ verstanden werden muss, wenn er durch einen Schlag auf den Kopf verursacht wird. Und das scheint eine These zu sein, die das Standardargument in seiner zweiten Prämisse benötigt: Nur wenn P zu t0 einen Wunsch hat, der entweder P zu t1 in U motivieren würde, h zu tun, oder der einen Wunsch rational erzeugt, der P zu t1 in U motivieren würde, h zu tun, dann gilt: Wäre P rational, wäre P motiviert, h zu t1 zu tun – und zwar auf eine nicht lediglich kausal verursachte Weise. Ich hatte oben angemerkt, dass es Sinn macht, mit der ersten Prämisse des Standardarguments davon auszugehen, dass jemand nur dann einen normativen Grund für eine Handlung hat, wenn er zu dieser Handlung durch einen von ihm selbst gesteuerten Prozess motiviert werden kann – wenn er nicht sowieso schon zu dieser Handlung motiviert ist. Wenn Lenman recht hat, dann zeigt das teleologische Argument, dass jemand nur dann durch einen solchen Prozess – im Gegensatz zu einem von ihm nicht selbst gesteuerten Prozess der kausalen Verursachung – mo-
51 (Lenman1996), S. 294. 52 Vgl. (Lenman1996), S. 295. 53 Vgl. (Lenman1996), S. 294.
4.6 Das teleologische Argument im Zusammenhang des Standardarguments |
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tiviert werden kann, wenn er einen Wunsch hat, der einen für die entsprechende Handlung notwendigen Wunsch rationalisert. Ich denke, Lenmans Argumentation ist nicht überzeugend. Sie lebt davon, dass er Beispiele für Überzeugungen angibt, die tatsächlich keine Informationen darüber enthalten, dass und warum man zu einer Handlung oder einem Wunsch geneigt ist. Aber man könnte z.B. annehmen, dass Roberta nicht nur die Überzeugung hat, dass die Arbeiter ausgebeutet werden, sondern die Überzeugung, dass sie nicht ausgebeutet werden sollten. Und aus dieser Überzeugung können wir, so denke ich, ganz eindeutig ablesen, wozu Roberta geneigt ist bzw. worin ihre Abneigung besteht (oder wozu sie geneigt wäre, wenn sie rational wäre). Es ist einfach question-begging zu behaupten, dass für normative Überzeugungen gilt: Sie enthalten „no amount of information“ darüber, was ich zu tun geneigt bin „unless you have some additional data on what I want“. Und wenn eine Person aufgrund ihrer Überzeugung, dass auf dem Mond Petersilie wachsen soll, zu dem Wunsch gelangt, Petersilie zum Mond zu transportieren, dann bietet diese Überzeugung eine im deskriptiven Sinne rationale Erklärung für diesen Wunsch. Sie gibt an, in welchem Licht dieser Person der Wunsch erscheint, und in diesem Sinne rationalisiert sie ihn. Und dazu ist es nicht nötig, dass die Überzeugung (im normativen Sinne) rational ist. Rationalisiert wird der Wunsch durch diese Überzeugung, auch wenn man der Meinung ist, dass es eine absurde Überzeugung ist. Lenman geht auf solche Beispiele, in denen normative Überzeugungen Wünsche erzeugen, ein und schreibt dazu: „To a degree we can accept that this sort of story makes sense. But not in a way that need undermine the [humean theory]“⁵⁴. Dem Humeaner zufolge müssen wir hier vor dem Hintergrund des teleologischen Arguments entweder eine verdeckte Prämisse unterstellen, nämlich die Prämisse, dass eine Person mit einer normativen Überzeugung entsprechend ihrer normativen Überzeugungen handeln will. Oder wir müssen davon ausgehen, dass „taking something to be reason“ oder „überzeugt sein, dass eine Handlung gesollt ist“ selbst eine non-kognitive Einstellung, also ein desire, ist. Denn das teleologische Argument zeige, so Lenman, dass wir für eine rationalisierende Erklärung Informationen darüber benötigen, „to which [the agent] is averse“. Aber diese Argumentation von Lenman ist zirkulär – sie setzt voraus, was zu zeigen wäre. Die zentrale Prämisse des erweiterten teleologischen Arguments sagt: Um einen motivierten Wunsch rational zu erklären, müssen wir verstehen, „to which I am averse“. Der anti-Humeaner antwortet: Das verstehen wir, wenn wir uns den Gehalt einer normativen Überzeugung anschauen. Wenn Lenman nun behauptet, wir könnten das so nicht verstehen, weil zu verstehen „to which I am
54 (Lenman1996), S. 296.
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averse“ bedeute, zu verstehen, was ich wünsche, dann setzt er einfach die HTM voraus, statt sie zu begründen. Denn damit wird die zentrale Prämisse zu nichts anderem als einer Reformulierung der Konklusion: Motivierte Wünsche können nur durch Wünsche rational erklärt, d.h. motiviert werden. Lenman kann also nicht begründen, dass vorgängig gegebene Wünsche notwendig sind, um neue Wünsche zu rationalisieren. Damit ist seine Argumentation aber nutzlos für eine Verteidigung der zweiten Prämisse des Standardarguments. Es wurde nicht gezeigt, dass normative Überzeugungen nicht dazu in der Lage sind, Wünsche zu rationalisieren – Wünsche, die dann zu Handlungen motivieren. Auf Lenmans Argumentation kann man sich also nicht berufen, um die HTM in der für das Standardargument benötigten starken Lesart zu etablieren, wonach gilt: Wenn P in Umständen U zu t1 motiviert ist, h zu tun, (und durch einen rationalen Prozess des Überlegens in diesen Zustand gelangt ist), dann hat P zu t0 einen Wunsch und h trägt dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen.
4.7 Schluss Der zweiten Prämisse des Standardarguments für den Internalismus (also der HTM in der starken Lesart) fehlt demnach eine Begründung und ich denke, sie ist begründungsbedürftig, auch wenn Joyce sie als „reasonably stable premise“⁵⁵ bezeichnet. Weder kann mit Bezug auf Smiths teleologisches Argument zur Begründung einer Humeanischen Motivationstheorie die gewünschte Prämisse etabliert werden noch sind Lenmans Überlegungen geeignet, die Lücke zwischen Smiths Konklusion und dieser Prämisse zu schließen. Wer an der Vorstellung festhalten will, dass normative Gründe nicht von den Wünschen Handelnder abhängt, der wird zumindest nicht durch motivationstheoretische Argumente daran gehindert. Damit stellt sich aber auch heraus, dass eines der zentralen Argumente gegen den Objektivismus auf einer bislang nicht hinreichend begründeten, aber durchaus einer Begründung bedürftigen Prämisse beruht.
55 (Joyce2001), S. 110.
5 Normativitätstheoretische Argumente II: Normativität 5.1 Einleitung In diesem Kapitel möchte ich ein Argument vorstellen und diskutieren, das den moralischen Objektivismus mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Annahme objektiver moralischer Werte oder Tatsachen bleibe letztlich unverständlich. Um sogleich die Erwartung zu dämpfen, dass ich hier versuche, ein unangreifbares Argument zu entwickeln: Ich bin mir bewusst, dass meine Problemdiagnose (und dieser Begriff trifft mein Vorhaben vielleicht besser als der Begriff des Arguments) nicht von allen, insbesondere hartgesottenen Objektivisten, als überzeugend oder treffend empfunden wird.
5.2 Mackies Argument aus der Absonderlichkeit Ich möchte meine Problemdiagnose unter Rekurs und Abgrenzung zu Mackies berühmten Argument aus der Absonderlichkeit („argumemt from queerness“) formulieren. Mackie argumentiert, dass moralische Werte oder Tatsachen ontologisch absonderlich sind, da man sie sich als völlig verschieden von allen anderen Dingen der uns bekannten Realität vorstellen müsse: If there were objective values, then they would be entities or qualities or relations of a very strange sort, utterly different from anything else in the universe.¹
Dabei scheint Mackie anzunehmen, dass „everything else in the universe“ einer empirischen Untersuchung und Erklärung zugänglich ist, und dass die Absonderlichkeit im Sinne von Verschiedenheit moralischer Werte gerade darin besteht, einer solchen empirischen Behandlung nicht zugänglich zu sein.² An anderer Stelle meint Mackie, dass jeder mit einem „scientific and inductive turn of mind“ moralische Tatsachen als „queer“ verstehen müsse.³ So wird Mackie auch oft in dem Sinne interpretiert, dass die Absonderlichkeit moralischer Werte in ihrer Unverein-
1 (Mackie1977), S. 38. 2 So sagt Mackie auf der diesem Zitat folgenden Seite, dass alles, was nicht auf empiristischer Grundlage erklärbar sei, sich ebenfalls dem Argument aus der Absonderlichkeit aussetzt, vgl. (Mackie1977), S. 29. 3 Vgl. (Mackie1946), S. 80.
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barkeit mit einer naturalistischen Konzeption der Realität besteht. Nun stellt sich dabei die Frage, was es genau heißt, etwas als natürlich (bzw. wissenschaftlich), d.h. als vereinbar mit einem naturalistischen (oder wissenschaftlichen) Weltbild zu verstehen: Definiert man dabei das Natürliche über ein Disziplinenkriterium, wonach nur das natürlich ist, was Gegenstand bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen ist oder sein kann? Oder bestimmt man die Extension des Natürlichen über ein methodologisches Kriterium, wonach nur das natürlich ist, das einer Untersuchung und Erklärung gemäß bestimmter methodologischer Prinzipien zugänglich ist? Ich möchte mich hier nicht weiter mit diesen Fragen beschäftigen, weil ich denke, dass das Argument aus der Absonderlichkeit etwas voraussetzt, das noch gar nicht gegeben ist: Mir scheint, dass die Frage, ob moralische Werte oder Tatsachen mit einem naturalistischen Weltbild vereinbar sind, und ob, falls das nicht der Fall ist, die Annahme ontologisch nicht-natürlicher Entitäten gerechtfertigt ist oder sein kann, voraussetzt, dass wir überhaupt eine klare Beschreibung davon haben, was da ontologisch einzuordnen und zu erklären ist. Ich denke, dass auch jemand, der geneigt ist, nicht-natürliche Entitäten wie irreduzible Qualia oder abstrakte Entitäten, die außerhalb des spatiotemporalen Bereichs existieren, anzunehmen, moralische Tatsachen als merkwürdig empfinden kann: Und zwar aus dem Grund, dass überhaupt nicht klar ist, was moralische Tatsachen überhaupt sein sollen. Das Problem ist also nicht, dass wir eine klare und deutliche Beschreibung einer angeblichen existierenden Entität haben und uns dann fragen, ob die Annahme der Existenz dieser Entität mit unserem (naturalistischen) Bild von der Welt vereinbar ist. Das Problem ist vielmehr, dass wir noch nicht mal genau wissen, was da gegebenenfalls ontologisch einzuordnen, hinzuzufügen oder auszuschließen ist. Ich möchte dieses Problem im Folgenden näher fassen, indem ich zunächst erläutere, was Mackie und Philosophen, die sich zustimmend auf das Argument aus der Absonderlichkeit beziehen, so absonderlich an moralischen Werten und Tatsachen finden. Anschließend werde ich erläutern, warum ich denke, dass die vorrangige Frage nicht ist, ob es solche Dinge gibt bzw. ob solche Dinge absonderlich sind, sondern was solche Dinge eigentlich sein sollen. Ich möchte zeigen, dass wir gar keine klare Vorstellung, keinen deutlichen Begriff davon haben, was moralische Werte bzw. ihre charakteristischen Eigenschaften sind (oder sein sollen). Es ist heute, so weit ich sehe, Konsens, dass sich Mackie mit seinem QueernessArgument auf vier verschiedene Problemfelder bezieht, die mit dem ontologischen Modell des von der Existenz objektiver und normativer moralischer Tat-
5.2 Mackies Argument aus der Absonderlichkeit | 111
sachen ausgehenden Objektivismus verbunden sind.⁴ So wird zumeist zwischen einem normativitätstheoretischen Argument (Argument aus der objektiven Präskriptivität oder irreduziblen Normativität⁵), einem motivationstheoretischen Argument (Argument aus der motivationalen Kraft), einem epistemologischen Argument und einem Argument aus der Supervenienzbeziehung unterschieden. Ich möchte mich hier auf das normativitätstheoretische Argument konzentrieren, weil es mir dann genau um den spezifischen normativen Aspekt moralischer Werte gehen wird und den ich im oben genannten Sinne problematisieren möchte. Diesem normativitätstheoretischem Argument – oder, wie ich es im Folgenden nennen werde, dem Argument aus der Normativität – zufolge sind moralische Werte oder Tatsachen ontologisch absonderlich, weil sie eine Eigenschaft haben, die „gewöhnliche“ Tatsachen, also Tatsache, die in einem naturalistischen Weltbild einen festen Platz haben, nicht besitzen: Mackie spricht davon, dass sie „objectively“ und „authoritatively prescriptive“⁶, seien, dass sie Handelnden sagen oder vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben⁷, oder – in einer anderen Formulierung – dass sie „to-be-pursuedness“ oder „to-be-doness“⁸ irgendwie eingebaut haben. Tische, Affen, Elektronen und andere Gegenstände haben Eigenschaften, die sich mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften beschreiben und vorhersagen lassen, aber sie haben nicht die Eigenschaft, etwas vorzuschreiben oder etwas zu fordern. Die Eigenschaft eines Tisches, stabil oder rechteckig zu sein, lässt sich ohne Probleme in unseren Katalog der existierenden Dinge einordnen – aber wo und wie soll man die Eigenschaft einer Tatsache, Handlungen zu fordern, dort unterbringen? Nun gibt es Tatsachen, die auch Mackie als naturalistisch beschreib- und erklärbare Entitäten auffassen würde, denen man in einem bestimmten Sinn die Eigenschaft zusprechen kann, präskriptiv zu sein oder Handlungen zu fordern: Die Regeln der Etikette sind z.B. solche Tatsachen. Die Annahme ihrer Existenz sprengt nicht die ontologischen Voraussetzungen des naturalistischen Weltbildes und doch kann man sagen, dass diese Regeln vorschreiben oder fordern, dass man sich beim Sonntagsbrunch die laufende Nase mit dem Taschentuch abwischt. In den Regeln der Etikette haben wir also eine Tatsache, die bestimmte Handlungen vorschreibt, und diese Eigenschaft, Handlungen vorzuschreiben, scheint keineswegs metaphysisch merkwürdig zu sein oder die naturalistische Ontologie zu sprengen. 4 5 6 7 8
Vgl. z.B. (Olson2014). (Olson2014), S. 188. (Mackie1977), S. 35 und S. 38. Vgl. (Mackie1977), S. 40. (Mackie1977), S. 40.
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Was ist es also, was Mackie an moralischen Tatsachen und ihrer Eigenschaft, Handlungen vorzuschreiben, metaphysisch merkwürdig finden könnte? Mackie spricht immer wieder davon, dass moralische Tatsachen „objectively“ und „authoritatively“ präskriptiv sind oder dass ihnen „objective, instrinsic prescriptivity“ zueigen ist. Richard Joyce, der im Anschluss an Mackie eine Irrtumstheorie vertritt, spricht von einer „inescapable authority“⁹, die moralische Werte oder Tatsachen über Handelnde haben, und dass sie „strong categorical imperatives“¹⁰ mit sich bringen, die Handelnde „wirklich binden“¹¹. In seinen Ausführungen zur Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen formuliert Mackie: So far as ethics is concerned, my thesis that there are no objective values is specifically the denial that any such categorically imperative element is objectiveley valid. The objective values which I am denying would be action-directing absolutely, not contingently [...] upon the agent’s desires and inclinations.¹²
Nun sind hier zwei Aspekte einschlägig, die in den oben genannten Formulierungen und in der zitierten Textstelle nicht scharf voneinander getrennt sind. Es ist aber wichtig, beide Punkte voneinander zu unterscheiden: Da ist erstens der wunschunabhängige Charakter objektiver Werte und zweitens deren Autorität, deren bindende Kraft. Der Begriff des kategorischen Charakters oder der kategorischen Imperative schillert zwischen zwei Bedeutungen. Einmal kann damit auf den wunschunabhängigen Charakter von etwas hingewiesen werden. Als Charakterisierung moralischer Werte oder Tatsachen reicht das aber nicht hin: Mit Phillippa Foot lassen sich auch Regeln der Etikette als kategorisch und als unabhängig von Wünschen oder Vorlieben von Menschen geltend begreifen: Die Regel, dass man sich die laufende Nase mit dem Taschentuch und nicht mit der Hand abwischt, gilt insofern kategorisch, als ihre Geltung nicht mit dem Verweis auf das eigene fehlende Interesse, sich an diese Regel zu halten, aufgehoben wird. Man verhält sich dann eben – den Regeln der Etikette zufolge – einfach ungezogen, und daran ändert sich nichts, wenn man ungezogen sein will. Moralisch Urteilende verstehen moralische Vorschriften dagegen aber, wie Mackie zu Recht voraussetzt, in einem anderen Sinn als objektiv und kategorisch: Sie sind wunschunabhängig und dabei autoritativ oder bindend. Moralische Vorschriften „sagen“ nicht einfach nur: „Moralisch sein geht so, ob du es willst oder
9 (Joyce2001), S. 60-62, 192-199. 10 (Joyce2001), S. 37-42. 11 (Joyce2011), S. 524. 12 (Mackie1977), S. 29.
5.2 Mackies Argument aus der Absonderlichkeit |
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nicht!“ – so wie die Regeln des Solitär „sagen“: „Solitär geht so, ob du es willst oder nicht!“ –, sondern sie besitzen eine besondere bindende Kraft. Der SolitärSpieler, der nicht richtig spielen will, wird von den Regeln nicht dazu gezwungen oder daran gebunden, richtig zu spielen, auch wenn er in einem bestimmten Sinn dazu gezwungen ist, zuzugeben, dass man Solitär so und so spielt. Er kann sich diesen Regeln gegenüber mit seinen Handlungen einfach indifferent oder ablehnend verhalten und diese Regeln üben dann keinen weiteren Druck auf ihn aus, seine Handlungen ihnen gemäß auszurichten – und in diesem Sinne besitzen diese Regeln keine Autorität über Handelnde, die sich nicht an ihnen orientieren (wollen). Moralische Tatsachen sollen nun aber einen solchen Handlungsdruck ausüben und in diesem Sinne autoritativ und bindend sein: Jemand, der eine moralisch falsche Handlung ausführt, soll unter dem Druck oder dem Zwang stehen, moralisch richtige Handlungen auszuführen. Dieser Zusammenhang wird oft auf den Punkt gebracht, indem gesagt wird, dass Handelnde einen normativen Grund haben, moralisch falsche Handlungen zu unterlassen. Wie ich zu Beginn des letzten Kapitels gesagt habe, lässt sich zwar in einem bestimmten Sinn auch davon sprechen, dass die Regeln der Etikette (oder generell institutionelle Regeln) Gründe geben (und ein Müssen mit sich bringen).¹³ Aber ich hatte dort auch gesagt, dass diese „Gründe der Etikette“ keine normativen Gründe sind, und zwar weil sie keine bindende oder autoritative Kraft haben. Moralische Gründe bzw. Gründe, die mit moralischen Vorschriften oder Regeln einhergehen, werden dagegen in diesem Sinne als normativ verstanden, also als bindend und autoritativ. Moralische Werte sind demnach normativ und wunschunabhängig: Sie sind Gründe-gebend oder präskriptiv im normativen Sinne. Auf genau diese normative Eigenschaft, also die bindende oder autoritative Kraft der mit moralischen Werten einhergehenden Forderungen oder Gründe will Mackie mit seiner Rede von objektiver Präskriptivität und absoluten, kategorischen Imperativen hinaus. Die (kategorische) Normativität moralischer Werte, also der autoritative oder bindende Druck oder Zwang, der von diesen Werten ausgeübt wird, ist es wohl, was Mackie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der neuzeitlichen Wissenschaften als merkwürdig empfindet. Im Bild des philosophischen Naturalismus steht uns die äußere Welt indifferent gegenüber, in ihr gibt es bloß „stumme“ und „kalte“ harte Fakten (nämlich jene Fakten, die mit den Mitteln der wie auch immer als naturalistisch bestimmten Wissenschaften beschreibbar sind), so dass die Annahme von Tatsachen, die nicht „stumm“ sind und die zudem eine seltsame, den Handelnden bindende Kraft entfalten, das für Mackie einzig akzeptable
13 Ich hatte dort gesagt, dass im folgenden Sinne von institutionellen Gründen sprechen kann: P hat in Situation S gemäß der Etikette einen Grund, h zu tun.
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ontologische Modell des Naturalismus sprengt. Da Mackie davon ausgeht, dass moralisch Urteilende ihre Urteile als etwas verstehen, „that involves a call for action or for the refraining from action, and one that is absolute, not contingent upon any desire or preference or policy or choice, his own or anyone else’s“¹⁴ – er also mit dem Objektivisten die semantische These des Normativismus teilt –, ihm diese Voraussetzung des „ordinary user“ aber als zu merkwürdig erscheint, um ihr einen Platz in einem wissenschaftlichen Weltbild zu reservieren, schließt er: Moralische Urteilende befinden sich mit ihrer Voraussetzung, dass es kategorisch normative Gründe gibt, im Irrtum. Mackies Irrtumstheorie verneint also die ontologische These des Objektivismus: Es gibt keine normativen Tatsachen oder Gründe, die wunschunabhängig (bzw. extern) sind. Christoph Halbig gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Mackies Argument möglicherweise mehr über die Probleme des von Mackie beanspruchten ontologischen Modells aussagt als über ein angebliches Problem der Annahme objektiver Werte: Auf der Basis einer Hintergrundontologie, wie sie etwa Mackie voraussetzt, sind objektive Werte in der Tat merkwürdiger als Erdferkel, Neutrinos und Renoirs. Sie aber gilt es in einem weit stärkeren Maße zu explizieren und kritischer Prüfung zu unterziehen, als dies Mackie selbst tut. Die konstatierte Merkwürdigkeit einer Art von Entitäten sollte nicht eo ipso zum Anlaß einer Reduktion oder Elimination werden, sondern den Ausgangspunkt eines ontologischen Forschungsprogramms bilden.¹⁵
5.3 Inexplikable Normativität? Das Problem, das ich jedoch für ein solches ontologisches Forschungsprogramm im Falle der angenommenen objektiven Präskriptivität moralischer Tatsachen sehe, ist, dass doch überhaupt nicht klar ist, was genau da ontologisch eingeordnet werden soll: Ich habe bereits davon gesprochen, dass moralische Tatsachen einen Druck auf Handelnde ausüben oder sie zu Handlungen zwingen sollen. Mit diesen Metaphern bleibt aber doch völlig offen, worin dieser Druck besteht, welcher Art dieser Druck ist und inwiefern da zu Handlungen gezwungen wird. Wir haben lediglich die Information, dass es sich nicht um einen naturgesetzlichen Druck oder Zwang handelt, dass dieser Druck nicht durch Konsequenzen, die der Handelnde vermeiden möchte, zustande kommt, und dass das, was passiert, wenn er diesem
14 (Mackie1977), S. 33. 15 (Halbig2007), S. 190.
5.3 Inexplikable Normativität? |
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Druck nicht nachgibt, nicht lediglich darin besteht, eine Regel zu verletzen (so wie das, was passiert, wenn der Solitär-Spieler falsch spielt, eben ein Regelbruch ist). Aber was genau passiert, wenn jemand eine moralische Regel verletzt oder einer moralischen Forderung nicht nachkommt, das darüber hinausgeht, dass er eben diese Regel verletzt oder dieser Forderung nicht nachkommt? Oder – in der Begrifflichkeit von Gründen ausgedrückt – was passiert, wenn jemand nicht die Handlungen ausführt, für die normative Gründe sprechen? Welche Wirkung tritt in einem solchen Fall ein, die verständlich macht, warum oder inwiefern der Handelnde richtig – d.h. entsprechend der moralischen Forderung, dem moralischen Sollen (oder Müssen) oder den moralischen Gründen – handeln muss? Worin besteht der Druck, der auf ihm lastet und den er nicht ignorieren kann, ohne dass – ja, ohne dass was passiert? Möglicherweise lasse ich mich hier zu sehr von den verwendeten Metaphern ablenken, die von vornherein die Erwartung erzeugen und suggerieren, hier müsse es etwas geben, was dann passiert, wenn dem Druck nicht nachgegeben wird, oder dass hier etwas Konsequenzen haben müsse, wenn dem Zwang nicht entsprochen wird. Nun ist es plausibel anzunehmen, dass das realistische Forschungsprogramm gerade beinhaltet, diese noch undeutlichen Metaphern und Begriffe – und damit das unklare Phänomen moralischer Tatsachen – auf einen klaren und verständlichen Begriff zu bringen, um das Phänomen damit auch ontologisch einordnen zu können. Soweit ich sehe, scheinen sich aber z.B. Thomas Scanlon und Derek Parfit genau dieser Aufgabe entledigen zu wollen, wenn sie zugeben, dass sich der Begriff des normativen Grundes (des „counting in favour of“) nicht sinnvoll und nicht-zirkulär explizieren lasse und daher „inexplicable“ sei. Scanlon schreibt zum Beispiel: I am quite willing to accept that ‘being a reason for’ is an unanalyzable, normative, hence non-natural relation.¹⁶
Das Problem ist für mich nun nicht primär, dass damit mysteriöse oder absonderliche nicht-natürliche Phänomene angenommen werden. Mein Problem mit dieser Bestimmung ist, dass sie letztlich nicht sehr aussagekräftig ist. Scanlon gibt uns keine Vorstellung davon, welche Charakteristik einem Umstand zugeschrieben wird, wenn man urteilt, er sei ein normativer Grund, etwas zu tun. Er behauptet einfach, dass der Begriff des normativen Grundes so „primitive“¹⁷ sei, dass er nicht durch andere Begriffe erklärt werden und man sich hier nur im Kreis drehen
16 (Scanlon1998), S. 11. 17 (Scanlon1998), S. 7.
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könne: Ein normativer Grund für etwas zu sein, bedeute, für etwas zu sprechen, und für etwas zu sprechen, bedeute eben, ein normativer Grund für etwas zu sein. Wie im letzten Kapitel schon angedeutet, kann man aber eben auch sagen, dass institutionelle Regeln für etwas sprechen. Was dieses, sagen wir, „institutionelle Sprechen-Für“ von dem spezifisch normativen „Sprechen für“ unterscheidet, habe ich dort mit Bezug auf die Metapher des „Gebundenseins“ oder der „Autorität“ versucht annähernd zu bestimmen. Aber wenn ich mich nun frage, was damit eigentlich genau gemeint ist, habe ich keine Antwort und soweit ich sehe, gibt mir auch Scanlon (sowie Parfit und Shafer-Landau) darauf keine Antwort. Ich finde das aber äußerst unbefriedigend. Ich habe einfach keine Vorstellung davon, was es heißt, dass z.B. eine bestimmte Handlung die intrinsische Eigenschaft hat, nicht getan werden zu dürfen, oder dass ein Umstand (wie z.B. dass eine Handlung gefährlich ist) für oder gegen etwas spricht und dass ein Handelnder irgendwie daran gebunden ist, das zu tun, wofür der Umstand spricht, oder das zu unterlassen, wogegen der Umstand spricht. Ich habe keine Vorstellung davon, was das für eine Art von Autorität sein soll, die ein moralisches Sollen oder ein moralischer bzw. normativer Grund über uns Handelnde hat.¹⁸ Wir haben, wie gesagt, nur eine negative Bestimmung davon. Wir wissen nur, was das moralische bzw. normative Sollen und ein moralischer bzw. normativer Grund nicht ist – es ist kein institutionelles Sollen, kein Sollen, das durch die Forderung eines Menschen oder eines übernatürlichen Wesens in die Welt kommt, und kein „hypothetisches Sollen“. Ich würde aber einfach gerne wissen, wie man diese Begriffe – normatives Sollen, normativer Grund, bindende Kraft, normative Autorität – positiv fassen kann. Das Problem ist also nicht lediglich, dass sich die Normativität moralischer Werte und die mit ihnen einhergehenden kategorischen Forderungen oder Gründe nicht auf nicht-normative und natürliche Eigenschaften reduzieren oder durch sie erklären lassen (das Scheitern einer solchen Reduktion kann – soweit möchte ich Halbig entgegenkommen – bei einem klar umrissenen merkwürdigen Phänomen gerade dafür sprechen, ein „ontologisches Forschungsprogramm“ zu star-
18 So auch (Stemmer2008), S. 106: „Wir haben [...] keinerlei Vorstellung von [ontologisch objektiven normativen Eigenschaften] und ihrer Ontologie. Es ist eine abwegige Vorstellung, dass z.B. eine Tötungshandlung, sagen wir, eine Abtreibung, die intrinsische Eigenschaft hat, nicht getan werden zu dürfen [...].“ Stemmer spricht hier im ersten Satz davon, dass wir „keinerlei Vorstellung“ haben, und im zweiten Satz von „abwegige Vorstellung“. Mein Punkt ist, dass ich gar nicht beurteilen kann, ob es eine abwegige Vorstellung ist, weil ich gar nicht richtig verstehe, was sich da genau vorgestellt wird. Mir geht es also darum, dass ich keinerlei Vorstellung habe und nicht, dass die Annahme von normativen, eine autoritative und bindende Kraft generierenden Phänomenen abwegig ist.
5.3 Inexplikable Normativität? |
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ten), sondern dass wir – oder zumindest ich – keine klare Vorstellung, keine informative Beschreibung der Eigenschaft haben, um die gegebenenfalls eine naturalistische Ontologie ergänzt werden müsste. Die Frage ist also weniger, ob es solche normativen Eigenschaften gibt und wie sie zu konzipieren sind (natürlich vs. nicht-natürlich). Meine Frage lautet: Was ist denn überhaupt mit solchen normativen Eigenschaften gemeint – was ist mit normativer Autorität und mit der bindenden Kraft normativer Entitäten gemeint? Nun mag mancher Leser den Eindruck haben, dass ich mich hier dümmer stelle, als ich eigentlich bin. Habe ich denn nicht ein intuitives Verständnis davon, was gemeint ist, wenn man sagt, dass jemand einen wirklichen Grund hat, etwas zu tun? Habe ich tatsächlich keinen intuitiven Begriff davon, dass jemand bestimmte Dinge einfach nicht tun darf – und zwar nicht (nur), weil das gegen irgendwelche Regeln verstößt oder seinem Eigeninteresse zuwiderläuft? Meine Antwort darauf lautet: Doch, das habe ich. Ich urteile immer wieder bei entsprechenden Gelegenheiten, dass jemand eine bestimmte Handlung einfach tun muss, und ich meine damit nicht nur, dass er gegen institutionelle Regeln verstößt oder gegen sein Eigeninteresse handelt, wenn er es nicht tut. Aber wenn ich mich frage, was ich damit eigentlich genau meine, dann stehe ich vor einer verschlossenen Tür. Ich weiß einfach nicht, was ich damit genau meine. Mir scheint, dass meine Auseinandersetzung mit Scanlon bzw. mit dem Verständnis von Normativität des Non-Naturalisten (also desjenigen, der gewillt ist, eine besondere Autorität oder bindende Kraft moralischer Werte anzunehmen) letztlich in ein Patt führt: Ich bin nicht zufrieden damit, dass man den Begriff der Normativität nicht weiter erläutern kann, dass er „inexplicable“ sein soll. Der Non-Naturalist sieht das anders. Ihm genügt es, zu sagen, dass dieser Begriff primitiv ist und es unmöglich ist, ihn weiter zu explizieren und zu erklären. Der Non-Naturalismus wird nun allerdings mit zwei Argumenten indirekt verteidigt. Die beiden Argumente lassen sich als Einwände gegen das Argument aus der Absonderlichkeit verstehen: Sie sollen zeigen, dass, selbst wenn moralische Werte bzw. ihre Normativität absonderlich wirken, wir keine andere Wahl haben, als solche absonderlichen Entitäten oder Eigenschaften anzunehmen. Diese Einwände sind damit auch gegen mein Unbehagen bezüglich der unklaren Vorstellung von Normativität einschlägig. Denn – so besagen die beiden Einwände – selbst wenn der Begriff der Normativität (und die korrespondierenden Begriffe der Autorität und bindenden Kraft) nur unbefriedigend oder gar nicht expliziert werden kann, so können wir dennoch nicht auf ihn verzichten. Die von ihm bezeichnete Eigenschaft sei, wie Shafer-Landau schreibt, „ineliminable“. Mit diesen Einwänden scheint sich die Möglichkeit zu ergeben, die Diskussion um eine befriedigende Klärung des Begriffs der Normativität aus dem oben genannten Patt zu befreien: Der Non-Naturalist kann mit ihnen – so könnte man
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den Anspruch dieser Einwände konzipieren – in die Offensive gehen und zeigen, dass der Bezug auf den nicht-explizierbaren Begriff der Normativität auch für denjenigen notwendig ist, der – wie ich – mit diesem Begriff bzw. mit der Behauptung, er sei inexplizierbar, unzufrieden ist. Der erste Einwand lautet, dass auch derjenige, der die Existenz von instrumentellen, hypothetischen oder internen Gründen ausgeht, irreduzible, inexplizierbare Normativität annehmen muss. Dem zweiten Einwand zufolge ist ohne Bezug auf das Phänomen einer solchen Normativität auch die Annahme von epistemischen Gründen (also Gründen für Überzeugungen) nicht rechtfertigbar. Ich möchte diese beiden Einwände in den folgenden zwei Abschnitten vorstellen und zeigen, dass sie nicht überzeugend sind. Wer ein Problem mit dem Begriff irreduzibler Normativität hat oder geneigt ist, die Existenz irreduzibel normativer Phänomene zu verneinen, hat nicht eo ipso ein Problem mit instrumentellen und epistemischen Gründen oder muss eo ipso die Existenz solcher Gründe verneinen.
5.4 Erster Einwand: Interne Gründe und Normativität Der erste Einwand lautet: Mit der Kritik, die auf die Absonderlichkeit oder die unklare Vorstellung der Normativität moralischer Werte oder moralischer Gründe abhebt, erscheint nicht nur deren Normativität problematisch, sondern auch jene Normativität, die der Kritiker offenbar als unproblematisch voraussetzt – nämlich die Normativität instrumenteller bzw. interner Gründe. Mackies Formulierungen legen diesen Einwand nahe, wenn er im Zusammenhang seines „queernessargument“ moralische Werte oder Tatsachen, deren Präskriptivität oder Normativität nicht abhängig von Wünschen sei, verneint und sie dabei mit Werten oder Tatsachen kontrastiert, deren Präskriptivität oder Normativität auf diese Art abhängig sein soll. Mackie schreibt: The objective values which I am denying would be action-directing absolutely, not contingently [...] upon the agent’s desires and inclinations.¹⁹
Es ist legitim, hier zu fragen, was Mackie damit meint, dass Präskriptivität von Wünschen abhängig ist, und wieso er glaubt, dass die Eigenschaft der wunschabhängigen Präskriptivität ( die Eigenschaft, kontingenterweise, also abhängig von Wünschen, action-directing zu sein) nicht das Verdikt „queer“ verdient. Ist nicht auch eine internalistische oder instrumentalistische Konzeption von Gründen – also eine Konzeption von normativen Gründen, die Mackie im Zitat offenbar als
19 (Mackie1977), S. 29.
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ontologisch unproblematisch voraussetzt – auf die Vorstellung festgelegt, dass es Tatsachen gibt, die jene autoritative, bindende Kraft ausüben, die Mackie absonderlich findet? Schließlich bezieht sich der Internalist doch auch auf eine Tatsache, nämlich die, dass eine bestimmte Handlung einen bestimmten Wunsch eines Akteurs erfüllt oder zu erfüllen verspricht, und von dieser Tatsache behauptet er dann, dass sie dem Akteur einen Grund zu der entsprechenden Handlung gibt. Auch in der internalistischen Konzeption sprechen folglich Tatsachen für Handlungen oder schreiben solche vor – sie haben also die angeblich merkwürdige oder unverständliche Eigenschaft, normativ zu sein. So argumentiert jedenfalls Russ Shafer-Landau: Yet the central claim [of the non-naturalist’s competitors] here is nothing other than the insistence that interests or desires are themselves intrinsically normative. [...] Here is a particular kind of fact—ϕ-ing satisifies one’s desires, or promotes one’s interests. And to this we attach a very special property—that of supplying in itself [...] a reason for action. To the extent that this property is mysterious, the mystery attaches equally to [...] instrumentalism.²⁰
Man kann sich diesen Einwand auch noch vor dem Hintergrund der von mir oben getroffenen Unterscheidung zwischen institutionellen und „echten“, also normativen Gründen vor Augen führen. Ich hatte gesagt, dass man in einem bestimmten Sinne davon sprechen kann, dass z.B. die Regeln der Etikette Gründe geben. Man kann etwa sagen, dass der Punker gemäß der Etikette einen Grund dazu hat, sich beim Sonntagsbrunch die laufende Nase mit dem Taschentuch abzuwischen. Ich hatte dann angemerkt, dass diese Gründe der Etikette nicht normativ sind, und zwar mit dem Hinweis, dass wir nicht sagen würden, der Punker sei durch diese Gründe in irgendeiner Weise daran gebunden, sich entsprechend zu verhalten. Diese Gründe der Etikette sind von sich aus nicht autoritativ in dem Sinne, dass sie den Punker (oder irgendjemanden) dazu nötigen, die Handlungen, für die diese Gründe sprechen, auch wirklich auszuführen. Diese Gründe sind nicht normativ, ihr „Für-etwas-sprechen“ ist nicht das nötigende „Für-etwas-sprechen“ von normativen Gründen. Normative Gründe sind dagegen autoritativ, bindend oder nötigend: Wir würden sagen, dass sich die Lage verändert, wenn der Punker ein Interesse daran hat, sich gemäß der Etikette zu verhalten, etwa, weil er seinen Eltern beweisen will, dass er sich gut zu benehmen weiß. Wir würden dann sagen, der Punker hat einen normativen Grund, sich entsprechend der Etikette zu verhalten und sich die Nase abzuwischen, und damit sagen wir offensichtlich etwas anderes, als dass er gemäß der Etikette einen Grund dazu hat, sich die Nase abzuwischen. Wir sagen damit vor allem, dass er irgendwie dazu genötigt ist,
20 (Shafer-Landau2003), S. 210f. Ähnlich argumentiert auch Matthew Bedke in (Bedke2010).
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dass er daran gebunden ist, sich die Nase abzuwischen. Ich denke, es ist erhellend, wenn man hier die Metapher des Handlungsdruckes ins Spiel bringt, die auch Peter Stemmer im Kontext der Frage nach der Normativität normativer Gründe für einschlägig hält. Mit dieser Metapher könnte man sagen: Institutionelle Gründe wie die Gründe der Etikette üben keinen Handlungsdruck auf Handelnde aus. Der Punker steht durch die bloße Tatsache, dass es gemäß der Etikette einen Grund gibt, sich die Nase abzuwischen, unter keinem Druck, dies zu tun. Wenn der Punker aber einen Wunsch hat, der nur dadurch erfüllt werden kann, dass er sich gemäß der Etikette verhält, und wir ihm dann einen Grund zuschreiben, sich die Nase abzuwischen, dann zielen wir mit dieser Zuschreibung genau darauf ab, dass er irgendwie unter einem Druck steht, dies zu tun. Und genau dies macht diese Zuschreibung zu einer Zuschreibung von normativen Gründen. Wir meinen dann mit unserer Rede von Gründen, dass der Handelnde zu einer Handlung genötigt wird, dass er unter einem Druck steht, der auch bedeutet, dass er – im Gegensatz zu institutionellen Gründen – das Bestehen dieser Gründe nicht einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen kann. Wenn wir nun das im Gegensatz zu institutionellen Gründen bestehende Autoritative, Bindende oder Nötigende normativer Gründe mit dieser Metapher des Handlungsdruckes auf den Punkt bringen, dann lässt sich der in diesem Abschnitt im Fokus stehende Einwand gegen das Queerness-Argument bzw. meine Problematisierung der objektivistischen Vorstellung moralischer Gründe wie folgt formulieren: Wenn moralische Gründe deshalb problematisch oder unverständlich sind, weil sie die Eigenschaft haben sollen, irgendwie autoritativ, bindend oder nötigend zu sein, also einen Handlungsdruck auf Handelnde ausüben sollen, dann stellt sich doch die Frage, wieso interne Gründe weniger problematisch oder unverständlich sein sollen, wenn sie doch genau diese Eigenschaft auch haben. Damit lässt sich der Einwand als ein sogenanntes tu-quoque-Argument (oder auf Englisch: ein „companions-in-guilt-argument“) gegen Mackies Kritik, aber auch gegen meine oben entwickelte Problemdiagnose verstehen: Wenn die Normativität moralischer Gründe, also der mit ihnen einhergehende normative Handlungsdruck merkwürdig oder problematisch ist, dann ist auch die Normativität der vom Internalisten oder Instrumentalisten (im Folgenden einfach: Internalist) reklamierten internen Gründe merkwürdig. Denn auch diese üben – wie ich zugegeben habe – einen normativen Handlungsdruck aus. Da die Normativität interner Gründe aber von allen Seiten als unproblematisch vorausgesetzt wird, beweist das „Argument aus der Absonderlichkeit“ zu viel. Oder im Anschluss an Shafer-Landau: Wenn wir nicht auch die plausible Vorstellung instrumenteller Gründe aus unserem Weltbild verbannen wollen, dann „we have no choice to em-
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brace the mysteries“²¹ – dann sollte uns die möglicherweise absonderliche oder problematische Vorstellung irreduzibler und inexplikabler Normativität nicht davon abhalten, moralische Werte in unser ontologisches Modell von der Welt aufzunehmen. Das Problem an diesem Einwand ist: Er setzt voraus, dass der Internalist keine andere Wahl hat, als die Normativität von internen Gründen genau als jene Eigenschaft zu verstehen, die der Objektivist moralischen Gründen zuschreibt und die dieser für inexplikabel hält. Das ist aber nicht der Fall. Der Internalist hat die Möglichkeit, die internen Gründen zukommende Eigenschaft der Normativität – die Eigenschaft also, einen normativen Handlungsdruck auszuüben oder mit diesem einherzugehen – auf eine metaphysisch unverdächtige Weise zu explizieren und damit deutlich zu machen, was mit Normativität und Handlungsdruck im Zusammenhang mit internen Gründen gemeint ist. Damit zeigt sich, dass der Internalist keineswegs dazu gezwungen ist, mit seiner Rede von internen normativen Gründen auf die (aus Mackies Sicht) metaphysisch verdächtige und (aus meiner Sicht) unklare Vorstellung inexplizierbarer Normativität zurückzugreifen. Das möchte ich im Folgenden begründen. Der Internalist kann erläutern, was mit seiner Rede von Normativität im Kontext von internen Gründen genau gemeint ist. Und er kann dies auf eine Weise tun, die es ihm erlaubt, den Vorwurf aufrechtzuerhalten, dass die Rede des Objektivisten (bzw. Externalisten) von der Normativität externer oder moralischer Gründe weiterhin äußerst unklar und unverständlich bleibt. Wenn der Internalist davon spricht, dass eine Person P einen internen Grund für eine Handlung h hat, dann kann er (zumindest, wenn er ein Internalist Stemmerscher Prägung ist) explizieren, was er damit meint, indem er erläutert: Damit meine ich nichts anderes, als dass P Handlung h ausführen muss, um zu verhindern, dass etwas geschieht, was P nicht will. Ich ziele damit also darauf ab, dass sich P in einer Situation befindet, in der das Ausführen von h eine notwendige Bedingung dafür ist, dass etwas geschieht, was P will, bzw. dass nicht etwas geschieht, was P nicht will. Wenn P einen Marathon laufen will und es dafür, einen Marathon zu laufen notwendig ist, dass P trainiert, dann muss P trainieren, um etwas zu erreichen, was er will. Und das wird damit auf den Punkt gebracht, dass man sagt, P habe einen internen Grund, zu trainieren.²² Mit dieser Rede von internen Gründen ist im Gegensatz zur Rede von institutionellen Gründen bereits markiert, inwiefern P in seiner Situation unter einem Handlungsdruck steht: P steht unter dem Druck zu trainieren, insofern P, wenn er
21 (Shafer-Landau2003), S. 205. 22 Das Beispiel stammt aus (Stemmer2010), S. 164.
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nicht trainiert, eben nicht erreicht, was er will. Der Druck, unter dem P in seiner Situation steht, ist demnach nichts anderes als der Druck (im Sinne von Zwang oder Notwendigkeit), dass P, um etwas zu erreichen, was er will, trainiert. Stemmer formuliert das wie folgt: Der Druck besteht einfach in dem Vorhandensein des Wollens und der Relation des Müssens — und in nichts mehr. Diese Konstellation bedeutet schon, dass, wenn man anders als ‘gemusst’ handelt, das nicht geschieht, was man will, oder das geschieht, was man nicht will. Und genau darin besteht der Druck.²³
Marco Iorio findet diese Rede von Handlungsdruck unverständlich, weil man nicht verstünde, „warum man die Kombination eines mentalen Zustandes und einer notwendigen Beziehung mit dem Wort ‘Druck’ bezeichnen sollte.“²⁴ Ich denke aber, dass die Druckmetapher hier treffend ist und zudem verständlich gemacht werden kann: Dass P trainieren muss, um einen Marathon zu laufen, kann man auch so ausdrücken: In P’s Situation liegt ein Druck vor, nämlich der Druck im Sinne von Zwang oder Notwendigkeit, dass P trainiert, um einen Marathon zu laufen. P ist dazu gezwungen, er ist dazu genötigt, zu trainieren, um einen Marathon zu laufen. Daraus, dass man das Vorliegen der Notwendigkeitsrelation (also des, wie Stemmer es nennt, „Müssens der notwendigen Bedingung“: P muss h tun, um y zu erreichen) in diesem Sinne als das Vorliegen eines Druckes verstehen kann, zieht die Druckmetapher angesichts der von Stemmer genannten Konstellation ihre Berechtigung. Der Begriff ‘Druck’ in der Metapher des normativen Handlungsdruckes stammt sozusagen von dem Druck des Müssens der notwendigen Bedingung ab. Ihren vollen Bedeutungsgehalt erhält diese Metapher nun dadurch, dass P’s Wollen mit ins Spiel kommt: Weil P y erreichen will, erhält der Druck der Notwendigkeitsrelation seine Relevanz. Wenn man sagt, P stünde unter dem normativen Handlungsdruck, h zu tun, dann sagt man demnach, dass für P der Druck besteht, h zu tun, um etwas zu erreichen, was er will. Man spricht also über einen für den Handelnden relevanten, einen für ihn bedeutsamen Druck. Das ist alles – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nun könnte man meinen, dass damit das Phänomen der Normativität von Gründen letztlich zum Verschwinden gebracht wird. Schließlich wird hier doch die Rede von normativen Gründen und von normativem Handlungsdruck auf die Rede über bloße empirische Tatsachen reduziert: Mit „P hat einen Grund dafür, zu trainieren“ meint man der eben gegebenen Explikation zufolge einfach nur „P muss, um etwas zu bekommen, was er will, trainieren“. Und die Rede von Hand-
23 (Stemmer2008), S. 42. 24 (Iorio2010), S. 155. Den Hinweis auf Iorio verdanke ich Jacob Rosenthal.
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lungsdruck reduziert sich hier auf die Rede davon, dass für P ein relevantes, ein bedeutsames Müssen der notwendigen Bedingung besteht. Und so könnte man fragen: Wo bleibt denn hier die Normativität? Ich denke, der Internalist sollte darauf erwidern: Wer in Situationen, in denen er einer Person einen internen normativen Grund zuschreibt, auf mehr hinaus will, als auf die einfache Tatsache, dass diese Person eine Handlung ausführen muss, um etwas zu erreichen, was sie will, der möge bitte erläutern, worauf genau er damit hinaus will. Was soll denn diese „echte“ Normativität, dieser „genuine“ normative Handlungsdruck sein, der in einer solchen Situation vorliegt und der nicht mit der eben explizierten Rede von internen Gründen und Handlungsdruck auf den Punkt gebracht werden kann? In welchem Sinne soll denn da noch eine Art von Handlungsdruck vorliegen, wie soll man sich diesen Druck vorstellen? Die Antwort, die Objektivisten (d.h. Non-Naturalisten) wie Scanlon, Parfit oder Shafer-Landau geben, lautet: Das ist nicht explizierbar. Das ist eben inexplicable normativity.²⁵ Wie gesagt finde ich diese Antwort unbefriedigend. Sie ändert nichts daran, dass ich nicht recht verstehe, was das für ein Handlungsdruck sein soll, der – dem hier diskutierten Einwand zufolge – nicht nur von externen oder moralischen Gründen, sondern auch von internen Gründen ausgeübt werden soll. Und ich sehe auch nicht, warum der Internalist darauf angewiesen wäre, einen solchen Handlungsdruck anzunehmen, um mit der Rede von internen Gründen Sinn zu verbinden und zu erklären, dass und inwiefern mit dieser Rede ein Unterschied etwa zu der Rede von institutionellen Gründen markiert wird. In der Situation, in welcher der Punker bloß den institutionellen Grund hat, sich die Nase abzuwischen (P hat gemäß der Etikette einen Grund, h zu tun), liegt ein Müssen der notwendigen Bedingung vor, das einfach bedeutungslos und irrelevant für den Punker ist. Hier besteht nur das, so könnte man sagen, institutionelle Müssen: P muss gemäß der Etikette h tun – und dieses Müssen ist, da der Punker keine Wünsche hat, die durch wohlerzogenes Verhalten erfüllt werden, unbedeutend oder belanglos für ihn. Wenn der Punker aber den Wunsch hat, seinen Eltern zu beweisen, wie gut sie ihn erzogen haben, dann erhält dieses institutionelle Müssen eine Relevanz für ihn und, so könnte man sagen, der bloß institutionelle Grund wandelt sich zu einem internen Grund. Mit Stephen Finlay könnte man sagen, dass das institutionelle Müssen der Etikette dann für ihn important²⁶, also bedeutsam ist.
25 Vgl. (Shafer-Landau2003), S.210. Shafer-Landau spricht dort von „[t]he brute inexplicability of the normativity of moral facts“. 26 (Finlay2006).
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Auch ohne die Vorstellung oder Unterstellung einer brute inexplicable normativity und eines ganz eigenartigen Handlungsdruckes kann der Internalist also daran festhalten, dass es interne Gründe gibt und dass Situationen, in denen diese Gründe vorliegen, durch etwas gekennzeichnet sind, das man mit dem Begriff der Normativität auf den Punkt bringen kann. Wer den Begriff der Normativität jedoch für etwas anderes reservieren möchte und glaubt, dass in den Situationen, in denen interne Gründe vorliegen, noch etwas anderes eine wichtige Rolle spielt, etwas, was man aber nicht explizieren oder näher und informativ beschreiben kann, der setzt sich meinem Einwand aus: Warum sollten wir annehmen, dass es in dieser Situation etwas gibt, von dem wir noch nicht einmal genau wissen, was es eigentlich sein soll – etwas, von dem wir also keine klare Vorstellung haben? Auf die Vorstellung dieses „etwas“ können wir, so denke ich, getrost verzichten, ohne dazu gezwungen zu sein, die Rede von internen Gründen aufzugeben und mit ihr Sinn zu verbinden. Mir scheint die internalistische Reduktion bzw. Explikation der Rede von normativen internen Gründen völlig ausreichend dafür zu sein, den Sinn und die Funktion dieser Rede in unserem Alltag zu erhalten und aufzuklären: Mit dem Hinweis auf das Vorliegen von internen Gründen für eine Person geben wir dieser einen Ratschlag, was sie zu tun habe, um einen ihrer Wünsche zu erfüllen. Um solche Ratschläge zu geben, benötigen wir nicht die Annahme ominöser inexplikabler normativer Tatsachen oder Gründe. Damit ist, wie ich meine, gezeigt, dass interne Gründe keine companions in guilt von externen oder moralischen Gründen sind. Interne Gründe lassen sich ohne Verlust verstehen, auch wenn man der objektivistischen Vorstellung von Normativität und normativen Gründen skeptisch gegenübersteht.
5.5 Zweiter Einwand: Epistemische Gründe und Normativität Der zweite Einwand gegen eine Kritik am Objektivismus, die auf die Absonderlichkeit oder die unklare Vorstellung der Normativität moralischer Werte abhebt, lautet: Diese Kritik hat philosophisch inakzeptable Implikationen für unseren Begriff von epistemischen Gründen. Unter der Voraussetzung, dass eine Position, die philosophisch nicht akzeptable Implikationen hat, falsch ist, würde der Einwand, wäre er triftig, meine Kritik im Keim ersticken. Ich werde zeigen, dass das Argument, auf das sich der Einwand stützt, nicht triftig ist, weil dessen zentrale Prämisse falsch ist.
5.5 Zweiter Einwand: Epistemische Gründe und Normativität |
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Russ Shafer-Landau hat in seinem Buch Moral Realism. A Defence²⁷ ein Argument vorgelegt, demzufolge der Internalismus eine philosophisch nicht akzeptable Implikation hat. Dem Internalismus zufolge sind, wie gesagt, normative Gründe immer wunschabhängig, d.h., ob jemand einen normativen Grund hat, hängt von seinen Wünschen ab. Damit verneint der Internalismus die Existenz von externen, also normativen Gründen, die nicht von den Wünschen des Handelnden abhängen. Ich habe in diesem Kapitel erläutert, inwiefern ich die objektivistische Vorstellung moralischer Werte oder Tatsachen problematisch finde: Diese Werte oder Tatsachen sollen Gründe geben, und zwar Gründe, die zum einen unabhängig von Wünschen und zum anderen normativ sind. Mit diesen Tatsachen soll also ganz unabhängig von den Wünschen eines Handelnden ein normativer Handlungsdruck für diesen Handelnden einhergehen. Mein Problem ist, dass ich nicht verstehe, wie man sich diesen Handlungsdruck vorstellen soll. Was genau ist mit diesem wunschunabhängigen Handlungsdruck gemeint? Wenn man hier von normativem Handlungsdruck redet, sollte sich diese Rede nicht irgendwie erläutern lassen? Und wie gesagt finde ich die übliche Antwort des Objektivisten, wonach sich hier nichts explizieren ließe, dass die von ihm beanspruchte Normativität „primitive“ und eben „inexplicable“ sei, unbefriedigend. Ich möchte gerne wissen, was das ist: wunschunabhängige Normativität. Und die Antwort, dass sich das nicht sagen ließe, man aber dennoch davon ausgehen sollte, dass es so etwas gibt, lässt mich ratlos zurück und provoziert die folgende Reaktion: Ich möchte nicht die Existenz von etwas annehmen, von dem sich nicht einmal sagen lässt, was es ist oder wodurch es genau gekennzeichnet ist! Das bedeutet nicht anderes: Ich möchte nicht annehmen, dass es externe Gründe gibt – zumindest solange nicht, bis mir jemand erklären kann, worum es sich bei diesen Gründen genau handelt. Shafer-Landaus Argument ist ein Argument für den vom Objektivisten in dessen ontologischen These vorausgesetzten Externalismus bzw. eine Verteidigung der Annahme, dass es externe Gründe gibt. Der Externalismus besagt: Externalismus: Es gibt externe Gründe, d.h. Gründe, die (i) normativ und (ii) unabhängig von den Wünschen des Handelnden sind. Der Grundgedanke von Shafer-Landaus Argument ist: Die Verneinung des (bzw. der Zweifel am) Externalismus impliziert die Verneinung, dass es externe Gründe für Überzeugungen gibt. Da letztere Verneinung aber – so der Gedanke – philoso-
27 (Shafer-Landau2003).
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phisch inakzeptabel ist, ist auch die Verneinung des Externalismus philosophisch inakzeptabel. Und damit wäre gezeigt, dass eine Kritik des moralischen Objektivismus, die auf dessen notwendiges Element des Externalismus abhebt, philosophisch inakzeptabel ist – zumindest solange diese Kritik sich gegen die Annahme externer Gründe allgemein, und nicht gegen die Annahme externer moralischer Gründe richtet. Da sich meine Kritik oben auf die Annahme externer Gründe (oder Tatsachen) allgemein bezogen hat, betrifft Shafer-Landaus Argument also direkt meine Kritik. Shafer-Landaus Argument lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: (1) Wenn der Externalismus nicht wahr ist, dann gibt es keine externen Gründe, also keine normativen Gründe, die unabhängig von Wünschen sind. (2) Wenn es keine normativen Gründe gibt, die unabhängig von Wünschen sind, dann gibt es keine normativen Gründe für Überzeugungen, die unabhängig von Wünschen sind. (3) Es gibt aber normative Gründe für Überzeugungen, die unabhängig von Wünschen sind. (4) Also gibt es normative Gründe, die unabhängig von Wünschen sind. (2, 3) (K) Also ist der Externalismus wahr. (1, 4) Das Argument geht demnach mit den Prämissen (1) und (2) davon aus, dass die Falschheit des Externalismus impliziert, dass es keine wunschunabhängigen normativen Gründe für Überzeugungen gibt. Prämisse (3) behauptet nun, dass es solche Gründe gibt. Aus (2) und (3) folgt (4): Es gibt externe Gründe, also wunschunabhängige normative Gründe. Aus (4) und (1) folgt, dass der Externalismus nicht falsch, also wahr ist. Das ganze Argument hängt nun von der Wahrheit von Prämisse (3) ab. Shafer-Landau behauptet, dass externe Gründe für Überzeugungen nicht eliminierbar sind, und ich verstehe ihn so, dass er glaubt, die Vorstellung der Existenz solcher Gründe könne nur um den Preis philosophisch inakzeptabler Konsequenzen aufgegeben werden. Um diese Behauptung zu begründen, fordert Shafer-Landau seine Leser auf, sich eine Frau vorzustellen, die weiß, dass bei einem Flugzeugabsturz alle Passagiere ums Leben gekommen sind und dass ihr Bruder unter den Passagieren war, die aber dennoch die Überzeugung beibehält, dass ihr Bruder noch am Leben ist. Das Beispiel lebt von der Annahme, dass das Ausbilden oder Haben der wahren Überzeugung über ihren Bruder keinen Wunsch der Frau erfüllt, sondern dass im Gegenteil das Haben der falschen Überzeugung zu ihrer psychischen Stabilität und der Erfüllung ihrer Wünsche beiträgt. Shafer-Landau stellt nun im Hinblick auf diese Frau fest:
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Indeed, she is, in one sense, behaving irrationally, though also in a way that is fully understandable. She is acting contrary to sufficiently good reasons––reasons that are there to tell her, and anyone in her epistemic situation, that she ought to believe something that she cannot bring herself to believe.²⁸
Das ist auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtend: Es wäre doch absurd, zu behaupten, die Frau habe nur dann einen epistemischen Grund für die Überzeugung, dass ihr Bruder tot ist – nennen wir diese Überzeugung b –, wenn b irgendwie in einer besonderen Beziehung zu ihren Wünschen stünde. Es ist doch nun einmal so, dass b in dieser epistemischen Situation ganz unabhängig von den Wünschen der Frau epistemisch begründet und ihre tatsächliche Überzeugung non-b nicht begründet werden kann. Die Frau hat einen epistemischen Grund für b und sie hat keinen epistemischen Grund für non-b – wer wollte das bestreiten? Shafer-Landau unterstreicht den zugrunde liegenden Gedanken noch weiter, wenn er schreibt: I believe that there is intrinsic reason to think that two and two are four – the fact itself provides one with reason to believe it. One needn’t show that such belief is somehow related to one’s adopted goals in order to justify believing such a thing. If, unusually, success at basic mathematics was entirely unrelated to one’s preferred activities, one would still have good reason to think that two and two were four, not five or three.²⁹
Und auch hier gilt: Es ist in der Tat absurd oder philosophisch inakzeptabel, zu behaupten, es hinge in irgendeiner Weise von den Wünschen eines epistemischen Subjekts P ab, ob dessen Überzeugung, dass zwei und zwei vier ergibt, eine begründete Überzeugung ist. Wenn es aber absurd oder philosophisch inakzeptabel ist, daran zu zweifeln, dass die Frau einen wunschunabhängigen epistemischen Grund für b hat und dass man einen wunschunabhängigen Grund für die Überzeugung hat, dass zwei und zwei vier ergibt, dann ist es eben – so Shafer-Landaus Gedanke – auch absurd oder philosophisch inakzeptabel, daran zu zweifeln, dass (manche) Gründe für Überzeugungen externe Gründe sind. Wer also externe Gründe bezweifelt, der ist auf die absurde Position festgelegt, dass die Frau keinen wunschunabhängigen Grund für b hat und dass man keinen wunschunabhängigen Grund für die Überzeugung hat, dass zwei und zwei vier ergibt. Ich möchte nun zeigen, dass Shafer-Landaus Argument nicht überzeugend ist. Der seinem Argument zugrundeliegende Gedanke unterscheidet nicht angemessen zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen oder Verwendungsweisen der
28 (Shafer-Landau2003), S. 206. 29 (Shafer-Landau2003), S. 206.
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Rede von „Gründen für Überzeugungen“. Wenn man jedoch diese beiden Bedeutungen auseinanderhält, wird ersichtlich, dass der Zweifel an der Existenz externer Gründe nicht die absurde Behauptung impliziert, Überzeugungen ließen sich nicht ohne Bezug zu den Wünschen epistemischer Subjekte begründen oder rechtfertigen. Shafer-Landau vernebelt mit den Kommentaren zu seinen Beispielen einen für den Kontext wichtigen Unterschied zwischen zwei Bedeutungen, in denen von „Gründen für Überzeugungen“, „Gründe für Überzeugungen haben“ und „(das Haben von) Überzeugungen begründen“ die Rede sein kann. In der ersten Bedeutung spricht man von Gründen für Überzeugungen, wenn man zum Beispiel jemanden fragt, welche Gründe er für eine bestimmte Überzeugung hat: Man fragt dann danach, wie er diese Überzeugung begründen kann, d.h. nach den Erwägungen, mittels derer sich nachweisen oder zeigen lässt, dass diese Überzeugung wahr ist. Die Frage „Welche Gründe hast du für die Überzeugung, dass x der Fall ist?“ richtet sich darauf, wie der Angesprochene darauf kommt, dass x der Fall ist. Der Angesprochene ist damit aufgefordert, die Evidenzen oder das Argument dafür, dass x der Fall ist, aufzuzeigen. Indem er die Evidenzen oder das Argument dafür, dass x der Fall ist, aufzeigt, nennt er die Gründe für seine Überzeugung, dass x der Fall ist. Indem man also in diesem Sinne die Gründe für eine Überzeugung nennt, versucht man nachzuweisen, dass das, wovon man überzeugt ist, auch tatsächlich der Fall ist bzw. dass die Überzeugung wahr ist. In diesem Sinne kann man sagen, die Frau aus Shafer-Landaus Beispiel habe einen Grund für die Überzeugung b: Sie kann bzw. man kann ihr mit Bezug auf die Tatsache, dass alle Passagiere tot sind und ihr Bruder unter den Passagieren war, nachweisen, dass ihr Bruder tot ist und dass demnach b wahr ist. „Sie hat in ihrer Situation einen Grund für b und keinen Grund für non-b“ meint dann, dass man nachweisen oder zeigen kann, dass b wahr und non-b falsch ist – und zwar mit Hinweis auf die genannten Tatsachen. Und diese Aussage ist selbstverständlich ganz unabhängig von den Wünschen der Frau wahr. Ob sie also in diesem Sinne einen Grund für b und keinen Grund für non-b hat, ist in keiner Weise wunschabhängig: Die Evidenz oder das Argument dafür, dass ihr Bruder tot ist, hat mit ihren Wünschen nichts zu tun. Man kann also sagen, die Frau hat einen wunschunabhängigen Grund für b – dass b wahr ist, lässt sich einfach unabhängig von ihren Wünschen nachweisen. Daran zu zweifeln, wäre absurd – soweit ist Shafer-Landau zuzustimmen. Aber Shafer-Landau benötigt mehr für sein Argument: Er benötigt den Nachweis für die Absurdität der Behauptung, dass die Frau in einem anderen Sinne von „Gründe für Überzeugungen“ keinen wunschunabhängigen Grund für b hat. Die Rede von „Gründen für Überzeugungen“ in diesem zweiten Sinne hebt nicht darauf ab, dass die Wahrheit von b nachgewiesen werden kann, sondern darauf, dass die Frau im normativen Sinne b ausbilden oder haben muss, dass sie also unter ei-
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nem normativen Handlungsdruck steht, b auszubilden oder zu haben. Wenn man der Frau in diesem Sinne einen Grund für b zuschreibt, dann behauptet man, dass in ihrer Situation ein normatives Müssen existiert, also eine normative Nötigung, b auszubilden. Wenn man sich diese Unterscheidung von zwei Bedeutungen vor Augen führt, kann man zunächst feststellen, worauf der Kritiker des Externalismus klarerweise festgelegt ist: Nämlich darauf, auch die Existenz von wunschunabhängigen Gründen für Überzeugungen im zweiten genannten Sinne zu bezweifeln. Denn wenn es problematisch ist, davon auszugehen, dass irgendetwas in der Welt Handelnde unabhängig von ihren Wünschen dazu nötigt, bestimmte Handlungen auszuführen, dann ist es wohl ebenso problematisch, zu meinen, dass irgendetwas in der Welt epistemische Subjekte unabhängig von ihren Wünschen dazu nötigt, bestimmte Überzeugungen auszubilden. Wer also derart an externen Gründen für Handlungen zweifelt, also daran, dass Personen bestimmte Handlungen ganz unabhängig von ihren Wünschen ausführen müssen, der muss auch an externen Gründen für Überzeugungen zweifeln, also daran, dass Personen bestimmte Überzeugungen ganz unabhängig von ihren Wünschen ausbilden müssen. Die Frage ist nun, ob man mit diesem Zweifel an externen Gründen für Handlungen auch darauf festgelegt ist, zu bezweifeln, dass Gründe für Überzeugungen im ersten genannten Sinne wunschunabhängig sind. Muss also, wer bezweifelt, dass normative Gründe wunschunabhängig sind, dass also Personen unabhängig von ihren Wünschen bestimmte Handlungen ausführen und bestimmte Überzeugungen ausbilden müssen, eo ipso bezweifeln, dass man ganz ohne Bezugnahme auf Wünsche nachweisen kann, welche Überzeugungen von Personen wahr sind und welche nicht? Ich denke, die Antwort ist eindeutig: Nein! Anhand des Beispiels der Frau lässt sich sagen: Wenn der Kritiker des Externalismus bezweifelt oder verneint, dass die Frau b ganz unabhängig von ihren Wünschen ausbilden muss, dann ist er nicht gezwungen, auch daran zu zweifeln, dass sich b mithilfe eines Arguments ganz unabhängig von ihren Wünschen als wahr nachweisen lässt. Die Verneinung, dass sie im zweiten, normativen Sinne Gründe hat, impliziert nicht die Verneinung, dass sie im ersten Sinne Gründe hat, dass man ihr also nachweisen kann, dass b wahr ist. Der Kritiker des Externalismus, also der Internalist, kann konsistent sagen: Die Frau muss b nicht ausbilden, sie steht unter keinem normativen Handlungsdruck, diese Überzeugung auszubilden – schließlich trägt das Ausbilden oder Haben von b nicht zur Erfüllung irgendeines ihrer Wünsche bei –, obwohl b (ihr gegenüber) mit einem Argument als wahr begründet werden kann.
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Diese Behauptung wäre nur dann inkonsistent, wenn gelten würde: (a) Epistemische Subjekte müssen – ganz unabhängig von ihren Wünschen – eine Überzeugung x ausbilden, d.h. sie stehen unter einem normativen Handlungsdruck, diese Überzeugung auszubilden, wenn es Evidenzen oder Argumente dafür gibt, dass diese Überzeugung wahr ist. Nun gibt uns Shafer-Landau leider mit seinen Beispielen kein Argument und keinen Hinweis, warum diese Annahme nicht eliminiert werden kann, warum es also philosophisch nicht haltbar wäre, sie aufzugeben oder gar nicht erst zu machen. Der Grund kann jedenfalls nicht sein, dass man damit die – wie ich zugeben möchte – nicht-eliminierbare Annahme bezweifeln müsste, dass Evidenzen und Argumente für Überzeugungen wunschunabhängig sind. Diese letztere Annahme bleibt schließlich von der These unberührt, dass ein epistemisches Subjekt noch nicht dadurch, dass es wunschunabhängige Evidenzen oder Argumente für die Wahrheit einer Überzeugung gibt, unter einem normativen Druck steht, diese Überzeugung auszubilden. Philosophisch unhaltbar wäre also die Kritik am Externalismus, wenn diese Kritik die Ansicht implizieren würde, dass Evidenzen oder Argumente für die Wahrheit einer Überzeugung von den Wünschen eines epistemischen Subjekts abhängen. Die Kritik am Externalismus impliziert diese Ansicht jedoch nicht. Sie impliziert lediglich die Ansicht, dass es auch im Zusammenhang mit Überzeugungen kein wunschunabhängiges normatives Müssen, also keine wunschunabhängigen normativen, mit einem Handlungsdruck verbundenen Gründe für Überzeugungen gibt. Dass diese Ansicht philosophisch nicht akzeptabel ist oder versucht, etwas zu eliminieren, was nicht eliminierbar ist, hat Shafer-Landau mit seinen Beispielen und Kommentaren nicht nachgewiesen. Meines Erachtens ist man auf den erste Blick geneigt, Shafer-Landau zuzustimmen und zu sagen, dass die Frau durchaus ganz unabhängig von ihren Wünschen die Überzeugung b ausbilden muss, weil man richtigerweise im Auge hat, dass gilt: (b) Um eine wahre und begründete Überzeugung bezüglich des Verbleibs ihres Bruders zu haben und um epistemischen Standards zu genügen, muss die Frau in ihrer Situation, d.h. angesichts der ihr zugänglichen Evidenzen, die Überzeugung b ausbilden. Diese Aussage ist wahr – und zwar ist sie wahr ganz unabhängig davon, welche Wünsche die Frau hat. Es ist einfach so, dass die Frau keine wahre und begründete Überzeugung ausbildet und gegen epistemische Standards verstößt, wenn sie statt b die Überzeugung non-b ausbildet. Aber diese Aussage ist keine Aussage
5.5 Zweiter Einwand: Epistemische Gründe und Normativität |
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über normative Gründe. Hier wird nichts über ein normatives Müssen ausgesagt, sondern über ein Müssen der notwendigen Bedingung. Es ist notwendig, dass die Frau b ausbildet, um eine wahre und begründete Überzeugung zu haben und epistemischen Standards zu genügen. Dieses Müssen ist ebenso wenig normativ wie das Müssen der Etikette aus unserem Beispiel des Punkers: Dieser muss sich ganz unabhängig von seinen Wünschen die Nase abwischen, um ein Gast mit Manieren zu sein, aber das bedeutet nicht, dass er einen normativen Grund dazu hat, dass er sich also im normativen Sinne die Nase abwischen muss. Genauso verhält es sich auch mit dem Müssen der notwendigen Bedingung im Falle der Frau: Die Existenz dieses Müssens bedeutet noch lange nicht, dass sie einen normativen Grund hat, b auszubilden. Um hier einen Zusammenhang nachzuweisen – also einen Zusammenhang zwischen dem Müssen der notwendigen Bedingung und einem normativen Müssen – müsste man aufzeigen, dass gilt: (c) Jede Person muss im normativen Sinne die in ihrer jeweiligen epistemischen Situation wahren und begründeten Überzeugungen haben und epistemischen Standards genügen. Jede Person hat einen normativen Grund, die in ihrer epistemischen Situation wahren und begründeten Überzeugungen zu haben und epistemischen Standards zu genügen. Anders ausgedrückt: Jede Person steht unter einem normativen Druck, die in ihrer Situation wahren und begründeten Überzeugungen zu haben und epistemischen Standards zu genügen. Aber auch den Nachweis für die Geltung dieser These bzw. den Nachweis der Unhaltbarkeit eines Zweifels an der Geltung dieser These gibt uns Shafer-Landau mit seinen Beispielen nicht. Ich sehe nicht, welcher Aspekt an dem Beispiel der Frau aufzeigt, dass folgende Ansicht unhaltbar ist: Es gibt nichts in der Welt, das Menschen ganz unabhängig von ihren Wünschen dazu nötigt, die in ihrer Situation wahren und begründeten Überzeugungen zu haben und epistemischen Standards zu genügen. Und vor allem: Warum sollte diese Ansicht problematischer sein als die Ansicht, dass es nichts in der Welt gibt, das Menschen unabhängig von ihren Wünschen dazu nötigt, moralisch zu sein und z.B. das Foltern von Unschuldigen zu unterlassen? Shafer-Landau behauptet einfach nur, dass die Frau einen normativen Grund für b hat, und wahrscheinlich geht er davon aus, dass sie wie jeder andere Mensch auch unter dem normativen Handlungsdruck steht, wahre und begründete Überzeugungen zu haben und epistemischen Standards zu genügen. Aber er gibt keinen Beweis dafür, dass man daran nur um den Preis philosophisch unhaltbarer Implikationen zweifeln kann. Sein ganzes Argument weist lediglich nach, dass der Zweifel an externen Handlungsgründen den Zweifel an der Vorstellung impliziert, dass Menschen unab-
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hängig von ihren Wünschen dazu genötigt sind, wahre und begründete Überzeugungen auszubilden und vernünftige epistemische Subjekte zu sein. Und dieser Zweifel, so möchte ich mit meiner Kritik an externen Gründen sagen, ist nicht absurd oder offensichtlich unhaltbar, sondern wohl begründet: Was soll denn damit gemeint sein, dass Menschen unabhängig von ihren Wünschen unter einem normativen Druck stehen, wahre und begründete Überzeugungen zu haben und epistemischen Standards zu genügen? Welcher Art ist dieser Druck? Inwiefern soll hier genötigt werden? Diese Fragen sind aus meiner Sicht berechtigt und sie begründen – solange sie nicht befriedigend beantwortet sind – die Verneinung der Existenz externer Gründe für Überzeugungen. Shafer-Landau lässt diese Fragen jedoch unbeantwortet und weist nicht nach, dass die Annahme externer Gründe für Überzeugungen auch ohne eine Antwort auf diese Fragen „ineliminable“ ist. Seine Beispiele zeigen jedenfalls nicht, dass etwas Wesentliches verloren geht, wenn man auf diese Annahme verzichtet. Auch ohne diese Annahme können wir davon sprechen, dass Evidenzen und Argumente für die Wahrheit von Überzeugungen wunschunabhängig sind und dass man in bestimmten Situationen eine bestimmte Überzeugung ausbilden muss, um eine wahre und begründete Überzeugung zu haben. Und wir können auch ohne diese Annahme davon ausgehen, dass in den überwiegenden Fällen jeder Mensch zumindest einen normativen pro tanto-Grund dafür hat, die in seiner epistemischen Situation wahren und begründeten Überzeugungen auszubilden: Dazu brauchen wir nur den Internalismus und die plausible Annahme, dass die meisten Menschen ein Interesse an wahren und begründeten Überzeugungen haben oder dass das Haben von größtenteils wahren und begründeten Überzeugungen der Erfüllung mindestens eines beliebigen Wunsches des jeweiligen epistemischen Subjekts zuträglich ist. Und sollten wir einmal auf eine Person treffen, für die diese Annahme nicht zutrifft, für die also zum Beispiel gilt: „[i]f, unusually, success at basic mathematics was entirely unrelated to [her] preferred activities“³⁰, dann sehe ich nicht, welchen nicht-eliminierbaren Aspekt der Realität wir nicht beachten würden, wenn wir behaupteten, dass diese Person keinen normativen Grund dazu hat, zu glauben, dass zwei und zwei vier ergibt. Um zusammenzufassen: Shafer-Landau misslingt mit seinen Beispielen der Nachweis, dass der spezifische Zweifel an der Existenz externer Gründe für Überzeugungen unhaltbar ist und dass daher ein allgemeiner Zweifel an externen Gründen eine unhaltbare Implikation hat. Entweder beruht sein Argument auf der Unterstellung, dass ein Zweifel an externen Gründen für Überzeugungen die offensichtlich absurde Ansicht impliziert, Evidenzen oder Argumente für die
30 (Shafer-Landau2003), S. 206.
5.6 Schluss |
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Wahrheit von Überzeugungen seien abhängig von Wünschen. Diese Unterstellung hat sich als falsch herausgestellt: Es ist konsistent, zu behaupten, jemand habe keinen wunschunabhängigen normativen Grund, eine Überzeugung x auszubilden, obwohl es ein wunschunabhängiges Argument für die Wahrheit dieser Überzeugung gibt. Sofern Shafer-Landaus Argument also auf dieser Unterstellung beruht, ist es nicht triftig. Oder sein Argument besteht lediglich in der Behauptung, dass es externe Gründe für Überzeugungen gibt – entweder weil es in bestimmten Situationen einfach externe Gründe für bestimmte Überzeugungen gibt oder weil es generell externe Gründe gibt, wahre und begründete Überzeugungen auszubilden und ein vernünftiges epistemisches Subjekt zu sein – und dass man daran nicht ernsthaft zweifeln kann. Damit ist sein Argument aber eben kein Argument, sondern lediglich eine Behauptung. Nichts an den von Shafer-Landau zur Stützung seiner Behauptung angebrachten Beispielen weist nach, dass externe Gründe für Überzeugungen ein nicht-eliminierbarer Aspekt der Realität sind.
5.6 Schluss In diesem Kapitel habe ich versucht zu begründen, warum die objektivistische Vorstellung von moralischen Tatsachen problematisch ist. Der Objektivist behauptet, dass moralische Tatsachen normativ und wunschunabhängig sind, d.h. dass sie externe Gründe geben. Die Vorstellung von externen Gründen kann der Objektivist aber nicht explizieren, er kann nicht erläutern, was unter solchen Gründen genau zu verstehen ist, wie ihre Eigenschaft, einen Handlungsdruck auszuüben und Akteure zu Handlungen zu nötigen, genau zu fassen ist. Aus diesem Grund bleibt mir diese Vorstellung unverständlich und suspekt und bringt mich dazu, die ontologische These des Objektivismus, wonach es externe Gründe gibt, zu bezweifeln. Ich habe dann zwei Argumente untersucht, mit denen sich der Objektivist gegen meine Kritik verteidigen könnte. Diese Argumente würden, wenn sie überzeugend wären, aufzeigen, dass auf die Annahme externer Gründe nicht verzichtet werden kann, auch wenn die zugrundeliegende Vorstellung nicht expliziert werden kann. Ich habe gezeigt, dass diese Argumente nicht überzeugend sind. Weder muss man auf die Vorstellung externer Gründe zurückgreifen, um interne Gründe zu verstehen, noch ist diese Vorstellung unabdingbar für ein Verständnis der Rede von Gründen für Überzeugungen im Sinne von „Begründungen für Überzeugungen“. Weder interne Gründe noch epistemische Gründe sind folglich companions in guilt von externen Gründen. Mit dieser Diskussion möchte ich meine Untersuchung von Argumenten gegen den Objektivismus abschließen. Zwei einschlägige Argumente – das Argu-
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ment aus der Meinungsverschiedenheit und das Argument aus der motivationalen Bedingung – haben sich als nicht überzeugend herausgestellt. Lediglich das von mir in diesem Kapitel dargelegte Argument scheint mir einen Zweifel am moralischen Objektivismus zu begründen. Im folgenden zweiten Teil der Arbeit werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie sich der metaethische Relativismus von diesem Argument ausgehend als alternative Analyse der moralischen Sprache und Praxis verstehen lässt und welche Probleme sich dieser Position stellen: Ist man mit meiner Kritik an der ontologischen Voraussetzung des Objektivismus, wie Mackie meint, auf eine Irrtumstheorie festgelegt, oder kann der metaethische Relativismus seinen Anspruch einlösen, eine stabile und plausible Position zwischen Objektivismus und Irrtumstheorie zu sein?
| Teil II: Metaethischer Relativismus
6 Metaethischer Relativismus 6.1 Einleitung Angenommen, mein Argument aus Kapitel 4 gegen den moralischen Objektivismus ist überzeugend: Es gibt keine irreduzibel normativen Tatsachen oder Eigenschaften. Was bedeutet das für unser Verständnis der Moral? Genauer: Was bedeutet das für unser Verständnis der moralischen Sprache und Praxis? Sind wir mit diesem Ergebnis nicht dazu gezwungen, moralische Urteile allesamt als falsch zu verstehen und unsere moralische Praxis als durchzogen von einem grundlegenden Irrtum? Müssen wir uns also Mackie anschließen und eine Irrtumstheorie für moralische Urteile akzeptieren? Eine Irrtumstheorie folgt jedenfalls, wenn wir mit Mackie und dem Objektivisten davon ausgehen, dass moralische Urteile tatsächlich Urteile über irreduzibel normative Tatsachen oder Eigenschaften sind. Der Irrtumstheoretiker ist der Überzeugung, dass die Annahme, moralische Tatsachen seien „objectively authoritative“¹, also irreduzibel normativ, ein derart essentieller Bestandteil der moralischen Sprache und Urteilspraxis ist, dass diese Annahme die Wahrheitsbedingungen von moralischen Urteilen bestimmt. Doch diese Überzeugung ist nicht unumstritten: So sind zum Beispiel Non-Kognitivisten davon überzeugt, dass moralische Urteile gar keine deskriptivistischen Urteile sind und sie insofern auch keine Urteile über irreduzibel normative Tatsachen oder Eigenschaften sein können. Mit moralischen Urteilen werden dem Non-Kognitivisten zufolge konative Einstellungen ausgedrückt, Einstellungen also, die nicht als repräsentationale Zustände zu verstehen sind, sondern als „wunschartig“. Dass es irreduzibel normative Tatsachen oder Eigenschaften nicht gibt, stellt für den Non-Kognitivisten also überhaupt kein Problem dar: Da wir mit unseren moralischen Urteilen gar nicht versuchen, irgendwelche Tatsachen zu beschreiben oder zu repräsentieren, stellt sich in dieser Sicht gar nicht die Frage, ob es moralische Tatsachen gibt oder nicht. Doch auch der Relativist widerspricht Mackies Annahme: Moralische Urteile sind keine Urteile über irreduzibel normative Tatsachen oder Eigenschaften. Es sind Urteile über standard- oder zweck-relationale Eigenschaften. Es ist also – so zumindest lautet die These des Relativisten – nicht die moralische Sprache und Praxis, die von einem Irrtum gekennzeichnet ist, sondern die metaethischen Vorstellungen von Mackie und des Objektivisten über die moralische Sprache und Praxis. Der Relativismus richtet sich also gegen die objektivistische Vorstel-
1 (Mackie1977), S. 38.
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lung, derzufolge moralische Urteile wie „Abtreibung ist moralisch falsch“ als das Urteil „Abtreibung ist absolut moralisch falsch“ oder „Abtreibung ist moralisch falsch simpliciter“ zu interpretieren und damit von bloß standard- oder zweck-relationalen Urteilen zu unterscheiden sind. Mit dem Zusatz absolut oder simpliciter will der Objektivist zum Ausdruck bringen, wodurch sich moralische Urteile von relationalen Urteilen unterscheiden: Mit moralischen Urteilen wie dem genannten wird nicht behauptet, dass eine Handlung gemäß eines Standards falsch ist oder dass eine Handlung falsch ist, um einen bestimmten Zweck zu erreichen – denn eine solche Behauptung wäre keine normative Behauptung, also keine Behauptung über das Bestehen eines normativen Grundes gegen eine Handlung, sondern lediglich eine Behauptung über das Bestehen eines (institutionellen) Müssens der notwendigen Bedingung.² Stattdessen wird mit moralischen Urteilen dem Objektivisten zufolge behauptet, dass eine Handlung falsch in dem Sinne ist, dass es normative Gründe gibt, diese Handlung zu unterlassen. Und genau das will der Objektivist zum Ausdruck bringen, indem er sagt, dass moralische Urteile objektiv oder absolut und nicht-relational sind – und dabei beruft sich der Objektivist auf das vor-reflexive Verständnis des common sense. Der Relativist hält dieses vor-reflexive Verständnis moralischer Urteile für einen Irrtum. Auch wenn er mit Mackie der Auffassung ist, dass es irreduzibel normative Tatsachen nicht gibt, glaubt er nicht wie dieser, dass moralische Urteile deshalb defizitär wären. James Dreier grenzt den metaethischen Relativismus von der Irrtumstheorie, die er als Nihilismus bezeichnet, ab, wenn er schreibt: Relativism can [...] be seen as a tactical retreat made by common sense in the face of the nihilist threat. Persuaded that absolute morality is a pipe dream, a relativist suggests that we might still salvage much of moral practice, moral thought, and moral talk by relativizing. Relative morality may be less than common sense could hope for, but it is better than nihilism’s nothing.³
Der „taktische Rückzug“ des Relativisten besteht Dreier zufolge darin, zunächst zuzugeben, dass der common sense von der Annahme einer absoluten Moral ausgeht und dass sich diese Annahme als ein Hirngespinst erweist, der common sense also in dieser Hinsicht irrt. Der Relativist besteht aber darauf, dass mit diesem Irrtum nicht die Falschheit oder Sinnlosigkeit der gesamten moralischen Praxis einhergeht. Insbesondere besteht er darauf, dass trotz dieser irrigen Annahme einer objektiven Moral unsere moralischen Urteile wahr sein können und dies auch (zumindest manchmal) sind. Nun klingt Dreiers Rede von „relativizing“ so, als
2 Siehe dazu Kapitel 4.4. 3 (Dreier2006), S. 241.
6.1 Einleitung |
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biete sich der Relativismus als Vorschlag zur Reformierung unserer moralischen Sprache an: Einer solchen Interpretation von Dreier zufolge, würde der Relativismus vorschlagen, moralische Urteile in Zukunft zu relativieren, um ihnen damit die Möglichkeit zu geben, wahr zu sein, und damit die moralische Praxis zu retten. Aber Dreier möchte den Relativismus gerade nicht als einen Reformvorschlag verstanden wissen, sondern als eine Position, die gegen den common sense nachweist, dass moralische Urteile immer schon relativiert sind – und von daher immer schon wahr sein können und dies eben auch manchmal sind. Um das plausibel zu machen, nutzt Dreier eine Analogie zur Physik. Er macht darauf aufmerksam, dass unsere alltäglichen Urteile über Masse, Bewegung und zeitliche Dauer keineswegs als relativ erscheinen. Und doch hat die moderne Physik nachgewiesen, dass der common sense in dieser Beziehung falsch liegt, weil die entsprechenden Urteile implizit relativ zu einem spezifischen Referenzrahmen gefällt werden. Nun gibt jedoch die physikalische Entdeckung der Relativität von Masse, Bewegung und Zeit keinen Anlass dazu, unsere alltäglichen Urteile als falsch zu bezeichnen. Die Aussage eines Polizisten, ein Verdächtiger habe sich eine Stunde in einem Apartment aufgehalten, muss nicht falsch sein, auch wenn der Polizist implizit voraussetzt, dass das Verstreichen von Zeit eine absolute Angelegenheit ist. Dreier schreibt: In a very straightforward sense, the policeman’s intention was to name an absolute duration, of the sort that is simply not recognized in relativistic physics. Is the policeman’s testimony thereby impeached? Has he said something false? We would not ordinarily say so. To put it briefly: the policeman’s judgement had a false presupposition behind it. His own conception of the world adequate and accurate enough for his own purposes, is not really correct. But the false presupposition, the incorrect theory that the policeman himself would give if carefully questioned, does not seem to infect the integrity and veracity of his ordinary, first-order judgements. What the policeman said, we believe, is true; only his background absolutist theory of it is mistaken. So it is with ordinary moral judgement, a relativist may say.⁴
Die Idee von Dreier ist also, dass moralisch Urteilende – analog zu Urteilenden, die über die zeitliche Dauer eines Ereignisses sprechen – immer schon implizit auf einen bestimmten Referenzrahmen Bezug nehmen, auch wenn sie fälschlicherweise davon ausgehen, absolute Urteile zu fällen. Dieser Irrtum beeinträchtigt jedoch nicht die Möglichkeit, dass moralische Urteile relativ zu dem von ihrem Äußerungskontext bestimmten Bezugsrahmen wahr sind – ebenso wenig, wie die falsche Voraussetzung des Polizisten bezüglich der Absolutheit seines Urteils die Möglichkeit ausschließt, dass er ein relativ zu seinem Bezugsrahmen wahres Ur-
4 (Dreier2006), S. 261f.
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teil fällt. Der Polizist mag implizit voraussetzen, dass die Wahrheitsbedingungen seiner Beschreibung (im hier relevanten Sinne) kontextunabhängig sind; das ändert aber nichts daran, dass sie tatsächlich kontextabhängig sind und der Polizist mit seinem Urteil sensibel für die von seinem Kontext festgelegten Wahrheitsbedingungen ist. Stephen Finlay bringt diese relativistische Strategie auf den Punkt: Dem Relativisten zufolge sind die essentiellen Anwendungsbedingungen (essential application conditions) für moralische Konzepte oder Begriffe, also die Kriterien für die korrekte Anwendung moralischen Vokabulars, unabhängig von der Präsupposition, dass es sich um absolute Konzepte oder Begriffe handelt. Darin besteht die Analogie z.B. zum Begriff der Bewegung: [...] the essential application conditions employed for motion and moral wrongness are (I believe) relational – even in the use of those who avow absolutist theories of motion and morality. An object is judged to have moved if and only if it is supposed that it has changed position relative to some frame or reference. An action is judged to be morally wrong if and only if it is supposed that it frustrates certain end or violates certain standards.⁵ Even if anybody genuinely does assume absolute authority in their practice of moral judgement, therefore, Mackie and the other error theorists still err in maintaining an error theory about such persons’ moral judgements, for the reason that this absolutist error does not infect their concepts or the meaning of their words.⁶ It is because of this that we [the relativists] rightly attribute relational moral and motion concepts and terms even to the absolutist, and justifiably claim that he misunderstands his own language and thought.⁷
Der Relativist kann demnach also dem Irrtumstheoretiker zustimmen, dass moralisch Urteilende einem Irrtum unterliegen, insofern sie unterstellen, absolute Urteile zu fällen. Aber gegenüber dem Irrtumstheoretiker macht er geltend, dass dieser Irrtum lediglich das vortheoretische (metaethische) Selbstverständnis der Urteilenden betrifft und dieses Selbstverständnis ihrer eigenen Urteilspraxis irgendwie äußerlich bleibt: Auch wenn moralisch Urteilende davon ausgehen, absolute Urteile zu fällen, fällen sie eigentlich immer schon relative Urteile und daran ändert nichts, dass sie ihre eigene Praxis missverstehen. Die moralische Urteilspraxis bedarf demnach keiner Revision – sie ist auch nach der relativistischen „Entdeckung“ gerechtfertigt, weil diese Entdeckung lediglich aufdeckt, was moralisch Urteilende – versteckt unter der Decke ei-
5 (Finlay2008), S. 365. 6 (Finlay2008), S. 368. 7 (Finlay2008), S. 365.
6.1 Einleitung |
141
ner objektivistischen Interpretation – eigentlich tun, wenn sie moralisch urteilen. Ich möchte an dieser Stelle zwei Arten unterscheiden, in denen eine metaethische Position revisionär sein kann: Eine metaethische Position ist revisionär, wenn sie entweder (i) einen Vorschlag zur Revision unserer moralischen Sprache macht oder (ii) ein vortheoretisches Verständnis der moralischen Sprache und Praxis revidiert oder korrigiert. Der metaethische Relativismus ist nicht-revisionär im ersten Sinne, aber revisionär im zweiten Sinne. (i) Der metaethische Relativismus, wie ich ihn in den folgenden Kapiteln diskutieren werde, verfolgt das Projekt einer deskriptiven Metaethik. Die relativistische These ist eine These über die tatsächliche Bedeutung moralischer Ausdrücke oder moralischer Urteile und kein Vorschlag zur Revision der Bedeutung dieser Ausdrücke oder Urteile. Wie wir an den Zitaten von Dreier und Finlay sehen können, geht der Relativist davon aus, dass unsere moralische Sprache, so wie sie ist, im Großen und Ganzen legitim und gerechtfertigt ist und Sinn macht. Er möchte also keinen Vorschlag zur Revision dieser Sprache machen, um so deren Defizite zu beheben – und zwar weil er gar nicht denkt, sie sei in einer oder mehreren wichtigen Hinsichten defizitär. So glaubt er zum Beispiel nicht wie der Irrtumstheoretiker, dass moralische Urteile allesamt falsch sind, und bietet seine Theorie dann als Vorschlag an, wie man die moralische Sprache in Zukunft verwenden sollte, damit moralische Urteile wahr sein können. Er behauptet also nicht: „Da moralische Urteile Urteile über irreduzible normative Tatsachen sind, es solche Tatsachen aber nicht gibt, sind diese Urteile allesamt falsch. Daher sollten wir unsere moralische Sprache so reformieren, dass moralische Urteile wenigstens wahr sein können. Also lasst uns mit moralischen Ausdrücken über standard-relationale Eigenschaften sprechen.“ Der relativistischen Analyse zufolge sind moralische Urteile schon immer Urteile über standard-relationale Eigenschaften und können daher wahr sein – dafür bedarf es keiner Revision moralischer Ausdrücke oder Begriffe. In diesem Sinne will der metaethische Relativismus eine deskriptive und nicht-revisionäre Metaethik anbieten: Revisionismus 1: Eine metaethische Position ist revisonär(1) , wenn sie eine Revision unserer moralischen Sprache vorschlägt, d.h. wenn sie vorschlägt, unsere jetzige moralische Sprache zu reformieren oder durch eine andere Sprache zu ersetzen. (ii) Nun ist der Relativismus in einem anderen Sinne eine revisionäre Metaethik: Sowohl Dreier als auch Finlay gehen mit dem Objektivisten davon aus, dass die
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vortheoretische Metaethik des common sense, also das alltägliche Verständnis der moralischen Praxis, objektivistisch ist. Demzufolge gehen moralisch Urteilende vor-reflexiv davon aus, dass ihre Urteile nicht lediglich standard-relational oder auf irgendeine andere Weise relativiert sind, sondern objektiv oder absolut. Der Objektivist redet unter anderem auch deshalb davon, dass es eine presumption in favour of objectivism or realism gebe, dass es also schon deshalb einen – wenn auch nicht sehr gewichtigen – Grund gebe, eine objektivistische Metaethik für die richtige zu halten, weil das alltägliche Verständnis der Moral objektivistisch sei. Nun könnte man zum einen darauf verweisen, dass der common sense in dieser Hinsicht gar nicht so eindeutig zu interpretierende Intuitionen oder Ansichten hat und dass es ja vor allem nicht wenige Menschen mit relativistischen Intuitionen gibt – ich hatte in der Einleitung zu dieser Arbeit darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Relativismus außerhalb philosophischer Fachkreise einiger Beliebtheit erfreut. Damit wäre aber gerade fraglich, ob der Relativismus tatsächlich eine Revision des common sense darstellt und nicht vielmehr eine Präzisierung oder Aufklärung. Wie dem auch sei: Zum anderen ist nämlich auch fraglich, ob eine Position, die eine Revision des vor-reflexiven Verständnisses der moralischen Sprache und Praxis zur Folge hat, schon allein deshalb an Plausibilität verliert – und sei es auch nur in ganz geringer Weise. Mir scheint ein methodologisches Prinzip, demzufolge es eine prima facie-Rechtfertigung oder ein prima facie-Hinweis auf die Wahrheit bestimmter Überzeugungen über einen Gegenstand ist, wenn der common sense diese Überzeugungen hat, nicht überzeugend zu sein. Generell scheint mir der „Vorschuss“, den wir dem common sense in einem Bereich zugestehen, davon abzuhängen, wie komplex dieser Bereich gestaltet ist und wie klug wir den normalen Menschen im Hinblick auf Einsichten in diesem Bereich einschätzen.⁸ Die Geschichte der Metaethik zeigt, dass es unter, wie wir annehmen können, klugen Leuten zum Teil extrem divergierende Ansichten gibt. Wie sollte da ausgerechnet der common sense als wie auch immer schwacher tie-breaker fungieren können? Ich möchte jedenfalls davon ausgehen, dass der Relativismus in folgendem Sinne revisionär ist und dass das alleine noch keinen oder zumindest keinen ausschlaggebenden Grund darstellt, diese Position als unplausibel zu bewerten: Revisionismus 2: Eine metaethische Position ist revisionär(2) , wenn sie eine Revision oder Korrektur unseres vortheoretischen Verständnisses der moralischen Sprache impliziert.
8 So auch (Joyce2015).
6.2 Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit |
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Wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde, hat die deskriptive Metaethik des Relativisten eine Implikation, die scheinbar bedeutet, dass diese Position revisionär in einem bisher noch nicht genannten Sinne ist.
6.2 Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit Wenn man genauer hinsieht, zeigt sich, dass mit dem relativistischen Nachweis der Möglichkeit wahrer moralischer Urteile noch längst nicht das Versprechen einer Rechtfertigung unserer moralischen Praxis eingelöst ist. Dieses Versprechen verbindet zum Beispiel Dreier mit dem Relativismus, wenn er schreibt: „[A] relativist suggests that we might still salvage much of moral practice, moral thought, and moral talk.“⁹ Es scheint aber so zu sein, dass das von Dreier und Finlay zugegebene objektivistische Selbstverständnis moralisch Urteilender durchaus ihre Urteilspraxis „infiziert“ und bestimmte charakteristische Aspekte dieser Praxis mit einer relativistischen Analyse schwer zu vereinbaren sind. Mit der relativistischen „Rekonstruktion“ der Wahrheit moralischer Urteile geht nämlich das sogenannte Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit einher. Dieses Problem zeigt, so scheint es jedenfalls, revisionäre Implikationen des Relativismus auf, die nicht nur das vortheoretische Selbstverständnis moralisch Urteilender betrifft. Das Problem lässt sich anhand des folgenden, für unsere moralische Urteilspraxis wohl charakteristischen Beispiels erläutern: Ein Richter steht vor der Frage, ob es moralisch richtig ist, den, wie er weiß, unschuldigen Irwing zum Tode zu verurteilen, um einen ansonsten stattfindenden Aufstand eines wütenden Mobs zu verhindern, der zu vielen Toten und Verletzten führen würde. Der Richter ist Kantianer – nennen wir ihn also Kant und nehmen mit dem Relativisten an, dass er einen kantianischen Standard hat. Er kommt nach einiger Überlegung zu einem Urteil, das er seinem Freund Smart, der einen utilitaristischen Standard hat, mitteilt. Zwischen beiden entwickelt sich nun folgender Disput: [Irwing] Kant: „Es ist moralisch falsch, den unschuldigen Irwing zu verurteilen.“ Smart: „Es ist nicht moralisch falsch, den unschuldigen Irwing zu verurteilen. Dein Urteil ist nicht korrekt!“
Würden wir Zeuge dieses Dialogs, gingen wir sicherlich davon aus, dass Kant und Smart eine Meinungsverschiedenheit haben. Zudem würden wir Smarts Bewertung von Kants Urteil als angemessen (wenn auch nicht unbedingt als korrekt)
9 (Dreier2006), S. 241.
144 | 6 Metaethischer Relativismus
verstehen – schließlich urteilt Smart, dass es moralisch richtig ist, Irwing zu verurteilen, und insofern ist es für ihn angemessen, Kants Urteil als falsch zu bezeichnen. Der metaethische Relativismus wird nun üblicherweise als eine Form des Sprecher-Relativismus verstanden. Demzufolge hängen die Bedeutung oder die Wahrheitsbedingungen eines moralischen Urteils vom Standard des Urteilenden, dem Sprecher, ab. Moralische Urteile der Form „X ist moralisch falsch“ sind demnach elliptisch und drücken die semantisch vervollständigte Proposition X ist relativ-zu-Standard-s moralisch falsch aus, wobei der Standard s (üblicherweise) der Standard des Sprechers ist. Wenn jedoch die relativistische These richtig ist, dann ist es möglich, dass die moralischen Urteile von Kant und Smart beide wahr sind – und zwar dann, wenn Kant und Smart unterschiedliche Standards haben und ihre jeweiligen Urteile relativ zu diesen Standards wahr sind. Nehmen wir also an, dass Kant einen kantianischen Standard hat und Smart einen utilitaristischen. Wenn Kant nun urteilt, dass es moralisch falsch ist, Irwing zu verurteilen, dann drückt er dem Relativisten zufolge die Proposition Es ist relativ-zum-kantianischen-Standard moralisch falsch, Irwing zu verurteilen aus. Nehmen wir an, dass diese Proposition wahr ist: Es ist der Fall, dass es relativ-zum-kantianischen-Standard moralisch falsch ist, Irwing zu verurteilen. Für Smart nehmen wir Folgendes an: Sein Urteil drückt die Proposition Es ist relativ-zum-utilitaristischen-Standard moralisch richtig, den unschuldigen Irwing zu verurteilen aus und diese Proposition ist wahr. Wenn der Relativist nun Kant und Smart über diesen (angeblichen) Sachverhalt bezüglich ihrer moralischen Urteile aufklärt, dann dürfte der genannte Disput zwischen den beiden nicht stattfinden. Denn dann weiß Smart, dass Kants Urteil wahr ist, und er müsste dann eigentlich zugeben, dass Kants Urteil wahr ist. Und ebenso müsste Kant zugeben, dass Smarts Urteil wahr ist. Kant und Smart müssten dann aber auch einsehen, dass sie keine wirkliche Meinungsverschiedenheit haben. Worin besteht das Problem des mit dem Relativismus einhergehenden Verlusts einer Meinungsverschiedenheit zwischen Kant und Smart? Das Problem ist nicht, dass Smart nun, wenn Kant den unschuldigen Irwing frei spricht, sagen muss: „Kein Problem! Da habe ich nichts dagegen. Mach nur! Schließlich haben wir ja keine Meinungsverschiedenheit!“ So etwas muss Smart zumindest nicht aus Sicht von relativistischen Positionen sagen, die davon ausgehen, dass sowohl die moralische Perspektive (oder der moralische Standard) als auch die relativ zu dieser Perspektive (oder diesem Standard) gefällten Urteile für den Urteilenden eine praktische Relevanz haben, weil diese moralische Perspektive Ausdruck dessen ist, worum er sich kümmert oder was für ihn von Bedeutung ist. Typischerweise stehen moralisch Urteilende relativistischen Positionen zufolge in einer besonde-
6.2 Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit |
145
ren Beziehung zu dem Standard, auf den sie sich in ihren Urteilen beziehen: Sie „unterschreiben“ („subscribe“) ihn, wie Björnsson/Finlay das ausdrücken. Mit einer „Unterschrift“ unter einen Standard geht die Präferenz einher, dass sich alle Menschen in ihrem Handeln an diesem Standard orientieren. Finlay schreibt z.B.: Moral standards or ends are of pressing concern to ordinary, decent people, and their importance to us typically overrides the importance of other standards and ends. [...] We will not insist on others’ compliance with the rules of etiquette or chess at the expense of their happiness because we typically are disposed to care more about the latter than the former. But we care much more about (e.g.) the welfare of children than we do about the happiness of those who may be abusing them, and for this reason we do not withdraw our moral appraisals of a person or his actions in response to recognizing his personal reasons.¹⁰
Auf Kant und Smart übertragen bedeutet das: Für Smart ist sein utilitaristischer Standard und allgemeine Konformität mit diesem Standard von so hoher Bedeutung, dass er Kants mit dessen Urteil einhergehende Präferenz für allgemeine Konformität mit dem kantianischen Standard und für einen Freispruch von Irwing nicht akzeptieren kann. Auch wenn Smart zugeben könnte, dass Kants Urteil wahr ist, ändert das nichts daran, dass er mit dessen Präferenz nicht übereinstimmt: Sie haben ein disagreement in attitude, also einen Konflikt zwischen non-doxastischen oder non-kognitiven Einstellungen, die sie zu miteinander nicht zu vereinbarenden Handlungen und zur Ablehnung der jeweils anderen Handlungspräferenz (und Entscheidung) motivieren. Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit besteht also nicht darin, dass der Relativismus das Bestehen eines Konfliktes zwischen Kant und Smart leugnen müsste. Das Problem ist dagegen, dass mit dem Verlust einer doxastischen Meinungsverschiedenheit auch die Möglichkeit verloren geht, die für unsere moralische Praxis charakteristischen Dispute zu haben. Wenn Smart aufgrund seiner moralischen Perspektive etwas dagegen hat, dass Kant den unschuldigen Irwing frei spricht, dann kann er das nicht mehr zum Ausdruck bringen, indem er Kants Urteil als falsch bezeichnet. Moralische Dispute müssten dann wie folgt ablaufen: Kant: „Es ist richtig, Irwing freizusprechen.“ Smart: „Stimmt, du hast Recht! Aber es ist falsch, Irwing freizusprechen. Wenn du es doch tust, werde ich das nicht akzeptieren.“
10 (Finlay2008), S. 11.
146 | 6 Metaethischer Relativismus
Unsere Praxis moralischer Auseinandersetzung erscheint vor dem Hintergrund der relativistischen These genauso fehl am Platz wie folgender Disput zwischen Bruce und Brad: Bruce: „Ich habe Lust, heute abend mit dir ins Kino zu gehen.“ Brad: #„Das ist falsch! Ich habe keine Lust, heute abend mit dir ins Kino zu gehen.“
Bruce und Brad haben einen praktischen Konflikt, aber die Reaktion von Brad ist sicherlich nicht angemessen. Unsere moralische Praxis setzt dagegen voraus, dass Smarts Bewertung von Kants Urteil angemessen (wenn auch nicht unbedingt korrekt) ist. Diese Praxis scheint also vorauszusetzen, dass in solchen Fällen wie Irwing nicht nur ein praktischer Konflikt, sondern ein Konflikt zwischen doxastischen Einstellungen, also deskriptiven Überzeugungen besteht. Zur Rechtfertigung unserer moralischen Urteilspraxis reicht es folglich nicht aus, wenn der Relativist aufzeigt, dass moralische Urteile wahr sein können und dass in Fällen wie Irwing ein praktischer Konflikt zwischen den Urteilenden besteht. Unsere moralische Praxis ist zu einem großen Teil so wie in Irwing durch Bewertungen der moralischen Urteile von anderen gekennzeichnet. Bewertungen, wie sie in Irwing gemacht und präsentiert werden, sind mit einem Relativismus aber scheinbar nicht vereinbar. Solche Bewertungen setzen, so scheint es jedenfalls, voraus, dass die involvierten moralischen Urteile eine doxastische Meinungsverschiedenheit konstituieren. Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit stellt jedoch nicht nur die Angemessenheit moralischer Konversationen in Frage, wie sie in Irwing zum Ausdruck kommen. Auch unsere anderen konversationalen und nichtkonversationalen Praktiken sind von diesem Problem betroffen und dürften vor dem Hintergrund des Relativismus in ihrer charakteristischen Form nicht mehr stattfinden. Das kann man anhand der beiden folgenden Fälle veranschaulichen: [Smarts Bericht] Smart sagt zu einem Bekannten, nachdem er von Kants Urteil erfahren hat: „Kant glaubt, dass es moralisch richtig ist, Irwing frei zu sprechen. Aber diese Überzeugung ist falsch!“
Mit dem Relativismus bleibt aber unverständlich, wie Smarts Bewertung angemessen sein kann, wenn Smart über den Relativismus und Kants Standard aufgeklärt ist.
6.2 Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit |
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[Smarts Inferenz] Nachdem er von Kants Urteil erfährt, schließt Smart: (1) Kant ist der Überzeugung, dass er Irwing freisprechen muss. (2) Es ist aber nicht der Fall, dass er Irwing freisprechen muss. (K) Also ist Kants Überzeugung falsch.
In diesem Fall scheint Smarts Schluss nicht gerechtfertigt zu sein, wenn wir voraussetzen, dass der Relativismus wahr ist und Smart darüber aufgeklärt ist. Smart dürfte dann in Reaktion auf Kants Urteil nicht mehr so schließen, wie er es im Beispiel tut – und das, obwohl er doch der Meinung ist, dass Irwing verurteilt werden soll. Das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit bedeutet für den metaethischen Relativismus also, dass er – obwohl er keine Revision unserer moralischen Sprache vorschlägt – revisionäre Konsequenzen hat: Unter der Voraussetzung seiner semantischen Analyse sind bestimmte Bereiche unserer moralischen Urteilspraxis, nämlich jene, in denen wir moralische Urteile bewerten, scheinbar nicht gerechtfertigt. Wie wir am Beispiel von Irwing und den anderen Beispielen gesehen haben, wird mit dem Relativismus fraglich, dass gängige Praktiken unserer Urteilspraxis angemessen und lizenziert sind. Der Relativismus scheint also die Konsequenz zu haben, dass diese Praktiken aufzugeben oder durch andere Formen zu ersetzen sind. Damit ist diese Position scheinbar revisionär in einem dritten, oben noch nicht aufgeführten Sinne: Revisionismus 3: Eine Metaethik ist revisionär(3) , wenn sie eine Revision, Korrektur oder Aufgabe von Bereichen unserer moralischen Praxis zu Folge hat oder nahelegt. Nun kann man sich sicherlich darüber streiten, ob es für eine metaethische Position problematisch ist, wenn sie revisionär in dieser allgemeinen Form ist. Sollten wir wirklich davon ausgehen, dass eine metaethische Position alle Bereiche unserer moralischen Praxis, und seien sie noch so peripher, rechtfertigen können muss? Ich möchte hier nicht in eine Diskussion des Für und Wider einsteigen und stattdessen dem Relativisten ein Interesse an der Erfüllung der Bedingung unterstellen, dass eine Position nicht revisionär in folgendem Sinne sein sollte: Revisionismus 3*: Eine Metaethik ist revisionär(3*) , wenn sie eine Revision, Korrektur oder Aufgabe von elementaren, charakteristischen und allgegenwärtigen Bereichen unserer moralischen Praxis zu Folge hat oder nahelegt.
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Auch hier kann man sich natürlich wieder darüber streiten, wann ein Bereich der moralischen Praxis elementar und charakteristisch ist. Ich möchte aber voraussetzen, dass sich alle Parteien darauf einigen können, dass Bewertungspraktiken, wie wir sie anhand der Beispiel wie Irwing kennengelernt haben, elementar und charakteristisch für moralische Diskurse sind, und dass eine Position, die eine Revision oder gar Aufgabe dieser Praktiken nahelegt, ein Problem hat. Ich gehe daher im Rest der Arbeit davon aus, dass der Relativist nicht revisionär(3*) sein will. Um diesen Anspruch einzulösen, muss der Relativist also dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit entgehen – entweder indem er aufzeigt, dass sich ihm dieses Problem gar nicht stellt, oder indem er argumentiert, dass mit dem Problem keine revisionären Implikationen verbunden sind –, und die Frage ist, wie ihm das gelingen kann. Prinzipiell kann der Relativismus diesem Problem entgehen, indem er die empirische These aufstellt, dass alle Menschen relativ zu ein und demselben Standard moralisch urteilen. Der Relativismus begründet seine Position aber zumeist unter Hinweis auf das verbreitete Phänomen rational (scheinbar) unauflösbarer moralischer Meinungsverschiedenheiten, das ihm zufolge gegen einen Objektivismus und für die Auffassung spricht, dass die Wahrheit moralischer Urteile standard-relativ ist und verschiedene Personen unterschiedliche Standards besitzen. Die genannte Strategie steht demnach in einer Spannung mit einer der Hauptmotivationen für relativistische Theorien. Im Folgenden soll es daher um die Frage gehen, wie der Relativismus vor dem Hintergrund der Annahme, dass es eine Pluralität von moralischen Standards gibt (und geben kann), das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit lösen und seinem nicht-revisionären Anspruch gerecht werden kann. In den beiden folgenden Kapiteln werde ich verschiedene Versuche vorstellen, den Relativismus mit den exemplarisch an Irwing, Smarts Bericht und Smarts Inferenz dargestellten Praktiken der Bewertung moralischer Urteile zu vereinbaren. Dabei lassen sich diese Versuche in zwei Strategietypen einteilen: Mit dem ersten Strategietyp wird der Anspruch verfolgt, den Relativismus so zu formulieren, dass sich auch unter der Voraussetzung seiner semantischen Analyse moralischer Urteile die Existenz einer genuinen, doxastischen Meinungsverschiedenheit in Fällen wie Irwing bestätigen lässt. Demgegenüber gibt der zweite Strategietyp diesen Anspruch auf. Stattdessen wird versucht zu zeigen, dass der mit dem Relativismus einhergehende Verlust von doxastischen Meinungsverschiedenheiten dennoch mit den genannten Praktiken der Bewertung vereinbar ist. Bevor ich nun im Rest dieses Kapitels einen Überblick über verschiedene grundlegende Formen und Varianten des Relativismus gebe, möchte ich noch einen vierten Sinn unterscheiden, in dem eine metaethische Position revisionär
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sein kann. Mit dem ersten eben genannten Strategietyp wird nämlich versucht, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen, indem eine Revision orthodoxer semantischer Vorstellungen vorgeschlagen wird. Wie diese Revision(en) im Einzelnen aussehen, werde ich noch genauer erläutern. Hier möchte ich jedoch schon einmal darauf aufmerksam machen, dass manche der im Folgenden untersuchten Positionen revisionär in diesem vierten Sinne sind: Revisionismus 4: Eine metaethische Position ist revisionär(4) , wenn sie orthodoxe semantische Vorstellungen und Annahmen revidiert.
6.3 Formen des Relativismus Der metaethische Relativismus kann verschiedene Formen annehmen. Ich möchte drei einschlägige Formen unterscheiden. Generell eint diese Formen folgende grundlegende Idee: Standard-Abhängigkeit von moralischer Wahrheit: Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt von einem relevanten moralischen Standard ab. Mit dem Begriff „moralisches Urteil“ bezeichne ich im Folgenden sowohl moralische Überzeugungen, also den mentalen Zustand, in dem sich jemand befindet, der eine moralische Proposition akzeptiert, als auch den Ausdruck einer moralischen Überzeugung, also eine moralische Äußerung oder Behauptung. Die drei Formen des metaethischen Relativismus bestimmen nun auf unterschiedliche Weise, welcher moralische Standard relevant für die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils ist: 1. Akteur-Relativismus (agent-relativism): Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard dieser Person ab – also vom Handelnden.¹¹
11 Neben solchen „subjektzentrierten“ Positionen gibt es auch Positionen, die den Standard der Kultur, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft des Handelnden als relevanten Standard ansehen. Analoge Positionen gibt es dann auch (oder sind denkbar) für den im Folgenden dargestellten Sprecher- und Assessor-Relativismus.
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2. Sprecher-Relativismus (speaker-relativism): Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard der Person ab, die das Urteil fällt – also vom Sprecher. 3. Assessor-Relativismus (assessor-relativism): Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard der Person ab, die das Urteil bewertet – als vom Bewerter (engl.: assessor). Ich möchte anhand des Beispiels von Kant und Smart kurz die Unterschiede zwischen diesen grundlegenden Formen des Relativismus illustrieren: Stellen wir uns vor, Kant hat den unschuldigen Irving freigesprochen. In einer anderen Stadt hat sich zufälligerweise die gleiche Geschichte zugetragen, mit dem Unterschied, dass hier nicht ein Kantianer über den unschuldigen Irving* gerichtet hat, sondern ein Utilitarist. Dieser utilitaristische Richter, Smart*, hat Irving* ebenfalls freigesprochen und sein Freund, der Kantianer Kant*, hält diesen Freispruch für moralisch richtig. Kant* hält auch den Freispruch aus der ersten Geschichte für moralisch richtig. Smart aus der ersten Geschichte beurteilt sowohl den Freispruch in der ersten Geschichte durch Kant als auch jenen in der zweiten Geschichte durch Smart* als moralisch falsch. Wie sind nun gemäß der genannten Formen des Relativismus die Urteile von Smart und Kant* über die jeweiligen Richtersprüche zu bewerten? Dem Akteur-Relativismus zufolge ist der Standard des Handelnden ausschlaggebend: Demnach ist sowohl Smarts als auch Kants* Urteil über den Richterspruch in ihrer eigenen Geschichte falsch, während ihre Urteile über den Richterspruch in der jeweils anderen Geschichte wahr sind. Denn die Wahrheit eines jeden moralischen Urteils über Kants (Smarts*) Handlung, also den Freispruch von Irving (Irving*), hängt davon ab, ob gemäß Kants (Smarts*) Standard dieser Freispruch richtig ist oder nicht. Und wie wir annehmen, ist der Freispruch von Irving gemäß Kants Standard richtig und der Freispruch von Irving* gemäß Smarts* Standard falsch. Dem Sprecher-Relativismus zufolge sind dagegen alle Urteile von Smart und Kant* wahr: Da beide Freisprüche gemäß Smarts Standard falsch sind, ist seine moralische Verurteilung der beiden Richtersprüche wahr. Und da beide Freisprüche in Kants* Standard richtig sind, ist dessen moralische Zustimmung zu den beiden Richtersprüchen ebenfalls wahr. Im Assessor-Relativismus ist es nun noch komplizierter: Hier können wir gar nicht letztgültig feststellen, ob ein moralisches Urteil wahr oder falsch ist. Denn ob zum Beispiel Smarts Urteil über Kants Richterspruch wahr ist, hängt davon ab, wer dieses Urteil bewertet. Wenn es etwa von Kant* bewertet wird, ist
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es falsch, und wenn es von Smart* bewertet wird, ist es wahr. Das klingt erstmal ziemlich seltsam. Im Folgenden werde ich noch näher auf die grundlegende Idee des Assessor-Relativismus eingehen und erläutern, wie er funktioniert. Den Akteur-Relativismus werde ich in dieser Arbeit nicht weiter behandeln und ich habe ihn nur der Vollständigkeit halber angeführt. Ich denke, dass diese Position eine Kuriosität ist und jedenfalls nicht beanspruchen kann, unsere normale moralische Urteilspraxis zu beschreiben. Kurz gesagt: Unsere moralischen Urteile über die Handlungen anderer sind keine Urteile darüber, was gemäß deren Standards richtig oder falsch ist. Wir überlegen nicht, welchen moralischen Standard Hitler hatte, bevor wir seine Handlungen moralisch bewerten, und wir wären wohl auch nicht geneigt, unsere moralische Verurteilung seiner Taten zurückzunehmen, sollten wir erfahren, dass sie gemäß seines Standards gefordert waren.¹² Im Folgenden werde ich eine Taxonomie verschiedener Varianten des SprecherRelativismus und des Assessor-Relativismus vorstellen, um dann in den beiden folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit näher auf diese Varianten einzugehen.
6.3.1 Varianten des Sprecher-Relativismus Ich möchte nun zwei Varianten des Sprecher-Relativismus vorstellen. Beide Varianten eint die Annahme, dass die Wahrheit moralischer Urteile vom Äußerungskontext und damit vom Sprecher abhängig ist. Sie unterscheiden sich jedoch in der semantischen Erklärung dieser Abhängigkeit.
12 Damit möchte ich nicht leugnen, dass der Standard eines Handelnden und insbesondere der Standard der Kultur, der ein Handelnder angehört und in der er sozialisiert wurde, in unserer moralischen Beurteilung seiner Taten eine Rolle spielt. Vor allem in Überlegungen zu Fragen der Schuld und dazu, welche Art und welches Ausmaß der Empörung im Einzelfall angebracht ist, macht die Thematisierung von moralischen und sozialen Zwängen einschlägig, denen ein Handelnder aufgrund des vorherrschenden moralischen Verständnisses seiner Kultur und seines Umfeldes ausgesetzt ist. Aber die Rolle, die moralische Standards in solchen Erwägungen spielen, ist eine andere als sie dem Akteurs-Relativismus zufolge in moralischen Urteilen spielen: Sie bestimmen hier nicht über die Wahrheit von Urteilen über den moralischen Status von Handlungen. Zu weiteren Problemen des Akteur-Relativismus siehe (Lyons1976) und (Streiffer2003), Kapitel 2.
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Indexikalischer Kontextualismus Die erste, „traditionelle“ Variante stellt der sogenannte indexikalische Kontextualismus dar.¹³ Die zentrale semantische These des indexikalischen Kontextualisten lautet: Moralische Ausdrücke wie „moralisch gut“, „moralisch richtig“, „moralisch gefordert“ oder „(moralisch) sollen“ drücken keine konstante Relation aus, da ihr semantischer Gehalt von Faktoren des Äußerungskontextes bestimmt wird. Ausdrücke, deren Gehalt mit dem Äußerungskontext variieren, werden als indexikalische Ausdrücke bezeichnet. Beispiele für solche Ausdrücke sind ich, heute oder dort. Anhand von David Kaplans Unterscheidung zwischen character und content lässt sich erklären, wie der semantische Gehalt solcher Ausdrücke bestimmt wird: Der character eines indexikalischen Ausdrucks ist eine Funktion, die den Gehalt eines Ausdrucks im Kontext liefert. So lässt sich etwa der character von ich als der gegenwärtige Sprecher des Äußerungskontextes begreifen, der als Gehalt der Äußerung dieses Ausdrucks in einem Kontext den tatsächlichen Sprecher generiert. Dadurch variiert der Gehalt von ich mit dem Äußerungskontext, so dass Sätze, die diesen Ausdruck enthalten, in verschiedenen Kontexten einen unterschiedlichen propositionalen Gehalt haben. Indexikalische Kontextualisten gehen nun davon aus, dass sich moralische Ausdrücke wie indexikalische Ausdrücke verhalten und Sätze, die solche Ausdrücke enthalten, daher keinen konstanten propositionalen Gehalt haben. Die Grundidee ist, dass ein bestimmter Faktor des Äußerungskontextes, nämlich der moralische Standard¹⁴ des Sprechers, darüber bestimmt, welche Proposition mit einem moralischen Urteil (bzw. einem moralischen Satz) in einem Äußerungskontext ausgedrückt wird. Unter einem moralischen Standard kann man sich ein moralisches Prinzip wie etwa das utilitaristische Maximierungsgebot oder ein Set von Prinzipien oder Normen vorstellen. Moralische Relativisten sprechen auch von dem „moralischen System“¹⁵, dem „moral framework“¹⁶, oder der „moral perspective“¹⁷ des Sprechers. Dieser kontextualistischen Sichtweise zufolge drückt zum Beispiel das Urteil „Abtreibung ist moralisch falsch“ in verschiedenen Äußerungs-
13 Die Position des indexikalischen Kontextualismus vertreten zum Beispiel (Dreier1990), (Wong2006) und (Bjoernsson2010). Dreier bezeichnet seine Position als indexikalischen Relativismus. Es würde sich auch anbieten, von indexikalischem Sprecher-Relativismus zu reden, und analog dazu den nicht-indexikalischen Kontextualismus als nicht-indexikalischen SprecherRelativismus zu bezeichnen. Ich halte mich hier an die, wie mir scheint, inzwischen etablierte Terminologie von MacFarlane, vgl. (MacFarlane2009). 14 (Bjoernsson2010), S. 25. 15 (Koelbel2009), S. 148. 16 So Gilbert Harman in seinem Beitrag zu (Harman1996), S. 4. 17 (Koelbel2002).
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kontexten unterschiedliche Propositionen aus: Peter mit moralischem Standard S1 drückt mit diesem Urteil in Kontext CU1 (CU = context of utterance) die Proposition Abtreibung ist gemäß S1 moralisch falsch, während Gaby mit moralischem Standard S2 mit diesem Urteil in Kontext CU2 die Proposition Abtreibung ist gemäß S2 moralisch falsch ausdrückt. Um die Wahrheit eines moralischen Urteils in einem Äußerungskontext (also eines Vorkommnisses oder der Äußerung eines moralischen Satzes) zu bestimmen, muss man demnach zunächst mit Bezug auf den im Äußerungskontext operativen Standard herausfinden, welche Proposition dieses Urteil ausdrückt, um dann den Wahrheitswert dieser Proposition zu berechnen. Wahrheitswerte werden Propositionen auf der Ebene der Bewertungsumstände (circumstances of evaluation) zugewiesen, die vom Äußerungskontext selektiert werden und die – der semantischen Orthodoxie zufolge – lediglich aus einem Welt-Parameter bestehen. So ist etwa die durch einen Satz ausgedrückte Proposition Die Erde hat zwei Monde genau dann wahr, wenn die Erde in der Welt, in der der Satz geäußert wird, zwei Monde hat, und genau dann falsch, wenn die Erde in der Welt, in der der Satz geäußert wird, nicht zwei Monde hat. Kurz: Ein Satz „p“ in Äußerungskontext CU ist genau dann wahr, wenn der propositionale Gehalt von „p“ in Bewertungsumstand BU wahr ist – wobei wCU die Welt des Äußerungskontextes ist. Für die moralischen Urteile von Peter und Gaby bedeutet das: Über die Wahrheit der von ihnen jeweils ausgedrückten Proposition muss in Bewertungsumständen entschieden werden, in welche die Welt des Äußerungskontextes eingeht. Wenn es in der aktuellen Welt wahr (falsch) ist, dass Abtreibung gemäß Standard S1 falsch ist, dann ist die von Peter ausgedrückte Proposition und damit sein Urteil wahr (falsch). Dasselbe gilt für Gabys Urteil beziehungsweise die von ihrem Urteil ausgedrückte Proposition. Zusammengefasst: Dem indexikalischen Kontextualismus zufolge ist die Wahrheit eines moralischen Urteils abhängig vom Standard des Sprechers, weil dieser Standard darüber bestimmt, welche Proposition das Urteil ausdrückt. Ein moralisches Urteil „X ist moralisch falsch“ in Äußerungskontext CU1 ()¹⁸ drückt demnach die Proposition X ist relativ zu Standard sCU1 moralisch falsch aus und ist genau dann wahr, wenn diese Proposition in dem von CU1 selektierten Bewertungsumstand BU wahr ist.
18 sCU1 ist der im Äußerungskontext CU1 operative Standard, also der Standard des Sprechers.
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Nicht-Indexikalischer Kontextualismus Der zweiten Variante des Sprecher-Relativismus, dem nicht-indexikalischen Kontextualismus, nähert man sich am besten, indem man sich die Debatte zwischen sogenannten Temporalisten und Eternalisten anschaut. Unstrittig zwischen Temporalisten und Eternalisten ist, dass z.B. der Satz „Renate sitzt“ in ein und derselben Welt zu Zeitpunkt t1 wahr und zu Zeitpunkt t2 falsch sein kann. Strittig ist in diesem Fall jedoch, ob die Kontextabhängigkeit der Wahrheit hier darin zu verorten ist, dass die jeweiligen Zeitpunkte mitbestimmen, welche Proposition jeweils ausgedrückt wird, oder vielmehr darin, dass sie die Bewertungsumstände mitbestimmen, relativ zu welchen der Wahrheitswert der in beiden Äußerungen konstant ausgedrückten Proposition zugewiesen wird. Drücke ich also mit dem Satz zu Zeitpunkt t1 eine andere Proposition aus als zu t2 , zum Beispiel „Renate sitzt um 12.30 Uhr“ und „Renate sitzt um 13.30 Uhr“? Oder verhält es sich wie folgt: Ich drücke zu beiden Zeitpunkten dieselbe Proposition aus („Renate sitzt“), ihr Wahrheitswert wird aber durch vom Äußerungskontext selektierte Bewertungsumstände bestimmt, die zusätzlich zum Welt-Parameter noch aus einem Zeit-Parameter bestehen – so dass die Bewertungsumstände für meine Äußerung zu t1 aus der Welt, in der ich den Satz äußere, sowie aus t1 , also dem Zeitpunkt, zu dem ich ihn äußere, bestehen (mutatis mutandis für meine Äußerung zu t2 ). Positionen, die Letzteres behaupten, postulieren sogenannte zeitliche Propositionen („tensed propositions“), Propositionen also, deren Wahrheitswert sich mit der Zeit verändern kann. Solche temporalistischen – im Gegensatz zu orthodoxen eternalistischen – Positionen brechen mit dem Prinzip absoluter propositionaler Wahrheit.¹⁹ Der Unterschied zwischen indexikalischem und nicht-indexikalischem Kontextualismus lässt sich analog zum Unterschied zwischen Eternalisten und Temporalisten verstehen: Während indexikalische Kontextualisten annehmen, dass ein und derselbe Satz (wie z.B. „Abtreibung ist moralisch falsch“) in verschiedenen Kontexten geäußert unterschiedliche Propositionen ausdrücken kann, gehen nicht-indexikalische Kontextualisten (im Folgenden: NIK) davon aus, dass die durch einen moralischen Satz ausgedrückte Proposition in verschiedenen Kontexten konstant ist, aber ihr Wahrheitswert je nach Kontext variieren kann, da in die Bewertungsumstände neben den Welt-Parameter ein Standard-Parameter
19 Genau genommen ist propositionale Wahrheit bereits damit relativiert, dass die Wahrheit von Sätzen relativ zu der Welt des Äußerungskontextes ist. Siehe dazu das Beispiel des Satzes „Die Erde hat zwei Monde“. Von einem Bruch mit dem Prinzip absoluter Wahrheit wird jedoch erst angesichts der Thesen des Temporalismus gesprochen und das scheint mir unter anderem daran zu liegen, dass erst mit diesen Thesen die Wahrheit von bestimmten Propositionen als relativ „in der aktualen Welt“ begriffen wird.
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tritt. Dieser Position zufolge bestimmt der moralische Standard des Äußerungskontextes nicht den propositionalen Gehalt des ausgedrückten Satzes, sondern er bestimmt die Bewertungsumstände, in denen der Wahrheitswert der ausgedrückten Proposition zu berechnen ist. Der NIK nimmt also an, dass es neben dem Welt-Parameter (und dem Zeit-Parameter, den der Temporalist anerkennt) noch einen weiteren Parameter, nämlich einen Standard-Parameter, gibt, der die Bewertungsumstände determiniert. Demnach drücken Peter und Gaby mit ihrem Urteil „Abtreibung ist moralisch falsch“ dieselbe Proposition aus. Um das Urteil von Peter (Gaby) zu bewerten, muss nun berechnet werden, ob diese Proposition in den durch Peters (Gabys) Kontext selektierten Bewertungsumständen – also in der Welt und gemäß des Standards des Äußerungskontextes – wahr ist. Das heißt, das Urteil von Peter in CU 1 ist genau dann wahr, wenn die von diesem Urteil ausgedrückte Proposition im Bewertungsumstand wahr ist. Und Gabys Urteil in CU 2 ist genau dann wahr, wenn die von diesem Urteil ausgedrückte Proposition im Bewertungsumstand wahr ist. Das Verständnis des NIK ist demnach analog zum temporalistischen Verständnis der Urteile „Renate sitzt“ um 11.30 Uhr und um 12.30 Uhr, demzufolge mit beiden Urteilen dieselbe Proposition ausgedrückt wird, deren Wahrheitswert aber je nach Äußerungskontext variieren kann, da er abhängig von der Welt und dem Zeitpunkt des jeweiligen Kontextes ist. Die Proposition P wird von beiden Urteilen ausgedrückt. Und diese Proposition wird bei Peters Urteil in Bewertungsumständen bewertet, die von Peters Kontext selektiert werden, während sie bei Gabys Urteil in Bewertungsumständen bewertet wird, die von Gabys Kontext selektiert werden. Die Wahrheit moralischer Urteile hängt demnach vom Kontext ab, nicht weil die ausgedrückte Proposition kontextabhängig, sondern weil der Standard-Parameter des Äußerungskontextes die Bewertungsumstände, in denen die ausgedrückte Proposition bewertet wird, mitselektiert und diese daher kontextabhängig sind. Im indexikalischen Kontextualismus hängt also die Wahrheit von moralischen Urteilen wie folgt vom Äußerungskontext ab: Der semantische Gehalt moralischer Urteile – und nicht der Wahrheitswert der von diesen ausgedrückten Proposition – ist abhängig vom Äußerungskontext. Im nicht-indexikalischen Kontextualismus ist es umgekehrt: Der Wahrheitswert der von moralischen Urteilen ausgedrückten Propositionen – und nicht der semantische Gehalt dieser Urteile – ist abhängig vom Äußerungskontext. Die Positionen lassen sich wie folgt gegenüberstellen: Indexikalischer Kontextualismus: Der von einem moralischen Urteil „p“ in einem Äußerungskontext CU ausgedrückte propositionale Gehalt ist abhängig vom Standard, der in CU operativ ist, d.h. vom Standard des Sprechers. So drückt ein Urteil
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„p“ in CU () die Proposition pScu aus. Demnach gilt: Das Urteil „p“ in CU ist genau dann wahr, wenn die Proposition pScu in dem von CU selektierten Bewertungsumständen wahr ist. Nicht-Indexikalischer Kontextualismus: Der von einem moralischen Urteil „p“ in einem Äußerungskontext CU ausgedrückte propositionale Gehalt ist nicht abhängig vom Standard, der in CU operativ ist – „p“ drückt in allen Äußerungskontexten ein und dieselbe Proposition aus: p. Der Wahrheitswert dieser Proposition ist jedoch abhängig vom Standard des Äußerungskontextes. Demnach gilt: Das moralische Urteil „p“ in CU ist genau dann wahr, wenn die Proposition p in dem von CU selektierten Bewertungsumständen wahr ist. Beide Positionen stimmen also darin überein, dass die Wahrheit eines moralischen Urteils vom moralischen Standard des Sprechers abhängt. Im indexikalischen Kontextualismus ist sowohl die Wahrheit moralischer Urteile als auch die Wahrheit der ausgedrückten Propositionen absolut. Das bedeutet: Weder bei einem konkreten moralischen Urteil in CU noch bei der von diesem Urteil ausgedrückten Proposition psCU macht es Sinn, auf die Frage nach deren Wahrheit hin nachzuhaken: „Wahr relativ zu welchem Standard?“ Im nicht-indexikalischen Kontextualismus ist dagegen die Wahrheit der von einem konkreten Urteil in CU ausgedrückten Proposition p relativ: Hier macht es Sinn, auf die Frage nach deren Wahrheit zu reagieren: „Wahr relativ zu welchem Standard?“ Es ist jedoch wichtig, zu sehen, dass auch im nicht-indexikalischen Kontextualismus die Wahrheit moralischer Urteile absolut ist. Denn auch hier macht es – wie beim indexikalischen Kontextualismus – keinen Sinn, die Frage nach der Wahrheit eines konkreten Urteils in CU zu präzisieren, indem man man nachhakt: „Wahr relativ zu welchem Standard?“ Schließlich ist hier ein konkretes Urteil in CU nicht relativ zu einem Äußerungskontext oder Standard wahr und zu einem anderen möglicherweise falsch. Als konkretes Urteil in CU ist es wahr simpliciter und zwar genau dann, wenn die von diesem Urteil ausgedrückte Proposition wahr in den von CU selektierten Bewertungsumständen ist.
6.3.2 Varianten des Assessor-Relativismus Während der Sprecher-Relativismus in den Varianten des indexikalischen und nicht-indexikalischen Kontextualismus die Wahrheit moralischer Urteile vom Äußerungskontext und damit vom moralischen Standard des Sprechers abhängig macht, nimmt der Assessor-Relativismus an, dass die Wahrheit moralischer
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Urteile vom Kontext der Beurteilung (context of assessment) solcher Urteile abhängig ist. Um der Verwechslung mit den Bewertungsumständen (circumstances of evaluation) vorzubeugen, werde ich vom Assessment-Kontext (CU ) sprechen. Ein Assessment-Kontext ist der Kontext, in dem sich jemand befindet, der ein bestimmtes Urteil (sein eigenes oder das eines anderen) hinsichtlich seiner Wahrheit bewertet. Der semantischen Orthodoxie zufolge ist dieser Kontext letztlich irrelevant für die Bewertung eines Urteils. Relevant ist allein der Äußerungskontext: Er bestimmt – bei Äußerungen von Sätzen, die einen indexikalischen Ausdruck enthalten –, welche Proposition mit einer Äußerung ausgedrückt wird und er determiniert – für jede Art von Äußerung – die Bewertungsumstände. Auch der nicht-indexikalische Kontextualismus bricht nicht mit der Annahme, dass allein der Äußerungskontext ausschlaggebend für die Beurteilung einer Äußerung oder eines Urteils ist. Dem NIK zufolge ist für die Bewertung eines Urteils allein der Äußerungskontext relevant, der die für die Bewertung eines Urteils ausschlaggebenden Bewertungsumstände selektiert. Ob ein bestimmtes Urteil wahr oder falsch ist, hängt allein vom Kontext ab, in dem das Urteil gefällt oder geäußert wird (oder wurde) – unabhängig davon, in welchem Kontext sich derjenige befindet, der das Urteil bewertet. Nennen wir denjenigen, der Urteile bewertet, den Bewerter. Der Assessor-Relativismus bricht mit dieser zentralen Vorstellung des Sprecher-Relativismus: Die Wahrheit moralischer Urteile ist dieser Form zufolge nicht abhängig vom Standard des Äußerungskontextes, sondern vom Standard des Assessment-Kontextes. Am Beispiel von Peter und Gaby lässt sich das verdeutlichen: Wenn Peter urteilt „Abtreibung ist moralisch falsch“, dann kann Gaby dieses Urteil auf seine Wahrheit hin auswerten. Nehmen wir an, dass Gaby einen moralischen Standard S1 hat. Damit besteht Gabys Assessment-Kontext neben der Welt, in der sie sich befindet, aus diesem Standard S1 : Gabys Assessment-Kontext = .²⁰ Der Assessment-Relativist nimmt nun an, dass die Wahrheit von Peters Urteil von Gabys Assessment-Kontext, also von ihrem moralischen Standard, abhängt und nicht vom Äußerungskontext von Peter, also von dessen moralischen Standard, wenn Gaby das Urteil von Peter bewertet. Wenn Gaby also das Urteil von Peter bewertet, dann ist dieses Urteil genau dann wahr, wenn Abtreibung gemäß Gabys Standard S1 moralisch falsch ist. Um also zu beurteilen, ob das Urteil von Peter wahr ist, muss Gaby herausfinden, ob dieses Urteil aus ihrer eigenen Perspektive gesehen wahr ist – ob es also in ihrem Kontext wahr ist. Die Assessment-Relativität moralischer Urteile impliziert,
20 Ich gehe im Folgenden davon aus, dass alle Kontexte aus der aktualen Welt bestehen und verwende für sie das Kürzel w@.
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dass solche Urteile je nachdem, wer sie beurteilt, verschiedene Wahrheitswerte haben können. Wenn Peter sein eigenes Urteil auf seine Wahrheit hin beurteilt, dann ist es wahr, wenn es gemäß seines Standards S2 wahr ist, und wenn Gaby das Urteil von Peter beurteilt, dann ist es falsch, wenn es gemäß ihres Standards S1 falsch ist. Der Assessment-Kontext kann also auch mit dem Äußerungskontext identisch sein (wenn Peter sein eigenes Urteil bewertet), muss es aber nicht (wenn eine andere Person das Urteil von Peter bewertet). Analog zu den beiden kontextualistischen Varianten lassen sich zwei Varianten des Assessor-Relativismus unterscheiden. Denn der im Assessment-Kontext operative moralische Standard kann entweder (i) die vom zu bewertenden Urteil ausgedrückte Proposition bestimmen oder (ii) die Bewertungsumstände für das zu bewertende Urteil determinieren.
Content-Relativismus Der Content-Relativismus²¹ nimmt an, dass der moralische Standard des Assessment-Kontextes (also der Standard des Bewerters) bestimmt, welche Proposition ein zu bewertendes Urteil ausdrückt. Wenn Gaby also das Urteil von Peter bewertet, dann muss sie die Proposition Abtreibung ist gemäß S1 moralisch falsch bewerten – denn dann besteht der Assessment-Kontext aus Gabys Standard S1 , der den propositionalen Gehalt von Peters Urteil determiniert. Wenn Peter sein eigenes Urteil bewertet, dann muss er die Proposition Abtreibung ist gemäß S2 moralisch richtig bewerten – denn dann besteht der Assessment-Kontext aus seinem eigenen Standard S2 , der wiederum die von seinem Urteil ausgedrückte Proposition determiniert. Die Wahrheit eines moralischen Urteils in CU ist im Content-Relativismus also assessment-relativ: Das Urteil ist nicht schlechthin wahr, sondern immer nur wahr relativ zu einem Bewerter – und zwar weil dieses Urteil in verschiedenen Assessment-Kontexten unterschiedliche Propositionen ausdrückt.
21 Vgl. (Cappelen2008) und (MacFarlane2014), S. 72ff.
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Wahrheits-Relativismus Der Wahrheits-Relativismus²² nimmt dagegen an, dass der moralische Standard des Assessment-Kontextes (also des Bewerters) in die Bewertungsumstände eingeht. Wenn Gaby und Peter das Urteil von Peter bewerten, dann bewerten beide die Proposition Abtreibung ist moralisch falsch, aber Gaby bewertet sie relativ zu Bewertungsumständen, in die ihr Standard (S1 ) eingeht, und Peter bewertet sie relativ zu Bewertungsumständen, in die sein Standard (S2 ) eingeht. Die Wahrheit eines moralischen Urteils in CU ist im Wahrheits-Relativismus also assessment-relativ, nicht weil vom Assessment-Kontext abhinge, welche Proposition zu bewerten ist, sondern weil die Bewertungsumstände vom Standard des Assessment-Kontext selektiert werden. Verschiedene Assessment-Kontexte, die aus verschiedenen moralischen Standards bestehen, selektieren unterschiedliche Bewertungsumstände, die einem bestimmten, in einem Kontext CU geäußerten Urteil verschiedene Wahrheitswerte zuweisen können.
6.3.3 Zusammenfassung Alle vier skizzierten Positionen sind als relativistisch zu bezeichnen, insofern sie davon ausgehen, dass die Wahrheit moralischer Urteile in einer interessanten Weise standard-abhängig ist. Ich werde im Folgenden Positionen, die von dieser These gekennzeichnet sind, als metaethischen Relativismus bezeichnen. Sprecher-Relativisten und Assessor-Relativisten haben unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese These näher auszubuchstabieren ist: Die Wahrheit moralischer Urteile ist dem Sprecher-Relativismus zufolge abhängig vom moralischen Standard, der im Äußerungskontext operativ ist, während sie im AssessorRelativismus vom moralischen Standard des Assessment-Kontextes abhängig ist. Die beiden folgenden Schaubilder geben einen Überblick über die vorgestellten Positionen. Abbildung 6.1 stellt die Varianten des Relativismus in Form eines Familien-Baums dar. Die Tabellen 6.1 - 6.4 geben einen detaillierten Überblick 22 (MacFarlane2014) bezeichnet diese Variante, die er selbst vertritt, auch als „truth-value relativism“. (Francen2010) wählt das Label „assertion relativism“. Es würde sich natürlich anbieten, die beiden relativistischen Varianten in Analogie zu den kontextualistischen Varianten als indexikalischen und nicht-indexikalischen Relativismus zu bezeichnen. Welche Wahl auch immer man trifft, es finden sich immer Autoren, die unter einem bestimmten Label eine Position verstehen, die ich damit nicht bezeichnen möchte. So bezeichnet z.B. (Dreier2009) den indexikalischen Kontextualismus als „indexikalischen Relativismus“. Die Unterscheidung zwischen Content-Relativismus und Wahrheits-Relativismus treffen so auch (LopezdeSa2011) und (McKenna2013).
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darüber, wie in den verschiedenen Varianten der Zusammenhang zwischen Äußerungskontext, Bewertungsumständen, Assessment-Kontext, der von Urteilen ausgedrückten Propositionen und der Wahrheit moralischer Urteile verstanden wird. Der Satz „p“ ist in dieser Tabelle ein moralischer Satz – zum Beispiel „Abtreibung ist moralisch falsch“. Sowohl der Assessor-Relativismus als auch der nicht-indexikalische Kontextualismus schlagen eine Revision orthodoxer semantischer Vorstellungen vor, die vor allem durch das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit motiviert ist. Im nächsten Kapitel (Kapitel 7) werde ich untersuchen, ob es einer dieser Varianten gelingt, das Problem zu lösen, um dann in Kapitel 8 eine Strategie vorzustellen, mit der Gunnar Björnsson und Stephen Finlay den indexikalischen Kontextualismus wieder in die Debatte um das Problem zurückholen. Dabei werde ich in Kapitel 7 ausschließlich den nicht-indexikalischen Kontextualismus und dem Wahrheits-Relativismus unter die Lupe nehmen – und den ContentRelativismus nicht weiter thematisieren. Das liegt zum einen daran, dass der Content-Relativismus bisher nur in programmatischer Form vorliegt,²³ während der Wahrheits-Relativismus vor allem in John MacFarlanes Artikeln und einer Monographie einen umfassenden Entwurf erhalten hat. Zum anderen ist die Grundidee beider Positionen dieselbe – Wahrheit ist vom Assessment-Kontext abhängig –, und von dieser Grundidee hängt das Vermögen beider Position ab, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen. Sofern es also einer Position gelingt, das Problem zu lösen, wird es auch der anderen Position gelingen – und dann wäre zu fragen, welcher es entweder besser gelingt oder welche der Positionen im Vergleich plausibler ist. Da ich aber im nächsten Kapitel anhand von MacFarlanes Ideen zeigen werde, dass die Grundidee auf Überlegungen angewiesen ist, die sie letztlich überflüssig macht, kann an dieser Stelle auf die Auseinandersetzung mit dem Content-Relativismus verzichtet werden. Das wird am Ende des folgenden Kapitels noch näher erläutert werden.
23 vgl. (Cappelen2008) und (MacFarlane2014), S. 72ff.
6.3 Formen des Relativismus |
Metaethischer Relativismus
Sprecher-Relativismus
Assessor-Relativismus
Wahrheit abhängig vom Äußerungskontext
Wahrheit abhängig vom AssessmentKontext
Indexikalischer Kontextualismus
Nicht-Indexikalischer Kontextualismus
Abb. 6.1. Varianten des Relativismus
Content-Relativismus
WahrheitsRelativismus
161
Wahrheits-Relativismus
Content-Relativismus
Nicht-indexikalischer Kontextualismus
Indexikalischer Kontextualismus
Der Satz „p“ CU () Der Satz „p“ CU () Der Satz „p“ CU () Der Satz „p“ CU () in
in
in
in
Tab. 6.1. Detaillierte Übersicht – Varianten des Relativismus
ist in CA wahr gdw. (CA = )
ist in CA wahr gdw. (CA = )
ist wahr gdw.
ist wahr genau dann wenn
die Proposition p
die Proposition pSCA
die Proposition p
die Proposition pSCU
in Bewertungsumstand wahr ist.
in Bewertungsumstand wahr ist.
in Bewertungsumstand wahr ist.
in Bewertungsumstand wahr ist.
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7 Disagreement regained? 7.1 Einleitung In diesem Kapitel werde ich zunächst den nicht-indexikalischen Kontextualismus diskutieren und zeigen, dass er sein Versprechen nicht einlösen kann: Auch diese Position kann das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit nicht lösen. (Abschnitt 7.2). Anschließend werde ich die wahrheits-relativistische Position von John MacFarlane unter die Lupe nehmen und untersuchen, was seine Position für die Behandlung des Problems leisten kann (Abschnitt 7.3.). Ich werde argumentieren, dass der metaethische Relativist die semantischen Ideen von MacFarlane auf den moralischen Diskurs übertragen kann und damit das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit in näher zu erläuternder Weise lösen kann. Ich komme am Ende jedoch zu dem Ergebnis, dass der Wahrheits-Relativismus auf pragmatische Überlegungen angewiesen ist, die es fraglich machen, ob es überhaupt notwendig ist, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit mit dem Entwurf einer spezifisch relativistischen Semantik zu lösen.
7.2 Der nicht-indexikalische Kontextualismus Angesichts der im letzten Kapitel vorgeführten Daten zu unserer moralischen Urteilspraxis scheint für den indexikalischen Kontextualismus nur noch die Möglichkeit übrig zu bleiben, einen Revisionismus bezüglich dieser Praxis in Kauf zu nehmen. Denn dieser Position zufolge drücken Kant und Smart aus Irwing verschiedene Propositionen aus, die miteinander vereinbar sind. Dem indexikalischen Kontextualismus stellt sich das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit also in aller Schärfe. Damit erscheint es jedoch aussichtslos, mit dem indexikalischen Kontextualismus eine Praxis wie sie in Irwing zum Ausdruck kommt, zu rechtfertigen. Diese Position scheint also revisionär(3*) zu sein: Mit ihr liegt eine Revision, Korrektur oder Aufgabe von elementaren, charakteristischen und allgegenwärtigen Bereichen unserer moralischen Praxis nahe. Der nicht-indexikalische Kontextualismus tritt nun explizit mit dem Versprechen an, den metaethischen Relativismus mit der Möglichkeit von robusten Meinungsverschiedenheiten zu vereinbaren und ihn damit eben auch mit unserer moralischen Praxis zu versöhnen.¹ Diese Form des Kontextualismus lässt sich al1 Vgl. (Brogaard2008), (Koelbel2002), (Koelbel2004) und (Koelbel2009). Kölbel selbst bezeichnet seine Position auch als genuinen Relativismus. Kölbel formuliert seine Position vor allem mit
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so als Versuch verstehen, den Anspruch des metaethischen Relativismus, nichtrevisionär(3*) zu sein, einzulösen. Die Hoffnung liegt dabei auf der Konzeption einer in verschiedenen Kontexten konstanten moralischen Proposition. Der nicht-indexikalische Kontextualismus scheint dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu entgehen, da ihm zufolge zwar die Wahrheit eines moralischen Satzes „p“ abhängig davon ist, in welchem Kontext er geäußert wird, er aber in jedem Kontext ein und dieselbe Proposition ausdrückt. Schauen wir uns dazu unseren Beispielfall Irwing an: Kant: „Es ist moralisch falsch, den unschuldigen Irwing zu verurteilen.“ Smart: „Es ist nicht moralisch falsch, den unschuldigen Irwing zu verurteilen. Dein Urteil ist falsch!“
Wenn Kant und Smart den Ausdruck „moralisch falsch“ in ihren jeweiligen Urteilen verwenden, dann hat dieser Ausdruck in beiden Urteilen also denselben Gehalt und Kant akzeptiert genau dieselbe Proposition, die Smart ablehnt. Da dem nicht-indexikalischen Kontextualismus zufolge moralische Standards die Bewertungsumstände und eben nicht die ausgedrückte Proposition determinieren, sind für Kants Urteil also andere Bewertungsumstände einschlägig als für Smarts Urteil, so dass beide Urteile wahr sind. Kant: „Es ist falsch, Irwing zu verurteilen“ –> drückt die Proposition p aus, welche in Bewertungsumständen wahr ist. Smart: „Es ist nicht falsch, Irwing zu verurteilen“ –> drückt die Proposition nicht-p aus, welche in Bewertungsumständen wahr ist.
Der eine drückt demnach eine Proposition aus, die unvereinbar ist mit der Proposition, die der andere ausdrückt, und beide Propositionen sind relativ zu den für die jeweiligen Urteile einschlägigen Bewertungsumständen wahr. Für Kölbel ist das ausreichend, um in solchen Fällen von irrtumsfreien Meinungsverschiedenheiten zu sprechen:
Bezug auf die These der Relativität propositionaler Wahrheit und macht nicht immer klar, wie er zu der orthodoxen Annahme steht, dass die Wahrheit eines Urteils (oder einer Proposition) durch vom Äußerungskontext selektierte Bewertungsumstände bestimmt wird. Es scheint so, als wolle er nicht mit dieser Annahme brechen, so dass ich seine Position als eine Form des nichtindexikalischen Kontextualismus verstehe. Folgendes Zitat aus (Koelbel2007), S. 284, bestätigt meinen Eindruck: „[...] a belief with a content is correct only if that content is true at the possible world at which the belief occurs and in the perspective the believer has at the time at which she has the belief [...].“ (Francen2010) deutet Kölbels Position auch im Sinne des NIK, wenngleich er diese Variante des Relativismus als „moral proposition relativism“ bezeichnet.
7.2 Der nicht-indexikalische Kontextualismus |
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A faultless disagreement is a situation where there is a thinker A, a thinker B, and a proposition (content of judgment) p such that: A believes (judges) that p and B believes (judges) that not-p, and neither A nor B has made a mistake (is at fault).²
Kölbels Kriterium für eine Meinungsverschiedenheit ist also: Meinungsverschiedenheit bei Kölbel: A und B haben eine Meinungsverschiedenheit, wenn A urteilt, dass p, und B urteilt, dass nicht-p, und weder A noch B machen einen Fehler. Kant urteilt, dass p, Smart urteilt, dass nicht-p, und weder Kant noch Smart machen einen Fehler, denn p ist wahr im Bewertungsumstand für Kants Urteil und nicht-p ist wahr im Bewertungsumstand für Smarts Urteil. Dass Kant eine Proposition akzeptiert, die Smart ablehnt, ist allerdings nicht ausreichend, um hier von einer Meinungsverschiedenheit zu sprechen. Schließlich akzeptiert Kant diese Proposition in einem anderen Kontext als jenem Kontext, in dem Smart diese Proposition ablehnt. Ihre Situation ist damit analog zu einer Situation, in der A um 11.30 Uhr, wenn Christian sitzt, urteilt „Christian sitzt“ und B um 12.30 Uhr, wenn Christian steht, urteilt „Christian sitzt nicht“. Dem Temporalisten zufolge – der hier analog zum nicht-indexikalischen Kontextualisten davon ausgeht, dass der Zeitparameter nicht in die ausgedrückte Proposition, sondern in die entsprechenden Bewertungsumstände eingeht – drücken A und B dieselbe Proposition aus: A akzeptiert „Christian sitzt“, B verneint „Christian sitzt“. Kölbels Verständnis von Meinungsverschiedenheiten prognostiziert nun, dass A und B eine Meinungsverschiedenheit haben. Aber A und B haben offensichtlich keine Meinungsverschiedenheit. Schließlich kann B zugeben, dass Christian um 11.30 Uhr gesessen hat, und A kann zugeben, dass Christian um 12.30 Uhr nicht mehr sitzt. Der Eternalist kann ganz einfach erklären, warum sich A und B nicht widersprechen: Ihm zufolge drücken sie mit ihren jeweiligen Urteilen verschiedene Propositionen aus, die miteinander vereinbar sind. Der Temporalist ist auf folgende Erklärung festgelegt: A akzeptiert zwar eine Proposition, die B ablehnt, aber A akzeptiert sie in einem anderen Kontext als B. A akzeptiert sie um 11.30 Uhr, während B sie um 12.30 Uhr ablehnt. Für die Bewertung ihrer Urteile sind demnach unterschiedliche Bewertungsumstände einschlägig und daher kann A zustimmend zu B sagen: „Dein Urteil ist wahr! In deinem Kontext, also um 12.30 Uhr, sitzt Christian nicht. Und da dein Urteil sich auf diesen Kontext bezieht, ist dein Urteil wahr!“ Er könnte auch sagen: „Die Proposition Christian sitzt ist in den
2 (Koelbel2004), S. 54.
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von deinem Kontext selektierten Bewertungsumständen nicht wahr – und darum geht es dir ja mit deinem Urteil. Mir ging es aber darum, ob die Proposition in den von meinem (damaligen) Kontext selektierten Bewertungsumständen wahr ist.“ A kann also B zustimmen, dass die Proposition in B’s Bewertungsumständen nicht wahr ist, und B kann A zustimmen, dass die Proposition in A’s Bewertungsumständen wahr war. Und A kann natürlich auch sehen, dass B ein Urteil fällen will, das in dessen eigenem Kontext wahr ist und nicht in jenem von A (und vice versa für B). Damit kann A aber auch erkennen, dass sie keine Meinungsverschiedenheit haben – auch wenn beide sich auf dieselbe Proposition beziehen. Es gilt also: Unter der Annahme, dass p eine zeitliche Proposition ist: A und B haben keine Meinungsverschiedenheit, auch wenn A urteilt, dass p, und B urteilt, dass nicht-p, wenn A in Äußerungskontext C1 (bestehend aus dem Welt-Zeit-Tupel ) urteilt und B in Äußerungskontext C2 (bestehend aus dem Welt-Zeit-Tupel ) urteilt. Der Temporalist sollte also, will er an seinem Temporalismus festhalten und die absurde Konsequenz vermeiden, dass A und B einander widersprechen, Kölbels Kriterium für Meinungsverschiedenheiten ablehnen und stattdessen folgende Definition wählen: Unter der Annahme, dass p eine zeitliche Proposition ist: A und B haben eine Meinungsverschiedenheit, wenn A urteilt, dass p, und B urteilt, dass nicht-p, nur dann, wenn A und B in Äußerungskontexten mit demselben Zeitparameter urteilen. Und so wie es nicht sinnvoll ist, angesichts der Urteile von A und B von einer Meinungsverschiedenheit zu sprechen, weil ihre Äußerungskontexte unterschiedliche Zeit-Parameter enthalten, ist es nicht sinnvoll, zwei Personen als einander widersprechend zu bezeichnen, die eine Proposition in unterschiedlichen Welten akzeptieren respektive ablehnen. MacFarlane führt das anhand des folgenden Beispiels vor: Consider Jane (who inhabits this world, the actual world) and June, her counterpart in another possible world. Jane asserts that Mars has two moons, and June denies this very proposition. Do they disagree? Not in any real way. Jane’s assertion concerns our world, while June’s concerns hers. If June lives in a world where Mars has three moons, her denial may be just as correct as Jane’s assertion.³
3 (MacFarlane2007), S. 23.
7.2 Der nicht-indexikalische Kontextualismus |
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Ich denke, dieselbe Diagnose ist angebracht, wenn man statt Zeit- und WeltParameter die vom nicht-indexikalischen Kontextualisten beanspruchten Parameter des moralischen Standards in die Äußerungskontexte einsetzt. Sowohl im Beispiel von A und B mit der temporal neutralen Proposition als auch im Beispiel von June und Jane mit der „welt-“neutralen Proposition lautet die Erklärung für die fehlende Meinungsverschiedenheit: Es gibt hier keine Meinungsverschiedenheit, weil die jeweiligen Urteile in unterschiedlichen Äußerungskontexten gemacht werden – sie betreffen verschiedene Kontexte: verschiedene Zeiten im einen Fall und verschiedene Welten im anderen Fall. Nun kann man sagen, dass die Urteile von Kant und Smart ebenfalls verschiedene Kontexte betreffen: Kants Urteil ist zwar (dem nicht-indexikalischen Kontextualisten zufolge) nicht über seinen moralischen Standard S1 (er drückt also nicht die Proposition Es ist gemäß meines moralischen Standards falsch, Irwing zu verurteilen aus), aber es betrifft diesen Standard. Und Smarts Urteil betrifft einen anderen Standard – nämlich seinen eigenen – auch wenn er nicht über diesen Standard urteilt. Dass Kants und Smarts jeweiliges Urteil ihren eigenen Standard betreffen, bedeutet, dass man, um sie zu bewerten, Bewertungsumstände heranziehen muss, die von ihrem jeweiligen Kontext, also ihrem jeweiligen Standard determiniert sind. Und daher kann beziehungsweise muss jeder dem anderen zustimmen und sagen: „Ja, du hast recht! Dein Urteil ist korrekt. Das bestreite ich mit meinem Urteil auch gar nicht!“ Kant und Smart haben also keine Meinungsverschiedenheit, obwohl der eine – wenn die Analyse des indexikalischen Kontextualisten zutrifft – dieselbe Proposition akzeptiert, die der andere ablehnt. Damit man unter Voraussetzung der Wahrheit des nicht-indexikalischen Kontextualismus sinnvoll davon sprechen kann, dass moralisch Urteilende einander widersprechen, müsste folgendes auf sie zutreffen: Unter der Annahme, dass die Wahrheit der moralischen Proposition p relativ ist: A urteilt, dass p, und B urteilt, dass nicht-p, und beide urteilen in Äußerungskontexten mit demselben moralischen Standard. Denn nur dann ist notwendigerweise eines der beiden Urteile falsch: Nur dann sind für beide Urteile ein und dieselben Bewertungsumstände einschlägig und in diesen können p und nicht-p nicht zusammen wahr sein. In unserem Beispiel mit Kant und Smart ist es aber nicht so, dass beide in Kontexten mit demselben Standard urteilen. Daher betrifft Kants Urteil einen anderen Standard als Smarts Urteil und beide Urteile können wahr sein – und sind dies, wie wir annehmen, auch.
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Das bedeutet: Dem nicht-indexikalischen Kontextualismus zufolge ist Smart zwar berechtigt, die von Kant ausgedrückte Proposition zu verneinen, aber er ist nicht zu dem Urteil berechtigt, dass Kant einen Fehler gemacht hat oder dass Kants Urteil falsch ist. Aber genau dieses Urteil fällt Smart in unserem Beispiel und das erscheint doch auch legitim: Schließlich ist er der Überzeugung, dass es nicht falsch ist, Irwing zu verurteilen. Der nicht-indexikalische Kontextualist kann demnach nicht begründen oder legitimieren, dass unsere Praxis des Bewertens der moralischen Urteile anderer, wie sie in Irwing, aber auch in Smarts Bericht und Smarts Inferenz zum Ausdruck kommt, eine angemessene Praxis ist. Wenn die Wahrheit moralischer Propositionen relativ zum Äußerungskontext ist, dann ist Smart in Smarts Bericht nicht dazu lizenziert, Kant einen Irrtum zu unterstellen. Und in Smarts Inferenz folgt einfach nicht, dass Kant eine falsche Überzeugung hat:⁴ Seine Überzeugung betrifft schließlich seinen Kontext und in den von diesem Kontext selektierten Bewertungsumständen ist der Gehalt seiner Überzeugung wahr. Mit dem nicht-indexikalischen Kontextualismus stellen sich also solche Inferenzen als falsch heraus und unsere alltägliche moralische Urteilspraxis erscheint revisionsbedürftig. Diese Position hat also, weil sie das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit nicht löst, revisionäre Implikationen.
7.3 Der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane Der Sprecher-Relativismus scheint also revisionäre Konsequenzen für unsere moralische Praxis zu haben. Der indexikalische Kontextualist scheint von vornherein nicht in der Lage zu sein, das Problem der revisionären Konsequenzen zu lösen, da sich ihm das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit stellt. Wie ich im letzten Abschnitt gezeigt habe, kann aber auch der nicht-indexikalische Kontextualismus keine Lösung für diese Problem bieten. Aus beiden Varianten folgt, dass Kant und Smart aus unserem Beispiel keine doxastische Meinungsverschiedenheit haben, und das scheint es auf den ersten Blick unmöglich zu machen,
4 Zur Erinnerung: (1) Kant ist der Überzeugung, dass er Irwing freisprechen soll. (2) Es ist aber nicht der Fall, dass er Irwing freisprechen soll. (K) Also ist Kants Überzeugung falsch.
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eine Bewertungspraxis wie sie in Irwing zum Ausdruck kommt, als gerechtfertigt oder angemessen zu verstehen.⁵ In diesem Abschnitt werde ich untersuchen, ob der Assessor-Relativismus eine Lösung für das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit anzubieten hat und ob sie überzeugend ist. Dabei werde ich mich auf den WahrheitsRelativismus konzentrieren, den John MacFarlane in verschiedenen Artikeln und einer Monographie entwickelt hat.⁶
7.3.1 Assessment-Sensitivity MacFarlane hält den nicht-indexikalischen Kontextualismus ebenfalls für gescheitert, weil dieser nicht das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen vermag, das es aber – MacFarlane zufolge – zu lösen gelte.⁷ Er entwickelt in Abgrenzung zum nicht-indexikalischen Kontextualismus eine Position, die er als truth-value relativism bezeichnet. Allerdings wendet er seine Theorie nicht auf moralische Ausdrücke an, sondern versucht, seine Version des Relativismus vor allem für Geschmacks-Urteile, Urteile über epistemische Modalitäten oder Wahrscheinlichkeiten und die kontingente Zukunft sowie für Wissenszuschreibungen plausibel zu machen.⁸ Da auch in diesen Bereichen einerseits eine Kontextabhängigkeit entsprechender Urteile eine Rolle zu spielen scheint, andererseits jedoch ein indexikalischer Kontextualismus mit den auch in diesen Bereichen einschlägigen Meinungsverschiedenheiten ein Problem hat, bietet MacFarlane seine Theorie als Lösung an, um die Kontextabhängigkeit zu erklären, ohne die Möglichkeit von Meinungsverschiedenheiten leugnen zu müssen. Sollte sich seine Theorie in diesen Bereichen als überzeugend erweisen, ließen sich seine theoretischen Ressourcen auch für die Frage nach einem nicht-revisionären(3*) metaethischen Relativismus fruchtbar machen und direkt auf moralische Ausdrücke wie „moralisch richtig“ anwenden. Meiner Auseinandersetzung mit MacFarlane muss ich eine terminologische Präzisierung voranstellen: Ich habe bisher immer von der Wahrheit moralischer
5 Allerdings nur auf den ersten Blick: Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, steht dem indexikalischen Kontextualisten eine Strategie zur Verfügung, die es ermöglicht, trotz verlorener Meinungsverschiedenheit eine Praxis wie Irwing zu rechtfertigen. 6 Ich werde mich dabei hauptsächlich auf seinen Artikel von 2007 „Relativism and Disagreement“ sowie seine 2014 erschienene Monographie Assessment Sensitivity. Relative Truth and its Applications beziehen. 7 Vgl. (MacFarlane2007). 8 (MacFarlane2014), insb. Part II: Applications.
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Urteile gesprochen. Da ich mit „moralischen Urteilen“ jedoch sowohl mentale Einstellungen, nämlich moralische Überzeugungen, als auch Sprechakte, also moralische Äußerungen oder Behauptungen bezeichne, ist diese Redeweise ein wenig schief. Angemessener ist es, davon zu sprechen, dass Überzeugungen, also mentale Zustände des Von-Etwas-Überzeugt-Seins, und Behauptungen korrekt oder inkorrekt sind – oder wie MacFarlane vorschlägt: akkurat oder inakkurat. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, zu sagen, dass eine Überzeugung oder eine Behauptung wahr ist, aber da es merkwürdig klingt, zu sagen, eine Einstellung oder ein Sprechakt sei wahr, liegt es nahe, dass wir mit den Begriffen „Überzeugung“ und „Behauptung“ in solchen Zuschreibungen auf das referieren, wovon jemand überzeugt ist oder was er behauptet: auf den propositionalen Gehalt also. Dennoch haben wir, wie ich denke, mit solchen Aussagen wie „Seine Überzeugung ist nicht wahr“ oder „Ihre Behauptung ist nicht wahr“ auch im Auge, dass mit der jeweiligen Einstellung oder mit dem jeweiligen Sprechakt etwas nicht in Ordnung ist. Wenn Smart zum Beispiel sagt, dass Kants Überzeugung nicht wahr ist, dann will er damit natürlich auch sagen, dass diese Überzeugung, weil ihr propositionaler Gehalt nicht wahr ist, nicht korrekt ist. Im Folgenden möchte ich mich an die Terminologie von MacFarlane halten und moralische Urteile, Überzeugungen, Behauptungen sowie die Akte der Zustimmung und Ablehnung einer Proposition als akkurat oder inakkurat bezeichnen. Eine Überzeugung oder eine Behauptung von P in einem Kontext C ist genau dann akkurat, wenn die von P geglaubte oder behauptete Proposition wahr in den relevanten Bewertungsumständen ist. Mit dieser Terminologie können wir uns nochmal vor Augen führen, woran der nicht-indexikalische Kontextualismus scheitert: Auch mit dieser Semantik haben Kant und Smart keine Meinungsverschiedenheit, da sie in verschiedenen Kontexten urteilen und die Akkuratheit ihrer jeweiligen Urteile von ihren jeweiligen Kontexten abhängt. Kants Urteil, dass p, ist akkurat, da die von ihm akzeptierte Proposition p in den von seinem Kontext selektierten Bewertungsumständen wahr ist. Und Smarts Urteil, dass nicht-p, ist ebenfalls akkurat, da die von ihm akzeptierte Proposition nicht-p in den von seinem Kontext selektierten Bewertungsumständen wahr ist. Schließlich ist im nicht-indexikalischen Kontextualismus die Wahrheit einer von einer Person in einem Kontext gebrauchten Proposition abhängig von diesem Kontext – sie muss in den von diesem Kontext determinierten Bewertungsumständen berechnet werden. Für die Akkuratheit von moralischen Urteilen impliziert diese Variante des Kontextualismus demnach, dass sie abhängig vom Äußerungskontext ist. Mit MacFarlane kann man sagen, der nicht-indexikalische Kontextualismus beinhaltet use-centric accuracy:
7.3 Der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane |
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Use-centric accuracy: An acceptance (rejection) of a proposition p at a context C is accurate iff p is true (false) at the circumstance , where wC is the world of C and sC is the standard [...] of the speaker at C.⁹ Da die Akkuratheit von moralischen Urteilen (bzw. das mit diesen einhergehenden Akzeptieren oder Ablehnen von Propositionen) in dieser Position vom Äußerungskontext abhängt, sind die Urteile von Kant und Smart beide als akkurat zu bewerten – und zwar unabhängig davon, in welchem Kontext man sich als Bewerter befindet. Das bedeutet, dass auch Smart das Urteil von Kant als akkurat bezeichnen muss. Wer aber das Urteil eines anderen als akkurat bewerten muss, der ist nicht dazu lizenziert, zu behaupten, er stimme mit diesem Urteil nicht überein. Wer die Zustimmung zu einer Proposition durch einen anderen als akkurat bewerten muss, der kann nicht legitimerweise sagen, er habe – wegen dessen Zustimmung zu der Proposition – eine Meinungsverschiedenheit mit dem anderen. Also haben Kant und Smart keine Meinungsverschiedenheit. Die grundlegende Idee von MacFarlane zur Lösung des Problems der verlorenen Meinungsverschiedenheit ist nun, dass bestimmte Ausdrücke nicht – wie im Kontextualismus – gebrauchs-sensitiv, sondern assessment-sensitiv zu verstehen sind. Das soll bedeuten: Die Akkuratheit von Urteilen, in denen solche Ausdrücke vorkommen, hängt nicht vom Äußerungskontext ab, sondern vom Assessmentkontext. MacFarlane schlägt also vor, die für den Kontextualismus bezeichnende Use-centric accuracy von Urteilen, in denen bestimmte Ausdrücke (für unseren Fall: moralisch richtig / falsch) vorkommen, durch eine sogenannte Perspectival accuracy zu ersetzen: Perspectival accuracy: An acceptance (rejection) of a proposition p at a context CU is accurate (as assessed from a context CA ) iff p is true (false) at the circumstance , where wCU = the world of CU and sCA = the standard [...] of the assessor at CA .¹⁰ Wenn nun die Akkuratheit eines Urteils nicht (nur) vom Äußerungskontext abhängt, sondern (auch)¹¹ vom Kontext desjenigen, der das Urteil bewertet – also vom Assessment-Kontext –, dann ist zum Beispiel für unseren Fall Irwing festzu9 (MacFarlane2007), S. 25. 10 (MacFarlane2007), S. 26. 11 Ich sage nicht nur und auch, weil der Welt-Parameter in den Bewertungsumständen weiterhin vom Äußerungskontext und nur der Standard-Parameter vom Assessment-Kontext selektiert wird. Im Folgenden werde ich immer davon sprechen, dass der Assessment-Kontext die Bewertungsumstände selektiert, und meine damit, dass der Standard-Parameter des Assessment-
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stellen, dass in jedem beliebigen Assessment-Kontext gilt: Es können nicht beide Urteile akkurat sein. Nehmen wir als Beispiel den Assessment-Kontext von Smart. Wenn Smart das Urteil von Kant und sein eigenes Urteil auf ihre Akkuratheit überprüfen will, dann muss er für jedes Urteil berechnen, ob die jeweils ausgedrückte Proposition in Bewertungsumständen wahr ist, deren Standard-Parameter von Smarts eigenem Kontext determiniert wird. Da Smarts Kontext aus seinem Standard SSmart besteht, muss er also berechnen, ob die von Kant in CU1 gebrauchte Proposition Es ist falsch, Irwing zu verurteilen und die von ihm selbst in CU2 gebrauchte Proposition Es ist nicht falsch, Irwing zu verurteilen wahr in den Bewertungsumständen sind. Und da nicht beide Propositionen in diesen Bewertungsumständen wahr sein können, können auch nicht beide Urteile akkurat sein. Zu dem selben Ergebnis kommt man, wenn man in Kants Kontext bewertet, wenn also Kants Kontext der Assessment-Kontext ist, dessen StandardParameter die Bewertungsumstände zur Bewertung beider Urteile beziehungsweise der von beiden Urteilen ausgedrückten Propositionen selektiert: Es können nicht beide Urteile akkurat sein. Nun scheint die Ansicht doch plausibel zu sein, dass zwei Personen A und B eine Meinungsverschiedenheit haben, wenn Folgendes der Fall ist: Meinungsverschiedenheit zwischen A und B: A urteilt, dass p, und B urteilt, dass nicht-p, und sollte A (oder ein beliebiger Assessor) beide Urteile auf ihre Akkuratheit hin überprüfen, dann muss A (oder ein beliebiger Assessor) zu dem Ergebnis kommen, dass nicht beide Urteile akkurat sein können. MacFarlane meint jedenfalls, dass man diese Ansicht als working account for disagreement verwenden sollte. In seinen Worten klingt das wie folgt: Can’t both be accurate: (a) There is a proposition that one party accepts and the other rejects, and (b) the acceptance and the rejection cannot both be accurate.¹² Anders gesagt: Zwei Personen A und B, für die (a) zutrifft, haben eine Meinungsverschiedenheit, wenn die Akkuratheits-Bedingungen von A’s Zustimmung derart Kontextes die Umstände determiniert. Ich gehe zudem davon aus, dass alle Kontexte – Assessment-Kontexte sowie Äußerungskontexte – in den behandelten Beispielen aus der aktuellen Welt bestehen und bezeichne diese Welt mit dem Kürzel . 12 (MacFarlane2007), S. 24. MacFarlane weist dort auch darauf hin, dass dieses Kriterium weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für eine Meinungsverschiedenheit angibt. Trotz dieser Mängel meint er dennoch mit Can’t both be accurate einen Ansatz zu haben, um die Frage zu klären „whether a relativist semantics can secure genuine disagreement“ (ebd. S. 25).
7.3 Der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane |
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sind, dass ihre Erfüllung ipso facto mit der Inakkuratheit von B’s Ablehnung einhergeht (und umgekehrt). Wie wir gesehen haben, trifft genau dies auf Kant und Smart zu, wenn der Ausdruck „moralisch falsch“ im Sinne von MacFarlane assessment-sensitive begriffen wird – wenn also die Akkuratheit von Urteilen, in denen dieser Ausdruck vorkommt, abhängig davon ist, in welchem Kontext sich der Bewerter befindet. Hat MacFarlane damit das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit gelöst? In einem bestimmten Sinne sicherlich nicht: Kant und Smart reden (und bewerten) auch mit dieser relativistischen Semantik in einem relevanten Sinne aneinander vorbei. Denn auch wenn mit dieser Semantik Smart dazu lizenziert ist, Kants Zustimmung zu Es ist falsch, Irwing zu verurteilen in Bewertungsumständen zu bewerten, die von seinem eigenen Kontext selektiert werden, so ändert das nichts an der Tatsache, dass Kant gar nicht intendiert, eine Zustimmung abzugeben, die relativ zu Smarts Kontext akkurat ist. Kant denkt gar nicht, dass seine Zustimmung in Smarts Kontext akkurat ist, sondern lediglich, dass sie in seinem Kontext akkurat ist. Wir können wohl voraussetzen, dass Kant eine Proposition akzeptieren will, die in Bewertungsumständen wahr ist, die von seinem Kontext, also von seinem Standard bestimmt sind – genau deshalb akzeptiert er ja die Proposition, die er tatsächlich akzeptiert. Wenn Smart nun Kants Zustimmung als inakkurat bewertet, dann urteilt er in diesem Sinne an Kants Intention und Anspruch vorbei: Die Inakkuratheit, die er in Kants Zustimmung sieht, ist keine Inakkuratheit, die Kant versucht, zu vermeiden. Kant möchte eine in seinem eigenen Kontext akkurate Zustimmung geben. Man könnte sagen: In einem wirklich robusten Sinne haben zwei Personen nur dann eine Meinungsverschiedenheit, wenn sie sie mit ihren Urteilen in gewisser Weise dasselbe intendieren: Robuste Meinungsverschiedenheit zwischen A und B: A akzeptiert p, weil A denkt, dass p in Bewertungsumständen BUx wahr ist, und B lehnt p ab, weil B denkt, dass p in Bewertungsumständen BUx nicht wahr ist. Denn nur dann ist ausgeschlossen, dass nicht beide erreichen, was sie erreichen wollen: ein Urteil abzugeben, das in ganz bestimmten Bewertungsumständen akkurat ist. Da Kant und Smart mit ihren Urteilen jedoch ganz unterschiedliche Bewertungsumstände im Auge haben, ist es möglich, dass beide mit ihren Urteilen erreichen, was sie erreichen wollen. Das bedeutet aber letztlich, dass Smart zwar gemäß der relativistischen Semantik von MacFarlane dazu lizenziert ist, Kants Urteil in Smarts Bewertungsumständen zu bewerten und zum Schluss zu kom-
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men, dass es inakkurat ist, er aber nicht behaupten kann, dass Kant nicht erreicht, was Kant erreichen will: ein Urteil abzugeben, das in ganz anderen Umständen akkurat ist. Smart kann Kant ja durchaus zustimmen, dass dessen Urteil in den von Kant anvisierten Bewertungsumständen akkurat ist. Und ebenso kann Kant zu Smart zustimmend sagen: „In den von dir anvisierten Bewertungsumständen ist dein Urteil akkurat. Du hast erreicht, was du erreichen wolltest!“ Wenn aber zwei Personen einander in der Art zustimmen können, dann ist es, wie ich denke, nicht berechtigt, ihnen eine Meinungsverschiedenheit zuzuschreiben. Es liegt keine Meinungsverschiedenheit vor, wenn sich zwei Personen darauf einigen, dass das Urteil des jeweils anderen in bestimmten Bewertungsumständen akkurat und in bestimmten anderen Bewertungsumständen nicht akkurat ist.
7.3.2 Eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit: MacFarlane über Geschmacksurteile Nun beansprucht MacFarlane mit seiner relativistischen Semantik gar nicht, zu zeigen, dass in solchen Fällen, in denen Urteile mit assessment-sensitiven Ausdrücken vorliegen, tatsächlich – wie er es nennt – maximal robuste Meinungsverschiedenheiten möglich sind. Er hält seine Semantik zum Beispiel und insbesondere bei Geschmacksurteilen für einschlägig und möchte zeigen, dass mit dieser Semantik – im Gegensatz zu alternativen kontextualistischen Semantiken – verständlich wird, inwiefern zwei Personen mit verschiedenen Geschmacksurteilen eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit haben. Er gibt explizit zu, dass die Meinungsverschiedenheit, die mit seiner Semantik bei Geschmacksurteilen vorzufinden ist, nicht als Meinungsverschiedenheit zu verstehen ist, wie wir sie in objektivistischen Diskursen vorfinden. Es geht ihm nicht darum, zu zeigen, dass Meinungsverschiedenheiten in Geschmacksfragen vor dem Hintergrund einer relativistischen Semantik genau dieselben Eigenschaften haben wie etwa Meinungsverschiedenheiten in Fragen nach der Anzahl der Erdmonde. MacFarlane schreibt: The relativist [...] need not claim to be vindicating disagreement in all the same senses as the objectivist is. She can acknowledge that, in some respects, disagreement about taste is less robust than paradigm objective disagreement [...].¹³
Seinen Anspruch erklärt er am Anfang des Kapitels Disagreement seines Buches wie folgt:
13 (MacFarlane2014), S. 130.
7.3 Der Wahrheits-Relativismus von MacFarlane |
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Instead of arguing about what is „real“ disagreement, then, our strategy will be to identify several varieties of disagreement. We can then ask, about each dialogue of interest, which of these kinds of disagreement can be found in it, and we can adjudicate between candidate theories of meaning by asking which theories predict the kinds of disagreement we find.¹⁴
Die eben vorgestellte Kritik läuft letztlich darauf hinaus, dass auch mit MacFarlanes Semantik der Disput zwischen Kant und Smart nicht als eine Meinungsverschiedenheit verständlich wird, für die gilt: Preclusion of joint reflexive accuracy: The accuracy of my attitudes (as assessed from my context) precludes the accuracy of your attitude or speech act (as assessed from your context).¹⁵ MacFarlane behauptet nun jedoch explizit, dass genau diese „Art“ von Meinungsverschiedenheit auch einer relativistischen Semantik zufolge nicht in Diskursen über Geschmacksfragen zu finden ist, in denen die beteiligten Parteien unterschiedliche Geschmacks-Standards haben.¹⁶ Und so sollten wir nicht erwarten, dass diese robuste „Art“ von Meinungsverschiedenheit in moralischen Diskursen zu finden ist, wenn man diese Diskurse im Sinne der relativistischen Semantik von MacFarlane versteht. Aber was soll es denn dann bedeuten, dass es „Arten“ von Meinungsverschiedenheiten gibt, und was rechtfertigt es, bei jener Art von Meinungsverschiedenheit, die mit MacFarlanes Semantik in bestimmten Diskursen zu finden ist, überhaupt von Meinungsverschiedenheit zu sprechen? Warum sollte man also von einer Meinungsverschiedenheit sprechen, wenn Kant und Smart mit ihren Akten der Zustimmung respektive Ablehnung unter der Voraussetzung von Perspectival accuracy die Bedingung Can’t both be accurate erfüllen (weil dann nicht beide Akte in einem beliebigen Assessment-Kontext zusammen akkurat sein können), obwohl doch Kants Zustimmung in Kants Assessment-Kontext und Smarts Ablehnung in Smarts Assessment-Kontext korrekt ist (und damit Preclusion of joint reflexive accuracy nicht erfüllt ist)? Um diese Fragen zu klären, möchte ich nun näher auf den Kontext eingehen, in dem MacFarlane seine relativistische Semantik unter anderem entwickelt: Auf den Kontext von Geschmacksdiskursen. MacFarlane wirft hier dem indexikalischen, aber auch dem nicht-indexikalischen Kontextualisten vor, das Problem
14 (MacFarlane2014), S. 119. 15 (MacFarlane2014), S. 130. 16 Vgl. (MacFarlane2014), S. 130.
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der verlorenen Meinungsverschiedenheit in Disputen über Geschmacksfragen zu haben. Er schreibt: If in saying „apples are delicious“ I am saying that they taste good to me, while in saying „apples are not delicious“ you are saying that they taste good to you, then we are no more disagreeing with each other than we would be if I were to say „My name is John“ and you were to say „My name is not John“. Intuitively, though, it does seem that we are disagreeing. We certainly take ourselves to be disagreeing.¹⁷
Der Kontextualist kann nun natürlich einfach sagen, dass diese Intuition daher kommt, dass hier ja auch tatsächlich eine Form von Meinungsverschiedenheit oder Konflikt vorliegt: Wir haben einen unterschiedlichen Geschmack. Auch in folgendem Austausch zwischen Abe und Ben tritt zutage, dass sie sich uneins sind: Disput 1 Abe: „Ich finde Äpfel lecker.“ Ben: „Ich finde Äpfel nicht lecker.“
Es wäre z.B. ganz natürlich, wenn Ben hinzufügte: „Hier kommen wir wohl nicht zusammen. Da sind wir unterschiedlicher Meinung.“ Und das gilt auch, wenn er erkennt, dass die beiden Aussagen nicht widersprüchlich sind. MacFarlane meint aber, dass in folgendem Disput 2 eine Art von Meinungsverschiedenheit vorhanden ist, die in Disput 1 nicht gegeben ist: Disput 2 Abe: „Äpfel sind lecker!“ Ben: „Äpfel sind nicht lecker!“
Und diese Art von Meinungsverschiedenheit besteht darin, dass es in diesem Disput 2 – im Gegensatz zu Disput 1 – angemessen ist, wenn zum Beispiel Ben auf Abe mit dem Vokabular des Verneinens reagiert. MacFarlanes Zitat geht wie folgt weiter: I may say, „Wrong!“ or „That’s false“—neither of which would be appropriate if you had said explicitly that apples taste good to you.¹⁸
17 (MacFarlane2007), S. 18. 18 (MacFarlane2007), S. 18.
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Ben könnte also auf Abes Aussage reagieren, indem er diese Aussage als falsch bezeichnet – und diese Reaktion erscheint in Disput 2 durchaus angemessen, während eine solche Reaktion in Disput 1 fehl am Platze ist. Disput 1a Abe: „Ich finde Äpfel lecker.“ Ben: #„Das ist falsch. Ich finde Äpfel nicht lecker.“¹⁹ Disput 2a Abe: „Äpfel sind lecker.“ Ben: „Das ist falsch. Äpfel sind nicht lecker.“²⁰
In Disput 2 scheint also eine Relation zwischen den Sprechern bzw. ihren Urteilen oder Aussagen zu bestehen, die die Bewertung des zweiten Sprechers angemessen macht und die in Disput 1 nicht gegeben ist. Und insofern kann man hier davon sprechen, dass eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit in Disput 2 besteht, die in Disput 1 nicht besteht: In Disput 2 ist eine Relation vorhanden, die die Sprecher dazu lizenziert, die Aussagen des jeweils anderen zu verneinen oder als falsch zu bewerten. Da – wie ich hier mit MacFarlane voraussetzen möchte – Aussagen darüber, was lecker ist, keine objektiven Aussagen sind, sondern subjektive „in the sense that their truth depends not only on how things are with the objects they explicitly concern, but on how things are with some subject not explicitly mentioned“, können wir ausschließen, dass diese Relation zwischen den Sprechern bzw. ihren Aussagen jene Relation ist, die eine genuine, „wirkliche“ Meinungsverschiedenheit kennzeichnet. Wir können also ausschließen, dass die Relation, die es in Disput 2 rechtfertigt, vom Bestehen einer „Art“ von Meinungsverschiedeneit zu sprechen, weil in Disput 2 Verneinung lizenziert ist, jene Relation ist, die MacFarlane als Preclusion of joint reflexive accuracy bezeichnet: Die Akkuratheit der Aussage von Abe schließt, wenn sie in seinem Assessment-Kontext bewertet wird, die Akkuratheit der Aussage von Ben aus, wenn diese in dessen AssessmentKontext bewertet wird. Welche Relation kann also nun erklären, warum Disput 2 angemessen ist und Disput 1 nicht? MacFarlanes Vorschlag ist, wie wir gesehen haben, dass die Relation zwischen den Aussagen in Disput 2 (Äpfel sind lecker vs. Äpfel sind nicht lecker) als folgende Relation zu verstehen ist: Da „lecker“ in Disput 2 als
19 So wäre es z.B. angemessen, wenn Abe auf diese Erwiderung antworten würde: „Bist du blöd? Ich habe doch gesagt, dass ich Äpfel lecker finde.“ 20 So wäre es z.B. wiederum unangemessen, wenn Abe auf Ben reagieren würde, indem er sagt: „Mann, ich habe doch nur gesagt, dass ich Äpfel lecker finde. Du hast mich völlig missverstanden!“
178 | 7 Disagreement regained?
assessment-sensitiver Ausdruck verwendet wird, müssen die Aussagen in den Bewertungsumständen eines Assessors bewertet werden. Und da nicht beide Aussagen in solchen Bewertungsumständen akkurat sein können, besteht zwischen diesen Aussagen die Relation Can’t both be accurate: Wenn man die Aussagen bewertet, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass eine von beiden nicht akkurat ist. Und weil diese Relation einen Assessor dazu lizenziert, eine der beiden Aussagen als inakkurat oder falsch zu bewerten, kann man sagen, dass in Disput 2 eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit besteht. Mit MacFarlane kann man also sagen, dass in Disput 2 – da die Sprecher einen assessment-sensitiven Ausdruck verwenden – eine Relation zwischen den beiden Aussagen (Äpfel sind lecker vs. Äpfel sind nicht lecker) besteht, die eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit ist: Eine Relation zwischen Aussagen, die – im Gegensatz zur Relation zwischen Aussagen wie in Disput 1 – zum Gebrauch eines „Verneinungs-Vokabulars“ lizenziert. Bezüglich der Leitfrage dieses Kapitels – wie kann der metaethische Relativismus unsere Praxis des Bewertens der moralischen Urteile von anderen rechtfertigen – muss ich nicht entscheiden, ob es Sinn macht, mit MacFarlane von einer robusten²¹ Meinungsverschiedenheit zu sprechen, wenn für zwei Urteile, die assessment-sensitive Ausdrücke enthalten, die Bedingung Can’t both be accurate erfüllt ist. Das scheint mir letztlich eine terminologische Frage zu sein. Entscheidend ist für die Leitfrage jedenfalls, dass MacFarlanes relativistische Semantik die Mittel bereitstellt, mit denen der metaethische Relativist revisionäre Konsequenzen für unsere moralische Praxis vermeiden kann: Wenn nämlich moralische Ausdrücke wie moralisch richtig oder moralisch sollen im Sinne MacFarlanes assessment-sensitive sind, dann ist die moralische Praxis des Bewertens gerechtfertigt und kann aufrechterhalten werden. Denn dann ist – wie wir gesehen haben – Smart aus Irwing semantisch dazu lizenziert, Kants Behauptung als inakkurat oder als falsch zu bezeichnen. Und auch Smarts Bewertung in Smarts Bericht ist demnach lizenziert und angemessen: „Kant glaubt, dass es moralisch richtig ist, Irwing frei zu sprechen. Aber diese Überzeugung ist falsch!“
21 MacFarlane grenzt die Robustheit der Art von Meinungsverschiedenheit, die mit seiner relativistischen Semantik z.B. in Geschmacksdiskursen vorzufinden ist, von der Robustheit ab, die objektivistische Meinungsverschiedenheiten kennzeichnet, indem er letztere als „maximally robust disagreement“ bezeichnet, vgl. (MacFarlane2014), S. 133.
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Für Smarts Inferenz gilt das ebenfalls: [Smarts Inferenz] (1) Kant ist der Überzeugung, dass er Irwing freisprechen soll. (2) Es ist aber nicht der Fall, dass er Irwing freisprechen soll. (K) Also ist Kants Überzeugung falsch.
Da Smart Kants Überzeugung anhand von Bewertungsumständen beurteilt, die von seinem eigenen Assessment-Kontext selektiert werden – also anhand von Bewertungsumständen, in denen es nicht der Fall ist, dass Kant Irwing freisprechen soll –, ist Smarts Schluss korrekt: Kant hat – in Smarts Assessment-Kontext – eine falsche Überzeugung. Ob nun in diesen Beispielen eine robuste, genuine Meinungsverschiedenheit gegeben ist und ob es Sinn macht, von einer „Art“ von Meinungsverschiedenheit zu sprechen, scheint mir für dieses Ergebnis letztlich irrelevant zu sein: Wichtig ist, dass MacFarlanes Semantik zufolge eine Relation zwischen den Aussagen und Urteilen von Kant und Smart bzw. zwischen den jeweiligen Urteilen und den entsprechenden Assessment-Kontexten besteht, die jene Bewertungspraxis, die Smart in den Beispielen an den Tag legt, lizenziert. Und insofern hat der metaethische Relativist mit der relativistischen Semantik eine Lösung für unser Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit gefunden. Mit dieser Semantik könnte der Relativist also seinen Anspruch einlösen, eine Position zu formulieren, die nicht-revisionär(3*) ist.
7.3.3 Die Pointe von Assessment-Sensitivity Wie ich gezeigt habe, motiviert MacFarlane seine relativistische Semantik für Geschmacksdiskurse vor allem mit dem Vorwurf, dass kontextualistische Semantiken mit bestimmten linguistischen Evidenzen nicht vereinbar seien. So könnten diese eben nicht erklären, warum Geschmacksurteile der Form „Äpfel sind lecker“ von einem Dritten angemessen verneint und als falsch oder inakkurat bezeichnet werden können, obwohl sie gemäß des Geschmacksstandards des Sprechers akkurat sind. Mit seiner Idee, dass Ausdrücke wie „lecker“ assessment-sensitiv sind und die Akkuratheit von Geschmacks-Urteilen daher perspektivisch ist, kann er nun diese linguistischen Praktiken rechtfertigen. Wie ich argumentiert habe, kann der metaethische Relativist diese Idee auf den moralischen Diskurs übertragen und damit auch einschlägige Praktiken des Bewertens der moralischen Urteile anderer rechtfertigen, ohne die grundlegende These aufzugeben, dass moralische Urteile relativ zu Standards sind.
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Nun stellen sich jedoch angesichts von MacFarlanes Semantik folgende Fragen: Welchen Sinn macht denn solch eine Semantik? Welchen Sinn haben assessment-sensitive Ausdrücke? Angenommen, diese relativistische Semantik ist zutreffend: Wozu hat unsere Sprache solche assessment-sensitiven Ausdrücke? Diese Fragen stellen sich insbesondere, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, wie die Konstellation gestaltet ist, die MacFarlane als eine „Art“ von Meinungsverschiedenheit bezeichnet. Ich hatte in meiner Auseinandersetzung festgestellt, dass zwei Personen mit unterschiedlichem Standard auch mit der relativistischen Semantik von MacFarlane in einem relevanten Sinne aneinander vorbeireden und vor allem aneinander vorbeibewerten. MacFarlanes Semantik lizenziert zum Beispiel Ben dazu, Abes Urteil als inakkurat zu bewerten – aber nur weil er es in Bewertungsumständen bewerten darf, die Abe mit seinem Urteil überhaupt nicht im Auge hatte. Ben ist also dazu lizenziert, in gewisser Weise sehr insensitiv mit Abes Urteil umzuspringen: Obwohl Abe eigentlich in seinem Urteil seinen eigenen Standard „anwendet“ – er also in diesem Sinne Bewertungsumstände im Auge hat, die von diesem Standard selektiert werden – darf Ben dessen Urteil so bewerten, als wende Abe den Standard von Ben an – als habe Abe also Bewertungsumstände im Auge, die von Bens Standard selektiert werden. Und das erscheint doch nicht nur unfair gegenüber Abe, sondern auch recht sonderbar: Warum in aller Welt sollte Ben derart an Abes Intentionen vorbeibewerten? Und vor allem: Warum sollte er semantisch dazu lizenziert sein? MacFarlane selbst ist ebenfalls nicht entgangen, dass seine Semantik sonderbare Konsequenzen hat. So stellt er etwa für Geschmacksdiskurse – wie den Disput 1 zwischen Abe und Ben über den Geschmack von Äpfeln – fest, dass sein Wahrheits-Relativismus ein seltsam anmutendes challenge-and-response-Spiel legitimiert: Ben kann Abes Behauptung herausfordern, sie also als inakkurat bewerten und von Abe fordern, diese Behauptung zu verteidigen oder zurückzuziehen. Das führt aber zu einer seltsam anmutenden Auseinandersetzung: The challenger thinks (rightly) that he has absolutely compelling grounds for thinking that the assertion was not accurate. But the original asserter thinks (also rightly, from her point of view) that the challenger’s grounds do nothing to call into question the accuracy of the assertion. The asserter’s vindication will seem to the challenger not to show that the assertion was accurate, and the challenger will continue to press his claim. (Until the game gets boring.)²²
Welchen Sinn soll es machen, wenn Ben Abes Urteil (oder dessen Behauptung) aus seinem Assessment-Kontext heraus als inakkurat bewertet und damit heraus-
22 (MacFarlane2007), S. 29.
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fordert, Abe darauf sein eigenes Urteil aus seinem Kontext heraus als akkurat bewertet und damit eine erfolgreiche response anbietet, die dann Smart wiederum mit Bezug auf seinen Assessment-Kontext als nicht erfolgreich bewerten und wieder herausfordern kann? Dieses Spiel wird nicht nur ziemlich schnell langweilig, es scheint vor allem irrational zu sein. Warum sollten Abe und Ben überhaupt ein solches Spiel spielen? Angenommen also, die relativistische Semantik ist zutreffend: Wozu gibt es eine Semantik, die solche irrational erscheinenden Sprachspiele ermöglicht? MacFarlane stellt sich dieselbe Frage und er versucht sich an einer Antwort: Assessment-sensitive expressions are designed, it seems, to foster controversy, where usesensitive expressions preclude it. [...] Perhaps the point is to bring about agreement by leading our interlocuters into relevantly different contexts of assessment. If you say ‘skiing is fun’ and I contradict you, it is not because I think that the proposition is false as assessed by you in your current situation, with the affective attitudes you now have, but because I hope to change these attitudes. Perhaps, then, the point of using controversy-inducing assessment-sensitive vocabulary is to foster coordination of contexts. We have an interest in sharing standards of taste, senses of humor, and epistemic states with those around us. The reasons are different in each case. In the case of humor, we want people to appreciate our jokes, and we want them to tell jokes we appreciate. In the case of epistemic states, it is manifestly in our own interest to share a picture of the world, and to learn from others when they know things that we do not.²³
MacFarlane gibt damit eine letztlich pragmatische Erklärung für die assessmentsensitivity bestimmter Ausdrücke: Sie ermöglicht Kontroversen, die ohne sie nicht – oder zumindest nicht in dieser Weise – möglich wären. So ermöglicht die Verwendung von Sätzen wie „X ist lecker“ oder „X ist wohlschmeckend“ Kontroversen, in denen es um etwas geht, das den Beteiligten wichtig ist: Dass der jeweils andere einen ähnlichen Geschmack hat wie man selbst oder zumindest so entscheidet oder handelt, dass man bekommt, was einem schmeckt. Stellen wir uns Judy vor: Sie liebt Artischocken und trockenen Rotwein und es ist ihr sehr wichtig, mit jemandem liiert zu sein, der sich ebenfalls viel aus Artischocken und Rotwein macht. Judy und Jane sind seit längerem ein Paar, doch eines Tages wirft Jane ihrer Freundin während eines kleinen Streits an den Kopf: „Und was ich dir schon immer sagen wollte: Artischocken und Rotwein sind absolut nicht wohlschmeckend!“ Judy blickt Jane ernst an und sagt dann: „Tja, da liegst du verkehrt. Artischocken und Rotwein sind lecker!“ Selbst wenn wir annehmen, dass Judy in diesem Augenblick verstanden hat, dass Jane Artischocken und Rotwein einfach nicht mag, dass Janes Aussage also relativ zu einem anderen Standard zu verste-
23 (MacFarlane2007), S. 30.
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hen ist, so ist ihre Erwiderung doch pragmatisch angemessen: Sie gibt damit zu verstehen, dass sie das nicht auf die leichte Schulter nimmt, dass sich hier ein Bruch zwischen ihnen abzuzeichnen beginnt und dass sie es nicht akzeptieren will, wenn sie beide in Geschmacksfragen nicht auf einer Wellenlänge liegen. Und Jane könnte genau durch diese Aussage realisieren, dass Judy der Meinung ist, sie passe nicht mit jemandem zusammen, der Artischocken nicht mag. Nun könnte Jane auf ihrem Standpunkt beharren und bekräftigen: „Nein, du irrst dich! Artischocken sind eklig!“, und damit würde sie wiederum zu verstehen geben, dass sie nicht länger gewillt ist, sich dem Geschmack von Judy unterzuordnen, und man kann sich sogar vorstellen, dass der Moment, in dem eben diese Aussage im Raum steht, der Moment ist, in dem der Bruch zwischen ihnen besiegelt wird – und zwar durch diese Aussage und ganz bewusst durch diese Aussage. Dieses „Spiel“ erscheint nicht irrational, es hat eine Pointe und diese Pointe erschließt sich mit Bezug auf die konversationalen Interessen von Judy und Jane: Sie wollen abstecken, was ihnen jeweils wichtig für ihre Beziehung ist. Und dieses Spiel lebt davon, dass sie insensitive Bewertungen des jeweils anderen Urteils abgeben – gerade indem sie insensitiv auf den anderen reagieren, verfolgen sie ihr konversationales Interesse recht effektiv. Mit solchen pragmatischen Überlegungen kann man also erklären, welchen Zweck assessment-sensitive Ausdrücke erfüllen und warum eine Semantik Sinn macht, die es erlaubt, Urteile, die solche Ausdrücke enthalten, in Bewertungsumständen zu bewerten, die von einem ganz anderen Kontext determiniert sind als jenem, den der Sprecher im Auge hatte. Solche Überlegungen kann MacFarlane nun auch nutzen, um seine relativistische Semantik so flexibel zu gestalten, dass sie mit Urteilspraktiken in Geschmacksdiskursen vereinbar ist, die auf den ersten Blick mit seiner Semantik unvereinbar sind. Manche Konversationen über Geschmacksfragen sind nicht mit MacFarlanes Definition von Perspectival accuracy vereinbar. Die Definition lautete: Perspectival accuracy. An acceptance (rejection) of a proposition p at a context CU is accurate (as assessed from a context CA ) iff p is true (false) at the circumstance , where wCU = the world of CU and sCA = the standard of taste of the assessor at CA .²⁴
Nehmen wir das Beispiel eines Vaters, der im Supermarkt hört, wie sich seine beiden Kinder darüber streiten, welche Tüte Bonbons sie auswählen sollen: Tim: „Die Super-Wiggles sind lecker!“ Karl: „Nein, die Hyper-Bypers sind lecker!“
24 (MacFarlane2007), S. 26. Meine Herv.
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Der Vater weiß, dass Tim und Karl keine bitteren Bonbons mögen und dass die Super-Wiggles ziemlich bitter sind. Er selbst liebt bittere Bonbons. Von den HyperBypers weiß er, dass sie genau den Geschmack von Tim und Karl treffen, er selbst findet diese Bonbons aber grauenhaft süß. Als fürsorglicher Vater greift er in den Streit ein und sagt: Vater: „Nein, Tim, du irrst dich. Die Super-Wiggles sind nicht lecker! Die Hyper-Bypers sind lecker!“
Zuhause fragt Tim dann seinen Vater (beide reden gerne etwas geschwollen): Tim: „Papa, im Supermarkt hast Du gesagt, dass Hyper-Bypers lecker sind. Ist dein Urteil wahr?“ Vater: „Aber natürlich, Tim. Mein Urteil ist wahr!“
Wenn MacFarlanes Semantik darauf hinausläuft, dass die Akkuratheit eines Urteils gemäß der Formulierung von Perspectival accuracy vom Standard des Bewertenden abhängt, dann liefert sie für dieses Beispiel ein kontra-intuitives Ergebnis. Denn dann ist des Vaters Bewertung seines eigenen Urteils eine falsche Bewertung: Wenn er sein Urteil in seinem Assessment-Kontext bewertet, dann selektiert dieser Kontext laut Perspectival accuracy seinen eigenen GeschmacksStandard für die relevanten Bewertungsumstände. Hyper-Bypers sind aber gemäß seines Geschmacks-Standards nicht lecker. Demnach ist sein Urteil in seinem Assessment-Kontext inakkurat bzw. nicht wahr. Ich denke aber, der Vater würde (selbst wenn er vollständig informiert und rational wäre) darauf bestehen, dass seine Bewertung korrekt und sein Urteil wahr ist – zumindest solange er sich in diesem im Beispiel bestehenden konversationalen Kontext befindet. Der konversationale Kontext sowohl seines Urteils im Supermarkt als auch seiner Bewertung des Urteils ist durch einen ganz spezifischen konversationalen Zweck gekennzeichnet: Der Zweck seines Urteils im Supermarkt bestand wohl darin, eine gute Basis für eine Empfehlung an seine Kinder zu haben. Also hat der Vater im Supermarkt den Geschmacksstandard der Kinder „angewendet“ und auf dessen Basis sein Urteil gefällt. Wenn er dieses Urteil nun im Nachhinein auf Nachfrage seines Sohnes bewertet, dann ist es naheliegend, dass auch diese Bewertung mit dem konversationalen Interesse geschieht, seinem Sohn die gegebene Empfehlung zu bestätigen. Also wendet er wiederum den Geschmacksstandard der Kinder an und kommt auf dessen Basis zur Bewertung, dass das Urteil wahr ist. Wenn man nun den konversationalen Kontext ein wenig verändert, dann führt die genannte Formulierung von Perspectival accuracy wieder zu einem passenden Ergebnis: Nehmen wir an, ein Bekannter der Familie hat die Konver-
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sation im Supermarkt mitbekommen und erzählt der Freundin des Vaters, dass er gehört hat, wie dieser Hyper-Bypers als lecker bezeichnet hat. Er verschweigt der Freundin aber, in welchem Kontext er das gesagt hat. Die Freundin ist nun einigermaßen verunsichert und befürchtet das Schlimmste. Als der Vater nach Hause kommt, fragt sie ihn: „Im Supermarkt hast du gesagt, dass Hyper-Bypers lecker sind. Ist das wirklich deine Meinung?“ Der Vater ist in Eile und kann seiner Freundin die Situation im Supermarkt nicht näher schildern. Um sie aber zu beruhigen, sagt er: „Nein, quatsch! Das ist natürlich falsch, was ich da gesagt habe.“ In diesem Kontext, in dem der Vater seiner Freundin versichern will, dass er Hyper-Bypers ebenso verabscheut wie sie, ist es nun durchaus angemessen, für die Bewertung seines Supermarkt-Urteils seinen eigenen Geschmacks-Standard (und nicht den der Kinder) zu fokussieren. In diesem Fall bewertet der Vater sein Urteil also genau so, wie Perspectival accuracy prognostiziert. Um mit dem ersten Beispiel zurecht zu kommen, müsste die relativistische Semantik es zulassen, dass der Assessment-Kontext nicht immer Bewertungsumstände selektiert, die aus dem Geschmacksstandard des Bewertenden bestehen. Sie müsste es ermöglichen, dass die Bewertungsumstände von – für den Assessment-Kontext – relevanten Geschmacksstandards konstituiert werden. MacFarlane sagt in einer Fußnote seines Buches, dass die relativistische Semantik genau dies zulassen kann: [...] the relativist view might be made more flexible by talking of the „taste relevant at a context“ rather than the „taste of the agent of the context“—leaving room for special cases in which the relevant taste is not the taste of the agent.²⁵
Um aber nun zu erklären, warum ein bestimmter (und nicht ein anderer) Geschmacksstandard in einem Assessment-Kontext relevant ist und welche Faktoren für die Auswahl verantwortlich sind, müsste sich MacFarlane auf die in den betreffenden Kontexten einschlägigen konversationalen Interessen beziehen: Im Falle der Bewertung seines Supermarkturteils vor seinem Sohn auf das Interesse des Vaters, seine Empfehlung zu bekräftigen, und im Falle seiner Bewertung desselben Urteils vor seiner Freundin auf das Interesse, ihr zu bestätigen, dass er in Geschmacksfragen genauso tickt wie sie. Warum setze ich mich hier so ausführlich mit der Frage auseinander, ob und wie man den Sinn und die Funktionsweise von assessment-sensitiven Ausdrücken in Geschmacksdiskursen erklären kann? Mir ging es darum, deutlich zu machen, dass MacFarlane zum Teil recht komplexe pragmatische Phänomene zur Erklä-
25 (MacFarlane2014), S. 144, Fn. 2.
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rung heranziehen muss, wie und warum die von seiner Semantik lizenzierten perspektivischen Bewertungen überhaupt vorgenommen werden sollten. Wenn man sich diese pragmatischen Phänomene aber genau anschaut, wird fraglich, warum man überhaupt der radikalen Abkehr von orthodoxen semantischen Vorstellung durch MacFarlanes Wahrheits-Relativismus folgen sollte: Denn diese pragmatischen Phänomene alleine reichen völlig aus, um die Bewertungspraktiken in Geschmacksdiskursen auch vor dem Hintergrund eines indexikalischen Kontextualismus zu legitimieren. Das möchte ich im Folgenden zeigen: Schauen wir uns dazu noch einmal den Fall von Judy und Jane an und nehmen mit dem indexikalischen Kontextualisten an, das Urteil von Judy „Artischocken sind nicht lecker!“ drückt die standard-relationale Proposition Artischocken sind relativ-zu-Janes-Standard nicht lecker aus. Der Kontextualist muss nun erklären, wie es angemessen sein kann, wenn Judy dieses Urteil als falsch bewertet – obwohl sie, wie wir annehmen, begriffen hat, dass Jane Artischocken einfach nicht mag. Der Punkt ist nun: Wenn der Wahrheits-Relativist begründen kann, wieso Judy, vorausgesetzt, dass „lecker“ ein assessment-sensitiver Ausdruck ist, zur Bewertung von Janes Urteil ausgerechnet ihren eigenen Standard in die Bewertungsumstände eingehen lassen darf – obwohl sie, wie ich gezeigt habe, einer angemessen flexiblen relativistischen Semantik zufolge prinzipiell jeden beliebigen, also auch den Standard von Jane hätte wählen können –, dann kann auch der Kontextualist unter Voraussetzung seiner Analyse von Geschmacksurteilen begründen, dass Judy angemessen bewertet. Die Begründung des WahrheitsRelativisten, so habe ich vorgeschlagen, sollte lauten: Weil Judy in Reaktion auf Janes Urteil klar machen will, wie wichtig es ihr ist, dass sie einen gemeinsamen Geschmacksstandard haben, wäre es für dieses konversationale Interesse nicht gerade förderlich, wenn sie Janes Urteil in Janes Bewertungsumständen bewerten würde. Denn dann müsste sie werten, dass Jane korrekt urteilt, und damit etwas vermitteln, was sie nicht vermitteln will: Dass es ihr gar nichts ausmacht, wenn Jane Artischocken nicht mag. Dadurch aber, dass sie Janes Urteil als falsch bewertet – und damit in Bewertungsumständen bewertet, in die ihr eigener Standard eingeht –, vermittelt sie recht effektiv, worum es ihr geht: Sie markiert durch die Verneinung des Urteils von Jane, dass es ihr wichtig ist, einen gemeinsamen Standard zu haben. Analoge Überlegungen kann der Kontextualist indes zur Verteidigung seiner semantischen Analyse fruchtbar machen: Wenn Judy das Urteil von Jane als korrekt bezeichnen würde – was es dem Kontextualisten zufolge ja auch ist –, würde sie etwas angesichts ihres konversationalen Interesses Irreführendes vermitteln: Dass sie kein Problem mit Janes Beichte hat. Indem sie es aber als falsch bewertet – und damit so wertet, als habe Jane eine Proposition ausgedrückt, die auf Judys Standard hin relativiert ist –, teilt sie genau das mit, worum es ihr geht: Mir ist
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es wichtig, dass du Artischocken magst. Dass sie damit eine semantisch nicht angemessene Bewertung abgibt, ist kein Problem für den Kontextualisten: Sie gibt eine pragmatisch angemessene Bewertung, und das reicht völlig aus, um ihre Bewertung als lizenziert zu bezeichnen. Ich möchte MacFarlane also zustimmen, wenn er schreibt: From lofty philosophical heights, the language games we play with word like ‘funny’ and ‘likely’ may seem irrational. But that is no reason to deny that we do play theses games, or that they have a social purpose.²⁶
Meine eben angestellten Überlegungen zeigen jedoch, dass wir der Folgerung von MacFarlane nicht beipflichten müssen. MacFarlane schreibt weiter: If describing our use of these expressions requires relativizing the accuracy of speech acts and mental states to contexts of assessment, then this much relativism is required by our dispensation to describe the world as it is, not as we think it ought to be.²⁷
MacFarlane ist der Meinung, dass eine Beschreibung unseres Gebrauchs dieser Ausdrücke tatsächlich eine relativistische Semantik verlangt. Wie ich versucht habe zu zeigen, besteht aber kein Anlass zu einer solchen Relativierung: Um zu erklären, wie und warum in bestimmten Konversationskontexten gerade jene Assessment-Kontexte selektiert werden, die selektiert werden müssten, um den Wahrheits-Relativismus mit den in diesen Konversationskontexten vorzufindenden Bewertungen zu vereinbaren, muss MacFarlane auf die entsprechenden konversationalen Interessen rekurrieren. Nur so kann er erklären, warum in manchen Kontexten der Standard des Sprechers in die Bewertungsumstände selektiert wird und in manch anderen Kontexten ein Standard, den der Sprecher mit seiner Aussage überhaupt nicht angewendet oder genutzt hat. Anders gesagt: Nur so kann MacFarlane den Sinn von Sprachspielen mit assessment-sensitiven Ausdrücken und deren Funktionsweise erläutern. Und der Punkt ist: Genau diese konversationalen Interessen würden auch erklären, warum die korrespondierenden Bewertungspraktiken angemessen sind, wenn man den indexikalischen Kontextualismus als zutreffende Analyse für Geschmacksurteile annimmt. Denn insofern diese Interessen erklären, dass und wieso es Sinn macht, in manchen Kontexten die Aussagen eines Sprechers vor dem Hintergrund eines Standards zu bewerten, den dieser beim Tätigen seiner Aussage gar nicht „genutzt“ hat, erklären sie die entsprechenden Praktiken ganz unabhängig davon, welche der beiden Semantiken man voraussetzt. Denn auch wenn man den indexikalischen Kontex-
26 (MacFarlane2007), S. 30. 27 (MacFarlane2007), S. 30.
7.4 Schluss |
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tualismus voraussetzt, bleibt es dabei, dass es in den entsprechenden Kontexten für den Bewerter Sinn macht, die Aussage eines Sprechers so zu bewerten, als habe dieser einen anderen Standard vor Augen gehabt. Ich möchte hier an das von Paul Grice vorgeschlagene und von ihm als Modified Occam’s Razor bezeichnete methodologische Prinzip anschließen, das eine Sparsamkeits-Bedingung für semantische Theorien formuliert.²⁸ Demnach sollte in Reaktion auf linguistische Evidenzen, die eine gewisse Variabilität im Gebrauch von bestimmten Ausdrücken aufzeigen, die Postulierung von semantischer Komplexität vermieden werden, wenn adäquate pragmatische Erklärungen der Daten gegeben werden können. Grices Schlachtruf lautet: „Senses are not to be multiplied beyond necessitiy.“²⁹ In Anlehnung daran möchte ich sagen: Die Semantik von Ausdrücken sollte zur Lösung von puzzles³⁰ nicht unnötig komplexer gemacht werden, wenn pragmatische Erklärungen verfügbar sind. Angesichts der Tatsache, dass die von MacFarlane entwickelte relativistische Semantik eine radikale Abkehr von orthodoxen semantischen Vorstellungen darstellt und die von seiner Theorie beanspruchten semantischen Regeln nur vor dem Hintergrund mehr oder weniger komplexer pragmatischer Überlegungen ihren Sinn erhalten, scheint mir eine semantische Theorie, die wie der indexikalische Kontextualismus im Rahmen orthodoxer Annahmen verbleibt, die linguistische Praxis aber mit Bezug auf dieselben pragmatischen Überlegungen erklären kann, vorzuziehen zu sein.
7.4 Schluss Ich habe in diesem Kapitel gezeigt, dass es dem nicht-indexikalischen Kontextualismus nicht gelingt, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen. Dadurch, dass in dieser Position die Wahrheit von Propositionen vom Äußerungskontext abhängt, ist Smarts Bewertung von Kants Urteil („Dein Urteil ist falsch“) – obwohl Kant dieselbe Proposition akzeptiert, die Smart ablehnt – nicht lizenziert. Ich habe dann argumentiert, dass mit dem Wahrheits-Relativismus von MacFarlane das Problem in gewisser Weise gelöst werden kann: Unter der Annahme der Assessment-Abhängigkeit propositionaler Wahrheit und der damit verbundenen perspektivischen Akkuratheit von Urteilen ist Smarts Bewertung lizenziert. Ich habe aber auch im Zusammenhang mit MacFarlanes Auseinan-
28 Vgl. (Grice1989), Kapitel 2. 29 (Grice1989), S. 47. 30 Im vorliegenden Fall besteht das puzzle darin, wie unsere Praxis des Bewertens von Geschmacksurteilen legitimiert werden kann, wenn sie doch – wie fast alle Beteiligten an der Debatte annehmen – irgendwie subjektive oder relative Urteile sind.
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dersetzung mit Geschmacksdiskursen gezeigt, dass der Wahrheits-Relativist auf pragmatische Überlegungen angewiesen ist, um den Sinn und die Funktionsweise von den für seine Position kennzeichnenden assessment-sensitiven Ausdrücken in solchen Diskursen zu erklären. Diese pragmatischen Überlegungen sind jedoch, wie ich argumentiert habe, schon alleine ausreichend, um die betrachteten Bewertungspraktiken als legitim verstehen zu können – also unabhängig davon, welche Semantik man für die entsprechenden Diskurse voraussetzt. Im folgenden Kapitel werde ich eine Strategie vorstellen, die Gunnar Björnsson und Stephen Finlay zur Verteidigung des indexikalischen Kontextualismus für moralische Urteile im Zusammenhang des Problems der verlorenen Meinungsverschiedenheit entwickelt haben. Diese Strategie macht ebenfalls pragmatische Überlegungen fruchtbar, die zeigen, dass und wie der Kontextualismus zum Beispiel mit Praktiken, wie sie in Irwing zum Ausdruck kommen, vereinbar ist.
8 Der indexikalische Kontextualismus 8.1 Einleitung In diesem Kapitel werde ich eine Strategie vorstellen, mit der versucht wird, das für den indexikalischen Kontextualisten besonders einschlägige Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen und damit eine Form des Metaethischen Relativismus zu formulieren, die mit unserer gängigen Praxis des Bewertens moralischer Urteile vereinbar ist. Der Anspruch dieser Strategie ist also, eine nicht-revisionäre Form des Metaethischen Relativismus zu begründen. Gunnar Björnsson und Stephen Finlay haben die Grundidee dieser Strategie in ihrem Paper „Metaethical Contextualism Defended“ entwickelt und Stephen Finlay hat sie in seiner Monographie Confusions of Tongues systematischer entfaltet. Während die Autoren in ihrem Paper davon ausgehen, dass jede komplette moralische Proposition eine Relation zu einem moralischen Standard enthält, moralische Urteile mithin als standard-relationale Urteile zu verstehen sind, argumentiert Finlay in seinen Publikationen, dass normative Urteile generell und moralische Urteile im Besonderen als end-relational begriffen werden müssen. Er bezeichnet seine Theorie daher auch als „End-Relational Theory of Normative Judgement“. Der standard-relationalen Semantik zufolge drückt zum Beispiel jede Äußerung des Satzes „A muss (moralischerweise) ϕ tun“ die Proposition aus, dass A relativ zu Standard s ϕ tun muss. Finlays Theorie zufolge ist solchen Äußerungen implizit eine „In order that e“-Klausel vorangestellt – wobei mit e ein end, also ein Zweck oder ein Ziel, bezeichnet wird –, so dass mit diesen Äußerungen die Proposition ausgedrückt wird: Dafür, dass e, muss A ϕ tun. Nun stellt sich beiden semantischen Analysen natürlich unser bekanntes Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit. Hier ist noch einmal zu Erinnerung der Fall Irwing – diesmal mit moralischen Müssens-Urteilen: [Irwing*] Kant: „Ich muss den unschuldigen Irwing freisprechen.“ Smart: „Nein, dein Urteil ist falsch. Du musst den unschuldigen Irwing verurteilen.“
Der kontextualistischen Analyse von Björnsson und Finlay zufolge müssten die moralischen Urteile von Kant und Smart wie folgt vervollständigt werden:
190 | 8 Der indexikalische Kontextualismus
[Irwing-komplett] Kant: „Ich muss-relativ-zum-kantianischen-Standard den unschuldigen Irwing freisprechen.“ (Kant: „Dafür, dass ich Personen immer als Zweck und niemals als Mittel behandle, muss ich den unschuldigen Irwing freisprechen.“) Smart: „Nein, dein Urteil ist falsch. Du musst-relativ-zum-utilitaristischen-Standard den unschuldigen Irwing verurteilen.“ (Smart: „Nein, dein Urteil ist falsch. Dafür, dass der Gesamtnutzen maximiert wird, musst du den unschuldigen Irwing verurteilen.“)
Beide Autoren gehen nun davon aus, dass die Standards und Zwecke, auf die sich ein Sprecher in einem moralischen Urteil bezieht, Standards und Zwecke sind, die für ihn eine besondere Bedeutung haben. Björnsson und Finlay sprechen davon, dass die Sprecher den Standard unterschreiben: According to contextualism, our moral standards are relativized to the standards to which we subscribe. To subscribe to a moral standard is (generally and inter alia) to prefer that people conform to it in their conduct.¹
Björnsson und Finlay lassen an dieser Stelle offen, wie genau diese Art des Unterschreibens eines Standards und der damit einhergehenden Präferenz für allgemeine Konformität mit dem Standard zu verstehen ist. Sie merken an, dass hier eine spezifische Einstellung am Werk sein muss, die von anderen, nichtmoralischen Formen des Befürwortens und Präferierens zu unterscheiden wäre: Schließlich kann man auch den Standard der Etikette „unterschreiben“ und eine Präferenz dafür haben, dass sich alle Menschen gemäß der Etikette verhalten, ohne dass dies plausibel als „moral subscription“ zu verstehen ist.²
1 (Bjoernsson2010), S. 28. 2 Im angeführten Zitat sprechen Björnsson und Finlay von „moral standard“. Sie klären jedoch nicht darüber auf, was einen moralischen von einem nicht-moralischen Standard unterscheidet. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bieten sie eine inhaltliche Unterscheidung an. Z.B. könnten sie moralische Standards als Standards begreifen, die in einer näher zu spezifizierenden Weise auf das Wohl von Lebewesen bezogen sind. Die Frage ist hier, ob ein hinreichend weiter Begriff von Wohlergehen gefunden werden kann, der nicht Standards oder Kriterien ausschließt, die viele Menschen als moralisch begreifen. Oder Björnsson und Finlay gehen von einem formalen Begriff des Standards aus und lokalisieren den Unterschied nicht im Inhalt oder der Struktur von Standards, sondern in der Art der Einstellung, die gegenüber diesen Standards eingenommen wird. Demnach wäre ein Standard Y für eine Person A ein moralischer Standard, wenn sie diesen auf eine spezifisch moralische Weise befürwortet, während Y für eine Person B kein moralischer Standard ist, weil sie ihn nicht auf diese Weise befürwortet.
8.1 Einleitung |
191
Ich denke, als grobe Annäherung an den Begriff der spezifisch moralischen Befürwortung („moral subscription“) oder der spezifisch moralischen Präferenz kann man sagen: Jemand der mit dieser Einstellung einen Standard hat, verlangt von sich und anderen Konformität mit diesem Standard, d.h. er fordert oder schreibt sich und anderen vor, sich im Handeln an diesem Standard zu orientieren, gleichgültig ob er selbst oder andere in konkreten Situationen entsprechend zu handeln wünschen. Und das würde einen Unterschied zu einer Unterschrift unter den Standard der Etikette markieren, wenn mit einer solchen Unterschrift nicht die Bereitschaft einhergeht, von anderen gegen deren Wünsche und Präferenzen Konformität mit der Etikette zu fordern. Wessen Unterschrift unter den Standard der Etikette aber mit einer solchen Bereitschaft einhergeht, der scheint – so würde ich sagen – tatsächlich eine „moral subscription“ abgeliefert zu haben: Er scheint die Forderungen der Etikette als moralische Forderungen zu verstehen. In diesem Sinne scheint mir wohl auch Finlay die Einstellung zu verstehen, die moralisch Urteilende seiner Theorie zufolge zu den impliziten Zwecken einnehmen. Jedenfalls schreibt er, dass diese Zwecke für die Urteilenden von „pressing concern“ seien, und dass „their importance to us typically overrides the importance of other standards or ends“³. Auch hier scheint Finlay also eine spezifische Art der Präferenz anzunehmen, die moralisch Urteilende für die ihren Urteilen impliziten Zwecke haben. Die Pointe des Ansatzes von Björnsson und Finlay besteht nun in der Annahme, dass moralische Urteilende diese nicht-kognitiven Einstellungen gegenüber ihrem Standard oder dem entsprechenden Zweck immer auf pragmatischem Wege mitteilen – und zwar durch eine konversationale Implikatur. Mit dieser Annahme, so argumentieren sie, können auch unter Voraussetzung der kontextualistischen Semantik gängige Bewertungspraktiken von moralischen Urteilen gerechtfertigt werden: Diese Praktiken können damit als pragmatisch angemessene und sinnvolle Praktiken erklärt werden. Ich möchte ihren Ansatz in den folgenden Abschnitten eingehender betrachten.
3 (Finlay2008), S. 11
192 | 8 Der indexikalische Kontextualismus
8.2 Kontextualismus und Meinungsverschiedenheiten Die grundlegende Strategie der beiden Autoren geht von den Beobachtungen aus, dass 1. Konversationspartner nicht immer die Erfüllung der Wahrheitsbedingungen von Äußerungen, sondern die Erfüllung der Bedingungen bewerten, die von einer Äußerung im Kontext der Bewertung einschlägig gemacht werden, und dass 2. die Frage, welche Bedingungen einschlägig sind, mit Bezug auf die jeweiligen konversationalen Interessen beantwortet werden kann. Das lässt sich gut an folgenden Beispielen vor Augen führen: Fall 1 A: „Ich habe gehört, dass Sally das Geld gestohlen hat.“ B: „Das stimmt, Sally war es.“ B: #„Das stimmt, das hast du gehört.“ Fall 2 A: „Ich kann nicht glauben, wie erholt John aussieht.“ B: „Nein. Ich auch nicht.“ B: #„Das ist falsch. Das kannst du sehr wohl.“⁴
In diesen Fällen stellt die zweite Antwort von B die Bewertung der Proposition dar, die A’s Äußerung buchstäblich ausdrückt, während die erste Antwort von B eine andere, nicht geäußerte Proposition bewertet. In diesen Kontexten ist aber gerade die erste Antwort natürlich und angemessen und die zweite Antwort seltsam und pragmatisch unangemessen. Im Fall 1 ist die bewertete Proposition zwar eine, die A irgendwie impliziert oder ausdrückt, aber für Fall 2 gilt das plausiblerweise nicht. Hier ist B’s „Nein“ in seiner ersten Antwort wohl als Verneinung der Proposition zu interpretieren, dass B glauben kann, wie erholt John aussieht. Ein anderes Beispiel, an dem zudem deutlich wird, dass gerade Urteile, die einen indexikalischen Ausdruck enthalten, wie geschaffen dafür sind, einem Bewerter zu ermöglichen, nicht den eigentlichen propositionalen Gehalt zu bewerten, sondern einen Gehalt, der für sein konversationales Interesse relevant ist, ist das folgende: Die beiden Frauenfeinde Klaus und Tim sehen im Fernsehen ein Interview aus den sechziger Jahren, in dem jemand sagt: „Frauen sind heutzutage
4 Beide Beispiele stammen aus (Bjoernsson2010), S. 19. Ich habe sie ins Deutsche übertragen.
8.2 Kontextualismus und Meinungsverschiedenheiten |
193
schweren Benachteiligungen ausgesetzt.“⁵ Klaus sagt daraufhin zu Tim: „Diese Aussage, dass Frauen heutzutage schweren Benachteiligungen ausgesetzt sind, ist leider nicht wahr.“ Und Tim, der weiß, dass die Aussage in den Sechzigern gemacht wurde, wird schon verstehen, was Klaus damit vermitteln möchte: Dass es heute, im Jahre 2014, nicht wahr ist, dass Frauen schweren Benachteiligungen ausgesetzt sind. Dasselbe gilt, wenn Klaus lediglich gesagt hätte: „Diese Aussage ist leider nicht wahr!“ Der Kontext von Klaus’ Bewertung macht klar, dass hier eine Verschiebung der Proposition stattgefunden hat und dass Klaus nicht die eigentliche Proposition der Aussage aus dem Interview bewertet, sondern eine Proposition, die mit dieser in einer für seine Zwecke relevanten Weise verknüpft ist: Es ist die Proposition, die diese Aussage ausdrücken würde, wenn sie in seinem Kontext gemacht würde. Und da Klaus sein Bedauern darüber ausdrücken möchte, dass diese Proposition, wie er zumindest glaubt, wahr ist, äußerst er seine Bewertung und fügt das Wörtchen „leider“ hinzu. Björnsson und Finlay nehmen nun an, dass eine analoge Erklärung für moralische Dispute, wie ich sie exemplarisch an Irwing dargestellt habe, zutrifft: Smarts Kontext und sein konversationales Interesse machen demnach für seine Bewertung von Kants Äußerung (bzw. seines Urteils) eine Proposition salient, die in einer relevanten Weise in Beziehung mit jener Proposition steht, die Kant akzeptiert. Es ist die Proposition, die Kants Äußerung ausdrücken würde, wenn er sie relativ zu Smarts Standard äußern würde: Du musst-relativ-zumutilitaristischen-Standard den unschuldigen Irwing verurteilen. Und diese Proposition ist – wie wir annehmen – falsch. Um zu erläutern, warum Smarts Kontext und sein konversationales Interesse eine solche Verschiebung der Proposition für die Bewertung von Kants Urteil angemessen und sogar in gewisser Weise nötig macht, möchte ich die Überlegungen darlegen, die vor allem Finlay im Rahmen seiner Theorie angestellt hat. Zunächst möchte ich dazu auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Wenn wir von den Aussagen anderer berichten, dann können wir das nicht immer tun, indem wir einfach die Worte wiederholen, in denen sie formuliert sind, weil deren konversationaler Kontext so nicht zwangsläufig reproduziert wird. Schauen wir uns dazu noch einmal das Beispiel mit dem Interview aus den sechziger Jahren an, in dem jemand sagt: „Frauen sind heutzutage schweren Benachteiligungen ausgesetzt.“ Wenn Klaus nun einem Freund, der das Interview nicht gesehen hat, berichtet: „Jemand hat gesagt, dass Frauen heutzutage schweren Benachteiligungen ausgesetzt sind“, dann wird sein Freund, wenn Klaus keine näheren Angaben zum Kontext der Aussage macht, dessen Bericht so interpretieren, dass jemand gesagt hat,
5 Dieses Beispiel übernehme ich von (Henning2014), S. 606.
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Frauen seien heutzutage (also im Jahre 2014) schweren Benachteiligungen ausgesetzt. Und wenn Klaus nun hinzufügt: „Da hat er Recht!“, dann wird sein Freund berechtigterweise annehmen können, dass Klaus auch der Meinung ist, Frauen seien im Jahre 2014 schweren Benachteiligungen ausgesetzt – auch wenn Klaus gar nicht dieser Meinung ist und auch nicht eine solche Meinung ausdrücken wollte. Finlay stellt nun fest, dass ein ähnlicher Effekt auch im Zusammenhang mit zweck-relationalen Urteilen auftreten kann – und zwar unabhängig davon, ob es sich um moralische oder nicht-moralische Urteile handelt. Nicht-moralische zweck-relationale Urteile sind Urteile, die relativ zu einem Zweck sind, den der Sprecher selbst entweder gar nicht verfolgt – dann handelt es sich zumeist um Urteile, die in empfehlender Absicht an einen Dritten gerichtet sind⁶ – oder für den er nur eine „normale“ und nicht die oben sogenannte spezifisch moralische Präferenz hat. Generell macht es – so Finlay – einen Unterschied, ob man ein zweck-relationales Urteil unter expliziter Angabe des Zwecks oder ohne eine solche Angabe äußert.⁷ Wenn jemand z.B. das zweck-relationale Urteil „Adultery is good for destroying marriages“ ohne Ellipse äußert, dann kann der Hörer daraus nicht unbedingt schließen, dass der Sprecher eine Präferenz dafür hat, dass Menschen Ehebruch begehen, oder dass der Sprecher Ehebruch empfiehlt. Wer aber sagt: „Adultery is good“, der wird by default so verstanden, dass er eine Präferenz für Ehebruch hat oder Ehebruch empfiehlt. Dieser durch die Auslassung generierte pragmatische Effekt kann allerdings durch kontextuelle Faktoren aufgehoben werden bzw. durch diese gar nicht erst zustandekommen. Dies geschieht z.B., wenn der Zweck in einer Konversation explizit eingeführt wurde und deutlich gemacht wurde, dass es nicht der Zweck des Sprechers ist – wie in folgendem Beispiel einer über terroristische Anschläge berichtenden Journalistin: Seeking to inflict the greatest possible blow to the United States, the terrorists chose to attack the World Trade Center and Pentagon. They ought to have attacked the Mall of America instead.⁸
Diese unrelativierte Äußerung eines zweck-relationalen Urteils sollte nicht Anlass für die Unterstellung geben, dass die Sprecherin Terroristen empfiehlt, die Mall of America zu attackieren.
6 Das muss aber nicht so sein. Wie wir gleich sehen werden, können zweck-relationale Urteile bloße Feststellungen sein, ohne dass der Sprecher selbst den Zweck verfolgt oder jemandem mit dem Urteil eine Empfehlung geben will. 7 Vgl. (Finlay2014), S. 135ff. 8 (Finlay2014), S. 137.
8.2 Kontextualismus und Meinungsverschiedenheiten |
195
Nun macht Finlay darauf aufmerksam, dass Bewertungen der zweiten Aussage der Sprecherin durch eine andere Person wiederum einen bestimmten pragmatischen Effekt haben, wenn nicht deutlich gemacht wird, in welchem Kontext diese Aussage gemacht wurde, und/oder wenn die Aussage unrelativiert wiedergegeben wird. Wer etwa (ohne den Kontext deutlich zu machen, in dem die Aussage der Journalistin gemacht wurde) sagt: „She said that the terrorists ought to have attacked the Mall of America. And that’s true“, der wird von seinen Hörern erstens mit seinem Bericht so verstanden, dass die Journalistin eine Empfehlung an Terroristen ausgesprochen hat,⁹ und zweitens mit seiner Bewertung so interpretiert, dass er diese Empfehlung unterstützt und eine entsprechende Präferenz teilt. Wer solche pragmatischen Effekte vermeiden möchte, weil er die Zwecke der Terroristen nicht teilt, der sollte also seinen Bericht und seine Bewertung in andere Worte fassen oder – und das ist der Punkt – seine Bewertung des Urteils, von dem er berichtet, anders vornehmen: Um seine Ablehnung der durch seinen Bericht des Urteils im Raum stehenden (von der Journalistin aber gar nicht gegebenen) Empfehlung zu vermitteln, sollte er das Urteil als falsch bewerten. Unter der Annahme, dass moralische Urteile als zweck-relationale Urteile zu verstehen sind, argumentiert Finlay nun, dass diese pragmatischen Effekte in entsprechenden Kontexten auch in moralischen Disputen auftreten und relevant für die Bewertung dieser Urteile sind. Für den Fall Irwing* bedeutet das: Konfrontiert mit Kants moralischer Äußerung „Ich muss Irwing frei sprechen“, steht für Smart die Frage im Fokus, was an Kants Stelle zu tun ist und ob die Präferenz, auf die sich Kant mit seinem Urteil festlegt (die Präferenz, Irwing frei zu sprechen), zu akzeptieren ist. Ob Smart nun diese Einstellung teilt oder ablehnt, hängt davon ab, ob er die Proposition, dass Kant Irwing relativ zum utilitaristischen Zweck frei sprechen muss, akzeptieren kann. Nennen wir diese Proposition P. Also bewertet Smart diese Proposition P, und nicht jene, die Kant eigentlich ausdrückt. Wie wir annehmen, ist diese Proposition nicht wahr. Dadurch, dass Smart nun die Bewertung dieser Proposition P als Bewertung der von Kant ausgedrückten Proposition präsentiert („Dein Urteil ist falsch!“), vermittelt er dem Hörer (und Kant), dass er mit Kant in Bezug auf die Frage, was zu tun ist, nicht übereinstimmt – denn mit der Bewertung von Kants Urteil nimmt er gleichsam Stellung zu Kants Präferenz, die dieser mit seinem Urteil mitgeteilt hat. Würde er die von Kant eigentlich ausgedrückte Proposition bewerten, würde er etwas Irreführendes mitteilen, nämlich, dass er mit den praktischen Implikationen von Kants Urteil (bzw. mit dessen Präferenzen) übereinstimmt.
9 Und insofern könnte sich die Sprecherin zu Recht darüber beschweren, dass ihre Aussage falsch wiedergegeben wird
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Solche pragmatischen Effekte muss im Übrigen auch der Objektivist zur Erklärung bestimmter Praktiken heranziehen: Nehmen wir an, die Panzerknackerin Jane urteilt: „Nach langer Recherche bin ich zu dem Urteil gelangt, dass ich, um einen sicheren Coup zu landen, nicht die Deutsche Bank, sondern die Postbank ausrauben sollte. Die ist nämlich nicht so gut bewacht.“ Jim erwidert: „Da bist du zu einem falschen Urteil gelangt. Du solltest gar keine Bank ausrauben. Das ist unmoralisch!“ Es ist klar, dass Jim mit „Da bist du zu einem falschen Urteil gelangt“ nicht sagen will, dass Jane zu einem falschen Urteil über die respektiven Erfolgsaussichten der verschiedenen Möglichkeiten, eine Bank auszurauben, gekommen ist. Aber genau auf diese Erfolgsaussichten bezieht sich Janes Urteil und das weiß Jim. Es ist naheliegend, dass Jim mit der Bewertung seine moralische Kritik an ihrem Vorhaben, überhaupt eine Bank auszurauben, ausdrücken will. Und das scheint er gerade dadurch zustande zu bringen, dass er nicht die eigentliche von Jane ausgedrückte Proposition bewertet, sondern eine mit dieser kontextuell relevant verknüpften Proposition: die Proposition, dass Jane, um moralisch zu sein, nicht die Deutsche Bank, sondern die Postbank ausrauben sollte. Und diese Proposition ist, wie Jim meint, nicht wahr. Damit haben Björnsson und Finlay eine, wie ich denke, recht plausible Strategie entwickelt, mit der der indexikalische Kontextualist erklären kann, dass auch unter der Voraussetzung einer kontextualistischen Analyse moralischer Urteile eine Bewertungs-Praxis, wie sie in Irwing und Smarts Bericht zum Ausdruck kommt, angemessen und sogar zu erwarten ist. Die Relevanz dieser Überlegungen für Smarts Bericht dürfte klar geworden sein: Wenn Smart von Kants Überzeugung berichtet: „Kant glaubt, dass es moralisch richtig ist, Irwing frei zu sprechen“, dann vermittelt er damit auch, dass Kant eine Präferenz dafür hat, Irwing frei zu sprechen. Da Smart – auf der Grundlage seines eigenen moralischen Urteils – eine Präferenz dafür hat, dass Irwing verurteilt wird, sollte er es vermeiden, seinem in diese Worte gefassten Bericht über Kants Urteil hinzuzufügen, dass das Urteil wahr ist – auch wenn es, wie wir annehmen, relativ zu Kants Standard wahr ist. Um den pragmatischen Effekt zu vermeiden, dass seine Bewertung vom Hörer als Zustimmung zu Kants Präferenz (und/oder zu dessen Standard) aufgefasst wird, und um den seinem konversationalen Interesse eher dienenden Effekt zu erzeugen, seine Ablehnung mitzuteilen, sollte er stattdessen sagen: „Aber das ist falsch!“ Nun könnte man gegen Finlay einwenden, dass diese Erklärung nur in konversationalen Kontexten einschlägig ist. Doch was ist, wenn Smart seine Bewertung von Kants Urteil nur in Gedanken formuliert und niemandem davon mitteilt? Ein solcher Fall ist tatsächlich nicht mit Bezug auf pragmatische Effekte und konversationale Dynamiken zu erklären. Aber Finlay könnte darauf verweisen, dass Smart hier einen bestimmten deliberativen Zweck verfolgt, der die Bewertung der
8.2 Kontextualismus und Meinungsverschiedenheiten |
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von Kant eigentlich ausgedrückten Proposition für ihn irrelevant macht: Wenn er hier deliberiert, um zu einer eigenen moralischen Einschätzung zu gelangen, dann ist eben nicht die Frage relevant, ob Kant in dessen Kontext ein wahres Urteil gefällt hat, sondern ob Kants Urteil wahr wäre, wenn er es in Smarts Kontext gefällt hätte.¹⁰ Mit diesen Überlegungen lässt sich auch eine plausible, kontextualistische Erklärung für Smarts Inferenz geben. Auch hier findet eine Verschiebung der Proposition statt, die sich mit Bezug auf das deliberative Interesse von Smart erklärt. Wenn Smart über Kants Überzeugung nachdenkt, um zu einer eigenen moralischen Bewertung dieser Überzeugung und den mit dieser ausgedrückten Präferenzen zu kommen, dann ist für seine Inferenz nicht die Proposition relevant, die Kant ausgedrückt hat, sondern die Proposition, die mit dieser – für Smarts deliberativen Kontext – relevant verknüpft ist. Björnsson und Finlay schlagen daher folgende Form für diese Inferenz vor: [Smarts Inferenz*] (1) Kant glaubt, dass er relativ-zu-Standard-Y Irwing freisprechen soll. (2) Es ist nicht der Fall, dass er relativ-zu-Standard-X Irwing freisprechen soll. (K) Es gibt eine Proposition p, so dass gilt: Kant glaubt p und die mit p verknüpfte Proposition, die für die Bewertung von Kants Überzeugung relevant ist, ist nicht wahr. („Kant glaubt etwas, das nicht wahr ist.“)¹¹
Damit haben Björnsson und Finlay eine, wie ich denke, recht plausible Strategie gefunden, wie der Kontextualist mit dem Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit umgehen kann. Sie zeigen zumindest, dass sich pragmatische Überlegungen zu dem in anderen, nicht-moralischen Diskursen vorzufindenden Phänomen der gegenüber dem semantischen Gehalt einer Aussage insensitiven Bewertung für dieses Problem fruchtbar machen lassen. Ob damit schon alle Probleme, die sich dem indexikalischen Kontextualismus stellen, gelöst sind, werde ich im nächsten Kapitel anhand ausgewählter Einwände überprüfen. Diese Strategie hat im Übrigen auch David Wong bereits in seinem Buch von 1984 Moral Relativity angedacht. Dort schreibt er:
10 Genau so verhält es sich in einem analogen Fall für unser Beispiel von Panzerknackerin Jane. Wenn Jim in Gedanken zu sich sagt: „Da ist Jane zu einem falschen Urteil gelangt“, dann erklärt sich das ganz analog: In seinem Kontext geht es ihm darum, zu überprüfen, ob die Handlungspräferenz, die Jane mit ihrem zweck-relationalen Urteil ausgebildet hat, moralisch akzeptabel ist. Da sie das nicht ist, kann er seine Ablehnung dieser Präferenz für sich selbst damit in Worte fassen, dass er ihr Urteil als falsch bewertet. 11 Vgl. (Bjoernsson2010), S. 33. Ich habe das Beispiel der Autoren durch meines ersetzt.
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[...] the fact that we criticize as false the morality of another group of language usere, even when that morality is a coherent system of moral beliefs very different from ours. When we criticize that morality, we take the group’s recommendations for action, state them in our moral language, and evaluate them as false according to our standards for the adequacy of moral systems.¹²
Björnsson und Finlay geben mit ihren Überlegungen zur Pragmatik moralischer Diskurse eine, wie ich finde, plausible Rechtfertigung für diese von Wong beschriebene Praxis. Es ist eben die für moralische Diskurse charakteristische konversationale Dynamik und die Tatsache, dass Bewertungen von moralischen Urteilen Implikaturen generieren, die es angemessen macht, insensitive Bewertungen vorzunehmen. Mit den Überlegungen von Björnsson und Finlay zeigt sich, dass der metaethische Relativist nicht auf die wahrheits-relativistische Semantik von MacFarlane angewiesen ist, um das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen. Vielmehr scheint auch eine wahrheits-relativistische Semantik für den moralischen Diskurs auf die von Björnsson und Finlay angestellten pragmatischen Überlegungen angewiesen zu sein, um zu erklären, warum moralische Ausdrücke assessment-sensitive sein sollten. Mit Bezug auf das Gricesche Modified Occam’s Razor sollte der metaethische Relativist dem indexikalischen Kontextualismus den Vorzug geben. Diese Position kann das Problem mit pragmatischen Erklärungen lösen, ohne semantische Revisionen vorzunehmen, während der Wahrheits-Relativismus semantisch revisionär ist, diese Revision aber nur im Doppelpack mit pragmatischen Erklärungen zu haben ist. Sparsamer ist demnach der indexikalische Kontextualismus. Mit Grice möchte ich diesen Gesichtspunkt als ausschlaggebend bei der Beurteilung der beiden Positionen zur Geltung bringen: Der indexikalische Kontextualismus löst das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit für moralische Diskurse überzeugender als der Wahrheits-Relativismus, weil er nicht revisionärr(4) ist.
8.3 Kontextualismus und normative Gründe Ich möchte nun den Blick auf den größeren Zusammenhang richten, in den sich der indexikalische Kontextualismus mit dieser pragmatischen Strategie einordnen lässt. Ich hatte am Anfang des fünften Kapitels erläutert, dass der metaethische Relativismus beansprucht, eine Analyse moralischer Urteile zu bieten, und zwar eine Analyse, mit der sich unsere moralische Urteilspraxis als gerechtfertigt
12 (Wong1984), S. 73.
8.3 Kontextualismus und normative Gründe |
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und nicht-defizitär herausstellt, obwohl sich die objektivistische Annahme der Existenz irreduzibel normativer Tatsachen oder Eigenschaften nicht halten lässt. Dem Relativismus in der Variante des indexikalischen Kontextualismus zufolge sind moralische Urteile nicht als Urteile über irreduzibel normative Tatsachen (oder als Urteile, die Urteile über irreduzibel normative Gründe implizieren) zu verstehen, sondern als standard- oder zweck-relationale Urteile, als Urteile also über standard- oder zweck-relationale Eigenschaften von Handlungen. Insofern nimmt der indexikalische Kontextualist also an, dass sich Mackie und der Objektivist irren, wenn sie glauben, der normale moralisch Urteilende verpflichte sich mit seinen Urteilen auf die Annahme irreduzibel normativer Tatsachen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass sich der Relativist damit auf die Verneinung einer These festlegt, die ich in Kapitel 4 als These des Moralischen Rationalismus bezeichnet habe.
Moralischer Rationalismus: Wenn es für eine Person P moralisch richtig ist, eine Handlung h auszuführen, dann hat diese Person einen normativen Grund, diese Handlung auszuführen. Denn wenn moralische Urteile lediglich standard- oder zweck-relationale Urteile sind, scheint ein Urteil, wonach es für eine Person moralisch falsch ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, nicht das Urteil zu implizieren, dass diese Person einen normativen Grund für diese Handlung hat. Es scheint dann nicht inkohärent zu sein, wenn jemand urteilt: „Es ist moralisch richtig für Person P Handlung h auszuführen, aber sie hat keinen normativen Grund, h auszuführen.“ Denn mit der Tatsache, dass es für eine Person gemäß eines Standards richtig ist (oder dass es einem bestimmten Zweck zuträglich ist), eine Handlung auszuführen, scheint es doch vereinbar zu sein, dass diese Person keinen Grund für diese Handlung hat. Dass eine Handlung eine standard- oder zweck-relationale Eigenschaft hat, scheint für sich genommen normativ völlig irrelevant zu sein. Der indexikalische Kontextualist scheint also dazu gezwungen zu sein, die These des Moralischen Rationalismus zu verneinen. Das scheint auf den ersten Blick kein besonderes Problem für den Kontextualismus zu sein. Schließlich hatte ich gesagt, dass der Moralische Rationalismus charakteristisch für einen „echten“ Objektivismus sei.¹³ Insofern zeigt die Unvereinbarkeit des Kontextualismus mit dieser These eben nur, dass er kein Objektivismus ist. Und so soll es doch sein! Dass sich hier aber doch ein Problem für den Kontextualismus verbirgt, zeigt sich daran, dass der Grund für die scheinbare Unvereinbarkeit von Kontextualismus 13 Kapitel 3.3.
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und Moralischem Rationalismus auch ein Grund ist, der zu einer Irrtumstheorie für eine bestimmte Klasse von moralischen Urteilen zwingt: Manche moralische Urteile handeln nämlich explizit von Gründen. So würden wir zum Beispiel sagen, dass Caligula einen moralischen Grund dafür hat, das Foltern von Unschuldigen zu unterlassen – einen Grund, der ganz unabhängig von Caligulas Wünschen besteht. Solche Urteile scheinen Urteile über moralische externe Gründe zu sein. Wenn der indexikalische Kontextualist aber mit mir davon ausgeht, dass es solche externen Gründe nicht gibt, dann müsste er diese Urteile allesamt als falsch bewerten. Und damit wäre der metaethische Relativismus eben doch keine Position, die es ermöglicht, unsere moralische Sprache und Praxis im Großen und Ganzen als irrtumsfrei zu verstehen. Aber beide Befürchtungen sind voreilig: Weder ist der indexikalische Kontextualist gezwungen, den Moralischen Rationalismus zu verneinen, noch muss er eine Irrtumstheorie für einen bestimmten Bereich der moralischen Urteilspraxis akzeptieren. Denn der Kontextualist kann seine relationale Analyse moralischer Urteile auch auf die genannten Gründe-Urteile übertragen und behaupten: Auch diese Urteile sind standard- oder zweck-relational. Ich hatte in Kapitel 3 und 4 erläutert, in welchem Sinne man von institutionellen Gründen sprechen könne. Anhand des Beispiels mit dem Punker hatte ich gesagt: Gemäß der Etikette hat der Punker einen Grund, sich die Nase beim Sonntagsbrunch mit dem Taschentuch abzuwischen. Analog könnte man nun auch das Urteil über Caligula verstehen: Der Moral zufolge hat Caligula einen Grund, das Foltern von Unschuldigen zu unterlassen. Und damit sagt man letztlich nichts anderes, als dass es der Moral zufolge für Caligula richtig ist, das Foltern zu unterlassen. Ähnlich könnte nun der Kontextualist argumentieren und sagen, dass das Gründe-Urteil über Caligula wie folgt zu verstehen ist: Caligula hat einen Grund-relativ-zu-Standard s, das Foltern von Unschuldigen zu unterlassen – wobei s der Standard des Urteilenden ist. Auch hier könnte man dann sagen, dass mit dem Gründe-Urteil mit anderen Worten dasselbe ausgedrückt wird, wie mit dem Urteil über die Falschheit von Caligulas Handlungen. Mit dieser Analyse von moralischen Gründe-Urteilen lässt sich der Moralische Rationalismus mit dem Kontextualismus vereinbaren. Denn dann ist einsichtig, warum aus der Tatsache, dass es für Caligula falsch ist, zu foltern, folgt, dass Caligula einen Grund hat, das Foltern zu unterlassen. Mit dem Urteil über die Falschheit von Caligulas Handlungen wird dasselbe ausgesagt, wie mit dem Urteil über das Bestehen eines Grundes für Caligula, diese Handlungen zu unterlassen. Mit dieser Analyse kann der Kontextualist zudem einer Irrtumstheorie für die Klasse der moralischen Gründe-Urteile entgehen: Auch wenn es keine externen Gründe, also keine irreduzibel normativen Gründe, die wunschunabhängig sind, gibt, sind moralische Gründe-Urteile nicht zwangsläufig allesamt falsch. Da diese
8.3 Kontextualismus und normative Gründe |
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Urteile standard-relationale Urteile sind, können sie wahr sein. Und dass moralische Gründe-Urteile ganz unabhängig von den Wünschen der Adressaten wahr sein können, wird mit dieser Analyse eingefangen: Ob eine Handlung gemäß eines bestimmten Standards richtig oder falsch ist, hängt in keiner Weise von Wünschen ab. Die Pointe diese kontextualistischen Analyse besteht also darin, dass sie ohne die Annahme der Existenz irreduzibel normativer Gründe auch jenen Teilbereich unserer moralische Urteilspraxis rechtfertigen kann, der von expliziten GründeUrteilen gekennzeichnet ist. Damit lässt sich diese Analyse zwischen Externalismus und Internalismus verorten: Gegen den Externalismus wird damit behauptet, dass moralische Gründe-Urteile auch ohne die Existenz irreduzibel normativer Tatsachen wahr sein können, und gegen den Internalismus wird zur Geltung gebracht, dass Gründe-Urteile wahr sein können, auch wenn der Adressat keinen im Sinne des Internalismus relevanten Wunsch hat. Es existieren demnach Gründe für Handelnde, die ganz unabhängig von ihren Wünschen sind – diese Gründe sind nur nicht irreduzibel normativ. Und sie sind auch nicht normativ im internalistischen Sinne – sie sind also nicht mit einem Handlungsdruck verbunden, so wie ich ihn im Anschluss an Peter Stemmer im 4. Kapitel expliziert habe. Ein Einwand liegt nahe: Wenn diese „kontextualistischen“ Gründe weder irreduzibel normativ noch normativ im Sinne des Internalismus sind, warum sollte man sie als normative Gründe bezeichnen? Oder anders: Der Adressat eines solchen kontextualistischen Gründe-Urteils kann dieses Urteil doch einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen, so wie der Punker aus unserem Beispiel achselzuckend zur Kenntnis nehmen kann, dass es gemäß der Etikette einen Grund für ihn gibt, sich die Nase abzuwischen. Mit moralischen Gründe-Urteilen beanspruchen Urteilende aber doch gerade mehr zu sagen, als dass es gemäß irgendeines Standards richtig ist, so und so zu handeln. Sie wollen mit diesen Urteilen nicht lediglich über etwas informieren, was den Adressaten kalt lassen kann. Der Kontextualist kann auf diesen Einwand reagieren, indem er sagt: Das stimmt. Moralische Gründe-Urteile informieren nicht lediglich über standardrelationale Zusammenhänge, die den Adressaten kalt lassen, wenn er den entsprechenden Standard nicht hat. Die kontextualistische Analyse kann aber erklären, dass solche Urteile – obwohl sie standard-relationale Urteile sind – zusätzlich etwas für den Adressaten durchaus Relevantes vermitteln: Sie drücken Forderungen des Urteilenden an den Adressaten aus. In diesem Sinne scheint mir Finlay zu argumentieren, wenn er vorschlägt, normative Gründe als zweck-relational zu begreifen, und dann erläutert, welche unterschiedlichen illokutionären Kräfte Aussagen über solche Gründe in verschiedenen konversationalen Kontexten entwickeln können. Ich möchte kurz Finlays Ideen darlegen.
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Finlay zufolge ist etwas dann und nur dann ein normativer Grund für eine Handlung – relativ zu einem Zweck – wenn es erklärt, warum diese Handlung diesem Zweck dienlich ist. Zur Begründung schreibt er: In defense of this claim, which offers a naturalistic reduction of the relation ‘counting in favour of’ to a relation specifiable in only nonnormative terms, observe that providing a reason for ϕ-ing is often explained as demonstrating the ‘point’ of ϕ-ing. To furnish an action with a point just is to demonstrate that it serves some purpose or end. Hence for a fact to count as a normative reason for ϕ-ing, it must constitute an explanation relative to some end.¹⁴
Da es unterschiedliche Zwecke („ends“) gibt, gibt es demnach auch unterschiedliche normative Gründe für Handlungen: Es gibt prudentielle, epistemische, medizinische, militärische, politische Zwecke, Zwecke von Spielen usw. Und diesen Zwecken entsprechen normative Gründe: „[...] there are reasons of faith, revenge, love, lust, and football, there are legal, medical, military, artistic, political, and scientific reasons.“¹⁵ Finlay meint nun, dass unsere Rede von normativen Gründen kontextabhängig ist. Jede Konversation über Gründe ist demnach durch explizite oder implizite Zwecke „eingerahmt“, d.h. in solchen Konversationen werden Zwecke vorausgesetzt, die alle, manche oder sogar gar keine der Konversationsteilnehmer verfolgen. Gründe-Zuschreibungen werden nun innerhalb solcher konversationalen Kontexte relativ zu den expliziten oder impliziten Zwecken gemacht und sind demnach kontextuell relativiert, so dass oftmals nicht nötig ist, diese GründeZuschreibungen explizit mit dem Zusatz zu versehen, auf welchen Zweck sie relativiert sind. Diese Kontext-Abhängigkeit von Gründe-Zuschreibungen erklärt nun Finlay zufolge, warum es oftmals angemessen ist, zu sagen, dass es für eine Handlung keinerlei Grund gibt, obwohl es sicherlich irgendeinen Zweck gibt, dem diese Handlung dienlich ist. Finlay gibt dazu folgendes Beispiel: If I deny that the fact that an innocent man is facing impending execution is any reason for a murderer, who has gotten away scot free, to confess and surrender to the law, I likely do not mean to deny that morality requires it, but merely to deny that it is in his self-interest.¹⁶
Üblicherweise werden Gründe-Zuschreibungen in Kontexten gemacht, in denen die Konversationsteilnehmer kooperativ sind, d.h. in Kontexten, in denen die Teilnehmer daran interessiert sind, Relevantes über Zwecke auszusagen, die sie alle
14 (Finlay2006), S. 8f. 15 (Finlay2006), S. 9. Diese Rede von Gründen lässt sich analog zu meiner Rede von institutionellen Gründen verstehen. 16 (Finlay2006), S. 10.
8.3 Kontextualismus und normative Gründe |
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oder zumindest einer der Teilnehmer verfolgt. Kurz: Üblicherweise werden einem Handelnden Gründe in der Absicht zugeschrieben, ihm einen Ratschlag hinsichtlich der Verfolgung seiner Zwecke zu geben. Hier trifft sich die Analyse von Finlay mit der des Internalisten: Wer in solchen Kontexten behauptet, dass jemand einen Grund für eine Handlung hat, der gibt dem Angesprochenen die Information, was er tun muss, um einen der von ihm verfolgten oder präferierten Zwecke zu erfüllen. Finlays Ansatz unterscheidet sich jedoch von dem des Internalisten, da Finlay zufolge Gründe-Aussagen auch dann wahr sein können, wenn sie nicht im eben genannten Sinne als Ratschläge zu verstehen sind – wenn sie also nicht auf Zwecke hin relativiert sind, die der Adressat selbst verfolgt. Finlay ist nämlich der Meinung, dass wir in manchen Kontexten Gründe-Aussagen auch dann machen, wenn wir wissen, dass der Adressat den impliziten Zweck gar nicht verfolgt. Solche Kontexte sind dann unkooperativ – hier werden keine Ratschläge gegeben, sondern Forderungen ausgedrückt. Dass Gründe-Aussagen – verstanden als zweck-relationale Aussagen im Sinne Finlays – in solchen Kontexten die illokutionäre Rolle von Forderungen spielen können, und wie das funktioniert, erläutert Finlay wie folgt. Wie gesagt werden Gründe-Aussagen üblicherweise in kooperativer Absicht gemacht. Wenn nun eine Gründe-Aussagen auf einen Zweck hin relativiert ist, der vom Adressaten nicht verfolgt wird, verstößt diese Aussage in gewisser Weise gegen Konversationsmaximen – nämlich gegen die von Grice so genannte „Maxime der Kooperation“. Wenn nun dieser Verstoß vom Adressaten kalkulierbar ist, kann der er die Aussage als eine Forderung interpretieren: „Wer so spricht, als empfehle er mir eine Handlung, die einem meiner Zwecke zuträglich ist, obwohl erkennbar ist, dass sie keinem meiner Zwecke zuträglich ist, der will mir wohl keinen Ratschlag geben, sondern eine Forderung aufstellen.“ Finlay verweist darauf, dass es nicht ungewöhnlich ist, Forderungen dadurch auszudrücken, dass man etwas sagt, was erkennbar falsch ist, oder dass man etwas unterstellt, was erkennbar nicht unterstellt werden kann. Die beiden folgenden Beispiele illustrieren dies: Tim: „Ich will aber nicht ins Bett!“ Mutter: „Doch! Und wie du willst!“ Tim rülpst am Mittagstisch: „Bööarp!“ Mutter: „An diesem Tisch wird nicht gerülpst!“
Die offensichtlich falschen Aussagen der Mutter sind dennoch konversational und pragmatisch angemessen: Sie sind wohl als sinnvoll ausgedrückte Forderungen zu interpretieren. Die Mutter nutzt dabei ein verbreitetes Phänomen unserer konversationalen Praxis, das Grice mit seiner Theorie der konversationalen Implikaturen analysiert hat: die Ausbeutung oder Verletzung von Konversationsmaximen
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mit dem Zweck, etwas pragmatisch mitzuteilen. In diesem Fall verletzt die Mutter die Konversationsmaxime der Qualität (Sage die Wahrheit!) und da Tim wohl davon ausgehen kann, dass seine Mutter nicht wirklich glaubt, er wolle ins Bett gehen, dass sie aber dennoch etwas Relevantes sagen möchte, kann er ihre Aussage als Aufforderung interpretieren. Ein gutes Beispiel für die Möglichkeit, durch Verletzung der Kooperationsmaxime eine Forderung pragmatisch auszudrücken, gibt Finlay mit dem folgenden: If somebody carelessly drops litter in the park, one might say to him, ‘the rubbish bin is over there.’ This feigns helpfulness, by speaking as if he preferred to dispose of his rubbish in a considerate way—that is, saying something that would be cooperative under that condition. Since this presupposition is transparently unjustified, the speaker is automatically interpreted rather as demanding it be true.¹⁷
Finlays These ist also, dass Gründe-Aussagen, die nicht relativ zu einem Zweck sind, den der Adressat selbst verfolgt, in manchen konversationalen Kontexten die Forderung an den Adressaten implikieren, die entsprechende Handlung auszuführen, auch wenn sie keinem seiner Zwecke zuträglich ist.¹⁸ Ich denke, Finlay kann damit gut erklären, wie der Kontextualist die illokutionäre Kraft von Aussagen über externe Gründe von der illokutionären Kraft von Aussagen über interne Gründe unterscheiden kann, ohne auf die Annahme von irreduzibel normativen Gründen zurückzugreifen. Ich denke aber auch, dass der Kontextualist für die Erklärung von moralischen Gründe-Aussagen letztlich gar nicht auf diese Überlegungen zurückgreifen muss. Denn moralische GründeAussagen werden zumeist explizit mit dem Zusatz moralisch gemacht: So sagt man etwa über Caligula, dass er einen moralischen Grund hat, das Foltern zu unterlassen. Vor dem Hintergrund der These, dass moralische Standards oder Zwecke auf eine spezifisch moralische Weise unterschrieben oder präferiert werden, lässt sich die illokutionäre Rolle von moralischen Gründe-Aussagen ganz einfach verstehen. Wer von moralischen Gründen spricht, der teilt damit – ohne dass überhaupt kalkuliert werden müsste, ob und welche Konversationsmaxime hier verletzt wird – automatisch mit, dass er eine moralische Präferenz dafür hat, dass sich der Angesprochene entsprechend verhält. Und da diese moralischen Präferenzen, wie ich oben erläutert habe, derart sind, dass jemand, der eine solche Präferenz hat, von sich und anderen Konformität mit dem entsprechenden
17 (Finlay2014), S. 186. 18 Dass das nur für manche konversationale Kontexte gilt, zeigt das Beispiel meiner institutionellen Gründe-Aussagen angesichts des Punkers. Im „konversationalen“ Kontext dieser Arbeit sind diese Aussagen nicht als Forderungen zu interpretieren, sondern als bloße Informationen darüber, was gemäß der Etikette für den Punker zu tun ist.
8.4 Schluss |
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Standard oder Zweck einfordert, vermittelt eine moralische Gründe-Aussage eben auch diese starke Forderung. Wer mit einer moralischen Gründe-Aussage also eine starke Forderung erhebt, der muss dies nicht dadurch tun, dass er für den anderen kalkulierbar so tut, als ob er einen Ratschlag gibt: Der Zusatz moralisch markiert bereits, dass hier eine moralische Präferenz im Spiel ist – und allein dadurch kann der Adressat die Aussage als starke Forderung interpretieren. Der Kontextualist kann also auch ohne Rekurs auf Finlays Überlegungen erklären, dass und wie moralische Gründe-Aussagen auch vor dem Hintergrund einer kontextualistischen Analyse mehr vermitteln als bloße Informationen über einen standard- oder zweck-relationalen Zusammenhang. Damit kann zumindest der Einwand abgewiesen werden, demzufolge eine kontextualistische Analyse die Konsequenz hat, dass moralische Gründe-Aussagen konversational irrelevante empirische Aussagen sind. Auch wenn ein Adressat einer solchen Aussage keine entsprechenden Präferenzen hat, er also den impliziten Standard oder Zweck nicht präferiert, können diese Aussagen einen konversationalen und für moralische Diskurse charakteristischen Zweck erfüllen: Sie können starke Forderungen ausdrücken. Damit ist, wie ich denke, gezeigt, wie der Kontextualist der Konsequenz einer Irrtumstheorie in Bezug auf einen Bereich unserer moralischen Urteilspraxis entgehen kann. Er hat die Möglichkeit, moralische Gründe-Urteile (oder Aussagen) wie andere moralische Urteile auch als standard- oder zweck-relational zu verstehen, und er kann erklären, dass sie die illokutionäre Rolle von Forderungen spielen. Eine andere Frage ist es jedoch, ob diese Analyse plausibel ist. Denn es bleibt dabei: Moralische Gründe-Aussagen sind in der kontextualistischen Analyse keine normativen Aussagen – also weder Aussagen über irreduzibel normative Gründe noch Aussagen über das Bestehen eines normativen Handlungsdruckes im Sinne des Internalisten. Aber moralische Gründe-Aussagen – so könnte man einwenden – sind doch einfach Aussagen über das Bestehen eines „wirklich“ normativen Zusammenhangs – sie sind nicht einfach nur zweck-relationale Aussagen mit der illokutionären Kraft von Forderungen. Diesen Einwand werde ich im folgenden Kapitel noch näher untersuchen.
8.4 Schluss In diesem Kapitel habe ich anhand der Ideen von Björnsson und Finlay dargelegt, wie der indexikalische Kontextualismus den Anspruch einlösen kann, eine Analyse moralischer Urteile zu geben, die nicht revisionär(3*) ist. Mit den pragmatischen Überlegungen der beiden Autoren lassen sich charakteristische Urteilspraktiken auch unter der Voraussetzung einer indexikalischen Analyse moralischer Urteile
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rechtfertigen und als angemessen verstehen. Ihre Lösung des Problems der verlorenen Meinungsverschiedenheit zeigt auf, dass der indexikalische Kontextualist nicht dazu gezwungen ist, eine Revision solcher Praktiken in Kauf zu nehmen. Zudem lässt sich festhalten, dass der Kontextualist damit einen Vorteil gegenüber der wahrheits-relativistischen Alternative hat: Diese Position verbleibt im Rahmen orthodoxer semantischer Vorstellungen, während die Alternative recht radikale semantische Revisionen vorschlägt – die zudem nur im Zusammenspiel mit pragmatischen Überlegungen Sinn ergeben. Gerade diese pragmatischen Überlegungen erlauben aber dem Kontextualisten das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit ohne semantische Revisionen zu lösen. Ich ziehe daher die Schlussfolgerung, dass der indexikalische Kontextualismus dem WahrheitsRelativismus in der Frage nach einem maximal nicht-revisionärem metaethischen Relativismus vorzuziehen ist. Der indexikalische Kontextualismus bietet eine deskriptive Metaethik (nicht-revisionär(1) ), die weder zu Revisionen charakteristischer Bereiche der moralischen Urteilspraxis (nicht-revisionär(3*) ) noch zu Revisionen semantischer Vorstellungen zwingt (nicht-revisionär(4) ). Dass diese Variante des metaethischen Relativismus jedoch Revisionen im Hinblick auf vorreflexive metaethische Überzeugungen des common sense mit sich bringt, welche Revisionen das genau sind und ob sie problematisch sind, wird unter anderem Thema des folgenden Kapitels sein.
9 Der indexikalische Kontextualismus: Einwände 9.1 Einleitung Bisher habe ich nur gezeigt, dass der Metaethische Kontextualismus mit unserer moralischen Praxis kompatibel ist. Ich habe gezeigt, dass gilt: Wenn moralische Sätze/Aussagen/Urteile wie „X ist moralisch gut“ oder „P muss ϕ tun“ im Sinne der kontextualistischen Semantik (im Folgenden ist mit Kontextualismus immer die indexikalische Form des Kontextualismus gemeint) zu interpretieren oder zu analysieren sind, dann stellt sich damit nicht die Falschheit oder Unangemessenheit unserer moralischen Praxis, wie ich sie anhand der Beispiele Irwing, Smarts Lauschangriff und Smarts Inferenz vorgestellt habe, heraus. Eine ganz andere Frage ist es jedoch, ob moralische Urteile tatsächlich kontextualistisch interpretiert werden können. Das Projekt des Metaethischen Relativismus besteht ja, wie ich zu Beginn des letzten Kapitels gesagt habe, gerade nicht darin, eine neue moralische Sprache zu konstruieren, die dann unsere aktuelle, aber fehlerbehaftete Sprache ersetzen soll (nach dem Motto: Lasst uns doch mit moralischen Begriffen über etwas anderes reden, dann können unsere moralischen Urteile wenigstens wahr sein und wir können weiterhin solche Dinge tun wie die Protagonisten in Irwing & Co.), sondern darin, aufzuzeigen, dass unsere aktuelle moralische Sprache bereits relativistisch ist (und es schon immer war). Der Anspruch ist also, die tatsächliche Bedeutung moralischer Urteile zu erfassen, und nicht, einen revisionären Vorschlag zu machen, was moralische Urteile in Anbetracht des Scheiterns des Objektivismus bedeuten sollten, damit sie wahr sein können. Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Einwänden diskutieren, denen zufolge der Kontextualismus nicht dazu in der Lage ist, die Bedeutung moralischer Urteile angemessen zu analysieren.
9.2 Relativierte Urteile? Die erste Reihe von Einwänden konfrontiert den Kontextualismus mit der Behauptung, dass moralisch Urteilende ihre Urteile einfach nicht relativieren, sondern dass sie objektive Urteile fällen. Das Problem mit dieser Behauptung ist, dass die Aussage „moralisch Urteilende relativieren ihre Urteile nicht“ (und damit die korrespondierende Aussage „moralisch Urteilende fällen objektive Urteile“) verschiedene Interpretationen zulässt. Der Kontextualismus beinhaltet jedoch nur eine ganz bestimmte dieser Interpretationen und ist mit dieser Aussage in den anderen Interpretationen durchaus vereinbar. Ich werde im Folgenden die ver-
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schiedenen Interpretationen vorstellen und zeigen, dass die genannte Behauptung entweder zwar wahr ist, aber kein Problem für den Kontextualismus darstellt oder vom Kontextualisten zurückgewiesen werden kann. Die erste Interpretation von „moralisch Urteilende relativieren ihre Urteile nicht“ wird in einem Einwand gegen den Kontextualismus verwendet, der schnell widerlegt ist, da er auf einem Missverständnis beruht. Richard Joyce behauptet, für moralische Urteile sei es essentiell, dass sie nicht in folgendem Sinne relativiert sind: Wenn wir die Handlung einer Person als moralisch schlecht oder falsch bewerten, dann hängt die Bewertung nicht davon ab, welche Wünsche diese Person hat oder welche Standards diese Person akzeptiert. Jemand, der einen Mord an einem Unschuldigen begeht, der handelt moralisch falsch, unabhängig davon, ob sein Handeln einen seiner Wünsche erfüllt oder in Übereinstimmung mit einem von ihm akzeptierten Standard ist. Wer die Morde der Nazis moralisch verurteilt, der relativiert sein Urteil nicht in folgendem Sinne: Er urteilt nicht, dass diese Morde relativ zu den Zielen, Zwecken oder Standards der Nazis falsch waren, sondern, dass sie unabhängig davon falsch waren. Joyce zufolge zeigt dies „pretty clearly that it is not a relativistic judgement with which we condemn them“¹. Joyce unterstellt damit jedoch, dass der Relativist moralische Urteile als relativ zu den Wünschen, Zwecken oder Standards des Handelnden verstehen müsste – dass der Relativist also auf einen Akteur-Relativismus festgelegt wäre. Der Relativismus, den ich hier in Form des indexikalischen Kontextualismus untersuche, ist aber ein Sprecher-Relativismus, demzufolge moralische Urteile auf die Zwecke oder Standards des Urteilenden hin relativiert sind. Wer die Morde der Nazis verurteilt, urteilt demnach, dass diese Morde relativ zu den eigenen Zwecken oder Standards falsch sind. Er relativiert sein Urteil also nicht im Sinne dieser ersten Interpretation. Der Kontextualist kann der oben genannten Behauptung im Sinne dieser Interpretation also zustimmen. Die zweite Interpretation der Aussage „moralisch Urteilende relativieren ihre Urteile nicht“ knüpft an diese sprecher-relative Konzeption des Kontextualismus an und lautet: Wer etwa die Taten der Nazis verurteilt, indem er sagt „Die Taten der Nazis waren falsch relativ zu unseren (oder meinen) Standards!“, der sagt etwas viel zu Schwaches, um überhaupt als moralisch Urteilender verständlich zu werden. Joyce nutzt diese Interpretation, wenn er gegen den Kontextualismus einwendet, dass solche relativierten Aussagen nicht die rhetorische Kraft eines kategorischen Imperativs haben, die wir aber von moralischen Aussagen erwarten. Joyce schreibt:
1 Joyce2001, S. 98.
9.2 Relativierte Urteile? |
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It would be [...] a kind of weirdness if the judge at the Nuremberg trials kept relativizing his condemnation of the war criminals with the suffix ‘...by our moral standards.’ This would not just be weird and irritating; it would be scandalous; there would be protests. [...] The relativist Nuremberg judge [...] will be interpreted not as adding something unnecessary, but as revealing himself, in adding the suffix, to be saying too little. The displeased audience will want the judge not merely to suppress that suffix in conversation; they will want him to eliminate it.²
Wer die Nazi-Verbrechen als falsch relativ zu den eigenen Standards bezeichnet, so kann man Joyce hier verstehen, der sagt insofern zu wenig, als sein Urteil von seinen Adressaten – also den Kriegsverbrechern – achselzuckend und sogar zustimmend zur Kenntnis genommen werden kann. Die Kriegsverbrecher können auf eine solchermaßen explizit relativierte Aussage antworten: „Mag sein, dass unsere Taten relativ zu eurem Standard falsch sind. Na und? Aber schön, dass du uns darüber informiert hast.“ Solche Aussagen lassen völlig den präskriptiven Charakter einer moralischen Aussage vermissen – sie bieten lediglich eine Information und vermitteln in keiner Weise, was moralische Aussagen im Normalfall vermitteln: Eine kategorische Forderung, eine Forderung also, die zu verstehen gibt, dass der Sprecher eine potentielle Indifferenz seines Adressaten nicht duldet oder toleriert und dass er nicht der Meinung ist, man könne das auch legitimerweise anders sehen. Joyce meint, dass moralisch Urteilende ihre Urteile nicht als „merely a permissible way of speaking from a perspective“ verstehen, sondern dass sie intendieren „to say something more – to imbue the moral imperative with a greater authoritative force“³. Eine relativierte Aussage hat aber – so Joyce – keine solche autoritative Kraft, schließlich lässt sie sich nicht einmal als Forderung verstehen, sondern nur als Information über einen einfachen empirischen Zusammenhang. Dass das Relativieren einer moralischen Aussage durch den Zusatz „...relativ zu unseren Standards“ keine kategorische Forderung im eben genannten Sinne hat, ist jedoch etwas, was der Kontextualist anerkennen kann. Denn dieser Zusammenhang zeigt nicht, dass moralische Äußerungen nicht implizit relativ zu Standards sind. Es zeigt lediglich, dass das Explizit-Machen dieser Relation verhindert, dass die entsprechende Aussage vom Hörer als Ausdruck eines kategorischen Anspruchs oder einer kategorischen Forderung, sich entsprechend zu verhalten, aufgenommen wird. Finlay argumentiert, dass die von Joyce benannte autoritative Kraft nicht Teil der semantischen, sondern der pragmatischen Pointe moralischer Aussagen ist. Demnach ist gerade das Unterlassen der expliziten Be-
2 Joyce2011, S. 527. Herv. im Original. 3 Joyce2001, S. 41.
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nennung des Zwecks oder Standards einer zweck- oder standard-relationalen Aussage ein rhetorisches Mittel, um eine Forderung auszudrücken. Die Relativierung von normativen Aussagen wie „Du sollst eine Jacke anziehen“ auf einen Zweck (hier z.B.: um nicht nass zu werden) bleibt für gewöhnlich implizit, wenn der konversationale Kontext deutlich macht, dass der Angesprochene diesen Zweck verfolgt. In moralischen Diskursen ist diese Bedingung aber nicht immer erfüllt: Der Angesprochene hat nicht notwendigerweise ein Interesse an dem vom Urteilenden beanspruchten Zweck oder Standard. In einer solchen Situation so zu sprechen, als sei etwas kontextuell implizit (also als sei der eigene Standard ein vom Adressaten geteilter Standard), obwohl es das nicht ist, stellt eine Verletzung konversationaler Normen dar und ist gerade dadurch ein Mittel, etwas mitzuteilen: „[...] it is a rhethorical way of expressing the expectation (demand) that the audience subscribes to the speaker’s ends or standards.“ Eine Frage liegt nahe: Warum sollten moralisch Urteilende dieses sprachliche Mittel verwenden, um ihre starken Forderungen und ihre Intoleranz gegenüber potentieller Indifferenz auf Seiten der Adressaten auszudrücken, wenn sie doch auch auf direktem Wege fordern können? Warum sollten sie also nicht einfach ganz direkt sagen: „Ich fordere dich auf, Handlung h zu tun (oder zu unterlassen)?“ Ich denke, der Kontextualist kann hier verschiedene Gründe angeben: Erstens vermittelt der Gebrauch einer implizit relativierten normativen Aussage wie Es ist richtig... oder Du sollst..., dass der Urteilende seine Forderung nicht beliebig erhebt, sondern auf der Grundlage eines standard- oder zweck-relationalen Zusammenhangs. Vermittelt wird damit folglich nicht, dass man einfach nur eine zufällige Vorliebe dafür hat, dass der andere eine bestimmte Handlung ausführt, sondern dass man diese Handlung fordert, weil sie einem Standard entspricht oder der Erfüllung eines Zweck dienlich ist. Zweitens kann der Kontextualist darauf verweisen, dass moralische Diskurse nicht immer im Modus des Forderns ablaufen, sondern überwiegend durch das Geben von Ratschlägen gekennzeichnet sind. Diese moralischen Ratschläge sind zwar keine prudentiellen Ratschläge in dem Sinne, dass sie auf das Eigeninteresse des Adressaten abheben, aber sie sind doch in dem Sinne Ratschläge, als mit ihnen unterstellt wird, dass der Adressat moralische Ziele teilt. Nun ist, wie ich denke, auch in solchen Kontexten, in denen man es mit moralischen Extrempositionen wie jenen der Nazis zu tun hat, bei den meisten Menschen die Unterstellung oder zumindest die Hoffnung vorhanden, auch bei diesen moralischen Extremfällen noch einen Punkt zu finden, an dem man mit den eigenen moralischen Urteilen anknüpfen kann. Unterstellt wird, dass auch die Nazis noch eine Spur von dem haben, was man selbst als humane oder moralische Einstellungen, Empfindungen oder Intuitionen begreift. Durch Äußerungen von implizit relativierten Sollens-Urteilen oder Urteilen über das Gutsein von Handlungen hält
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man sich – so könnte der Kontextualist argumentieren – die Tür offen, um solchen Menschen zu zeigen (und sie dafür zu interessieren), dass hier auch für sie bedeutsame standard- oder zweck-relationale Zusammenhänge bestehen. Diese Tür wird aber durch ein direktes Fordern („Unterlass dass!“) zugeschlagen. Drittens: Wie ich gleich im nächsten Abschnitt zeigen werde, lautet eine zentrale These von Finlay, dass wir unsere eigene normative bzw. moralische Sprache missverstehen, dass wir also einen falschen Begriff unserer eigenen sprachlichen Praxis haben. Demnach begreifen moralisch Urteilende ihre eigenen Urteile nicht als zweck- oder standard-relational, sondern als absolut, und sie glauben, mit diesen Urteilen (und ihren moralischen Äußerungen) mehr zu tun, als Konformität mit ihren eigenen Standards und Zwecken einzufordern. Nun könnte Joyce nachhaken und zunächst zugeben: Damit hat der Kontextualist zwar gezeigt, dass man auch mit standard-relativen Aussagen starke Forderungen und die eigene fehlende Bereitschaft, potentielle Indifferenz gegenüber dem impliziten Standard zu tolerieren, ausdrücken kann – nämlich indem man den Standard nicht explizit benennt. Aber – so könnte Joyce fortfahren – moralische Aussagen sind nicht einfach ein rhetorisches Mittel, um starke Präferenzen oder Forderungen auszudrücken. Wir fordern mit moralischen Aussagen nicht einfach nur von anderen, dass sie Dinge tun, die wir für besonders wichtig halten. Moralische Forderungen sind nicht lediglich Forderungen, die darauf basieren, dass wir bestimmte Standards „unterschreiben“ oder bestimmte Zwecke verfolgen. Wir gehen davon aus, dass eine moralische Forderung, die wir an jemanden richten, für diesen eine von uns unabhängige Autorität hat. Eine moralische Forderung, eine bestimmte Handlung auszuführen, wird auf der Grundlage der Annahme erhoben, dass irreduzibel normative Gründe für diese Handlung bestehen. Wie ich bereits im vorigen Kapitel erläutert habe, gibt Finlay zwar zu, dass wir als moralisch Urteilende tatsächlich davon ausgehen, dass moralische Forderungen für den Adressaten absolute Autorität haben – dass wir also Aussagen über irreduzibel normative Tatsachen oder Gründe fällen. Aber er sagt, dass dies lediglich eine falsche Überzeugung über unsere moralischen Urteile ist, und nicht, wie der Irrtumstheoretiker, dass diese Annahme die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile bestimmt. Wir können also diese Annahme aufgeben, ohne zu sagen, dass unsere moralischen Urteile allesamt falsch sind. Finlay formuliert damit also keine Irrtumstheorie für moralische Urteile (also eine Irrtumstheorie erster Ordnung), sondern eine Irrtumstheorie zweiter Ordnung, die sich auf (vortheoretische, vor-reflexive) Überzeugungen über moralische Urteile bezieht. Die Frage ist nun, welche dieser beiden Formen der Irrtumstheorie plausibler ist. Oder anders gefragt: Welche der den beiden unterschiedlichen Irrtumstheorien zugrundeliegenden Annahmen ist plausibler? Dass moralische Urteile Urteile über irreduzibel normative Gründe sind – und moralische Urteile, weil es
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solche Gründe nicht gibt, falsch sind – oder dass moralisch Urteilende fälschlicherweise annehmen, dass moralische Urteile Urteile über irreduzibel normative Gründe sind? Ich muss zugeben, dass ich etwas ratlos bin, wie man letztgültig entscheiden könnte, welche dieser beiden Thesen plausibler oder zutreffend ist. Mir scheinen aber zwei Gesichtspunkts die These von Finlay zu stützen: (i) Meine Kritik an der Vorstellung irreduzibel normativer Tatsachen oder Gründe in Kapitel 4 lief ja darauf hinaus, dass ich die Annahme solcher Tatsachen oder Gründe nicht für berechtigt halte, weil noch nicht einmal klar ist, was genau hier angenommen wird, und mir auch niemand erklären kann, welche Eigenschaften diese Tatsachen oder Gründe eigentlich genau haben sollen. Die Vorstellung von Normativität, die hier beansprucht wird, ist einfach unklar und unzugänglich. Nun scheint mir die These, dass normale moralisch Urteilende mit ihren Urteilen ein Konzept anwenden, von dem sogar Philosophen zugeben, dass es nicht explizierbar sei, unplausibel zu sein. Wie sollen sie überhaupt mit ihren Urteilen die angebliche Eigenschaft einer Handlung, normativ gesollt zu sein, fokussieren können, wenn sie gar nicht genau wissen, was das für eine Eigenschaft sein soll? Zumindest scheint mir diese These unplausibler als die These, dass moralisch Urteilende, wenn sie über ihre eigenen Urteile reflektieren, die falsche Annahme bilden, mit ihren Urteilen mehr zu tun, als standard- oder zweck-relationale Urteile zu fällen, die für sie (qua „subscription“) von großer Bedeutung sind – eine Annahme, die sie dann mit solch unklare Floskeln wie greater authoritative force oder „kategorischer Imperativ, Forderung oder Grund“ versuchen, zu umschreiben. (ii) Auch in diesem Zusammenhang scheint mir der Gesichtspunkt der semantischen Sparsamkeit relevant zu sein: Der Mackiesche Irrtumstheoretiker muss wie der Objektivist von der Annahme ausgehen, dass Ausdrücke wie richtig und gut lexikalisch ambig sind. So muss er zugestehen, dass diese Ausdrücke in vielen Kontexten durchaus standard- oder zweck-relational sind: Ein gutes Messer ist zum Beispiel nur sinnvoll als gut relativ zu einem bestimmten Zweck zu bezeichnen. Und ein falscher Schachzug ist üblicherweise nur relativ zu den Schachregeln als falsch zu bezeichnen. Dass diese Ausdrücke aber nun in moralischen Kontexten eine ganz andere Bedeutung haben, eine Bedeutung, die in keiner Weise mit der Bedeutung dieser Ausdrücke in den genannten Kontexten zusammenhängt, scheint unplausibel zu sein – wie Mackie übrigens selbst zugibt: [...] it would be most implausible to give to the word ‘good’ in moral uses a sense quite unconnected with its sense or senses in other contexts. There cannot be two or more words ‘good’, mere homonyms of one another, like ‘bank’ (of a river) and ‘bank’ (a financial insti-
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tution); for ‘good’ in English has counterparts in many other languages that have much the same range of moral and non-moral uses. We must hope to find either a single general meaning that the word has in both moral and non-moral contexts, or at least a core meaning of which its other senses are outgrowths.⁴
Ob die Annahme einer Ambiguität in diesem Zusammenhang wirklich so unplausibel ist, wie Mackie meint, sei dahingestellt. Sie ist jedenfalls weniger sparsam und weniger einheitlich als die Annahme des Kontextualisten, wonach die genannten Ausdrücke in allen Kontexten denselben semantischen Beitrag zu der Bedeutung von Sätzen leisten, in denen sie vorkommen. Und das spricht für die Annahme des Kontextualisten und damit auch für die These, dass moralisch Urteilende sich über die Bedeutung ihrer Urteile irren, und gegen die These, dass moralische Urteile eine Bedeutung haben, mit der sie sich allesamt als falsch herausstellen. Der Kontextualist kann auch eine plausible Erklärung anbieten, warum moralisch Urteilende sich über die Bedeutung ihrer Urteile irren: Wenn die ihren moralischen Urteilen impliziten Standards oder Zwecke von besonderer Bedeutung für die Urteilenden sind, sie also wollen, dass sich alle entsprechend verhalten, dann liegt der Wunsch oder die Hoffnung nahe, dass diese Urteile eine besondere Autorität über ihre Adressaten haben. Und dieser Wunsch oder diese Hoffnung bestimmt dann die Interpretation der eigenen Urteile – man deutet sie dann als Urteile über irgendetwas Autoritatives oder – in den Worten der Philosophen – Normatives. Diese Überlegungen bleiben, so viel sei zugegeben, noch weitgehend tentativ. Ich hoffe damit aber angedeutet zu haben, wie der Kontextualist begründen könnte, dass seine second-order-Irrtumstheorie gegenüber der first-orderIrrtumstheorie eines Mackie oder eines Joyce vorzuziehen ist. Jedenfalls möchte ich folgendes Fazit aus meiner Diskussion ziehen: Der Einwand von Joyce, demzufolge die Tatsache, dass moralisch Urteilende intendieren „to say something more – to imbue the moral imperative with a greater authoritative force“⁵, aufzeige, dass die Analyse des indexikalischen Kontextualismus verfehlt ist, basiert auf der Annahme, dass sich diese Intention sozusagen auf die Bedeutung moralischer Urteile auswirkt. Diese Annahme kann aber mit guten Gründen in Frage gestellt werden: Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese Intention nur eine verfehlte Interpretation moralischer Urteile durch die Urteilenden selbst zur Folge hat. Insbesondere der Gesichtspunkt der semantischen Sparsamkeit, die eine kontextualistische Analyse bietet, stützt den Zweifel an der von Joyce vorausgesetzten Annahme.
4 Mackie1977, S. 51. 5 Joyce2001, S. 41.
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Möglicherweise ist der Kontextualist aber auch gar nicht auf eine solche Irrtumstheorie zweiter Ordnung angewiesen. Diese Arbeit geht ja von der Annahme aus, dass viele Menschen relativistische Intuitionen haben. Auch wenn sich viele dieser Intuitionen entweder auf Missverständnisse oder auf Intuitionen reduzieren lassen, die keine metaethische Implikationen haben, so denke ich doch, dass zumindest eine nicht unbedeutende Anzahl von gewöhnlichen Nutzern der moralischen Sprache tatsächlich metaethisch bedeutsame relativistische Intuitionen haben. Dieser Eindruck wird zumindest auf den ersten Blick durch zwei empirische Studien gestützt.⁶ Die Autoren dieser Studien kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass philosophische Laien nicht immer so auf Fälle von moralischen Meinungsverschiedenheiten reagieren, wie man es erwarten müsste, wenn sie ein absolutistisches Verständnis von moralischer Wahrheit hätten. Stattdessen scheinen sie ein relativistisches Bild der Wahrheit moralischer Urteile zu haben. In beiden Studien wurden Probanden mit einem Fall konfrontiert, in dem zwei Urteilende scheinbar unvereinbare Bewertungen einer Handlung abgeben: Person A urteilt „h ist moralisch richtig“ und Person B urteilt „h ist moralisch nicht richtig“. Die Probanden wurden dann gefragt, ob sie der Meinung seien, dass mindestens eine der beiden Personen im Unrecht ist bzw. sich irrt („must be wrong“) oder einen Fehler macht („make a mistake“). Insbesondere bei Fällen, in denen die Personen des Beispiels (also die moralisch Urteilenden) aus sehr unterschiedlichen Kontexten bzw. Kulturen kommen,⁷ gab es eine signifikant hohe Menge an Probanden, die angaben, dass es nicht der Fall sein muss, dass mindestens einer der Urteilende falsch liegt. Die zweite Studie legt sogar nahe, dass viele Menschen von der Möglichkeit irrtumsfreier Meinungsverschiedenheiten ausgehen: Zusätzlich wurden die Probanden gefragt, ob sie der Aussage zustimmen, dass A und B eine Meinungsverschiedenheit haben („In making their claims [A and B] do disagree“⁸). Obwohl viele Probanden zuerst angaben, dass es nicht notwendigerweise der Fall ist, dass mindestens einer von A und B einen Fehler begeht, waren sie auch der Meinung, dass A und B einander widersprechen. Dieser Befund ist nun prima facie schwer mit Joyce These zu vereinbaren, wonach der Bezug auf (absolutistische) normative Tatsachen oder Gründe notwendig zum Gehalt moralischer Urteile gehört. Wenn moralische Urteile wirklich Urteile über solche normativen Tatsachen wären, bliebe unverständlich, wie jemand behaupten kann, dass zwei
6 (Knobe2011) und (Khooforthcoming). 7 Die Studien haben drei Szenarien abgefragt. In-Culture: A und B entstammen derselben Kultur. Other-Cultur: A und B kommen aus sehr verschiedenartigen Kulturen. Extraterrestial: A kommt aus unserer Kultur und ist ein Mensch, B ist ein Außerirdischer mit „a very different sort of psychology from human beings“. Vgl. (Knobe2011), S. 485 ff. 8 Vgl. (Khooforthcoming).
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einander (scheinbar) widersprechende Urteile beide korrekt sein können. Zumindest für diejenigen Menschen aus der Studie, die scheinbar kein absolutistisches Verständnis moralischer Urteile haben, trifft Joyces These nicht offensichtlich zu. Dennoch denke ich, dass sich der Kontextualist aus zwei Gründen nicht ohne Weiteres auf diese Befunde zur Verteidigung gegen den Einwand von Joyce stützen kann. Denn erstens zeigen die Studien, dass es auch eine signifikant hohe Anzahl von Menschen gibt, die in allen abgefragten Szenarien der Studie klare absolutistische Intuitionen haben. Zumindest für diese Menschen müsste der Kontextualist eine Irttumstheorie zweiter Ordnung behaupten und begründen. Zweitens sind die Studien aufgrund ihres Designs nicht konklusiv: Die Befunde lassen sich auch anders interpretieren, da die gestellten Fragen nicht unbedingt im Sinne der von den Studienmachern intendierten Bedeutung verstanden werden müssen – und das insbesondere vom Laien. In der ersten Studie wurden die Probanden gefragt, ob sie der folgenden Aussage zustimmen: „Since [A and B] have different judgements about this case, at least one of them must be wrong.“⁹ Ob mindestens einer von A und B falsch liegen muss (oder einen Fehler macht) muss nun aber nicht unbedingt im Sinne von „mindestens einer von beiden fällt ein falsches Urteil“ oder gar „mindestens einer der von beiden ausgedrückten Sätze ist nicht wahr“ interpretiert werden. Stattdessen haben vielleicht einige oder alle Probanden die Aussage so aufgefasst, dass es hier um Rechtfertigung geht: Muss einer von beiden eine nicht gerechtfertigte Überzeugung haben? Auch in der zweiten Studie wurde keine ausreichend klare Formulierung gewählt. Hier wurde gefragt, ob man der Aussage zustimme „at least one of their judgements must be incorrect“.¹⁰ Ein Urteil kann natürlich auch als „incorrect“ verstanden werden, wenn es wahr, aber nicht gerechtfertigt ist bzw. ein Urteil kann als „correct“ verstanden werden, wenn es nicht wahr, aber gerechtfertigt ist. Mit den Formulierungen der Studie sind also keine Befunde garantiert, die eindeutige Schlüsse auf die von den Autoren gewünschten semantischen Intuitionen – also Intuitionen zu der Bedeutung oder den Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile – zulassen. Selbst wenn die Studien mit eindeutigeren Begriffen operiert hätten – etwa mit der Formulierung „Können beiden Urteile wahr sein?“ –, bliebe meines Erachtens eine gehörige Portion Skepsis begründet: Meiner Erfahrung nach ist die Unterscheidung zwischen „wahr“ und „gerechtfertigt“ selbst nach einer kleinen Einführung in die Sprach- und Erkenntnisphilosophie vom philosophisch Untrainierten schwer zu durchschauen und anzuwenden. Ich möchte dem Kontextualisten daher empfehlen, zur Verteidigung gegen Joyces Einwand eine Irrtumstheorie
9 (Knobe2011), S. 487. 10 Vgl. (Khooforthcoming).
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zweiter Ordnung ins Auge zu fassen und unter Vorbehalt zu behaupten, dass zumindest einige Menschen nicht offensichtlich jene semantischen Intuitionen haben, die Joyce dem gewöhnlichen Sprecher unterstellt. Der Kontextualist sollte also sagen: Es sind nicht die moralischen Urteile gewöhnlicher Nutzer moralischer Sprache selbst, die irrtumsbehaftet sind, sondern die metaethischen Intuitionen zur Bedeutung dieser Urteile – wobei möglicherweise nicht alle Menschen diese semantischen Intuitionen des Objektivisten haben. Wie ich oben begründet habe, ist die second-order-Irrtumstheorie des Kontextualisten nicht unplausibel. Da sie eine Irrtumstheorie bezüglich unseres secondorder-Verständnisses moralischer Überzeugungen darstellt, lässt sie unsere moralischen Überzeugungen unangetastet und stellt damit auch unsere moralische Praxis nicht in Frage. Im Gegensatz zur first-order-Irrtumstheorie scheint sie mir daher „more charitable“ gegenüber dem common sense zu sein. An Joyce Adresse gewandt, kann der Kontextualist zeigen, dass es nicht offensichtlich ist, dass die Annahme normativer Tatsachen die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile bestimmen. Plausibler ist die These, wonach sich moralisch Urteilende über den tatsächlichen Gehalt ihrer Urteile irren.
9.3 Zuviel Wahrheit in der Moral? Auch der nächste Einwand beruht auf einem weit verbreiteten Missverständnis und lautet: Wenn der Kontextualismus wahr ist, dann sind alle moralischen Urteile gleichermaßen wahr. So formuliert kann der Einwand natürlich vom Kontextualisten zurückgewiesen werden. Seine Position legt ihn nicht darauf fest, dass moralisch Urteilende immer wahre zweck- oder standard-relationale Urteile fällen. Aber man kann den Einwand anders formulieren und zwar in Form eines sogenannten argumentum ad hitlerium: Wenn der Kontextualismus wahr ist, dann müssen wir das folgende Urteil eines Sadisten, der den Zweck verfolgt, möglichst viel Leid zu verursachen, als wahr bewerten: „Hitler sollte den Holocaust befehlen.“ Und das, so der Einwand, ist doch sicherlich eine reductio einer metaethischen Theorie. Eine Theorie, die uns darauf verpflichtet, einem solchen Urteil zuzustimmen und damit den Holocaust zu billigen oder gar zu befürworten, widerlegt sich selbst. Auch dieser Einwand geht jedoch fehl: Der Kontextualismus verpflichtet uns nicht dazu, den Holocaust zu billigen, auch wenn das Urteil des Sadisten – in der kontextualistischen Analyse – wahr ist. Das Urteil des Sadisten drückt dem Kontextualisten zufolge die Proposition Um möglichst viel Leid zu verursachen, sollte Hitler den Holocaust befehlen aus. Dieser Proposition können wir sicherlich zustimmen und zwar ohne uns damit darauf festzulegen, den Holocaust zu billigen, oder den Zweck, möglichst viel Leid zu verursachen, zu präferie-
9.3 Zuviel Wahrheit in der Moral? |
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ren. Der Kontextualist macht nun darauf aufmerksam, dass es einen Unterschied macht, ob man das Urteil des Sadisten mit den Worten „Sein Urteil, dass Hitler, um möglichst viel Leid zu verursachen, den Holocaust befehlen sollte, ist wahr“ bewertet, oder mit den Worten „Sein Urteil, dass Hitler den Holocaust befehlen sollte, ist wahr“. Während die Bewertung in der ersten Formulierung keine Implikatur hat, die etwas über die eigenen Präferenzen bezüglich des Holocaust oder des Zwecks, Leid zu verursachen, vermittelt, generiert die zweite Formulierung in üblichen konversationalen Kontexten die Implikatur, dass der Sprecher positiv zum Holocaust oder zum Zweck des Sadisten eingestellt ist. Denn zu sagen, das Urteil, dass Hitler den Holocaust befehlen sollte, ist wahr, ist nichts anderes als zu sagen, dass Hitler den Holocaust befehlen sollte. Damit drückt man aber in üblichen konversationalen Kontexten aus, dass man einen Zweck (bzw. den Zweck des Sadisten) befürwortet, der durch den Holocaust befördert wurde: Gerade das Nicht-Explizit-Machen des impliziten Zwecks in „Hitler sollte den Holocaust befehlen“ vermittelt, dass man positiv gegenüber diesem Zweck und damit dem Holocaust eingestellt ist.¹¹ Und dieser pragmatische Effekt, den die Bewertung des Sadisten-Urteils in der oben genannten zweiten Formulierung hat, ist es, der es zunächst schwer verdaulich macht, dass wir dem Kontextualismus zufolge das Urteil des Sadisten als wahr bewerten müssen. Aber indem man den Index des Urteils (also den impliziten Zweck des Sadisten) explizit macht, indem man das Urteil mit der ersten Formulierung bewertet, kann man diesen pragmatischen Effekt aufheben und damit das Urteil als wahr bewerten, ohne den Holocaust zu billigen.
11 Ich rede hier von üblichen konversationalen Kontexten, da nicht in jedem Kontext das Unterlassen der Explizierung des Zwecks einer zweck-relationalen Aussage die genannte Implikatur generiert: So kann etwa ein angehender Versicherungskaufmann in der Berufsschule auf die Frage, ob der Betrüger Tom besser den Vorhang anzünden oder eine Decke auf den Heizlüfter legen sollte, antworten: „Tom sollte die Decke auf den Heizlüfter legen“, ohne damit zu vermitteln, dass er selbst den Zweck des Versicherungsbetrugs billigt. Für moralische Aussagen wäre ein Kontext einschlägig, in dem zwei Studenten für eine Ethikklausur lernen. Sie behandeln gerade den Utilitarismus und A fragt B: „Soll der Richter den unschuldigen Irwing verurteilen?“ und B antwortet: „Ja, der Richter soll Irwing verurteilen“. B’s Antwort generiert in diesem Kontext, trotz ImplizitLassens des Index keine Implikatur bezüglich seiner eigenen Präferenzen.
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9.4 Ridges Einwand 9.4.1 Hat der indexikalische Kontextualismus doch ein Problem mit Meinungsverschiedenheiten? Michael Ridge hat einen Einwand gegen den ausgeklügelten Kontextualismus von Björnsson und Finlay formuliert, der genau an der zur Zurückweisung des eben diskutierten Einwandes fruchtbar gemachten Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik ansetzt. Ridge zufolge kann auch mit dieser Unterscheidung bzw. mit dem Rekurs auf das Zusammenspiel zwischen Semantik und Pragmatik nicht die intuitiv richtige Verbindung zwischen den Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile und einer Theorie moralischer Meinungsverschiedenheiten hergestellt bzw. bewahrt werden. Diese Verbindung besteht nach Ridge in Folgendem: Wenn man das moralische Urteil einer Person als falsch bewertet, dann ist das hinreichend dafür, als dieser Person moralisch widersprechend zu gelten. Und einer Person moralisch zu widersprechen ist hinreichend für die Festlegung auf die Falschheit mindestens eines der moralischen Urteile dieser Person (mutatis mutandis für Wahrheit und Zustimmung).¹² Ridge macht diese Verbindung anhand des folgenden Beispiels plausibel: Note how incoherent it would be for someone to say something like „Bush and I disagree morally about the war in Iraq. However, in my view, all of Bush’s moral beliefs about the war in Iraq are true.“ Even more obviously incoherent, consider the sentence, „Bush and I disagree morally about everything, but of course I admit that all of Bush’s moral beliefs are completely true.“¹³
Ein simpler Kontextualismus, der noch nicht auf die pragmatischen Überlegungen von Björnsson und Finlay zurückgreift, aber moralische Meinungsverschiedenheiten als praktische Konflikte im Sinne von „disagreements in attitude“ beschreibt, muss solche Sätze jedoch als kohärent und als wahr verstehen. Ridge erläutert dies anhand von Hares Beispiel des Missionars, der auf Kannibalen trifft. Dem simplen Kontextualisten zufolge drücken die Kannibalen mit ihrem Urteil „Skalpieren ist gut“ die Proposition Skalpieren ist gut relativ zu Standard S1 aus, während der Missionar mit seinem Urteil „Skalpieren ist nicht gut“ die Proposition Skalpieren ist nicht gut relativ zu Standard S2 ausdrückt. Es ist daher möglich, dass beide Urteile wahr sind – was wir im Folgenden annehmen werden – und dass der Missionar keine doxastische Meinungsverschiedenheit mit den Kannibalen hat. Da der simple Kontextualist nun gezwungen ist, die intuitiv vorhande12 Vgl. Ridge2014, S. 91. 13 Ridge2014, S. 91.
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ne Meinungsverschiedenheit in diesem Fall statt auf der Ebene der moralischen Überzeugungen auf der Ebene von konativen Einstellungen, die diese Überzeugungen begleiten, zu lokalisieren, führt seine Konzeption zu der von Ridge genannten intuitiv unplausiblen Verbindung zwischen der Wahrheit moralischer Urteile und moralischer Meinungsverschiedenheiten. Mit diesem simplen Kontextualismus stellt sich folgende Aussage des Missionars als kohärent und wahr heraus: (CB) The cannibals’ beliefs about the morality of scalping are all true, and I disagree with the cannibals about the morality of scalping. Da der simple Kontextualismus die Meinungsverschiedenheit zwischen dem Missionar und den Kannibalen nur als „disagreement in attitude“ verstehen kann, ist diese Meinungsverschiedenheit damit vereinbar, dass die Urteile beider Parteien wahr sind. Wie ich gezeigt habe, bietet der fortgeschrittene Kontextualismus von Björnsson und Finlay eine interessante Strategie, um den Kontextualismus mit unserer Urteils- und Bewertungspraxis zu vereinbaren. Mit dieser Strategie lässt sich nun auch erklären, warum solche Sätze wie (CB) als inkohärent und sonderbar erscheinen: Sie sind nicht in semantischer, sondern in pragmatischer Hinsicht inkohärent. Wie ich im vorigen Kapitel dargestellt habe, argumentieren die beiden Autoren wie folgt: Bewertungen der zweck- oder standard-relationalen Urteile anderer als wahr generieren in üblichen Kontexten, also in Kontexten, in denen die mit solchen Urteilen verbundenen (potentiellen) Entscheidungen und praktischen Implikationen von Interesse sind, die Implikatur, dass der Bewertende den impliziten Zweck billigt oder selbst verfolgt. Wenn der Missionar also das Urteil der Kannibalen als wahr bewertet, dann wird seine Aussage so interpretiert, als wolle er mitteilen, dass er auch der Überzeugung ist, dass Skalpieren moralisch richtig ist. Und wer eine solche Überzeugung mitteilt, der teilt auch mit, dass er den impliziten Zweck der Kannibalen oder zumindest einen Zweck, für den Skalpieren förderlich ist, präferiert, und vor allem, dass er Skalpieren präferiert. Da der Missionar jedoch einen Zweck verfolgt (oder einen Standard hat), für den Skalpieren hinderlich ist, präferiert er, dass Menschen nicht skalpiert werden. Würde er das Urteil der Kannibalen als wahr bewerten und das mitteilen, würde er also etwas Falsches und Irreführendes vermitteln. Damit erklärt sich aber auch die Inkohärenz von (CB). Mit der ersten Hälfte des Satzes gibt der Missionar pragmatisch zu verstehen, dass zwischen ihm und den Kannibalen gar keine Uneinigkeit besteht – also auch kein Präferenz-Konflikt, kein disagreement in attitude. Mit der zweiten Hälfte behauptet er aber, dass sie sich uneinig sind. Die Inkohärenz von (CB) ergibt sich demnach aus dem prag-
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matischen Beitrag, den Bewertungen von moralischen Urteilen (oder Aussagen) zu moralischen Konversationen leisten: Sie generieren Implikaturen, die darüber informieren, wie der Sprecher zu den Präferenzen steht, die mit den von ihm bewerteten Urteilen (oder Aussagen) verbunden sind. Ridge wendet nun ein: Wenn (CB) aufgrund der pragmatischen Eigenschaften von Kontexten, in denen die Bewertung der moralischen Urteile von anderen stattfinden, inkohärent erscheint, dann müssten diese pragmatischen Eigenschaften so verändert werden können, dass solche Bewertungen ihre konversationalen Implikaturen verlieren bzw. gar nicht erst erzeugen. Ridge schreibt: The problem with [this] view is that it predicts that there is at least an available reading of the offending sentences on which they are unproblematic. For semantically, the relevant sentence is fine, and one would have thought that the pragmatic phenomena they invoke to explain why we find such sentences to be deviant could be explicitly cancelled.¹⁴
Der Punkt von Ridge ist also, dass wir uns einen Kontext vorstellen können, in dem aufgrund der Pragmatik eine Bewertung der moralischen Urteile anderer gar nicht erst die Implikatur, mit der die eigenen Präferenzen mitgeteilt werden, erzeugt. Einen solchen Kontext könnte man – so Ridge – z.B. erzeugen, indem man explizit angibt, dass man den buchstäblichen semantischen Gehalt des moralischen Urteils einer Person bewertet. Dadurch soll ein Kontext erzeugt werden, in dem die Konversationsteilnehmer diese Bewertung nicht als Ausdruck der mit dem eigenen Zweck oder Standard verbundenen Präferenzen interpretieren müssen. Durch „going literal“¹⁵ soll es demnach möglich sein, (CB) so zu formulieren, dass die erste Hälfte des Satzes keinen pragmatischen Beitrag mehr leistet, der für Inkohärenz mit der zweiten Hälfte des Satzes sorgt: (CB*) The cannibals’ beliefs about the morality of scalping are all quite literally true, and I disagree with the cannibals about the morality of scalping. Ridge findet, dass der Gebrauch von „quite literally“ in (CB*) nichts daran ändert, dass dieser Satz inkohärent erscheint. Wenn aber die kontextualistische Analyse von Björnsson und Finlay zutreffend wäre, dann müsste man doch erwarten können, dass normale, kompetente Sprecher das (wenn auch implizite) linguistische know-how haben, um (CB*) als kohärent wahrzunehmen. Da (CB*) aber intuitiv
14 Ridge2014, S. 94. 15 Ridge2014, S. 95.
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inkohärent erscheint, scheinen wir als normale Sprecher dieses know-how nicht zu haben. Nach Ridge gilt aber: The idea that speakers who themselves do have at least a concept of literal meaning could not, with locutions like ‘literally’ and ‘strictly speaking true’, be brought to focus on the literal contents which they presumably are tracking anyway (qua their semantic know-how) is highly implausible.¹⁶
Ridge schließt daraus letztlich, dass die Analyse von Björnsson und Finlay nicht überzeugend ist und dass moralische Meinungsverschiedenheiten über den semantischen Gehalt moralischer Urteile erklärt werden müssen. Dies kann eine kontextualistische Semantik für moralische Urteile aber nicht leisten – zumindest nicht für scheinbar fundamentale moralische Meinungsverschiedenheiten.
9.4.2 Diskussion von Ridges Einwand Ich denke, dass Ridge mit seinem Schluss voreilig ist: Zunächst gibt es Gründe, anzunehmen, dass allgemein die Sensibilität für die theoretische Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik bei normalen Sprechern nicht so ausgeprägt ist, dass sie durch einfache sprachliche Ausdrücke wie „buchstäblich“ auf die entsprechenden Zusammenhänge aufmerksam gemacht werden können. Ridge verwendet ein Beispiel von Björnsson, um zu zeigen, wie pragmatische Phänomene durch ein bestimmtes stage-setting aufgehoben werden können. In üblichen Kontexten erscheint die folgenden erste Antwort von (y) angemessen und seine zweite Antwort verwirrt: (x) „I was told that Sally stole the money.“ (y) „Yes, that’s true, she did.“ (y) #„Yes, that’s true, you were.“
In üblichen Kontexten ist es angemessen in Reaktion auf die Aussage von x nicht die Proposition I was told that Sally stole the money zu bewerten, sondern die Proposition Sally stole the money. Aber man kann sich einen Kontext vorstellen, in dem z.B. in Frage steht, ob x ein gutes Gedächtnis hat, und x seine Aussage in einem zögernden Ton macht. In einem solchen Kontext wird die erste genannte Proposition relevant und die zweite Antwort von y angemessen – sie ist in diesem Kontext als Bestätigung des Erinnerungsvermögens von x zu verstehen.
16 Ridge2014, S. 97.
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Stellen wir uns nun aber vor, y sagt in einem normalen Kontext, in dem klar ist, dass x von Sallys verbrecherischer Ader berichten will: (Sally) What x said is literally true. But I disagree with x about whether Sally stole the money. Ich denke, dass auch diese Aussage (analog zu CB*) für den normalen Sprecher beim ersten Hören inkohärent erscheint. Und das, obwohl normale Sprecher ein Gespür für den pragmatischen Beitrag der Aussage von x in den verschiedenen genannten Kontexten haben. Der Zusatz „quite literally“ bewirkt in diesem Kontext, wie ich denke, gerade nicht, dass die Aufmerksamkeit der Interpreten auf den tatsächlichen semantischen Gehalt der Aussage von x gelenkt wird.¹⁷ Vielmehr entsteht durch diesen Zusatz eine besondere Betonung der Zustimmung zu der von x pragmatisch vermittelten Aussage, dass Sally das Geld gestohlen hat.¹⁸ Um die semantische Kompetenz von Sprechern zu testen, scheint es also generell nicht auszureichen, Ausdrücke wie „quite literally“ einzufügen. Nötig scheint vielmehr ein umfangreiches stage-setting.¹⁹ Ridge könnte nun erwidern, dass es nicht so sehr darum geht, ob der Zusatz „quite literally“ ermöglicht, eine Lesart von (CB) zu finden, die nicht inkohärent erscheint, sondern, ob es überhaupt möglich ist. Er könnte zugestehen, dass dieser Zusatz auch im Sally-Beispiel nicht den gewünschten Effekt hat, aber anmerken, dass es durchaus möglich ist, eine Formulierung zu finden, in der ein analoger Satz zu (Sally) nicht inkohärent erscheint. Eine solche Formulierung wäre z.B.:
17 Bei einer Präsentation dieser Gedanken vor Philosophen waren einige der Meinung, dass (Sally) nicht inkohärent erscheint. Ich habe daraufhin eine kleine Umfrage unter nicht philosophisch geschulten Hörern gestartet und bin zu dem (nicht-repräsentativen) Ergebnis gelangt, dass alle Hörer – auch nach mehrmaligen Nachfragen – (Sally) als inkohärent empfanden. Erst eine eingehendere Erläuterung hat für ein Aha-Erlebnis gesorgt. 18 Anzumerken ist hier auch, dass „quite literally“ vom normalen Sprecher wohl eher im Kontrast zu „metaphorisch“ und weniger im Kontrast zu „pragmatisch ausgedrückt“ verstanden wird. 19 Ein weiteres Beispiel: Gaby und Hans sind sich uneinig, mit Bezug auf welchen Standard man Menschen als groß bezeichnen sollte. Gabys präferiert es, „groß“ in Bezug auf einen Standard zu verwenden, demzufolge Menschen über 1,80m groß sind. Hans möchte, dass man Menschen anhand eines Standards misst, in dem Menschen erst ab 2,00m als groß gelten. Sie sind sich einig, dass Hightower 1,90m misst. Gaby sagt: „Hightower ist groß.“ Daraufhin sagt Hans: „Gabys Überzeugung über die Größe von Hightower ist buchstäblich wahr, aber ich stimme ihr nicht zu: Hightower ist nicht groß.“ Ich denke, dass auch dieser Satz dem normalen Hörer sonderbar und inkohärent erscheint. Und das obwohl es kein Geheimnis ist, dass die Bedeutung von „groß“ kontextabhängig ist.
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(Sally*) What x said means quite literally that x was told that Sally stole the money. And that’s true, he was told. But I disagree with x about whether Sally stole the money. Das Problem ist nur, dass Björnsson und Finlay mit einer analogen Formulierung für (CB), also durch Explizit-Machen des propositionalen Gehalts des KannibalenUrteils, dafür sorgen können, dass diese alternative Formulierung von (CB) auch nicht inkohärent erscheint: (CB-explizit) Strictly speaking, the moral belief of the cannibals about scalping consists in the proposition Scalping people is good relative to Standard S1 . And this proposition is true. The moral belief of the cannibals is therefore true. But I disagree with the cannibals about the morality of scalping.²⁰ Der einzige Unterschied zwischen (Sally*) und (CB-explizit), auf den sich Ridge nun berufen kann, um einen Einwand gegen den Kontextualismus zu formulieren, ist: Der normale Sprecher wird dem ersten Satz aus (Sally*) nach kurzer Reflexion zustimmen. Er wird schnell einsehen, dass x’s Aussage die Proposition I
20 Stephan Padel hat vorgeschlagen, dass der Kontextualist in Reaktion auf Ridges Einwand behaupten könnte, dass Aussagen wie „Die moralische Überzeugung von P ist wahr“ keine konversationale, sondern eine konventionale Implikatur tragen, mit der dem Hörer etwas über die Präferenzen des Sprechers mitgeteilt wird. Denn wenn hier eine konventionale Implikatur im Spiel wäre, dann könne man nicht durch stage-setting dafür sorgen, dass die Implikatur gar nicht erst generiert wird. Wenn die Implikatur als konventionale Implikatur also Teil der Bedeutung eines Ausdrucks/Satzes/Wortes wäre, dann könnten kontextuelle Faktoren oder der Zusatz „quite literally“ es einem Sprecher nicht ermöglichen, die Aussage ohne Implikatur zu machen. Ich denke jedoch, dass dieser Vorschlag nicht überzeugt: Wenn die Aussage „The moral belief of the cannibals is true“ eine konventionale Implikatur tragen würde, die auch durch den Zusatz „quite literally“ nicht aufgehoben werden kann, dann müsste sie auch in meinem Beispiel (CB-explizit) von dieser Aussage getragen werden – sie dürfte also auch hier trotz des „Vorgeplänkels“ in den vorhergehenden Sätzen nicht aufgehoben werden können. Das hieße aber, dass auch in CB-explizit eine (pragmatische) Inkohärenz vorzufinden sein müsste. Aber CB-explizit erscheint nicht inkohärent – das würde wohl selbst Ridge zugeben! Mit Padels Strategie würden sich Björnsson und Finlay letztlich die Möglichkeit nehmen, eine metaethische Explikation einer moralischen Aussage zu geben und diese Aussage dann hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wahrheitsbedingungen zu bewerten, ohne mit diesen metaethischen Urteilen etwas über ihre eigenen Präferenzen mitzuteilen. Sie dürften dann, um nicht missverstanden zu werden, auch auf der metaethischen Ebene – also in einem Kontext außerhalb der normalen konversationalen Dynamik – niemals zugeben, dass das Kannibalen-Urteil wahr ist. Eine zentrale Pointe des indexikalischen Kontextualismus ist aber doch gerade, dass sich bei näherer metaethischer Analyse herausstellen kann, dass das Kannibalen-Urteil wahr ist – und dieses Ergebnis sollte doch wohl unmissverständlich artikuliert werden können. Mit Padels Strategie wäre das aber nicht möglich.
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was told that Sally stole the money ausdrückt. Aber – so könnte Ridge argumentieren – der normale Sprecher wird im Falle von (CB-explizit) verneinen, dass der erste Satz dort zutrifft. Er wird verneinen, dass der propositionale Gehalt des moralischen Urteils der Kannibalen aus der Proposition Scalping people is good [according to Standard S1 ] besteht. Er wird sagen: „Das kann nicht sein. Denn wenn es so wäre, dann würde ja die moralische Überzeugung der Kannibalen gar nicht mit meiner moralischen Überzeugung konfligieren. Ich habe aber den ganz starken Eindruck, dass unsere moralischen Überzeugungen einander widersprechen, und nicht, dass diese Überzeugungen miteinander vereinbar sind und wir daneben einen Präferenz-Konflikt haben.“ Damit läuft Ridges Einwand aber darauf hinaus, dass es äußerst kontraintuitiv ist, dass es moralische Meinungsverschiedenheiten geben kann, die nicht inkonsistente moralische Urteile involvieren – dass moralisch Urteilende in einer moralischen Frage uneins sein können, auch wenn ihre moralischen Überzeugungen einander nicht widersprechen. Der Einwand ist also, dass der Kontextualismus einfach kontraintuitiv ist, weil er diese kontraintuitive Implikation hat – und diese Implikation wird dadurch verdeutlicht, dass (CB-explizt) erstens einen dem Kontextualisten zufolge zutreffenden Bericht über den propositionalen Gehalt des moralischen Urteils der Kannibalen enthält und zweitens kohärent ist. Dem Kontextualisten bleibt nun die Möglichkeit, zu argumentieren, dass diese Intuition des normalen Sprechers – also die Intuition, dass moralische Meinungsverschiedenheiten immer aus inkonsistenten Überzeugungen bestehen – falsch ist. Er muss also eine Irrtumstheorie bezüglich unseres Verständnisses von (bestimmten) moralischen Meinungsverschiedenheiten formulieren und plausibel machen, wieso wir als moralisch Urteilende einem solchen Irrtum unterliegen. Eine solche Irrtumstheorie wäre wieder eine Form der Irrtumstheorie hinsichtlich des vor-reflexiven metaethischen common sense-Verständnisses von moralischen Überzeugungen und keine Irrtumstheorie hinsichtlich dieser moralischen Überzeugungen selbst. Ich kann hier nur andeuten, in welche Richtung der Kontextualist denken müsste, um zu erklären, wie der normale moralisch Urteilende zu einem solchen metaethischen Irrtum kommt. Zunächst könnte der Kontextualist argumentieren, dass es vor dem Hintergrund seiner Theorie zu erwarten ist, dass normale Sprecher nicht verlässlich zwischen einer genuinen Meinungsverschiedenheit und einem praktischen Konflikt in moralischen Diskursen diskriminieren können. Der Missionar und die Kannibalen sind sich z.B. – dem Kontextualisten zufolge – uneins auf der Grundlage ihrer moralischen Urteile, auch wenn ihre Uneinigkeit lediglich eine Uneinigkeit in Präferenzen ist. Der Missionar bildet seine Abneigung gegen Skalpieren aufgrund seines moralischen Urteils, dass Skalpieren gemäß seines Standards falsch ist, aus. Die Präferenz und das Urteil sind demnach eng
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miteinander verbunden – so dass es nicht überrascht, dass der Missionar sie nicht angemessen auseinanderhalten kann. Mit den Kannibalen konfrontiert, kann der Missionar wahrnehmen, dass er mit diesen auf der Grundlage ihrer respektiven Urteile uneins ist, und es ist nachvollziehbar, wenn er daraufhin annimmt, dass dies auf eine Inkonsistenz in diesen Urteilen zurückzuführen ist. Generell scheint mir zu gelten, dass normale Sprecher in ihrem täglichen Sprachgebrauch nicht immer klar zwischen dem propositionalen Gehalt und der pragmatischen Rolle von Äußerungen differenzieren können. Zweitens lässt sich mit Bezug auf die von Björnsson und Finlay angestellten pragmatischen Überlegungen festhalten: Angenommen, moralische Urteile wären im Sinne des Kontextualismus zweck- oder standard-relationale Urteile. Dann wäre zu erwarten, dass aufgrund der beschriebenen konversationalen Dynamik und der pragmatischen Phänomene in moralischen Diskursen die Urteilenden bei ihrer Bewertung und Individuierung der Urteile anderer in der Art und Weise Bezug nehmen, wie wir es in unserer aktuellen Praxis tun: Sie würden die Urteile anderer (die relativ zu einem Standard sind, den sie selbst ablehnen) als falsch bewerten, auch wenn diese Urteile „quite literally“ wahr wären. Wenn aber die alltägliche Praxis des Bewertens der Urteile anderer auf diese Weise ablaufen würde, auch wenn der Kontextualismus wahr wäre, dann wäre auch zu erwarten, dass die Urteilenden ein (vortheoretisches) Verständnis von moralischen Meinungsverschiedenheiten entwickeln, demzufolge moralische Urteile (bzw. Überzeugungen) konfligieren. Kurz (und ein wenig überzogen): Wer jeden Tag aufgrund konversationaler Dynamiken „gezwungen“ ist, die moralischen Urteile anderer als falsch zu bewerten, obwohl sie buchstäblich nicht falsch sind, der denkt irgendwann, dass diese Meinungsverschiedenheiten doxastische Meinungsverschiedenheiten sind. Abgesehen von dieser Möglichkeit zur Verteidigung gegen Ridge kann der Kontextualist noch einen Punkt zur Beweislast anmerken: Denn auch im Kontext von Ridges Einwand sind die oben genannten Studien zu semantischen Intuitionen des gewöhnlichen Sprechers nicht irrelevant. Auch wenn ich gesagt habe, dass sie nicht konklusiv sind und einen Spielraum für Interpretationen offen lassen, können sie dennoch zur Vorsicht angesichts von Behauptungen über die angeblich eindeutigen semantischen Intuitionen des Laien motivieren. Der Einwand von Ridge geht von der Voraussetzung aus, dass der gewöhnliche Sprecher klarerweise eine Inkohärenz bei dem von Ridge formulierten Satz wahrnehmen würde. Nun legt insbesondere die zweite oben diskutierte Studie nahe, dass diese Voraussetzung voreilig gemacht wird: Zusätzlich zur Frage ob mindestens einer von A und B falsch liegen muss, wurden die Probanden gefragt, ob sie der Aussage zustimmen, dass A und B eine Meinungsverschiedenheit haben („In making their claims [A and B] do disagree?“). Obwohl viele Probanden zuerst angaben, dass es
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nicht notwendigerweise der Fall ist, dass mindestens einer von A und B einen Fehler begeht, waren sie auch der Meinung, dass A und B einander widersprechen.²¹ Dieser Befund stellt also die Voraussetzung von Ridge in Frage, dass die gewöhnliche Sprecherin und Nutzerin moralischer Sprache ein Problem hätte mit Sätzen wie: „Der Kannibale hat eine wahre moralische Überzeugung. Aber ich stimme ihm in moralischen Fragen nicht zu.“ Zumindest eine signifikant hohe Anzahl an gewöhnlichen Sprechern scheint geneigt zu sein, die Frage, ob ein moralisches Urteil wahr oder korrekt ist, getrennt zu halten von der Frage, ob man mit diesem Urteil übereinstimmt. Wenn man der gewöhnlichen Sprecherin nun nicht eine ziemlich große Inkompetenz in der Verwendung von Konzepten wie „korrekt“ und „einem Urteil zustimmen“ unterstellt – und unterstellt, dass hier keine Verwechslung zwischen „wahr“ oder „korrekt“ und „gerechtfertigt“ vorliegt –, dann liegt es nahe, dass sie semantische Intuitionen zu moralischen Begriffen hat, die moralischen Urteilen im Sinne des Kontextualismus eine variable Bedeutung zuschreiben, die aber jeweils etwas über moralische Präferenzen oder Einstellungen verraten – so dass es Sinn ergibt, ein Urteil als wahr zu beurteilen und es gleichzeitig zum Anlass zu nehmen, die eigene Ablehnung des Urteils mitzuteilen. Da Ridge nicht annehmen sollte, dass die Probanden der Studie mit ihren Antworten auf jeden Fall auf Rechtfertigung abgezielt haben, muss auch er seine Behauptung unter Vorbehalt stellen, wonach Laien klarerweise seinen Satz zu den Missionaren als inkohärent verstehen. Der Kontextualist kann also sagen: Ganz so klar, wie Ridge meint, ist das mit der Wahrnehmung von Inkohärenz in seinem Beispiel nicht.
9.5 Kontextualismus und fundamentale moralische Urteile Das größte Problem des metaethischen Kontextualismus hat mit der Frage zu tun, welchen normativen Status die Standards und Zwecke haben, auf die sich seiner Konzeption zufolge moralische Urteile beziehen. Dass viele moralische Urteile auf Standards oder Zwecke relativiert sind, kann auch der Anti-Kontextualist anerkennen: Wenn etwa ein Utilitarist urteilt, dass eine Person P eine Handlung h ausführen soll, dann ist dieses Urteil auf den Zweck der Nutzenmaximierung relativiert und kann als das Urteil „P soll h ausführen, um den Gesamtnutzen zu maximieren“ verstanden werden.²² Ein Utilitarist setzt dabei aber gerade voraus, 21 Vgl. (Khooforthcoming). 22 Dieser Punkt trifft auch auf Urteilende mit deontologischer oder kantianischer Neigung zu: Ihre Urteile über konkrete Handlungen lassen sich als relativiert auf den Zweck der Konformität mit der praktischen Vernunft oder der moralischen Pflicht verstehen.
9.5 Kontextualismus und fundamentale moralische Urteile |
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dass P den Gesamtnutzen maximieren soll oder dass es gut ist, den Gesamtnutzen zu maximieren – es wäre seltsam, wenn jemand sagen würde, P soll h ausführen, um den Gesamtnutzen zu maximieren, um dann zu verneinen, dass P den Gesamtnutzen maximieren soll. Aber auf welchen Zweck oder Standard ist dieses weitere normative/moralische Urteil relativiert? Üblicherweise denkt ein überzeugter Utilitarist nicht, dass man den Gesamtnutzen maximieren soll, um einen bestimmten Standard oder Zweck zu erfüllen. Er denkt einfach, dass man das tun soll, Punkt. Und das ist, denke ich, keine Eigenheit des Utilitaristen. Jeder moralisch Urteilende sieht die Kriterien, Standards und Zwecke, auf die er sich in seinen moralischen Urteilen bezieht, als fundamental an, d.h. er hält sie nicht für einschlägig oder normativ bedeutsam, weil sie irgendwelche anderen Standards oder Zwecke erfüllen, sondern weil sie um ihrer selbst willen bedeutsam sind. Der Utilitarist ist der Überzeugung, dass es ein fundamentaler Zweck ist, den Gesamtnutzen zu maximieren, ein Zweck, der intrinsisch gut ist oder um seiner selbst willen verfolgt werden soll. Diese Überzeugung ist eine fundamentale moralische Überzeugung: Eine Überzeugung darüber, was um seiner selbst willen moralisch gut oder richtig ist oder moralisch getan werden soll – was also einen fundamentalen moralischen Wert hat. Die kontextualistische Analyse moralischer Urteile ist daher schwer zu vereinbaren mit solchen fundamentalen Urteilen. Für sie ist gerade wesentlich, dass sie nicht standard- oder zweck-relational sind. Mit diesen Urteilen wird sich nicht auf standard- oder zweck-relationale, also auf extrinsische Eigenschaften von Handlungen bezogen, sondern auf intrinsische Eigenschaften, die diese Handlungen aufgrund ihrer eigenen Natur haben. Das Problem ist also: Wie kann der Kontextualismus seine standard- oder zweck-relationale Analyse moralischer Urteile mit solchen fundamentalen Urteilen vereinbaren? Im folgenden werde ich mich auf U1 als Beispiel für ein fundamentales moralisches Urteil beziehen: (U1) Man soll den Gesamtnutzen maximieren. Jonas Olson konfrontiert den Kontextualisten mit solchen fundamentalen Urteilen und er diskutiert zwei Möglichkeiten, wie der Kontextualist auf dieses Problem reagieren kann.²³ Die erste Möglichkeit ist, fundamentale moralische Urteile von der kontextualistischen Analyse auszunehmen und eine alternative semantische Analyse für solche Urteile anzubieten. So könnte der Kontextualist z.B. fundamentale Urteile expressivistisch analysieren und behaupten, dass sie keine deskriptiven Überzeugungen sind (oder ausdrücken), sondern konative Einstel-
23 Vgl. Olson2014, S. 130ff.
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lungen. Die Folge davon wäre aber eine uneinheitliche Theorie moralischer Urteile, was Olson zufolge zwei Nachteile hätte: Erstens wäre dann die Frage, warum die expressivistische Analyse auf fundamentale Urteile beschränkt bleiben sollte. Wenn eine expressivistische Analyse bei diesen Urteilen plausibel ist, dann sollte man erwarten, dass sie auch für nicht-fundamentale Urteile plausibel ist.²⁴ Ich denke, dass der Kontextualist uns zumindest gute Gründe dafür liefern muss, warum nicht-fundamentale Urteile deskriptivistisch (und standard- oder zweckrelational) analysiert werden sollten, wenn doch fundamentale Urteile expressivistisch verstanden werden können. Zweitens ist Olson zufolge eine solche uneinheitliche metaethische Theorie unattraktiv, weil sie sich Standardeinwänden sowohl gegen relativistische als auch expressivistische Positionen und damit einer „double load of critique“²⁵ aussetzt. Wenn fundamentale Urteile expressivistisch verstanden werden müssen, dann stellt sich das bekannte Problem des Expressivismus, wie solche Urteile in eingebetteten Kontexten funktionieren. Damit geht aber ein besonders von Finlay reklamierter Vorteil des Kontextualismus verloren: Dass er eine semantische Analyse moralischer Urteile zu bieten hat, der sich die Probleme des Expressivismus gar nicht erst stellen. Die zweite Möglichkeit, wie der Kontextualist auf das Problem im Zusammenhang mit fundamentalen Urteilen reagieren kann, hat Finlay selbst formuliert. Ihm zufolge drücken fundamentale Urteile Tautologien aus. Er behauptet, dass auch fundamentale Urteile, also Urteile über fundamentale Werte, als zweckrelationale Urteile verstanden werden können: „[...] they too must be explicable with some kind of ‘for e’ relativizer.“ Finlay zufolge sind normative Urteile, also auch moralische Urteile der Form „p is good“ implizit oder explizit auf einen Zweck relativiert und drücken die Proposition It is good for e if p aus – wobei e für einen kontextuell spezifizierten Zweck steht und die ganze Proposition bedeutet, „that p increases the propability of e“.²⁶ Finlay macht nun darauf aufmerksam, dass das primäre linguistische Mittel, um fundamentale Urteile explizit zu machen, im Gebrauch eines, wie er sagt, „‘for’ complementizer“ besteht: ‘good for its own sake’. Während solche Ausdrücke für gewöhnlich als Hinweis auf die Abwesenheit jeglicher Relativierung verstanden werden, sei hier kompositional eher ein reflexiver Relativierer, äquivalent zu ‘für sich selbst’ im Spiel: Saying ‘He did it for his own sake’ can only mean that he did it for himself, for example, and not that he didn’t do it for anybody. This suggests the hypothesis that for p to be good „for its own sake“ is simply for p to be good for p.
24 Vgl. Olson2014, S. 131. 25 Olson2014, S. 131. 26 Finlay2014, S. 39.
9.5 Kontextualismus und fundamentale moralische Urteile |
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Damit erklärt sich Finlay zufolge zunächst die Plattitüde, dass von fundamentalem Wert zu sein nicht bedeutet, von Wert für einen weiteren Zweck zu sein. Da aber notwendigerweise und trivialerweise alles gut für sich selbst ist, impliziert Finlays Hypothese, dass alles von fundamentalem Wert ist. Nun sind normative Urteile Finlays Konzeption zufolge (by default) implizit auf Zwecke relativiert, die vom Urteilenden präferiert werden, so dass zu erwarten ist, dass etwas nur dann als „gut um seiner selbst willen“ bewertet wird, wenn es um seiner selbst willen präferiert wird. Demnach bewerten moralisch Urteilende manche Dinge als „gut“, weil sie bestimmte präferierte Zwecke fördern oder erfüllen, und andere Dinge als „gut an sich“ oder „gut um ihrer selbst willen“, weil sie um ihrer selbst willen präferiert werden. Finlay schreibt: „The usual function of the qualifier ‘for its own sake’ would then be to distinguish between these different grounds for judging something Good.“²⁷ Wenn wir diesen Vorschlag auf fundamentale Urteile wie U1 übertragen, dann lautet die kontextualistische Analyse von U1 wie folgt: (U1*) Um den Gesamtnutzen zu maximieren, soll man den Gesamtnutzen maximieren. Olson kritisiert an diesem Vorschlag, dass solche trivialen Urteile uninformativ, offensichtlich wahr und unkontrovers sind, wir aber fundamentale Urteile als informativ, nicht-offensichtlich wahr und durchaus als kontrovers verstehen.²⁸ Ich denke, dieser Einwand lässt sich auf zwei Aspekte fundamentaler Urteile beziehen: Erstens können die geäußerten fundamentalen Urteile eines Sprechers S für seine Hörer informativ, nicht-offensichtlich wahr und kontrovers sein und zweitens können sie für den Sprecher bzw. Urteilenden selbst so erscheinen. Beide Aspekte können aber von Finlays quasi-expressivistischer Analyse, die zwischen der Semantik und der Pragmatik moralischer Äußerungen unterscheidet, eingefangen und erklärt werden, wie ich nun zeigen möchte. 1. Erstens lässt sich Olsons Einwand, dass sich fundamentale Urteile mit dem Vorschlag von Finlay als uninformativ herausstellen, auf zwei verschiedene Aspekte beziehen: Zunächst kann damit gemeint sein, dass die Äußerung eines tautologischen Urteils keinen konversationalen Zweck erfüllen kann und es von daher sinnlos sei, mit ihnen in eine moralische Konversation einzusteigen. Diesen Einwand kann mit Finlays Ansatz jedoch zurückweisen: Die Äußerung eines tautologischen moralischen Satzes drückt pragmatisch die intrinsischen Präferenzen
27 Finlay2014, S. 199. 28 Vgl. Olson2014, S. 133.
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und Forderungen des Sprechers aus und dient insofern durchaus den konversationalen Interessen des Sprechers. Finlay selbst erklärt dazu: [...] if the real conversational function of uttering [(U1)] is to demand motivation towards the relevant ends (or at least the prescribed behaviour) rather than to convey their semantic content, then their significance is quite compatible with their being tautologous. We often find that communicative purposes can be served by asserting tautologies: consider ‘A fact is a fact,’ and ‘It ain’t over till it’s over’.²⁹
Olsons Einwand, dass fundamentale Urteile als informativ erscheinen, bezieht sich jedoch wahrscheinlich eher auf den Aspekt, dass uns fundamentale Urteile doch etwas vermitteln, was unser Wissen über die (moralische) Welt vergrößert oder verändert. Tautologische Urteile tun dies aber offensichtlich nicht. Hierzu möchte ich zwei Anmerkungen machen: Erstens schuldet uns Olson – zusammen mit dem Objektivisten und dem Irrtumstheoretiker – eine Erläuterung, worüber genau seiner Meinung nach mit fundamentalen Urteilen informiert wird. Wie gesagt, habe ich Probleme mit der Annahme, dass sich moralische Urteile auf normative Tatsachen im Sinne des Objektivismus beziehen – weil ich nicht ganz verstehe, was diese Tatsachen eigentlich genau sein sollen. Das war das Ergebnis meiner Diskussion des fünften Kapitels. Fraglich bleibt für mich also, dass moralische und eben auch fundamentale moralische Urteile über solche normativen Tatsachen informieren – und damit öffnet sich der Raum für die Möglichkeit, dass fundamentale Urteile in Wirklichkeit über gar nichts informieren und einen anderen konversationalen Zweck erfüllen. Zweitens scheint mir auch mit Finlays Vorschlag verständlich, dass und inwiefern die Äußerung eines fundamentalen Urteils das Wissen der Hörer erweitern kann: Mit der Äußerung des tautologischen Satzes und der damit pragmatisch ausgedrückten Forderung „lernt“ der Hörer etwas über die intrinsischen Präferenzen des Sprechers. Und unter der Annahme des Hörers, dass der Sprecher ähnlich tickt wie er selbst, kann diese Information auch als ein Bekanntwerden mit den eigenen intrinsischen Präferenzen wahrgenommen werden. 2. Olson wendet weiter ein, dass fundamentale Urteile als nicht-offensichtlich wahr und kontrovers erscheinen. Aber auch das lässt sich im Rahmen von Finlays Ansatz erklären, wenn man wieder die mangelnde Fähigkeit des normalen Hörers berücksichtigt, zwischen Semantik und Pragmatik genau zu unterscheiden. Die fundamentalen Urteile anderer mögen einfach deshalb als nicht-offensichtlich wahr und kontrovers erscheinen, weil nicht zwischen den pragmatisch ausgedrückten Präferenzen und dem semantischen Gehalt der Urteile unterschieden 29 Finlay2009, S. 334.
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wird und diese Präferenzen selbst kontrovers sind, d.h. von den Hörern entweder nicht geteilt werden oder bei ihnen eine Unsicherheit besteht, ob sie diese teilen oder ablehnen. Zudem kann die konversationale Dynamik es von einem Hörer geradezu verlangen, auf ein fundamentales Urteil mit der In-Frage-Stellung oder Verneinung dieses Urteils zu reagieren: Stimmt er mit den ausgedrückten Präferenzen nicht überein, ist die Verneinung eines fundamentalen Urteils durch einen Hörer eine seinen konversationalen Interessen (Kenntlichmachen, dass man mit den Präferenzen nicht übereinstimmt) dienliche Reaktion auf die durch die Äußerung des Urteils in Gang gekommene pragmatische Dynamik. 3. Das erklärt zunächst also den Aspekt, dass fundamentale Urteile, obwohl sie – Finlay zufolge – einen trivialen und tautologischen semantischen Gehalt haben, in konversationalen Kontexten kontrovers erscheinen oder als kontrovers behandelt werden. Wie sieht es aber mit dem zweiten Aspekt aus, in dem es um das Phänomen geht, dass einem Urteilendem selbst seine eigenen fundamentalen Urteile als informativ und kontrovers erscheinen? Kann man diesen Aspekt unter der Annahme der „tautologischen“ Analyse einfangen und erklären? Ich denke, auch hier lässt sich eine plausible Erklärung geben: Uns selbst ist manchmal nicht klar, welche unserer Präferenzen intrinsisch sind und welche nicht. Wir können von bestimmten Dingen glauben, dass wir sie intrinsisch präferieren, obwohl dies nicht so ist, und wir können uns fragen, ob wir das was wir scheinbar intrinsisch präferieren tatsächlich intrinsisch präferieren oder präferieren würden, wenn wir vollständig informiert wären. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, inwiefern fundamentale Urteile mit ihren Tautologien für den Urteilenden selbst sowohl informativ als auch kontrovers sein können. Denn entweder drückt man mit ihnen aus, dass man glaubt, den im semantischen Gehalt auftauchenden Zweck intrinsisch zu präferieren – eine Meinung also, die einem selbst als informativ und kontrovers erscheinen kann – oder man drückt mit ihnen direkt eine intrinsische Präferenz aus, von der man aber nicht sicher sagen kann, ob sie auch unter den Bedingungen vollständiger Information (und im Zustand eines „Überlegungsgleichgewichts“) beibehalten würde. Mit einem tautologischen Urteil kann man demnach also durchaus etwas ausdrücken, was für einen selbst informativ und kontrovers ist. Und möglicherweise wird diese Information nicht bloß pragmatisch ausgedrückt, sondern ist direkt im semantischen Gehalt fundamentaler Urteile repräsentiert – so dass sowohl verständlich wird, inwiefern sie fundamentale Urteile sind, als auch, inwiefern sie kontrovers und nicht-offensichtlich wahr erscheinen. Statt eines wie oben in (U1*) genannten offensichtlich tautologischen Gehalts drücken fundamentale Urteile Propositionen aus, in denen die intrinsischen Präferenzen des Sprechers enthalten sind:
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Man muss den Gesamtnutzen maximieren, um den von mir intrinsisch präferierten Zweck, den Gesamtnutzen zu maximieren, zu verwirklichen. Das, was an dieser Proposition auch für den Sprecher selbst unklar sein kann, ist eben, ob der genannte Zweck tatsächlich intrinsisch präferiert wird, so dass das entsprechende Urteil zu weiteren Fragen und Überlegungen anregen kann. Nun könnte man erwidern, dass sich die Annahme von Finlay zwar gegen Olsons spezifischen Einwand mit Bezug auf die Pragmatik moralischer Äußerungen verteidigen lässt, sie aber dennoch ziemlich weit hergeholt ist. Fundamentale Urteile sind doch offensichtlich keine Urteile mit dem von Finlay vorgeschlagenen tautologischen Gehalt und mit denen zusätzlich noch über eigene intrinsische Präferenzen informiert wird. Was auch immer mit fundamentalen Urteilen ausgedrückt wird – Finlays Tautologien drücken sie jedenfalls nicht aus. Finlay muss an diesem Punkt dem normalen Nutzer der moralischen Sprache eine ziemlich arge semantische Blindheit unterstellen. Ich möchte hier nicht leugnen, dass die für Finlay bestehende Notwendigkeit, dem normalen Sprecher in dieser Weise semantische Blindheit zu unterstellen, ein Punkt ist, der sich auf der Kostenseite eines Kosten-Nutzen-Vergleichs seiner Theorie niederschlägt. Auch mir scheint die Annahme unattraktiv zu sein, dass Nutzer der moralischen Sprache keinen Zugang zu der Semantik eines nicht unwesentlichen Aspekts dieser Sprache haben und sich derart im Irrtum befinden. Dennoch sollte dieser Punkt nicht überbewertet werden: Abgesehen davon, dass jede metaethische Theorie (vom Realismus über die Irrtumstheorie zum Expressivismus) teils auch gravierende Probleme und kontraintuitive Aspekte beinhalten³⁰, ist nicht offensichtlich, wie hoch die Kosten für den Kontextualisten an diesem Punkt sind. Denn erstens ist die Tautologie-Annahme und die Annahme semantischer Blindheit nicht völlig ad hoc, sondern ergibt sich aus der allgemeinen These des Kontextualisten zur Zweck- oder Standard-Abhängigkeit moralischer bzw. normativer Urteile – eine These, die in nicht-moralischen Kontexten normativer Sprache sehr viel Sinn
30 Die „Kosten“ eines normativistischen Realismus bzw. Objektivismus habe ich in Kapitel 5 versucht zu erläutern. Der naturalistische Realist hat mit seiner Bereitschaft zu kämpfen, auf den normativ-praktischen Aspekt moralischer Sprache zu verzichten. (Hier ist anzumerken, dass dem naturalistischen Realisten die vom Kontextualisten beanspruchte Pragmatik eine Lösung liefern könnte: Auch wenn moralische Urteile auf rein deskriptive Urteile reduziert werden können, können mit ihnen pragmatisch Forderungen ausgedrückt werden.) Die Irrtumstheorie muss ihre alles andere als einfach zu verdauende Behauptung, alle substantiellen moralischen Urteile seien falsch, verteidigen und zudem erklären, warum wir auf die moralische Sprache offensichtlich nicht verzichten wollen oder können. Expressivistische Theorien haben, neben der für viele Menschen auch nicht gerade einleuchtenden These, dass moralische Urteile keinen kognitiven Gehalt haben, das bekannte Frege-Geach-Problem.
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macht und einheitlich – und ohne eine Mehrdeutigkeit annehmen zu müssen – erklären kann, was normative Begriffe wie „gut“, „richtig“ und „sollen“ in unterschiedlichen Kontexten bedeuten. Zweitens geben meine oben angestellten Überlegungen zur Pragmatik eine Erklärung, wie es zu der behaupteten semantischen Blindheit kommt. Die angenommen Blindheit und der Irrtum des gewöhnlichen Nutzers moralischer Sprache ist damit zumindest weniger rätselhaft und aus Sicht des Kontextualisten erwartbar. Selbst wenn man also zugesteht, dass die Annahme semantischer Blindheit (bzw. die Irrtumstheorie zweiter Ordnung³¹
10 Metaethischer und deskriptiver Relativismus 10.1 Einleitung Ich habe in den beiden vorangegangenen Kapiteln versucht zu zeigen, dass der metaethische Relativismus in der Form des indexikalischen Kontextualismus Lösungen für viele seiner „traditionellen“ Probleme anzubieten hat. Der Relativismus kann sich, wie ich denke, durchaus als eine ernstzunehmende Position in der Metaethik präsentieren. Gegen Christoph Halbigs Einschätzung, der Relativismus solle nicht weiter von der „eigentlich grundlegenden Alternative in der Metaethik, der zwischen Realismus und Nihilismus“¹ ablenken, hoffe ich gezeigt zu haben, dass der Relativismus nicht so einfach aus der metaethischen Debatte zu verbannen ist: Vor allem den theoretischen Schwierigkeiten im Umfeld des Problems aus den verlorenen Meinungsverschiedenheiten lässt sich, wie ich anhand von Björnsson und Finlays ideenreicher Konzeption gezeigt habe, plausibel begegnen. Neben solchen theoretischen, metaethischen Schwierigkeiten ist es aber, wie ich denke, vor allem eine eher praktische Unruhe oder ein praktisches Unbehagen, das den Widerstand gegen den Relativismus vor allem bei den dem Objektivismus zugeneigten Menschen hervorruft. Dieses Unbehagen resultiert unter anderem aus dem folgenden Gedanken: Wenn der metaethische Relativismus wahr ist, dann ist doch angesichts der mutmaßlich großen Diversität an moralischen Positionen und der angeblichen Existenz von grundlegenden moralischen Meinungsverschiedenheiten zu konstatieren, dass viele moralische Konflikte nicht mit den Mitteln der Argumentation aufzulösen sind. In solchen Fällen würde dann gelten: Hier stehen „wir“ gegen „die anderen“, Argumentation zwecklos. Und der einzige Ausweg scheint doch dann in der Manipulation der – dem Kontextualisten zufolge – zugrundeliegenden intrinsischen Wünsche oder Präferenzen zu bestehen. Moralische Aussagen sind in solchen Konflikten dann nur noch die Anwendung eines „mere word of mesmeric force“² und die Hoffnung darauf, dass solche Konflikte vernünftig, d.h. argumentativ traktiert werden können, wird mit dem Relativismus begraben. Die These, dass wir die Hoffnung auf eine argumentative Beilegung faktisch bestehender Meinungsverschiedenheiten ein für alle mal begraben müssen, ist wohl eine These, die für Unbehagen sorgen kann. Der Relativismus ist jedoch nicht auf diese These festgelegt. Er impliziert lediglich die Möglichkeit, dass es 1 (Halbig2009), S. 115. 2 (Finlay2008), S. 357f.
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moralische Meinungsverschiedenheiten gibt (oder geben kann), bei denen die Opponenten verschiedene moralische Standards befürworten und die von daher nicht argumentativ beigelegt werden können. Darüber, ob es solche Meinungsverschiedenheiten tatsächlich gibt, sagt der Relativismus als metaethische Position erstmal nichts. Nun ist das Phänomen moralischer Diversität und scheinbar fundamentaler moralischer Meinungsverschiedenheiten eines der Hauptmotive, überhaupt einen Relativismus in Betracht zu ziehen. Wie ich jedoch in Kapitel 3 gezeigt habe, sind Argumente, die sich auf dieses Phänomen beziehen, um den Objektivismus in Frage zu stellen, nicht überzeugend. Eine der zentralen Thesen dieses ersten Kapitels war, dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die Beispiele für moralische Meinungsverschiedenheiten, die den Objektivismus in Frage stellen sollen, tatsächlich Beispiele für genuine moralische Meinungsverschiedenheiten sind, bei denen die Beteiligten unter idealen epistemischen Bedingungen urteilen. Damit bleibt aber auch fraglich, ob vor dem Hintergrund der Position des Relativismus solche Meinungsverschiedenheiten als Konflikte zwischen Personen mit unterschiedlichen Standards und den korrespondierenden Wünschen und Präferenzen verstanden werden müssen. Auch der Relativist kann und sollte m.E. in Erwägung ziehen, dass die angeblich fundamentalen Meinungsverschiedenheiten, die so gerne zitiert werden, auf Arten der Erkenntnisverzerrung auf mindestens einer Seite der Opponenten beruhen. So können sich Menschen darüber irren, welche Implikationen ihr eigener Standard hat, was genau er in welchen Situationen fordert, usw.; welche Handlungen einen moralischen Zweck verwirklichen oder wahrscheinlicher machen; und vor allem, welchen Standard sie überhaupt intrinsisch befürworten oder welche Zwecke ihre, in Finlays Worten, „final ends“ sind. Dass man sich über seine eigenen, auch intrinsischen Präferenzen und Wünsche irrt oder sich im Unklaren über diese ist, kann man im Kontext der relativistischen Position durchaus als für moralisches Urteilen relevante Erkenntnisverzerrung verstehen. Dass mit Bezug auf solche Verzerrungen auch für den Relativisten die Hoffnung aufrechterhalten werden kann, dass früher oder später eine Konvergenz moralischer Urteile zustande kommt, ist, wie ich denke, nicht von vornherein ausgeschlossen. Letztlich muss das für jede einzelne moralische Meinungsverschiedenheit einzeln geklärt werden – und ich denke, dass der direkteste Weg für eine solche Klärung in nichts anderem besteht, als sich auf eine moralische Auseinandersetzung einzulassen. Auch wenn ich geneigt bin, anzunehmen, dass zumindest einige moralische Meinungsverschiedenheiten tatsächlich auf divergierende Standards bzw. die dazugehörigen Präferenzen zurückzuführen sind, bin ich doch skeptisch, wenn es um die Beispiele geht, die oft in Arbeiten zum metaethischen Relativismus als Anschauungsmaterial für die (radikale) Diversität von moralischen Überzeugun-
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gen angeführt werden. So werden als Beispiele für fundamental andere Werte und Wertvorstellungen oder für fundamental andere „Moralen“ oder „moral codes“ angeführt: Die moralischen Überzeugungen der Attentäter vom 11.September³, die moralischen Vorstellungen bezüglich der Permissibilität von Gewalt angesichts von „Verletzungen der Ehre“ der sogenannten „cultures of honor“ in den Südstaaten der USA⁴, Praktiken von Kannibalismus in verschiedenen Kulturen⁵, institutionalisierte öffentliche Blutbäder wie jene der Gladiatorenkämpfe im Alten Rom⁶, Kindestötungen bei den Inuits, den antiken Griechen und Römern, sowie in manchen chinesischen Provinzen⁷ und die Vorstellungen bezüglich des moralischen Status von Inzest und Homosexualität in verschiedenen Kulturen. Jesse Prinz, der eine Form des metaethischen Relativismus vertritt, argumentiert gar, dass Konservative und Liberale in den USA grundlegend verschiedene moralische Werte haben und er zieht diesen Schluss aus moralpsychologischen Studien. In einem Artikel für die Zeitschrift Psychology Today schreibt er: Liberals and conservatives are equally intelligent and they have access to the same facts, but they arrive at opposing views because they value different things. To this extent, crossparty political debate is a bit of a charade. There can be no consensus if the sides value different things. At best, the sides can look for some overlapping values and find rare islands of agreement or they can compromise and agree to tolerate policies that favor the opposition, provided the concessions aren’t too great.⁸
Die Vorstellungen von Prinz gipfeln in seiner Umschreibung der moralischen Konflikte zwischen US-amerikanischen Konservativen und Liberalen: „Conservatives and Liberals reside in different moral worlds“⁹. Diese Umschreibung ist vor dem Hintergrund seines metaethischen Relativismus nicht mehr nur eine politische Metapher, sondern hat die Implikation, dass zwischen Konservativen und Liberalen (moralische) Argumentation letztlich überflüssig und vergeblich ist. Dass angesichts solcher Beispiele das Unbehagen am Relativismus nicht gerade geringer wird, ist, denke ich, nicht verwunderlich. Es ist unbehaglich, dass in den genannten Fällen (in denen eine direkte Konfrontation möglich wäre) keinerlei Anknüpfungspunkte für eine moralische Auseinandersetzung existieren sollen, die nicht nur in der Äußerung von „words of mere mesmeric force“ be-
3 4 5 6 7 8 9
Vgl. (Levy2002), S. 1ff. (Doris2008), S. 316-322, (Prinz2007), S. 193. (Prinz2007), S. 187. (Prinz2007), S. 188. (Prinz2007), S. 189. (Prinz2008). So der Titel des besagten Artikels.
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steht. Ich denke aber, dass eine solche pessimistische Diagnose nicht angebracht ist. Viele der Beispiele rechtfertigen bei näherer Betrachtung keineswegs die Annahme, dass es sich dabei um Konflikte zwischen Menschen aus radikal verschiedenen moralischen Welten handelt. Ich kann das hier nicht für jedes einzelne Beispiel vorführen, möchte mir aber ein bestimmtes herausgreifen und daran erläutern, warum ich generell skeptisch gegenüber den genannten Diagnosen bin. Ich wähle dafür die Auseinandersetzung von Jesse Prinz mit den so genannten moral-dumbfounding-Studien, die ihm zufolge die Annahme rechtfertigen, dass Konservative und Liberale in den USA radikal divergierende Wertvorstellungen haben. Ich werde mich also kritisch mit der Diagnose eines deskriptiven Relativismus auseinandersetzen, die Prinz in seinem Buch The Emotional Construction of Morals¹⁰ anhand der genannten moralpsychologischen Studien entwickelt. Er verwendet dabei einen Begriff des deskriptiven Relativismus, der sich auf verschiedene Werte, Prinzipien oder Standards bezieht (und insofern weiter geht als die These, die ich in Kapitel 2 als „Deskriptiven Relativismus [Meinungsverschiedenheiten]“ bezeichnet habe: Deskriptiver Relativismus [Werte]: Es gibt de facto Personen (oder Gruppen oder Kulturen), die zur Orientierung in moralischen Fragen unterschiedliche grundlegende Werte, Prinzipien oder Standards akzeptieren und anwenden. Prinz glaubt nun, aus den moral dumbfounding-Studien ableiten zu können, dass viele Menschen moralische Grundüberzeugungen haben, die unvereinbar mit Werten sind, die üblicherweise von Moralphilosophen angegeben werden, um den Bereich des Moralischen zu charakterisieren: Hier sollen Werte im Spiel sein, die radikal im Sinne von: „dem jeweils anderen evaluativ nicht zugänglich“ divergieren. Ich werde gleich erläutern, inwiefern er damit eine radikale Form des deskriptiven Relativismus vertritt. Prinz nutzt jedoch seine Diagnose nicht, um den Objektivismus in Frage zu stellen oder direkt für seinen metaethischen Relativismus zu argumentieren. Er setzt den metaethischen Relativismus als wahr voraus, und nutzt die Diagnose des deskriptiven Relativismus dazu, um plausibel zu machen, dass es tatsächlich Menschen mit divergierenden moralischen Standards oder Perspektiven gibt, so dass gilt: Zwischen diesen Menschen ist ei-
10 (Prinz2007).
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ne rationale moralische Argumentation aussichtslos.¹¹ Nun reicht der deskriptive Relativismus in der genannten Formulierung nicht aus, um diese starke Annahme (unter Voraussetzung des metaethischen Relativismus) zu rechtfertigen. Schließlich könnten die unterschiedlichen Werte, Prinzipien oder Standards, die von den Person (oder Gruppen oder Kulturen) akzeptiert werden, innerhalb ihres Überzeugungssytems miteinander in Spannung stehen und einen inkohärenten Zusammenhang bilden. Und dann wäre zumindest die Möglichkeit für weitere rationale Auseinandersetzungen zwischen den Parteien gegeben. Was Prinz also für seine Argumentation benötigt, ist die stärkere These, dass es de facto Personen gibt, die unterschiedliche Werte, Prinzipien oder Standards haben und jede Person einen prima facie kohärenten Zusammenhang zwischen ihren Werten, Prinzipien und Standards hergestellt hat. Prinz müsste garantieren, dass die angeblich völlig anderen Werte von den Protagonisten seiner Beispiele auch in einer Haltung der reflexiven Distanz akzeptiert werden können. Statt der schwachen Variante benötigt er eine starke Variante des deskriptiven Relativismus: Starker deskriptiver Relativismus: Es gibt de facto Personen (oder Gruppen oder Kulturen), die zur Orientierung in moralischen Fragen unterschiedliche grundlegende Werte, Prinzipien oder Standards akzeptieren und anwenden, wobei diese Werte (usw.) in einem prima facie kohärenten Zusammenhang miteinander stehen und auch aus reflexiver Distanz von den jeweiligen Personen akzeptiert werden können. Nur mit dieser starken Form kann Prinz plausibel machen, dass es Menschen mit divergierenden Werten gibt, für die keine Möglichkeit zur rationalen Auflösung ihrer Divergenzen in moralischen Fragen besteht. Einerseits will Prinz also eine radikale Form des deskriptiven Relativismus (dazu komme ich im nächste Abschnitt) behaupten und andererseits benötigt er für seinen Schlussfolgerung eine starke Variante dieser radikalen Form. Mir geht es im Folgenden um die Frage, ob sich sowohl eine radikale als auch eine starke Form des deskriptiven Relativismus aus den moralpsychologischen Studien, die Prinz heranzieht, herleiten lässt. Ich werde zunächst den Unterschied zwischen der radikalen Form des deskriptiven Relativismus und einer 11 Prinz verwendet allerdings nicht die Begriffe „Standard“ oder „Perspektive“. Seinem metaethischen Relativismus zufolge gilt: „A judgment that ϕ-ing is wrong is true if and only if ϕ-ing is the object of a sentiment of disapprobation among the contextually salient individual(s) (usually the spreaker)“, (Prinz2007), S. 180. Ich möchte im Folgenden diesen nicht unwesentlichen Unterschied vernachlässigen und seine Diagnose des deskriptiven Relativismus auf den metaethischen Kontextualismus, wie ich ihn bisher besprochen habe, anwenden.
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moderaten Form erläutern. Danach möchte ich mich der kritischen Auseinandersetzung mit den empirischen Studien und den daraus gezogenen Schlüssen von Jesse Prinz widmen.
10.2 Zwei Formen des deskriptiven Relativismus Ich möchte hier tentativ zwei Spielarten des deskriptiven Relativismus unterscheiden, die das Spektrum, in dem moralische Meinungsverschiedenheiten vorkommen, unterschiedlich weit bestimmen. A) Die erste Form des deskriptiven Relativismus, die ich moderaten Relativismus nennen möchte, bezieht sich auf Meinungsverschiedenheiten, bei denen jedem der Opponenten die moralische Überzeugung des jeweils anderen auch evaluativ zugänglich ist. Eine moralische Überzeugung von Person P* ist einer Person P evaluativ zugänglich, wenn diese Überzeugung entweder (i) auf Gesichtspunkte bezogen ist, die Person P als moralisch relevant anerkennt, oder (ii) als Ausdruck von (vortheoretischen oder unsystematischen) moralische Intuitionen verstanden werden kann, die Person P teilt. Ein Beispiel für eine im Sinne von (i) evaluativ zugängliche moralische Überzeugung lässt sich im Kontext der viel zitierten Unterschiede zwischen „westlichen“ und „asiatischen“ Werten finden: In der moralischen Bewertung der Patientenverfügung ist es wohl auch für einen westlichen Liberalen eine schwierige Entscheidung, welchen der drei alternativen Werte der Patientenautonomie, des Patientenwohls und der Familienautonomie der Vorrang gebührt. Und wenn der Liberale erfährt, dass Mitglieder asiatischer Gesellschaften der Familienautonomie Vorrang einräumen, so kann er doch, auch wenn er dies für keine moralisch richtige Entscheidung hält, die moralische Überlegung dahinter nachvollziehen. Der Gesichtspunkt der Familienautonomie scheint dem Liberalen durchaus moralisch relevant zu sein, auch wenn er diesem ein weniger großes Gewicht zugesteht als sein asiatischer Opponent. Analog verhält es sich mit gemeinschaftsbezogenen Werten und Pflichten asiatischer Kulturen, die dem liberalen Verständnis moralischer Werte und Pflichten gegenüberstehen – nicht zufällig erkennt der Liberalismus die Herausforderung durch den Kommunitarismus als eine Herausforderung an. Man kann hier im Anschluss an Charles Larmore von einer Heterogenität der moralischen Werte¹² sprechen und feststellen, dass diese heterogenen Werte von den Konfliktparteien als gemeinsame moralische Basis anerkannt werden und
12 Vgl. (Lamore1987).
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sich ihr Streit auf die nähere Formulierung oder die angemessene Gewichtung der Werte bezieht. Ob man von einem „Spielraum des gleich Guten“ sprechen sollte, wonach die divergierenden Entscheidungen auch im normativen Sinne jeweils zu Recht gefällt werden, sei dahingestellt. Worum es mir hier jedenfalls geht, ist, dass an diesem Beispiel vielleicht deutlich wird, wie in einem moralischen Konflikt die Überzeugungen der jeweiligen Parteien für die Gegenseite evaluativ zugänglich sein kann: Wenn sich die moralischen Überzeugungen aller Parteien auf einen geteilten Raum heterogener Werte beziehen. Als Beispiel für die evaluative Zugänglichkeit im Sinne von (ii) kann vielleicht der Konflikt zwischen Deontologen und Utilitaristen bei der Beantwortung folgender Frage dienen: Ist es moralisch geboten, ein entführtes Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abzuschießen, wenn auf diese Weise die Bewohner einer Großstadt gerettet werden kann? Zwar dreht sich der Konflikt zwischen einem Deontologen (etwa einem Kantianer) und einem Utilitaristen hier nicht um die angemessene Gewichtung von Werten, die beide Seiten anerkennen, sondern um die Frage, was die grundlegenden Kriterien für das moralisch Richtige sind. Aber selbst wenn z.B. der Utilitarist das kantianische Verständnis des moralisch Richtigen grundlegend ablehnt und etwa behauptet, dass Tötungshandlungen nicht intrinsisch falsch sind, so wird er doch wahrscheinlich zugeben, dass seine Position mit einigen seiner eigenen moralischen Intuitionen konfligiert und die kantianische Position diesen Intuitionen eher gerecht wird. Auch wenn er gewillt ist, diese Intuitionen dann als falsch zu bezeichnen, so wird er der „kantianischen“ Intuition nicht völlig entfremdet gegenüberstehen und sagen: „Ich sehe überhaupt nicht, dass das eine moralische Intuition ist. Wie kann man diese Tötungshandlung im Falle der Flugzeugentführung moralisch problematisch finden?“ Ich denke beide, der Kantianer wie auch der Utilitarist, können erkennen, dass sich der jeweils andere mit seiner Position in einem Raum bewegt, der von Intuitionen gekennzeichnet ist, die sich um das „Wohl und den Schutz von Menschen oder Lebewesen“ beziehen und die sie miteinander gemeinsam haben. (B) Die zweite Form des deskriptiven Relativismus, die ich radikalen Relativismus nennen möchte, bezieht sich auf Meinungsverschiedenheiten, bei welchen den Opponenten die moralische Überzeugung des jeweils anderen nicht evaluativ zugänglich ist. Solche Meinungsverschiedenheiten sollen also weder einen von allen Beteiligten anerkannten Raum heterogener Werte noch von allen Beteiligten geteilte (vortheoretische) moralische Intuitionen voraussetzen. Mit dieser Variante wird behauptet, dass es moralische Meinungsverschiedenheiten gibt, die auf radikal divergierenden moralischen Werten oder Intuitionen basieren. Um sich einen Begriff von solchen radikal divergierenden Werten zu machen, kann man etwa an Nietzsches Umwertung der Moral denken, in welcher der moralische Status
10.2 Zwei Formen des deskriptiven Relativismus |
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von Menschen abhängig von bestimmten Qualitäten und ihrer „Größe“ gemacht wird. Hier werden Werte der Sympathie und des Mitleids durch ästhetische Wertmaßstäbe und Persönlichkeitsideale ersetzt, mit der Folge, dass sich Nietzsches Moral und seine moralischen Werte nicht mehr so einfach im Rahmen dessen verstehen lässt, was etwa westliche Liberale unter Moral und moralischen Werten verstehen. Oder man denke an die berühmten Beispiele von Ph. Foot, mit denen sich die Radikalität dieses deskriptiven Relativismus ins Absurde steigern würde: Einer Kultur, die ihre moralische Überzeugung „Man soll drei mal stündlich in die Hände klatschen“ nicht z.B. damit begründet, dass auf diese Weise bedrohliche Geister besänftigt werden, sondern weil das einfach moralisch gut ist, müsste man sicherlich ein ziemlich radikal anderes Werteverständnis zuschreiben. Wir, das heißt Leute, die Moral irgendwie als positiv bezogen auf „das Wohl und den Schutz von Menschen oder Lebewesen“ verstehen, würden solchen „moralischen“ Überzeugungen sicherlich befremdet gegenüberstehen und sagen: „Wo ist denn hier die moralische Intuition? Wie kann man nur auf die Idee kommen, solche Handlungen als moralisch geboten zu empfinden oder anzusehen?“ Man könnte nun direkt gegen den radikalen deskriptiven Relativismus einwenden, dass sich solche radikalen Überzeugungen gar nicht sinnvoll als moralische Überzeugungen verstehen lassen. Denn ein deskriptiver Moralbegriff, mit dem sich die Überzeugungen von Personen im deskriptiven – und nicht normativen – Sinne als moralische klassifizieren lassen, setzt – so das Argument – immer schon eine inhaltliche Bestimmung voraus und lässt sich nicht rein formal erschließen. Die Voraussetzung dieses Arguments ist die Idee, dass der Begriff der Moral bereits inhaltlich festgelegt ist und es daher ausschließt, destruktive oder absurde Prinzipien moralisch zu nennen. Mein Eindruck ist jedoch, dass mit dieser Argumentation die deskriptiv-klassifikatorische Frage, wann eine Überzeugung eine moralische im Gegensatz zu einer nicht-moralischen ist, mit der normativen Frage verwechselt wird, ob eine moralische Überzeugung richtig oder falsch ist. Ich denke also, dass eine Formulierung des deskriptiven Relativismus nicht durch eine inhaltliche Bestimmung des Bereichs der Moral bzw. dessen, was man sinnvoll als moralische Überzeugung bezeichnen kann, beschränkt wird. Der radikale deskriptive Relativismus stellt also zumindest nicht deshalb eine problematische Position dar, weil es eine formale Beschränkung geben würde, die ihn von vornherein ausschließt. Zu beachten ist an dieser tentativen Unterscheidung zwischen moderatem und radikalem Relativismus, dass es in ihr weder um die Unterscheidung zwischen hartnäckigen und weniger hartnäckigen Konflikten einerseits noch um die Unterscheidung zwischen „existentiell“ bedeutsamen und weniger bedeutsamen
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Konflikten andererseits geht. Auch moderate Meinungsverschiedenheiten können sehr geringe Aussichten auf Auflösung des Konflikts haben und äußerst hartnäckig und persistierend sein. Ebenso können solche moderaten Meinungsverschiedenheiten von beiden Seiten als ausgesprochen bedeutsam empfunden werden und Anlass für gravierende Zerwürfnisse sein. Mit der Unterscheidung moderat/radikal soll lediglich eine Terminologie angeboten werden, um folgende Frage genauer zu fassen: Gibt es Menschen auf der Welt, die moralische Überzeugungen haben, an die ich (oder wir) nicht mal ansatzweise mit meinen moralischen Intuitionen andocken kann? Oder bewegen sich alle faktisch vertretenen moralischen Überzeugungen in einem Raum, der mir zumindest intuitiv zugänglich ist? Die Unterscheidung zwischen moderat und radikal fällt zudem nicht mit der Unterscheidung zwischen schwachem und starkem Relativismus zusammen. Es kann schwache und starke Formen des moderaten Relativismus geben und schwache und starke Formen des radikalen Relativismus. Der Unterschied zwischen schwach und stark zielt nicht auf den Grad der Fremdheit oder Unzugänglichkeit der involvierten moralischen Überzeugungen ab, sondern darauf, dass der starke Relativismus eine gegenüber der schwachen Variante zusätzliche starke Behauptung beinhaltet: Die moderat oder radikal divergierenden Werte sind prima facie in ein jeweils kohärentes Überzeugungssystem eingeordnet – etwas was der schwache Relativist nicht behauptet oder wozu er sich enthält. Die starke Form des radikalen Relativismus besagt also zum Beispiel: Es gibt Menschen mit radikal divergierenden Werten und diese Werte sind von den jeweiligen Personen in einen intern kohärenten Zusammenhang eingepasst (lassen sich in einen solchen Zusammenhang einpassen). Eine schwache Form des radikalen Relativismus würde lediglich behaupten, dass es radikal divergierende Werte gibt, und es offen lassen, ob die jeweils akzeptierten Werte von den Betroffenen auch aus einer reflektierten Distanz akzeptiert werden können. Die Unterscheidung zwischen moderatem und radikalem Relativismus ist sicherlich noch weiter klärungsbedürftig und birgt einige Probleme. Ich möchte im Folgenden dennoch davon ausgehen, dass zumindest die Grundidee plausibel ist und vor dem Hintergrund des Gesagten fragen: Wie plausibel ist ein radikaler deskriptiver Relativismus als Beschreibung faktisch vorhandener Meinungsverschiedenheiten? In welchem Spektrum bewegen sich also tatsächlich die moralischen Überzeugungen von Menschen in den verschiedensten Kulturen oder Gesellschaften? Gibt es Menschen, die kategorische Geltungsansprüche erheben oder moralische Werte vertreten, die sich nicht im Rahmen dessen verstehen lassen, was ich in der Darstellung des moderaten deskriptiven Relativismus als Werte des Schutzes und des Wohles von Menschen bezeichnet habe? Und: Kann Prinz zeigen, dass der radikale Relativismus in einer starken Form wahr ist?
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10.3 How broad is the moral domain? Der Moralpsychologe Jonathan Haidt – der sich als einer der Ersten umfangreich auf die moral-dumbfounding-Studien bezogen hat, die ich gleich ausführlich diskutieren werde – ist der Meinung, dass der Bereich des Moralischen in vielen Kulturen mehr Werte umfasst, als Moralphilosophen und westliche Liberale für gewöhnlich diesem Bereich zurechnen. Gesichtspunkte wie Gerechtigkeit, Reziprozität, Fairness sowie Vermeidung von Leid und Schmerz seien zwar in allen Kulturen anzutreffen, aber darin gehe das moralische Verständnis vieler Menschen eben nicht auf. Vielmehr drehe sich in fast allen Kulturen außer dem liberalen Westen das moralische Wertesystem auch um solche Ideen wie Gehorsam, Loyalität und – für meinen Kontext besonders interessant – Reinheit. Haidt meint: There is an odd corner in moral life, odd at least for modern Westerners, who tend to think of morality as strictly concerned with how we treat other people. That corner is the profound moralisation of the body and bodily activities, such as menstruation, eating, bathing, sex, and the handling of corpses.¹³
An anderer Stelle schließt er dann: There does not appear a single list of content areas – even defined abstractly as harm, rights, and justice – that can capture the moral world of all peoples.¹⁴
Nun ist es eine m.E. eher unproblematische Sache, darauf hinzuweisen, dass Gesichtspunkte der Reinheit in vielen Kulturen als moralisch relevante Gesichtspunkte angesehen werden. Eine ganz andere und viel fragwürdigere Sache ist es jedoch, zu behaupten, dass diese Gesichtspunkte bzw. die sie betreffenden moralischen Überzeugungen überhaupt nicht im Rahmen von Werten begriffen werden können, wie sie Moralphilosophen oder moderne Liberale verstehen. Gerade im Zusammenhang mit kulturanthroplogischen Diagnosen moralisch-kultureller Diversität ist es Standard, darauf hinzuweisen, dass aus der Divergenz konkreter moralischer Urteile nicht vorschnell auf grundlegend divergierende Werte oder Prinzipien geschlossen werden sollte. Die Kulturanthropologie in ihren Anfängen ist voll von Beispielen für Zuschreibungen von fundamental anderen Werten, die sich bei näherem Hinsehen als falsch heraus gestellt haben. Denn entweder wurde nicht beachtet, dass man es mit kontextspezifischen Anwendungen geteilter Prinzipien zu tun hat, oder es wurde nicht gesehen, dass grausam anmutende konkrete Urteile aus divergierenden empirischen Meinungen, die bei der Anwen-
13 (Haidt2004), S. 64. 14 (Haidt1993), S. 653.
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dung geteilter Prinzipien relevant sind, resultieren. Vor diesem Hintergrund ist es m.E. auch nicht schwer, eine Interpretation der von Haidt genannten moralischen Reinheitsgebote zu liefern, ohne den Deutungsrahmen einer harm-based morality zu sprengen. Wenn jemand der Meinung ist, dass Verstorbene in die Hölle kommen, wenn sie nicht den Reinheitsgeboten gemäß bestattet werden, scheint in seiner Sorge um eine anständige Bestattung eben gerade die Sorge um das Wohl des Verstorbenen eine große Rolle zu spielen. Und wenn jemand glaubt, dass man durch die Berührung mit einer menstruierenden Frau verunreinigt wird, dann steht in der Forderung, solche Berührung zu meiden oder zu unterlassen, ebenfalls der Gesichtspunkt des Wohles (und vielleicht sogar der Rechte) von Menschen (in diesem Fall: des Berührten) im Hintergrund. Nun stellt sich die Frage, ob Haidt mit seiner Ausdehnung des Bereichs der Moral wirklich einen deskriptiven Relativismus, wie ich ihn definiert habe, formulieren will. Das bleibt in dieser Hinsicht in all seinen Publikationen ziemlich unklar. Sollte er lediglich darauf hinweisen wollen, dass es moralische Überzeugung im Zusammenhang mit Gesichtspunkten der Reinheit gibt, dann behauptet er etwas, was wohl kaum zu bestreiten ist. Ob diese Tatsache aber für die Existenz von divergierenden Werten spricht, lässt sich zumindest ohne eine tiefer gehende Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Kulturen, in denen die genannten moralischen Überzeugungen eine Rolle spielen, nicht entscheiden. Besonders problematisch wird jedoch der Versuch, divergierende Werte zu diagnostizieren, wenn sich statt auf die kulturanthropologische Forschung auf moralpsychologische Studien wie die moral-dumbfounding-Studie bezogen wird. Haidt stützt seine Ausweitung der „moral domain“ ganz wesentlich auch auf diese Studien. Da seine Ausführungen aber in der Frage, ob er einen deskriptiven Relativismus vertritt, undeutlich bleiben, möchte ich mich im nun folgenden zweiten Teil mit der Interpretation dieser Studien durch Jesse Prinz konzentrieren. Prinz lässt nämlich keinen Zweifel daran aufkommen, dass er einen – in meiner Terminologie – radikalen deskriptiven Relativismus vertritt.
10.4 Moral dumbfounding Jesse Prinz vertritt eine emotionalistische Variante der sogenannten SensibilitätsTheorie der Moral, deren Einzelheiten für das Verständnis meiner folgenden Ausführungen nicht relevant ist. Zur Stützung seiner metaethischen Theorie bemüht Prinz jedenfalls eine Reihe von philosophischen Argumenten; er stützt sich aber zu einem großen Teil auch auf empirische Studien aus der neurowissenschaftlichen und moralpsychologischen Forschung. Unter diesen moralpsychologischen Untersuchungen befinden sich die sogenannten „moral-dumbfounding-Studien“
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von Jonathan Haidt und anderen. Prinz deutet diese Studien nun so, dass sich damit zumindest implizit die These des deskriptiven Relativismus in seiner radikalen Variante ergibt. Diese Studien suggerieren nämlich, dass es Menschen gibt, die an moralischen Überzeugungen festhalten, obwohl diese nicht mit Bezug auf den oben genannten grundlegenden Wert des „Wohls und des Schutzes von Menschen“ begründbar sind. Prinz folgert daraus, dass sich hier Bewertungen von Handlungen zeigen, die zum einen als nicht weiter begründbar und begründungsbedürftig angesehen werden und die zum anderen nicht auf einer falschen empirischen Beschreibung der bewerteten Handlungen basieren. Damit ergibt sich die radikale Form des deskriptiven Relativismus: Diese besteht ja in der Behauptung, dass es 1. moralische Meinungsverschiedenheiten gibt, die auch auf der Grundlage einer übereinstimmenden empirischen Beschreibung der bewerteten Handlung bestehen bleiben, und die 2. insofern radikal divergieren, als sie sich nicht auf einen geteilten Raum der Werte oder Intuitionen zurückzuführen sind. Ich werde nun diese moral-dumbfounding-Studien vorstellen und zeigen, warum sie nicht in der Lage sind, irgendwelche relativistischen Schlüsse zu begründen. Jonathan Haidt hat mit seinen Kollegen im Jahr 2000 eine Studie vorgestellt, in der sie amerikanische College-Studenten gebeten haben, sich ein Szenario vorzustellen, in dem zwei Geschwister miteinander Geschlechtsverkehr haben. In diesem Inzest-Szenario geht es um die College-Studenten Mark und Julie, die auf einem Urlaubstrip in Frankreich auf die Idee kommen, dass es doch eine interessante Erfahrung wäre, wenn sie miteinander schliefen. Julie nimmt bereits seit langer Zeit die Anti-Baby-Pille und Mark benutzt ein Kondom, nur um sicher zu gehen. Beide genießen den Sex, beschließen jedoch es nie wieder zu tun und den Vorfall außerdem geheim zu halten. Die Teilnehmer der Studie wurden nun gefragt: „So what do you think about this? Was it wrong for them to have sex?“ Das Ergebnis war, dass 80 Prozent der Befragten das Verhalten der Geschwister als moralisch falsch bewerteten, ohne jedoch erklären zu können, warum. Jedes Mal, wenn die Probanden versuchten, ein Argument zu formulieren, warum die Geschwister etwas Unmoralisches getan haben, erklärte der Studienleiter ihnen, dass dieses Argument nicht greift. So verwiesen viele Befragte auf die Möglichkeit, behinderte Kinder zu zeugen, worauf der Experimentator darauf hinwies, dass die Geschwister verhüten. Andere verwiesen auf die negativen Effekte auf die Gesellschaft, was mit dem Hinweis gekontert wurde, dass der Vorfall ein gut behütetes Geheimnis bleibt. Wieder andere nannten die Gefahr der Traumatisierung als Grund für ihr moralisches Urteil und auch hier wurde mit Bezug auf die spezielle Situation des Szenarios entgegnet: Die Geschwister hätten den Sex genossen und letztlich habe der Vorfall ihre
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Beziehung gestärkt. Die Probanden wurden also mit – zumindest nach Ansicht von Haidt – durchschlagenden Gegenargumenten zu ihren Versuchen, konsensuellen Inzest moralisch zu verurteilen, konfrontiert. Die meisten gaben daraufhin zu, dass diese Gegenargumente triftig sind, doch nur 17 Prozent der Probanden änderten daraufhin ihre Meinung. Die übrigen zogen sich auf emotional unterlegte Bekundungen zurück, wonach Inzest einfach eklig, schlecht und verwerflich ist, und legten damit eine Reaktion an den Tag, die Haidt als Ergebnis von „moral dumbfounding“ bezeichnet: Ein stures und hilfloses Festhalten an Überzeugungen, die man nicht begründen kann. Da diese moralische Verurteilung des Verhaltens der Geschwister und die anschließende Reaktion der „moral dumbfoundedness“ überwiegend von sich als konservativ verstehenden Studenten an den Tag gelegt wurde, spreche ich im Folgenden immer von den konservativen Probanden, die den Inzest-Fall (im Folgenden: Inzest) moralisch ablehnen. Obwohl diese Szenarien also Haidt zufolge so geschrieben waren, dass in ihnen niemand zu Schaden kommt und es daher „extremely difficult“ sei, Gründe für das moralische Urteil der Verwerflichkeit zu finden, hielten die Probanden trotz der Abwesenheit einer Rechtfertigung an ihren Urteilen fest. Jesse Prinz zieht nun aus dieser Studie den Schluss, dass sich in der moralischen Ablehnung von Inzest sogenannte „basic moral values“ der Probanden offenbaren, die emotional derart verankert sind, dass sie einerseits der Begründung entzogen sind und andererseits überhaupt erst den Raum für Begründungen konstituieren. Prinz verweist hier auf den bekannten Sachverhalt, dass unsere moralischen Begründungen an bestimmten grundlegenden Prinzipien, Werten oder Überzeugungen an ein Ende kommen: Warum ist es falsch, betrunken Auto zu fahren? Weil das unschuldige Menschen gefährdet! Warum ist es falsch, unschuldige Menschen zu gefährden? Weil das die Gefahr bedeutet, unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen! Warum ist es falsch unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen? An dieser Stelle erscheint die Forderung nach einer Begründung deplaziert, unverständlich und sogar moralisch fragwürdig. Wer so fragt, dem kann man offensichtlich keine Antwort geben, und von so jemandem fühlt man sich auch nicht wirklich dazu herausgefordert, zuzugeben, dass die Überzeugung auf tönernen Füßen steht, weil man sie nicht weiter begründen kann. In der Überzeugung, dass es moralisch verwerflich ist, Unschuldigen Schaden zuzufügen, kann man also in der Terminologie von Prinz einen moralischen Grundwert sehen, der von uns nicht weiter begründet werden kann, der aber auch nicht als begründungsbedürftig verstanden wird (bzw. werden kann). Prinz glaubt hier nun eine Analogie zum moral-dumbfounding-Phänomen erkennen zu können: Ebenso wie „wir“ an bestimmten Prinzipien oder Werten mit der Begründung an ein Ende kommen, würden die Probanden in ihrer Verurtei-
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lung von Inzest an Prinzipien oder Werte gelangen, die für sie nicht weiter begründbar sind und von ihnen auch nicht als begründungsbedürftig verstanden werden. Nun scheint Prinz den dumbfounding-Studien gegenüber dem oben besprochenen kulturanthropologischen Berichten über moralische Reinheitsgebote den Vorteil zuzuschreiben, dass hier sozusagen unter kontrollierten Laborbedingungen festgestellt werden kann, ob die Probanden auf der Grundlage von harmbased-values moralisch urteilen oder nicht. In diesem Kontext lässt sich zumindest seine Behauptung verstehen, dass es in Inzest zum einen keine harm-based reasons für eine moralische Verurteilung gebe und dass die Probanden zum anderen auch gar nicht der Meinung seien, dass es solche Gründe gibt – denn das würden sie ja explizit zugeben. Im Gegensatz zum Fall, in dem Menschen moralische Reinheitsgebote anerkennen, könne man hier also ausschließen, dass ein aus liberaler Sicht falsches moralisches Urteil auf falschen nicht-moralischen Überzeugungen fußt und auf der Grundlage von harm-based values steht. Prinz glaubt also, aus den dumbfounding-Studien ablesen zu können, dass Konservative und Liberale in den USA divergierende moral-basic values haben.¹⁵
10.5 Kritik der Interpretation von Prinz Die Argumentation von Prinz lässt sich wie folgt zusammenfassen: (1) Die moralische Verurteilung von Inzest kann nicht durch harm-based values gerechtfertigt werden. (2) Konservative Probanden geben dies zu, halten aber weiterhin an ihrer Verurteilung fest. (3) Die beste Erklärung für (2) ist, dass sie basic moral values ausdrücken, die sie nicht für begründungsbedürftig halten. (4) In der moralischen Verurteilung von Inzest durch konservative Probanden drückt sich ein basic moral value aus, der nicht als harm-based value verstanden werden kann. (K) Die unterschiedliche Bewertung von Inzest durch konservative und liberale Probanden stellt einen Fall von radikal divergierenden Werten dar.
15 Mit dieser These wirbt Prinz in verschiedenen Publikationen für seinen Relativismus, vgl. z.B. den Untertitel von (Prinz2008).
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Ich denke, dass diese Argumentation nicht überzeugend ist. Im Folgenden werde ich dies anhand der einzelnen Prämissen des Arguments begründen.
Gibt es keine harm-based-reasons im Szenario der Studie? Schon die erste Prämisse ist zumindest umstritten. Daniel Jacobson hat dafür argumentiert, dass auf der Grundlage verschiedener Moraltheorien, die alle unter das Label harm-based morality fallen, das Verhalten in Inzest als moralisch problematisch bezeichnet werden kann.¹⁶ Aus der Tatsache, dass die Sache für die Geschwister gut ausgeht, folgt schließlich nicht, dass sie sich keinem moralisch relevanten Risiko ausgesetzt haben. Einer alleinerziehenden Mutter von fünf Kindern, die ihr Monatsgehalt im Kasino aufs Spiel setzt und glücklicherweise gewinnt (was bedeutet, dass durch ihr Verhalten niemand zu Schaden kommt), werfen wir wohl trotzdem eine moralisch problematische Handlung vor. Selbst konsequentialistische Theorien können Handlungen, die ein relevantes Risiko mit sich bringen, aber glücklicherweise gut ausgehen, verurteilen (zumindest gilt das für den subjektiven und den Regelkonsequentialismus). Nun könnte man den Geschwistern vorwerfen, dass sie das Risiko einer möglicherweise gravierenden Zerrüttung ihrer geschwisterlichen Beziehung eingehen, die leidvoll für beide oder auch nur für einen der beiden sein kann, und das ist ein guter moralischer und auf den Wert der „Nicht-Schädigung von Menschen“ bezogener Grund, das Verhalten zu kritisieren. Dieses Argument hängt nun allerdings von empirischen Überzeugungen ab, die man wiederum bestreiten kann: Ich kann mir Fälle vorstellen, in denen zwei 18jährige Geschwister ganz gut einschätzen können, welchem Risiko sie sich mit einer sexuellen Interaktion aussetzen und eine verantwortungsvolle Entscheidung für eine solche Interaktion treffen können. Wie dem auch sei – die Diskussion sollte jedenfalls gezeigt haben, dass die Studie nicht so einfach voraussetzen kann, dass es keine harm-based reasons für eine Verurteilung von Inzest gibt. Es ist also umstritten, ob die These von Prinz in (1) wahr ist. Möglicherweise gilt stattdessen folgende These: (1*) Die moralische Verurteilung von Inzest kann nicht durch harm-based-reasons wie Verbot von Vergewaltigung, Missbrauch und Vermeidung von geschädigtem Nachwuchs (=Studien-Gründe) gerechtfertigt werden – aber durch andere harm-based reasons (=Nicht-Studien-Gründe).
16 Vgl. (Jacobson2010).
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Ist die Zustimmung zu den Begründungen der Studienleiter aussagekräftig? Aber selbst wenn es ein normativ stichfestes Argument für (1) gibt, so zeigt die vorhergehende Diskussion eben auch, dass Prämisse (2) äußerst problematisch ist. Es könnte ja schließlich sein, dass die konservativen Probanden so etwas wie ein Gespür für die von Jacobson genannten Gründe für eine Verurteilung von Inzest hatten, diese Gründe aber unter den Bedingungen der Studie nicht artikulieren konnten. Auch wenn das keine im Rahmen einer harm-based morality normativ überzeugenden Gründe sein mögen, so sind es aber doch Gründe, die sich innerhalb eines solchen Rahmens bewegen. Wenn die Probanden also zugeben, dass es keine harm-based reasons für ihr Urteil gibt, so geben sie damit möglicherweise lediglich zu, dass die von den Studienleitern ausgeschlossenen Gründe (die ich eben unter 1* als Studien-Gründe bezeichnet habe) tatsächlich nicht relevant sind. Aber weil sie eine Ahnung oder ein Gefühl dafür haben, dass es neben diesen ausgeschlossenen Studien-Gründen eben noch andere harm-based reasons, die nicht in diesen ausgeschlossenen Gründen aufgehen, gibt, verurteilen sie Inzest trotzdem. Und vielleicht hätten sie diese Gründe unter geringerem Zeitdruck artikulieren können. Ich denke, es ist nicht abwegig, so etwas in Betracht zu ziehen. Wir alle sind in unserer eigenen Urteilspraxis mit solchen Ahnungen und spontanen Reaktionen, die auf Gründe verweisen, vertraut. Zum einen kennen wir Fälle, in denen wir eine moralisch relevante Situation spontan und ohne überhaupt Gründe für und wider abzuwägen moralisch beurteilen und dann im Nachhinein (auf eine Nachfrage etwa) diese spontane Reaktion auch begründen können. Wir sehen einer Situation oftmals einfach an, was an ihr moralisch gut oder schlecht ist, und können das, was wir da sehen, relativ schnell in Gründen artikulieren. Zum anderen kennen wir wahrscheinlich alle auch Fälle, in denen die moralische Situation so komplex ist, dass wir nicht auf Anhieb alle relevanten Gründe überblicken und artikulieren können. Und trotzdem haben wir in solchen Fällen oftmals ein Gespür dafür, wie die Situation moralisch zu bewerten ist und fällen dementsprechend auch das Urteil, ohne hieb- und stichfest die Gründe nennen zu können. Wenn wir aufrichtig sind, bleiben wir natürlich nicht bei diesen Ahnungen stehen, sondern versuchen diese „geahnten“ Gründe zu finden und zu artikulieren. Dass wir aber oftmals moralische Urteile fällen, die vorerst nur auf solchen Ahnungen beruhen, ist, denke ich, nichts Ungewöhnliches. Und stellen wir uns nun vor, dass wir in einer Studie mit einem unserer Meinung nach komplexen Fall konfrontiert werden, den wir auf die Schnelle nicht ausreichend erörtern können, aber eine Ahnung davon haben, wie das Ergebnis einer ausführlichen Erörterung aussehen könnte. Vom Studienleiter zu einer Antwort gedrängt¹⁷,
17 Und so muss man sich wohl das Verhalten des Studienleiters in der Inzest-Studie vorstellen.
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würden wir wahrscheinlich (und zu Recht, denke ich) diese Ahnung bzw. das geahnte Ergebnis artikulieren. Vielleicht würden wir unsere Antwort auch explizit unter Vorbehalt geben, aber das hängt davon ab, wie sehr wir unserer Ahnung vertrauen. Und wenn wir schon oft die Erfahrung einer sich im Nachhinein als verlässlich herausstellenden moralischen Ahnung gemacht haben, sind wir auch berechtigt, in anderen Fällen – natürlich nicht unbedingt, aber doch in hohem Maße – auf diese zu vertrauen.¹⁸ Man muss nun den konservativen Probanden nicht unbedingt einen unartikulierten Zugang zu solch elaborierten Überlegungen unterstellen, wie Jacobson sie vorstellt. Viel plausibler erscheint mir, dass bei der Reaktion der Konservativen Überlegungen oder Gründe im Hintergrund stehen, die man als typisch konservativ bezeichnen könnte. Sexualmoral ist für viele Konservative und Religiöse explizit ein Thema, das direkt bezogen ist auf das Wohl von Menschen. So wird Homosexualität und sicher auch Inzest nicht nur als riskant, sondern als unmittelbar das Heil des Betroffenen gefährdend verstanden. Und der Regelung sexueller Beziehungen generell wird im konservativ-religiösen Selbstverständnis oftmals eine essentielle Rolle für die Stabilität und Ordnung der für das Wohl der Menschen notwendigen gesellschaftlichen Beziehungen zugesprochen.¹⁹ Auch wenn das empirisch nicht haltbare Überzeugungen sein mögen, so sind sie trotzdem auf den Gesichtspunkt des Wohles von Menschen bezogen. Ich denke also, es spricht nichts dagegen, zumindest in Betracht zu ziehen, dass die konservativen Probanden eine Ahnung von Gründen haben, die sich etwa auf die gesellschaftliche Rolle von Sexualität beziehen, die sie aber nicht im Rahmen der Studie artikulieren können. Und dabei spielt es keine Rolle, dass diese Gründe normativ nicht überzeugend sind. Ob gute Gründe oder nicht, es wären in diesem Fall eben harm-based reasons, die in der Verurteilung von Inzest — wenn auch vermittelt durch eine Ahnung -– eine Rolle spielen. Selbst wenn man also Prämisse (1) zugibt, könnte man einwenden, dass die zweite Prämisse nicht durch die Studie gestützt wird. Die Studie lässt ebenso eine 18 Es kann noch viele andere Faktoren geben, die dazu führen, dass man bei solchen „geahnten“ Urteilen seinen Vorbehalt verschweigt. Die Unterstellung von niederen Beweggründen des Nachfragenden etwa. 19 Prinz würde hier gewiss einwenden, dass die Geschwister im Szenario niemandem von ihrer „Tat“ erzählen und insofern die Gesellschaft nicht gefährdet ist. Nun ja, zum einen könnte es sein, dass die Konservativen in diesem konkreten Fall ihr Urteil für sich revidieren würden, dies aber dem, in ihren Augen sicher äußerst liberal anmutenden Studienleiter nicht auf die Nase binden, weil sie befürchten, er wolle sie dann noch zu dem Urteil bringen, dass Inzest generell in Ordnung ist. Nach dem Motto „Kein Fußbreit dem Liberalen!“ Zum anderen könnten sie auf der Linie von Jacobson argumentieren: Hier wird mit Dingen gespielt, mit denen man einfach nicht spielen sollte.
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Deutung der Probanden zu, die man in folgender These auf den Punkt bringen kann: (2*) Konservative Probanden geben zwar zu, dass die Studien-Begründungen nicht haltbar sind, sie halten aber weiterhin an ihrem moralischen Urteil fest, weil sie noch unartikulierten „Kontakt“ zu Nicht-Studien-Begründungen haben, die sinnvoll im Rahmen einer harm-based morality verstanden werden können.
Drücken sich bei allen Probanden authentische moralische Urteile aus? Doch auch unter der Voraussetzung der Wahrheit von Prämisse (1) und (2) ist Prämisse (3) sehr fragwürdig. Prämisse (3) lautet: (3) Die beste Erklärung für das Urteilsverhalten der konservativen Probanden ist, dass sie damit basic moral values ausdrücken, die sie nicht für begründungsbedürftig halten. Ich hatte oben auf das Phänomen aufmerksam gemacht, dass moralisch Urteilende oftmals spontan ein Urteil fällen und dieses erst im Nachhinein begründen (können). Wenn wir etwa zwei Hooligans dabei beobachten, wie sie eine wehrlose Katze anzünden und sich über ihren Todeskampf amüsieren, dann wird unsere moralische Verurteilung dieser Handlung wohl zunächst durch die spontanen Reaktion der Wut und der Empörung ausgelöst. Und in diesem Fall können wir dann auch ganz gut begründen, dass diese Wut und Empörung angemessen und sozusagen ein Detektor der hier relevanten moralischen Gründe ist. In anderen Fällen jedoch sind solche spontanen Reaktionen nicht so zuverlässig und führen zu im Nachhinein erkennbaren falschen Urteilen. Und für gewöhnlich sind wir integer genug, solche falschen Urteile dann auch zu revidieren. Vor allem wissen wir meistens auch ganz gut, wann und in welchen Umständen spontane (Gefühls-)Reaktionen zuverlässige Quellen für richtige moralische Urteile sind und wann nicht. Aber es gibt eben auch Fälle, in denen wir spontane moralische Urteile auch dann nicht revidieren, wenn wir sie eigentlich nicht rational begründen können. Es gibt vielfältige Gründe für solches Verhalten. Z.B. sind wir manchmal einfach zu stolz, um zuzugeben, dass wir falsch geurteilt haben. Oder unsere spontanen Reaktionen sind von Vorurteilen geleitet und wir selbst zu willensschwach oder zu feige, unserer rationalen Einsicht in die Falschheit des Urteils den Vorzug zu geben.
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Worauf ich hinaus will, ist der Vorschlag, nach ähnlichen Erklärungen zu suchen, um zu verstehen, warum die konservativen Probanden an ihrer Äußerung, dass Inzest moralisch falsch ist, festhalten, obwohl sie (wenn man Prämisse 2 zugibt) keine Gründe dafür angeben können. Und ich denke, es gibt hier in dieser Richtung viele mögliche Erklärungen. Überzeugend erscheint mir folgende: Moralische Haltungen werden oftmals eingenommen oder aufrechterhalten, nicht weil dahinter eine tiefgehende moralische Motivation steht, sondern weil davon die Teilnahme an und Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden sozialen Beziehungen abhängt. Gerade bei recht homogen konservativen Gegenden der USA kann man sich vorstellen, was es für jemanden bedeuten würde, die vorherrschenden und wesentlichen moralischen Normen und Überzeugungen in Frage zu stellen. Nicht jeder Mensch (auch nicht jeder Liberale) ist gewillt oder dazu in der Lage, um seiner moralischen Integrität willen, wichtige und oftmals die einzigen sozialen Beziehungen aufs Spiel zu setzen. Was sich demnach möglicherweise im Urteilsverhalten der Probanden in der dumbfounding-Studie ausdrückt, ist Folgendes: Im Gegensatz zu Fällen, in denen Menschen aus einer moralischen Motivation nach Begründungen ihrer Urteile suchen, gibt es Fälle, in denen die Suche und die Artikulation von moralischen Gründen vielmehr von nicht-moralischen Motiven getrieben ist. So kann sich jemand z.B. nur aus dem Motiv auf die Suche nach guten Gründen für sein spontanes moralisches Urteil begeben, weil er zu stolz ist, zuzugeben, dass er falsch gelegen hat. Er ist dann eigentlich gar nicht mehr unmittelbar an moralischer Richtigkeit interessiert, weil ihm gute Gründe nur noch als Mittel zum Zweck dienen, sein Gesicht zu wahren. Und in diesem Sinne versucht er nachträglich zu rationalisieren, d.h. er sucht nach Gründen für ein Urteil, dessen Zustandekommen oder Aufrechterhaltung gar nicht von einem Standpunkt aus motiviert ist, von dem Urteile als begründungsbedürftig verstanden werden. So ähnlich könnte man sich das auch bei vielen der konservativen Probanden vorstellen: Wenn sie auf die Aufforderung, ihre moralische Verurteilung von Inzest zu begründen, zunächst mit allerlei Begründungen auf der Linie der von mir oben sogenannten Studien-Gründe aufwarten, dann muss dahinter nicht unbedingt eine wahrhaftige Suche nach guten Gründen stehen. Sie könnten auch deshalb nach guten Gründen Ausschau halten, weil sich eine Bestätigung für Überzeugungen, die sie sowieso aus ganz anderen Motiven vertreten und die sie auch nicht gewillt sind, aufzugeben, immer gut macht. Der Begründungsforderung wird hier also nicht aus den richtigen, also moralischen Motiven nachgekommen, sondern aus instrumentellen Motiven. Und wenn der Begründungsforderung nicht erfolgreich entsprochen werden kann, weil es keine guten Gründe für das Urteil gibt, dann ist es für diese Leute deshalb kein Problem, weiterhin an dem Urteil festzuhalten, weil die moralische Perspektive von vornherein durch die Dominanz
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anderer Motive (wie Zugehörigkeit, Identifikation, Angst oder auch Hass) faktisch nicht zur Geltung kommt. Das Phänomen, dass in der Studie die konservativen Probanden an einem von ihnen nicht zu begründenden Urteil festhalten, muss man also nicht analog zu dem Phänomen verstehen, welches Prinz am Grunde unserer moralischen Begründungspraxis erkennt. Wenn „wir“ mit unseren Begründungen an ein Ende gelangen und trotzdem unsere Urteile (oder Prinzipien) aufrechterhalten, dann sind „wir“ nicht eigentlich der Meinung, dass es hier noch was zu begründen gibt, und unterdrücken diese Meinung dann aus Feigheit, Stolz oder Angst um unsere sozialen Beziehungen. Vielmehr können wir an solchen Punkten den Sinn einer Begründungsforderung gar nicht so recht nachvollziehen und weisen sie daher von uns. Die konservativen Probanden scheinen dagegen durchaus eine Begründungsnotwendigkeit zu sehen – schließlich suchen sie ja zunächst nach Gründen – auch wenn sie diese Suche möglicherweise instrumentalisieren. Und wenn sie nach erfolgloser Suche trotzdem an ihrem Urteil festhalten, dann erscheint es mir plausibler, davon auszugehen, dass hier eine von den Akteuren möglicherweise sogar als berechtigt verstandene Begründungsforderung wenn auch nicht normativ, so aber doch faktisch (und auch nicht unbedingt bewusst) von anderen Motiven und Gesichtspunkten ausgestochen wird. Anstatt also ihr Verhalten mit radikal divergierenden Werten zu erklären, bei denen die Akteure mit ihren Begründungen an ein Ende kommen, sollte man sich in seiner Erklärung auf die Tatsache beziehen, dass Menschen schwach und unehrlich sein können und dass es unauthentische moralische Urteile gibt.
10.6 Schluss Zusammenfassend lässt sich also sagen: Prinz führt keine hinreichenden Gründe für seine Annahme an, dass sich im moral-dumbfounding-Phänomen der Studie tatsächlich divergierend moralische Grundwerte offenbaren. Erstens kann man nicht so einfach davon ausgehen, dass es für die Verurteilung von Inzest keine harm-based reasons gibt. Zweitens ist es voreilig, anzunehmen, die Probanden seien gar nicht der Meinung oder hätten keine „Ahnung“ davon, dass es solche Gründe gibt. Und drittens besteht die Möglichkeit, ihr Urteilsverhalten als Ausdruck von nicht authentischen oder defizienten moralischen Urteilen zu interpretieren. Übrigens hätte Jesse Prinz diese Möglichkeit auch selbst in Betracht ziehen müssen, da er in der Formulierung seiner Sensibility-Theorie eine idealisierende Bedingung einführt:
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The first problem has to do with error. If „wrong“ referred to whatever causes disapprobation in me, then I could not judge something to be worng in error. To avoid this consequence, we must idealize. We should say that the word „wrong“ refers only to those things that irk me under conditions of full factual knowledge and reflection, and freedom from emotional biases that I myself would deem as unrelated to the matter at hand.²⁰
Zu dieser Freiheit von emotionalen Vorurteilen dürfte wohl auch die Freiheit von den oben genannten Motiven zu zählen sein, die einen in der aufrichtigen Einnahme eines moralischen Standpunktes hindern oder irritieren können. Das zentrale Problem am Versuch von Prinz, radikal divergierende moralische Werte faktisch nachzuweisen, besteht m.E. also darin, dass sich mit den dumbfounding-Studien nicht herausfinden lässt, ob die Probanden nach ihren eigenen Maßstäben kohärent und aufrichtig urteilen. Die Schwächen der Argumentation von Prinz scheinen mir allerdings nicht darauf hinzudeuten, dass es ein prinzipielles Problem mit dem Versuch gibt, aus empirischen Studien Aussagen darüber zu gewinnen, ob es radikal divergierende Werte gibt. Prinz bezieht sich auf Studien, die m.E. nicht aussagekräftig sind, da sie aufgrund ihres Designs und ihrer Ausführung verschiedene Deutungen des Verhaltens der Teilnehmer zulassen. Grundsätzlich sollte sich aber durch eine entsprechende Gestaltung der Studie (Wahl eines Szenarios, in dem tatsächlich keine harm-based reasons ausschlaggebend sind; ausreichend Zeit zur Diskussion des Szenarios; Studienleiter übernimmt eher eine neutrale Rolle, statt den – zumindest aus Sicht mancher Teilnehmer – Anwalt des Teufels zu spielen) zumindest die Verfügbarkeit gewisser alternativer Erklärungen reduzieren lassen. Die Schwächen der Argumentation von Prinz aufzuzeigen war mir vor allem deshalb ein Anliegen, weil er mit den angeblich unüberbrückbaren Werten von Konservativen und Liberalen als Anschauungsmaterial für den metaethischen Relativismus sozusagen hausieren geht. Damit provoziert er nicht nur eine falsche Einschätzung und ein fatalistisches Verständnis der realen moralischen Konflikte zwischen Konservativen und Liberalen in den USA. Er sorgt auch dafür, dass das oben von mir genannte Unbehagen am Relativismus nicht gerade geringer wird. Auch wenn ich hier nicht an weiteren Beispielen vorführen kann, dass Diagnosen eines (radikalen) deskriptiven Relativismus fragwürdig sind, so hoffe ich doch mit meiner Diskussion der Diagnose von Prinz gezeigt zu haben, dass es voreilig ist, aus der Existenz von grundlegend divergierend erscheinenden moralischen Überzeugungen auf tiefgreifende und tatsächlich grundlegend divergierende Moralvorstellungen oder moralische Werte zu schließen.
20 (Prinz2006), S. 7.
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Ich denke also, dass der metaethische Relativist nicht ohne Weiteres davon ausgehen sollte, dass es bedenklich viele Individuen, Gesellschaften oder Kulturen gibt, die in verschiedenen quasi hermetisch voneinander abgeriegelten moralischen Welten leben. Auch der Relativist kann die Hoffnung bewahren, dass moralische Konflikte – wenn auch nicht von heute auf morgen und auch nicht immer durch gezielte Argumentation²¹ – rational auflösbar sind.
21 Auch der Relativist sollte – wie der Objektivist – anerkennen, dass es Konflikte gibt, die nicht durch Argumentation aufgelöst werden können, weil mindestens einer der Opponenten nicht gewillt oder nicht fähig ist, auf rationale Argumente oder rationale Überlegungen anzusprechen. Aber daraus ist nicht zu schließen, dass so jemand fundamental andere Werte oder Standards hat.
11 Schluss Der metaethische Relativismus geht in der Form eines indexikalischen Kontextualismus aus der in dieser Arbeit angestellten Diskussion gestärkt hervor. Der Relativismus ist demnach eine ernstzunehmende und weiter diskussionswürdige Position, die nicht voreilig mit semantischen Überlegungen aus der metaethischen Theorienlandschaft zu verbannen ist. Gegen Christoph Halbigs Einschätzung, dass der Relativismus keine stabile Zwischenposition zwischen dem moralischen Objektivismus und der Irrtumstheorie einnehmen kann,¹ ist festzuhalten: Wer mit dem moralischen Objektivismus unzufrieden ist, dem steht nicht nur die Alternative der Irrtumstheorie (und des Non-Kognitivismus, den Halbig völlig unterschlägt) zur Verfügung, sondern auch eine relativistische Theorie, die ihren Anspruch, unsere moralische Urteilspraxis im Großen und Ganzen zu rechtfertigen, einlösen kann. Ich möchte zum Abschluss der Arbeit einen Überblick über den Gang meiner Untersuchung geben und die beiden wichtigsten Ergebnisse der Arbeit festhalten: Erstens ist meine Diskussion von Argumenten gegen den Objektivismus zum Teil zu – zumindest für denjenigen, der relativistische Neigungen hat – ernüchternden Ergebnissen gelangt. Lediglich eines der drei untersuchten Argumente kann ernsthafte Zweifel am Objektivismus nähren. Zweitens kann der indexikalische Kontextualismus mit seiner Lösung des Problems der verlorenen Meinungsverschiedenheit das Standardargument gegen den metaethischen Relativismus zurückweisen und sich auch gegenüber neueren semantischen Ansätzen zum Relativismus als die überzeugendere Alternative präsentieren. Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich Argumente gegen den moralischen Objektivismus kritisch untersucht. Dabei haben sich zwei einflussreiche Argumente – das Argument aus der Meinungsverschiedenheit und das Argument für den Internalismus aus der motivationalen Bedingung – als nicht stichhaltig erwiesen. Die verschiedenen Argumente aus der Meinungsverschiedenheit, die ich in Kapitel 3 untersucht habe, konnten den Objektivismus nicht in Bedrängnis bringen. Der Objektivismus kann überzeugende Erklärungen für das Phänomen moralischer Meinungsverschiedenheiten bieten und sieht sich auch keinen besonderen epistemologischen Problemen ausgesetzt – zumindest nicht im Zusammenhang mit dem Phänomen moralischer Meinungsverschiedenheiten. Das Argument für den Internalismus aus der motivationalen Bedingung ist vor allem daran gescheitert, dass seine zentrale Prämisse – wie ich in Kapitel 4 1 Vgl. (Halbig2009), S. 115.
11 Schluss
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dargestellt habe – nicht überzeugend begründet werden kann. Wer an der Vorstellung festhalten will, dass normative Gründe nicht von den Wünschen Handelnder abhängen, der wird zumindest nicht durch motivationstheoretische Argumente daran gehindert. Der internalistische Zweifel an wunschunabhängigen Gründen ist aber eines der Hauptmotive, den Moralischen Objektivismus in Frage zu stellen. Zumindest das von mir kritisierte einflussreiche Argument für den Internalismus kann demnach nicht zur Widerlegung des Objektivismus dienen. Das dritte Argument, das ich in Kapitel 5 formuliert habe, besagt, dass die objektivistische Vorstellung wunschunabhängiger normativer Tatsachen letztlich eine sehr unklare Vorstellung ist und es daher fraglich bleibt, warum wir die Existenz solcher Tatsachen annehmen sollten, wenn wir noch nicht mal genau wissen, was sich unter diesen Tatsachen bzw. ihrer Eigenschaft, normativ zu sein, eigentlich vorgestellt werden soll. Auch wenn ich zugegeben habe, dass dieses Argument kein knock-down-Argument ist, so stellt es – zumindest aus meiner Sicht – eine Herausforderung für den Objektivisten dar, die, solange er dieser Herausforderung nicht nachkommt, die Ablehnung des Objektivismus rechtfertigt. Ich habe dann zwei Argumente untersucht, mit denen versucht wird, die objektivistische Annahme wunschunabhängiger normativer Tatsachen indirekt zu stützen, und habe gezeigt, dass sie ihr Ziel nicht erreichen. Aus diesem ersten Teil der Arbeit geht also hervor, dass nur eines von drei Argumenten dazu in der Lage ist, einen Zweifel am moralischen Objektivismus zu begründen. Im zweiten Teil meiner Untersuchung bin ich dann davon ausgegangen, dass dieses eine Argument es rechtfertigt, den Objektivismus ad acta zu legen und den metaethischen Relativismus als Alternative in Betracht zu ziehen. Das Anliegen des zweiten Teils bestand in der Überprüfung, ob der Relativismus den Anspruch einlösen kann, sich mit seiner Analyse nicht-revisionär gegenüber unserer moralischen Urteilspraxis zu verhalten. Zwingt eine relativistische Metaethik zu einer Revision, Korrektur oder Aufgabe von charakteristischen oder allgegenwärtigen Bereichen unserer moralischen Praxis? Im Fokus stand dabei vor allem die Frage, ob es gelingen kann, das sogenannte Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen. Meine Untersuchung hat sich dabei zunächst in Kapitel 6 und 7 auf neuere relativistische Entwürfe konzentriert, die sich vom traditionellen Verständnis des Relativismus als indexikalischer Kontextualismus abgrenzen und mehr oder weniger radikale semantische Vorschläge machen. Der Versuch des nichtindexikalischen Kontextualismus, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit durch eine Relativierung propositionaler Wahrheit zu lösen, hat sich dabei als nicht erfolgreich erwiesen. Die Auseinandersetzung mit dem WahrheitsRelativismus hat zwar ergeben, dass sich der metaethische Relativist zur Lösung des Problems auf die Ideen von MacFarlane zur „assessment-sensitivity“ be-
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stimmter Ausdrücke stützen könnte, dass diese semantische Lösung aber nicht nur äußerst revisionär im Hinblick auf etablierte semantische Vorstellungen, sondern letztlich auch überflüssig ist. Ich habe argumentiert, dass die wahrheitsrelativistische Semantik auf pragmatische Überlegungen angewiesen ist, die für sich alleine genommen schon ausreichen, um das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen – unabhängig davon, welche spezifische Semantik man voraussetzt. Wie ich dann nämlich in Kapitel 8 anhand des Ansatzes von Björnsson und Finlay vorgeführt habe, kann der indexikalische Kontextualismus mit Verweis auf die in moralischen Diskursen einschlägige Pragmatik sein Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit lösen. Die beiden Autoren verweisen dazu auf ein verbreitetes Phänomen unserer linguistischen Praxis, in der die Bewertung von Aussagen oftmals nicht die eigentlich ausgedrückte Proposition bewertet, sondern eine, die mit dieser Proposition in einer für das konversationale Interesse relevanten Weise verknüpft ist. Ich habe versucht zu zeigen, dass diese Strategie mit rein pragmatischen Überlegungen zu einem Ergebnis kommt, das die Entwicklung einer relativistischen Semantik im Sinne MacFarlanes unnötig macht. Mit ihrer Strategie, das Problem der verlorenen Meinungsverschiedenheit durch die Unterscheidung von semantischen und pragmatischen Elementen moralischer Diskurse zu lösen, können sie eine semantisch orthodox bleibende Theorie des metaethischen Relativismus formulieren, die keine Revision grundlegender und charakteristischer Urteilspraktiken nahelegt oder verlangt. In Kapitel 9 habe ich ausgewählte Einwände gegen diese Form des metaethischen Relativismus untersucht. Für einige der Einwände konnte ich zeigen, dass sie entweder auf Missverständnissen beruhen oder vom Kontextualisten überzeugend zurückgewiesen werden können. Ein zentraler Einwand hat jedoch verdeutlicht, wo die verbleibende Herausforderung für den Kontextualismus liegt: Welche Propositionen werden durch fundamentale moralische Urteile ausgedrückt? Die von Finlay favorisierte Lösung, dass hier tautologische Propositionen ausgedrückt werden, lässt sich zwar, wie ich gezeigt habe, gegen die Einwände von Olson verteidigen, sie macht es aber letztlich notwendig, dass der Kontextualist eine Irrtumstheorie zweiter Ordnung plausibilisiert: Erklärt werden müsste, dass und warum normale Sprecher nicht erkennen, dass ihre fundamentalen Urteile einen tautologischen semantischen Gehalt haben, und es müsste gezeigt werden, warum diese Form der Irrtumstheorie einer herkömmlichen Irrtumstheorie erster Ordnung vorzuziehen ist. Warum also ist die Annahme plausibler, dass sich der normale Sprecher über die tatsächliche Bedeutung seiner moralischen Urteile irrt, als die Annahme von Mackie, Joyce und anderen, dass es die moralischen Urteile selbst sind, die falsch und irrtumsbehaftet sind? Ich habe zwar Überlegungen angestellt, die andeuten, weshalb erstere Annahme mit weniger Kosten verbun-
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den ist, möchte hier aber zugestehen, dass eine ausführlichere Gegenüberstellung und Auseinandersetzung notwendig ist – was aber eine ausgearbeitete Irrtumstheorie des Kontextualisten voraussetzt. Eine solche Theorie zu entwickeln und zu begründen, ist, so möchte ich schließen, die verbleibende Herausforderung für den Kontextualisten. Der metaethische Relativist kann sich dennoch mit dem von Björnsson und Finlay verteidigten Kontextualismus wieder in der metaethischen Debatte zurückmelden und aufzeigen, dass ihm theoretische Ressourcen zur Verfügung stehen, um seine traditionellen Probleme mit der verlorenen Meinungsverschiedenheit zu lösen. Der zweite Teil der Arbeit hat damit zum großen Teil den rein defensiven Zweck erfüllt, den metaethischen Relativismus gegen den Standardeinwand zu verteidigen. Vor dem Hintergrund des im Kapitel 5 begründeten Zweifels am Objektivismus und der verbreiteten relativistischen Intuitionen im common sense reicht das meines Erachtens schon alleine aus, um diese Position ernsthafter in der metaethischen Debatte zu berücksichtigen. Aber es gibt zusätzlich noch einige Aspekte des indexikalischen Kontextualismus, die als Vorteile gegenüber alternativen Positionen – wie der Irrtumstheorie erster Ordnung und dem Expressivismus – verbucht werden können und unabhängig von der Frage nach der Verbreitung relativistischer Intuitionen attraktiv erscheinen. Ich möchte diese Punkte zum Abschluss kurz benennen: Gegenüber der Irrtumstheorie erster Ordnung hat der Relativismus den klaren Vorteil, dem gewöhnlichen Nutzern moralischer Sprache keinen so umfassenden und grundlegenden Irrtum zu unterstellen, dass sich ernsthaft die Frage stellt, wie man in Zukunft mit dieser Sprache verfahren sollte. Während Irrtumstheoretiker dazu gezwungen sind, entweder für eine Abschaffung oder Ersetzung der moralischen Sprache zu plädieren (Abolitionismus) oder zu begründen, warum und wie diese Sprache trotz ihrer grundlegenden Fehlerhaftigkeit beibehalten werden kann und sollte (Fiktionalismus), kann der Relativist unsere moralische Sprache und Praxis ganz grundlegend rechtfertigen. Mit seiner These, dass moralische Urteile wahr sein können, hängt ein anderer Vorteil des Relativismus zusammen: Die damit angenommene Wahrheitswertfähigkeit moralischer Urteile bestätigt den grundlegenden Eindruck, dass es wahre und falsche moralische Urteile gibt. Die spezifische These des kontextualistischen Relativismus – dass moralische Urteile von standard- oder zweck-relationalen Eigenschaften von Handlungen handeln – ist zudem gut mit dem vortheoretischen Eindruck vereinbar, moralische Urteile nähmen beschreibend Bezug auf die Welt und seien nicht lediglich Ausdruck konativer, wunschartiger Einstellungen. Während der Relativismus damit der kognitivistisch erscheinenden Oberflächengrammatik moralischer Sprache ohne Umwege gerecht werden kann und die logische Kombinierbarkeit moralischer Sätze garantiert, muss ein Expressivismus einiges an theoretischer Arbeit investieren, um z.B. der Tatsache gerecht zu werden, dass
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moralische Sätze in Konditionalen vorkommen können.² Obwohl sich dem Relativisten daher das grundlegende Problem expressivistischer Ansätze nicht stellt, kann er deren Vorteile auch für sich reklamieren: Mit der quasi-expressivistischen Analyse von Björnsson und Finlay, wonach moralische Urteile pragmatisch fundamentale Pro-Einstellungen ausdrücken, lässt sich die – wie ich denke neben der relativistischen Intuition ebenso weit verbreitete – Intuition einfangen, dass moralische Urteile ganz grundlegend auf konative Einstellungen zurückgeführt werden können oder von diesen abhängen. Dass der kontextualistische Relativimus diesen Aspekt gerade mit einer deskriptivistischen Semantik einfangen kann und damit also zwei prima facie miteinander in Spannung stehende Aspekte der moralischen Sprache verbindet, macht aus meiner Sicht seine Attraktivität gegenüber rein expressivistischen Positionen aus: Obwohl am Fundament unserer moralischen Urteile konative Einstellungen (also spezifische Präferenzen für bestimmte Standards oder Zwecke) liegen, besteht unsere moralische Urteilspraxis zum großen Teil aus einem kognitiven Unternehmen des Urteilens über das Bestehen oder Nicht-Bestehen von standard oder zweck-relationalen Eigenschaften. Und während der (normativistische) Objektivismus Probleme damit hat, zu erläutern und zu erklären, wovon unsere moralischen Urteile eigentlich genau handeln, bietet der kontextualistische Relativismus eine klare Analyse mit einigen Vorteilen. Erstens wird mit ihr verständlich, was normative oder moralische Eigenschaften sind – es sind standard- oder zweck-relationale Eigenschaften, für die sich in keiner Hinsicht ein Queerness-Problem stellt. Zweitens bietet die Analyse eine Konzeption moralischer Sprache, die diese in Kontinuität zu nicht-moralischer normativer Sprache begreift und damit ein einheitliches semantisches Modell für normative Sprache generell bietet. Insbesondere Finlays „end-relational theory of normative judgement“ bietet mit seiner einheitlichen Analyse normativer Begriffe wie „gut“ und „müssen“ und den Verweisen auf pragmatische Effekte und Dynamiken ein einfaches semantisches Modell, das verständlich macht, wie die genannten Begriffe in verschiedenen Kontexten – also z.B. in moralischen oder prudentiellen Kontexten – funktionieren. Insgesamt stellt sich daher der Relativismus (in Form eines indexikalischen Kontextualismus, wie ich ihn anhand der Analysen von Björnsson und Finlay vorgestellt habe) nicht nur als eine denkmögliche, aber kuriose Alternative in der Metaethik dar. Abgesehen davon, dass mit ihm eine Position artikuliert wird, die in der Lage ist, die (prima facie weit verbreitete) relativistische Intuition der fehlerfreien Meinungsverschiedenheit einzufangen und verständlich zu machen, was
2 Zu einer umfassenden Übersicht über expressivistische Versuche, das sogenannte FregeGeach-Problem zu lösen, siehe (Schroeder2010).
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damit konsistent gemeint sein kann, hat er Merkmale, die sich im Kontext metaethischer Theoriebildung durchaus als Vorzüge erweisen. Ein Grund mehr, diese Position ernsthafter und eingehender in der metaethischen Diskussion zu berücksichtigen. In Kapitel 10 habe ich zum Abschluss meiner Untersuchung anhand einer Deutung von moralpsychologischen Studien dargestellt, dass es fragwürdig ist, aus solchen Studien Schlüsse über die Existenz von grundlegend divergierenden Wert- oder Moralvorstellungen zu ziehen. Damit hoffe ich gezeigt zu haben, dass Skepsis angebracht ist, wenn aus empirischen Studien – seien sie moralpsychologischer, kulturanthropologischer oder ethnologischer Natur – Schlüsse im Sinne eines deskriptiven Relativismus gezogen werden und diese Schlüsse dann zur Illustration des metaethischen Relativismus präsentiert werden. Mit diesem Kapitel möchte ich festhalten: Wenn der metaethische Relativismus wahr ist, dann ist noch lange nicht entschieden, welche Möglichkeiten zur rationalen moralischen Argumentation in unserer Welt faktisch bestehen.
12 Anhang Dieser Anhang stellt die in der vorliegenden Arbeit zentralen Positionen, Thesen und Begriffe zusammen. Zu Beginn gebe ich eine Übersicht über die Thesen des moralischen Objektivismus und die verschiedenen Formen des Relativismus. Darauf folgt dann eine Auflistung anderer in der Arbeit diskutierter Thesen und Positionen.
12.1 Positionen: Objektivismus und Relativismus Normativistischer moralischer Objektivismus Semantische Thesen: [Kognitivismus] Moralische Urteile sind wahrheitsfähig. Sie drücken Propositionen aus. [Normativismus] Moralische Urteile behaupten (oder implizieren Behauptungen über) das Bestehen (oder NichtBestehen) von normativen Handlungsgründen, die wunschunabhängig sind. [Absolutismus] Wenn ein moralischer Satz S wahr ist, dann ist er absolut wahr, d.h. unabhängig davon, in welchem Kontext bzw. von wem dieser Satz verwendet oder bewertet wird. Sowohl die Bedeutung als auch die Wahrheit von moralischen Urteilen ist invariant. D.h., wenn zwei Urteilende einen moralischen Satz S verwenden, dann i) bedeutet dieser Satz dasselbe (d.h. er drückt dieselbe Proposition aus) und ii) ist die Wahrheit der von ihm ausgedrückten Proposition absolut. Ontologische These: Es gibt normative Tatsachen oder Gründe, die wunschunabhängig sind. Epistemologische These: Wir können Wissen von diesen Tatsachen oder Gründen erlangen und manche unserer moralischen Urteile sind wahr.
12.1 Positionen: Objektivismus und Relativismus |
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Formen des Metaethischen Relativismus 1. Akteurs-Relativismus: Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard dieser Person ab – also vom Handelnden. 2. Sprecher-Relativismus: Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard der Person ab, die das Urteil fällt – also vom Sprecher.
Indexikalischer Kontextualismus: Ein moralisches Urteil „h ist moralisch falsch“ in Äußerungskontext CU1 () drückt die Proposition h ist relativ zu Standard sCU1 moralisch falsch aus und ist genau dann wahr, wenn diese Proposition in dem von CU1 selektierten Bewertungsumstand wahr ist. Nicht-Indexikalischer Kontextualismus: Ein moralisches Urteil „h ist moralisch falsch“ in Äußerungskontext CU1 () drückt die (invariante) Proposition h ist moralisch falsch aus und ist genau dann wahr, wenn diese Proposition in dem von CU1 selektierten Bewertungsumstand wahr ist.
3. Assessor-Relativismus: Die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils über die Handlung h einer Person P hängt vom moralischen Standard der Person ab, die das Urteil bewertet – als vom Bewerter.
Content-Relativismus: Ein moralisches Urteil „h ist moralisch falsch“ in Äußerungskontext CU1 () drückt im Bewertungsumstand die Proposition h ist relativ zu Standard sCA1 moralisch falsch aus und ist genau dann wahr, wenn diese Proposition in dem vom Assessment-Kontext CA1 selektierten Bewertungsumstand wahr ist. Wahrheits-Relativismus: Ein moralisches Urteil „h ist moralisch falsch“ in Äußerungskontext CU1 () drückt die (invariante) Proposition h ist moralisch falsch aus und ist genau dann wahr, wenn diese Proposition in dem vom Assessment-Kontext CA1 selektierten Bewertungsumstand wahr ist.
Weitere relativistische Thesen Deskriptiver Relativismus [Meinungsverschiedenheiten]: Es gibt de facto zwischen unterschiedlichen Personen (oder Gruppen oder Kulturen etc.) tiefgreifende moralische Meinungsverschiedenheiten, für die es plausibel ist anzunehmen, dass sie auch bei Einigkeit über die nichtmoralischen Fakten bestehen bleiben.
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Deskriptiver Relativismus [Werte]: Es gibt de facto Personen (oder Gruppen oder Kulturen), die zur Orientierung in moralischen Fragen unterschiedliche grundlegende Werte, Prinzipien oder Standards akzeptieren und anwenden. Normativer Relativismus: (Manche) moralische Pflichten sind relativ auf Kulturen, Gruppen oder Individuen: Es gibt moralische Pflichten, die abhängig sind von den moralischen Einstellungen von Kulturen, Gruppen oder Individuen.
12.2 Weitere metaethische Thesen Formen der Irrtumstheorie 1. Irrtumstheorie erster Ordnung Substantielle moralische Urteile sind allesamt falsch. [Semantische These] Moralische Urteile behaupten (oder implizieren Behauptungen über) das Bestehen (oder Nicht-Bestehen) von normativen Handlungsgründen, die wunschunabhängig sind. [Ontologische These] Es gibt keine normative Tatsachen oder Gründe, die wunschunabhängig sind. 2. Irrtumstheorie zweiter Ordnung Die metaethische Überzeugung (oder Intuition) B des common sense ist falsch. (Zum Beispiel: Die metaethische Überzeugung des common sense, dass moralische Meinungsverschiedenheiten doxastische Meinungsverschiedenheiten sind, ist falsch.)
Revisionismus in der Metathik Revisionär(1) . Eine metaethische Position ist revisonär(1) , wenn sie eine Revision unserer moralischen Sprache vorschlägt, d.h. wenn sie vorschlägt, unsere jetzige moralische Sprache zu reformieren oder durch eine andere Sprache zu ersetzen. Revisionär(2) . Eine metaethische Position ist revisionär(2) , wenn sie eine Revision oder Korrektur unseres vortheoretischen Verständnisses der moralischen Sprache impliziert. (Revisionär(3) . Eine Metaethik ist revisionär(3) , wenn sie eine Revision, Korrektur oder Aufgabe von Bereichen unserer moralischen Praxis zur Folge hat oder nahelegt.) Revisionär(3*) . Eine Metaethik ist revisionär(3*) , wenn sie eine Revision, Korrektur oder Aufgabe von elementaren, charakteristischen und allgegenwärtigen Bereichen unserer moralischen Praxis zu Folge hat oder nahelegt.
12.2 Weitere metaethische Thesen |
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Revisionär(4) . Eine metaethische Position ist revisionär(4) , wenn sie orthodoxe semantische Vorstellungen und Annahmen revidiert. Externalismus in Bezug auf normative Gründe Es gibt externe normative Gründe, d.h. Gründe, die unabhängig von den Wünschen des Handelnden sind. Internalismus in Bezug auf normative Gründe Eine Person P hat nur dann einen normativen Grund für Handlung h, wenn diese Handlung dazu beiträgt, einen Wunsch von P zu erfüllen. D.h. es gibt nur interne normative Gründe – Gründe, die abhängig von den Wünschen des Handelnden sind. Moralischer Rationalismus Wenn es für eine Person P moralisch richtig ist, eine Handlung h auszuführen, dann hat diese Person einen normativen Grund, diese Handlung auszuführen. Motivations-Internalismus If an agent judges that it is right for her to ϕ in circumstances C, then she is motivated to ϕ in C.¹
1 (Smith1994), S. 61.
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Register Argument from Queerness (Mackie), 109–114
– nicht-indexikalischer, 154–156, 163–168
Epistemische Gründe, 124–133 Expressivismus, 232 – im Vergleich zum Kontextualismus, 228, 230, 232, 259–260 Externalismus, 125–133 – und Kontextualismus, 201–205
Meinungsverschiedenheiten – fundamentale, 52–64 – Problem der verlorenen, 143–148, 218–226 – für den indexikalischen Kontextualismus, 189–198 – für den nicht-indexikalischen Kontextualismus, 163–168 – für den Wahrheits-Relativismus, 169–187 – und Trolley Cases, 40–51 Metaethik – deskriptive, 141, 143 – Revisionismus in der, 141–149 Moral Dumbfounding, 244–254 Moralischer Rationalismus, 76–78 – und Kontextualismus, 199–200 Motivations-Internalismus, 95–98
Geschmacksurteile – und Kontextualismus, 184–187 – und Wahrheits-Relativismus, 174–187 Handlungsgründe – motivierende, 73–74 – normative, 73–85 – externe, 76–78, 86, 108, 114–117, 125–133, 200 – interne, 76–78, 108, 118–124 – und Kontextualismus, 198–205, 211–213 Humeanische Motivationstheorie – und besires, 95–101 – und Internalismus, 78–81 – und Teleologisches Argument (Smith), 87–101 Internalismus, 72, 78–81, 118–133 – und Kontextualismus, 201–205 Irrtumstheorie – erster Ordnung, 137–141, 211–213, 216, 230, 232, 259 – zweiter Ordnung, 137–141, 214, 216, 224–225 Kontextualismus, 161, 162 – indexikalischer, 151–156, 189–206 – Einwände, 207 – Quasi-Expressivismus, 229–230
Objektivismus, 10–15 – und Normativität, 109–118 Peer Disagreements, 64–70 Relativismus – Assessor-Relativismus, 156–159 – Content-Relativismus, 158, 161, 162 – Wahrheits-Relativismus, 159, 161, 162, 169–187 – deskriptiver, 16–17, 237–254 – metaethischer, 20–21 – normativer, 17–20 – Sprecher-Relativismus, siehe Kontextualismus Wünsche – motivierte und nicht-motivierte, 103–108