Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld 9783205204688, 9783205202561


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German Pages [270] Year 2016

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Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld
 9783205204688, 9783205202561

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Schriften der Group2012 Herausgegeben von Gernot Wimmer Band 2

Wissenschaftlicher Beirat: Kurt Anglet (Universität Gregoriana), Peter U. Beicken (University of Maryland), Bernhard Böschenstein (Universität Genf), Stanley A. Corngold (Princeton University), Peter Gilgen (Cornell University), Roman Halfmann (Universität Gießen), Walter H. Hinderer (Princeton University), Winfried Kudszus (UC Berkeley), Harro Müller (Columbia University), Bernd Neumann (Universität Trondheim), Norbert Oellers (Universität Bonn), Jochen Schmidt (Universität Paderborn), Emilia Staitscheva (Universität Sofia), David E. Wellbery (University of Chicago), Tomislav Zelic (Universität Zadar)

Bernd Neumann ∙ Gernot Wimmer (Hg.)

Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld

2017 BÖH L AU V ER L AG W I EN KÖLN W E I M A R

Ein besonderer Dank geht an die Philosophische Fakultät der NTNU, Norwegens Technischer ­Universität in Trondheim, für die finanzielle Unterstützung der hier vorgelegten Publikation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : „Europa trauert; L’Europe en deuil  ; L’Europe en lutte“, Schlachtfeld neben den Überresten eines griechischen Tempels. Auf dem Schlachtfeld befinden sich, neben toten und verwundeten Soldaten, zwei griechische Figuren und eine Mutter mit drei Kindern. Postkarte vom 16. 5. 1916 an Babette Müller, Ellerstadt; Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv ­Sigmaringen, N 1/85 T 1 Nr. 2 © 2017 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20256-1

Inhalt 7 Einleitung

1. ANGST – KRISENEMPFINDEN UND KRIEGSPESSIMISMUS Bernd Neumann 15

Über die Angst des Vorkriegs. Ein Essay zur Einführung Gernot Wimmer

35

Österreichische Wahrsager des Expressionismus  : Endzeitglaube und Weltgericht bei Franz Kafka, Georg Trakl und Karl Kraus Kurt Anglet

65

Karl Kraus. Die Sprache, das Schweigen und die Apokalypse Bernd Neumann

83

Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘. Eine dichte Beschreibung der dispositiven Funktion des Weltkriegs Gábor Kerekes

121

Der Erste Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1948

2. BEGEISTERUNG – NATIONALISMUS UND KRIEGSPROPAGANDA Peter Beicken 141

„Ich schritte vorüber.“ Ernst Jünger als Todesengel in Stahlgewittern Thorben Päthe

165

Deutsch-österreichische Europavisionen bei Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt



6 | Inhalt Wolfgang Wangerin 179

„… daß die Jugend heranwachse, deutsch bis ins Mark“. Kriegsbilderbücher für die Jüngsten im Umkreis des Ersten Weltkriegs

3..ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT – INDIFFERENZ UND DIVERGENZ Gernot Wimmer 209

Der Erste Weltkrieg und das Geschlechterverhältnis in Joseph Roths Romanen Tomislav Zelić

229

Über die Ursprünge des Ersten Weltkriegs in Hermann Brochs Schlafwandler-Romantrilogie und anderen Schriften Stanley Corngold

243

Der Große Krieg und das moderne deutsche Gedächtnis

275 Autorenverzeichnis

Einleitung Untersucht man den Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Romain Rolland auf seinen pazifistischen Ideengehalt hin, stellt sich die grundsätzliche Frage, wie das Faktum des Kriegsausbruches von den beiden Korrespondenten rezipiert wurde. In diesem Punkt ist zu beobachten, dass der Erste Weltkrieg, sowohl von Zweig als auch Rolland, anscheinend als eine unabwendbare Tatsache, die keiner näheren Erläuterung bedarf, angesehen wurde. Denn keinerlei Erörterung der fatalen diplomatisch-strategischen Vorgänge rund um das Thronfolgerattentat von Sarajewo findet in den frühen Schriftstücken statt, obwohl sich das katastrophische Ausmaß des Krieges bereits deutlich abzuzeichnen begann. Unwahrscheinlich ist, dass Rolland aus Gründen des Taktgefühls darauf verzichten wollte, die Rolle der österreichisch-ungarischen Monarchie in Sachen Weltkriegsausbruch zu thematisieren. Die hilflose Flucht in den Krieg, dessen Gewinn das brüchige Habsburgerreich hätte stabilisieren sollen, konnte Zweig als durchaus patriotischer Österreicher, der im Kriegsarchiv seinen Militärdienst absolvierte, nicht verdammen. Vielleicht war es damals auch nicht der richtige Zeitpunkt, eine Bewertung der Gründe vorzunehmen, wo doch zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte weite Teile der Welt im Chaos versanken. Die Donaumonarchie war im Untergang begriffen, ihr Auseinanderbrechen schien nach den glorreichen Jahrhunderten einer geschickt betriebenen Heiratsbzw. Expansionspolitik absehbar. Zu Beginn der Korrespondenz wird der Krieg als ein historisches Ereignis akzeptiert, das ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr abzuwenden war, wie das beredte Schweigen beider Autoren nahelegt. Als Gründe für die militärische Eskalation werden insofern nationalistische Verblendung und Voreingenommenheit angeführt, als in den Briefen wiederholt auf die Notwendigkeit grenzüberschreitender Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Kriegsleiden hingewiesen wird. Vielgestaltig sind die Vorschläge der beiden Briefpartner, die sich einerseits um praktische Hilfestellungen und andererseits um eine institutionelle Überbrückung der völkischen Trennlinien bemühen. Diese friedensstiftenden Vorhaben bilden eines der tragenden Motive, die den Leser zuverlässig durch die Korrespondenz begleiten. Mit Blick auf den Nationalismus, der in Österreich und Frankreich die öffentliche Meinung bestimmte, überrascht es nicht, dass sowohl Zweig als auch



8 | Einleitung

Rolland bei Ausbruch des Weltkrieges und in der unmittelbaren Zeit danach zuweilen nationalistischen Ressentiments unterlagen, die sich in Form von Anklagen, gerichtet an das jeweilige Gegenüber, teils unverhohlen offenbarten. Es handelt sich dabei in erster Linie um moralische Vorhaltungen, die sich auf durch die Presse behauptete Kriegsverbrechen der gegnerischen Seite oder auf deren Kriegsprogrammatik beziehen. Der überlieferte Briefwechsel beginnt am 1. Mai 1910 mit einem harmlosen Schreiben an Zweig, in dem sich Rolland „herzlich“ für das „schöne[s] Buch über einen Dichter“ bedankt, mit dem Émile Verhaeren, zu dem Zweig damals eine Biografie verfasste, gemeint ist.1 Noch in demselben Dankesbrief betont Rolland die gemeinsame trans-nationale Gesinnung  : „Und Sie sind ein Europäer. Ich bin es auch, aus vollem Herzen. Die Zeit ist nicht mehr fern, da selbst Europa das kleine Vaterland sein und uns nicht mehr genügen wird.“2 Diese Bruderschaft im Geiste überrascht keineswegs, wenn man bedenkt, dass auch Verhaeren für die Idee eines in Frieden vereinten Europas auftrat. Interessant ist der Umstand, dass in diesem Brief bereits von einer die Kontinente umfassenden Weltgemeinschaft die Rede ist  : „Dann werden wir das Denken anderer Völker in den poetischen Chor aufnehmen, um den harmonischen Zusammenklang der Menschheitsseele wiederherzustellen.“3 Rollands Idee wird später in der völkerverbindenden Institution der Vereinten Nationen ihren Niederschlag finden, die aus den Haager Friedenskonferenzen und dem Völkerbund heraus entstand. Im ersten überlieferten Brief an Rolland, der vom 12. Februar 1911 stammt, berichtet Zweig von editorischen Ideen, von seinem Vorhaben, unter Mithilfe von anderen Rolland-Liebhabern seinen Roman Jean-Christophe, dessen Handlung den Lebensweg der gleichnamigen Musikerfigur deutscher Herkunft beschreibt, ins Deutsche zu übersetzen.4 Die nachfolgenden Briefe handeln dann fast ausschließlich von Herausgeber-Offerten sowie von der Suche nach einem geeigneten Verlag und ebensolchen Übersetzern. So dauerte es bis zum 6. Okto­ ber 1914 – der Weltkrieg begann auf deutscher Seite Anfang August –, bis einer der beiden  – in diesem Fall Zweig  – auf die allgemeine Kriegsgewalt zu sprechen kommt, die sich unaufhaltsam Bahn gebrochen hatte. Erste Irritationen 1 Vgl. Romain Rolland und Stefan Zweig, Band 1  : Briefwechsel. 1910–1940. Hg. von Waltraud Schwarze. 2 Bde. Berlin 1987, S. 31. 2 Ebenda, S. 31. 3 Ebenda. 4 Vgl. ebenda, S. 32.



Einleitung | 9

bahnen sich jetzt an, da Zweig die kolportierte Zerstörung der belgischen Stadt Löwen durch deutsche Truppen, die Rolland öffentlich verurteilt hat,5 rigoros widerlegt bzw. relativiert.6 Die Widerlegung geht bei Zweig mit einem rhetorischen Gegenangriff parallel, der die Frage nach der Behandlung deutscher Gefangener zum Gegenstand hat  : „Tut es Ihnen  – aufrichtigst  !  – nicht weh, ­Romain Rolland, in französischen Blättern lange Diskussionen über die Frage zu sehen, ob man deutsche Verwundete auch pflegen solle  ?“7 Der Folgesatz hat angesichts des unverblümten nationalen Gehabes, das nun hinter Zweigs Humanitätsbekundungen hervortritt, zu verwundern  : „Ich rufe Sie deshalb auf, nicht, weil Sie mir Freund sind, sondern Sie, den Dichter, den Menschen  : Helfen Sie den Hilflosen  ! Mahnen Sie zur Güte gegen die Kranken und schlagen Sie jene elende Diskussion nieder, die Frankreich schändet  ! “8 Ein Nachsatz versichert den Adressaten seiner Bereitschaft zum Kampf für das humanistische Prinzip  : „Sie werden mich genauso bereit wissen, in Deutschland für irgend etwas zu wirken, das der Menschlichkeit gilt […][.]“9 So weist Zweig die rhetorischen Angriffe auf die Mittelmächte mit Schärfe zurück. Seinerseits reagiert Rolland auf den angriffigen Zweig, der das Engagement des französischen Intellektuellen einfordert, indem er im Zuge seiner Entgegnung vorschlägt, Listen zu den Zivilgefangenen zu erstellen und diese über die Grenzen der Gegner hinweg auszutauschen. In jenem Brief vom 10.  Oktober 1914 heißt es dazu  : Wenn sich in Österreich, Deutschland und Frankreich großherzig gesinnte Männer

und Frauen bereit fänden, die Lager jener Zivilinternierten ausfindig zu machen, Lis-

ten von ihnen aufzustellen und diese durch Vermittlung des Internationalen Roten

Kreuzes von Land zu Land auszutauschen, wäre das eine große humanistische Tat […].10

Dieses Ansinnen vermochte Rolland auch deshalb kundzutun, weil er in Genf bei der Kriegsgefangenenauskunftsstelle, die vom Roten Kreuz gegründet wurde,   5 Siehe Romain Rolland  : „Offener Brief an Gerhart Hauptmann“. In  : Journal de Genève, 29. August 1914.   6 Vgl. Rolland und Zweig (1987), Bd. 1, S. 71.   7 Ebenda, S. 72.  8 Ebenda.   9 Ebenda, S. 72–73. 10 Ebenda, S. 76.

10 | Einleitung

tätig war und meinte, über die notwendigen Kontakte zu verfügen, um die erdachte Maßnahme voranzutreiben. Zweig sieht im Brief vom 19. Oktober die Nationalismen, die zwischen ihn und seinen Freund getreten sind, bald auch selbstkritisch  : „Ich weiß, daß keiner die Macht hat, sich ganz der Massenpsychose zu entziehen, und das Blut in Ihnen und in mir hätte nicht den gleichen Rhythmus.“11 Des Weiteren schreibt Zweig  : „Aber mir fehlt die Starre des Willens, der nicht überzeugt sein will  : es ist in den meisten Menschen heute eine gefährliche Lust, nur das Gemeinsame der Meinung zu sagen […].“12 Die nationalistischen Spannungen, die zwischen den beiden Briefpartnern anfänglich auftreten, finden in den erwähnten Obsorgemaßnahmen immerhin einen versöhnlichen Bezugspunkt. Mit Fortdauer des Krieges häufen sich dann die Gedanken zur Möglichkeit, den Krieg vorzeitig zu beenden, und es verstärkt sich somit der pazifistische Ton. Im Rahmen dieser Positionen bewegen sich auch die Beiträge des Bandes. In der ersten Sektion „Angst  – Krisenempfinden und Kriegspessimismus“ beschreibt Bernd Neumann die „Phänomene“ aus der Vorkriegszeit, die „einschlägig mit paranoider Weltwahrnehmung und Kommunikationslosigkeit, mit albtraumartiger Gewalt und Angst als neuer Grundbefindlichkeit verbunden“ sind. Gernot Wimmer sieht in seinem Aufsatz zu Kafka, Kraus und Trakl „die emotionale Grundkonstitution der Angst“ vorliegen, „die dazu führte, dass dem Christentum das heilsbringerische Element abgesprochen und die Gottheit in einem ethischen oder schöpferischen Mangelzustand beschrieben wurde“. Kurt Anglet spricht in seinem Beitrag davon, dass es Kraus’ „Obsession“ war, der „Zeit die Stirn zu bieten“, und er „standzuhalten“ „vermochte“, „wie Christus standhielt“. Bernd Neumann führt daraufhin aus, dass sich „in“ Kafka „[g]rößte Angst wie auch größte Lust“ „im Halbjahr des Weltkriegsausbruchs“ „vereinigten“ und er „für die Dauer eines halben Jahres“ „diese allumfassende Angst in Schreiben umzuwandeln“ „vermochte“. Und Gábor Kerekes kommt zu dem Schluss, dass die „Darstellung des Ersten Weltkriegs“ „[a]ngesichts der allgegenwärtigen und strengen Zensur“ „in der ungarischen Literatur eine untergeordnete Rolle“ „spielt“. Im zweiten Themenabschnitt „Begeisterung – Nationalismus und Kriegspropaganda“ vertritt Peter Beicken die These, dass sich Jünger als „Flaneur des 11 Ebenda, S. 90–91. 12 Ebenda, S. 91.



Einleitung | 11

Schlachtfeldes“ „in einer kalten, distanzierten, menschlich nicht engagierten Sicht der Dinge“ „erging“. Thorben Päthe legt daraufhin dar, dass Autoren wie Mann, Hofmannsthal oder Borchardt „die Auferstehung des ‚geistigen Deutschlands‘ in der europäischen Krisis“ „beschworen“ und „den Krieg als schicksalhafte ‚Notwendigkeit‘“ „begriffen“. Und Wolfgang Wangerin weist nach, dass sich „die Kriegsbücher, die vor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs für Kinder und Jugendliche publiziert wurden“, „nahtlos“ einreihen „in den autoritär-disziplinierenden Geist der Kinderliteratur dieser Zeit“: „Erziehung zur Kriegsbereitschaft ist ihre Intention.“ In der dritten Sektion „Orientierungslosigkeit – Indifferenz und Divergenz“ zeigt Gernot Wimmer auf, dass Roths Rollenbilder „Tendenzen“ aufweisen, „die das vorexilische vom exilischen Romanwerk unterscheiden“. Tomislav Zelić argumentiert, dass bei Broch der Erste Weltkrieg letztlich „in der Gesellschaftsund Kulturgeschichte der Moderne begründet“ liegt. Und Stanley Corngold beschließt den Band mit der Einsicht, dass „uns“ die „Literatur über den Krieg“ unter anderem „von dem fürchterlichen Niedergang menschlicher Ideale und von einer schrecklichen Entwürdigung des menschlichen Körpers“ „erzählt“  : „Auch erfahren wir von der verzweifelten Anstrengung der Schriftsteller, etwas Lehrreiches, womöglich sogar das menschliche Leid Veredelndes ausfindig zu machen.“ Trondheim/Sofia, Sommer 2016 Die Herausgeber

Bernd Neumann

Über die Angst des Vorkriegs Ein Essay zur Einführung Wenn es sich um den Nexus zwischen kriegerischen Zeiten einerseits und dem künstlerischen Schaffen, das hier den Durchbruch der literarischen Moderne meint, andererseits handelt, steht der Erste Weltkrieg in seiner Bedeutung unangefochten an der Spitze. Das Englische kennt diesen Krieg als ‚The Great War‘. Allenfalls noch der Dreißigjährige Krieg, der ein religiöser war, sowie das Zeitalter des Barock weisen ähnlich dichte Konnotationen auf. Der Grund dafür scheint ein doppelter zu sein  : Nie zuvor und niemals danach ergriffen so viele Künstler und Wissenschaftler demonstrativ für eine Seite Partei wie zu Beginn des Großen Krieges. Und niemals zuvor wandelten die Künste sich derart einschneidend und radikal wie durch den Großen Krieg  – einen bereits „totalen“ Krieg, der in die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts führte und Europa grundlegend veränderte. So vermag man getrost zu formulieren, dass kein anderer Krieg der Weltgeschichte die Künste so sehr beeinflusst und verändert hat. Bereits 1915 erschien in Weimar eine „Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914“.1 Der Herausgeber Hermann Kellermann nannte sein Sammelwerk „Krieg der Geister“ und prägte damit ein Schlagwort. Er sah in dem Geschehen nicht nur ein Aufeinandertreffen neuartiger Kriegsgeräte, von mächtigen Eisenbahngeschützen bis zu raupenbewehrten und echsenähnlichen Tanks, sondern einen Krieg der Kulturen – der ‚deutschen Kultur‘ gegen die ‚englisch-französische Zivilisation‘. Im Jahr 1996 schließlich stellte der Historiker Wolfgang  J. Mommsen die „Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg“ tiefenscharf dar.2 Fast durchgängig vertreten die bedeutenden Literatur-Forscher, von Bernd Hüppauf bis Helmut Fries,3 die Ansicht, dass die 1 Hermann Kellermann (Hg.)  : Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914. Weimar 1915. 2 Wolfgang J. Mommsen (Hg.)  : Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996. 3 Bernd Hüppauf (Hg.)  : Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein/Ts. 1984 u. Helmut Fries  : Die große Katharsis. Der Erste

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enorme Umbruchswirkung des Großen Kriegs ihren Ursprung in Langeweile und fehlender politischer Teilhabe habe. Der Zeitraum von „über vier Dezennien konservativer Kaiserreichspolitik“4 habe die Intelligenz frustriert und zu jener Einsicht geführt, die Julius Hart im „Literarischen Echo“ von 1914 wie folgt verkündete  : „Auch heute, während die Stürme der Schlachten uns noch umbrausen, sagt man es überall wieder  : Dieser Krieg führt für unsere Dichtung eine völlige Umwälzung herauf, eine Reformation an Haupt und Gliedern.“5 Der zitierten Stimme aus Deutschland kann man eine zeitgenössische Stimme aus England an die Seite stellen, nämlich die des (eigentlich portugiesischen) Schiffsbauingenieurs Fernando Pessoa  : Vernunft und Maß haben jede Bedeutung verloren, er [F. P.] will extreme Erfahrungen ohne Grenzen und Skrupel. Anders als die italienischen Futuristen, seine gleichgesinnten Zeitgenossen, fordert er jedoch nicht den Abriss alter Gebäude. Ausgiebig rühmt er die europäischen Kathedralen und gibt seiner Sehnsucht Ausdruck, sich den

Schädel an ihnen einzurennen […].6

Es gab noch weitere Stimmen. Etwa die des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio, der kurz vor Kriegsausbruch dem französischen Botschafter in St. Petersburg eine strenge Abmahnung zusandte, der zufolge Europa den sich abzeichnenden Krieg keineswegs zu fürchten habe  : „‚Nur durch Krieg können degenerierte Völker ihren Niedergang verhindern  ; Krieg bringt ihnen unfehlbar entweder Ehre oder Tod.‘“7 Damals war der Autor gerade von einer Geschlechts­ krankheit genesen und als einschlägiges Opfer der Belle Époque erkennbar zu neuen Großtaten bereit. Waren das zeittypische Äußerungen des modernen Menschen, so wie auch „Le Sacre du Printemps“ von 1913 und später T.  S. Eliots Waste Land (1922) sich vom Ausbruch des Irrationalen eine Regeneration des Landes und den Fortbestand der Kultur versprachen  ? Immerhin beschreibt Christian Kracht in seinem viel diskutierten Vorweltkriegs-Roman Imperium

4 5 6 7

Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. 2 Bde. Diss. Konstanz 1991. Konstanz 1994/95. Vgl. Uwe Schneider und Andreas Schumann (Hg.)  : Einführung. In  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000, S. 7–12, S. 7. Julius Hart  : Der Krieg als Umgestalter unserer Literatur. In  : Literarisches Echo 17 (1914/15), Heft 2, Sp. 104–105, hier  : Sp. 104. Geert Buelens  : Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Berlin 2014, S. 10. Übersetzt nach Alfredo Bonadeo  : D’Annunzio and the Great War. Madison, N. J., 1995, S. 69. Zitiert nach  : Geert Buelens  : Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Berlin 2014, S. 32.

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die Aufsplitterung der künstlerischen Sichtweise als spezifisches Kennzeichen der Moderne, die nicht nur für die Photographie, sondern auch für den Kubismus ausschlaggebend geworden sei  : Die Moderne war nämlich angebrochen, die Dichter schrieben plötzlich atomisierte

Zeilen  ; grelle, für ungeschulte Ohren lediglich atonal klingende Musik wurde vor

kopfschüttelndem Publikum uraufgeführt, auf Tonträger gepreßt und reproduziert,

von der Erfindung des Kinematographen ganz zu schweigen […].8

Krachts fulminantes Erzählstück stellt die Jahre vor 1914 auch als eine Phase zunehmender Verwirrung und Verunsicherung dar. Reformeifer endete in autokannibalistischer Verrücktheit. Daraus ergibt sich die Frage, welche Stimmen als repräsentativ zu verstehen sind, da ansonsten sich die Sicht auf den Vorkrieg verzerrte – etwa auch dadurch, dass Franz Kafka in die Riege der vom Weltkrieg beeindruckten Dichter gar nicht erst aufgenommen würde, wie Geert Buelens das in jüngster Zeit getan hat. Doch der Prager AngstDichter ist diesem Kontext zuzuordnen, und zwar mit der Begründung, dass seine Haltung zum Weltkrieg keineswegs die eines einsinnigen Hurra-Patrioten war. Beispielhafte Fälle sind hier Rainer Maria Rilke und Stefan George, deren Anfangsbegeisterung für den lange vergessenen Gott des Krieges bald großer Ernüchterung wich, sowie der kriegstrunkene Lyriker Heym, der beim friedlichen Schlittschuhlaufen in der Havel ertrank und so für immer verstummte. Bereits die Jahrhundertwende hatte Ereignisse gezeitigt, die ein Abbild der ‚sozialen Energien‘ waren, darunter die triumphale Weltausstellung in Paris aus dem symbolischen Jahr 1900, die in einem verdeckten Widerspiel mit der ebenfalls in Paris angesiedelten Dreyfus-Affäre stand. Die in den Krieg mündende Belle Époque kannte ihrerseits eben nicht nur Langeweile und Genusssucht. Zugleich war sie bestimmt von einer apokalyptischen Angst, die ihr Pendant im modernen Angstphilosophen Kierkegaard besaß, der sich als seherischen Künder größten Unheils begriff. Nicht zufällig wurde dieser Søren Kierkegaard noch vor Heidegger zum eigentlichen Philosophen des Unterganges  : ‚Der einzelne und seine Angst‘ lautete das Thema. Neben vitalistischer und lebensreformerischer Denkart, krudem Chauvinismus und völkischen Sichtweisen, die dem kommenden Führertum vorgriffen, entstanden apokalyptische Deutungen des Krieges. Abgesehen von supranationalen 8 Christian Kracht  : Imperium. Köln 2012, S. 66.

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Entwürfen einer gesamteuropäischen Kulturwelt, einem rigorosen Pazifismus, trat eine eindrucksvoll sich manifestierende Kriegsangst hervor. Das bestimmende, dabei aber hintergründige Gefühl der Kriegsangst führte zu einem gleichermaßen literarischen wie politischen Großereignis. In den Jahren 1899 und 1907 fanden nämlich jene Haager Friedenskonferenzen statt, auf denen wichtige Teile des noch heute gültigen humanitären Völkerrechts beschlossen wurden. Der Organisator der ersten Konferenz war eine ebenso schillernde wie intellektuell-moralisch nicht eindeutige Persönlichkeit  : ein erfolgreicher Bankier, der zum Friedensforscher bzw. Militärexperten geworden war und jetzt ausgerechnet mit russischer Unterstützung die Auffassung durchsetzen wollte, dass der Krieg inzwischen unmöglich geworden sei. Der Mann verfügte über eine variierte Namensgebung, die sich an die europäischen Hauptsprachen anpasste. Sie reichte vom deutsch-österreichischen Johann von Bloch bis zu seinem russischen Originalnamen Ivan Stanislavovic Bloch – war er in Paris, nannte er sich Jean Bloch. Der Mann wurde seinerzeit nicht nur für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, sondern er veröffentlichte auch ein beeindruckend umfangreiches Werk, das in alle europäischen Hauptsprachen übersetzt wurde. Auf Englisch lautete sein Titel  : „Is War Now Impossible  ? “ Sein Autor verkörperte dabei die faszinierenden Widersprüche der Belle Époque  : als ein sagenhaft reicher Bankier, der sich, durch den Eisenbahnbau für das Zarenreich zum Millionär geworden, aus seinem Beruf zurückgezogen hatte, um für den Frieden zu arbeiten. Ivan Bloch war polyglott und durchsetzungsfähig, ein Mahner, der den pazifistischen Strömungen einer ansonsten bellizistischen Zeit zum Durchbruch verhelfen wollte  – dabei aber das Ziel verfolgte, die allseits für möglich erachtete sozialistische Revolution zu verhindern, die vor allem der Zar zu fürchten hatte. Er erscheint damit als eine Figur wie aus einem Thomas-Mann-Roman, als widersprüchlich und zielbestimmt, als kapitalistischer Wohltäter, von dem in der englischen Übersetzung seines Frieden-statt-Krieg-Buches „The Future of War in Its Technical, Economic and Political Relations“ (so der Titelzusatz) vermerkt steht, wo der offenbar unentwegt umherreisende Autor sich aufzuhalten pflegte. Nämlich im „Grand Hotel“, wenn er in Paris residierte, in St. Petersburg dagegen im „Hotel d’Europe“, wie der Übersetzer im Vorwort ausführt – freilich  : „His home address is Warsaw.“9 9 Ivan S. Bloch  : The Future of War in Its Technical, Economic and Political Relations. Is War Now Impossible  ? New York 1899, S. ix.



Über die Angst des Vorkriegs |

Die Scharfsichtigkeit des Autors in Bezug auf den Abnutzungscharakter des kommenden Krieges war beeindruckend.10 Was der Bankier, stets wissenschaftlich exakt und nüchtern im Zusammentragen alles Erreichbaren, in seinem Werk amalgamierte, hätte an sich ausreichen müssen, um das als eigentlich unabwendbar Erkannte zu verhüten. Blochs Großwerk, das ausgerechnet vom russischen, zaristischen Kriegsministerium autorisiert worden war, wurde dennoch zu einer Art Grundlage für die Haager Friedens-Konferenzen. Blochs monumentale Studie analysiert riesige Datenmengen, die vom Bruttosozialprodukt der präsumtiven Kriegsteilnehmer bis hin zu dem Preis für die Munition und die Uniformknöpfe reichen. Ivan Bloch hatte erkannt, dass nun nicht länger zwei Armeen, sondern zwei Industriesysteme gegeneinander Krieg führen würden  ; dass es um Produktionskapazitäten, Bahngleise und Rohstoffvorräte viel eher als um den hergebrachten kriegerischen Mannesmut ginge. Solche Erkenntnisse hatten den Autor viel an Arbeitszeit gekostet, wie aus dem Vorwort des Übersetzers hervorgeht  : „Eight years he devoted to the special study of which his work ‚The Future of War‘ is the monument. He published it in Russian two years ago. This year he has brought out editions in German and in French.“11 Dass Bloch, bevor er unter die Friedensforscher gegangen war, durch die internationale Finanzierung von Eisenbahnbauten steinreich geworden war, macht ihn zu einem Berufsgenossen von Franz Kafkas ‚Madrider Onkel‘, wenngleich Ersterer freilich weit erfolgreicher war und aus dem Umfeld jener Finanzakteure stammte, die seinerzeit im Grunde Kriegsvorbereitungen zu treffen halfen. Deshalb wusste Bloch so gut Bescheid. Bloch hatte das Epochenproblem erkannt und gründlich erforscht, jedoch mit dem Ergebnis, dass er die Gefahr, die von diesem ausging, letztlich leugnete. In diesem Menschen, mit seiner irritierend glänzenden Persönlichkeit, verkörperte sich die Belle Époque. Diese Zeit war bestimmt von der Angst, ihr eigener Untergang stünde kurz bevor, und zeigte sich gleichzeitig von der Überzeugung erfüllt, die präzedenzlose Fortschrittlichkeit würde diesen zu verhindern wissen. Letzteres feierte sie mit einer gewissen Berechtigung  ; Ersteres dagegen beschäftigte sie in unablässig präsenten Albträumen. Für Letzteres stand die Weltausstellung, für Ersteres dann die Vorkriegskunst. Die europäische Kriegsfurcht, die durch Bloch Gestalt erlangt, stellte sich als eine dar, die England noch gar nicht auf der Rechnung hatte. Das Empire ge10 Da Ivan Blochs Beschäftigung mit dem drohenden Unheil den Nerv der Zeit traf, folgten ihr vergleichbare Buchereignisse  : etwa der damalige Bestseller von Norman Angell, „The Great Illusion“. Veröffentlicht wurde das Buch 1909 in London erstmals unter dem Titel „Europe’s Optical Illusion“. 11 Bloch (1899), S. viii.

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hörte damals noch keinem der Paktsysteme an. Seine später folgende Annäherung an Frankreich und Russland, in der Kriegserklärung von 1914 gipfelnd, lag noch in der Zukunft. Ivan Bloch selbst fürchtete gar nicht so sehr ein „singlehanded duel between France and Germany“, sondern vielmehr „a war between the Triplice and the Franco-Russian Alliance“, wie ihn sein Übersetzer zitiert  : „It is that war which constantly preoccupies the mind of statesmen and sove­ reigns of Europe, and it is that war which, I maintain, has become absolutely impossible.“12 Wie aus einem weiteren Zitat hervorgeht, lautete das Bloch’sche Mantra  : „Thus, the great war cannot be made, and any attempt to make it would result in suicide.“13 Das war bündig formuliert, aber doch nur insofern richtig, als der Selbstmord des ‚alten‘ Europa dann tatsächlich vollzogen wurde. Dennoch erwies sich Blochs Analyse dessen, was ein künftiger Krieg bringen würde, als verblüffend hellsichtig. Er sah den Stellungskriegs-Charakter und die lange Dauer eines unvermeidlich hochtechnisierten Weltkriegs ebenso voraus wie den katastrophal erhöhten Todeszoll, der zurückging auf die wortwörtlich durchschlagende Wirkung von Nadelgewehr, Maschinengewehr und den mauer- wie panzerungsbrechenden Kanonen. Die neue, in kriegstaktischer Hinsicht entscheidende Bedeutung der Eisenbahn entging dem Autor dabei ebenso wenig wie der nunmehr ungeheure Finanzierungsbedarf eines solchen Unternehmens. Bloch hielt sich auf seine wissenschaftliche Nüchternheit etwas zugute. Aber der Mann hielt die Ungeheuerlichkeiten seiner Prognose allein für ausreichend, um den am Horizont sich abzeichnenden Großen Krieg zu verhindern. Darin, und nicht in der Genauigkeit seiner Diagnose, hat er in der Tat als Utopist zu gelten. Allerdings hatte dieser kommende Krieg in der Vorschau des polnisch-russischen Finanzfachmanns bereits all seine hergebrachte Romantik und Schmissigkeit abgelegt  : The war, instead of being a hand-to-hand contest in which the combatants measure

their physical and moral superiority, will become a kind of stalemate, in which neither

army being able to get at the other, both armies will be maintained in opposition to

each other […]. It will be simply the natural evolution of the armed peace, on an ag-

gravated scale.14

12 Ebenda, S. xi. 13 Ebenda. 14 Ebenda, S. xvi.



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Anstatt des heldenhaften Duells auf dem ‚Feld der Ehre‘ sehe man hingegen ein maulwurfsartiges Sich-Eingraben in Stellungen, die jahrelang unverändert blieben, einen ‚Stellungskrieg‘ mitsamt den unvermeidlichen Graben-Systemen, die im Werk expressionistischer Maler und in der Literatur Franz Kafkas ihren Niederschlag fanden. Bei dem Prager verbringt in der Erzählung Der Bau ein Tier sein Leben mit dem Ausbau seiner Behausung zu einer Festung  ; es täuscht sich mit dieser Beschäftigung über das Näherkommen des finalen Verhängnisses hinweg. Dieser Selbstbetrug darf durchaus als das fabelhafte, parabolische Gegenstück zu jenem „bewaffneten Frieden“ verstanden werden, auf den Bloch und die Haager Konferenzen reagierten. Ivan Bloch, dem Finanzexperten für den Eisenbahnbau, war es seinerzeit gelungen, das Ohr des Zaren zu gewinnen. Denn seine „verheerendste Schlußfolgerung war, daß auch ein Sieg einem nationalen und politischen Selbstmord gleichkommen mußte, da aus dem wirtschaftlichen Chaos fast zwingend eine sozialistische Revolution erwachsen würde“.15 Die erste Haager Friedenskonferenz fand 1899 statt, als Auftakt zu einem neuen Jahrhundert – und wurde dann völlig von der Realpolitik überrollt. Sie endete damit, dass weder Deutschland noch Russland ihre Armeen, dass weder England noch die Vereinigten Staaten ihre Flotten reduziert sehen wollten. Dennoch folgte im Jahr 1907 eine zweite Haager Konferenz, doch auch sie endete mit unverbindlichen Absichtserklärungen. Dennoch darf die Folgerung nicht lauten, dass die Szenerie der hier dargestellten Jahre bis hin zum Kriegsausbruch nur von Wettrüsten und blinder Großmachtpolitik bestimmt gewesen wäre. Die Gegenströmungen waren insgesamt mächtig und manifestierten sich anlässlich der späteren Marokkokrise von 1911 in einer Großkundgebung mit über 250.000 Menschen in Berlin. Die Furcht vor dem fatalen Charakter des modernen Krieges war auf der Seite der Pazifisten gleichermaßen ausgeprägt wie bei Witte oder Bloch. Nichts macht das deutlicher als ein Text der führenden Friedensaktivistin Bertha von Suttner, von dieser aus böhmischem Adel stammenden, in Prag geborenen Landsmännin Rilkes, Werfels und Franz Kafkas, die dann 1905 den Friedensnobelpreis erhalten sollte – jenen Preis, den Bloch verfehlte. Bertha von Suttner schrieb in „Das Maschinenalter“  : Alle Saaten zerstampft, alle Arbeit eingestellt […]. Jedes Dorf eine Brandstätte, jede

Stadt ein Trümmerhaufen, jedes Feld ein Leichenfeld und noch immer tobt der

15 Vgl. Philipp Blom  : Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München 2009, S. 224.

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Kampf  : unter den Meereswellen schießen die Torpedoboote, um mächtige Dampfer in den Grund zu ziehen, in die Wolken steigen bewaffnete und bemannte Luftschiffe

einer zweiten äronautischen Truppe entgegen und aus tausend Meter Höhe schneien

verstümmelte Krieger als blutende Flocken herab […].16

Suttners extravagante Sicht der Dinge, angesiedelt zwischen Himmel und Erde, fiel möglicherweise gefühlsbetonter und mithin unschärfer aus als Blochs Rechenwerk. Beide stimmen in ihrem Aussagewert aber dennoch überein. Auch die pazifistische Bewegung betrachtete die Epoche des Vorkriegs als eine der tiefen Gespaltenheit. Der technische Fortschritt brachte geradezu archaische Kriegsängste hervor. In diesen Jahren nach der Jahrhundertwende wurde der mentale Humus ausgelegt für die dann hektisch aufblühende Rezeption der Kierkegaardschen Angst, die auch in Kafkas Tagebüchern zu finden ist. Gegen diese besondere Angst half das mondäne Vergnügen, wie schon Kierkegaard wusste. So verhielt es sich nicht nur in Kopenhagen, sondern auch in Paris, Berlin und Prag. Die populäre These, dass die damalige Welt nicht wusste, welchem Armageddon sie im Sommer 1914 entgegenging, ist von daher zu variieren. Sie wusste es seit Blochs Büchern ziemlich genau, gefiel sich aber in dem Glauben, dass diese Zukunft zu furchtbar wäre, als dass sie tatsächlich Wirklichkeit werden könnte. Die Kehrseite dieser Verdrängungsstrategie hatte zwangsläufig jene Angst zu sein, die als dunkle Grundierung hinter der grellen Lebenslust dieser Epoche weitgehend unentdeckt blieb. Sie brach sich in den Künsten ihre Bahn, in den Schreckszenarien der expressionistischen Lyrik ebenso wie in Franz Kafkas Erzählungen und Romanen, und natürlich in der Malkunst der Expressionisten. Eine Angst von Kierkegaard’scher Dimension ging damals um, jene Panik vor einem einschneidenden zivilisatorischen Rückfall, die auch den Kopenhagener Philosophen umtrieb. Eine diffuse Form von Angst herrschte in diesen Jahren überall in der europäischen Welt vor, auch in England als dem zivilisatorischen Gegenspieler des zaristischen Russland. Diese besondere Angst des beginnenden Jahrhunderts nahm in den Werften des Empire die Gestalt eines besonders gehärteten und im Durchmesser überdimensionierten Stahls an. Aus ihm wurde im Jahr 1906 der erste ‚Dreadnought‘ gefertigt, ein grauschimmernder Stahl­ koloss und unüberwindliches Kampfschiff, das damit nichts anderes war als ein 16 Bertha von Suttner  : Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit. Zürich 1889, S. 276–277.



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Symbol der anwachsenden „neue[n] Angst“,17 die in Europa herrschte. Der stählerne Riese war zwar von weit geringerer Größe als die später entstandene „Titanic“, doch mit nur „zwei Geschwadern dieser Klasse konnte Großbritannien ganz einfach auf See die Regeln diktieren […]  : britische Regeln“.18 Der stahlgrau schimmernde Koloss war eine Reaktion auf die deutsche Flottenaufrüstung, auf einen Wettlauf freilich, den England noch vor Kriegsausbruch gewonnen hatte – dank Admiral „Jackie“ Fishers ‚Dreadnoughts‘. Am 3. April 1913 lief in der Hamburger Werft Blohm & Voss dagegen das größte Passagierschiff aller Zeiten vom Stapel. Es war 276 Meter lang, 30,5 Meter breit und auf den Namen „Vaterland“ getauft worden.19 Es sollte dann zum Transatlantikdampfer in ­Kafkas Der Heizer werden. Im englischen Flottenkomplex lag eine wesentliche Ursache für die besondere Angst der Deutschen und Österreicher vor dem Krieg beschlossen, da man meinte, dass England als die dominierende Seemacht im Kräftegleichgewicht der damaligen Jahre nicht neutral bliebe  – was den Weltkrieg tatsächlich zuungunsten der Mittelmächte entschied. Solche Befürchtungen strahlten ihrerseits bis ins binnenländische Wien oder Prag aus. Doch die modern-avantgardistischen Schriftsteller von damals interessierten sich weniger für die Schifffahrt als für Flugschauen, Autorennen und Bordelle, ganz in Übereinstimmung mit den ‚sozialen Energien‘ dieser Jahre. Der neue Maschinenmensch sollte keine Nerven besitzen, wie alle Piloten aus diesen frühen Zeiten des Luftverkehrs wussten. Das hatte seinen Grund. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Neurasthenie in Mode gekommen, als eine mit Angstanfällen verbundene Nervenschwäche, die ganz besonders in den hektischen Großstädten zu Hause war. Auch und gerade weil ihr Autor Marcel Proust war, wurde die Erschöpfung und Desorientierung des modernen Lebens in Frankreich als Bedrohung, in Österreich-Ungarn dagegen eher als ein Phänomen wahrgenommen, das existentielle Faszination ausüben musste. Sigmund Freuds wissenschaftlicher Durchbruch ist in diesem Zusammenhang zu nennen, ferner der epochale Erfolg von Arthur Schnitzlers Dramen und Novellen, deren eigentliches Thema die Nervenschwäche bzw. die Möglichkeiten der Verfeinerung darstellt. Egon Schieles expressionistisch abgemagerte Figuren spiegeln diese ebenso wider wie die Musik Gustav Mahlers, mit ihrer enormen Spannbreite von morbider Introvertiertheit und manisch-grandiosen Ausbrü17 Vgl. Blom (2009), S. 180. 18 Vgl. ebenda, S. 187. 19 Vgl. Brigitte Beier und Uwe Birnstein [u.a.]  : Neue Chronik der Weltgeschichte. Gütersloh [u.a.] 2007, S. 546.

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chen. Und Franz Kafka stand als Großstadt-Beamter und nächtens bis zur Erschöpfung Schreibender mitten im Zentrum dieser epochalen Schwächeerschei­ nung. Zu jener dominierenden Spezies des damaligen Großstadtbewohners zählten in diesen Tagen viele der Intellektuellen. Als der Prager später in eine seiner größten Schreibkrisen geriet, suchte er Hilfe in der Gartenarbeit. Ein nervöser Kopfarbeiter griff zur Selbsttherapie und bot im April im proletarischen Vorort Nusle der dortigen Gärtnerei seine Mitarbeit an. An einigen Nachmittagen hatte er dort bereits ruhig vor sich hin gearbeitet, dann allerdings zog ihn die Tochter des Gärtnereibesitzers ins Vertrauen  : „Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muß hören, daß der Bruder des Fräulein […] sich vor 2 Monaten im Alter von 28 Jahren aus Melancholie vergiftet hat.“20 An diesem Eintrag vom 2. Mai 1913 zeigt sich, dass Louis Bally keine geeigneteren Objekte für seine damaligen Theorien über die Nervenschwäche der Moderne hätte finden können als die damaligen Wiener, Berliner, aber eben auch Prager Dichter. Die Modernität der Flugzeuge, Eisenbahnen und Kaufhäuser fungierte als Ablenkung von der Neurasthenie samt ihren diffusen Angstzuständen. Von daher überrascht es nicht, dass bereits im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts der Durchbruch des Kinos zum internationalen Ereignis wurde. Frankreich war seinerzeit nicht nur das Land der lichtglänzenden Weltausstellung, in deren Zentrum die Verherrlichung des neu erfundenen Dynamos stand, sondern auch jenes, das in der Produktion von Filmen, von photographischer Ausrüstung sowie in der Film-Distribution führend war  : Der Aufstieg der Firma Pathé-Frères, des größten Kinoproduzenten der damaligen

Zeit, zeigt auch, wie schnell das Kino sich ausbreitete. Die Brüder hatten damit begonnen, Edison-Phonographen nach Frankreich zu importieren, und produzierten auch bald ihre eigene Imitation seines Kinetoskops. 1905 verkauften sie 200 Kameras

und 12 000 Meter Film pro Tag, im Jahr darauf waren es bereits 40 000 Meter täglich

sowie Dutzende von kurzen Filmen, von denen jeweils 75 Kopien angefertigt wurden.

Niederlassungen der Firma wurden 1904 in Moskau, New York und Brüssel eröffnet,

1905 in Chicago und St. Petersburg, ein Jahr später in Amsterdam, Barcelona, Mailand und London, und bald gab es Agenturen in Indien, Südostasien, Südamerika und

20 Franz Kafka  : Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch und Michael Müller [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 557– 558.

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Afrika. 1908 wurden 200 Kopien von jedem Film gemacht, und allein in Frankreich und Belgien gehörten den Brüdern 200 Kinosäle.21

Vor allem in Frankreichs Metropole Paris gelangte das Massen-Kino im großen Stil zur Geltung. Dort wurde, in einem umgebauten Hippodrom, das am Place de Clichy lag, der „Gaumont Palace“ eröffnet, der 1911 bereits Plätze für 3.400 Zuschauer bereithielt. Die Menschen in Europas Großstädten zeigten sich gegenüber der filmisch vermittelten Hysterie, die den damals überall grassierenden Nationalismus und die Ideologie europäischer Überlegenheit betraf, durchaus aufgeschlossen. Nicht erst zu Zeiten von Leni Riefenstahls Filmen und Hitlers damit zusammenhängenden Wahlerfolgen wurden die Kinos, diese neu errichteten ‚Paläste fürs Volk‘, auch zu Zentren politischer Indoktrination. Diese Kino­ kul­­tur gab es bereits in den Tagen der aufkommenden Expressionisten, und ihr Schreiben und Malen wurde davon beeinflusst. In den neuen Tempeln der KinoUnterhaltung verwirklichte sich nicht nur eine neue Modernität, indem die Massenhaftigkeit des Menschen und seine taylorisierte Arbeit ins Bild geholt wurde, ganz wie in Kafkas Verschollenem  – auch die nationalen Feindbilder erlangten dort eine bewegte und schon bald omnipräsente Gestalt. In Frankreich waren die chauvinistischen Erregungen nicht geringer. Es gibt eine entsprechende Beobachtung Stefan Zweigs, des unerreichten Chronisten der „Welt von Gestern“, eines Schriftstellers, der in der Vorkriegsepoche eben nicht nur in nahezu allen europäischen Ländern, sondern auch in deren Kinos zu Hause gewesen war. Dass in den Jahren des Vorkriegs gerade deutschsprechende, assimilierte Juden aus der Donaumonarchie, wie etwa Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und eben Zweig, den französischen Nationalismus ganz entschieden fürchteten, hatte seine Gründe. Die wiederum lagen nicht nur im Dreyfus-Prozess beschlossen, sondern auch in einem volkstümlichen Umfeld, das im frühen Kino sich ebenfalls zeigte, wie Stefan Zweigs Beschreibung offenbart  : In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz spontan in

dem dunklen Raume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie und pfiff, Frauen,

Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich beleidigt hätte. Die gutmütigen

Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Panik und Welt, als was in ihren

Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. […] ich spürte, wie weit die

Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten 21 Blom (2009), S. 359.

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sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und

Soldaten bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, dass selbst ein flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten konnte. […]

Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich das in

Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so erschüttert.22

Die Welt hatte auf diese moderne Weise begonnen, sich auch in bewegten Bildern zu spiegeln, wodurch lokale Bühnenschauspieler wie Sarah Bernhardt zu Weltstars des jungen Kinos wurden. Die Bilder, die das Laufen lernten, waren die Begleiterscheinung einer durchgreifenden Globalisierung. Die Europäer aßen jetzt Fleisch aus Neuseeland und Argentinien, ihr Brot wurde mit kanadischem und russischem Mehl gebacken, Tee und Kaffee kamen aus diversen Kolonien. Diese Welt der global operierenden Zwischenhändler, denen Kafka im Verschollenen mit dem amerikanischen Onkel eine Gestalt gab, stand nicht nur im Zeichen der großen Ozeandampfer, sondern gerade auch in jenem des ‚Lichtspiels‘. Daneben sahen die Vorkriegsjahre eine Gleichstellung der Juden, die im Zuge der bürgerlichen Emanzipation vor allem in Mitteleuropa millionenfach die östlichen Ghettos hinter sich ließen, um „sich in ihre Gastgesellschaften einzugliedern und sich deren Kultur zu eigen zu machen, was ihnen mit überwältigendem Erfolg gelang“  : „Niemand sonst hatte in dieser neuen Situation so viel zu gewinnen und so wenig zu verlieren.“23 Gerade die neue Kinound Konsumwelt war eine jüdisch-assimilatorisch dominierte. In Paris waren die berühmten „Galeries Lafayette“ ebenso in jüdischem Besitz wie in London „Marks & Spencer“ und in Berlin die Kaufhäuser von Tietz oder Wertheim. Rudolf Mosse, der Verleger, und Walter Rathenau, der Großindustrielle und Großintellektuelle, der in Musils Mann ohne Eigenschaften als die Figur des Paul Arnheim wiederkehrt, waren bekannte Repräsentanten dieser liberalen Entwicklung im Deutschen Reich. Dabei fand die nervöse und genussorientierte Epoche mit repräsentativem Konsum und erregendem Lichtspiel-Besuch in den verehrten Helden der Moderne auch ihr besonderes, zunehmend antisemitisches Feindbild. Seit Dreyfus stand den immer einflussreicher werdenden Judenfeinden in ganz Europa, und durchaus auch in Frankreich, das Hassobjekt symbolisch vor Augen  : 22 Stefan Zweig  : Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1989, S. 245. 23 Blom (2009), S. 383.



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Juden wurden zum Symbol der „entwurzelten“ Moderne mit ihrer nervösen Erregbarkeit, ihrer kapitalistischen Ausbeutung und ihrer „vaterlandslosen“ Internationalität.

Sie wurden auch, wie emanzipierte Frauen, zum Sündenbock für die Krise der Männlichkeit, der männlichen Angst, durch selbstbewußte Frauen und mächtige Maschinen der eigenen Rolle beraubt und damit im Grunde kastriert zu werden.24

Dieser Komplex hing seinerseits mit den ‚sozialen Energien‘, den bestimmenden Themen der Vorkriegsjahre zusammen. Nicht zufällig fiel in das Jahr 1912 der erste Internationale Eugenetik-Kongress, abgehalten vom 24. bis zum 29. Juli in London. Das wissenschaftliche Großereignis verfolgte das Ziel, die menschliche Rasse genetisch zu verbessern. Trotz der fürchterlichen politischen Folgen, die diese Denkrichtung später mit der eliminatorischen Scheidung der Menschheit in „Übermenschen“ und „Untermenschen“ zeitigte, glaubten die Wissenschaftler, die sich auf diesem Kongress versammelten, der Humanität zu dienen. Englische Gelehrte hatten inzwischen Gregor Mendels Vererbungslehre wiederentdeckt und daraus eine neue Wissenschaft, eben die Eugenetik, abgeleitet. Ihr Prophet war Francis Galton, sein Credo war das eines Kolonialisten. Aus heutiger Sicht betrachtet, führten die Überzeugungen jener Bewegung, der sowohl Virginia Woolf als auch Karen Blixen anhingen, um nur zwei bedeutende Namen zu nennen, letztendlich in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. In der Vorkriegszeit galt zwar immer noch  : „Die Macht der Wissenschaft war absolut, und die vorgebrachten Argumente beruhten auf ‚objektiven‘ Faktoren, auf unbestechlichen Zahlen und nicht auf sentimentalen, irrigen Ideen.“25 Doch die Gegenbewegungen waren bereits mächtig geworden. Sie besaßen ihren Rayon nicht nur im Kino und der darwinistischen Wissenschaftsgläubigkeit, sondern auch in der Presse. Ein Blick in die damalige Morgenlektüre der Familie Kafka mag hier weiterhelfen. Wer die Zeitung „Bohemia“ aus den fraglichen Tagen studiert, entdeckt Aufschlussreiches. Das Blatt hatte seit Wochen mit Regelmäßigkeit über die türkische Krise berichtet,26 stets an prominenter Stelle, auf der ersten oder zweiten Seite, so auch am 7.  September 1912  : „Einer Meldung der ‚Times‘ aus P e t e r s b u r g zufolge war die gestrige Petersburger Börse durch K r i e g s g e r ü c h t e beeinflußt. B u l g a r i e n , S e r b i e n und G r i e c h e n l a n d sollen angeblich ernsthaft ein gemeinsames 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 420. 26 Das ist etwa in den Morgen-Ausgaben vom 1., 8. und 18. August 1912 der Fall.

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Vorgehen g e g e n d i e Tü r k e i beratschlagen.“27 Solche Meldungen durchziehen die „Bohemia“ wie ein rotes Band, jeweils mit agitierenden ­Hervorhebungen versehen. Am 21. September schließlich wird über Kämpfe an der montenegri­ nisch-­türkischen Grenze berichtet,28 später über von der Türkei zurückgehaltenes, für Serbien bestimmtes Kriegsmaterial29 sowie über bedrohliche Manöver in Bulgarien30. Und am 7. Oktober 1912 schlug schließlich der eigentliche Blitz ein. Da lautete die „Bohemia“-Schlagzeile ganz lapidar  : „Der Balkankrieg.“31 Da war es nicht mehr weit bis zum Weltkriegsausbruch. Spätestens mit Beginn des Zweiten Balkankriegs war dieser zu jener virtuell-alptraumhaften Wirklichkeit gereift, die dieser in Kubins Radierung „Der Krieg“ besitzt  : […] der Gott Mars als barbarischer Koloß, ein Berg aus Helm, Brustkorb, Schild und

Hoden, in der Hand die vernichtende Axt und Beine so schwer wie Häuser, eine Figur, die direkt aus Wagners kranken Gewaltphantasien herauszustampfen scheint, ein seltener Moment der männlichen Macht in Kubins Werk.32

Kubins Koloss besitzt die gleiche Kraft wie der in der Vorkriegszeit gefeierte Dynamo und das neue Turbinen-Antriebssystem der ‚Dreadnoughts‘  – stampfend strebt dieser die Vernichtung alles Andersartigen an, geradewegs auf den Weltkrieg sich zubewegend. Das bislang dynamischste Zeitalter des ‚alten‘ Kontinents hatte zugleich eine nie zuvor gekannte Zukunftsangst hervorgebracht. Die Belle Époque war immer eine janusköpfige Epoche gewesen, die wir im Wissen darum, was nach ihr kam, lange Zeit verklärt haben. Ein weiteres Zitat von Philipp Blom sei hier sozusagen in den Vorabend des Kriegsausbruchs gestellt  :

27 O. A.: „Die türkische Krise. Alarmgerüchte an der Petersburger Börse“. In  : Bohemia (AA), 7. September 1912. 28 Siehe o. A.: „Die türkische Krise. Neue Kämpfe an der Grenze Montenegros“. In  : Bohemia (AA), 21. September 1912. 29 Siehe o. A.: „Die Wirren in der Türkei. Ein türkisch-serbischer Konflikt. – Serbiens Kriegsmaterial zurückgehalten“. In  : Bohemia (MA), 23. September 1912. 30 Siehe o. A.: „Die türkische Krise. Ernste Lage in Bulgarien“. In  : Bohemia (AA), 23. September 1912. 31 O. A.: „Der Balkankrieg. Erste Grenzkämpfe. – Die Türken vor Varna. – Berchtold nimmt Frankreichs Vorschlag an. – Kollektivschritt oder österreichisch-russisches Mandat  ?“. In  : Bohemia (MA), 7. Oktober 1912. 32 Blom (2009), S. 443.

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Die Kehrseite dieser Dynamik war die Angst  : Angst vor der Degenerierung, Angst vor dem Niedergang, Angst, vom allgemeinen Fortschritt abgehängt zu werden, und

Angst davor, was dieser Fortschritt bringen würde. Konservative Denker sagten das

Ende der Zivilisation voraus […], und mächtige Staaten beäugten argwöhnisch die

militärische Macht der anderen. Niemals zuvor hatte es so viele Gründe gegeben,

optimistisch zu sein  – und niemals zuvor hatte es der Zukunft gegenüber so viel

Skepsis gegeben.33

Mit der neuen Welt-Angst hatte sich das europäische Denken gegen sich selbst gewandt, denn die „philosophische Vernunft hatte ihre eigenen Bestandteile angegriffen (Sprache und Wahrnehmung), und das Echo von Nietzsches Beschreibung der Wahrheit als ‚bewegliche Armee von Metaphern‘ […] hallte in den Köpfen seiner Nachfolger wider“  : „Die Vernunftgesellschaft raste mit unbekanntem Ziel voran, und die Vernunft selbst geriet unter Verdacht, am allgemeinen Schwindelgefühl schuld zu sein, den Taumel der Welt verursacht zu haben.“34 Zeugen einer Epoche, die für ihre Zeitgenossen schön und schaurig in einem gewesen ist, findet man hierbei vor. Ihr erstes Phänomen war, wenn man so will, der Triumph der „veristischen“ „Tosca“-Oper im Jahr 1900, mit ihrem Tenorgesang aus der Folterkammer und dem Erschießungstod,35 das dann mit dem Skandal um Strawinskis „Frühlingsopfer“ am Vorabend des Weltkriegsausbruchs eine entscheidende Verstärkung fand. Musik war der erste Indikator dieser Epoche. Das skandalöse Kunstereignis des Jahres 1913, das am Abend des 29.  Mai sich in Paris ereignete  – im immer noch hergebrachten Mittelpunkt der Weltkultur  –, bestätigt diesen Befund. Dass eine junge Frau geopfert werden musste, um das anbrechende Frühjahr zu feiern, und der Ballettstar Nijinsky wie ein tanzender Faun, nackt unter seiner Balletthose, dies mythisch-lasziv zelebrierte, brachte den scharfsichtigen Zeitdiagnostiker Harry Graf Kessler am 29. Mai 1913 zu folgendem Tagebucheintrag  : „Eine ganz neue Choreographie und Musik […]. […] Wildheit in Unkunst und zugleich in Kunst  : alle Form verwüstet, neue plötzlich aus dem Chaos auftauchend.“36 Vor einem kultivierten Publikum brachte Strawinskis neue Musik jetzt erschreckend 33 Ebenda, S. 461. 34 Ebenda, S. 471. 35 Siehe hierzu den Kafka-Aufsatz „Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘. Eine dichte Beschreibung der dispositiven Funktion des Weltkriegs“. 36 Harry Graf Kessler, Band 4  : 1906–1914, hg. von Jörg Schuster. In  : Das Tagebuch. Hg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. 9 Bde. Stuttgart 2005, S. 886.

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„die Urgewalt der archaischen Kräfte auf die Bühne“.37 Eine alte Welt war gerade dabei, unterzugehen  – und die Lichter der Vernunft erloschen. Das „Tosca“Syndrom verwirklichte sich. Von nun an ertönte aller Tenor-Gesang tatsächlich nur noch aus der Folterkammer. Die Expressionisten in Literatur wie Malerei waren berufen, ihn zu vernehmen. Um ein Fazit zu ziehen, sei auf Christopher Clark verwiesen, dessen Kriegsstudie auf ein beachtliches Maß an Zustimmung wie Ablehnung gestoßen ist. In einem Interview äußerte er sich zu den Folgewirkungen des Großen Krieges als „worst-case scenario des zwanzigsten Jahrhunderts“  : „Die Welt von 1913 mit ihrem globalen Handel, ihrem kulturellen Austausch, ihren friedlichen Veränderungen wird in einer Folge von Desastern zertrümmert, vergeudet. Man kann sich keinen schlechteren Start für das Jahrhundert vorstellen.“38 Somit erscheint der erste Krieg als Vorbedingung der zweiten Katastrophe  : „Der Stalinismus mit all seinen Opfern, Hitler, der Holocaust, die Zerstörung der deutschen Städte im Luftkrieg  : Das meiste davon kann auf die Giftdosis zurückgeführt werden, die dieser Krieg Europa injiziert hat.“39 Im Jahr, das dem Kriegsausbruch vorausging, im kalten Januar von 1913, weilten beide Protagonisten des heraufkommenden Totalitarismus, Hitler wie Stalin, in Wien – mithin an dem Ort, von dem Monate später entscheidende, kriegsbestimmende Beschlüsse ausgegangen waren, die schließlich in die Juli-Krise mündeten. Womöglich trafen sich die beiden präsumtiven Diktatoren tatsächlich und ausgerechnet im „Park von Schloss Schönbrunn, der kalt und wohlgeordnet daliegt im Januarschnee“  : Einmal am Tag gibt es eine kurze Aufregung, wenn der Kaiser Franz Joseph das

Schloss verlässt und mit seiner Kutsche in die Hofburg zum Regieren fährt. Unglaubliche fünfundsechzig Jahre, seit 1848, ist Franz Joseph jetzt an der Macht. […]

Stalin geht durch den Park, denkt nach, es dämmert schon. Da kommt ihm ein

anderer Spaziergänger entgegen, 23 Jahre alt, ein gescheiterter Maler […]. Er wartet,

wie Stalin, auf seine große Chance. Sein Name ist Adolf Hitler. Vielleicht haben sich die beiden, von denen ihre Bekannten aus dieser Zeit erzählten, dass sie beide gerne

37 Vgl. Florian Illies  : 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2014, S. 149. 38 Andreas Kilb  : „Gespräch mit dem Historiker Clark. Alle diese Staaten waren Bösewichte“. In  : FAZ Online-Ausgabe, 28. Juli 2014, http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/gespraechmit-dem-historiker-clark-alle-diese-staaten-waren-boesewichte-12587117-p3.html (zuletzt aufgerufen am 17. April 2016). 39 Ebenda.

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im Park von Schönbrunn spazieren gingen, einmal höflich gegrüßt und den Hut ge-

lüpft […].40

Neben diesen essayistischen bzw. fiktionalisierenden Zugängen liegt mit Paul Kennedys beeindruckendem Werk „The Rise and Fall of the Great Powers“ ein wissenschaftlich-historisches Fazit vor  : Behind the frequent colonial quarrels and international crises of the pre-1914 period, however, the decade-by-decade indices of economic power were pointing to even more fundamental shifts in the global balances – indeed, to the eclipse of what had been, for over three centuries, essentially a Eurocentric world system.41

Nachdem in Prag der Expressionist Franz Kafka zur Welt gekommen war, wurde kurz danach, von Ende 1884 bis Anfang 1885, die Berliner West-AfrikaKonferenz abgehalten. Diese ist, dem amerikanischen Historiker zufolge, als symbolischer Höhepunkt der Überlegenheit des ‚alten‘ Europa zu sehen, in dem im Wesentlichen ein noch stabiler Vorkrieg stattfand –42 nämlich in jener Welt, aus der die neue Kunst des Expressionismus kam. Danach setzte ein Gefährdungsbewusstsein nach der Art Oswald Spenglers ein, von Jahr zu Jahr mehr Dominanz erlangend. Gerade die zeitgenössische Boheme (unter Einschluss Sigmund Freuds) sah in Amerika und Russland die bestimmenden Mächte der Zukunft. Der österreichische Beamte Franz Kafka hatte dann beide Nationen mit Der Verschollene und In der Strafkolonie thematisiert. Kennedys bahnbrechende Studie hebt überall die Doppelung der Signale hervor  : entschiedener Fortschrittsglaube und panische Angst vor dem Ende einer als ‚golden‘ erlebten Friedens-Epoche. Schließlich ging in diesen Jahren vor dem Krieg die hergebrachte, rund ein halbes Jahrtausend alte ‚Vasco-da-Gama-Ära‘ zu Ende. Die fünf Jahrhunderte lange globale Herrschaft des ‚alten‘ Europa stand vor ihrem Endpunkt. Glaubt man dem Historiker Kennedy, dann hatte sich dieser bereits vor der Untergangsorgie des Großen Kriegs abgezeichnet.43 In dieser Vorkriegszeit stand eine geradezu omnipräsente Angst vor dem eigenen Abstieg neben einem ebenso verbreiteten Fortschrittsglauben. Die hieraus 40 Illies (1913), S. 26–27. 41 Paul Kennedy  : The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. London [u.a.] 1988, S. xviii–xix. 42 Vgl. ebenda, S. 194. 43 Vgl. ebenda, S. 244.

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hervorgehende Literatur besitzt in Edward Munchs „Schrei“ ihren malerischen Gegenpart. Den sprichwörtlich gewordenen „Untergang des Abendlandes“ schrieb mit Oswald Spengler doch tatsächlich ein Mann, der in seinen Schriften bekannte  : „Wenn ich mein Leben betrachte, ist es ein Gefühl, das alles, alles beherrscht hat  : Angst, Angst vor der Zukunft, Angst vor Verwandten, Angst vor Menschen, vorm Schlaf […], vor Krieg, Angst, Angst.“44 Die neueste und heftig diskutierte Forschung zu den Umständen des Kriegsausbruchs hat vor Kurzem deutlich gemacht, dass nicht eine einzige europäische Macht, sondern eine im System wirkende Intentionsverkennung zwischen den Mächten die Katastrophe ermöglichte  : „Ein auffälliges Merkmal der Interaktionen zwischen den europäischen Exekutiven war die andauernde, allenthalben anzutreffende Ungewissheit über die Intentionen der Freunde ebenso wie die potenzieller Feinde.“45 Weiter heißt es bei Clark  : „Veränderungen in den Machtverhältnissen innerhalb jeder Regierung – im Verein mit rasch wechseln­ den objektiven Rahmenbedingungen – riefen wiederum […] die zweideutigen Botschaften hervor, die für die Vorkriegskrisen so charakteristisch waren.“46 Die gleichen zweideutigen Botschaften beherrschen die Romanwelten Kafkas, die seit der Jahrhundertwende zu entstehen begannen (der Verschollene geht noch auf seine Schulzeit zurück) und dann bei Weltkriegsausbruch eine zeitgeschichtliche Gestalt annahmen. Die Schlafwandler des Historikers Clark bewegen sich in einem Sinn-Feld gleitender Paradoxe wie es auch die Personage des Kierkegaard-Lesers und Weltkriegs-Schreibers Franz Kafka tut. In beiden Fällen werden damit Phänomene beschrieben, die später, im totalitär gewordenen 20. Jahrhundert, das Beiwort ‚kafkaesk‘ erhielten. Es ist einschlägig mit paranoider Weltwahrnehmung und Kommunikationslosigkeit, mit albtraumartiger Gewalt und Angst als neuer Grundbefindlichkeit verbunden. So bleibt abschließend nur, sich auf den französischen Dichter und Essayisten Paul Valéry zu beziehen, der im Jahr 1919 in der Rückschau erkennen sollte, dass der Glaube an die europäische Kultur in seiner bisherigen Form hinunter gegangen und die Liste der bedeutenden Kulturen der Vorzeit nun um Europa

44 Oswald Spengler  : Eis Heauton – autobiographische Aufzeichnungen. Herausgegeben von Detlef Felken. In  : Der Aquädukt. 1763–1988. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens. München 1988, S. 79–87, hier  : S. 86. 45 Christopher Clark  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013, S. 469. 46 Ebenda, S. 712.



Über die Angst des Vorkriegs |

zu erweitern war.47 Ein Neuanfang war kaum noch zu erwarten  – und doch gab es immer noch jene, die wie Stefan Zweig und Romain Rolland an einen Neustart im Sinne der Völkerverständigung glaubten.

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47 Siehe Buelens (2014), S. 357–358.

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Österreichische Wahrsager des Expressionismus Endzeitglaube und Weltgericht bei Franz Kafka, Georg Trakl und Karl Kraus

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Das expressionistische Verfahren, die Erschütterungen der Innenwelt zum motivischen Zentrum zu erheben, ging vornehmlich auf wissenschaftliche Einsichten revolutionärer Art zurück – wie Freuds Diktum vom Ich, das „nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ –,1 die als solche auch in der Literatur der klassischen Moderne anzutreffen waren. Doch während die psychoanalytische These vom triebhaften Menschen besonders auf einen expressionistischen Nährboden fiel, entsprach das zugrunde liegende Modell aus Es, Ich und Über-Ich, das die Vorgänge der Psyche zu verstehen half, eher dem grundsätzlichen und allgemeiner gehaltenen Interesse der klassischen Moderne. Das vorrangige Auftreten des Expressionismus im deutschen Sprachraum war bedingt durch ein gesteigertes Krisen- und Untergangsempfinden. Vor dem Hintergrund der politischen Spannungen besehen, die in Europa das Tagesgeschehen bestimmten, stellte sich damals eine Radikalisierung der Zukunftsängste ein. Wiewohl das deutschöster­reichische Haus der Habsburger über Jahrhunderte hinweg eine erfolgreiche Expansionspolitik betrieb, und so die Grenzen des Reiches stetig erweiterte – so dass darin die Sonne tatsächlich niemals unterging, wie der spanische König Karl  V. erklärt haben soll  –,2 zeichnete sich mit dem Aufkommen der Nationalitätenfrage und dem Sozialismus früh die Gefahr eines Zerbrechens des Vielvölkerreiches ab. Mit den diplomatischen Verwicklungen, die dem Thronfolgerattentat folgten, war bald ein krisenhafter Höhepunkt erreicht. Deutschland blieb von solchen Irritationen des Machtgefüges, die nicht allein die Donaumonarchie betrafen, keineswegs verschont. Jenes Angst-Empfinden beeinflusste den Affekthaushalt der Zeitgenossen und wurde spätestens mit dem Kriegsaus1 Vgl. hierzu den Aufsatz „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“  : Sigmund Freud, Band 12  : Werke aus den Jahren 1917–1920. In  : Gesammelte Werke. 18 Bde. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. Frankfurt a. M. 1986, S. 11. 2 Hierbei handelt es sich um eine historisch nicht belegte Zuschreibung, deren Authentizität nicht überprüft werden kann.

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bruch entweder als betont ‚vaterländische‘ Gesinnung offen zur Schau getragen oder im Stillen durchlitten. Diese Übertragung,3 der insbesondere die Künstler ausgesetzt waren, erfolgte vor allem im urbanen Raum, in den Großstädten, in denen die Ängste und Aggressionen vor dem unbekannten Neuen kulminierten und sich gegen den technischen Fortschritt oder das Kapital als Feindbilder wandten. Obwohl die expressionistischen Logiker der Innerlichkeit dem Gesetz der Subjektivität verpflichtet waren, das zuweilen in einer losen poetischen Verbindung mit der Faktizität der Außenwelt stand, sagten wichtige Vertreter der Lyrik, der Prosa und des Dramas früh eine geschichtliche Zäsur vorher, die das Schicksal ihrer Nation betraf. Nach dem Untergang von Österreich-Ungarn blieb im Gegensatz zu Deutschland, das ebenfalls den schweren Gang in die Zwischenkriegszeit anzutreten hatte, lediglich das Kernstück der österreichischen Länder zurück. Die Stilrichtung des Expressionismus nimmt auch deshalb eine beachtenswerte Position im neuzeitlichen Aufklärungs- bzw. Mündigkeitsprozess ein, weil sich an vielen ihrer Repräsentanten ein Wandel beobachten lässt, der die Haltung zu den religiösen Mythen und den weiteren philosophischen Modellen betrifft, ohne dass dabei jedoch eine grundsätzliche Abkehr von eben diesen erfolgte.

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Folglich gelten bedeutende Vertreter des österreichischen Expressionismus als Verkünder eines Endzeitgedankens, der sich zum Teil noch immer theologisch fundiert, in einem glaubens-ideologischen Anspruch zeigt. In Kafkas Fragment­ romanen, die eine Trilogie der ‚Vertreibung des Menschen aus der Welt durch Gott‘ bilden, formiert sich solch ein eschatologisches Konzept. In seinen markantesten Umrissen erscheint diese Endzeitkonzeption im Prozess, in einem Roman, der schon durch seine personale Erzählweise dem Spektrum der Moderne zugehört. Existentielle Gefahrenmomente entstehen dadurch, dass die Figur des Josef K. zum Angeklagten eines christologischen Weltgerichtes gerät, das vor städtischer Kulisse mit einem Behördenapparat operiert, der keineswegs 3 Siehe zu Freuds Übertragungs-Terminus  : Sigmund Freud, Band 8  : Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. In  : Werke aus den Jahren 1909–1913 = Gesammelte Werke. 18 Bde. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. London 1943, S. 104–115.



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dem Zwecke höherer, göttlicher Gerechtigkeit dient, sondern einzig dem Ziel, dem Angeklagten ein Schuldurteil zu sprechen. Kafkas Prozess-Roman, der zwischen 1914 und 1915 entstand, gibt so einen Defätismus wieder, der nicht nur ihn als Zeitgenossen, sondern die Bewohner der Donaumonarchie im Allgemeinen geprägt hatte. Indem Kafkas Weltgericht nicht länger die Idee eines gerechten Christengottes vertritt, erscheint der Prager, neben seiner Bedeutung als Expressionist, mit Einschränkungen auch als Vertreter der aufklärerischen Idee, was ihn dem zeitlichen Makrorahmen der Moderne bzw. Neuzeit zurechenbar macht. Dass der aus westjüdischem Haushalt stammende Autor, im Rahmen seiner still vollzogenen Konversion zum Christentum,4 dem neuen Glauben keineswegs in einem säkularisierten Sinn zusprach, ändert nichts an der Tatsache, dass Kafka die Neubestimmung des modernen Menschen, der sich von seinen politischen, wissenschaftlichen wie religiösen Banden zu lösen begann, aus der ihm gegebenen Perspektive vorzunehmen suchte.5 Bemüht man sich um Lebenszeugnisse, die in Anbetracht der großen Katastrophe entstanden, scheint Kafka von den zeitgeschichtlichen Vorgängen, die sich zu Beginn der zweiten Dekade abzeichneten, bloß auf den ersten Blick abgekoppelt gewesen zu sein. Die trügerische Tagebuchnotiz vom 2.  August des Jahres 1914 zeigt einen scheinbar gleichgültigen Kafka, der den sich anbahnenden Weltkrieg lapidar zur Kenntnis nahm  : „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt.  – Nachmittag Schwimmschule[.]“6 Jenes Notat entbehrt der verhängnisvollen geschichtlichen Dynamik, die nach dem Attentat von Sarajewo sich in Gang setzte, und lässt eine gewisse Gleichgültigkeit vermuten. Bezieht man Kafkas literarisches Schaffen in die Untersuchung ein, ergibt sich jedoch ein radikales Gegenbild. Dann scheint es, als ob Kafka sich erst unter dem Eindruck des 4 Siehe den entsprechenden Aufsatz des Vf.: F. K.: Von der westjüdischen Assimilation zur stillen Konversion. In  : Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum. Hg. von dems. Würzburg 2012, S. 73–89. 5 Siehe hierzu die dreibändige Kafka-Gesamtdarstellung des Vf., die zwischen 2007 und 2009 bei Lang erschien  : Franz Kafkas Roman-Trilogie. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (= Europäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1955). Frankfurt a. M. [u.a.] 2007  ; Franz Kafkas Erzählungen. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (= Europäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1964). Frankfurt a. M. [u.a.] 2008 u. Franz Kafkas Aphorismen und Nachlasserzählungen in Auswahl. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (= Europäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1976). Frankfurt a. M. [u.a.] 2009. 6 Franz Kafka  : Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch und Michael Müller [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 543.

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militärischen Unheils an eine Niederschrift von religiös fundierten Weltgerichts­ phantasien machte.7 Was in den Tagebüchern weitgehend ausgespart blieb, formulierte er mit literarischen Mitteln sodann auf eine Weise, die eng die aktuell sich ereignende Zeitgeschichte und die als modern geltende Aufklärungsidee miteinander verband. Kafkas Literatur rekurriert auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die in ihrer revolutionären Bedeutsamkeit für ein tendenziell negativistisches Denken sorgten. Die philosophische Frage nach der Willensfreiheit erfuhr durch den Prager, der hierbei auf den Schultern Freuds thronte, eine strikt deterministische Abhandlung, mit der keinerlei Freiraum für Selbstbestimmtheit verbleibt. Kafkas Skeptizismus liegt der Glaube an einen christlichen Ungott zugrunde. Die glaubenskritische These, dass die Erbsünde dem Menschen in die Wiege gelegt worden sei, begründet Kafka mit der Einflusskraft einer alles durchdringenden Trieb- und Bedürfnissphäre. Freuds Thesen folgend, rechtfertigt der Autor seine Überzeugung mit einem archaischen Es, das die Lebensziele aus den Bereichen Liebe, Arbeit und Gesellschaft nicht allein verbindlich vorgibt, sondern auch das Handeln selbst latent bestimmt. Immerhin konzipierte der Prager mit dem Typus der intellektuellen Ausnahmeexistenz, dem er sich selbst zugerechnet hatte, die Möglichkeit eines Ausbrechens aus diesem strikt deterministischen Bahnenfeld. Mit dem herkömmlichen Existenztypus, der Kollektivexistenz, der es an der erforderlichen intellektuellen Befähigung gebricht, zeigt sich dagegen ein vorherbestimmter Lebenslauf. Aber beide Existenzformen verbindet laut Kafka ein Lebensende, das den materialistischen Tod zu einem endgültigen macht. Die Ermordung des Angeklagten Josef K., mit der sein Gerichtsverfahren halb- bzw. inoffiziell endet – in Form eines nicht artikulierten Todesurteils –, wie er in den letzten Augenblicken seines Lebens zu erkennen hat, erfolgt nicht von ungefähr durch zwei marionettenhaft sich gebärdende Henker, die in ihrem mechanischen Gehabe und den starren Ritualen abstrakt-poetisch das determinierende Wesen der Lebensordnung figurieren. Dass Kafkas Wahl zu dieser Zeit ausgerechnet auf den neutestamentarischen Weltgerichtsstoff fiel, hatte nicht ausschließlich literarisch-rhetorische, sondern auch glaubens-empirisch verbindliche Gründe. Seine Vorhersage des Jüngsten Gerichtes stellt sich als prophetische Voraussage in einem zweifachen Sinn dar  : 7 Siehe hierzu folgende Annahme zum Schreibbeginn  : „Man wird also den Beginn der ‚Proceß‘Niederschrift auf die Zeit um den 11. August 1914 eingrenzen können“, Franz Kafka  : Der Proceß. Apparatband, hg. von Malcolm Pasley. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 75.



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erstens in einem politischen, der sich auf den Niedergang des Habsburgerreiches bezog, und zweitens in einem eschatologischen, wobei letzterer den ersteren mit einschloss. Die Motivwahl, die sich mit seinem Schaffen verbindet, bestätigt diese Annahme  : Während der Prozess-Roman Fragment blieb, gelang es ihm, die zudem allegorisch operierende Weltgerichts-Erzählung In der Strafkolonie, die er im Oktober des ersten Kriegsjahres begann, noch im selben Monat abzuschließen. Im zu Beginn der zweiten Dekade entstandenen Amerika-Roman verfährt Kafka auf einem Abstraktionsniveau, das der apokalyptischen Dimension noch entbehrt. Denn mit dem sozialen Abstieg des emigrierten Sohnes, der vom Prager Vater verstoßen wurde, trifft der Autor eine parabolische Vorhersage zum Werdegang der Menschheit. Die betreffende abstrakt-poetische Konzeption, bestehend aus Verstoßung aus dem Paradies und vorgezeichnetem fatalen Menschheitsende, findet ihren finalen Niederschlag im Schlussfragment des „Oklahama“-Theaters, das ungeachtet der vordergründigen Heilsverheißung einen konzeptionell stimmigen Schlusspunkt setzt. Was im später entstandenen Prozess sich umso schmerzvoller zeigt, in Form eines Todesurteils, das durch ein christliches Weltgericht vollstreckt wird,8 bleibt im Verschollenen noch ausgespart. Obwohl auch dieser Roman ein Fragment geblieben ist, können über den weiteren Lebensweg des Protagonisten keine grundsätzlichen Zweifel bestanden haben, sondern höchstens künstlerisch bedingte.9 Einerseits waren die Möglichkeiten, Karl Roßmann einen Tod sterben zu lassen, der die Gotteswesenheit in ihrer Amoral abbildet, aus dem Grund vielfältiger, weil sie nicht von einer im Irdischen wirkenden Weltgerichtsbehörde abhängig waren, andererseits bot die eingesetzte Beamtenschar des Prozesses, die ihre Arbeit auf Dachböden und in ähnlichen Räumlichkeiten verrichtet, erst die Möglichkeit, einen ungerechten Christengott eindrücklich zu inszenieren. Im Schloss-Roman, der im Jahr 1922 8 Der Protagonist, der nach Rechtsstaatlichkeit ruft – „K. lebte doch in einem Rechtsstaat“ –, um dem Walten dieser anonym bleibenden Weltgerichts-Behörde Einhalt zu gebieten, hat immerhin gegen bürgerlich-gesellschaftliche Konventionen verstoßen und ist auch zumindest dabei, auf selbige problematische Weise mit einem göttlichen Gebot zu verfahren  ; vgl. Franz Kafka  : Der Proceß, hg. von Malcolm Pasley. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 11. – Vgl. zu letzterem Aspekt des Bibelgebotes  : Wimmer (2007), S. 145. 9 Die von Brod überlieferte Erklärung, mit der Kafka „lächelnd“ „an“-„deutete“, „daß sein junger Held in diesem ‚fast grenzenlosen‘ Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden werde“, stellt sich als Sarkasmus eines Autors dar, der sich mit seinem Protagonisten weitgehend identifiziert hatte  ; vgl. Franz Kafka  : Amerika. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1963, S. 233.

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entstand und eine thematisch-genetische Fortsetzung der Prozess-Handlung bildet, sieht sich der Leser erneut mit einem Angeklagten solch eines christ­ lichen Weltgerichtes konfrontiert, mit dem bedeutsamen Unterschied, dass diesem zweiten K. die Flucht gelungen ist und sein Bestreben nun einzig darin besteht, vor einem Beamten der höheren administrativen Ebene vorzusprechen. Dessen Suche nach der höheren Behördeninstanz, angesiedelt im mystischen Schloss, erscheint als eine, die zum Zeitpunkt der Entstehung auch den Autor selbst umgetrieben hatte  – blieb Kafkas bei Ausbruch des Weltkrieges getroffene Voraussage eines tatsächlichen Weltgerichtes, das über die Menschheit hereinbräche, doch unerfüllt. Der Große Krieg war mittlerweile Geschichte, doch der globalen militärischen Auseinandersetzung, dem Zusammenbruch der sittlich-zivilisatorischen Ordnung war keineswegs der Jüngste Tag gefolgt. Kafkas politisch-religiöse Doppel-Prophezeiung hatte sich lediglich insofern realisiert, als sie den Untergang des Hauses Habsburg betraf. Von daher wird die Suche des Protagonisten nach göttlichem Heil, narrativ-realistisch ausgestaltet als das Streben eines einzelnen Angeklagten nach endgerichtlichem Recht, auch zu einer biografischen Selbstbeschreibung. Mit dieser biografisch-empirischen Vorbedingung ist zu erklären, dass dieser letzte Fragmentroman lediglich Ansätze eines amtlichen Verkehrens aufweist, während im Prozess noch eine nennenswerte Interaktion mit den Vertretern der Behörde erfolgt.10 Daneben spricht auch der textgenetische Umstand, dass Kafka ursprünglich die Ich-Form angewandt hatte, für erhebliche Überschneidungen von biografischer Autorenund imaginativer Erzählerinstanz. Spricht man über die göttliche Ungerechtigkeit, die bei Kafka leitmotivische Funktion erlangt, dann sind überdies die frühen Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung anzuführen. In diesen frühexpressionistischen, im Jahr 1912 entstandenen Arbeiten nahm sich der Autor bereits jener Themen an, die ihn weltanschaulich bis an sein Lebensende beschäftigen sollten. Aufschluss über die Ursache des irdischen Dilemmas gibt in der Verwandlung die Begegnungsszene zwischen Vater und Sohn. Die als Wurfgeschosse eingesetzten Äpfel, von denen eine passiv verharrende Hauptfigur heimgesucht wird – und keineswegs, wie in der Bibel dargestellt, von diesen als Objekt verbotener Begierde verführt  –, stehen aus abstrakt-poetischer Sicht für eine willensmäßige Determinierung, die den Sündenfall zur Sündenfalle umformt und den urzeitlichen Täter 10 Innerhalb der narrativen Logik des Abschlussromans erklärt sich dies mit dem höheren administrativen Rang, den der Autor der Schloss-Behörde zugedacht hatte.



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in eine göttliche Opferposition rückt  : „Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel.“11 Das beigestellte Adjektiv „elektrisiert“ weckt die Assoziation einer magnetischen Wirkung, womit sich der Aspekt der Passivität noch verstärkt und folglich jener der Unschuld  : „Diese kleinen roten Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und stießen aneinander.“12 Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die an dieser zentralen Stelle der Erzählung anklingen, korrelieren mit der aufklärerischen, vom Prinzip des Logos getragenen Sichtweise, durch die Kafka einen ersten Schritt im notwendigen Prozess der Emanzipierung von scheinbar unverrückbaren Glaubensdogmen setzt. Dass daran die Frage nach den existentiellen Möglichkeiten der Lebensführung geknüpft ist, geht auf die expressionistische Stilrichtung seines Werkes zurück. Während ein „schwach geworfener Apfel“ „unschädlich“ „ab“-„glitt“, „drang dagegen“ ein „sofort nachfliegender“ „förmlich in Gregors Rücken ein“13 – wie der Fortgang der Handlung verrät –, womit die göttlich bedingte Opferrolle des Menschen meta-narrativ zutage tritt. Sinnreich zeigt sich ein physiognomisches Resultat, das den post-paradiesischen Menschen zu einem tödlich verwundeten macht  : „[…] Gregor wollte sich weiterschleppen, als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen  ; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne.“14 Das „[F]estgenagelt“-Sein und die innere Desorientiertheit bezeichnen die Suspension der willensmäßigen Entfaltungsmöglichkeiten. Diese Absenz von Selbstbestimmbarkeit, die nicht zuletzt den Prozess kennzeichnet,15 zeigt sich abgesehen von der symbolischen Käfergestalt (mit ihrer Bewegungsunfreiheit und einem allegorischen Überbau) auch anhand der drei Zimmerherren, die für Ordnung und Sauberkeit einstehen – und damit für eine ungestörte Lebensordnung im Sinne eines euphemistischen Scheinbewusstseins.16 Mit der zeitgleich entstan11 Franz Kafka  : Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler und Hans-Gerd Koch [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 171. 12 Ebenda, S. 171. 13 Vgl. ebenda. 14 Ebenda, S. 171. 15 Auf die philosophische Willensfrage bezogen, legt bereits der Titel des Prozess-Romans den deterministischen Wert der physiologischen Prozesse offen. 16 Die Herren-Figuren aus der in der unmittelbaren Vorkriegszeit entstandenen Verwandlung scheinen auf den religiös-mythologischen Weltgerichtsansatz vorauszudeuten, der bei Kafka in einer Vorhersage des Jüngsten Gerichtes mündet. – Siehe Bernd Neumanns Aufsatz „Franz Kafkas nächtliches

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denen Urteils-Erzählung, in der die Willensthematik durch die Vatergestalt – als weiteren Repräsentanten eines amoralischen Christengottes – ebenfalls parodistisch-kritisch anklingt, kommt der beabsichtigten Heirat eine unmittelbar auf den Sündenfall bezogene Bedeutung zu. Weil Kafka einen Ungott zum Regisseur einer Lebensordnung macht, dem bereits der Urmensch zum Opfer fiel, mag es nicht überraschen, dass die Verlobung in einem parabolischen Kongruenzverhältnis zur (auch symbolischen) Vater-Figur steht, die den Plan der Heirat, gedacht als autonomer Willensakt des Sohnes, zu hintertreiben versteht. Diese allegorische Erweiterung der narrativen Basis verhandelt ein dem Menschen gegebenes Endschicksal, das schon der Erzähltitel benennt – ein Todesurteil. In diesem Kernpunkt von Kafkas religiösem Defätismus angekommen, bleibt festzuhalten, dass mit den genannten Prosa-Arbeiten eine gemeinsame, gleichlautende Grundaussage erfolgt. Erst in der thematischen Gewichtung lassen sich Unterschiede ausmachen, die auf eine Rückkoppelung mit den zeitgeschichtlichen Umbrüchen zurückgehen. Dass einige seiner Arbeiten in der expressionistischen Reihe „Der Jüngste Tag“ erschienen, die Kurt Wolff herausgab, stellt ein weiteres Indiz für den Zukunftspessimismus einer Zeit dar, an dem auch verlegerisch partizipiert wurde. Dem Befund, dass Kafkas Untergangserwartung enttäuscht wurde, durch das Ausbleiben des Jüngsten Tages, entspricht der thematische Schwenk, den dieser Vertreter des Expressionismus im Zuge der Nachkriegszeit vollführte. Beurteilt man die vier Erzählungen des Bandes Ein Hungerkünstler, die aus den 20er-Jahren stammen, wird ersichtlich, dass der Autor die Darstellung eines christlichen Weltgerichtes schließlich zugunsten der Beschreibung von Individual-Existenzen aufgegeben hatte. Abgesehen von Eine kleine Frau, widmete der Autor die Band-Erzählungen, Erstes Leid, Ein Hungerkünstler und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, der Frage, welche Voraussetzungen für ein gesellschaftlich beachtetes Künstlertum notwendig seien. Selbst in Eine kleine Frau spricht Kafka das Kunstthema zwar nicht explizit an, doch offenbart die anklägerische Sicht der Frauenfigur lebensgeschichtliche Übereinstimmungen. Die Josefine-Erzählung, die einer einschlägigen Weltanschauung entbehrt, beschreibt stattdessen die anthropologisch-existentielle Grundlage für ein öffentlich gelebtes Künstlertum. Erneut manifestiert sich eine Anbindung an Autobiografisches, die im Fall dieser Erzählung die Musikaufführung zur öffentlichen Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘. Eine dichte Beschreibung der dispositiven Funktion des Weltkriegs“, der der Frage der Auswirkungen der Balkan-Kriege nachgeht.



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Lesung werden lässt, und zwar von Literatur, die auf die breiten Massen erbaulich wirkt. Erstes Leid präsentiert mit seiner Trapezkunst einen allegorischen Überbau, in dessen Zentrum erweiterte Fragen der Kafka’schen Weltsicht ­stehen. Die Weltgerichtsbarkeit an sich wird lediglich in Eine kleine Frau zum Thema gemacht – allerdings auf eine inhaltlich implizite Weise einerseits sowie mittels formal-lexikalischer Verweise andererseits. Mit Ein Hungerkünstler stellt sich insofern eine thematische Zwischenstellung ein, als darin die Abhandlung der Willensfrage unter Anbindung an den christlichen Glauben erfolgt, indem das allmähliche Schwinden der ideologischen Wirkkraft auf die Gläubigen dargestellt wird. Diese Themenreihung, die eine Abwendung vom Weltgerichtsstoff beschreibt, gründete auf dem werkgenetisch bedeutsamen Umstand, dass die im Jahr 1922 ins Stocken geratene Arbeit am Schloss-Roman von jener an den Hungerkünstler-Erzählungen abgelöst wurde.17 Gemeinsam mit den drei übrigen Erzählungen des Bandes zeichnet sich dadurch ein motivischer Schwenk ab, der kennzeichnend ist für Kafkas spätexpressionistische Literatur. Diese zeigt sich vom Abklingen eines einst akut gewordenen Krisenempfindens geprägt, unter partieller Beibehaltung eines christlich-religiösen Bezugssystems jedoch. Mit Franz Kafka verbindet Georg Trakl, der für die Forschung ebenfalls eine nachhaltige Herausforderung dargestellt hat,18 nicht allein eine Innerlichkeit der Finsternis, die typologisch die Literatur des Expressionismus prägt. Bereits in den Gedichten des ersten Lyrikbandes von 1913, ebenfalls in der Buchreihe „Der Jüngste Tag“ erschienen, entwirft Trakl eine religiöse Weltsicht, die das Dilemma des Menschen im frühen 20. Jahrhundert (vornehmlich des habsburgisch-österreichischen) exemplarisch definiert.19 Sein Gedichte-Band beschreibt eine dichte Atmosphäre existentieller Gefahrenmomente, die motivisch einsetzt mit Die Raben und deren „Leichenzug“20 und sich mit dem zweiten Stück, Die 17 Im Jahr 1922, nach „ersten Schwierigkeiten bei der Romanniederschrift“, begann Kafka Erstes Leid und danach Ein Hungerkünstler zu schreiben  ; die beiden übrigen Erzählungen entstanden in den darauffolgenden Jahren  ; vgl. Franz Kafka  : Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, hg. von Wolf Kittler und Hans-Gerd Koch [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 408–409 u. S. 437. 18 Siehe zu Forschungsverlauf und dessen Voraussetzungen etwa  : Trakl und die Trakl-Deutung. In  : Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Otto Basil (= rowohlts monographien  ; 106). Reinbek bei Hamburg 1989, S. 7–17. 19 Bei Trakl ist auch das nicht zu Lebzeiten veröffentlichte Œuvre, das von beträchtlichem Umfang ist, in die Interpretation miteinzubeziehen. 20 Vgl. Georg Trakl  : Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Wal-

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junge Magd, fortsetzt  : Ihr „gelbe[s]“ Haar (9/10) wird einem Äußeren zugerechnet, das einem „Schatten“ „gleichet“ (9/9), unter der beispielhaften Anwesenheit von „schrei[e]n[den]“ „Ratten“ (9/11).Und ihre „von Verfalle“ „umschmeichelt[en]“ (9/12) „Lider“ (9/13), zu denen ein ebenfalls „im Verfalle“ begriffenes „Gras“ hinzutritt (9/14), machen deutlich, dass der Trakl’sche Weltschmerz Mensch, Tier wie Natur gleichermaßen umfasst. Der leidvolle Grundton, der oberflächlich zwischen Sündenfall und Erbsünde changiert, setzt sich in allen weiteren Stücken der Gedichte fort und wird nur stellenweise durchbrochen, etwa durch die Beschreibung einer Lichtmetaphorik, die  – mehr verhohlen denn heilsgewiss – ein banges Hoffen auf Erlösung abbildet. Eine solche Heils-Phänomenologie liegt stets in der Wahrnehmungsebene eines hoffenden Ichs begründet und dient zuweilen dem Zweck der Verfremdung. Ein Beispiel für die undurchdringliche Dunkelheit, welche die bei Trakl keineswegs raren Lichterscheinungen letztlich weltanschaulich okkupiert, hermetisch in sich einschließend, ist etwa mit Rondel gegeben, mit dem „[v]erflossen[en]“ „Gold der Tage“ (14/6) und des „Abends braun und blaue[n] Farben“ (14/3) – in Form einer zeitlichen Restriktion der Naturphänomene, mündend in die Nacht. Selbst im Gedicht Die schöne Stadt, das der Verheißung des Titels weitgehend gerecht wird, besorgt die Anbindung an Monastisches – „Traumhaft hasten sanfte Nonnen“ (15/4) – und an Geistliches – „Aus den braun erhellten Kirchen / Schaun des Todes reine Bilder“ (15/6–7) – eine Relativierung des lyrischen Heilstones, die Böses erahnen lässt. Unverdorbenes und Nicht-Verfallenes zeigt sich am ehesten noch in Frauensegen, teils durch eine topografisch bedingte Sinneswahrnehmung  – der „Wein“, der „[g]olden reift“ (15/7)  –, teils durch das bloße Fehlen von Unversöhnlichem. Dennoch deutet sich mit dem „Mohn“, der „verblüht“ (15/5) – zeitlich „bange[n] Tage[n]“, die da „kommen“, zugeordnet (15/4) –, sowie mit der „klirr[enden]“ „Sense“ (15/9), dem „roll[enden]“ „Tau“ (15/10) und den „nie­der­ fließen[den] Blätter[n]“ (15/11) zugleich eine Gegenbewegung an, die unterminiert, was scheinbar positiv daherkommt. Der „Mohr“, „braun und rauh“ (15/13), verstärkt als orientalisches Element, das auf die Geburtsstätte des Christentums verweist und den tradierten Heilsbringer in den ausgebreiteten NegativitätsRahmen stellt, den revisionistischen Zug noch. Trakls religiöser Defätismus, der mit seiner Weltsicht unauflösbar verknüpft ist, tritt deutlich in dem Gedicht Menschheit hervor, das die aufschlussreichen Verse „Hier Evas Schatten […]“ ther Killy und Hans Szklenar (= dtv text-bibliothek  ; 6001). München 1972, S. 9/V. 12. – Zitate aus Trakls Werk folgen unter Angabe von Seiten- bzw. Verszahl dieser Ausgabe.



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(25/6) und „Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl“ (25/7) beinhaltet, so dass das „Wundenmal“, in das „Sankt Thomas“ die „Hand“ „taucht“ (25/11), statt erlöserischer Verheißung die Endzeitkonnotationen „Menschheit vor Feuerschlünden“ (25/2) und „Schritte durch Blutnebel“ (25/4) aufweist. Der Kernsatz „O unser verlorenes Paradies“ (32/11) des Psalm-Gedichtes knüpft weltanschaulich an die Leitmotive der Trakl’schen Kunst an, die da Sündenfall und Erbsünde lauten, und leitet künstlerisch zu einer Endzeitszenerie über, einem Christengott als Hauptakteur, dessen Walten ethisch hinterfragenswert erscheint  : „In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.“ (33/38) Wie diese Beschreibung von Gott Sohn aufzeigt, steht das spielerische Element für ein Gebaren, das sich nicht durch erlöserische oder ethische Notwendigkeiten bestimmt, sondern durch blanke Willkür. Weil es damit auch die Umstände der Erbsünde neu zu bewerten gilt, erfolgt die motivische Verknüpfung mit dem Sündenfall, sichergestellt durch das Schlangen-Motiv, nicht von ungefähr. Die Beeigenschaftung von Gott Vater, die sich farbmotivisch anschließt, beschließt einen Farbenkreis, in dessen Zentrum die hintergründig funktionale Farbe Gold steht  : „Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.“ (33/39) Die Konstellation aus Gott Vater und Gott Sohn schafft eine Grundbasis des Unethischen, die weiterführende Ableitungen zu Schöpfungs- und Heilsfragen erlaubt. Vor dem Hintergrund dieser göttlichen Wesensformen gesprochen, überrascht es wenig, dass Trakl in einem seiner frühen Gedichte, die Trinität vervollständigend, sich auf den Heiligen Geist bezieht, dort aber, ohne bereits der Hoffnungslosigkeit der späteren Jahre Ausdruck zu verleihen.21 21 Im Gedicht Das Morgenlied, als Trakls früher Gedichtveröffentlichung, wird mittels des „titanische[n] Bursche[n]“ (101/2), der durch das lyrische Ich angerufen wird, die jungfräuliche Empfängnis der auserkorenen Gottesmutter beschworen, und zwar in einem vollständig hoffnungsvollen, erwartungsvollen Ton  : „Und steigst dann, Herrlicher du, mit fliegenden Locken / Zur Erde herab, empfängt sie mit seligem Schweigen / Den brünstigen Freier, und in tiefen Schauern erbebend / Von deiner so wilden, sturmrasenden Umarmung, / Öffnet sie dir ihren heiligen Schoß.“ (101/14–18) Wohl zeigt das frühe Gedichtwerk Trakls nicht nur Ansätze einer negativen Weltsicht, sondern bereits jene religiös fundierte negativistische Hermetik der späteren Zeit. Dennoch heben sich zudem einzelne Gedichte aus der „Sammlung 1909“, in der die religiösen Motive regelmäßig wiederkehren, durch eine christliche, doch dabei different gelagerte Weltanschauung ab. Zu nennen ist daraus das Gedicht Das tiefe Lied, dessen aus acht Verszeilen bestehende Einzelstrophe den Erlösungsgedanken erneut bejahend aufgreift  : „Aus tiefer Nacht ward ich befreit. / Meine Seele staunt in Unsterblichkeit, / Meine Seele lauscht über Raum und Zeit / Der Melodie der Ewigkeit  !“ (139/2–5) Und das vierstrophige Gedicht Einklang beschreibt kein bloß individuelles Erlösungsempfinden, sondern ein kollektives Heilsausmaß  : „Im hellen Spiegel der geklärten Fluten / Sehn

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Im Lyrikband Sebastian im Traum, dessen Publikation der Dichter noch zu Lebzeiten vorbereitete, kehren dieselben Leitmotive wieder, unter gleichlautender defätistischer Gewichtung, die keinerlei Akzentverschiebung ersichtlich macht. Zur Reihe der Gedichte, in denen vordergründig ein zuversichtlicher Grundton dominiert, zählt die dreistrophige Arbeit Ein Winterabend mit ihrem „Baum der Gnaden“, der „[g]olden blüht“ (58/8), sowie dem „Brot und Wein“ (58/13), die „in reiner Helle“ „erglänz[en]“ (58/12) – auf der Bühne jahreszeitlich-­ klimatischer Unwirtlichkeit bzw. tageszeitlicher Finsternis allerdings, wie schon der Titel verrät. Beachtenswert ist des Weiteren, dass in diesem Band erneut von einer Schwester die Rede ist, einer Figur, die nicht nur die genaueren Umrisse eines innerfiktionalen Beziehungsgeflechtes sichtbar macht. So kommt in Passion – ein Titel, der die Überschneidung von Leben und Religion benennt – den Verszeilen „Und folgend dem Schatten der Schwester  ; / Dunkle Liebe / Eines wilden Geschlechts“ (69/8–10) eine autobiografische Offenbarungsqualität zu. Denn die Übereinstimmungen, die zwischen den Ausführungen des lyrischen Ichs und den Lebenszeugnissen des Dichters bestehen, sprechen für die Rechtmäßigkeit der Annahme, dass auch Trakls Literatur Rückschlüsse auf prägende Lebensereignisse zulässt, hierbei angesiedelt im geschwisterlichen Nahbereich. In der Prosaarbeit Traum und Umnachtung, die dem letzten Bandabschnitt zugehört, offenbart sich das familiäre Umfeld als Zentrum bzw. Katalysator von Schuldgefühlen, die eine religiöse Begründung erfahren  : „Am Abend ward zum Greis der Vater  ; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts.“ (80) Die weitere Beschreibung offenbart frühes Leid und, damit verbunden, einen Mangel an elterlicher Fürsorge  : „Manchmal erinnerte er sich seiner Kindheit, erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis, verschwiegener Spiele im Sternengarten, oder daß er die Ratten fütterte im dämmernden Hof.“ (80) Dem engsten Milieu folgt eine Erklärung zur Schwesterfigur, mit der sich erneut eine belastende Beziehung verbindet, wie die Dunkelheits-Metaphorik nahelegt  : „Aus blauem Spiegel trat die schmale Gestalt der Schwester und er stürzte wie tot ins Dunkel. Nachts brach sein Mund gleich einer roten Frucht auf und die Sterne erglänzten über seiner sprachlosen Trauer.“ (80) Spinnt man den Bedeutungsreigen, der poetischen Struktur folgend, exegetisch weiter, trifft man mit der „roten Frucht“, wir die tote Zeit sich fremd beleben / Und unsre Leidenschaften im Verbluten, / Zu ferner’n Himmeln unsre Seelen heben.“ (146/10–13) Jene Gedichte, die noch der heilsbrecherischen Elemente entbehren, sprechen für eine gewisse Uneinheitlichkeit in der Weltanschauung der frühen Jahre.



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zeitlich der Nacht und physiognomisch dem Mund des Bruders zugehörend, auf den biblischen Sündenfall, der binnenfiktional wie selbstbiografisch der Rechtfertigung von sittlichen Verfehlungen zu dienen scheint. Die Er-Perspektive schafft im Gegensatz zur Ich-Form eine Distanz, die keinesfalls dazu dient, autobiografische Spuren, die zur Schwester führten, zu verwischen – da deren Konturen ohnehin unverwüstlicher Art sind –, sondern der Dichter machte so dankbar von der Möglichkeit Gebrauch, seine Rückschau zu objektivieren und die Gefahr von emotionalen Rückfällen zu limitieren. Was für das Verhältnis von lyrischem Ich und Dichterleben gilt, hat daher auch für jenes zwischen Erzähler- und Autoren-Instanz zu gelten, so dass unkritische Gleichsetzungen zwar grundsätzlich zu vermeiden sind, aber Überlagerungen keineswegs von vornherein auszuschließen. An einer späteren Stelle erscheint die Schwesterfigur schließlich als „Dämon“, der den Protagonisten an begangene Lebenssünden gemahnt  : „Aber da er Glühendes sinnend den herbstlichen Fluß hinabing [sic  !] unter kahlen Bäumen hin, erschien in härenem Mantel ihm, ein flammender Dämon, die Schwester.“ (82) Angesichts der Gemeinsamkeiten von Autobiografik und Religionskritik ist es keine Zufälligkeit, dass diesen, letztlich seiner Schwester Margarethe gewidmeten Sätzen eine einschlägige Inszenierung vorangeht, die poetisch die „Schuld“-Thematik aufgreift, unter anderem durch einen „Sternenhimmel“, der bloß scheinbar metaphysische Eintracht verheißt  : Tiefer liebte er die erhabenen Werke des Steins  ; den Turm, der mit höllischen Fratzen nächtlich den blauen Sternenhimmel stürmt  ; das kühle Grab, darin des Menschen

feuriges Herz bewahrt ist. Weh, der unsäglichen Schuld, die jenes kundtut. (82)

An den Bezugspunkten des „kühle[n] Grab[s]“ wie des „Turm[s]“, diesen „erhabenen Werke[n] des Steins“, womit auf die Grablegung Christi verwiesen wird und auf das christliche Gebetshaus der Kirche, zeichnet sich eine irdische Mängelvielfalt ab – anhand der Kühle wie „höllischen“ Fratzenhaftigkeit –, die dem Naturphänomen eines „blauen Sternenhimmel[s]“ entgegensteht. Inwieweit dem „feurige[n] Herz[en]“, und somit der ursächlichen „Schuld“, ein biografischer Bedingungsgrund zukommt, in Form geschwisterlicher Blutsünde,22 bleibt als präzisierte Frage nach dem Privaten insofern ausgeschlossen, als Trakl der Menschheit insgesamt den Keim der Verderbtheit in die Wiege gelegt sieht  – 22 Diese läge dann künstlerisch unverstellt mit Blutschuld aus der „Sammlung 1909“ vor, dort unter Aussparung der Schwesterfigur.

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wodurch der ‚Mensch‘ der Erzählung eine repräsentative Funktion eignet. Treffend weist der religiöse Verweisstrang auch das „Baum“- und „Schlange[n]“Motiv23 auf sowie den weltanschaulichen Leitsatz „O des verfluchten Geschlechts“ (82), der den Auftakt zum zugehörigen Absatz bildet. Fragt man hingegen nach der weltanschaulichen Genese, liegt die Annahme nahe, dass Schuldgefühle geschwisterlicher Art die Bereitschaft zur Hinwendung zum christlichen Glauben befördert hatten. Daher überrascht es nicht, dass neben Traum und Umnachtung auch das Passions-Gedicht, das zuvor auf einen lebensgeschichtlichen Einfluss hin – positiv – befragt wurde, die bekannten poetisch-religiösen Konnotationen aufweist. Dort klingt mit dem „Abendgarten“ (69/3) als Teil einer paradiesischen Szenerie, die sich im Gewand der Verfallenheit präsentiert, die Vertreibung aus dem Paradies an – und folglich die existentielle Unzulänglichkeit des Irdischen, die bei Trakl die Gottheit selbst zu verantworten hat. Unvollständig beantwortet ist bislang die Frage nach der wesenhaften Konturierung des Trakl’schen Christengottes geblieben, eine Frage, die in der theologisch ausgerichteten Forschung zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt hat.24 Gerade die Gedichte, die Trakl während seines Kriegsdienstes verfertigte, sind dabei von signifikanter Bedeutung. Unternimmt man, ausgehend vom christlich-religiösen Grundton seines Werkes, eine Untersuchung, die sich der Frage der künstlerischen Verarbeitung der Kriegserfahrung annimmt, zeigt jener Zeitraum eine phänomenologische Präzisierung. Sein Kriegsgedicht Im Osten etwa beschreibt ein Ineinanderfließen von menschlichem Desaster und prekärem Naturzustand, womit sich der „Zorn“ des „Volkes“, wie schon die Auftakt­ strophe deutlich macht, scheinbar mit jenem einer alttestamentarischen Gottheit vereint  : „Den wilden Orgeln des Wintersturms / Gleicht des Volkes finstrer Zorn, / Die purpurne Woge der Schlacht, / Entlaubter Sterne.“ (93/2–5) Die unheilvolle Erregung des Menschen, als ‚Ebenbild Gottes‘ geschaffen (Gen 1,27), widerspricht der alttestamentarischen Konzeption, schließt die dem Zorn zugeordnete Finsternis („finstrer Zorn“) doch eine hoffnungsreiche, in die Zukunft gerichtete Weltsicht aus. Die prinzipielle Möglichkeit, dass sich bei Trakl in der Zeit seines Kriegsdienstes als Medikamentenakzessist ein von Hoffnung getra23 Die religiöse Konnotation des Schlangen-Motivs tritt mit Verwandlung des Bösen, einer weiteren Prosaarbeit, besonders deutlich hervor  : „Jemand verließ dich am Kreuzweg und du schaust lange zurück. Silberner Schritt im Schatten verkrüppelter Apfelbäumchen. Purpurn leuchtet die Frucht im schwarzen Geäst und im Gras häutet sich die Schlange.“ (57) Eine Szenerie des Niederganges stellt sich so ein, begründet mit einer allgemeinen Gottes-Verlassenheit. 24 Siehe zur uneinheitlichen theologischen Deutung etwa  : Basil (1989), S. 8–9.



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gener Glaube ausgebildet hätte, den verwüsteten Schlachtfeldern und verwundeten Soldaten zum Trotz, scheidet somit endgültig aus. Die „purpurne Woge der Schlacht“, verantwortet von Menschenhand, und die „[e]ntlaubte[n] Sterne“, geschaffen von Gotteshand, bilden für den Dichter Trakl, der die zugehörigen theologischen Grenzziehungen überschreitet, keineswegs isolierte Phänomene. Im Gegenteil wird dem Christengott selbst eine zu beanstandende Wesenheit bescheinigt, womit tradierte Glaubensansichten ihre Gültigkeit verlieren. Während die Annahme eines Zorngottes, wie ihn das Alte Testament kennt, durch den restriktiven ‚Finsternis‘-Aspekt ausgeschlossen bleibt, ist die These einer erweiterten, die Himmelssphäre umspannenden Lebensordnung, die von ­Mängeln behaftet ist, anzusetzen.25 Die eingesetzten Himmelskörper, verwendet als poetische Platzhalter des Himmelsherrschers, deuten in ihrem Mangel an Leuchtkraft („Entlaubter Sterne“) auf das ethisch korrumpierte Wesen einer grundlos zürnenden Gottheit. In der zweiten Strophe setzt sich der sittliche Verfall fort, nun unter Berücksichtigung der Flora  : „Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen  /  Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.  /  Im Schatten der herbstlichen Esche  /  Seufzen die Geister der Erschlagenen.“ (93–94/6–9) ­Während die „herbstliche[n] Esche“ und die „Nacht“ die Vergänglichkeit des Irdischen abbilden  – letzteres Element auch das Fehlen eines metaphysischen Fortbestandes  –, repräsentieren die „sterbenden Soldaten“ die Anfälligkeit für Sünde und Unsitte auf Erden. Eingängige, katastrophische Bilder stellen sich auch mit der Konzeption der Endstrophe ein  : „Dornige Wildnis umgürtet die Stadt. / Von blutenden Stufen jagt der Mond / Die erschrockenen Frauen. / Wilde Wölfe brachen durchs Tor.“ (94/10–13) Jenseits der „blutenden Stufen“, von denen der „Mond“ herab-„jagt“, stehen die „erschrockenen Frauen“ sowie die „[w]il­de[n] Wölfe“, die – einer „[d]ornige[n] Wildnis“ zugehörig – „durchs Tor“ „brachen“. Trakls Inszenierung weckt die Assoziation von Himmels-Untieren, die in die Zivilisation einbrechen, um diese zu ver- bzw. zerstören, was die Annahme einer sündigen Menschheit als weltgerichtliches Zielsubjekt erlaubt. Eine solche Grundkonzeption, mit der die meta-poetisch aufgeladenen Sphären des Himmels und der Erde ineinanderfließen, den Menschen der Idee der Gott­ 25 Mit der Erzählung Traumland. Eine Episode, die durchweg trübe Aussichten auf Erlösung durch den Heiland beschreibt, wird die These von einer – in wesenhafter Hinsicht – untrennbaren Himmel-Erden-Sphäre bestätigt  : „Die Kuppen schmiegen sich weich an den fernen, lichten Himmel, und in dieser Berührung von Himmel und Erde scheint einem der Weltraum ein Teil der Heimat zu sein.“ (109) Trakls Gebrauch des Abend- und Nacht-Motivs belegt, dass die mangelhafte Schöpfungsleistung den kosmischen Fernraum einbegreift.

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ebenbildlichkeit gemäß einbegreifend, spricht letztlich für das Ergebnis einer dichterischen Bewusstseinsleistung. Mit dem Prosatext Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena. Ein Dialog, der aus dem frühen Werk stammt, bestätigt sich die Annahme, dass im Fall von Trakl keinerlei Notwendigkeit einer sittlich qualitativen Unterscheidung zwischen Gott- und Menschheit vorliegt. Die Figurenrede des römischen Militärtribunen Marcellus,26 der von einer „Arglist der Götter“ spricht, bezeichnet wohl am ehesten Trakls theologischen Zugang  : Sieh nur, Agathon, wie es in den Wolken seltsam dunkel glüht. Man könnte meinen, daß hinter den Wolken ein Ozean von Flammen loderte. Ein göttliches Feuer  ! Und

der Himmel ist wie eine blaue Glocke. Es ist, als ob man sie tönen hörte, in tiefen,

feierlichen Tönen. Man könnte sogar vermuten, daß dort oben in den unerreichbaren

Höhen etwas vorgeht, wovon man nie etwas wissen wird. Aber ahnen kann man es manchmal, wenn auf die Erde die große Stille herabgestiegen ist. Und doch  ! Alles das

ist sehr verwirrend. Die Götter lieben es, uns Menschen unlösbare Rätsel aufzugeben.

Die Erde aber rettet uns nicht vor der Arglist der Götter  ; denn auch sie ist voll des Sinnbetörenden. (118)

Zu beachten gilt, dass Trakl dieses Zitat der griechischen Mythologie, das er auf sein christlich-religiöses Werteinventar überträgt, dazu verwendet, die „Erde“ in ihrer Unwirtlichkeit darzustellen  : als betäubend „Sinnbetörende[s]“. Dass diese als Schöpfungsresultat in einem Zusammenhang mit der „Arglist der Götter“ steht, bestätigt die Hypothese von der göttlichen Heimtücke. Wie bei Kafka, der im Christengott unethisch Böses vereinigt sah, in einem Gott, der bereits dem Urmenschen eine Falle stellte, zeigt sich auch bei Trakl ein religiöser Defätismus, eine undurchdringliche Negativität. Demgemäß deutet sich in Trakls Erzählung 26 Hierin unterscheidet sich die Erzählung von der Gleichnamigen, die sich, den Untertitel Barrabas. Eine Phantasie tragend, dagegen eines kommentierenden Erzählers bedient  : „Plötzlich aber erlosch die Sonne, die Erde erbebte in ihren Grundfesten und ein ungeheures Grauen ging durch die Welt. Und die Kreatur erzitterte. Zur selbigen Stunde ward das Werk der Erlösung vollbracht  !“ (115) Das „Werk der Erlösung“ realisiert sich hierbei, wie es scheint, ausschließlich in Gestalt des Todes. Auch in der frühen Traumland-Erzählung berichtet der Ich-Erzähler unzweideutig von seinem Verhältnis zu einer tod-„kranke[n]“ Maria  : „Und in Marias großen, dunklen Augen leuchtete ein seltsamer Schimmer, und der Mond ließ ihr schmales Gesichtchen noch blasser und durchsichtiger erscheinen.“ (111) Die Gesichtszentrizität besorgt eine physiognomische Verfremdung der Eigenschaft der Vitalität, die sich in den klassischen Marienbildnissen findet, und fungiert als wertmäßige Kritik an tradierten Glaubenssätzen. Diese frühen Arbeiten aus Trakls Schaffen festigen die Annahme einer pessimistischen Grunddirektion.



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Verlassenheit, in der von einem Grafen berichtet wird, auf dessen „jahrhundertalte[r], müde[r] Seele“ das „Verhängnis“ „lastet“ (122), mit dem Schicksals-Motiv implizit ein göttlicherseits über den Menschen verhängter Fluch an, der die Bedeutung der paradiesischen Vertreibung übersteigt, indem keine Straf-, sondern Vernichtungsabsicht benannt wird. In aufschlussreicher Weise setzt sich in Trakls Grodek-Gedicht, das ebenfalls im Angesicht seiner akuten Kriegserfahrungen entstand, die wesenhafte Präzisierung des Gewaltgottes fort. Abermals scheint eine Szenerie aus Himmelsund Welt-Sphäre auf, mit schwer verwundeten Soldaten in ihrem darstellerischen Zentrum  : „Am Abend tönen die herbstlichen Wälder  /  Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt  ; umfängt die Nacht  /  Sterbende Krieger, die wilde Klage  /  Ihrer zerbrochenen Münder.“ (94/2–7) Den schon „herbstlichen Wälder[n]“ tritt das Entschwinden des Tageslichtes zur Seite, womit sich insgesamt ein irdischer Mangelzustand darstellt, zusammen mit den „[s]terbende[n] Krieger[n]“, diesem Sinnbild für menschliche Sündhaftigkeit. Somit wird die verheißungsvolle Qualität der „blauen Seen“ und „goldnen Ebenen“ unterminiert, nicht zuletzt von einer angebrochenen Nacht, die als Dunkelheits-Motiv die „wilde Klage“ der „zerbrochenen Münder“ keineswegs schützend in sich aufnimmt. Phänomenal spiegelt sich darin der bedingende Grund, der einmal mehr im GöttlichMetaphysischen angesiedelt ist, sinnreich abgebildet durch die „Sonne“, die „[d]üstrer“ „darüber“ „hinrollt“. Die verfremdeten Zitate des ‚alten‘ Zorngottes, der das Signum der Finsternis eignet, erwirken keine Heilsgewissheit mehr  : Bei Trakl erweckt selbst das Weltgericht keinen der gefallenen Soldaten. Der kriegerische Zustand wird zwar nicht geradewegs auf das Walten einer Gottheit zurückgeführt, die gewaltbereit im Irdischen interveniert, dem Diktum sittlicher Finsternis gehorchend  : „Doch stille sammelt im Weidengrund / Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt / Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle  ;  /  Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“ (94/8–11) Dennoch zeigt sich mit den „Straßen“, die „[a]lle“ „in schwarze Verwesung“ „münden“, die Leitbedeutung, die dem Gewalt-Motiv eingeschrieben ist. Denn mit der „Verwesung“ spielt der Dichter nicht allein auf das unvermeidliche Lebensende jedes Einzelnen an, gedacht als Ergebnis göttlicher ‚Arglist‘, sondern Trakl zeichnet, bestärkt durch die Empirie seiner Kriegsteilnahme, teleologisch auch den Endpunkt der Menschheitsentwicklung vor, die seiner Überzeugung nach in einem selbst- bzw. fremd-zerstörerischen Prozess zu enden hat. Nicht die zornige Jahwe-Gottheit, die beide Urmenschen ins Nicht-Paradiesische ver-

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trieb und jederzeit bereitsteht, weitere Strafakte folgen zu lassen, um die Menschheit auf den Pfad der Sittlichkeit zurückzuführen, bildet sich hiermit ab, sondern der Wesenszug blanker Ungerechtigkeit. Obwohl das Weltgericht erneut nicht explizit benannt wird – Im Osten scheinen immerhin ‚apokalyptische‘ Wölfe auf  –, bildet es als eines der typischen Interventionsmittel des ‚alten‘ Gottes, parodistisch verfremdet, den eschatologischen Hintergrund  : in Form eines Todesurteils, das an Kafka gemahnt. Stimmig fügt sich dazu die apokalyptisch inszenierte „Ewigkeit“ (94/6) aus der Endfassung von Klage, dem dritten Kriegsgedicht, die zur „eisige[n] Woge“ (94/5) wird. Daher kann es nicht verwundern, dass das Naturtheater-Motiv in seiner pseudo-paradiesischen Qualität, die neben der Ur- auch die vorgebliche Neuzeit betrifft, sowohl bei Kafka als auch Trakl auf eine utopische Bedeutung rekurriert. Genauso wie im Amerika-Roman der nicht gestaltbare, weil nicht vollziehbare Erlösungsakt für Karl Roßmann ein glückliches Handlungsende ausschließt, findet man schon in Trakls Naturtheater aus der „Sammlung 1909“ ein hilfloses Beschwören der „frühen Tage“ (145/10), verlebt in einem illusionären Garten Eden  : „Ich steh’ vor einer grünen Bühne  ! / Fang an, fang wieder an, du Spiel / Verlorner Tage, ohn’ Schuld und Sühne,  /  Gespensterhaft nur, fremd und kühl  !“ (145/6–9) Dem defätistischen Glauben entspricht, dass in dem ersten Abschnitt aus Gesang zur Nacht, einem weiteren Stück der Sammlung, die folgende Existenzbestimmung vorgenommen wird  : „Gleich Bettlern ist uns nichts zu eigen,  /  Uns Toren am verschloßnen Tor.“ (135/7–8) An die Türhüter-­ Legende gemahnend, die sinnreich die Unzugänglichkeit der biblischen Himmels­sphäre abbildet – nicht zuletzt die ihrer inneren Logik –, zeigt sich für den heilsbesorgten Menschen auch bei Trakl das Himmels-‚Tor‘ als ein unüberwindliches. Die weiteren Verszeilen beziehen sich in Grodek schließlich auf die Schwesterfigur, so als sähe sich Trakl nun erst imstande, auf der Basis der erschütternden Weltkriegsempirie, die seine Weltsicht im Kern bestätigt haben musste, die ihn belastende Beziehung zur Schwester theologisch zu rechtfertigen  : „Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen  /  Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, / Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden H ­ äupter  ; / Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.“ (94–95/12–15) Der belastenden Beziehung zur Schwester wird das Argument der unzureichenden Schöpfungsleistung entgegengesetzt, das in letzter Konsequenz auf einen Ungott verweist. Als Belegstellen für Trakls Zugang, sofern er das Irdische betrifft, sind der „schwank[ende]“ „Schatten“ der Schwester und der phänomenologische Raum an sich, in dem dieser auftritt,



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anzuführen. Ihr „[G]rüßen“ der „Geister der Helden“ verbindet sich mit einer göttlicherseits auferlegten Last, die den Menschen zu einem heroisch kämpfenden, doch letztlich hilflos unterliegenden Akteur auf der urzeitlichen wie irdischen Bühne werden lässt. Die „dunkeln Flöten des Herbstes“ leiten von einer irdischen „Trauer“, die ahnungsvolle Gläubige meint, zum liturgischen Bezugspunkt der „Altäre“ über  : „O stolzere Trauer  ! ihr ehernen Altäre  /  Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,  /  Die ungebornen Enkel.“ (95/16–18) Der „gewaltige[r] Schmerz“ entspringt einem Weltschmerz, der vordergründig die Sündhaftigkeit des Menschen meint und ursächlichhintergründig eine göttliche ‚Arglist‘. Das Gedicht Karl Kraus, das im Abschnitt „Siebengesang des Todes“ aus Sebastian im Traum enthalten ist, greift die Kriegsmotivik gleichfalls auf, und zwar dadurch, dass es den beehrten Zeitkritiker für dessen „Wahrheit[s]“-Suche preist  : „Weißer Hohepriester der Wahrheit, / Kristallne Stimme, in der Gottes eisiger Odem wohnt, / Zürnender Magier, / Dem unter flammendem Mantel der blaue Panzer des Kriegers klirrt.“ (68) Der prophetische Charakter, der Kraus als „[w]eiße[m] Hohepriester der Wahrheit“ zukommt, beschränkt sich durch den alttestamentarischen, israelitischen Priesterbegriff nicht notwendigerweise auf die jüdische Religion, stellt diese jedoch eindeutig in den Vordergrund. Als weitere Widmung ist der Psalm zu nennen, die bereits im Oktober 1912 im „Brenner“ erschien und lediglich durch einen Titelzusatz als solche erkenntlich ist  : „Karl Kraus zugeeignet“ (32/2). Dass Kraus die Trakl’sche Lyrik durchaus schätzte, wenn auch nicht unkritisch bedingungslos, zeigt seine Gegenwidmung „Georg Trakl zum Dank für den Psalm“, die 1912 in einer Novemberausgabe der „Fackel“ erschien  : Siebenmonatskinder sind die einzigen, deren Blick die Eltern verantwortlich macht, so daß diese wie ertappte Diebe dasitzen neben den Bestohlenen. […] Sie sind mit

dem Schrei der Scham auf eine Welt gekommen, die ihnen nur das eine, erste, letzte

Gefühl beläßt  : Zurück in deinen Leib, o Mutter, wo es gut war  !27

Trakls posthum publiziertes Kraus-Gedicht, das eine gewisse Unschärfe in der Beschreibung der Religiosität des berühmten Journalisten aufweist, darf viel27 Karl Kraus  : Die Fackel 14 (1912), Heft 360–362, S. 24. – Siehe zur Programmatik der Zeitschrift  : Christian Wagenknecht  : Die ästhetische Wendung der „Fackel“. In  : Karl Kraus – Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznań. Hg. von Stefan H. Kaszyński und Sigurd P. Scheichl. München 1989, S. 103–115.

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leicht als Rachemaßnahme für diese keineswegs unkritischen „Fackel“-Worte von 1912 gelten. Karl Kraus nimmt mit seiner Weltkriegs-Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, deren Entstehung von einer textgenetischen Zwischenposition aus Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt ist, eine zentrale Position innerhalb der Riege der österreichischen Expressionisten ein. Während der „erste Entwurf der meisten Szenen […] in den Sommern 1915 bis 1917, das Vorspiel Ende Juli 1915, der Epilog im Juli 1917 verfaßt worden“ ist –28 wie aus den Angaben in der ersten Buchausgabe hervorgeht –, wurden im Wissen um den Ausgang des Krieges und seine Folgewirkungen nach 1918 noch weitgehende Veränderungen vorgenommen  : „Viele Zusätze und Änderungen sind im Jahre 1919 entstanden, in das auch der Druck der Akt-Ausgabe fällt.“ (7) Daneben erklärt Kraus, dass selbst noch „in den Jahren 1920 und 1921“ eine „durchgehende Umarbeitung und Bereicherung jener vorläufigen Ausgabe“ erfolgte (7). Das neutestamentarische Weltuntergangs-Motiv, das bereits in der zu Kriegszeiten, im Juli des Jahres 1917, erarbeiteten Epilog-Fassung in seiner vollen glaubens-ideologischen Relevanz sichtbar wurde, erfuhr durch die Fassung letzter Hand allerdings keine substantielle Abänderung.29 Zwischen der Epilog-Fassung der Akt­ausgabe von 1918, verfasst zur Mitte des Jahres 1917, und jener der hier zitierten Buchausgabe von 1926 besteht daher keinerlei religiös-weltanschaulich relevante Differenz.30 Kraus’ Angaben entsprechend, zeigt sich das Drama nicht bloß als kriegsexpressionistisches Theaterstück, dessen Autor die deutsch-österreichischen Bündnisaktivitäten kritisch kommentierte – in ihrer Bedeutung für Völkerrecht und Sitte  –, sondern überdies als Spiegelfläche der schwerwiegenden Nachkriegszeit, deren fatale Brückenfunktion zu spät als solche erkannt wurde. Dass Kraus die Apokalypse des Weltkrieges bereits im Jahr 1913 antizipierte, als der Plan reifte, ausgewählte Aufsätze der „Fackel“ in einem Buch mit dem Titel Untergang der Welt durch schwarze Magie zu veröffentlichen, verbindet ihn mit Kafka und Trakl. Wiewohl ihre Gestaltungen eines Ungottes, den abs28 Vgl. Karl Kraus, Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1320). In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986, S. 7. – Zitate aus Kraus’ Werk folgen unter Angabe der Seitenzahl dieser Ausgabe. 29 Der Epilog, in dem die motivischen Fäden zusammenlaufen, „erschien im November 1918“, wie es weiter heißt (7). 30 Vgl. zu den Unterschieden zwischen Akt- und Buch-Ausgabe, bezogen auf die Rolle des Nörglers  : Edward Timms  : Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien 1995, S. 531.



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trakt-poetisch Kafkas frühe Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung kennen, ebenfalls ein gesteigertes Krisenempfinden zum Ausdruck bringen – und hierbei über das modernistische Habitat hinausreichen –, war Kraus als Journalisten eine Sprache gegeben, die in der faktischen Welt angesiedelt war. Kraus verstand es früh, die krisenhaften Stimmungen im Habsburgerreich zu deuten, die vielfältigen Verfallserscheinungen, die er schonungslos bloßlegte, nämlich in der ihm eigenen Rigorosität. Grundsätzliches vereint dieses Triumvirat, indem allen dreien die Überzeugung an eine überirdische Instanz gegeben war, auch einem Karl Kraus, wenn man entscheidende Passagen aus seinen Schriften als weltanschaulichen Niederschlag wertet.31 So überrascht es kaum, dass in „Die letzte Nacht“, dem Epilog, die „Stimme Gottes“ selbst zu Wort kommt und folgenden Schluss besorgt  : „I c h h a b e e s n i c h t g e w o l l t .“ (770) Vor allem das Ende des Stückes beschreibt eine Verbindung zwischen der KriegsApokalypse, geschaffen von Menschenhand, und der christlichen Eschatologie – doch zugleich vollzieht sich ein endzeitlicher Wandel, der geradewegs zur Verderbnis führt, zum Bild des „Antichrist[en]“ (750). Wenngleich die religiöse Zugehörigkeit der göttlichen Instanz unbenannt bleibt, belegen einzelne mythologische Versatzstücke ein christliches Grundkonzept. Für Unklarheit über die Frage nach dem religiösen Konzept sorgt bereits die Auftakterklärung, in der die unspezifische Rede ist von einem „Marstheater“, dem „Theatergänger dieser Welt“ – angesichts von „Blut“ und „Inhalt“ – „nicht standzuhalten“ vermögen (9). Kraus’ Begriff des ‚Mars‘-Theaters besorgt einen bibel-unabhängigen Vorbau, der die Gesamtheit der Weltgläubigen anzusprechen vermag  : gemäß der Globalität, die dem Begebnis des Weltkrieges eignet. An diese theologische Dimension anknüpfend, spricht der Nörgler in der 42. Szene des fünften Aktes mit Blick auf den Krieg von „Trümmer[n] einer zerbrochenen Schöpfung“, unter Verwendung des Begriffes des „Gottverrats“ (644), was der Grundaussage des Stückes, das keinen böswilligen Gott am Werk sieht, entspricht. Die Art der poetischen Einbettung des Weltgerichts-Motivs, das als Kontrastmittel zum irdischen Ge31 Kraus hat sich in seinen Schriften wiederholt auf den eigenen Glauben bezogen, so etwa in „Eine prinzipielle Erklärung“ vom November 1917  : „Da ich Gott sei Dank nur Optimist und nicht Staatsmann bin, also auch keineswegs imstande, meine Überzeugung einer noch vorrätigen Kriegskarte anzupassen und meinen Gottesglauben erforderlichenfalls als Handgriff einzubekennen, so kann ich nicht anders als aussprechen, was ich zugunsten der Menschheit denke“  ; Karl Kraus, Band 5  : Weltgericht I (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1315). In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1988, S. 237. – Die fehlende Bestimmung des religiösen Fundamentes seines „Gottesglauben[s]“ korreliert mit der Unschärfe, die auch die Welt-Tragödie kennzeichnet.

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waltwahn fungiert, spricht ebenso für die Idee eines grundsätzlich gerechten Gottes. Wenn dessen Rede allerdings eine geglückte Schöpfung impliziert, stellt dies insofern eine konzeptionelle Erweiterung dar, als irdisches Heil so immerhin als Möglichkeit aufscheint – eine Überzeugung, die sich durch die Anlage des Stückes nicht belegen lässt. Dass die biblischen Endzeitmotive durch die Zeitgenossen des Krieges auch in einem neutestamentarischen Sinn propagiert werden, widerspricht zwar der metaphysischen Auslöschungsphantasie des Autors, der mit dem ‚Antichrist‘-Motiv auf das Neue Testament rekurriert, nicht jedoch der These von einer metaphysischen Überhöhung. In der 29. Szene des ersten Aktes führt der Dialog zwischen Optimist und Nörgler durch Ersteren zu folgender Fortschreibung der Gottesthematik  : „Die Guten werden besser und die Schlechten gut. Der Krieg läutert.“ (191) Der Nörgler, der für eine historische Antiteleologie eintritt, wendet dagegen ein  : „Er nimmt den Guten den Glauben, wenn er ihnen nicht das Leben nimmt, und er macht die Schlechten schlechter. Die Kontraste des Friedens waren groß genug.“ (191–192) Der Optimist, der an seiner Kriegsaffinität festhält, legt weitere Stichworte nach  : „Sie glauben also nicht, daß sich seit dem Anfang August, da sie ausgezogen sind, etwas gebessert hat  ?“ (192) Abermals zeigt der Nörgler nicht die geringste Absicht zur Beschönigung  : „Anfang August, ja das war der Ausziehtermin, als man der Menschheit die Ehre gekündigt hatte. Sie hätte ihn vor dem Weltgericht anfechten sollen.“ (192) Die ‚Anfechtung‘ des „Aus­zieh­ termin[s]“, die als Möglichkeit genannt wird, dient insofern rhetorischen Zwecken – und keineswegs empirischen –, als trotz der suggerierten Annahme, dass das Kriegsgeschehen als eschatologischer Prozess zu verstehen ist, dem Menschen keinerlei Richterinstanz zu Verfügung steht, sondern einzig das Mittel der Auflehnung. Noch in derselben Szene kehrt das Sittlichkeits-Dilemma wieder, wenn es durch den Nörgler heißt  : „Die deutsche Bildung ist kein Inhalt, sondern ein Schmückedeinheim, mit dem sich das Volk der Richter und Henker seine Leere ornamentiert.“ (200) Der zivilisatorische Bruch, der sich auch in Deutschland offenbarte, warf die Frage auf, inwieweit Bildung dazu geeignet ist, einen solchen zu vermeiden. Hierzu spricht der Nörgler von einem leeren Bildungsstreben ohne sittlichen Nutzen, betrieben von einem nach Schmuckornamenten strebenden Bildungsbürgertum, das allein aus eigensüchtigem Interesse nach den wichtigen Namen aus Kultur und Wissenschaft giert. Mit Blick auf die deutschen Geistesgrößen setzt der Optimist nach  : „Das Volk der Richter und Henker  ? So nennen Sie die Deutschen  ? Das Volk Goethes und Schopenhauers  ?“ (200) Dem Nörgler zufolge würde diesem zu Unrecht selbst verliehe-



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nen Terminus das Recht einer göttlicherseits eingesetzten, erlöserisch anmutenden Sittlichkeitsordnung entgegengestellt – endzeitlich verantwortet durch den Heiland und ideell verpflichtet dem Neuen Testament  : „So kann es sich selbst nennen, weil es gebildet ist, aber es müßte dafür von rechtswegen nach seinem populärsten Strafparagraphen, nämlich wegen groben Unfugs, vom Weltgericht abgeurteilt werden.“ (200) Bezeichnenderweise schließt der umfangreiche Dialog auch mit selbigem Motiv, das sich in den Worten des Nörglers auf die ihm gegebene Empfindungswelt als Betroffenem bezieht  : Daß für einen, der das beispiellose Unrecht, welches sich noch die schlechteste Welt zufügt, als Tortur an ihm selbst empfindet – daß für ihn nur die eine letzte sittliche

Aufgabe bleibt  : mitleidslos diese bange Wartezeit zu verschlafen, bis ihn das Wort erlöst oder die Ungeduld Gottes. (224–225)

Die Seinsalternativen, die „für einen“ vom „beispiellose[n] Unrecht“ Gepeinigten bestehen, meinen im Fall der „Ungeduld Gottes“ eine überirdische Intervention, womit sich, neben der ‚Erlösung‘ durch anti-propagandistisches Schrifttum, ein zweiter Ausweg abzeichnete, und zwar einer, der nun ein göttliches Weltgerichtsgebaren betrifft. Dieses Gottesgericht ist, eingedenk der ideologischen Verbindlichkeit des Neuen Testamentes für gläubige Christen als ein neutestamentarisches zu identifizieren, das sein jeweiliges Urteil nach individuellen Gesichtspunkten spricht.32 Auf die Anmerkung des Optimisten hin, „Sie glauben und hoffen, daß die Welt untergeht“ (225), bekennt ein weiterhin verstimmter Nörgler  : „Nein, sie verläuft nur wie mein Angsttraum, und wenn ich sterbe, ist alles vorbei. Schlafen Sie wohl  !“ (225) Das erhoffte Ableben, das den weltgerichtlichen Untergang der Welt voraussetzt, steht für einen Neubeginn, der paradiesische Zustände verspricht und alles Irdische hinter sich lässt. Dass der Nörgler in der 41.  Szene des dritten Aktes von einer „Verhandlung vor dem Weltgericht bei der Agnoszierung der Kriegsurheber“ spricht (410), bezeichnet die sittliche Dimension des Großen Krieges. Die Frage nach der Kriegsschuld beantwortet sich an anderer Stelle mit der Beschreibung eines als typisch wienerisch bezeichneten Wesens. In der 46. Szene dieses Aktes, mit den Angaben „Nacht. Der Graben. Es regnet. Menschenleer. Vor der Pestsäule. Man kann in 32 Im Neuen Testament wird das Letzte Gericht „individuell jeden Menschen ohne Ausnahme umfassen“, denn „[v]or“ Jesu „Richterstuhl müssen alle erscheinen“  ; vgl. Adel T. Khoury (Hg.)  : Lexikon religiöser Grundbegriffe. Judentum – Christentum – Islam. Wiesbaden 2007, S. 338–339.

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eine Seitengasse blicken“ versehen (420), stellt der Nörgler eine Verbindung zwischen Wienertum und Weltgericht her, durch folgende Verszeilen seines sinnesberauschten Vortrages  : Hier ist das Herz von Wien und in dem Herzen von Wien ist eine Pestsäule errichtet. (Er bleibt vor der Pestsäule stehen.) Dies Wiener Herz, es ist aus purem Gold,

drum möchte ich es gern für Eisen geben  ! O ausgestorbene Welt, das ist die Nacht,

der nichts mehr als der jüngste Tag kann folgen. Verschlungen ist der Mißton dieses Mordens

vom ewigen Gleichmaß sphärischer Musik. (421)

Der „jüngste Tag“ gemahnt auch hierin an das neutestamentarische Gottesgericht, das im Gegensatz zum Weltgerichts-Komplex des Alten Testamentes die theologisch vermittelte Glaubensbasis bildet. Mit der 29.  Szene des vierten Aktes präzisiert sich die Art der Schuld, als der Nörgler, der indirekt vom Habsburgerreich als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ spricht (495), dem Optimisten  – „Sie glauben also wirklich, daß der Weltkrieg von ein paar bösen Menschen beschlossen worden ist  ?“ (495) – zur Antwort gibt  : „Nein, sie waren nur die Werkzeuge des Dämons, der uns und durch uns die christliche Zivilisation in den Ruin geführt hat.“ (495–496) Wie eine spätere Passage offenlegt, in der die Rede des Nörglers von einem „habsburgischen Dämon“ geht (503), ist damit keineswegs eine österreichische Opferrolle gemeint. Noch an derselben Stelle setzt sich die Thematik derart fort, dass der Nörgler den Tod des Kaisers als „Voraussetzung“ für eine Aburteilung vor dem „Weltgericht“ betrachtet  : Er [Kaiser Franz Joseph] ist tot  ? Nun, abgesehn davon, daß ich es, selbst wenn ichs

wüßte, nicht glaubte, muß ich Ihnen schon sagen […] daß man es sich dort wirklich

nicht richten kann und vor allem, daß dort der Tod nicht so sehr einen Strafausschließungsgrund als eine Voraussetzung für das Urteil bildet. (498–499)

Die angeblichen Umstände, die die Schuld des Kaisers betreffen, stellt der Optimist infrage  : „Sie wollen gewiß nicht behaupten, daß Franz Joseph, dem nichts erspart geblieben ist, seinen Neffen aus dem Weg räumen ließ. Dagegen ließe sich

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wohl beweisen, daß er die Nachricht von der Ermordung –“ (500–501). Die Schuldzuschreibung weitet sich nun aus, indem der Nörgler von einer p­ olitischen Funktionalisierung des Attentates spricht  : „– mit einem nassen, einem heitern Auge aufgenommen hat. Aus allerhöchstem Ruhebedürfnis wurde die Trauerfeier eingeschränkt und der Weltkrieg eröffnet. Die Menschheit hat ein Begräbnis erster Klasse erhalten.“ (501) Nach dem Einwand, dass die „Ermordung eines Thronfolgers […] doch ein hinreichender Grund“ sei (501), fährt der Nörgler fort  : – das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Daß die Spekulation mißglückt ist und Österreich auf der Suche nach dem verlorenen Prestige in Verlust geriet, ist

ein anderes Kapitel. Vor dem Weltgericht wird noch nach dem dolus eventualis judiziert. (501)

Das Attentat erscheint so lediglich als Auslöser einer für die Habsburger ohnedies unumgänglichen Militäraktion, deren Ziel notwendig darin zu bestehen hatte, die nationalistische Stimmung unter den slawischen Völkern zu befrieden, dem kaiserlichen „Ruhebedürfnis“ gemäß. Und erneut ist ein neutestamentarisches Weltgericht als zuständige eschatologische Instanz anzusetzen. In der 49.  Szene des fünften Aktes korreliert die pessimistische Geschichtsteleologie des Nörglers schließlich mit dem apokalyptischen Ausmaß an Kriegsopfern. Dem Optimisten in seiner zukunftsfrohen Sicht  – „Aber wenn nur erst der Friede da ist“ (659) – entgegnet der Nörgler  : „– so wird man vom Krieg nicht genug kriegen können  !“ (659) Als der Optimist einwirft  : „Ich bin und bleibe Optimist. Die Völker werden durch Schaden –“ (659), unterbricht der Nörgler  : „– dumm. Dumdum  !“ (659) Argumentativ schließt sich damit der menschheitsgeschichtliche Entwicklungskreis, der im Handlungsverlauf selbst durch eine klagende Stimme Gottes sein Ende findet. Der historisch verbürgte Auftritt der Flammenwerfer der 5.  Armee, deren Flammen den deutschen Kronprinzen begrüßen, „So mähte er die Menschheit hin.  /  Geschaffen nach Teufels Ebenbilde“ (720), leitet in der 55.  Szene zum apokalyptischen Schluss des Stückes über  : „Völlige Finsternis. Dann steigt am Horizont die Flammenwand empor. Draußen Todesschreie.“ (726) Im Epilog schreitet dann die Apokalypse entscheidend voran, indem für die Auftaktszene, den Auftritt eines sterbenden Soldaten, folgende Regieanweisung vorgesehen ist  : „Schlachtfeld. Trichter. Rauchwolken. Sternlose Nacht. Der Horizont ist eine Flammenwand. Leichen. Sterbende. Männer und Frauen mit Gasmasken tauchen auf.“ (731) Jetzt folgt der Auftritt des Herrn der Hyänen, dieses selbst-

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ernannten ‚Antichristen‘  : „Tango der Hyänen um die Leichen. Die Flammenwand im Hintergrund ist inzwischen verschwunden. Ein schwefelgelber Schein bedeckt den Horizont. Es erscheint die riesenhafte Silhouette des Herrn der Hyänen.“ (750) Dieser Anführer, der für seine Heerschar das Motto „Gott zum Gruße  !“ ausgibt (750), spricht in der dritten Strophe seiner Rede die endzeitlich bedeutsamen Verse  : „Und der es einst vollbrachte,  /  an seinem Kreuz verschmachte, / wert, daß man ihn vergißt. / Ich tret’ an seine Stelle, / die Hölle ist die Helle  ! / Ich bin der Antichrist.“ (750) Der anti-christologische Aspekt liegt im Sieg des Bösen begründet und findet seine Versinnbildlichung im Tiermotiv, das für Blutrausch und Gewalt einsteht, womit sich der Jüngste Tag nach klassischem Verständnis gar nicht einstellen wird. Auf die Forderung der KinoOperateure, die unmittelbar vor der Apokalypse eine Verstärkung der Lichteffekte fordern, in dem falschen Glauben, dass es sich um einen Heilsprozess handelt  – „Der Isonzofilm läßt sich zwar nicht überbieten,  /  doch woll’n wir mehr Licht für den ‚Jüngsten Tag‘  !“ (766) –, folgt in Wahrheit der Weltuntergang, den eine „Stimme von oben“ verkündet  : Zu eurem unendlichen Schädelspalten

haben wir bis zum Endsieg durchgehalten. Nun aber wißt, in der vorigen Wochen

hat der Mars die Beziehungen abgebrochen.

Wir haben alles reiflich er wogen und sind in die Defensive gezogen.

Wir sind denn entschlossen, euern Planeten mit sämtlichen Fronten auszujäten (766)

Der Rückgriff auf den römisch-antiken Kriegsgott Mars entspricht begrifflich der martialischen Konzeption des Stückes, eines „Marstheater[s]“ (9), das ein für den Menschen unerträgliches Maß an Gewalt zusammenführt. Jene Entlehnung aus der römischen Mythologie wird durch die Logik des Textes gerechtfertigt, sofern sie den metaphysischen Überbau betrifft, der eine derartige Verfremdung zulässt. Der ‚marsianische‘ Sieg, der das Gute in die „Defensive“ getrieben hat, führt göttlicherseits zur Kapitulation vor dem Bösen, nämlich zum Entschluss, den „Planeten“ „auszujäten“.33 Dem „Meteorregen“, der da33 Timms, der von einer „symbolischen Zerstörung der Erde“ und von einem „metaphysischen Nichts“ spricht, sieht dagegen ein „Universum dargestellt, in dem noch Gott die Herrschaft hat und der



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nach „ein“-„setzt“ (769), folgen „Flammenlohe“, „Weltendonner“ sowie der „Untergang“ alles Irdischen, so dass am Ende „Großes Schweigen“ herrscht (770). Das letzte Wort hat die eingangs zitierte Stimme Gottes, die noch das Fehlen einer willensmäßigen Niedertracht, bezogen auf die eigene Schöpfung, zum Ausdruck bringt. So verbleibt der Eindruck einer menschlichen Verderbtheit, die auch im weltanschaulichen Zentrum eines Trakl und Kafka steht, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die beiden Letzteren die Idee eines Ungottes vertreten. Bereits mit „In dieser großen Zeit“, einem Aufsatz vom November 1914, stellt sich Kraus die Frage, ob im Fall der „Schöpfung“ Mensch „von ­einem Symptom […] auf den ganzen Zustand“ zu „schließ[en]“ ist, „von der Beule auf die Pest“, und kommt dabei zu dem eindeutigen Schluss  : „Ich bin aber wirklich der Meinung, daß in dieser Zeit […] die Wurzel an der Ober­ fläche liegt.“34 Im Unterschied zur Idee einer bösen Gottheit erscheint die Kraus’sche als eine erkennbar gut gewillte, der es allerdings an den erforderlichen schöpferischen Fähigkeiten gebricht. Im Wechselspiel mit den Schlussworten drückt das unter anderem der Buchausgabe beiliegende Christusbild, das den Heiland in der Haltung der Kreuzigung zeigt  – unter Absenz des Kreuzes allerdings  –, emblematisch die Sinnlosigkeit jeglicher erlöserischer Vorhaben aus, mittels solch einer Ausblendung des symbolischen Heilsvehikels. Kraus schreckt auch nicht vor der Beschreibung einer zweiten Kreuzigung zurück, die eschatologisch für die Unausweichlichkeit der menschlichen Selbstauslöschung steht.35 Abgesehen von der verformenden Betonung der apokalyptischen Dimension führt Kraus seinen Lesern an mehreren Stellen des Stückes auch die Regelhaftigkeit des rhetorisch-propagandistischen Rückgriffes auf die christliche Lehre vor Augen, so etwa in der 15. Szene des dritten Aktes, betitelt mit „Eine protestantische Kirche“, in der ein gewisser Superintendent Falke erklärt  :

Antichrist durch göttliche Vergeltung besiegt wird“  ; vgl. Edward Timms  : Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien 1995, S. 517–518. 34 Kraus (1988), Bd. 5, S. 11. 35 Kraus hat später, im August 1924, ein „ähnliches“ Bild veröffentlicht, ebenfalls als Beilage in der „Fackel“ (795). In dem zugehörigen Aufsatz „In dieser kleinen Zeit“, der im Gedenken an den Kriegsausbruch erschien, heißt es dazu  : „Da glaubten sie, als sie es sahen und hörten, an ein Wunder, doch sie erschraken nicht und sie erhörten ihn nicht, sondern nagelten ihn ans Kreuz, noch einmal, damit er regungslos dem Morden zusehe“  ; Karl Kraus, Band 6  : Weltgericht II (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1316). In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1988, S. 340.

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– – Dieser Krieg ist eine von Gott über die Sünden der Völker verhängte Strafe, und

wir Deutschen sind zusammen mit unsern Verbündeten die Vollstrecker des göttlichen Strafgerichts. Es ist zweifellos, daß das Reich Gottes durch diesen Krieg gewaltig gefördert und vertieft werden wird. (355)

Diese Kollektivbestrafung, die als eine in Bausch und Bogen erfolgende aufscheint, steht für den alten Strafgott Jahwe, der jedoch keineswegs, der Figurenperspektive wegen, den konzeptionell eingebundenen neutestamentarischen Erlösungsgedanken infrage stellt, ein Konzept, das bei Kraus  – entgegen der biblischen Verheißung – in einem apokalyptischen Weltuntergang mündet. Nicht zuletzt die Herrscher der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bzw. des Deutschen Kaiserreiches meinen sich vom göttlichen Schicksal auserkoren bzw. von Gott protegiert, wie in Bezug auf letztere Annahme die 37. Szene des vierten Aktes zeigt, in der Wilhelm II. erklärt  : „Es hat unser Herrgott entschieden mit unserem deutschen Volke noch etwas vor. Wir Deutsche, die wir noch Ideale haben, sollen für die Herbeiführung besserer Zeiten wirken. Wir sollen kämpfen für Recht, Treue und Sittlichkeit.“ (533) Nach Nennung des Begriffes der „Heerscharen“ (533), der den Strafaspekt nach ‚altem‘ Muster betont, erweitert sich dieser Akzent der Rede noch  : „Ein Gottesgericht ist über die Feinde hereingebrochen. Der völlige Sieg im Osten erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Er läßt uns wieder einen der großen Momente erleben, in denen wir ehrfürchtig Gottes Walten in der Geschichte bewundern können.“ (533) Bereits mit der 31. Szene erfolgt eine Überblendung von „Weltgericht“ und „Geschichte“, vollzogen durch ein Lied, das ein schlafender Kaiser Franz Joseph, „vor dem Schreibtisch“ in Schönbrunn sitzend (516), zum Besten gibt – die entsprechende Strophe daraus lautet  : „In der Geschichte steht es,  /  was immer mir geschicht,  /  und wie man immer dreht es, / sie bleibt das Weltgericht. / Den Narren gab ich Titel / dem Volk des Kaisers Bart. / Die blutigsten Kapitel / hab ich mir aufgespart.“ (524) Nicht zuletzt die Deutung von „Geschichte“ als „Weltgericht“, die der Kaiser anstellt, steht einmal mehr für den göttlichen Gewaltaspekt, wie ihn das Alte Testament kennt. Während sich Kafka und Trakl, der still konvertierte und der sozialisierte Christ, als Vertreter der Idee einer misslungenen Schöpfung artikulierten, hielt Kraus als ursprünglich der jüdischen Ethnie Zugehöriger, der sich später taufen ließ,36 am Gedanken einer wohlwollenden Christengottheit fest. Gemein aller36 Vgl. Karl Kraus. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Paul Schick (= rowohlts monographien  ; 111). Reinbek bei Hamburg 1965, S. 42. u. 68.



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dings war ihrem Künstlertum die emotionale Grundkonstitution der Angst, die dazu führte, dass dem Christentum das heilsbringerische Element abgesprochen und die Gottheit in einem ethischen oder schöpferischen Mangelzustand beschrieben wurde. Im Fall von Kraus sorgt das ‚Mars‘-Element für eine Distanz zur christlichen Religion – im Gegensatz zu Kafka und Trakl –, so dass seiner Endzeitszenerie, die einen wesentlichen Bestandteil der anti-propagandistischen Schrift bildet, vordergründig eine unspezifische Metaphysik zugrunde liegt.

Literaturverzeichnis Freud, Sigmund, Band 8  : Werke aus den Jahren 1909–1913. In  : Gesammelte Werke. 18 Bde. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. London 1943. Freud, Sigmund, Band 12  : Werke aus den Jahren 1917–1920. In  : Gesammelte Werke. 18 Bde. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. Frankfurt a. M. 1986. Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Otto Basil (= rowohlts monographien  ; 106). Reinbek bei Hamburg 1989. Kafka, Franz  : Amerika. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1963. Kafka, Franz  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002. Karl Kraus. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Paul Schick (= rowohlts monographien  ; 111). Reinbek bei Hamburg 1965. Khoury, Adel  T. (Hg.), Lexikon religiöser Grundbegriffe. Judentum – Christentum – Islam. Wiesbaden 2007. Kraus, Karl  : Die Fackel 14 (1912), Heft 360–362, S. 24. Kraus, Karl  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986 ff. Band 5  : Weltgericht I (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1315). Frankfurt a. M. 1988. Band 6  : Weltgericht II (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1316). Frankfurt a. M. 1988. Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (= Suhrkamp Taschenbuch  ; 1320). Frankfurt a. M. 1986. Timms, Edward  : Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien 1995. Trakl, Georg  : Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar (= dtv text-bibliothek  ; 6001). München 1972. Trakl, Georg  : Dichtungen und Briefe. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Salzburg 1970. Wagenknecht, Christian  : Die ästhetische Wendung der „Fackel“. In  : Karl Kraus  – Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznań. Hg. von Stefan  H. Ka­ szyński und Sigurd P. Scheichl. München 1989, S. 103–115. Wimmer, Gernot  : Franz Kafkas Aphorismen und Nachlasserzählungen in Auswahl. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (= Eu-

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ropäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1976). Frankfurt a. M. [u.a.] 2009. Wimmer, Gernot  : Franz Kafkas Erzählungen. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (=  Europäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1964). Frankfurt a. M. [u.a.] 2008. Wimmer, Gernot  : Franz Kafkas Roman-Trilogie. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos (=  Europäische Hochschulschriften  : Deutsche Sprache und Literatur  ; I/1955). Frankfurt a. M. [u.a.] 2007. Wimmer, Gernot (Hg.)  : Von der westjüdischen Assimilation zur stillen Konversion. In  : Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum. Würzburg 2012, S. 73–89.

Kurt Anglet

Karl Kraus Die Sprache, das Schweigen und die Apokalypse

1. Einleitung

Im Mittelpunkt des Interesses der meisten Publikationen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges steht die Rekonstruktion der einschlägigen Entscheidungsabläufe in Politik und Diplomatie sowie der verschiedenen militärischen Optio­ nen. Die wissenschaftlichen Beiträge zu Kultur und Gesellschaft bilden gleichsam die Begleitmusik  ; sie verzeichnen die Stimmungsbilder einer Gesellschaft im Über- oder Untergang. Und doch sind solche Stimmungsbilder nicht zu unterschätzen. Handelt es sich dabei doch keineswegs um Beschreibungen von Einzelnen, die von der Kriegshysterie erfasst worden waren. Anders als in den Monaten und Jahren, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen, wurde der sich anbahnende Krieg weithin freudig bejaht  ; allenthalben herrschte in Europa eine regelrechte Kriegsbegeisterung, gegen die abwägende, gar warnende Stimmen kaum ankamen. Was im Rückblick kaum nachvollziehbar erscheint, ist die Tatsache, dass jene allgemein beschworene Euphorie trotz der Ernüchterung, die sich im Laufe der Kriegsjahre einstellte, sogar über den Ersten Weltkrieg hinauswirkte. Keinesfalls allein in den Reihen von unterlegenen Nationalisten und späteren Nationalsozialisten, die nach der Demütigung von Versailles auf Rache sannen, war dies zu beobachten. So schloss ein so europäisch gesonnener Geist wie Reinhold Schneider, der in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft zu einer Symbolfigur des christlichen Widerstandes geworden war, das Nachwort seines Buches „Philipp der Zweite oder Religion und Macht“ wie folgt  : Das Echo entspricht der Stimme, die ruft. Dem Hinaufsteigenden ist der Turm ein

Symbol des Sieges  ; dem Hinabsteigenden ein Symbol des Untergangs. Wenn aber

eine neue Stimme das Wort in den alten Hallen wagt, um eine Bestätigung zu erfah-

ren, einen Antrieb zu wecken, einen Befehl zu vernehmen, so tönt der Anruf besser

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zu hart als zu zaghaft. So könnte wenigstens über alle Unzulänglichkeiten hinweg das

eine dargetan werden, das not tut  : der Mut zur Tragödie, zur Totalität.1

In der Tat entsprach das „Echo“ der ‚rufenden‘ „Stimme“ – keine zwei, drei Jahre nach dem Anruf (Schneiders Nachwort ist signiert mit „Madrid, im Sommer, / Paris, im Winter 1930“2). Die Geister freilich, die den „Mut zur Tragödie“ aufbrachten, bedurften eines Anrufes gar nicht  ; sie standen schon längst bereit. Ungeachtet der Millionen Kriegstoten des vorausgegangenen Weltkriegs war der Weg geebnet für eine Tragödie von ungeahntem Ausmaß. Die Voraussetzung hierfür hat der Philosoph Martin Heidegger in seinem Jahrhundertwerk „Sein und Zeit“ ganz unmetaphorisch als „das Vorlaufen zum Tode“ auf den Punkt gebracht3 – ein Vorlaufen, das er bereits in „Der Begriff der Zeit“, einem Vortrag vor der Marburger Theologenschaft vom Juli 1924, eingeübt hatte.4 Noch in seinem zweiten Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, das aus den dreißiger Jahren stammt, wird diese tödliche Einstellung beschworen als ein innerer Zustand des „Übersichhinaussein[s]“, als die Lebenshaltung dessen, der mit dem Leben abgeschlossen hat  : Mögliches, und gar das Mögliche schlechthin, eröffnet sich nur dem Versuch. Der

Versuch muß von einem vorgreifenden Willen durchwaltet sein. Der Wille als das

Sichübersichhinaussetzen steht in einem Übersichhinaussein. Dieser Stand ist die ursprüngliche Einräumung des Zeit-Spiel-Raumes, in den das Seyn hereinragt  : das

Da-sein. Es west als Wagnis. Und nur im Wagnis reicht der Mensch in den Bereich der Ent-scheidung. Und nur im Wagnis vermag er zu wägen.5

Das Wägen des Unabwägbaren, des eigenen Todes, steht für eine ontologische Stilisierung einer Todesverfallenheit, jener ‚Zeitlichkeit‘, auf die sich Heideggers Zeit- bzw. Seinsverständnis reduziert. Aus solcher ‚Zeitlichkeit‘ die Zukünftigkeit des Daseins destillieren zu wollen, entspricht einer philosophischen Gro1 Reinhold Schneider  : Philipp der Zweite oder Religion und Macht. Leipzig 1931, S. 339. 2 Vgl. ebenda, S. 339. 3 Vgl. Martin Heidegger, Band 2  : Sein und Zeit, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. In  : Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 1977, S. 401. 4 Siehe Martin Heidegger, Band 64  : Der Begriff der Zeit, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. In  : Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 2004, S. 105–125. 5 Vgl. Martin Heidegger, Band 65  : Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. In  : Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 1989, S. 475.

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teske, über die sich lächelnd hinwegsehen ließe, wenn sie nicht auf dem Tod Unzähliger gebaut wäre, denen der Krieg jedwede Zukunft raubte. Noch im letzten Band der „Schwarzen Hefte“ zu den Jahren 1939–1941 findet sich folgender Eintrag  : Die verwandelte Gegenwart, in der die Gefallenen aus der besten Jugend stehen, hat ihren eigenen Glanz. Sein Leuchten muß der künftigen Jugend erhalten bleiben. Das

ist noch unser einziger Dienst. „Gedenkfeiern“ zerflattern in der Gewichtslosigkeit des leeren Feier-Betriebs.6

Handelte es sich nicht um das Gedächtnis der Kriegstoten – der Leser könnte laut auflachen, wenn er im Anschluss daran liest  : „Alle Welt interpretiert. Niemand denkt.“7 Das bezieht sich auf den großen Seinsdenker selbst, dessen Totenritual ein Denken ohne Eingedenken darstellt  : Das Leid der Toten, ihr Sterben, ihre Verzweiflung bleiben außen vor. Einen fragwürdigen Trost bedeutet es, wenn über ihr Ende hinaus „ein Anfang des deutschen Wesens gerettet wird“.8 Daher verwundert es nicht, dass Walter Benjamin dieses Drama als Trauerspiel entlarvt hat  ; auch überrascht es nicht, dass Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ als germanistische Habilitationsschrift zur Mitte der 20er-Jahre abgelehnt wurde, weil man die geschichtsphilosophische Konnotation verkannte. Mochte das deutsche Trauerspiel mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1618 seinen Anfang genommen haben – sein vorläufiges Ende fand es 1918. Wenn Heidegger im vorletzten Absatz seiner Aufzeichnungen vermerkt, die Geschichte habe „neben dem öffentlichen Gesicht stets auch ihr verborgenes“,9 so ist ihm letzteres daher verborgen geblieben  : ihr apokalyptischer Zuschnitt, wie ihn ein Karl Kraus in jenen Jahren gewahrte, 6 Martin Heidegger, Band 96  : Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. von Peter Trawny. In  : Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 2014, S. 273. – Folgende Textstelle ist hierbei bedeutsam  : „Die verborgene Deutschheit – unantastbar sei das Opfer der Gefallenen  ; jeder, auch der nachträglich darüber sagt, soll wissen, daß der Krieger wesentlicher war als es der Schreiber je sein kann“  ; ebenda, S. 29. Daraus resultiert eine „Aufgabe“  : „Die Frage bleibt nur, ob wir selbst es vermögen, diese Aufgabe selbst zu sein  : Jeder deutsche Mann ist umsonst gefallen, wenn wir nicht stündlich dafür wirken, daß über die jetzt ganz losgelassene und endgültige Selbstverwüstung des gesamten neuzeitlichen Menschentums hinaus ein Anfang des deutschen Wesens gerettet wird“  ; ebenda, S. 256. Ein Todeskult, der keine Erlösung kennt, wird hiermit sichtbar. 7 Ebenda, S. 276. 8 Vgl. ebenda, S. 256. 9 Vgl. ebenda, S. 276.

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ob in der dramatischen Gestalt der Letzten Tage der Menschheit oder in der prosaischen Form des Weltgerichtes.

2. Kraus’ Schweigen  : „In dieser grossen Zeit“

Es sei vorausgeschickt, dass hier keine umfängliche Deutung jener beiden Kraus’­schen Werke vorgenommen werden kann. Doch ist unbestritten, dass Kraus sie niemals zu Papier gebracht hätte, wenn er nicht im Voraus die Zeichen der Zeit erkannt hätte. Weder als Zeitgenosse noch als ein Zeitzeuge, der aus der Erinnerung heraus Rückschau hält, vollbrachte er dies, sondern als einer, der aus seiner Zeit auf das Kommende vorausschaute – auf ein Geschehen, das sich der Vorstellung der Menschheit entzog, da diese ganz in der Vorstellungswelt der Vorkriegszeit befangen blieb. „In dieser großen Zeit“, so lautet der Titel des ersten Aufsatzes vom November 1914 aus Weltgericht, „in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der g e s c h e h e n muß, was man sich nicht mehr v o r s t e l l e n kann […] –  ; in dieser ernsten Zeit […] mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten“.10 Jener Zeit-Stau, der ihn immer wieder von vorn ansetzen ließ, hatte einen Wort-Stau evoziert, bei einem Mann, der niemals um ein Wort verlegen war, dem nichts unangebrachter zu sein schien als Schweigen. Deswegen überrascht es nicht, dass Kraus sein Schweigen – durchaus wortreich – begründet  : Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor

dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hun-

gersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und

Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. (WG 9)

Kraus sah sich nicht länger imstande, ein „eigenes Wort“ zu artikulieren, weil die eigene Meinung, und wäre sie noch so wohlmeinend gewesen, nicht an das allgemeine Unglück herangereicht hätte. Seine Deutung des Zeitgeschehens steht im Widerspruch zum Denken Heideggers, der über den Tod von Millionen, über unsägliches Leiden hinwegsah. 10 Karl Kraus, Band 5  : Weltgericht I. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1988, S. 9. – Im Folgenden wird die Sigle WG unter Angabe der Seitenzahl verwendet.

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Bereits der Abschnitt „125. Seyn und Zeit“ seiner „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ lässt aufhorchen, da Heidegger darin näher ausführt, was es mit dem eingangs zitierten ‚Versuch‘ auf sich hat, und dabei seinen ersten Versuch von „Sein und Zeit“ überbietet  : „Alle ‚Inhalte‘ und ‚Meinungen‘ und ‚Wege‘ im Besonderen des ersten Versuchs von ‚Sein und Zeit‘ sind zufällig und können verschwinden.“11 Und dann stellt er unmissverständlich klar  : Aber bleiben muß der Ausgriff in den Zeit-Spiel-Raum des Seyns. Dieser Ausgriff

ergreift jeden, der stark genug geworden, die ersten Entscheidungen durchzudenken,

in deren Bereich mit dem Zeitalter, dem wir eingeeignet bleiben, ein wissender Ernst

zusammentaugt, der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Ret-

tung der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und faßt, was

ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das

Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen.12

Obwohl Heidegger keinen Zweifel an seiner Bejahung der Untergangsperspektive der Geschichte ließ, mag sich der Leser fragen, was es mit der Formulierung „in das Seyn hinauszuhelfen“ auf sich habe. Aufschluss hierüber gewährt der oben zitierte dritte Band der „Schwarzen Hefte“  : Der Welt-Imperialismus […] ist selbst nur der Getriebene und Gestoßene eines Vorgangs, der im Wesen der neuzeitlichen Wahrheit seinen Bestimmungs- und Entscheidungsgrund hat. Die Grundform dieser Wahrheit entfaltet sich als die „Technik“, zu

deren Wesenseingrenzung die üblichen Vorstellungen nicht mehr ausreichen. „Tech-

nik“ ist der Name für die Wahrheit des Seienden, sofern es als der ins Unwesen unbedingt umgestülpte „Wille zur Macht“, d. h. die metaphysisch-seynsgeschichtlich zu

denkende Machenschaft ist. Daher wird aller Imperialismus, gemeinsam, und d. h. in der

wechselweisen Steigerung und Aufreibung, zu einer höchsten Vollendung der Technik

getrieben. Deren letzter Akt wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste

Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden.13

11 Heidegger (1989), Bd. 65, S. 242. 12 Ebenda, S. 242–243. 13 Vgl. Heidegger (2014), Bd. 96, S. 237–238.

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Mit Nachdruck sei darauf verwiesen, dass es sich hierbei um die Meinung des Sprachdenkers des 20. Jahrhunderts schlechthin handelt. Abgesehen davon, dass Heidegger den biblischen Schöpfungs- und den aristotelischen Substanzbegriff unkritisch vermengt, zusammen mit dem Kausalitätsprinzip und Nietzsches Willen zur Macht, zeigt sich einmal mehr die Eiseskälte eines Denkens, das keinerlei Ansatz eines Eingedenkens aufweist. In der Tat bedarf es gar nicht der „‚Gedenkfeiern‘“ eines „leeren Feier-Betriebs“, weil der „künftigen Jugend“ kein besseres Schicksal bestimmt ist.14 Alles mündet in eine Eschatologie des Todes, die keine Auferstehung kennt  : In dem Vorgang, den wir nur äußerlich fassen, solange wir ihn als „Weltimperialismus“ denken, kommt die absolute Subjektivität auch nach der Hinsicht zu ihrer Vollendung, daß für den Menschen jetzt auf der Erde überhaupt kein Ausweg mehr bleibt, d. h. die

Selbstgewißheit des Subjektums hat sich jetzt unbedingt in ihrem eigensten Unwesen gefangen und eingeschlossen, die Rück-beziehung im Sinne der absoluten Reflexion ist endgültig geworden.15

Es ist ein Gott, der dem Menschen den Weg in den Untergang weist  : „Der ganz Andere gegen / die Gewesenen, zumal gegen / den christlichen.“16 So lautet das Epitheton zum Kapitel „Der letzte Gott“, das einen Gegengott anruft, der sich gegen den christlichen Gott der Schöpfung und Erlösung wendet. Bei Heidegger stellt das ‚Seyn‘ eine Umschreibung des Nichts dar, des Unterganges, mag sich sein Denker auch das Auf und Ab von Welten vorgegaukelt haben – so zeigt sich die Abstrusität eines Denkens, das weder Schöpfung noch Erlösung kennt. Man vermag dieses Diktum nicht treffender zu bezeichnen als Heidegger selbst, der im ‚Seyn‘ nichts weiter als eine Phantasmagorie, eine bloße Wortmaske ausmacht  : „Die größte, weil aus ihm selbst stets entspringende Gefahr des Seyns, die zu ihm als sein Zeit-Raum gehört, ist, sich ‚Seiend‘ zu machen und aus dem Seienden die Bestätigung zu dulden.“17 Der „Bestätigung“ bedarf es gar nicht erst, weil das Seiende samt den zugehörigen Menschen im Abgrund der Zeit, im Abgrund der Geschichte verschwunden ist – gilt doch nach Heidegger der „ZeitRaum als der Ab-grund“  : „Der Ab-grund ist Ab-grund.“18 Um dieses zu erken14 Vgl. ebenda, S. 273. 15 Ebenda, S. 238. 16 Heidegger (1989), Bd. 65, S. 403. 17 Ebenda, S. 476. 18 Ebenda, S. 379.



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nen, bedarf es aber keiner ab-gründigen Philosophie  ; mehr als ein Jahrhundert zuvor nannte Hölderlin im hymnischen Entwurf Vom Abgrund nämlich… die Urgeschichte bereits beim Namen  : „Vom Abgrund nämlich haben  /  Wir angefangen und gegangen / Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgernis“.19 Aus dem „Abgrund“ kommend, führt uns ein Denken, das kein Eingedenken kennt, geradewegs in den Abgrund zurück. So würde nach Hölderlin der Mensch zur Allegorie seiner selbst, wie der Anfang der zweiten Fassung von Mnemosyne verrät  : „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.“20 Dieses Schicksal droht nicht „Frankreich“, von dem in Vom Abgrund nämlich … auch die Rede ist  ; denn das letzte Wort, das im Raum des Entwurfs gleichsam für sich steht, lautet „Deutschland“.21 So wird ein Land genannt, dessen Denken sich dem ‚Abgründigen‘ verschrieb und dessen Sprache tatsächlich zur Fremdsprache verkam. Dergestalt ist das ‚Seyn‘ eine reine Abstraktion, auf die Benjamin gegen Ende seines Trauerspielbuches Bezug nimmt  : „In Abstraktionen lebt das Allegorische, als Abstraktion, als ein Vermögen des Sprachgeistes selbst, ist es im Sündenfall zu Hause.“22 Der „Sündenfall“ liegt im Fall von Heidegger im Bruch mit der Seinsordnung begründet, in seiner Preisgabe alles Seienden an die Mächte des Todes, letzthin in der Aufhebung der Differenz von Sein und Nichts. Bei allem Gerede von der Geschichtlichkeit des Daseins bedeutet das ‚Seyn‘ lediglich eine Abstraktion vom realen Geschehen. Warum dem so ist, hat bereits Hölderlin in der zweiten Fassung von Mnemosyne auf den Punkt gebracht  : „Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo,  /  Mit diesen.“23 Als ein Echo aus dem „Abgrund“ entspricht es der Verzweiflung der Sterblichen. Und wenn Heidegger ganze Welten über seinen Abgrund auf- und absteigen sieht, so handelt es sich dabei, um es mit den Worten von Karl Kraus zu sagen, um einen „Phönix, der aus fremder Asche farbenprächtig aufsteigt“ (WG 20). Kraus’ Sprachkritik, mochte sie auch in erster Linie die Presse ins Visier genommen haben, war alles andere als bloße Journalistenschelte. Sein Schweigen war kein Verstummen – es gab Antwort auf das Echo des Todes, das aus den 19 Friedrich Hölderlin, Band 2  : Gedichte nach 1800. In  : Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner. 6 Bde. Stuttgart 1953, S. 259. 20 Ebenda, S. 204. 21 Vgl. ebenda, S. 259–260. 22 Walter Benjamin, Band 1.1  : Abhandlungen. In  : Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1991, S. 407. 23 Hölderlin (1953), Bd. 2, S. 204.

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Lautsprechern der Kriegspropaganda seiner Zeit tönte. Kein eigenes Wort sollten seine Leser von ihm erwarten  : „Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt.“ (WG  9) Was die Fürsprecher des Todes wortreich verschweigen, ist das Faktum, dass es kein Eingedenken geben kann, wenn der Tod das letzte Wort behält. Jenem Echo der ‚Sterblichen‘ lauschte Kraus nach  – nicht im Frontgeschehen oder in den Schützengräben, wo der Kriegslärm das Schweigen übertönt. Fern lag es ihm, solch einen Lärm zu überbieten  : „Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück.“ (WG  9) Das bedeutet keinesfalls, dass Kraus ein ‚Mann der leisen Töne‘ wäre, der es nicht verstanden hätte, gleichsam alle Register der Sprache zu ziehen. Kann doch ihre Subordination vor dem Unglück dieses nicht ungeschehen machen. Sie kann es allenfalls beschönigen, zum Seins­ereignis stilisieren. Nicht umsonst vereinigt der dritte Band seiner Gesamtausgabe entsprechende Texte.24 Ehrfurcht bezeigt das Medium der Sprache dort, wo es die Unglücklichen selbst zu Wort kommen lässt, diejenigen, die in das Geschehen verstrickt waren. Exemplarisch erfolgt dies in dem Drama Die letzten Tage der Menschheit, in dem unter anderem Soldaten, Zeitungsausrufer, ein Blumenweib und eine Frau, „die soeben vor Hunger zusammengebrochen ist“, auftreten  – sowie ein Redakteur und verschiedene Prominente, die  – wie die spätere Geschichte erwies – ihre Lektion nicht gelernt hatten.25

3. Kraus’ Sprachgericht  : „Ein Tag aus der Zeit, die die grosse geworden war“

Karl Kraus wäre nicht der gefürchtete wie geschmähte ‚Fackel-Kraus‘ gewesen, hätte er es nicht verstanden, sich der Sprache als Kampfmittel zu bedienen. „Es gibt keinen Schutz gegen Lüge, die mit Druckerschwärze umgeht  ; man behielte nur Recht“, so Kraus in seiner „Bitte an Menschenfreunde“ vom Februar 1911, „wenn man direkt ins Faß greifen und das Gesicht des Lügners beschmieren wollte“  : Der Beleidigung durch die Presse lasse ich, der die Presse wahrlich besser beleidigt,

freien Lauf und jeder junge Schmock darf sich auch künftig an mir die Sporen ver-

24 Siehe Karl Kraus, Band 3  : Literatur und Lüge. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1987. 25 Vgl. Karl Kraus, Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986, S. 33–35.

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dienen. Was ich suche, ist die Beleidigung, die vor ein Bezirksgericht gebracht werden

kann.26

Das geschriebene Wort vor ein Tribunal zu stellen, letzthin vor das Tribunal der Sprache, ist der Weg, den Kraus mit seiner „Fackel“ beschritt. Selbst ein wohlmeinender Leser wie Theodor Haecker vermerkte daher in seinen „Tag- und Nachtbüchern“, am 24. November 1940, nicht unkritisch  : „Ich halte Karl Kraus für einen großen Schriftsteller, aber ich möchte doch die Fackel nicht geschrieben haben. Es geht eben um mehr als um Schriftstellerei.“27 Dabei ging es um eine Auseinandersetzung, die von keinem Bezirksgericht geschlichtet werden konnte, da Kraus dem Leser selbst das Urteil überließ  – in einem Prozess, in dem er zugleich als Zeuge, Ankläger und Anwalt auftrat  : als Anwalt der Sprache, der Gewalt angetan wurde  ; als Ankläger der Sprache der Gewalttäter und als Zeuge eines Zeitgeschehens, das an Brutalität wie Banalität kaum überbietbar schien. Mehr als in der Vorkriegszeit, als Kraus seine verbalen Attacken gegen die Presse ritt und Denunziation mit Denunziation beantwortete, ließ der Autor jetzt andere für ihn sprechen. Im Schlussbeitrag aus dem Untergang der Welt durch schwarze Magie, „Ein Tag aus der Zeit, die die große geworden war“, der vom Februar 1915 stammt, ist auf der linken Seite der Frontbericht eines Soldaten abgedruckt, während die rechte einen Pressebericht über „ein gesellschaftliches Ereignis“, die Eröffnung des „Kaiser Wilhelm-Kaffee[s]“, beinhaltet  : Es ist wirklich ein gesellschaftliches Ereignis gewesen, eine jener hübschen, wienerischen „Sensationen“, bei denen man so gerne „dabei ist“. In unoffizieller, gemütlicher

Weise ist gestern nachmittag das große Kaiser Wilhelm-Kaffee im Grögerhofe der

Weihburggasse Nr. 10 bis 12 eröffnet worden. Wunderschön sind die das ganze Erd-

geschoß und Mezzanin umfassenden, ideal ventilierten Räume mit ihrer fein abgetönten, noblen Architektur, die durch die Lichterflut zu erlesenen Farbenwirkungen zusammengeschlossen wird. Und so warm, so intim sind die Plätze und Ecken, zu denen sich die weitzügige, brillante Anlage der Säle löst, ein von deutschem Geist erfülltes

Reich echt heimatlicher Behaglichkeit. Blumengeschmückt grüßen die Künstlerbild26 Karl Kraus, Band 4  : Untergang der Welt durch schwarze Magie. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1989, S. 117. – Im Folgenden wird die Sigle U unter Angabe der Seitenzahl verwendet. 27 Theodor Haecker  : Tag- und Nachtbücher. 1939–1945. Hg. von Hinrich Siefken. Innsbruck 1989, S. 124.

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nisse unseres Monarchen und des deutschen Kaisers. […] Überall frohes, fesselndes

Getriebe. Man zeigt einander, „wer da ist“  : die umringten Schauspielerinnen dort

oben im reizenden Estradensalon, die Künstler, Beamten, die H e r r e n d e r D i p l o m a t i e , O f f i z i e r e , Finanzwelt. […] Mit diesem Prachtkaffee zieht neuer, modernster Geist ins wienerische Kaffeehausleben ein. Bis spät in die Nacht währt das

Treiben, und wer das Kaiser Wilhelm-Kaffee verläßt, weiß, daß er m o r g e n , ü b e r m o r g e n u n d i m m e r w i e d e r kommen wird. (U 455–456)

Die Zukunft ergibt sich nahezu zwangsläufig aus der Gegenwart, aus der Präsenz eines einmaligen Ereignisses, das förmlich Zeitgeschichte, nicht bloß Lokalgeschichte schreibt  : „Blumengeschmückt grüßen die Künstlerbildnisse unseres Monarchen und des deutschen Kaisers.“ Vergessen scheint die unrühmliche Vergangenheit, die Schlacht von Königgrätz, die alte Rivalität zwischen Preußen und Österreich  ; auch wirken die alten Wiener Cafés antiquiert in Anbetracht von Architektur und Interieur des Kaiser-Wilhelm-Kaffees  : „Mit diesem Prachtkaffee zieht neuer, modernster Geist ins wienerische Kaffeehausleben ein.“ Keine Spur vom Selbstbewusstsein einer altehrwürdigen Kultur und Tradition ist hierbei zu finden  : „[…] ein von deutschem Geist erfülltes Reich echt heimatlicher Behaglichkeit.“ Das klingt so, als wäre der fremde Geist im eigenen Reich schon immer zu Hause gewesen, obwohl der österreichische Geist doch weit über die heimischen Grenzen hinaus, ob in Böhmen oder Ungarn, in Architektur und Lebenskultur anzutreffen war und noch gegenwärtig ist. Allein die erlesene Gesellschaft – von den umworbenen Schauspielerinnen bis zu den Diplomaten und Offizieren  – scheint nicht mehr davon geprägt gewesen zu sein. Auch wenn heute niemand mehr von ihnen am Leben ist, dürften sie noch manch anderer guten Gesellschaft in den Jahren nach dem Untergang der Donaumonarchie angehört haben. Denn wer darauf bauen kann, „daß er m o r g e n , ü b e r m o r g e n u n d i m m e r w i e d e r kommen“ darf, zählt zu denen, deren Zeit immer da ist (vgl. Joh 7,6). Nicht immer da ist die Zeit für diejenigen, denen es beschieden ist, die Einmaligkeit des Daseins im „Vorlaufen zum Tode“ zu erfahren  :28 „– – – Um 6 Uhr traten wir an, schweigsam, keiner sagte ein Wort. Die sich näherstehenden Kameraden reichten sich noch einmal die Hand. – – – Er sprang vor, kam aber

gleich wieder zurückgekrochen  ;  –  – das ganze Kinn, der Mund, alles weggerissen  ; beim Verbinden fiel die halbe Zunge zum Munde heraus, er hatte auch den Arm

28 Vgl. Heidegger (1977), Bd. 2, S. 401.

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zerschossen. Dann ging alles vor, da setzten feindliche Maschinengewehre ein, es war

furchtbar. Die Kameraden fielen rechts und links, der Leutnant schrie  : ‚Ich bin fertig  !‘

Er hatte Arm und Bein zerschossen.  –  – Ich sah Tote, denen der ganze Kopf zer-

schmettert war. […] – – Meine Gruppe war nur noch zwei Mann stark – – – beson-

ders der Schützengraben war bis oben ’ran voll. Dann sammelte sich die Kompagnie.

Es fehlten der Hauptmann, die Leutnants und einundvierzig Mann. – – – Der Oberst

begrüßt uns mit dem Rufe  : ‚Guten Morgen, erstes Bataillon  !‘ Dann wollte er reden,

aber wir hörten nur ein Stammeln, er weinte  ! Da sprach der General. Er sagte, wir hätten einen achtmal so starken Feind fast vernichtet und das Bataillon wäre für alle

Zeit berühmt. Dann gab er uns ein Hurra  ! Da stand ein ganzes Regiment und

weinte.  –  –  – Dann traten wir weg und bekamen Essen, aber es schmeckte keinem.

Um ½ 4 Uhr begruben wir die Toten und um 7 Uhr ging es wieder in den Schützengraben, wo wir heute noch sitzen.“ (U 455–456)

Darauf folgt ein lakonischer Kommentar, den Kraus den beiden abgedruckten Texten hinzufügte  : „– Das war am 20.  Oktober. Inzwischen hat auch den Schreiber dieses Briefes das tödliche Blei getroffen.“ (U 456) Nicht um ein historisches Dokument handelt es sich bei diesem Brief, sondern um ein Zeugnis, das Einblick in das Blutzeugnis gibt, in das Martyrium von Unzähligen, die den Tag nicht überlebten. Für sie gab es kein „m o r g e n , ü b e r m o r g e n u n d i m m e r w i e d e r “ (U  456), keine Zukünftigkeit des Daseins, von der Heidegger zu sprechen vorgibt. Für den Philosophen mochte es ein „Hurra  !“ gegeben haben, wie auch für den General, der weit genug von den Schützengräben entfernt in seinem Befehlsstand saß, sofern er nicht als Ehrengast bei der Eröffnung einer Lokalität weilte. Grauenhaft sind nicht allein die Bilder von der Auslöschung der lebendigen Kreatur, grauenhaft ist auch die Normalität des Krieges, die allein denen, die sie am eigenen Leib erlebten, die Sprache verschlug. Ihre Darstellung in dem abgedruckten Frontbrief spottet jeglicher Heroisierung des Todes, des verlogenen Pathos eines „Übersichhinaussein[s]“.29 Erst von hier aus versteht sich das Schweigen eines an Wortreichtum kaum zu überbietenden Mannes wie Kraus  : „[…] in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte […]  : in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten.“ (WG 9) Was Kraus mit „In dieser großen Zeit“ (WG 9) bekundete, hielt er ein, indem er einem namenlosen Soldaten, der damals nicht mehr am Leben war, das 29 Vgl. Heidegger (1989), Bd. 65, S. 475.

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Wort gab. Nicht Kraus erhob sich zum Richter über seine Zeit. Das Urteil sprechen ihr vielmehr die Blutzeugen, die sich für eine Festgesellschaft opferten. Hier wird die Sprache der Opfer zum Gericht, während die Worte des Zeitkritikers Kraus Kommentar bleiben und freilich stark genug sind, dem Schweigen Ausdruck zu verleihen.

4. Der Bruch des Schweigens  : Ausnahmezustand und Apokalypse

Kraus erläutert in „Schweigen, Wort und Tat“ vom Oktober 1915, warum er es nicht beim Schweigen beließ  : Denn das Schweigen war nicht Ehrfurcht vor solcher Tat, hinter der das Wort, wofern es nur eines ist, nie zurücksteht. Es war bloß die Sorge  : den Abscheu gegen das andere

Wort, gegen jenes, das die Tat begleitet, sie verursacht und ihr folgt, gegen den großen

Wortmisthaufen der Welt, jetzt nicht zur Geltung bringen zu können und zu dürfen.

Und das Schweigen war so laut, daß es fast schon Sprache war. Nun fielen die Fesseln, denn die Fesseln selbst spürten, daß das Wort stärker sei. (WG 33)

Der Sprache Gehör zu verschaffen inmitten des Wortrausches der Propaganda, ist etwas anderes, als selbst wahrgenommen zu werden. Denn dies erfordert ein Lauschen auf die Stimme des Schöpfers ebenso wie ein Hören auf das „tonlose Opfer“ (WG 34)  : Wohl war ich mir bewußt  : Wer vor gewissen Dingen seinen Kopf nicht riskiert, der hat keinen zu riskieren. Was aber hätte der Tausch des Kopfes gegen den Ruhm, einen

gehabt zu haben, genützt  ? Wenn mit dem Kopf auch das Wort konfisziert würde, das

er zu geben hatte  ! Wenn dieselbe Maschinerie, gegen die er anrennt, ihn noch rück-

wirkend zum Verstummen bringen kann  ! Er will ihr zeigen, daß in ihm denn doch

etwas mehr Platz hat als ein Scherflein  ; daß sein Durchhalten ein ganz anderes wäre  ; daß er den Zustand einer Weltkinderstube, in der Gewehre von selbst losgehen, nicht mit dem Plan eines Gottes in Übereinstimmung bringen kann, der Geist und Gras

wachsen ließ und der eine Menschheit verwirft, die beides niedertrampelt. Gewiß, lieber den Kopf anders wagen als durch die schweigende Zeugenschaft solcher Dinge

in den Verdacht der Nachwelt zu kommen, man hätte keinen gehabt, man sei nur so schlechtweg ein deutscher Schriftsteller von anno 1915 gewesen. (WG 33–34)

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Der Gedanke, dass Kraus nur ein Literat gewesen sei, wäre bei ihm auch vor dem Krieg nicht aufgekommen. Eindrucksvoll verbindet sich seine Einschätzung der politischen Situation mit einem apokalyptischen Ausblick. Die „Ausnahme“, die ihm ein im Untergang begriffenes Staatswesen bot, nutzte Kraus, um über das aktuelle Geschehen hinaus auf das zu verweisen, was den Verantwortlichen drohte  : Auch das Wort durfte in dem Augenblick, als es mußte  ; und ich bin bestechlich genug,

einzuräumen  : möglicherweise habe dieser Staat durch die Anerkennung einer Aus-

nahme vom Ausnahmszustand bewiesen, daß in ihm wie in jedem Staat mit absolutistischen Neigungen noch ein Endchen Gefühl für seine kulturellen Trümmer lebt.

Daß er selbst noch eine letzte Träne hat, von einer wehen Ahnung her, wir würden,

wenn dieses Abenteuer durchgeträumt ist, auf einem blutigeren Schlachtfeld erwachen, auf jenem unbegrenzten Absatzgebiet der Zeithyänen, aus dessen unendlicher

Ödigkeit die neue Macht aufsteigt, im Ghetto der Hölle niedergehalten durch Jahrhunderte, nun die Erde verwesend, die Luft erobernd und zum Himmel stinkend.

(WG 34)

Was Kraus umtrieb, war das Ziel einer prophetischen Schau und nicht bloß einer moralischen Empörung. Auch nicht die besserwisserische Selbstüberheblichkeit eines notorischen Protestlers sprach aus ihm  ; er hatte dagegen die Opfer und die funktionalen Glieder der im Untergang begriffenen alten Ordnung vor Augen  : Mögen die von Beruf oder Geburt Konservativen, Adel, Kirche und der Krieger selbst, den Mut verloren haben vor dem unerbittlichsten Feind, so daß sie sich mit ihm um

angeblicher Notwendigkeiten willen verbünden. Mögen sie, wie aus einer rätselhaften

Pflicht allgemeiner Wehrlosigkeit, tagtäglich das Falsche tun – irgendeinmal spüren

sie doch den Wert des Wortes, das ihnen zwar nicht Mut machen kann, wohl aber

Scham und jenes Gefühl, das an der allermaßgebendsten Stelle gar wohlgefällig ist  :

Reue. (WG 34)

„Reue“, nicht Rache – so lautet das Schlüsselwort für den Bruch des Schweigens. Die Rache führte nämlich in den kommunistischen und faschistischen Diktaturen, zumal in Mittel- und Osteuropa, zu neuen Gewaltexzessen. Reue hingegen bildet die Voraussetzung für die Umkehr, das Umdenken, für die Metanoia, zu der neben Jesus auch die alttestamentlichen Propheten aufrufen, deren Wortgewalt aus Kraus herausbricht  :

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Darum Gnade den schwachen Mächtigen  ! Der Herr erleuchte sie im Schlafe  ! Wollten sie mir, wenn sie der Alpdruck dieser todgewissen Zukunft aufschreckt, in einem

Augenblick instinktiver Einkehr, in solchem vom politischen Bewußtsein unbewachten Moment, wenn alle Klingklanggloria schweigt, wenn das Läuten der Kanonen

und das Schießen der Kirchenglocken verstummt ist, wollten sie mir dann, einmal,

leihweise, die Exekutive überlassen, die lange genug ein fauler Zauberlehrling in ihrer

Vertretung innehatte – so verpflichte ich mich als alter Unmenschenfresser  : den größten scheinbaren Widerspruch, den es jetzt gibt, aus der Welt zu schaffen, den zwischen der blutigen Mechanik der Taten und der flotten Mechanik der Seelen.

(WG 34–35)

Mit dieser Flut von Übertreibungen wird ersichtlich, dass Kraus das Terrain der reinen Literatur verlassen hatte. Er nahm ins Visier, wozu die Phantasie nicht ausreichte  : die Wirklichkeit, „damit auch meinem Wort die Tat folge“ (WG 35). Durch alle Polemik scheint der Gedanke der Rettung der eigenen Kultur – und nicht des Kulturbetriebs, gegen den Kraus mit allen rhetorischen Mitteln zu Felde zog. Dass sich hinter dem Krieg mit seinen Gräueln der Aufstieg jener Macht anbahnte, „im Ghetto der Hölle niedergehalten durch Jahrhunderte“ (WG 34), ahnte er. Dabei unterscheidet sich seine Sicht der Geschichte grundlegend von der Melancholie eines Joseph Roth, Reinhold Schneider oder Stefan Zweig. Eine Verklärung der alten Ordnung blieb für ihn dadurch ausgeschlossen, dass die sie tragenden Säulen – „wie aus einer rätselhaften Pflicht allgemeiner Wehrlosigkeit“ (WG  34)  – den destruktiven Kräften aus Politik, Militär und Gesellschaft auf fatale Weise erlegen waren. Dies war auch eine Folge des Versagens der zeitgenössischen Theologie, die um die Jahrhundertwende den Blick von der eschatologischen Dimension der Geschichte abwendete – von einer prophetischen Gestalt wie Kardinal Newman einmal abgesehen. Die Gründe dafür weisen weit in die Vergangenheit, in die Welt des Barock, wie aus Benjamins Trauerspielbuch hervorgeht  : Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einem

Katarakt entgegentreiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie  ; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert.30

30 Benjamin (1991), Bd. 1.1, S. 246.

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In diesen „Mechanismus“ griff Kraus ein. Sofern Schweigen ein Einvernehmen mit der herrschenden Tendenz in Geschichte und Gesellschaft bezeugt, hatte er diesen bereits Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges manipuliert – in „Apokalypse“ vom Oktober 1908, die seinen Untergang der Welt durch schwarze Magie eröffnet. Mit ironischem Unterton heißt es im ersten Absatz  : „Am 1. ­April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.“ (U  9) Kaum jemand zeigte die Diskrepanz zwischen technischem Fortschritt und dem Rückfall des Geistes – zumal des deutschen – in den „bloßen Schöpfungsstand“ schärfer auf  ; von ebendiesem sprach Benjamin in Bezug auf die Formensprache des deutschen Trauerspiels des Barock  : Die werdende Formensprache des Trauerspiels kann durchweg als Entfaltung der

kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen. Und deren eine, wie der Ausfall aller Eschatologie sie mit sich bringt, ist der Versuch, Trost im Verzicht auf einen Gnadenstand im Rückfall auf den bloßen Schöpfungsstand zu finden. […] Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des

Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur

Schau stellt, vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieser Ver-

hängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans. Die Abkehr von der

Eschatologie der geistlichen Spiele kennzeichnet das neue Drama in ganz Europa  ;

nichtsdestoweniger ist die besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur spezi-

fisch deutsch.31

Was Benjamin am deutschen Trauerspiel als Kunstform registrierte, fand zuvor, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Bereich von Politik und Geschichte statt. Und nach dem Weltkrieg setzte sich der sittliche Verfall fort, etwa mit Heideggers „besinnungslose[r] Flucht in eine unbegnadete Natur“ – ‚Seyn‘ genannt. So wie das deutsche Trauerspiel „sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung“ vergraben hatte, so „tritt“ bei Heidegger „das seinsgeschichtliche Denken des anderen Fragens nun nicht etwa in die Helle des Tages“  : Es bleibt in der eigenen Tiefe verborgen, aber jetzt nicht mehr, wie seit dem ersten

Anfang des abendländischen Denkens während der Geschichte der Metaphysik, in 31 Ebenda, S. 259–260.

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der Verhüllung seiner Verschlossenheit im unerbrochenen Ursprung, sondern in der

Klarheit eines schweren Dunkels der sich selbst wissenden, in der Besinnung erstandenen Tiefe.32

Da von der modernen Zivilisation nach Heideggers Ansicht ohnehin nichts zu erwarten sei, wurde deren Untergang von ihm willkommen geheißen. Kraus ist von derlei Zivilisationskritik weit entfernt, weil er die Kräfte beim Namen nannte, die sich anschickten, Natur und Zivilisation, Schöpfung und Kultur zu zerstören  : „Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu mißbrauchen, aufgelehnt […].“ (U 9) Seinen optimistischen Tonfall behielt Kraus allerdings nicht bei  : „Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen […]. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt gedulde sich das Chaos […]  !“ (U  9–10) Wiewohl der Verweis auf die Luftschifffahrt aus heutiger Sicht obsolet anmutet, so wurde damit eine gesellschaftliche Fehlentwicklung bezeichnet  : „Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre.“ (U 10) Welche „Sendung“ hier gemeint war, sollte sich Jahre später offenbaren. Kraus führte die einzelnen Stationen dieser Sendung an und bezog sie auf den technischen Fortschritt  : Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische

Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange

machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Sicherheit dieser

Ordnung ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, daß ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte. (U 10)

Solcherlei „Dummheit“ war der Menschheit nicht angeboren, sondern sie wurde erworben – durch den Konsum von Presseprodukten sowie den allgemeinen „unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung“, an der auch die Kirche teilhatte  : Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und

findet keine Wälder mehr. […] Wehe, wenn es so weit kommt, daß die Bäume bloß 32 Heidegger (1989), Bd. 65, S. 431.

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täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen  ! „Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht

haben… Menschen ähnlich waren ihre Gesichter… Und es ward ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädi-

gen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.“

Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht. (U 10–11)

Kraus kommentierte seine Zeit als apokalyptische Realsatire. Nicht Prognosen gewährte seine Apokalypse, sondern sie sprach durch Bilder  : D u r c h D e u t s c h l a n d z i e h t e i n a p o k a l y p t i s c h e r R e i t e r, d e r f ü r v i e r e a u s g i b t . [ … ] „U n d d e m R e i t e r w a r d M a c h t g e g e b e n , d e n

Fr i e d e n von d e r E rd e z u n e h m e n , u n d d a ß s i e s i c h e i n a n d e r e r w ü r g t e n . “ (U 12)

Kraus, der gelegentlich mit seiner Rolle kokettierte, gab sich letztlich keinerlei Illusion über seine Aufgabe hin  : Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies schon in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet  ? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird  ? Und wenn ihm selbst bange

wird  ? (U 14)

Daraus leitet sich Kraus’ Obsession ab, seiner Zeit die Stirn zu bieten. Nicht dass der Geist, der in der biblischen Apokalypse als offenbarende Kraft auftritt (vgl. Offb. 1,10  ; 2,7,11 u. 22,17), sterblich wäre. Im Zustand seiner Auslöschung jedoch, die sich in den totalitären Systemen des letzten Jahrhunderts zeigte, ist der Weg geebnet für die verhängnisvollen Gewalten. Kraus vermochte standzuhalten, wie Christus standhielt. Das Foto, das dem Weltgericht als Frontispiz beigegeben ist und Die letzten Tage der Menschheit abschließt, zeigt einen leidenden Jesus, auf einem lothringischen Feldkreuz, das wohl eine Granate weggeschossen hatte  : einen Christus, der sich den Heeren entgegenzuwerfen scheint. Das Kreuz fand sich wieder – auf Millionen Gräbern.

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Literaturverzeichnis Benjamin, Walter, Band 1.1  : Abhandlungen. In  : Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1991. Haecker, Theodor  : Tag- und Nachtbücher. 1939–1945. Hg. von Hinrich Siefken. Innsbruck 1989. Heidegger, Martin  : Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 1975 ff. Band 2  : Sein und Zeit, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1977. Band 64  : Der Begriff der Zeit, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2004. Band 65  : Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1989. Band 96  : Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. von Peter Trawny. Frankfurt a. M. 2014. Hölderlin, Friedrich, Band 2  : Gedichte nach 1800. In  : Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner. 6 Bde. Stuttgart 1953. Kraus, Karl  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986 ff. Band 3  : Literatur und Lüge. Frankfurt a. M. 1987. Band 4  : Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. M. 1989. Band 5  : Weltgericht I. Frankfurt a. M. 1988. Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 1986. Schneider, Reinhold  : Philipp der Zweite oder Religion und Macht. Leipzig 1931.

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Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘ Eine dichte Beschreibung der dispositiven Funktion des Weltkriegs „Im Frieden kommst Du nicht vorwärts, im Krieg verblutest Du.“ (Tagebuch, 19. September 1917)1

1. Vorspiel

1.1 Methodisches Franz Kafka schrieb besonders intensiv in den Jahren von 1912 bis Ende 1914, in denen neben Erzählungen und Romanen auch ein umfangreiches Tagebuchkonvolut entstand.2 Kafkas besondere Form der Tagebuchführung, aus der viele seiner Texte hervorgingen, gestattet eine Rekonstruktion der ihn betreffenden Schreiberregungsakte, die in aller Regel aus bestimmten kultur- und zeithistorischen Anregungen hervorgingen. Daraus ergibt sich eine Matrix für die Eigenart der Schreibzustände eines Autors, dessen Leben eine einzige Jagd nach zureichender Schreiberregung genannt werden darf. Kafkas Tagebücher können daher ‚dicht‘ im Sinne von Clifford Geertz beschrieben werden.3 Vor allem der Erste Weltkrieg wird dadurch in seiner dispositiven Funktion deutlich. Dadurch wird ersichtlich, von der objektiven Basis des New Historicism ausgehend, dass im Schaffen dieses existentialistischen Schriftstellers die ‚sozialen Energien‘ seiner Zeitepoche intensiv mitschwangen, und das in einem beschreibbar variierten Pulsschlag. Dies gilt besonders für die Zeit des Ersten Weltkriegs und 1 Franz Kafka  : Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch und Michael Müller [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 834. – Im Folgenden wird die Sigle TB unter Angabe der Seitenzahl verwendet. 2 Dieser Beitrag präsentiert signifikante Ergebnisse der Beschäftigung des Vf. mit Franz Kafka. Daher liegen neben einschlägigen Argumentationssträngen in überarbeiteter Form auch entsprechende Formulierungen vor. 3 Siehe Clifford Geertz  : Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983.

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den einschlägigen Vorlauf durch die 1912 beginnenden Balkankriege. Kafka war in diesen Jahren österreichischer Beamter, und zwar ein durchaus engagierter. Was man in Bezug auf Robert Musil zu konstatieren vermochte,4 dass nämlich sein Mann ohne Eigenschaften sämtliche Bewegungen einer Vorkriegs-Wirklichkeit, die auf den Krieg zu drängte, erzählerisch versammelte, das gilt variiert auch für Kafkas Erzählungen und Romane – und zwar im Wesentlichen für die seit 1912 entstandenen. „Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige“5 – dieser Musil-Satz aus „Was arbeiten Sie  ? Gespräch mit Robert Musil“ von 1926 zielt auf die nämlichen ‚sozialen Energien‘, die im Zentrum seines Lebens-­ Romans stehen und eben auch Kafka zum Schreiben antrieben.6 Abgesehen davon, dass beide in den Kategorien des statistischen Versicherungs-Jargons über den Krieg und seine desolate Wirklichkeit reflektierten, waren sie auch Bürger des gleichen Staates, der im Untergang begriffenen Donaumonarchie. Musils lakonisches Erzählen über den Einbruch eines Unwirklich-Möglichen in die statistisch dominierte, langweilig-berechenbare Wirklichkeit von „Aeins“ und „Azwei“ in der Amsel ist weniger weit entfernt von Kafkas reifen Werken, als die Literaturwissenschaft es gemeinhin wahrzunehmen pflegt. Zumindest realisiert man inzwischen, dass in Prag ‚soziale Energien‘ flottierten, die in Kafkas Schrei­ben eingingen. Und die jahrzehntelang gepflegte Mär vom sexualneurotischen Kafka betrachtet man jetzt offenbar als überholt. Allerdings existiert noch immer die Behauptung, Kafka hätte aus eigensüchtigen Interessen die Kriegsanleihen seines Staates gezeichnet, eine These, die im Zuge dieser Abhandlung einer Korrektur unterzogen werden wird. Jene bei Kafka wie Musil, diesen Intellektuellen ‚Kakaniens‘, gegebene Breite der Wahrnehmung hat sicherlich mit einer Besonderheit der Donaumonarchie zu tun  : damit, dass es Versuche wie den Otto von Bismarcks, Polen zu „germanisieren“, so nie darin gegeben hatte, sondern immer nur das Privileg einer weitgehenden Autonomie der zahlreichen, selbst multikulturell strukturierten 4 Dieser Autor war der Soldat im Ersten Weltkrieg, der Kafka seinerseits werden wollte, aber nicht konnte, denn seine Versicherungsanstalt sah ihn für unabkömmlich an. 5 Robert Musil, Band 7  : Kleine Prosa, Aphorismen und Autobiographisches. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. 9 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 941. 6 Siehe hierzu Arno Rußegger  : „Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.“ Erster Weltkrieg und literarische Moderne – am Beispiel von Robert Musil. In  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 229–245.



Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘ |

Regionen. Diese faktische Nicht-Unterordnung unter eine „Leitkultur“ bewirkte offenbar im Mann ohne Eigenschaften eine ganz andere Wahrnehmung der Wirklichkeit als etwa in Gustav Freytags Soll und Haben. Somit offenbart sich auch über das Ende der Donaumonarchie hinaus ein ganz besonderes Phänomen in der Kulturgeschichte Europas  : Das eines nur eingeschränkt gültigen kulturellen Zentrums. Wiewohl die Kultur der Donaumonarchie deutschsprachig dominiert war und abstrahlte auf die polnische, kroatische und serbische Literatur, ließ sie zugleich Raum für anderes. Was im Folgenden zu Musils Werk zitiert wird, trifft deshalb auch auf Kafkas Der Bau zu als einen Text, der sich aus Bernhard Kellermanns Grabenkriegs-Schilderungen ebenso wie aus dem Erleben des damals im Aufstieg begriffenen Nationalsozialismus speiste  : Was den Krieg angeht, der nichts anderes ist als eine maximale Potenzierung der

Normalzustände, […] bedeutet das, daß dort nicht das Chaos schlechthin herrscht, sondern das durch und durch verwaltete, propagandistisch ausgeschlachtete Grauen  ;

das hätte übrigens Musils ebenfalls nicht fertiggestelltes Bühnenstück mit dem Arbeitstitel „Panama“ […] zum Inhalt haben sollen, […] eine Weltkriegsburleske auf die

Technokratisierung von Massen-Kampfhandlungen und auf die Bürokratisierung der Truppenbewegungen, des Nachschubs sowie der Opferung von Menschen […].7

An dieser Stelle sei erinnert an die Schlussutopie von Kafkas erstem Roman, des Verschollenen, über den zu sprechen sein wird, wenn es um die dispositive Macht des Weltkriegs geht. Die Texte lassen sich unter diesem Blickwinkel neu erschließen und geben einen Schreiber im nächtlichen Prag frei, der nicht nur ein durchaus parteiischer Staatsbeamter, sondern auch ein engagierter und informierter Teilnehmer an den zunehmend kriegerischen Zeitläuften gewesen war. Dabei handelte es sich um eine Epoche, die bis in seine Albträume hinein wirkte, die ihn aber eben auch in die ‚Manövertätigkeit‘8 seines Nacht-Schreibens hineintrieb, aus dem eine völlig neue Literatur hervorging. Die Entstehung des Futurismus oder Expressionismus aus dem Geist des Kriegsenthusiasmus bildet den literaturgeschichtlichen Aspekt dieser Zeit. Die Behauptung, dass die literarische Moderne aus den Kataklysmen des Ersten Weltkriegs geboren worden sei, lässt sich auch mit Kafkas Werk belegen. Das kulturgeschichtlich weite Feld 7 Ebenda, S. 239. 8 Vgl. Franz Kafka  : Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt a. M. 1983, S. 229.

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reicht hierbei von der Pariser Weltausstellung über die Dreyfus-Affäre, von der Flottenaufrüstung bis zur Eugenetik, von den hektischen Friedensverhandlungen und den Antikriegs-Bestsellern bis zum Anwachsen der sozialdarwinistischen Gedankengebäude. Diese Achsenjahre führten den Kontinent, als er 1914 in seinen Untergang hineinstolperte  – so eine zeitgenössisch kreierte Metapher  –, in eine neue Ära der modernen Literatur. Der Prager tritt auch unter diesem Aspekt als ein typischer Autor der Moderne in Erscheinung. 1.2 Europa im Vorkrieg  : Bestimmende Konstellationen und ein musikalisches Exempel Dass Franz Kafka ein Kind des totalitär werdenden frühen 20.  Jahrhunderts war, lässt sich an seinem Schreiben ablesen. Theodor W. Adorno wusste diesen Faktor noch zu berücksichtigen, doch später, in Postmoderne und Dekonstruktion, ging diese Einsicht verloren. Bei Anbruch dieses neuen Jahrhunderts, im Jahr 1900 bzw. 1901, befand sich Europa seit vielen Jahren in einem seltsamen, fast paranoiden Zustand emotionalen Gespaltenseins. Es feierte einerseits sich selbst und den fast ein halbes Jahrhundert währenden Frieden, erschauerte andererseits jedoch vor jedem unvorhergesehenen Ereignis in panischer Kriegsfurcht. Otto von Bismarck soll „[s]ome damned foolish thing in the Balkans“ prophezeit haben.9 Dieses Zitat, das angeblich aus dem Jahr 1878 stammt, hört sich verwirrend aktuell an und veranschaulicht die Stimmung Europas im damaligen Vorkrieg  – doch es ist philologisch nicht verbürgt. Jenes hat sich dadurch verbreitet, dass Barbara Tuchman es in ihrem bedeutenden Buch „The Guns of August“ zitiert. Somit zeigt sich eine Prophezeiung, die womöglich gar nicht stattgefunden hatte, eine Erkenntnis, die vielleicht erst hinterher formuliert wurde – und die dennoch bestürzend genau zusammenfasst, was damals als Ahnung allgemein verbreitet war.10 Vor allem seit 1900 gab es immer wieder vielbeachtete Publikationen und Konferenzen zum Thema des Weltfriedens, mit denen apokalyptische Angst und messianische Hoffnung sich vexatorisch kreuzten. Damit zeigte sich ein von Aporien geprägter sozialenergetischer Prozess, der sich in der Entstehung von Büchern wie dem „Untergang des Abendlandes“ manifestierte, eines Weltbestsellers, den Oswald Spengler unter dem   9 Vgl. Barbara Tuchman  : The Guns of August. New York 1962, S. 91. 10 Vgl. hierzu Gerhard Jelinek  : Schöne Tage, 1914. Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wien 2013, S. 11.



Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘ |

Eindruck der Agadir-Krise vom 1.  Juli  1911 zu schreiben begann. An dieser Stelle sei ein Spengler-Zitat angeführt, das aus seinen „Jahren der Entscheidung“ stammt  : Nur der unwahrscheinliche Friede seit 1870, den die Angst der Staatsmänner vor nicht absehbaren Entscheidungen über die „weiße“ Welt gebreitet hatte, hielt die

allgemeine Täuschung über die unheimlich schnell näherrückende Katastrophe aufrecht. Die düsteren Vorzeichen wurden nicht bemerkt und nicht beachtet. Ein ver-

hängnisvoller, flacher, fast verbrecherischer Optimismus – der Glaube an den unent-

wegten Fortschritt, der sich in Ziffern aussprach […].11

Diese grundlegende Spannung bestimmte auch die Jahre, in die Franz Kafkas Sozialisation gefallen war, in denen er aufwuchs. Der 1883 geborene Kafka war kurz vor dem Jahrhundertwechsel 17 Jahre alt geworden. Er stand damals am Ende der Gymnasialzeit, bereitete sich auf sein Studium und ein Leben als Beamter und Schreibender vor, arbeitete auch bereits an einem Gesellschaftsroman, aus dem dann, über ein Jahrzehnt später, der Verschollene hervorging. Dessen Abschluss verdankt sich dem Beginn des Balkanbzw. Weltkrieges, wie eine direkte Rekonstruktion der Schreibantriebe offenbart. Kafka war damals bereits ein Nietzsche-Leser, vor Anbeginn des neuen Jahrhunderts, das als ‚kurzes‘ und totalitäres zum Kollaps seines persönlichen Lebensbereichs führte. Damals ging zu Ende, was Zweig später in „Die Welt von Gestern“ beschrieb, in einem Buch, das 1942 posthum erschienen war. Das Ende dieser Welt zeichnete sich vor Beginn des neuen Jahrhunderts in einem ästhetischen Ereignis ab, das man als das „Tosca“-Syndrom bezeichnen mag. Dabei handelte es sich nicht zufällig um ein musikalisches Ereignis. Die gesamte Epoche stand nämlich unter der Dominanz der österreichischen wie italienischen Musik. Selbst Kafkas letzte Reverie, sein durch Literatur herbeigerufener Psychopompos, die Josefine-Erzählung, galt jener einmalig großen Musik, die maßgeblich die Identität Mitteleuropas geprägt hat  : […] eine neue Sprache über den Sprachen – in der Musik. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sind […] die Musiker die Bannerträger der europäischen Ein-

heit, die repräsentativsten Vertreter des Kosmopolitismus […]. […] Der Österreicher

11 Oswald Spengler  : Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933, S. 94–95.

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Mozart wird mit vierzehn Jahren in die Akademie von Bologna aufgenommen, und seine berühmtesten Werke, der Don Giovanni, Così fan tutte, Le nozze del Figaro

erheben italienische Worte in den Himmel unsterblichen Gesangs. […] Händel, Mozart, Haydn, Gluck, Spontini […] – alle Priester eines einzigen Gottes […].12

Dieser Gott hinterließ auch einen Abglanz im Werk des Prager Schriftstellers  : in Form der Gerechtigkeit und ihres göttlichen Lichts. Die damalige Theater- und Opernwelt war bereits international in unserem heutigen Sinn. Der Prager Theaterdirektor Angelo Neumann war ein persönlicher Freund Richard Wagners. Und Kafka hatte auf dem Schulhof Prügeleien darüber erlebt, ob Wagner denn Verdi vorzuziehen sei  – oder umgekehrt. Im stupenden Erfolg der Puccini-Oper, der in Rom begründet wurde und der sich auch in Wien fortgesetzt hatte, erlangte die besondere Signatur dieser Epoche, die zwischen der Weltausstellung und dem Dreyfus-Skandal eingeklemmt war, ein künstlerisches Abbild. Dem Veristen Giacomo Puccini, dessen Musik weder die sentimentale Süße eindringlicher Arien noch die Dramatik eines TenorGesangs scheute, der aus der Folterkammer drang, gelang mit „Tosca“ im letzten Jahr vor dem neuen Jahrhundert ein Welterfolg. „Tosca“ wurde in den folgenden Jahrzehnten eines der erfolgreichsten Stücke der gesamten Operngeschichte und läutete gerade in seiner dramatischen Umschlagsstruktur das neue Jahrhundert ein. Puccini schrieb sein Stück im damals unerhört neuen Stil eines Verismo, dessen skandalisierender Innovationsdrang keine Gewaltdarstellung mehr scheute. Auch deshalb erscheint seine Oper als ein wahres Spiegelbild der Belle Époque. Geschrieben im Bann von Sarah Bernhardt, dem absoluten Bühnen- und Medienstar der damaligen Jahre, stand die Oper schon im Zeichen der globalen Präsenz der damaligen Theater-Berühmtheiten. Kafka war dann einer der ersten Schriftsteller deutscher Sprache, dessen Werk vom Kino angeregt wurde. Daraus entstand sein Amerika-Roman. Opern-Motive, die vor allem auf Einflüsse durch Wagner zurückgehen, finden sich in seiner Literatur häufig. In die veristische „Tosca“-Oper sind Puccinis eigene politische Interessen und Ahnungen eingegangen. Denn unter der kunstvollen, durchaus dekadenten Überformung eines rohen Lebens deutete sich die kommende politische Gewalt an. Puccini zeichnete sie als verführerisch und bedrohlich zugleich. Am Ende siegt ihre schreckliche Substantialität über allen schönen Schein in der Kunst. 12 Stefan Zweig  : Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. 1904–1940. Stockholm 1946, S. 312–314.



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Der frauenverführende Maler, der Maria Magdalena mit lasziv entblößter Brust malt, gerät in die lustvoll folternden Mühlen eines politischen Kampfes, ohne dies wirklich verschuldet oder gewollt zu haben. Die Aussage des Stückes lautet, dass sich Kunst nicht fernzuhalten vermag vom kruden Politischen, das wegen seiner inneren Natur immer gewaltsam bleiben wird. Das ist bereits die Welt von Kafkas Proceß, den der Prager bei Weltkriegsausbruch in durchwachten Nächten zu schreiben begann. Für Cavaradossi erweisen sich die Kugeln des Erschießungspelotons keineswegs, wie von der Staatsmacht vorgegaukelt, als bloße Schreckschüsse. Die Verklärung der Kunst in der Musik, und auch in der Liebe, als Abschied von der Gewalt in Politik und im Krieg endet in dem Stück mit einer schrecklichen Rückkehr zur Gewalt. Als ein Syndrom des beginnenden Vorkriegs-Zustandes wurde diese Oper zu einem sprechenden Emblem der aufkommenden Ästhetisierung der Gewalt, wodurch der italienische Futurismus (und womöglich der spätere Faschismus) vorweggenommen wurden. Das gewaltbereite Unterfutter eines hochzivilisierten Europas, das zum damaligen Zeitpunkt schon seit fast einem halben Jahrhundert keinen großen Krieg mehr geführt hatte, lugte darin verräterisch hervor. Lange vor dem Skandal des „Sacre du Printemps“ verkörperte der „Tosca“-Erfolg die irritierende Signatur dieser Vorkriegsepoche, die zwischen Fortschrittsglauben und Angst, Weltausstellung und Dreyfus-Affäre, Utopie und Apokalypse schwankte. Jene Ambivalenz blieb lange Zeit durch die beiden Totalitarismen des ‚kurzen‘ 20.  Jahrhunderts verdeckt, die bald auf das Ende der Vorkriegsepoche folgten. Franz Kafka ist der Autor, der dieses Wesen in seiner Widersprüchlichkeit erkannte. 1.3 Weltausstellung in Paris versus die Dreyfus-Affäre Die Pariser Weltausstellung von 1900 fungierte als globale Bühne, auf der sich das Jahrhundert in einer Art von Gesamtschau präsentierte – sie stellte stolz zur Schau, was viele ihrer Zeitgenossen zutiefst erschreckte. Und dies fand statt in der ‚Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‘, als die Paris immer noch galt.13 Walter Benjamin mit seiner Hommage übersah keineswegs, dass die Faszination, die von dieser Metropole ausging, eine tief gespaltene war. Deren Doppelcharakter hatte bereits der Schriftsteller Émile Zola im Jahr 1896, anlässlich der Heraus13 Siehe Walter Benjamin, Band 5.1  : Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, hg. von Rolf Tiedemann. In  : Das Passagen-Werk = Gesammelte Schriften. Hg. von dems. und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1991, S. 45–59.

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gabe seines Romans Fruchtbarkeit, festgestellt.14 Was nun ein Held aus Böhmen in einem Kontinent erleben konnte, der eigentlich nichts anderes als eine einzige riesengroße Stadt war, zeigte Kafka dann im Verschollenen, mithin in einem Text, der durch ein Kinostück über den frankophoben Reiterhelden Theodor Körner initiiert wurde und im karnevalistisch kostümierten Bild der großen Mobilmachung endet. Der Kriegsbeginn vom August 1914 erscheint so als das Ende der Weltausstellungs-Welt von 1900. Bevor der Konnex zwischen Balkankrieg und dem Verschollenen besprochen werden soll, sei noch auf folgenden Umstand verwiesen  : Franz Kafkas gesamte Sozialisation wurde bestimmt von der Dreyfus-Affäre. Sie begann 1894 und endete erst mit der Rehabilitierung des Artillerie-Hauptmanns und Mitglieds des französischen Generalstabs im Jahr 1906. Dies geschah jeweils in Paris, nach über einem Jahrzehnt erbitterter Auseinandersetzungen, die ganz Frankreich, bis in die Familien hinein, spalteten und schließlich mit einem Sieg der französischen Intellektuellen und der liberalen Kräfte endeten. Émile Zola, der führend daran beteiligt war, kostete sein Engagement womöglich nicht nur Jahre des Exils, sondern am Ende sogar sein Leben.15 Dass Kafka von der Dreyfus-Affäre zutiefst beeinflusst werden musste, liegt auf der Hand. Die vor einer chauvinistischen Öffentlichkeit vollzogene Degradierung des aus dem Elsass stammenden Juden war die bedeutendste politisch-gesellschaftliche Affäre in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Als Zeitungsereignis ging sie um die Welt. Der Begründer des Staates Israel, Theodor Herzl, verfolgte die demonstrativ auf Demütigung angelegte Degradierung in Paris als Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse“. Herzl hatte zuvor, mit geradezu negativer Faszination, die Bibel des französischen Antisemitismus, Édouard Drumonts „La France juive“, durchgearbeitet (ein Buch, das 1886 erschien und eines der größten Bucherfolge des 19. Jahrhunderts war).16 In dieser Schrift wurde der omnipräsente Einfluss der Juden, zumal derer, die aus den deutschen Ghettos gekommen sein sollten, für den diagnostizierten Abstieg der Grande Nation verantwortlich gemacht. Herzl, der zuvor noch an die Idee einer vollständigen Enkulturation der Juden geglaubt hatte, wurde durch das Erlebnis der Dreyfus-Degradierung zum Begründer des Zionismus. Die lesende Öffentlichkeit in Wien und auch in Prag, inklusive der Familie Kafka, war Zeuge, als sich am 5.  Januar  1895 jenes Schauspiel ereignete, das 14 Vgl. Philipp Blom  : Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München 2009, S. 31. 15 Vgl. ebenda, S. 27. 16 Édouard Drumont, Band 1  : Das verjudete Frankreich. Versuch einer Tagesgeschichte. 2 Bde. Berlin 1886.



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besonders demütigend dadurch geriet, dass eine Menge an Gaffern zugegen sein durfte, als man dem in tadelloser Haltung verharrenden Dreyfus die Knöpfe und Schnüre der Uniform, die man vorher gelockert hatte, mit dennoch ­dramatischem Kraftaufwand abriss. Der österreichische Jude Herzl beobachtete dies und wurde zum Zionisten, als der er dann den folgenreichen „Judenstaat“ schrieb. Während Kafka selbst weiter unbeirrt auf Assimilation setzte, wurde die Degradierungs-Szene zum Urbild des am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Antisemitismus. Bald war sie überall in Europa als Schreckbild zugegen – und damit nicht nur in Kafkas Strafkolonie. Wenn es eine bestimmende Größe von kulturgeschichtlicher Dimension in Kafkas Jahren der Sozialisierung gegeben hatte, war es die Pariser Dreyfus-Affäre, die im Widerspruch zur hoffnungsvollen Weltausstellung der Jahrhundertwende stand. Mit ihr wurde sichtbar, was Kafka sein Leben lang panisch gefürchtet hatte – die Rücknahme der in Mitteleuropa vollzogenen Assimilation, die er später mit künstlerischen Mitteln im Proceß thematisierte  : „Dreyfus wurde ein Bestandteil der literarischen Welt der Juden.“17 Ohne Zweifel wären Texte wie Der Proceß oder In der Strafkolonie nicht entstanden, wenn es den Dreyfus-Prozess nicht gegeben hätte. Dieses Erregungsphänomen von gesamteuropäischem Ausmaß brachte den Schriftsteller Kafka als einen Angstschreiber völlig neuen Typs hervor, der zudem bereits von Kierkegaards Schriften beeinflusst worden war. Hierin zeigt sich die Urquelle der Kafka’schen Angst, die eingebettet lag in die zeitgenössischen ‚sozialen Energien‘. Diese ging von der ‚Welthauptstadt‘ Paris aus sowie von einer damit verbundenen quälerischen Lust an perverser Erotik. Beides ging ein in die Grundanlage der Strafkolonie als nicht nur einer Variation des Dreyfus-Themas, sondern auch als Bezugnahme auf eine dekadent-erotische Erzählung Octave Mirbeaus. Dadurch wird die besondere ideelle Stellung der Belle Époque erkennbar, die neben technischer Zuversicht und tiefer Angst auch von einer betäubenden erotischen Stimulation geprägt gewesen war. Kafka als durchaus neurasthenischer Erotiker und Vertreter des Dandy­ tums war ihr Zeitgenosse. Gerade im Schicksalsjahr 1914 hatte Kafka immer wieder darüber geschrieben. Die veröffentlichten Briefe und Tagebücher von Dreyfus, der auch eine erfolgreiche Selbstbiographie schrieb, trugen das Ihre dazu bei.

17 Sander L. Gilman  : Dreyfusens Körper – Kafkas Angst. In  : Dreyfus und die Folgen. Hg. von Julius H. Schoeps und Hermann Simon. Berlin 1995, S. 212–233, hier  : S. 213.

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2. Hauptstück

2.1 Die Balkankriege und der Beginn des Romanschreibens Bereits im Jahr 1912 wurde es ernst  : Kafkas Schreiben begann an Intensität wie Umfang, an Qualität wie Quantität zu gewinnen, in einem Ausmaß, das dann mit dem Ausbruch des Weltkrieges seinen Höhepunkt erreichte. Seit dem 13. März des Jahres 1912 bestand ein Bündnis zwischen Serbien und Bulgarien (dem sich später Griechenland und Montenegro anschlossen), das sich den militärischen Angriff auf das schwach gewordene multiethnische Osmanische Reich zum Ziel setzte. Die Donaumonarchie sah dieses Bündnis als gegen die eigenen Interessen gerichtet und im Schicksal des multinationalen Osmanischen Reichs ihr eigenes vorgezeichnet. Den gesamten Sommer hindurch erhöhte sich die Spannung, bis dann der Erste Balkankrieg am 8. Oktober Wirklichkeit wurde. Die entsprechenden Vorgänge verfolgte die Presse in Prag selbstverständlich genauestens, auch die Bestrebungen des Osmanischen ­Reiches in den Jahren 1912 und 1913, sein Heer zu reorganisieren – beispielsweise durch eine deutsche Militärmission unter Liman von Sanders. Kafka rezipierte dies mit verblüffender Ausführlichkeit in seinem Tagebuch. Wie alle Prager Zeitungsleser wusste er  : „Deutsche Militärberater waren seit Ende der 1880er Jahre ein fester Bestandteil in Konstantinopel […].“18 Nun sollte eine deutsche Militärmission unter Liman von Sanders zur festen Einrichtung werden. Daraus entstand im Laufe des Jahres 1913 eine ernsthafte diplomatische Krise zwischen St. Petersburg und Berlin, die erst durch deutsches Nachgeben gelöst werden konnte. Dieser Vorgang als direkte Folge des Ersten Balkankriegs führte zu einer unvollendeten Erzählung Kafkas, die unter dem 28. Februar des Jahres 1913 ins Tagebuch geschrieben wurde. Darin besucht ein Herr „Ernst Liman“ Konstantinopel, was er nun „schon zum zehnten Mal“ tat, und trifft auf das abgebrannte Hotel, in dem er sonst immer abgestiegen war (TB 493). Zuvor hatte die türkische Regierung erwogen, einer französischen Militärmission den Auftrag zu erteilen, bis dann am Ende doch die Deutschen den Vorzug erhielten. Über diese Aktivitäten hatte die Prager Presse selbstverständlich ausführlich berichtet, und Kafka thematisiert sogar noch Einzelheiten der damaligen Staatsaktion. Das abgebrannte Hotel (leicht als die desaströse Niederlage der Osmanen im Ersten Balkankrieg zu dechiffrieren) erhält nämlich ein Schild 18 Christopher Clark  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013, S. 439.



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zugeteilt  : „Eine türkische und eine französische Aufschrift zeigte an, daß das Hotel in kurzer Zeit schöner und moderner als früher wieder aufgebaut werden sollte.“ (TB 494) Liman ist am Wiederaufbau beteiligt und trifft dabei auf ein Mädchen namens Fini, das sich ihm geradezu aufdrängt. Mit diesem Motiv bricht die Erzählung auch ab. Kafka, der in seinem Tagebuch angeblich politisch Uninteressierte,19 registrierte nicht nur die deutsche Militärmission zum Wiederaufbau des Osmanischen Reichs, sondern er setzte sogar noch deren Details in seiner Erzählung erfinderisch um. Intensiv erlebte der Prager die „ethnischen Säuberungen“ der Balkankriege, als die Sieger sich wegen ihrer Beute zerstritten und ihre eroberten Territorien auf brachiale Weise zu „homogenisieren“ beabsichtigten. Die seit der DreyfusAffäre in Europa schwelende Angst, der zivilisatorische Firnis könnte brüchig werden – gemäß dem „Tosca“-Syndrom – und einen auch rassisch orientierten Krieg zeitigen, wurde für Kafka konkreter, so auch am 4. Mai 1913  : „Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers das […] in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.“ (TB  560) Was dem multiethnischen Reich am Bosporus widerfuhr, fühlte auch ein Beamter des multiethnischen ‚Kakaniens‘, das damals als das nächste Opfer der neuen Gewalt auf dem Balkan galt. In seiner Tagebuch-Phantasie widerfuhr Kafka übrigens genau das, was vor ihm schon der serbischen Königin durch die Messer der Putschisten angetan worden war. Kafka, der eine derartige ‚Selchermesser‘-Phantasie niederschrieb, hatte also nicht zwangsläufig masochistisch veranlagt zu sein. Aufgewühlt wie er war durch die Vorgänge, sah er sich außerstande, sich in einem größeren Umfang literarisch zu betätigen – der „Liman“-Text blieb Fragment. Kafka, der keinen Schlaf finden konnte, entdeckte nun neben Kierkegaards „Buch des Richters“ auch die Verlockung des nächtlichen Schreibens als geradezu mythische, gegengöttliche Weltschöpfung  : „Roskoff, Geschichte des Teufels  : Bei den jetzigen Karaiben gilt ‚der, welcher in der Nacht arbeitet‘ als der Schöpfer der Welt.“ (TB 573) Jetzt erst, im zeitlichen Umfeld dieses Notates vom 23. Juli 1913, trat das selbst-reflektierte Nacht-Schreiben in Kafkas Leben ein als ein sündhaftintensiver wie schöpferisch-verlockender Teufels-Akt. Kafka entdeckte jetzt nicht zufällig seinen Angst-Propheten  : den einsamen Prediger Søren Kierkegaard, der sich protestantisch an den Einzelnen wendete. Zugleich bestärkte ihn dessen Tagebuch im Widerstand gegen die eheliche 19 Vgl. hierzu Saul Friedländer  : Franz Kafka. München 2012, S. 30.

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Bindung und in seinem Wunsch, das Ich dem sündigen nächtlichen Schreiben auszuliefern, diesem letzten Akt einer Weltschöpfung, vollzogen in Zeiten des zur Realität gewordenen rassisch motivierten Ausmerzungskrieges. Solch epochale Angst förderte das Bedürfnis nach Ablenkung, die sich auch als sexuelle Begierde zeigte. Der Prager wendete sich nun ‚Fräulein Bloch‘, der Konkurrentin Felices, zu. Daneben erlebte er im Herbst des Jahres 1913, am Gardasee in Riva weilend, seine zweite große Assimilationsliebe nach der Zuckmantel-Affäre. Diese galt der ‚Schweizerin‘ „W.“ (TB 586)20 und ist ethisch als ein klarer Vertrauensbruch gegenüber Felice zu werten, was keineswegs verhinderte, dass daraus die Werkphantasie für den in Kafkas Werk hochwichtigen Jäger Gracchus resultierte, einen Text, den er freilich erst gegen Ende des Kriegs zu vollenden imstande war. Mit dem durch die Balkankriege sich abzeichnenden Weltkrieg trat ein erotisches Verhältnis in die südlich milde Welt von Riva, das der Prager dann vier Jahre später in seiner selbstbiographischen Paradeerzählung verklärte. „W.“ war eine kindliche junge Schweizerin, mit der er Klopfspiele zwischen den Zimmern betrieb oder auch gemeinsame Bootsfahrten unternahm  : „Ich verstand zum ersten Mal ein christliches Mädchen und lebte fast ganz in seinem Wirkungskreis“ (TB  582), heißt es im Tagebuch am 15.  Oktober  1913. Und unter dem 22. Oktober ist zu lesen  : „Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen zu sterben und das Sich-noch-halten, das allein ist Liebe.“ (TB 588) Mit dieser so heftigen wie plötzlichen Verliebtheit, die ihm half, die Lücke des Nicht-schreiben-Könnens auszufüllen und sich von den Eheplänen mit Felice zu distanzieren, war im Herbst 1913 eine ganz besondere ‚soziale Energie‘ zugegen, ein erhöhter Assimilationswille, der die Folge der Schrecklichkeiten der Balkankriegs-Zeit darstellte. Aus diesem intensiven Liebeserlebnis resultierte, wie gesagt, die Gracchus-Erzählung. Zu Papier gebracht wurde sie erst am Ende des Weltkriegs, als dieser endgültig als verloren galt  – im Jahr 1917, in dem Amerika in den Krieg eintrat. Nun erst wurde Gracchus zu Ahasver, einem neuen ruhelos umherziehenden ‚ewigen Juden‘  – aufgetreten war Letzterer in der Rolle des Liebhabers eines „christliche[n] Mädchen[s]“ aber schon früher. Parallel hierzu wurde seit dem Herbst 1912 der Verschollene weiterentwickelt. Verbunden mit der Arbeit an diesem Werk waren ausgesprochen hurra-patriotische Gedanken, die sich auch noch am 15.  Dezember  1913 zeigten  : „‚Wir Jungen von 1870/71‘ gelesen. Wieder von den Siegen und begeisterten Scenen 20 Eintrag vom 20. Oktober 1913.



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mit unterdrücktem Schluchzen gelesen. Vater sein und ruhig mit seinem Sohn reden.“ (TB 615) Der Atmosphäre allgemeiner Kriegsbestrebungen ausgesetzt, richtete der Prager sich an jenem 15. Dezember auch durchaus skeptisch gegen den eigenen Kriegsdienst  : „Dann darf man aber kein Spielzeughämmerchen an Stelle des Herzens haben.“ (TB 615) Mit dieser Eintragung fügte Kafka sich in die beachtliche Reihe derer ein, die damals, wie er, an Neurasthenie litten (was er gegenüber Felices Vater lang und breit dargestellt hatte). Stets dachte er an das, was drohte  : den Großen Krieg, der dann seine Teilnahme verlangt hätte. Die Balkankriege boten damals Stoff für ausgiebige Gespräche und eine generelle Bekümmerung. 2.2 Eine neue Kino-Welt mitsamt einem ‚Rembrandt-Deutschen‘ Die publizistisch verstärkten Erregungswellen erreichten selbstverständlich auch Franz Kafka. Am 25. September 1912, als der Prager ins Kino ging, steigerte sich seine patriotische Erregtheit derart am Stoff eines Theodor-KörnerFilms, dass er, heimgekehrt, eine neue, die uns überlieferte Fassung des Verschollenen spontan niederzuschreiben begann. So etwas hatte es bislang nicht gegeben  : ein Buch mit nur noch einem Helden im Zentrum, der jetzt bezeichnenderweise Karl Roßmann heißt, eingeleitet durch das „Heizer“-Kapitel, das Kafka liebte wie sonst nichts aus seiner Feder. Es geht also um die letzte Fassung eines seit Jahren betriebenen Jugendromans, der erst jetzt zu Kafkas erstem Roman geriet, um einen Text, an dem er noch in den folgenden Jahren schrieb und den er tatsächlich erst nach dem Kriegsbeginn von 1914 mit einem Schlusskapitel versah. Was trieb den Prager zur Niederschrift seines ersten Romantextes  ? Der allererste Antrieb, der damals schon Jahre zurücklag, war angeblich eine erotische Verstrickung, und zwar die irritierend-verlockende Nähe zu seiner französischbelgischen Gouvernante.21 Die familiär-biografische Grundlage kennt eine Erweiterung, „denn der 14jährige Koliner Vetter Robert Kafka wurde, dem Bericht eines Familienmitglieds nach, von der Familienköchin verführt und in diesem zarten Alter zum Vater gemacht“.22 Die motivischen Linien des Romans laufen in der historischen Figur des Carl Theodor Körner, diesem Kämpfer gegen die französische Vorherrschaft, zusammen, der nebenbei auch Dichter gewesen 21 Vgl. hierzu Hartmut Binder  : Franz Kafka. Leben und Persönlichkeit. Stuttgart 1983, S. 86. 22 Vgl. Anthony Northey  : Kafkas Mischpoche. Berlin 1988, S. 47.

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war – und bei Kafka Roßmann heißt.23 Zu bedenken gilt, dass die LichtspielBegegnung mit Körner mitten in die Hysterie des ausbrechenden Ersten Balkankriegs fiel und zur Erarbeitung der letzten Fassung führte  – während die erste Begegnung mit Felice, die etwa zeitgleich erfolgte, lediglich den Novellentext des Urteils hervorbrachte. Ferner hat der heutige Leser zu bedenken, dass Kafka nur wenige Jahre zuvor intensiv mit einem Buch befasst war, das durch den Einfluss eines Schulfreunds in seinen Interessenkreis gelangte  : mit August Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ (1890 erschienen und rasch zu einem nationalistischen Volksbestseller geraten). Unsere heutige Reserviertheit ändert nichts an dem Faktum, dass der Traktat erheblichen Einfluss auf seine Zeit ausgeübt hatte und im Sinne der ‚dichten‘ Beschreibung des New Historicism alles andere als irrelevant ist. Abgesehen von der Bevorzugung des ‚niederdeutschen‘ bäuerlichen Typus, die gegen die Großstadtintellektuellen gerichtet war, sowie der ‚kleinen Literaturen‘, die den literarischen Großstadtbetrieb infrage zu stellen halfen, wurden Pollak und Kafka in diesem Buch mit der aus heutiger Sicht prekären Amalgamierung von Künstler und Krieger bekannt gemacht  : Der Deutsche streitet und singt. Und am schönsten ist es, wenn diese Doppeltätigkeit des deutschen Geistes sich ganz wörtlich offenbart. […] Theodor Körner, welcher den

Bund von Leier und Schwert mit seinem Blute besiegelte – das sind herzerfreuende

Beispiele deutscher Kriegs- und Kunsttüchtigkeit. […] Es ist derjenige Ton, auf den Goethe wiederum ebenso kurz wie treffend und schön hingewiesen hat  : Nicht die Leier nur hat Saiten, Saiten hat der Bogen auch.24

Mit solchen Sätzen im Kopf begab sich Kafka im September 1912 ins Kino, nach fast einem Jahr voller Besuche von politisch entzündeten Veranstaltungen, in einer bereits hocherregten, kriegerischen Atmosphäre. Laut dem Tagebuch verfolgte Kafka, der am 25. September 1912 das „Landesteater“ mit dessen „Kinematograph[en]“ besuchte, aus seiner „Loge“ ein Programm von drei Filmen (TB 463). Den ersten Film beschrieb Kafka mit den Worten  : „Frl. Oplatka, welche einmal ein Geistlicher verfolgte. Sie kam ganz 23 Vgl. Franziska Schößler  : Verborgene Künstlerkonzepte in Kafkas Romanfragment Der Verschollene. In  : Hofmannsthal-Jahrbuch 6 (1998), S. 281–305, hier  : S. 282. 24 Julius Langbehn  : Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Weimar 1928, S. 188–189.

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naß von Angstschweiß nachhause.“ (TB 463) In Bezug auf Körner wurde in der Werbeannonce, die in der „Bohemia“ am 25. September erschien, eine Präsentation wichtiger Momente seines Lebens versprochen  : „Zur Erinnerung an den Geburtstag Theodor Körners  : T h e o d o r K ö r n e r. Sein Leben und Dichten. – Aus der Jugendzeit. – Der Student. – Der Theaterdichter und seine Braut. – Der Freiheitskämpfer.“25 Kafkas Tagebucheintragung fand die meisten Worte für den patriotischen Dichterfilm  : „Körners Leben. Die Pferde. Das weiße Pferd. Der Pulverrauch. Lützows wilde Jagd.“ (TB  463) Der patriotisch-heldische Filmstreifen hatte ihn beeindruckt  : „Kafkas Niederschrift der Zweitfassung setzt mitten in Tagebuchnotizen ein“26 – und zwar unmittelbar nach „Lützows wilde Jagd“. Der Kafka, der damals aus dem Kino kam, nahm spontan und begeistert die Niederschrift des „Heizers“ als des ersten Kapitels des neuen Verschollenen in Angriff. Dabei erfolgte die Geburt des Werks aus dem Tagebuch und die des entsprechenden Tagebuchnotats aus den soeben erfahrenen ‚sozialen Energien‘, die der Autor aus einem Kino-Stück mit Tosca’schen Erregungsqualitäten bezog. Als die Balkankriege im Jahr 1913 in einem faulen Frieden erloschen, ermattete auch Kafkas Produktivität. Gleichwohl hatte das allgemeine Krisenempfinden weiterhin auf ihn einzuwirken  : Es waren die Jahre, in denen der Friede Europas in den letzten Zügen lag. Eine ungeheure Spannung, die Ahnung, daß etwas Furchtbares unaufhaltsam näherkam, hatte

sich der Menschen bemächtigt, und als Gegengift suchten sie Zerstreuung und Be-

täubung um jeden Preis.27

Der Chronist der deutschen Bühnen in Prag, Richard Rosenheim, der das schrieb, brachte nur zum Ausdruck, was auch in Kafkas Verschollenen einging. Das war ein Europa, das sich mit seiner eigenen ‚Balkanisierung‘ konfrontiert sah. Wie man solcher ‚Balkanisierung‘ allenfalls noch Herr werden konnte, zeigt sich mit Karl Roßmanns Verteidigung des Heizers. Nicht nur durch die Kriegsschiffe im New Yorker Hafen, sondern auch mit dem Auftreten Roßmanns auf dem Amerikaliner bezieht sich das „Heizer“-Kapitel auf den mitteleuropäischen 25 [Annonce]  : „Deutsches Landestheater. Volkstümliche Lichtspiele“. In  : Bohemia (MA), 25. September 1912. 26 Hartmut Binder  : Zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. In  : Kafka-Kommentar. 2 Bde. München 1976, S. 60. 27 Richard Rosenheim  : Die Geschichte der Deutschen Bühnen in Prag. 1883–1918. Prag 1938, S. 207. Zitiert nach  : Hanns Zischler  : Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 87–88.

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und deutschen, dabei anti-französischen, Befreiungs-Krieg Carl Theodor Körners. Dessen im Kinematographen aufblitzende gleißende Kriegslust trieb den Prager in eine geradezu ekstatische Schreibtätigkeit. So intensiv hat Kafka nie zuvor und dann erst wieder im zweiten Halbjahr 1914 geschrieben. Nun verfertigte Kafka nicht länger im Umfang überschaubare Stücke wie das Urteil, sondern einen umfänglichen, erzählerisch anspruchsvollen Roman. Dies geschah in der jetzt bereits heißen Vorlaufphase der Balkankriege. Und erst deren Steigerung in den Weltkrieg hinein wird Kafka dann zur Fertigstellung seines AmerikaRomans befähigen. 2.3 Der Verschollene als jüdischer Bildungsroman und Beschwörung der Generalmobilmachung von 1914 Da Kulturerwerb damals als selbstverantwortete Ausbildung verstanden wurde, vor allem im assimilierten Judentum, ist die Idee eines jüdischen Bildungsromans einer näheren Betrachtung wert. Das Moses Mendelsson’sche Bildungskonzept, das seinerseits als Königsweg für die jüdische Assimilation gedacht war, spielt selbstverständlich in diesen Zusammenhang hinein. Bildung sollte den Juden im deutschsprechenden Mitteleuropa das volle Bürgerrecht verschaffen. Kafkas Rotpeter im Bericht für eine Akademie schreibt auf seine Art einen Bildungsroman, indem die Geschichte einer geradezu super-darwinistischen, ironisch gebrochenen Assimilation vom abstinenten Affen zum schnapstrinkenden Menschen führt. Der Verschollene erhielt ganz offensichtlich dadurch eine jüdische Dimension, dass Karl aus einem „Ramses“ auf bricht, das in der amerikanischen Realität keinen Platz hat, sondern im Alten Testament als Lebensort der exilierten Israeliten gilt, wo diese Ziegel herstellten. Es mag daher sein, dass „Clayton“ als Ort bei Ramses,28 von dem aus Karl in den Zug steigt, der ihn ins „Naturteater von Oklahoma“ bringen soll, mit dem englischen Wort „clay“ („Lehm“) zusammenhängt  – zumal ein jiddisches Theaterstück, das Kafka 1911 gesehen haben muss, „Raamses“ und „clay“ seinerseits erwähnt.29 Jeder Bildungsroman ist gehalten, den Konflikt zwischen persönlichem Bildungsweg und bürgerlichem Broterwerb zu thematisieren. An Letzterem schei28 Vgl. Franz Kafka  : Der Verschollene, hg. von Jost Schillemeit. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 387. 29 Vgl. Evelyn T. Beck  : Kafka and the Yiddish Theater. Its Impact on His Work. Madison [u.a.] 1971, S. 128–129.



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tert Karl bekanntlich  – bis ihm beides auf wundersame Weise doch noch zu verwirklichen gelingt. In Kafkas Verschollenem bildet ein „Teater“ die Schluss­ utopie – geschrieben nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hier kommt zum Erfolg des Broterwerbs noch jener des Künstlertums hinzu. Einerseits führt Kafka die traditionelle Form des Bildungsromans ad absurdum, indem Karl in Amerika scheitert, andererseits erweitert sich dieser Handlungsrahmen mit der Schlussutopie. Das Prinzip des Weiblichen, in die Sphäre der Engel erhoben, ist bei Kafka parodistisch durchsäuert  : „Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes niedriges Podium aufgebaut, auf dem hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken auf langen goldglänzenden Trompeten bliesen.“30 Die weiblichen Heerscharen warten auf Neuankömmlinge bei Kafka, der im Hochsommer 1914 bereits den Ausmarsch der Truppen ins Feld verfolgt hatte  : „Es war als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchenden zu begrüßen.“31 In solcher Umgebung wird Karl zum Künstler – und zugleich zum Krieger. Der Auswanderer aus Prag, der trotz oder gerade wegen seiner deutschen Treuherzigkeit mit dem American Way of Life nicht zurechtkommt, erfährt nun die höchste Apotheose, von der Kafka in seinem Jugendroman noch zu träumen imstande war  : Er wird zum Künstler. In Kafkas Fall war es der Traum, ein hochgeachteter Schriftsteller der deutschen Sprache zu werden, nach dem Vorbild des überaus bewunderten Goethe, mithin aufgenommen zu werden in die Reihe derer, die für die deutsche Sprache und Kultur zu streiten berufen waren, was damals die Grundstimmung unter den deutschen wie österreichischen Intellektuellen war. Dass Karl am Ende von der Musik erhört wird, macht ihn zum Erwählten im Sinn des habsburgischen Kulturbegriffs. Zudem verweist das Instrument der Trompete auf Kafkas Zeitgenossen Gustav Mahler (von dem uns Kafkas Tagebuch am 1. September 1911 überliefert, er habe sich den „Herzstich“ als Sicherheit gegen den Scheintod gewünscht, TB 966). Die Trompete ist auf der Lehrer-Schüler-Linie Wagner-Bruckner-Mahler angesiedelt und weist zurück auf das musikalische Zentralgenie des 19.  Jahrhunderts, auf den auch in Prag intensiv gefeierten Richard Wagner – auf dessen erneute Introduktion der Blechinstrumente. Damit rückt der Musiker ins Bild, in dessen Schatten Kafka in den letzten Lebensjahren die Josefine-Erzählung schrieb. 30 Kafka, Verschollene. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 389. 31 Ebenda, S. 391.

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Kafkas Tagebuch spricht am 31.  Juli  1914 mit Blick auf die Mobilisierung gegen Serbien von seinem Kampf, der im Schreiben bestehe (vgl. TB  543). Kafka war gemustert und für tauglich befunden worden, aber seine Unentschlossenheit und späterhin seine Anstalt hinderten ihn, tatsächlich in den Krieg zu ziehen. Daraus resultierte ein tiefes Gefühl der Verunsicherung, eine regelrechte Aversion gegen die, die ins Feld zogen. Kafka, der nicht einrücken durfte, schrieb nun fieberhaft, nämlich umfangreiche Romane statt Erzählungen  : Seit dem August 1914 scheint die Metaphorik des Kampfes […] zusätzliches Gewicht zu bekommen. Das Kriegsgeschehen und die es begleitenden Diskurse haben, wie Wolf Kittler unlängst gezeigt hat, im Vokabular und in der Bildlichkeit etlicher

Texte noch lange über den Krieg hinaus deutliche Spuren hinterlassen.32

Es scheint, dass der Prager mit der Umschreibung des Abschlusskapitels eine Art von Kriegsdienst leistete, in die immer mehr stockende Niederschrift des Proceß-Romans eingelegt. Was Kafka „dazu geschrieben hat, das zitiert man nicht immer gerne“, denn „seine Aversion gegen die patriotischen Umzüge kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kafka weit davon entfernt war, Kriegsgegner oder gar Pazifist zu sein“.33 Gewiss war sein Kriegsinteresse weit vom damaligen Hurra-Patriotismus entfernt, denn es war ungleich defensiver angelegt. Doch die Häufigkeit des Wortes ‚Truppe‘ im Abschlusskapitel des Verschollenen, seine Terminologie der ‚Ehre‘ und des ‚Gebrauchtwerdens aller‘ weisen eine verblüffende Ähnlichkeit zur Kriegswerbung auf. Vor allem das Leitmotiv des Werbeplakats für das „Teater von Oklahama“, das suggestiv wiederholte ‚Wir können alle brauchen‘, findet seine Entsprechung in der Mobilmachung von 1914. Jener patriotische Gruß, „Jeder ist willkommen  !“,34 den Roßmann so gerührt liest, fand sich als hymnisches Gemeinschaftsversprechen bei Kriegsausbruch allerorten. Man kannte damals keine Parteiengrenzen mehr, und nicht nur Max Scheler und Ernst Troeltsch widmeten sich beschreibend der neuen Kampfgemeinschaft, die an die Stelle einer vormals ausdifferenzierten Gesellschaft trat. Und die Beiträge der Prager Zeitungen tönten im August 1914 wie das fiktive Wer32 Thomas Anz  : Kafka, der Krieg und das größte Theater der Welt. In  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 247–262, S. 247. 33 Ebenda, S. 249. 34 Kafka, Verschollene. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 387.

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beplakat, im Sinn der angesagten geistigen Mobilmachung. Folgender Aufruf, der aus der „Bohemia“ vom 1. August 1914 stammt, klingt wie ein Originaltext aus Kafkas Abschlusskapitel  : „Kommilitonen  ! Keiner zögere, sich in dieser oder jener Form dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Keiner säume sich zu melden  !“35 Das „Tagblatt“ schilderte am 19. August gar die wundersame Genesung bislang Kranker, so diese sich nur zum Kriegsdienst meldeten.36 Kafkas Roman-Passagen sind einem dämonischen wie stimulierenden Nacht-Schreiben entsprungen, das seine finale Krankheit vorbereitete  : eben einem göttlichen Teufels- oder auch teuflischen Gottesdienst. Zum Bild einer ‚dichten‘ Beschreibung dieser Tage gehört ferner der Prager Kafka-Bekannte Anton Kuh, der am 11. August 1914 im „Tagblatt“ eine Glosse über den Weltkriegsausbruch veröffentlichte, deren Auftaktsatz der des Abschlusskapitels hätte sein können  : „Ein Traumtheater ist die Welt geworden.“37 Kuh traf den allgemeinen Geist der Zeit und damit auch den seines Mitbürgers Franz Kafka, was seine Gründe hatte  : Denn der Kriegsbeginn wurde von der literarischen und wissenschafltichen [sic  !] Intelligenz vielfach als sakrales Ereignis und als Aufbruch zu einem völlig veränderten

Zustand sozialer Gemeinschaft interpretiert, als radikale Infragestellung gerade auch

von westlichen Zivilisationsprinzipien der Zweckrationalität und merkantilen Gesinnung. Der Gegensatz zwischen dem Amerika, in dem Karl Roßmann sozial deklassiert wird, und dem sozialintegrativen Potential des Theaters, hat sein Pendant im

Kontrast zwischen den deutsch-österreichischen Verhältnissen vor und nach dem

Beginn des Krieges […].38

Dahinter lag das Drohpotential, die Unheimlichkeit eines Krieges, von dem man schon wenige Monate nach Ausbruch nicht mehr wusste, in welche Richtung er die Menschheit steuern würde. Die abschließende Eisenbahnfahrt ist bei Kafka deshalb auch ein Truppentransport ins Ungewisse  : „Daß die theatralischen Verheißungen vom Sommer 1914 in tödliches Grauen umschlagen, legt sein Text 35 Professoren der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag  : „Aufruf an die deutsche akademische Jugend Böhmens“. In  : Prager Tagblatt (MA), 1. August 1914. 36 Siehe o. A.: „Kriegsbegeisterung unter den reichsdeutschen Freiwilligen“. In  : Prager Tagblatt (MA), 19. August 1914. 37 Anton Kuh  : „Zeitgeschichte“. In  : Prager Tagblatt (MA), 11. August 1914. 38 Anz, Krieg. In  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 259–260.

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nahe.“39 Im Bild des „größte[n] Teater[s] der Welt“40 wurde der Große Krieg zugleich gründlich desillusioniert. Die Reise, die sein Protagonist am Ende des Verschollenen antritt, ist eine, die sowohl faustisch als auch mephistophe­lisch erscheint – die ins Sein hineinführt und ebenso ohne Wiederkehr bleibt, wobei die letztere Variante die wahrscheinlichere ist. Diese Ambiguität hat zu akzeptieren, wer Kafka verstehen möchte. Auch die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann äußerte sich mit dem Radio-Essay „Franz Kafka  : ‚Amerika‘“ dazu  : 1. Sprecher […] Zwar bleibt die Welt in ihrer Wirrnis, als ein System von Widerständen, bestehen, aber den Menschen, die diese Wahl, wie Karl Roßmann, getroffen

haben, wird Sicherheit und Ruhe zuteil. Ein wie ein religiöser Akt anmutendes Mahl

versammelt die Aufgenommenen. Sie finden den Eingang, zum Unterschied von dem

Mann, dem in einer Legende Kafkas vom Türhüter gesagt wird  :

2. Sprecher „Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“41

Der Eingang, der im Verschollenen noch utopisch offenstand, schloss sich dann mit dem zweiten Roman und seiner Türhüter-Legende, die ganz zu Ende des Kriegsausbruchs-Jahres 1914 geschrieben wurde. Kafka hatte den Text Anfang Dezember niedergeschrieben, nachdem die Anfangsoffensive der Achsenmächte gestoppt und die Donaumonarchie von fürchterlichen Verlusten erschüttert worden war. Der Krieg war zum Stellungskrieg geworden, und Kafka war nun nicht länger ein literarischer Kriegsteilnehmer. Er kümmerte sich stattdessen um die leidige Asbestfabrik, deren Produkte im Krieg gebraucht wurden. Das geliebte wie ironisierte Narrenschiff mit seiner multinationalen Besatzung, ‚Kakanien‘, war gerade dabei, in den Fluten der Geschichte zu versinken. Dass Karl Roßmann, der sich als Körner’scher Kämpfer vergeblich für die Stabilisierung des Staatsschiffs einsetzt und als allzu gemütvoller ‚Deutscher‘ auf keinen ­grü­nen Zweig in Amerika gelangt, doch noch Zugang zu einem utopischen Himmel findet, liegt nicht zuletzt auch in der Realität der frühen Kriegstage begründet, die neben Bedrohungen auch Verzückungen kannten. Andere ex39 Ebenda, S. 262. 40 Vgl. Kafka, Verschollene. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 394. 41 Ingeborg Bachmann, Band 4  : Essays, Reden, Vermischte Schriften. In  : Werke. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum [u.a.]. 4 Bde. München [u.a.] 1978, S. 319.



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pressionistische Schriftsteller brachte der Kriegsausbruch dazu, den Gott des Krieges vorbehaltlos zu feiern  ; es dauerte einige Zeit, bis beispielsweise Rilke zu nüchterner Skepsis zurückfand. Der Weltkrieg sah übrigens eine überproportional hohe Beteiligung der deutschen und österreichischen Juden als Frontkämpfer. Der Weltkriegsausbruch war für die deutschsprechenden Juden eine zunächst strahlende Assimilationshoffnung, die im Werk des Pragers (über den Proceß bis hin zum Schloß) dann immer mehr an Glanz verlor. 2.4 Kafkas wirklich großer Krieg und der Proceß-Roman Viele Ereignisse bündelten sich im heißen Weltkriegs-Sommer von 1914. Kafka hatte sich mit Felice im Juli 1914 entlobt, im Zuge einer Auseinandersetzung, die von ihm als ‚Gerichtsverhandlung‘ empfunden wurde (und immer noch als der allgemeine Schreibhintergrund des Proceß gilt). Doch der Autor begann, wie es das Tagebuch und die Chronik jener Tage belegen, seinen Text erst zu schreiben, nachdem der Erste Weltkrieg für ihn zum Faktum geworden war – in der für ihn schlimmsten Form, mit England als gegnerischem Kriegsteilnehmer. Kafka selbst stellte in seinem Tagebuch die Unterschiede zwischen seiner Verstrickung in die Felice-Affäre und seiner Situation in den Kriegstagen als bedeutend heraus. Diese Faktenlage wurde bislang nicht adäquat rezipiert. Anlässlich des österreichischen Unvermögens in der Schlacht bei Lemberg sprach der Prager am 13. September 1914 ausdrücklich von seiner „Angst vor der Zukunft“ (TB 677), womit der psychische Komplex benannt wurde, der ihn zur Niederschrift des Proceß antrieb. Erst in einem Zusatz verglich Kafka diesen neuen Produktionsantrieb mit dem – jetzt in der Vergangenheit angesiedelten – einstigen Antrieb, der von seiner quälenden Ver- und Entlobung mit Felice Bauer herrührte  : „Die Gedankengänge die sich an den Krieg knüpfen sind in der quä­ lenden Art mit der sie mich in den verschiedensten Richtungen zerfressen ähnlich den alten Sorgen wegen F.“ (TB 677) Kafka fuhr fort  : Ich habe zwar mit aller Kraftaufwendung einer damals verhältnismäßig noch wenig geschwächten Natur wenig gegen die Sorgen wegen F. ausgerichtet, aber ich hatte

damals nur in der Anfangzeit die große Hilfe des Schreibens, die ich mir jetzt nicht mehr entreißen lassen will. (TB 677)

Kafka erinnerte sich, dass ihm die Bekanntschaft mit Felice im August 1912, die ihn zur eruptionsartigen Abfassung des Urteils stimuliert hatte, lediglich in der

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„Anfangzeit“ eine „große Hilfe“ für das „Schreiben[s]“ war. Dem entspricht die allgemein anerkannte Deutung des Urteils als einer ödipal geprägten Erzählung, in der am Ende der Sohn, schuldig geworden durch Vollzug der Verlobung, sich selbst richtet. Hierbei ist in der Tat von der Errichtung eines inneren ödipalen ‚Gerichts‘ mit anschließendem Todesurteil zu sprechen. In diesem Fall scheint Felice Bauer, die schon in der Widmung anwesend ist, tatsächlich als Muse an ihrem Platz zu sein. Auf den Proceß hingegen trifft das nicht zu. Der Ausbruch des Weltkriegs, solange dieser noch „frisch“ war, ersetzte Kafkas privaten Verlobungs-Krieg, drängte Felice vollständig in den Hintergrund. Ist doch seine Aussage eindeutig darin, dass sich durch den Weltkrieg und die österreichische Niederlage gegen Russland bei Lemberg eine neue Qualität des Schreibantriebs ergab. Eindeutig ist auch die produktionsbiographische Festschreibung, dass Felice ausschließlich in der Anfangszeit eine wirkliche Stimulanz für das eigene Schreiben bedeutete. Und als hätte der schreibende Jurist gegen seine späteren Deuter argumentieren wollen, hat Kafka am 30.  November  1914 überdies festgehalten, wann Felice als Bezugspartner erneut „aktiviert“ wurde – als er wusste, dass auch der Proceß Fragment bleiben würde  : Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgiltigen Grenze, vor der ich

vielleicht wieder Jahre lang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen. Diese Bestimmung verfolgt mich. […]

Und wie irgendein gänzlich vom Menschen losgetrenntes Tier schaukele ich schon

wieder den Hals und möchte versuchen für die Zwischenzeit wieder F. zu bekommen.

Ich werde es auch wirklich versuchen, falls mich die Übelkeit vor mir selbst nicht daran hindert. (TB 702–703)

Der Krieg war zum Alltag geworden, und die Bedrohung durch Russland hatte sich abgeschwächt. Lemberg war inzwischen entsetzt worden, und Hindenburg erzielte beruhigende Erfolge an der Ostfront. Der panische Schreibantrieb war abgeebbt. Kafka träumte unter dem Eindruck der deutschen Erfolge nun sogar davon, von Kaiser Wilhelm im „‚Tabakskollegium‘“ empfangen zu werden  : „Die schöne Aussicht.“ (TB 704)42 Das Angewiesensein auf Felice kehrte zurück – sie diente ihm als Ersatz für den Angst-Antrieb. Die bedeutendste Schreibperiode in Kafkas gesamtem Schriftstellerleben näherte sich dadurch einem Schlusspunkt. Kafkas nächtlicher Teufels- oder auch Gottesdienst stand vor seinem Ende. 42 Eintrag vom 2. Dezember 1914.



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2.5 Kafka bei Kriegsausbruch in Prag Der Große Krieg hatte ganze Generationen liquidiert, dem Totalitarismus zum Durchbruch verholfen und die gesamte Welt tiefgreifend verändert. Kafka begriff ihn durchaus als eine existentiell herausfordernde Situation  : „Die äußeren Hilfskonstruktionen der menschlichen Existenz brechen zusammen.“43 Wieso jedoch begann der Prager den Proceß erst um den 13. August herum intensiv niederzuschreiben  ? Das österreichische Ultimatum an Serbien als Reaktion auf die Ermordung des Thronfolgers vom 23. Juli, die Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli sowie die deutsche Kriegserklärung, die Kafka unaufgeregt unter dem 2.  August im Tagebuch festhielt  : „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule“ (TB 543), alle diese Ereignisse hatten noch für keinen Schreibschub gesorgt, was die Kafka-Philologie bislang daran gehindert hat, im Proceß einen Weltkriegsroman zu sehen. Wer die in Prag erscheinenden Zeitungen „Prager Tagblatt“ und „Bohemia“ aus dieser Zeit liest, was Kafka beweisbar tat, muss zu der Ansicht gelangen, dass die ‚Lokalisierbarkeit‘ des Krieges nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich gehalten wurde. Dies war eine Überzeugung, die auch tschechischsprachige und deutschsprachige böhmische Presseorgane bis hin zum 13.  August transportierten. Noch am 6. August wurde in der „Bohemia“ über den Widerstand von slawischen Nationalisten in Paris gegen den Krieg berichtet.44 Das setzte sich am 7.  August mit der Meldung „Frankreich in der Klemme“ fort, wonach Frankreich aus Furcht vor Sozialistenrevolte und Eisenbahnerstreik gar keinen Krieg riskieren könne.45 Man war damals der Überzeugung, dass ein Weltkrieg sich doch noch würde vermeiden lassen. Kriege an sich galten als undenkbar. Krisen kannte man seit Jahren, und immer wieder hatten sie sich lösen lassen. In der „Bohemia“ wird am 10.  August noch „Kriegsunlust in England“ verzeichnet46 und unter dem 12. August ferner  : „Eine schwere Schlappe der Fran­ zosen.“47 Und am 13. August erschien eine Meldung, nach der führende fran43 Gustav Janouch  : Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1951, S. 72. – Die Authentizität dieser Gespräche ist in letzter Zeit mit Gründen angezweifelt worden. 44 Siehe o. A.: „Die letzten Tage in Paris. Erzählungen eines Österreichers“. In  : Bohemia (AA), 6. August 1914. 45 Vgl. o. A.: „Frankreich in der Klemme. Drohender Eisenbahnerstreit. – Der Bündnisfall für Italien. – Ohne Montenegro“. In  : Bohemia (AA), 7. August 1914. 46 O. A.: „Kriegsunlust in England. Die Neutralitäts-Liga gegen Rußland“. In  : Bohemia (2. MA), 10. August 1914. 47 O. A.: „Eine schwere Schlappe der Franzosen. Ein deutscher Angriff gegen eine französische Bri-

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zösische Militärs die erdrückende deutsche Überlegenheit einräumten48 – bis dann das „Tagblatt“ am 14. August mit der Überschrift erschien  : „Frankreich und England erklären uns den Krieg.“49 Daraus wurde in der „Bohemia“ vom gleichen Abend  : „Ausbreitung des Weltkrieges. Übergreifen auf den Balkan. – Rußlands Drängen.  – Die Durchfahrt durch die Dardanellen. Bulgarien und Griechenland mobilisieren.“50 Die Kriegserklärung war am 13. August in Wien vom englischen Botschafter übergeben worden. Kafka war über politische Groß­ereignisse informiert, ehe das Blatt sie auf die Titelseite brachte. Er hatte nur wenige Minuten Fußweg zum Aushängekasten des „Tagblatts“ zurückzulegen. Nun erst wurde der befürchtete Weltkrieg zur Realität. Alle Lokalisierungs-Hoffnungen erschienen als bloße Makulatur. Der Weltkrieg war ein Faktum geworden. Und Franz Kafka begann den Proceß zu schreiben. Kafka teilte damals die allgemein verbreitete patriotische Erregung durchaus. Sein Tagebuch ist voll mit Beobachtungen zur „allgemeine[n] Mobilisierung“, die ihm „den Lohn des Alleinseins“ bringe, wie er am 31. Juli 1914 schreibt  : „Es ist allerdings kaum ein Lohn, Alleinsein bringt nur Strafen. […] Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.“ (TB 543) Isoliert fühlt er sich vor allem dadurch, dass er seinen Drang, Soldat zu werden, nicht zu realisieren vermochte. Man wollte die Vielzahl der distanzierten Beobachtungen zum Prager Leben bei Kriegsausbruch immer wieder als Absage des Pragers an den Krieg verstehen, politisch ganz korrekt. Dabei übersah man freilich, dass Kafka sein Tagebuch so führte, wie die Astronomen 1910 den Halley’schen Kometen untersucht hatten  : weitgehend ohne Empathie, an nüchterner Beschreibung interessiert. Er hatte eben nicht nur Felice auf diese Weise abkonterfeit, sondern auch sich selbst im Strudel der Weltkriegserregung photographisch-objektiv ins Bild gebannt. Wenn es am 5.  August  1914 heißt  : „Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlußunfähigkeit, Neid und Haß gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles Böse wünsche“ (TB 546), so bedeutete dies keineswegs eine Absage an den Krieg, die man dargade. – Große Verluste der Franzosen. – Die erste erbeutete Fahne. – 700 Gefangene“. In  : Bohemia (2. MA), 12. August 1914. 48 Vgl. o. A.: „Die französische Armee“. In  : Bohemia (AA), 13. August 1914. 49 O. A.: „Frankreich und England erklären uns den Krieg“. In  : Prager Tagblatt (MA), 14. August 1914. 50 O. A.: „Ausbreitung des Weltkrieges. Übergreifen auf den Balkan. – Rußlands Drängen. – Die Durchfahrt durch die Dardanellen. Bulgarien und Griechenland mobilisieren“. In  : Bohemia (AA), 14. August 1914.



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aus hat ableiten wollen. Hingegen offenbart sich damit das Gemüt eines Mannes, der in den Kampf zu ziehen beabsichtigte, dies aber aus subjektiven wie objektiven Gründen nicht vermochte. Kafka, der zu Hause in Prag zu bleiben hatte, war voll von „Neid und Haß“ auf die, die ins Feld zogen. Deren Abbild erschien Kafka am 27. April 1915 im „riesige[n] deutsche[n] Officier“, der „mit verschiedenen kleinen Ausrüstungsstücken behängt zuerst durch den Bahnhof dann durch den Zug“ „marschiert“  : „Vor Strammheit und Größe ist er steif  ; daß er sich bewegt ist fast erstaunlich  ; vor der Festigkeit der Taille, der Breite des Rückens, dem schlanken Bau des Ganzen reißt man die Augen auf, um alles in einem fassen zu können.“ (TB 737–738) Darin spiegelte sich zugleich die österreichische Überzeugung von der herkulischen Schlagkraft der deutschen ­Armeen. Andererseits beobachtete Kafka mit einem ‚bösen Blick‘, wie in Prag unter dem politischen Druck der österreichischen Statthalterschaft patriotische Umzüge von „jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind“,51 organisiert wurden (TB 547). Als wahrer Patriot, der wusste, dass es um nichts Geringeres als die Assimilation ging, beobachtete er dies wie der Astronom den fernen Schweifstern, mit einem distanziert-wissenden, eben deshalb ‚bösen Blick‘. Der erkannte jedoch, wie aus seinen weiteren Notizen hervorgeht  : „Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges.“ (TB  547) Wer die Genese des Kafka’schen Tagebuchschreibens aus der Kometenfurcht des Jahres 1910/11 kennt, versteht die zahlreichen Tagebucheintragungen zum Kriegsausbruch als das, was sie wirklich waren  : Verzweiflungsausbrüche von einem, der an einer Bewegung, die er als zutiefst bedeutsam ansah, nicht teilhaben konnte. Daraus spricht Franz Kafka als verhinderter Weltkriegsteilnehmer (der damit erst zum Autor seines zweiten und wohl bedeutendsten Romans wurde).52 2.6 Nationaler Sozialismus als Körperertüchtigung Einzelne Szenen aus dem Proceß vermögen diesen Zusammenhang zu bestätigen. Kafka begegnete in seinem Weltkriegs-Roman jenem Gegner, den er bereits von Prags Straßen kannte. Beispielsweise erfolgt darin eine ausführliche Erkundung der Gerichtsräume, die nicht zufällig in den billigsten Privatwohnungen auf den Vorstadt-Dachböden liegen. Im Mittelpunkt der abgebildeten 51 Eintrag vom 6. August 1914. 52 Siehe zu diesem zentralen Punkt  : Bernd Neumann  : Franz Kafka. Gesellschaftskrieger. Paderborn [u.a.] 2008.

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neuen Rassen-Justiz steht nicht länger das Gesetzbuch, sondern die Pornographie. Wozu diese Organisation fähig ist, bekommt K. im „Prügler“-Kapitel demonstriert. Weil sich K. über das Verhalten der Wächter beim Untersuchungsrichter beschwert hat, werden diese verprügelt. Die Organisation hat ihre eigene, sozusagen noch naturbelassene Ehre. Sie sorgt für „Sauberkeit“ in ihren Reihen, ganz so, wie auch die Rassenlehre als reputierliche wissenschaftliche Theorie galt. Als proletarisch-kleinbürgerliche Organisation hatten die Nationalsozialisten keinerlei bürgerlich-liberale Scheu vor direkter, barbarischer Gewaltanwendung. Überdies herrschte in diesem Zweig der Organisation ein Kult von körperlicher Stärke und Frische. Gewaltanwendung und -rechtfertigung trugen sportmäßige Züge, sind Ausdruck der balkanischen, serbischen Bedrohung dieser Tage und zeitgemäßer Rückfall in archaische Gewalt als politisches Mittel. Sigmund Freud wird den Sachverhalt in den auf den Krieg folgenden Jahren verstört als Kennzeichen des „Unbehagens in der Kultur“ analysieren.53 Die Erscheinung des Prüglers entspricht ironischerweise dem Körperideal des mit Leidenschaft turnenden und rudernden Franz Kafka, der auf dem Weg des Sports den fragilen Westjuden in sich zu überwinden hoffte. K. versucht vergeblich, diesen prügelnden und fröhlichen Volksgenossen mit seinem ‚dekadent-jüdischen‘ Bank-­Geld von der Prügelpflicht abzubringen. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Autor auch eigene sadomasochistische Gewaltphantasien lite­rarisch ausagierte, doch liegt in diesem „Ausdruck der Selbstquälerei“54 noch ganz anderes und Objektiveres beschlossen. Die Organisation der Nationalsozialisten verfügte nämlich über einen Ableger, den Kafka bestens kannte und dessen Mitglieder er schaudernd bewunderte  : den Turnverein „Sokol“. Dieser Turnverein sollte für die zur Erneuerung der Nation nötigen Körperkräfte sorgen und war durchaus eine bedeutende Größe bei Straßendemonstrationen und anderen potentiell gewalttätigen Zusammenkünften. Der „Sokol“ war als Kader einer künftigen tschechischen Armee gedacht und wurde von den Behörden der Monarchie entsprechend beargwöhnt. Bei seiner Gründung hatte Darwins Selektionslehre die Bedeutung einer Grundideologie eingenommen.55 Ein grelles 53 Siehe Sigmund Freud, Band 14  : Das Unbehagen in der Kultur. In  : Werke aus den Jahren 1925– 1931 = Gesammelte Werke. 18 Bde. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. Frankfurt a. M. 1968, S. 421–506. 54 Vgl. Binder (1976), S. 212. 55 Siehe Monika Glettler  : Sokol und Arbeiterturnvereine (D.T.J.) der Wiener Tschechen bis 1914. Zur Entwicklungsgeschichte der nationalen Bewegung in beiden Organisationen. München [u.a.] 1970, S. 64–65.



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Schlaglicht auf die Szenen in der Prügelkammer wirft schließlich K.s sozialhörige Erklärung der Gewaltvorgänge – „es schreit nur ein Hund auf dem Hof “ –,56 die an seinen eigenen ‚hündischen‘ Tod gemahnen. 2.7 Staatsanwalt Hasterer als ein Christophorus der Assimilation Hasterer ist die dominierende Figur eines Freundeskreises, dem K. vor allem vor seiner Proceß-Zeit angehörte. Die Beziehung zwischen K. und Hasterer erscheint als die zwischen zwei liberalen bürgerlichen Honoratioren. Sie ist auch beruflich nützlich, tritt aber im Wesentlichen privat fundiert auf. Im Gegensatz zu jener Invasion der Privatsphäre, die der Feldzug des Dachboden-Gerichtes für ihn darstellt, ergibt sich Freundschaft zwischen Hasterer und K. durch eine freiwillig betriebene Öffnung ihres Privatlebens. Es ist Hasterer, der diese gegenüber dem jüngeren K. initiiert. Mit dem Beginn des Prozesses, und mit K.s fast pervers zu nennendem Interesse an ihm, kühlt die Freundschaft sich ab. Kafka hätte die Differenz gar nicht schärfer herausarbeiten können  : Während K. durch die Wächter seines Frühstücks verlustig geht, teilt Hasterer die Abendmahlzeiten mit dem geradezu an Sohnes statt angenommenen Freund. Beide pflegen ausgiebig die Riten ihres Männerbundes. Durch gemeinsamen Alkoholgenuss wird K. zum Vollmitglied jenes deutschsprachigen Prager Bürgerzirkels. Die Runde existiert zugleich als eine Juristenorganisation  : „die Gesellschaft seines Stammtisches […] bestand fast ausschließlich aus Richtern, Staatsanwälten und Advokaten, auch einige ganz junge Beamte und Advokatursgehilfen waren zugelassen“.57 Die Ritter dieser Tafelrunde könnten eine Gegenorganisation zum Dachboden-Gericht bilden, doch sie gehören, vor allem weil K. sie immer weniger in Anspruch nimmt, zunehmend der Vergangenheit an. Seit Prozessbeginn üben sie keinerlei Einfluss mehr auf K.s Schicksal aus. Hasterer erhält eine Fülle einschlägiger Attribute zugeteilt, die sämtlich auf K.s Teilhabe an der Bürgergesellschaft des deutsch-österreichisch dominierten Prag verweisen. Von Berufs wegen ein Anwalt des Rechtsstaates, gibt die Privatperson Hasterer einen Garanten für K.s bürgerliche Zugehörigkeit ab – als ein Christophorus der Assimilation, auftretend in den turbulenten Zeiten des Vorkrieges. Der ferne, seine jüdischen Untertanen schützende Kaiser Franz Joseph steckt 56 Franz Kafka  : Der Proceß, hg. von Malcolm Pasley. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 114. 57 Ebenda, S. 327.

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sozusagen in diesem nach Prag entsandten Anwalt des habsburgischen Staates  : „[…] wenn K.’s Berechtigung hier zu sitzen auf Zweifel stoßen würde, konnte er sich mit gutem Recht auf Hasterer berufen.“58 Hasterer gerät zu einem märchenhaft ‚guten Vater‘, wie er so in keinem anderen Text von Kafka sein Gegenstück besitzt. Weder Onkel Jakob im Verschollenen noch Bürgel im Schloß können diesem wohlmeinenden Riesen das Wasser reichen. K.s Bürotätigkeit, in kaum verhüllter selbstbiographischer Authentizität am Ende des Hasterer-Fragments in Szene gesetzt, erscheint durch ihre Nähe zum Staatsanwalt und zu dessen Staatsdienst geradezu als ein Ort des glücklichen Behaust-Seins. So hätte sich Kafka seinen Franz Joseph gewünscht, jenen in der Realität eher gebrechlichen und trotteligen Kriegskaiser.

3. Nachspiel

3.1 Nach wie vor im Banne Russlands  : In der Strafkolonie Selbst der Weltkrieg, der sich bald zum Stellungskrieg entwickelte, verlor für den Prager an schreibstimulierender Wirkung. Nach den „russische[n] Ge­ schich­te[n]“ Kaldabahn, Strafkolonie und Proceß (TB 675),59 die Kafka alle bis zum Ende des Ausbruchsjahres 1914 fertigstellte, kehrte er jetzt zu Felice zurück, in der Hoffnung, die plötzlich abgeebbte Schreibmotivation so kompensieren zu können. Zuvor war noch die Erzählung In der Strafkolonie entstanden, als die letzte aus der angeführten Reihe. Sie wurde im Oktober des Jahres 1914 geschrieben und reflektierte noch einmal das sadistisch verlockende wie Angst einflößende Thema der Zarenherrschaft, bevor ihr Autor sich dann endgültig in jene staatsbürgerliche Resignation hineinbegab, aus welcher der Riesenmaulwurf (bzw. Der Dorfschullehrer) resultierte. Kafkas Strafkolonie, die zu seinen am meisten besprochenen Erzählungen gehört, enthält ein komplexes Referenzfeld, das von der Pornographie der Epoche bis zum russischen Sieg in der Schlacht bei Lemberg, von Rasputin bis zur damaligen Praxis der Deportationen reicht. Als der Text entstand, neigt sich Kafkas große Schreibperiode gerade ihrem Ende zu. Er nahm bereits Kontakt zu Grete Bloch auf und vor allem zu Felice, mit der er sich später erneut verlobte. Noch aber verteidigte er seine Schreibperiode, die einzigartig in seinem Leben war und ausgelöst wurde durch die sich zum Welt58 Ebenda, S. 229–330. 59 Eintrag vom 21. August 1914.



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krieg erweiternden Balkankriege. Die Komplexität dieses Referenzfeldes deutet darauf, dass der Autor hier noch einmal alles zusammenwarf, was ihn damals zum Schreiben bewegen konnte. Der Prager hatte sich sogar einen erst ein-, dann zweiwöchigen Urlaub genommen und nutzte diesen äußerst konsequent. Nach eigenem Urteil war er „schöpferisch nur in Selbstquälerei“, wie der Prager am 25. Februar 1915 schreibt (TB 729). Die Strafkolonie verfügt über im Text erkennbare, benennbare Quellen. In der Erzählung ist zum einen Dreyfus’ Bericht über seine Verbannungszeit anwesend, ein Thema, das Kafka seit Kindheitstagen begleitete. Das Erinnerungsbuch des elsässischen Franzosen, das im Jahr 1901 veröffentlicht wurde,60 musste Kafka wohl bekannt gewesen sein. Darüber hinaus wurde das Thema „Strafkolonie“ in den damaligen Jahren im Deutschen Reichstag intensiv diskutiert  : „Die öffentliche Diskussion in Deutschland kulminierte 1909 mit einem Antrag im Deutschen Reichstag, dem Vorbild anderer Staaten entsprechend die Deportation auch im deutschen Strafrecht zu verankern.“61 Die öffentliche Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Teil von Mitteleuropa galt in den Jahren der Kolonieträume auch den exotischen Orten als potenziellen Straf- und Verbannungsstätten. In den Jahren 1909 und 1910 besuchte der junge Kriminalist Robert Heindl, ganz so wie der Forschungsreisende in Kafkas Erzählung, im Auftrag des an „humanen Lösungen“ interessierten Deutschen Reiches diverse Strafkolonien in Neukaledonien, Australien und China. Im Jahr 1913 erschien sein Bericht „Meine Reise nach den Strafkolonien“.62 Das Buch war reich mit Statistiken, Listen und Zahlenmaterial garniert, zudem ausgestattet mit erschütternden Abbildungen. Hinzu kam, dass die „Bohemia“ unter der Überschrift „Die Verbrecherinsel“ einige Kapitel von Heindls Buch zum Abdruck und damit in Kafkas unmittelbare Nähe gebracht hatte.63 Man darf somit die Kenntnis des Heindl’schen Unternehmens bei dem Prager voraussetzen. Hinzu kam, wie gesagt, sein Interesse an der Dreyfus-Affäre, das auch in die Abfassung des Justiz-Romans Der Proceß hineingespielt hatte. Der teuflische Gottesdienst des Nacht-Schreibens wurde noch einmal möglich. 60 Alfred Dreyfus  : Fünf Jahre meines Lebens. Berlin 1901. 61 Irina Molberg  : Die Erzählung In der Strafkolonie des jüdischen Schriftstellers Franz Kafka im Spiegel möglicher Quellen. „Dreyfus-Affäre“, Beamtenapparate und zeitgenössische Berichte über Strafkolonien. Masterarb. Trondheim 2007, S. 70. 62 Robert Heindl  : Meine Reise nach den Strafkolonien. Berlin [u.a.] 1913. 63 Robert Heindl  : „Die Verbrecherinsel“. In  : Bohemia (MA), 22. Juli 1910.

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Noch eine weitere, ganz und gar andersartige Quelle hat erwähnt zu werden. Anfang des 20.  Jahrhunderts war Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices als Garten der Qualen auf Deutsch erschienen64 und von den österreichischen Behörden sehr schnell verboten worden. Die Heldin in Mirbeaus Roman vermag höchste Sexuallust nur noch zu erreichen, wenn sie sich zuvor an sadistischen Hinrichtungen gesättigt hat. Auch dieser verstörende Beitrag zur damals aktuellen Frage „Was will das Weib  ?“, die Freud wie Weininger stellten, hinterließ in Kafkas Text Spuren. Diese berührt sogar das zentrale narratologische Enigma von Kafkas Erzählung, den ominösen Wechsel vom alten zum neuen Kommandanten. Der wurde bereits von Mirbeau erkennbar abgebildet. Der Franzose beschreibt nämlich die alte Form einer torturseligen Hinrichtungspraxis durch Häuten und Geschlechtsumwandlung mit dem Messer als inzwischen obsolet – höchst blutige Vorgänge, die der Protagonistin zu unerhört starker Triebabfuhr verholfen haben. Das neue China vollstreckt seine Todesstrafe nun „human“, durch intensive Glockenbeschallung. Diese dauert so lange an, bis die spektakulär tiefe Frequenz des Musikinstruments den Delinquenten ums Leben und die Damen zu höchster Lust gebracht hat. Kafka dagegen, der übrigens kaum erotisch-sexuelle Motive von Mirbeau übernimmt, wohl aber den Schauplatz mit asiatisch-russischem „Teehaus“ (TB 248), stellt diesen Wechsel als einen katastrophal misslingenden dar. In der Strafkolonie des Pragers wird zwar Französisch gesprochen, aber nur von der Oberklasse im Gesprächsverkehr mit dem Forschungsreisenden. Das Ambiente deutet bei Kafka nicht auf chinesische Verfeinerungen der (Schmerz-)Kultur hin, sondern auf eine russisch derbe Form direkter Herrschaft  : „Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, daß es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.“65 Bei Kafka herrscht, so scheint es, die Justiz der zaristischen Knute  : Gesetz und Gerechtigkeit werden den Verurteilten auf den Leib geschrieben. Deren gelegentliches Aufbegehren wird unterdrückt durch eine Justiz, die differenzierende Strafen so wenig kennt wie den Schutz des Angeklagten vor Richterwillkür. Die Einzelheiten der Hinrichtungsmaschinerie erinnern dabei an Kafkas damalige Befindlichkeit, die mit seiner erneuten und sehr gequälten Hinwendung zu Felice vorlag, nachdem die 64 Octave Mirbeau  : Der Garten der Qualen. Budapest 1901. 65 Franz Kafka  : Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler und Hans-Gerd Koch [u.a.]. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 203–204.



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Niederschrift des Proceß zum Stillstand gekommen war.66 Vor allem jedoch erweist sich die Strafkolonie von Kafkas ambivalenter Furcht vor der russischen Willkürherrschaft gebeizt  : Es erscheint darin die zaristische Foltermaschine statt einer zivilisierten Rechtsprechung, Menschenmaterial statt zu respektierender Untergebener, das zum Prinzip erhobene Schuldigsein aller, die vor dem Richter zu erscheinen haben. Dieses Syndrom verbindet das asiatisch-tropische Russland zudem mit der antisemitischen Pogromjustiz im Proceß. Beide Texte sind auf ihre Art Justiz-Texte, verbunden durch die Angst vor dem östlichen Kriegsgegner, in deren Reich der Antisemitismus sogar in Gesetzesform gegossen worden war. Der Strafapparat gleicht einer Staatsmaschinerie, die zur lückenlosen Unterdrückung entwickelt wurde, einem ‚Spinnennetz aus eisernen Fäden‘, als das der zaristische Geheimdienst bezeichnet worden war. Die keineswegs abgemilderten alttestamentarischen Züge sowie die Entstehungszeit sprechen tatsächlich für eine derartige Schreibmotivation, entsprungen aus Kafkas damaliger RusslandFurcht, in der er sich durch die Schlacht um Lemberg (auch serbische Grausamkeiten wirkten mit) noch bestärkt fand. Das alles sind Belege für die dispositive Macht des Weltkriegs, für Kafkas panische Angst vor Russlands Antisemitismus. Nicht nur bei den Nationalsozialisten wünschte man sich damals den Zaren zum neuen Herrscher. Franz Kafka konzipierte eine Staatsmaschinerie, deren Justiz auf absolute, despotische Herrschaft ausgerichtet ist  : Ich bin hier in der Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. […] Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist  : Die Schuld ist immer zweifellos. Andere

Gerichte können diesen Grundsatz nicht befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben

auch noch höhere Gerichte über sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens nicht beim früheren Kommandanten.67

Hiermit beschreibt Kafka das asiatisch-despotische Gegenteil des habsburgischen Rechtsstaats. So wird der Prager Jurist selbst zu jenem Reisenden und 66 Mit Fug sah man sich mit dem Einschreiben des Urteils in den Körper des Verurteilten an die mit Grammophonnadeln eingeritzten Sprechvorgänge erinnert, die Felice damals in Gestalt des neu erfundenen Diktaphons den nicht nur in Berlin hektisch diktierenden Chefs schmackhaft zu machen trachtete. An Friedrich Kittlers ‚Aufschreibesysteme‘ sei in diesem Kontext ebenfalls erinnert. Der schon bald wieder einsetzende Briefwechsel zwischen Berlin und Prag trägt seinerseits durchaus die Züge eines sadistischen Rituals. 67 Kafka, Drucke. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 212.

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Vertreter mitteleuropäischer Humanität, die in kultivierten Rechtslandschaften herrscht. Mit der praktizierten Hinrichtungsart liegen womöglich auch Reminiszenzen an die Passion Christi vor, und – weniger geheiligt – an eine Lektüre Mirbeaus  : „Es darf natürlich keine einfache Schrift sein  ; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden  ; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet.“68 Was bei Mirbeau, im alten Kulturstaat China, dem Kafka sich durchaus verbunden fühlte, noch glückt, scheitert in der Strafkolonie. Dem Zaren war nicht erreichbar, was dem Kaiser von China noch möglich war. In Prag glaubte man nicht an eine Wandlung des obersten russischen Kommandanten. Diese zentrale Argumentationsstruktur des Textes ist bislang nicht entziffert worden. Man hat zwar die Parallele zwischen zaristischer Despotenherrschaft und kommender totalitärer Rechtsbeugung gesehen, ohne aber darin einen konkreten Schreibanstoß für diese dritte russische Erzählung zu entdecken. Die Strafkolonie wurde, wie gesagt, im Oktober 1914 abgefasst, nachdem die Niederschrift des Proceß bereits zum Stillstand gekommen war. Nur die ihn abrundende Legende Vor dem Gesetz entstand später, im Dezember des gleichen Jahres. In ihr wird am Beispiel des Einlass suchenden „Mann[s] vom [östlichen] Lande“69 der Eingang geschlossen, der bislang ins Reich des Lichts führen konnte. Während letztere Erzählung in ihrer Thematisierung von Rechtsstaatlichkeit noch in helles, gleißendes Licht getaucht ist, schreibt die StrafkolonieErzählung die Legende einer ganz und gar verfinsterten Unrechtsstaatlichkeit. In der damaligen Kriegswirklichkeit war rund einen Monat vor Abfassung der Strafkolonie Folgendes geschehen  : Anlässlich der Schlacht von Lemberg ließ der Zar eine Flugblattserie über das umkämpfte Gelände hinabregnen. In sämtlichen Sprachen der verbündeten Gegner wurde als eine Art himmlische Botschaft die Aussicht verkündet, dass Saulus ganz schnell zu Paulus werden würde, förderte man seinen Sieg durch Überlaufen oder Defätismus. Auf Deutsch, Polnisch und Tschechisch eröffnete der Zar, dass der alte Kommandant in diesem Fall zu einem gänzlich neuen Kommandanten zu werden verspräche. Bei der Lektüre sollte man bedenken, dass zuvor der Zar, zusammen mit Bismarcks Preußen, den polnischen Staat von der Landkarte hatte verschwinden lassen  :

68 Ebenda, S. 217–218. 69 Vgl. Kafka, Proceß. In  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002, S. 292.

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Polen  !

Die Stunde ist gekommen, den Traum und die Hoffnung der Vorfahren Realität

werden zu lassen.

Vor anderthalb Jahrhunderten wurde der lebende Körper Polens zerrissen, aber

seine Seele hat überlebt. Polen hat immer in der Hoffnung gelebt, dass es einmal

auferstehen und sich brüderlich mit dem Großen Russland vereinigen könnte.

Die Russische Armee bringt Euch die gesegnete Botschaft über die Vereinigung.

Die Grenze, die die polnische Nation geteilt hat, muss verschwinden. Die polnische

Nation muss sich versammeln und unter der Krone des Russischen Zaren eins werden. Unter dieser Krone wird das freie Polen wieder erstehen und seinen Glauben, seine

Muttersprache und Selbstregierung erhalten. Nur eine Sache erwartet Russland von

Euch  : den Respekt gegenüber den Rechten der beiden Nationen, die die Geschichte vereinigen will.70

Dieses Flugblatt schwebte also beim Einzug der russischen Armee ins umkämpfte Lemberg. Das Aufsehen, das dieses absurde zaristische Versprechen erweckte, macht es mehr als wahrscheinlich, dass Kafka von jener Flugblattaktion gehört hatte, zumal er damals die Schlacht um Lemberg fieberhaft verfolgt hatte. Damit enthält die Strafkolonie mit ihrer missglückten „Humanisierung“ des Strafvollzugs die implizite und ironische Stellungnahme des Autors zu den Reformplänen des um panslawische Unterstützung bemühten Zaren. Die antisemitische Rechtsstaatlichkeit stand im Widerspruch zu seiner vorgeblichen Reformwilligkeit. Der Forschungsreisende vermag am Ende nur, der Insel zu entfliehen, und möchte dabei niemanden aus dem Infektionsbereich des Terrors mit sich nehmen. Andererseits birgt die Unterwerfungsstruktur in der Strafkolonie-Gesellschaft für den westjüdisch-neurotischen Autor, ganz wie zuvor in seiner Kaldabahn, die Verlockung einer Tilgung eigener problematischer Individualität in sich, dem Geist der Mirbeau’schen Morbidität entsprechend. In der Gesamtschau scheint es, als ob die rätselhafte Strafkolonie mit ihren sadistischen Einschlägen die Perversität des Stellungskrieges widerspiegelte, der durch propagandistische, geradezu surrealistische Flugblatt-Volten versuchte, sich selbst zu überwinden. Das geschah eben nicht nur bei Verdun, sondern auch bei Lemberg. Diese Annahme liegt nahe, wenn man auf eine bestimmte Kaf­ 70 Nur die polnische Version dieses Flugblatts war im Archiv von Lemberg/Lwow noch zu beschaffen. Mein Dank gebührt der Kollegin Irina Molberg, die mir geholfen hat, das zitierte Dokument im Lemberger Archiv aufzufinden.

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ka’sche Erzählung blickt, auf seinen Riesenmaulwurf als ein Geschöpf des Grabenkrieges, zu dem der Weltkrieg sich am Ende des Jahres 1914 entwickelt hatte. Kafkas Nachtschreiben war nie mehr so ertragreich wie in dem Zeitraum, der zwischen dem Ausbruch des Weltkriegs im August und seinem Erstarren am Ende des Jahres 1914 lag. Und er war in dieser Periode zu sich selbst gelangt und nun fähig zur Produktion bedeutender Romane, von Der Verschollene und Der Proceß. 3.2 Kafkas Resumee Das änderte sich umso rascher, je weiter das Jahr 1915 voranschritt. Dass der Krieg bereits verloren war, wusste Kafka im Grunde. Dem Prager missfiel jetzt das Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring, das von den Tschechen anlässlich des 500-jährigen Todestages des Reformators neu errichtet worden war. Denn das Ende der Dominanz des deutschsprachigen Prager Zentrums zeichnete sich jetzt ab, unübersehbar und beängstigend. Ein Tschechisches Auslandskomitee wurde gebildet, das zum Kampf für einen selbständigen Staat aufrief. Beneš ging als zentrale Politikergestalt nach Frankreich und appellierte von dort aus an seine tschechischen Landsleute. Alle diese Aktivitäten spiegelten die Erfolglosig­ keit der österreichischen Militäranstrengungen wider, denen nun auch Kafka nicht mehr literarisch aufhelfen konnte. Die verlockende Welt des KörnerRoßmann mit ihrem ‚strahlenden Schimmel‘ war für den zum Zivildasein Verurteilten inzwischen unerreichbar geworden. Und dann folgte noch ein letzter tragischer, niederschmetternder Höhepunkt  : Der von Kafka einst umworbene, militärisch assimilierte Jugendfreund Oskar Pollak fiel am 11. Juni in einer der Isonzo-Schlachten. Kafka, der unabkömmlich Gestellte, besuchte die trauernde Mutter noch im gleichen Jahr. Solch verfinsternden Eindrücken ausgeliefert, musste Kafka sogar geplant haben, den schuldlosen Karl Roßmann sterben zu lassen, nämlich als weiteres Opfer des Weltkriegs (vgl. TB  757).71 Im Zusammenhang mit dem Besuch bei der Mutter Pollaks bestaunte der Prager auch die neueste Sensation der Moldaumetropole  : einen Nachbau der Schützengräben. Kafka war dabei nicht allein  : Der Erfolg war überwältigend. Obwohl es – kaum war der Graben feierlich eröffnet – in Strömen zu regnen begann […], vermochte die Straßenbahnlinie 3 den Andrang

71 Eintrag vom 30. September 1915.

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kaum zu fassen  : Allein am 28. September […] drängten sich 10 000 Menschen durch

die Drehkreuze des ,Schauschützengrabens‘, während gleich nebenan die Bierfässer

rollten und die Kapelle des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 51 tapfer den Regenböen standhielt.72

Damals zeichnete Franz Kafka auch eine Kriegsanleihe. Er setzte damit auf den österreichischen Sieg, wie es die neue Biographieforschung sieht, die zugleich jedoch dazu tendiert, die Berührung des Pragers mit dem Weltkrieg auf seinen Besuch des Schauschützengrabens begrenzt zu sehen. Angeblich hatten ihn damals auch, nach dem Besuch bei der trauernden Mutter Pollaks, „[l]angfristige, hohe Zinsen“ „elektrisiert[e]“, womit Kafka aus dem Beruf hätte ausscheiden können, um in Berlin zu leben.73 Das grenzt an posthume Ehrabschneidung – Franz Kafka folgte in seinem patriotischen Akt durchaus dem Beispiel seiner Anstalt, die einen hohen Geldbetrag in Kriegsanleihen investiert hatte. Diese vaterländische Handlung markierte das Ende der Schreibperiode. Sie endete mit Kafkas resümierendem Tagebuchnotat vom 31.  Dezember  1914, resignierenden Sätzen unter einem symbolisch erhöhten Datum  : Seit August gearbeitet, im allgemeinen nicht wenig und nicht schlecht, aber weder in ersterer noch in letzterer Hinsicht bis an die Grenzen meiner Fähigkeit, wie es hätte

sein müssen, besonders da meine Fähigkeit aller Voraussicht nach (Schlaflosigkeit,

Kopfschmerzen, Herzschwäche) nicht mehr lange andauern wird. Geschrieben an

Unfertigem  : Der Proceß, Erinnerungen an die Kaldabahn, Der Dorfschullehrer, Der Unterstaatsanwalt und kleinere Anfänge. An Fertigem nur  : In der Strafkolonie und

ein Kapitel des Verschollenen, beides während des 14 tägigen Urlaubs. Ich weiß nicht,

warum ich diese Übersicht mache, es entspricht mir gar nicht. (TB 714–715)

Größte Angst wie auch größte Lust vereinigten sich in ihm im Halbjahr des Weltkriegsausbruchs. Kafka vermochte diese allumfassende Angst in Schreiben umzuwandeln, für die Dauer eines halben Jahres. Ein heutiger österreichischer jüdischer Autor, Robert Schindel, hat zu diesem Empfinden geschrieben   : „‚Dann ist die Angst im Wort und springt von dort die Leser an, und ich gehe entlang des Donaukanals, und vergnügt bin ich wieder geworden.‘“74 Kafkas 72 Reiner Stach  : Die Jahre der Erkenntnis. In  : Kafka. 3 Bde. Frankfurt a. M. 2008, S. 13. 73 Vgl. ebenda, S. 15. 74 Robert Schindel  : Gebürtig. Frankfurt a. M. 1992, S. 19.

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Produktion, vollzogen im Banne des Weltkriegs, langte für seinen beispiellosen Weltruhm. Es waren nicht mehr als fünf Monate, die vom August 1914 bis zum Dezember des gleichen Jahres reichten, die die Welt der Literatur so gründlich verwandelten – so wie etwa die Marneschlacht das Gelände, auf dem sie stattfand. Das Nacht-Schreiben als teuflischer Gottesdienst schuf eine ganz neue Literatur, die zwischen dem Phantastischen und dem Realen unauflöslich changiert – und die so nur unter der dispositiven Wirkung der damaligen Weltkatastrophe entstehen konnte. Franz Kafka erscheint als der Weltschriftsteller der apokalyptischen Katastrophe, die in mancherlei Hinsicht die Welt stärker veränderte als der dann noch folgende Zweite Weltkrieg.

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Franz Kafkas nächtliches Schreiben als ‚Manövertätigkeit‘ |

Glettler, Monika  : Sokol und Arbeiterturnvereine (D.  T.  J.) der Wiener Tschechen bis 1914. Zur Entwicklungsgeschichte der nationalen Bewegung in beiden Organisationen. München [u.a.] 1970. Heindl, Robert  : Meine Reise nach den Strafkolonien. Berlin [u.a.] 1913. Janouch, Gustav  : Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1951. Jelinek, Gerhard  : Schöne Tage, 1914. Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wien 2013. Kafka, Franz  : Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt a. M. 1983. Kafka, Franz  : Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt a. M. 2002. Langbehn, Julius  : Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Weimar 1928. Mirbeau, Octave  : Der Garten der Qualen. Budapest 1901. Molberg, Irina  : Die Erzählung In der Strafkolonie des jüdischen Schriftstellers Franz Kafka im Spiegel möglicher Quellen. „Dreyfus-Affäre“, Beamtenapparate und zeitgenössische Berichte über Strafkolonien. Masterarb. Trondheim 2007. Musil, Robert, Band 7  : Kleine Prosa, Aphorismen und Autobiographisches. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. 9 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978. Neumann, Bernd  : Franz Kafka. Gesellschaftskrieger. Paderborn [u.a.] 2008. Northey, Anthony  : Kafkas Mischpoche. Berlin 1988. Rußegger, Arno  : „Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.“ Erster Weltkrieg und literarische Moderne – am Beispiel von Robert Musil. In  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 229–245. Schindel, Robert  : Gebürtig. Frankfurt a. M. 1992. Schößler, Franziska  : Verborgene Künstlerkonzepte in Kafkas Romanfragment Der Verschollene. In  : Hofmannsthal-Jahrbuch 6 (1998), S. 281–305. Spengler, Oswald  : Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933. Stach, Reiner  : Die Jahre der Erkenntnis. In  : Kafka. 3 Bde. Frankfurt a. M. 2008. Tuchman, Barbara  : The Guns of August. New York 1962. Zischler, Hanns  : Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1996. Zweig, Stefan  : Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. 1904–1940. Stockholm 1946.

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Gábor Kerekes

Der Erste Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1948

1. Österreich-Ungarn  : Zwei Länder, ein Reich  ?

„Der Thronfolger ist ermordet worden“, heißt es in einem der abschließenden Sätze des ersten Buches der Bekenntnisse eines Bürgers (1934), das von Sándor Márai, dem heute international bekanntesten ungarischen Autor des 20.  Jahrhunderts stammt.1 Charakteristisch für die ungarische Literatur in ihrem Verhältnis zum Ersten Weltkrieg ist, dass Márai einen Kommentar zum Kriegsausbruch 1914 sowie auch zum Krieg selbst vermeidet. Obwohl die tödlichen Schüsse von Sarajewo den Anfang jener Ereignisse bildeten, als deren Ergebnis Ungarn das bis heute unbewältigte Trauma des Friedensvertrages von Trianon zu durchleben hatte, den Verlust von zwei Dritteln seines Landesgebietes, finden sich in der ungarischen fiktionalen Literatur weder zahlreiche Betrachtungen zu 1914 noch nostalgische Rückblicke auf die K.-u.-k.-Monarchie, dagegen aber Kommentare zu den Folgen, die dem bedeutsamen Jahr 1914 entsprangen. Ursache hierfür mag eine tiefer liegende Identitätsproblematik sein, die Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften folgendermaßen umriss  : Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt  ; sie hatten sich als kaiserlich und

königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. […] Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren

zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die

ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn  ; die Österreicher dagegen

waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen

gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal

1 Sándor Márai  : Egy polgár vallomásai [Bekenntnisse eines Bürgers]. Budapest 2013, S. 267. – Alle Übersetzungen aus dem Ungarischen stammen vom Vf., G. K.

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Gábor Kerekes

ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und

Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben

Hose  ; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig

zertrennt worden war.2

Musils Beschreibung der Verhältnisse ist treffend, denn wiewohl Ungarn im Rahmen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie als nicht vollkommen souveräner Staat (in einem Zwischenzustand von Abhängigkeit und Unabhängigkeit3) existierte, ohne ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung und Verwaltung, gab es zugleich die gemeinsam mit der österreichischen Reichshälfte geführten Ministerien, die die wichtigsten Angelegenheiten des Staates regelten. Eine Abneigung gegenüber Österreich war besonders im kulturellen Bereich nicht zu übersehen. Diese machte sich durch eine starke Orientierung an Frankreich bemerkbar. Heutzutage wird man von der Tatsache überrascht, wie wenig Beachtung damals die österreichische Literatur, die gerade ihre Glanzzeit erlebte, in Ungarn fand. Auf die französische und englische Literatur fokussierte sich auch das Interesse des wichtigsten periodischen Publikationsorgans von moderner Literatur, der 1908 gegründeten Zeitschrift „Nyugat“ [„Westen“], die bis 1941 erschien und sich das Ziel gesetzt hatte, die zeitgenössische Literatur, Kunst und Philosophie Westeuropas in Ungarn bekannt zu machen. Der ungarische Teil der Monarchie fühlte sich alles in allem keineswegs als Partner in einem gemeinsamen Reich, sondern verstand sich als vollkommen selbständiger Staat, der Ungarn faktisch nicht war. Noch 1932 gab der ungarische Humorist und Satiriker Frigyes Karinthy, den man als weniger strengen Karl Kraus und weniger politischen Kurt Tucholsky beschreiben könnte, in Bezug auf das alte Reich zu bedenken  : „Dieses alte [Ungarn] haben nur wir Ungarn genannt. Da draußen, in der Sprache Europas […] war sein Name  : Österreichisch-Ungarische Monarchie. Und eher österreichisch als ungarisch.“4 Während aus Österreich nach dem Ersten Weltkrieg eine Republik wurde, bestand das nunmehr souveräne Königreich Ungarn, allerdings ohne dass ein König an der Spitze stand, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fort. Das 2 Robert Musil, Band 2  : Der Mann ohne Eigenschaften. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. 9 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 450–451. 3 Siehe András Gerő  : Dualizmusok. A Monarchia Magyarországa [Dualismen. Das Ungarn der Monarchie]. Budapest 2010, S. 13–26. 4 Frigyes Karinthy, Band 2  : Idomított világ [Gezähmte Welt]. 2 Bde. Budapest 1981, S. 47.



Der Erste Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1948 |

Oberhaupt des Staates war Konteradmiral Miklós Horthy. Und wenn es auch Kritik an der Ersten Republik Österreichs wegen demokratischer Versäumnisse und einer schleppenden Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges gab, so hat man festzustellen, dass diese Versäumnisse in Ungarn ungleich größer waren.

2. Buchdruck, Verlagswesen und Zensur in Ungarn (1900–1948)

Das ungarische literarische Leben dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mór Jókai (1825–1904) mit seinen historischen Romanen, in denen das Gute des Menschen immer wieder triumphiert. Noch vor der Jahrhundertwende war die erste Gesamtausgabe seiner Werke in 100 Bänden erschienen, was die Popularität seines Schaffens verdeutlicht. Aus der Riege der Autoren, die zur Zeit der Jahrhundertwende schrieben, begannen Kálmán Mikszáth (1847–1910) und die jetzt neu auftretenden Ferenc Herczeg (1863–1954) und Géza Gárdonyi (1863–1922) die Gunst des Publikums zu gewinnen, das eher die traditionelle Literatur bevorzugte.5 Zur gleichen Zeit machten sich Ferenc Molnár (1878– 1952) und Jenő Heltai (1871–1957) mit ihren erfolgreichen Werken in der ungarischen Theaterszene bemerkbar  – beiden war gemein, dass sie Jahrzehnte später wegen der antisemitischen Politik Ungarns ins Exil gezwungen wurden. Am Beginn ihrer literarischen Laufbahn standen zur Jahrhundertwende Endre Ady (1877–1919), Gyula Krúdy (1878–1933), Mihály Babits (1883–1941), Dezső Kosztolányi (1885–1936) und Zsigmond Móricz (1879–1942) sowie etwas später der Avantgardedichter und Maler Lajos Kassák (1887–1967). Die 5 Dabei sind sowohl Herczeg als auch Gárdonyi gute Beispiele für die Assimilierung der deutschsprachigen Bevölkerung in Ungarn. Ferenc Herczeg (eigentlich Franz Herzog) beherrschte in seiner Kindheit zunächst nur das Deutsche, erlernte dann das Ungarische, um schließlich einer der erfolgreichsten Autoren des Landes zu werden. Zwar waren seine literarischen Hervorbringungen in ihrer herkömmlichen Manier wenig innovativ, doch den hohen Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz des Autors unterstreicht der Umstand, dass die Ungarische Akademie der Wissenschaften ihn 1927 für den Nobelpreis für Literatur vorschlug  ; siehe Béla G. Németh  : Az „úri középosztály“ történetének egy dokumentuma [Ein Dokument der Geschichte der „herrschaftlichen Mittelklasse“]. In  : Herczeg Ferenc emlékezései [Herczeg Ferenc, Memoiren]. Budapest 1985, S. 5–32. – Gárdonyi war als Géza Ziegler auf die Welt gekommen und hatte vermutlich in seinen offiziellen Dokumenten diesen Namen auch beibehalten. Heute ist er der Inbegriff eines ungarischen Autors, wozu vor allen Dingen seine historischen Romane beitrugen, allen voran das in der Zeit der türkischen Besatzung Ungarns spielende Werk Egri csillagok [Sterne von Eger]. Seine Bühnenwerke schrieb er ebenfalls in ungarischer Sprache  ; siehe András Kispéter  : Gárdonyi Géza. Budapest 1970 u. Sándor Z. Szalai  : Gárdonyi Géza. Budapest 1977.

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künstlerische Wirkung, die sich in der Zwischenkriegszeit entfaltete, führte zu ihrem Rang als maßgebliche ungarische Autoren, der sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. In der Zeit, die auf den Ersten Weltkrieg folgte, erschienen auf der literarischen Bühne weitere wichtige Persönlichkeiten   : Sándor Márai (1900–1989), László Németh (1901–1975), Gyula Illyés (1902–1983), Attila József (1905–1937) und Miklós Radnóti (1909–1944). Das ungarische Buchwesen wurde in dieser Zeit von einigen größeren Verlagen dominiert  – Athenaeum, Révai, Franklin, Dante  –, die auch literarisch anspruchsvolle Werke veröffentlichten.6 Die Auflagenzahlen der bekannten ungarischen Autoren lagen vor dem Ersten Weltkrieg bei 5.000 bis 6.000 Exemplaren, lediglich die Werke des Nationaldichters Sándor Petőfi (1823–1849) erreichten 1898 in einer Ausgabe des Athenaeum-Verlages eine Stückzahl von 50.000, die bis 1900 auch alle abgesetzt werden konnten. Die Unterhaltungs- und Groschenliteratur allerdings erschien in weitaus höherer Auflage, der einzelne Verlage mit Hilfe von Buchreihen Paroli zu bieten versuchten – so der Verlag Révai mittels „Klasszikus regénytár“ [„Klassisches Romandepot“] und mit einer Auflagenhöhe von 10.000–14.000 Büchern sowie Athenaeum durch die billigen Reihen „Modern Könyvtár“ [„Moderne Bibliothek“] mit 15.000–24.000 und „Athenaeum Könyvtár“ [„Athenaeum Bibliothek“] mit 10.000–30.000 Exemplaren.7 Diese Buchreihen bestanden auch in der Zwischenkriegszeit fort. Waren im Jahr 1913 in Ungarn noch insgesamt 2.378 Buchtitel erschienen, war ihre Zahl bis zu Beginn der 1940er-Jahre auf über 5.000 angestiegen, wobei der Anteil der fiktio­ nalen Literatur von Jahr zu Jahr zwischen einem Viertel und einem Drittel schwankte. Den Titeln der Veröffentlichungen nach zu urteilen, hielt sich die Anzahl der anspruchsvollen Literatur und jene der Trivialliteratur die Waage. Das Verhältnis der Auflagenhöhe fiel mit 30 zu 70 Prozent deutlich zu Gunsten der Unterhaltungsliteratur aus, zu der die Abenteuer des Detektivs Nick Carter oder des Westernhelden Buffalo Bill zählten.8 Bei den Übersetzungen von ausländischer Literatur war die Dominanz der angel­ sächsischen Autoren unübersehbar, denen erst mit einigem Abstand deutsch­­sprachige und französische Literaturwerke folgten. Zwischen Ungarn und 6 Vgl. Miklós Szabolcsi (Hg.), Band 6  : A magyar irodalom története. A magyar irodalom története 1919–től napjainkig [Geschichte der ungarischen Literatur. Die Geschichte der ungarischen Literatur ab 1919 bis in unsere Tage]. 6 Bde. Budapest 1966, S. 29. 7 Siehe Ignác Romsics  : Magyarország története a XX. században [Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert]. Budapest 2005, S. 88–98. 8 Siehe ebenda, S. 211–212.



Der Erste Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1948 |

dem deutschsprachigen Raum gab es zwar bereits seit Jahrhunderten enge kulturelle Kontakte, so dass für die ungarischen Autoren spätestens seit dem 18. Jahrhundert die deutsche Literatur ein Vorbild und eine Inspirationsquelle war, doch die ungarischen Verleger von Literatur aus dem deutschsprachigen Raum sahen sich in dieser Zeit mit einer grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert. Denn bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erfolgte die Lektüre der deutschsprachigen Werke zu einem großen Teil in deutscher Sprache. Dabei hatte diese Sprache eine wichtige Vermittlerfunktion inne  : Goethe und Schiller, Tieck und Uhland gehörten zu den in Ungarn bekannten, gelesenen und zitierten Autoren. In Budapest erschien mit dem „Pester Lloyd“ (1854–1945) eine angesehene deutschsprachige Tageszeitung, in der unter anderem Thomas Mann publizierte, dessen Werke – so wie auch die anderer deutscher Autoren – zugleich in ungarischer Übersetzung zugänglich waren. Darüber hinaus gab es in diesem Zeitraum landesweit eine ansehnliche Zahl an regelmäßig erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften sowie an solchen, die zu einem gewissen Teil Artikel in deutscher Sprache veröffentlichten. Obwohl es einen unübersehbaren Magyarisierungsdruck von staatlicher Seite gab und die Zahl der deutschsprachigen Presseerzeugnisse kontinuierlich abnahm, blieb die herausragende Stellung der deutschsprachigen Kultur in Ungarn vorerst ungebrochen. Träger dieser Kultur waren in erster Linie bürgerliche Schichten  : das deutsche Bürgertum Ungarns und ansehnliche Teile des ungarischen jüdischen Bürgertums,9 aus dessen Reihen auch einige bekannte Autoren der deutschsprachigen Literatur hervorgingen.10 Mehrfach überliefert ist, dass man die ungarische Übersetzung von Thomas Manns Zauberberg aus den Korrekturexemplaren der noch nicht veröffentlichten   9 Siehe Ilona Fürst  : Dóczi Lajos mint német író [Lajos Dóczi als deutscher Schriftsteller]. Budapest 1932 u. Rózsa Osztern  : Zsidó újságírók és szépírók a magyarországi németnyelvű időszaki sajtóban, a „Pester Lloyd“ megalapításáig, 1854–ig [ Jüdische Journalisten und Belletristen in der ungarischen periodischen Presse, bis zur Gründung des „Pester Lloyd“, bis 1854]. Diss. Budapest 1930. 10 Allein wenn man bedenkt, welche Autoren jüdischer Herkunft in Budapest geboren wurden und später das Land verließen, hat man auch darin eine vertane Möglichkeit, eine verlorene Potenz für die Literatur Ungarns zu sehen. Zu diesen Autoren gehören als die Bekanntesten  : Theodor Herzl (1860–1904), Felix Salten (1869–1945), Arthur Holitscher (1869–1941), Andreas Latzko (1876– 1943), Emil Szittya (1886–1964), Arthur Koestler (1905–1983) sowie Hans Habe (1911–1977). Sie alle sind in Pest oder Buda auf die Welt gekommen und haben das Land Richtung Westen verlassen, um später in deutscher Sprache zu publizieren. Salten, Habe, Herzl und Latzko fanden für sich jeweils eine neue Heimat. In ihren Werken zeigen sich daher so gut wie keinerlei Verbindungen und/ oder Reminiszenzen zu Ungarn. Im Falle von Holitscher, Koestler und Szittya war die Erfahrung in der Fremde viel weniger angenehm, weshalb diese Autoren sich in mehreren ihrer Werke mit Kindheit und Jugendzeit in Ungarn beschäftigten.

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deutschen Fassung erarbeitete, da die ungarische Ausgabe unbedingt vor der deutschen Originalversion erscheinen sollte.11 Solche kommerziellen Ängste hatte man im Zusammenhang mit Proust oder Joyce nicht. Der Buchmarkt und das literarische Leben waren im Königreich Ungarn der Zensur unterworfen, die sich im ausgehenden 19.  Jahrhundert von einer vorsorglichen Kontrolle von Manuskripten und Theaterstücken hin zu einer nachträglichen Durchführung von Strafverfahren wandelte, wenn das Werk bzw. seine Aufführung in den Augen der Staatsmacht als politisch, religiös oder moralisch bedenklich erschien.12 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde für kurze Zeit die vorausgehende Zensur wieder eingeführt, die es erforderlich machte, dass man von der Staatsanwaltschaft eine Genehmigung zum Vertrieb des Druckerzeugnisses einholte.13 In Verfahren gegen unliebsame Autoren und Werke wurde ab 1921 auch das Gesetz Nr.  III angewendet, dessen ungenaue Formulierung eine Vielzahl von Veröffentlichungen betraf. So wurde 1928 der Schriftsteller Lajos Hatvany (1880–1961) wegen Verunglimpfung und Schmähung der ungarischen Nation in mehreren Zeitungsartikeln zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, wobei aus Hatvanys letzten Worten im Prozess hervorgeht, dass allen Anwesenden klar zu sein hatte, dass es im Verfahren eigentlich um seinen ungarnkritischen Roman Das verwundete Land ging.14 Häufig wurde dieses 1921er-Gesetz angewandt, bis zum Jahr 1939, als das Gesetz Nr. XIV von 1914 wieder in Kraft trat. Die Dehnbarkeit der einzelnen juristischen Definitionen wurde in konkreten Verfahren deutlich. Zwischen 1919 und 1944 wurden in Ungarn rund 2.000 Bücher ungarischer und ausländischer Verfasser verboten.15 Eine andere Möglichkeit der Sanktionierung bestand darin, Bücher aus dem postalischen Vertrieb auszuschließen. 1933 widerfuhr dies sieben Werken von Adam Müller-Guttenbrunn, der in seinen Texten kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegenüber Ungarn machte.16 11 Vgl. István Fried  : Bevezetés az összehasonlító irodalomtudományba [Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft]. Budapest 2012, S. 107. 12 Vgl. György Székely (Hg.)  : Magyar színházművészeti lexikon [Lexikon der ungarischen Theaterkunst]. Budapest 1994, S. 125. 13 Vgl. Szabolcsi (1966), Bd. 6, S. 29. 14 Siehe o. A.: „Hatvany Lajos védekezése“ [„Lajos Hatvanys Verteidigung“]. In  : Pesti Hírlap [Pester Journal], 9. Mai 1928. 15 Vgl. Györgyi Markovits und Áron Tóbiás (Hg.)  : A cenzúra árnyékában [Im Schatten der Zensur]. Budapest 1966, S. 19. 16 Pál Gulyás  : Az irodalom kitagadottjai [Die Verstoßenen der Literatur]. In  : Irodalomtörténet [Literaturgeschichte] (1933), Heft 5–6, S. 143–147, hier  : S. 143.



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Von den heute als bedeutend geltenden ungarischen Autoren sah sich eine ganze Reihe mit Gerichtsverfahren konfrontiert, so Mihály Babits, Gyula Illyés, Attila József, Lajos Kassák und Miklós Radnóti. Bezüglich der Veröffentlichung deutschsprachiger Literatur zeigt sich ein erstaunliches Bild, denn offensichtlich war die ungarische Staatsmacht über die innenpolitischen Belange hinaus nicht an einer Zensur interessiert. So veranlasste man 1928 anlässlich einer Theateraufführung von Büchners Dantons Tod zwar eine Kürzung um Passagen, die Gewalt gegen die Aristokratie beinhalteten, zugleich jedoch erschien der Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, der vom im Hitlerreich verfemten Franz Werfel stammt, in Ungarn jeweils in den Jahren 1934, 1941, 1943 und 1944 als Übersetzung. Vermutlich duldete man dies deshalb, weil Werfel ein international erfolgreicher, inzwischen auch in Ungarn bekannter Autor war und das Werk die ungarischen Zustände nicht zu tangieren schien. Büchners Stück hingegen wurde nicht im Horthy-Ungarn veröffentlicht, sondern erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1930er- und 1940er-Jahren waren den Lesern auch eine Vielzahl von Werken durch ungarische Ausgaben zugänglich, die damals im Deutschen Reich verboten worden waren. Die ungarischen Verlage vermochten nur scheinbar frei über die Veröffentlichung literarischer Werke, so auch jener von deutschsprachigen Autoren, zu entscheiden, denn sie hatten sich immer bewusst zu sein, dass die Staatsmacht ein Werk im Nachhinein  – bzw. ab dem 28.  August  1940 durch eine totale Zensur dann unmittelbar – für unliebsam erklären konnte, was eine Form von Selbstzensur bedingte. Weil nicht bei jedem Werk, jedem Manuskript und jeder Aufführung eindeutig kalkulierbar war, wo die Grenze zum Verbotenen verlief, legten sowohl die ungarischen Autoren als auch die Verlage zumeist eine vorauseilende Selbstbeschränkung an den Tag. Das Ausmaß der Selbstzensur verstärkte sich in der Ära Horthy auch deshalb, weil die Polizei sogar Texte des über jedweden Zweifel erhaben scheinenden ungarischen Nationaldichters Sándor Petőfi als bedenklich ansah und zensierte.17 Das war ein Missstand, den Gyula Illyés in „Nyugat“ bereits 1938 beklagte, am Beispiel von Tibor Dérys (1894–1977) Roman A befejezetlen mondat [Der unvollendete Satz], der damals nur in Manuskriptform vorlag.18 Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse in jenen Jahren mag sich nur bei oberflächlicher Betrachtung das Bild der guten alten Zeit einstellen. Man 17 Vgl. Gyula Illyés  : A betiltott Petőfi [Der verbotene Petőfi]. In  : Nyugat 30 (1937), Heft 3, S. 238. 18 Siehe Gyula Illyés  : Déry Tibor regénye [Der Roman Tibor Dérys]. In  : Nyugat 31 (1938), Heft 8, S. 139–140.

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darf nicht vergessen, dass diese Jahrzehnte über die Zensur hinaus von einer undemokratischen und streng ständestaatlich ausgerichteten Politik gekennzeichnet waren,19 von gravierenden sozialen Ungleichheiten in allen Bereichen des Lebens20 – die sich auch im Bildungsstand ausdrückten21 –, von technologischer Zurückgebliebenheit, selbst in der Landwirtschaft,22 und nicht zuletzt von einer Politik mit antisemitischen Tendenzen.23 Von den kommenden Schrecken zeugte im kulturellen Leben Ungarns zu Beginn der 1940er-Jahre vorerst wenig, bis dann in den 40er-Jahren die Werke von über hundert ungarischen Schriftstellern jüdischer Herkunft verboten wurden.24 Dennoch gab es unter ihnen mit Ferenc Molnár einen international berühmten Autor, den man selbst in einer gemeinsamen, deutsch-ungarischen Propagandaschrift während des Zweiten Weltkrieges nicht verschweigen konnte, so dass man die Lösung fand, im Zusammenhang mit seinen Werken von „dramatischem Kitsch und dem Drama als Massenartikel“ zu sprechen.25 Allerdings 19 Der Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung betrug zwischen 1917 und 1920 in Ungarn 40 Prozent, ging in der Zeit von 1921 bis 1925 auf 29 Prozent zurück und verringerte sich in den Jahren 1926–1930 sogar auf 27 Prozent  ; vgl. Takeshi Hirata  : A bethleni konszolidáció jellege a nemzetközi szakirodalom tükrében [Die Beschaffenheit der bethlenschen Konsolidierung im Spiegel der internationalen Fachliteratur]. In  : Valóság [Wirklichkeit] 36 (1993), Heft 11, S. 54–66, hier  : S. 56. 20 So betrugen 1930/31 die Einkünfte der Großgrundbesitzer und Großbürger, die 0,6 Prozent der Bevölkerung ausmachten, mehr als das 33-fache des Durchschnittseinkommens, während 44 Prozent der Gesellschaft nicht einmal über die Hälfte davon verfügten  ; vgl. Mátyás Matolcsy  : A magyarországi jövedelem- és adótehermegoszlás [Die Verteilung der Einkünfte und der Steuerlasten in Ungarn]. Budapest 1938, S. 28. – Auch waren z. B. 1935 vom landwirtschaftlich nutzbaren Boden 48,1 Prozent in der Hand von nur 0,8 Prozent der Wirtschaften, d. h., der Großgrundbesitz dominierte  ; vgl. Iván T. Berend und György Ránki  : A magyar gazdaság száz éve [Hundert Jahre der ungarischen Wirtschaft]. Budapest 1972, S. 150. 21 1941 hatten 1,2 Prozent der Bevölkerung eine Hochschule absolviert, 5,9 Prozent 12 Schuljahre durchlaufen. Der Anteil der Analphabeten lag bei 7,3 Prozent, was immerhin eine Abnahme gegenüber den 8,8 Prozent von 1930 darstellte  ; vgl. Iván Pető und Sándor Szakács  : A hazai gazdaság négy évtizedének története. 1945–1985 [Geschichte der vier Jahrzehnte der heimischen Wirtschaft. 1945–1985]. Budapest 1985, S. 15. 22 So lagen die Erträge im Falle aller wichtigen landwirtschaftlichen Pflanzen Anfang der 1930erJahre hinter denen Österreichs und Deutschlands zurück  ; vgl. Ferenc Eckhart  : A magyar közgazdaság száz éve. 1841–1941 [Hundert Jahre der ungarischen Ökonomie]. Budapest 1941, S. 222. 23 Siehe hierzu Krisztián Ungváry  : A Horthy-rendszer mérlege. Diszkrimináció, szociálpolitika és antiszemitizmus Magyarországon [Die Bilanz des Horthy-Systems. Diskriminierung, Sozialpolitik und Antisemitismus in Ungarn]. Pécs [u.a.] 2012. 24 Siehe Randolph L. Braham  : A magyar holocaust [Der ungarische Holocaust]. Budapest 1988, S. 501–503. 25 Vgl. Gyula Bisztray  : Die ungarische Literatur der Gegenwart. In  : Deutschland, Ungarn. Breslau 1941, S. 160–161, S. 161.



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war es noch 1942 möglich, eine sehr anerkennende Abhandlung über Stefan Zweig zu veröffentlichen, in der József Turóczi-Trostler sich kritisch mit den Grundthesen der Rassenhygiene auseinandersetzte.26 Im Jahre 1942 konnte sich ein Leser dieses hellsichtigen Textes vermutlich nicht vorstellen, welche Schrecken sich in den darauffolgenden Jahren ereignen würden.

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In Anbetracht der Vielzahl von Reglementierungen in Ungarn darf es nicht verwundern, dass bezüglich des Ersten Weltkrieges selten explizit kritische Darstellungen der ungarischen Staats- und Armeeführung erfolgten. In der Zwischenkriegszeit stellten der Weltkrieg als Ereignis und die vorgebliche heldenhafte Standhaftigkeit, als deren exemplarischer Vertreter Konteradmiral Horthy gesehen wurde, für die regierende Schicht in Ungarn ein geschichtliches Dogma dar. Die Ursachen des Weltenbrandes wurden in der Regel gar nicht angesprochen oder auf diffuse Weise Mächten und Faktoren zugeschoben, die außerhalb Ungarns angesiedelt waren. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg konnte somit nur am Beispiel der Opfer und Verlierer des Krieges erfolgen. 3.1 Erstrangige Autoren der ungarischen Literatur und der Erste Weltkrieg Es ist es auffällig, dass man die auch heute noch anerkannten großen Namen der damaligen zeitgenössischen ungarischen Literatur wie etwa Mihály Babits, ­Attila József, Dezső Kosztolányi, Gyula Krúdy, Sándor Márai und Zsigmond Móricz im motivischen Kontext des Weltkrieges vergeblich sucht. Dennoch waren auf dem Buchmarkt Übersetzungen der berühmten Antikriegsromane zugänglich.27 Sie fungierten als Sprachrohr der pazifistisch gesinnten Leserschaft. Jenen Büchern stand eine Flut von veröffentlichten Memoiren und Tage­ büchern ungarischer Weltkriegsteilnehmer gegenüber  – also nichtfiktionale Werke, für die eine Tendenz zur Verherrlichung soldatischer Tugenden charakteristisch ist. Ungarn wurde in diesen Veröffentlichungen, gemäß der damaligen offiziellen Sprachregelung, die sich mit dem Empfinden großer Teile der Gesell26 Siehe József Turóczi-Trostler  : Stefan Zweig. Budapest 1942. 27 Ungarische Übersetzungen erschienen 1918 und 1920 von Barbusses Le Feu, 1921 von Dos Passos’ Three Soldiers, Mitte der 1920er-Jahre von Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa und von Ludwig Renns Krieg sowie 1934 von Célines Voyage au bout de la nuit.

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schaft deckte, als Opfer präsentiert, das unschuldig in den Weltkrieg hineingezogen und nach dessen Ende zu Unrecht bei den Friedensverhandlungen zerstückelt worden wäre. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass es aufseiten der den Krieg bejahenden Partei keinen Autor gab, der im Rang und in der literarischen Qualität etwa Ernst Jünger ebenbürtig wäre. Eine Ausnahmestellung unter den anspruchsvollen Autoren nimmt hinsichtlich der Darstellung des Großen Krieges Zsigmond Móricz (1879–1942) ein, der als Kriegsberichterstatter tätig war und im Laufe der Zeit kritische Berichte über das Leben und Sterben der jungen Frontsoldaten verfasste. Seine literarischen Texte greifen dieses Thema in Form von naturalistisch anmutenden kurzen Erzählungen auf, in denen es um die Entfremdung und das Ausgeliefertsein  – auch gegenüber den eigenen Offizieren  – geht. Beispiele hierfür sind Erzählungen wie Zwischen zwei Feuern28 und Russische Zigarette.29 In seinen umfangreicheren Werken hat es der produktive Autor allerdings vermieden, sich dieser Thematik zuzuwenden. Sicherlich war hierfür der Umstand ausschlaggebend, dass Móricz wegen der anfänglichen Sympathien, die er 1919 der ungarischen Räterepublik entgegengebracht hatte, inhaftiert wurde und danach auch ständig politischen Angriffen aus dem rechten Parteienspektrum ausgesetzt war. Daraufhin wandte sich Móricz in seinen Hauptwerken zumeist Themen der Vergangenheit zu, die auf den ersten Blick unverfänglich zu sein schienen. 3.2 Krieg und Front in der zeitgenössischen Literatur Das erste ungarischsprachige Werk, das eine breite Leserschaft mit den Kriegsschauplätzen vertraut machte, war Harry Russel-Dorsan vom französischen Kriegs­schauplatz.30 Als Buch erschien es 1918, nachdem es in den Jahren 1914, 1915 und 1917 in „Nyugat“ in Fortsetzungen veröffentlicht worden war. Die Leser meinten, den authentischen Bericht des Briten Harry Russel-Dorsan, der angeblich den Kriegsschauplatz im Westen bereiste, in der Hand zu halten. Erst nachträglich wurde klar, dass der tatsächliche Verfasser der ungarische Schriftsteller Dezső Szomory (eigtl. Mór Weisz, 1869–1944) war, der die Front zu keiner Zeit mit eigenen Augen gesehen hatte. Von seinem Budapester Schreib28 Móricz Zsigmond  : Két tűz között. In  : Elbeszélések II [Erzählungen II]. 18 Bde. Budapest 1973, S. 225–229. 29 Móricz Zsigmond  : Orosz cigaretta. In  : Elbeszélések II [Erzählungen II]. 18 Bde. Budapest 1973, S. 279–283. 30 Dezső Szomory  : Harry Russel-Dorsan a francia hadszíntérről. Budapest 1918.



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tisch aus entstanden die Kriegsgräuel auf eine Weise, die dazu führte, dass viele Zeitgenossen in dem Werk dennoch den zuverlässigsten und treffendsten Beleg für die Abscheulichkeiten des Krieges sahen. Obwohl Ungarn und die ungarische Armee darin nicht vorkommen, da Themen vermieden wurden, die eine innenpolitische Relevanz hatten, ist eine pazifistische Grundtendenz, die der Kriegspropaganda entgegengesetzt war, nicht zu übersehen. Im Werk werden die verschiedenen Dimensionen der Kriegsgewalt, von den psychischen Belastungen bis zum grausamen Mord, vorgeführt, teilweise auf verschlüsselte und manchmal auf geradezu naturalistische Weise. Explizit in der Beschreibung der Grausamkeiten ist das Buch Die auf die Erde gekommene Hölle. Das Epos des Isonzo31 von József Pogány (eigtl. József Schwartz, 1886–1939), der später in der kommunistischen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Pogány war 1919 Volkskommissar der kommunistischen Räteregierung in Budapest, setzte als solcher das Verbot der Zeitschrift „Nyugat“ durch und war im gleichen Jahr zuständig für die dekorative Gestaltung der wichtigsten Kundgebung, der Maifeier, die auf dem Budapester Heldenplatz stattfand. Jener als Ausdruck des ungarischen Patriotismus und der Heimatliebe geltende Platz wurde im Lauf seiner Geschichte immer wieder für politische Veranstaltungen genutzt. Anlässlich der Feier von 1919 ließ Pogány die Darstellungen von Heiligen und kirchlichen Persönlichkeiten, die auf dem Platz neben den Skulpturen historischer Personen standen, allesamt verhüllen und ein gewaltiges MarxDenkmal aufstellen. Pogány ging nach der Niederschlagung der Räterepublik nach Moskau, in den 1920er-Jahren schließlich in die USA, wo er unter dem Namen „John Pepper“ für die Kommunistische Internationale tätig war. Von dort kehrte Pogány in den 30er-Jahren in die Sowjetunion zurück, wo er den von Stalin veranlassten „Säuberungen“ zum Opfer fiel und hingerichtet wurde. In seinem 1916 veröffentlichten Buch, das seitdem nicht mehr aufgelegt wurde, erscheint der Krieg als Hölle und die Armeeführung als inkompetent. Der Krieg wird darin immer wieder mit der Schilderung der Hölle in Dantes Göttlicher Komödie gleichgesetzt. Angesichts der niederschmetternden Diagnose zum militärischen Können der K.-u.-k.-Befehlshaber und der schonungslosen Darstellung des Kriegsalltages, die jedwedes Kriegspathos als verlogen entlarvt, kann es nicht verwundern, dass das Buch im Horthy-Ungarn nicht erschienen war. Nach der Etablierung der kommunistischen Staatsmacht in Ungarn im Jahre 1949 wäre diese Thematik und kritische Aufarbeitung an sich kein Hindernis 31 József Pogány  : A földreszállt pokol. Az Isonzo eposza. Budapest 1916.

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mehr für eine Wiederveröffentlichung gewesen. Doch der Umstand der Hinrichtung des kommunistischen Autors in der Sowjetunion sprach dagegen, denn die Ermordung ungarischer Kommunisten durch ihre sowjetischen Genossen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu tabuisiert. Auch seit der politischen Wende von 1989/90 sah bisher kein einziger ungarischer Verlag in der Veröffentlichung von Pogánys Buch ein lohnenswertes Projekt, was über die kommunistische Grundhaltung des Buches hinaus auch damit zusammenhängen mag, dass auf dem ungarischen Buchmarkt inzwischen eindrucksvollere Antikriegsromane angeboten werden. Eine Art Zwischenstellung, zwischen Fiktion und authentischem Bericht angesiedelt, nimmt das ebenfalls im Jahre 1916 erschienene Buch Erinnerungen eines Kriegsberichterstatters von Ferenc Molnár (1878–1952) ein.32 Der Autor war zu dieser Zeit bereits einem größeren Publikum bekannt gewesen und befand sich gerade auf dem Weg zum großen, internationalen Erfolg. Das Buch Erinnerungen eines Kriegsberichterstatters charakterisiert der Verfasser im Vorwort als die „bruchstückhaften Aufzeichnungen von jemandem, der von den Funktionen des geschriebenen Buchstabens jene gewählt hat, die es erlauben, Material zur Geschichte des Ruhmes des ungarischen Soldaten zu sammeln“.33 Das zunächst als authentischer Bericht erscheinende Buch über Ereignisse an der Ostfront, die im Zeitraum vom November 1914 bis zum November 1915 spielen, mag sich auf den ersten Blick als eine hurrapatriotische Hervorbringung zeigen, doch im Laufe des Werkes stellen sich immer mehr tragische Geschichten ein, häufig in Form von Berichten, die die schreckliche Seite des Krieges erahnen lassen. Inwiefern die angeführten Episoden tatsächlich authentisch sind oder als Resultat von Molnárs Phantasie zu gelten haben, inwieweit er Fakten mit Erfundenem vermischte, lässt sich nicht gesichert beantworten. Molnár beschäftigte sich nicht mit politischen oder gesellschaftlichen Fragen, schrieb auch keinen Gegenentwurf zur damaligen offiziellen Sprachregelung der Heeresleitung, sondern präsentierte ein Buch, das weder als kriegstreiberisch noch als defätistisch bezeichnet werden kann. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nach seinem ersten Erscheinen lediglich in der Zwischenkriegszeit 1928 eine weitere Ausgabe folgte. Erst im Jahr 2000 kam es zu einer Neuausgabe, die inzwischen vergriffen ist.

32 Ferenc Molnár  : Egy haditudósító emlékei. Budapest 1916. 33 Ebenda, S. 5.



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3.3 Die Darstellung der Kriegsgefangenschaft In den 1920er-Jahren erschienen in Ungarn eine Reihe von Büchern, mit denen das Elend der Kriegsgefangenschaft thematisiert wurde. Zwei Werke sind daraus als bemerkenswert hervorzuheben. Das eine trägt den Titel Sibirische Garnison34 und stammt von dem in Siebenbürgen geborenen Rodion Markovits (eigtl. Jakab Markovits, 1884–1948). Sein „kollektive[r] Reportageroman“, wie der Titelzusatz lautet, war das erste fiktionale Buch in der ungarischen Literatur nach 1918, das dem Thema der Kriegsgefangenschaft gewidmet war. Obwohl die minutiös herausgearbeitete Zentralfigur als Durchschnittsmensch angelegt ist, zeigt sich die Romanhandlung keineswegs von der im Untertitel angekündigten Kollektivität geprägt. Aus dieser singulären Perspektive wird das Lagerleben ungarischer Kriegsgefangener dargestellt, mit all seinen Beschwernissen, unter gleichzeitiger Sichtbarmachung deren Festhaltens an überkommenen Hierarchien und Gepflogenheiten. Als die männliche Hauptfigur schließlich zurück nach Ungarn gelangt, steht diese vor den gleichen ökonomischen Problemen wie in früheren Zeiten. Weder soziales Ansehen noch eine anderweitige Verbesserung der eigenen Situation haben der Hauptfigur die Leiden des Krieges und der Gefangenschaft gebracht. Ebenfalls aus Siebenbürgen stammte Aladár Kuncz (1885–1931). In seinem Roman Schwarzes Kloster,35 der seinen literarischen Ruhm in der ungarischen Literaturgeschichte begründete, geht es zwar ebenfalls um die Problematik der Kriegsgefangenschaft, doch liegt der Schauplatz hierin im Westen. Das Werk, das deutliche autobiographische Züge trägt, erzählt die Geschichte eines frankophilen ungarischen Lehrers, der sich bei Ausbruch des Krieges in Frankreich aufhält und daraufhin für Jahre in einem Lager interniert wird. Der Roman zeigt die Wandlung der Hauptfigur von einem stark individualistischen Menschen zu jemandem, der allmählich ein Gefühl der Solidarität mit seinen Mithäftlingen zu entwickeln beginnt. Obwohl die Verantwortung der am Weltkrieg teilnehmenden Mächte ungeklärt bleibt, weist der Erzähler die Barbarei des Krieges eindeutig zurück. Die Bücher von Markovits und Kuncz verbindet, dass sie auf ausgesprochen zurückhaltende Weise die Verantwortung Ungarns für den Ersten Weltkrieg artikulieren und die damaligen Verhältnisse nachzeichnen, was als Ergebnis der 34 Rodion Markovits  : Szibériai garnizon. Cluj-Kolozsvár 1927. 35 Aladár Kuncz  : Fekete kolostor. Kolozsvár 1931.

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damaligen Zensur, der eingeschränkten Möglichkeiten freier Meinungsäußerung zu sehen ist. 3.4 Leiden im Hinterland Bereits im Jahr 1916 erschien auch der Roman Auf Wiedersehen Teuerste … von Józsi Jenő Tersánszky (1888–1969).36 Obwohl es in dem Briefroman, der zu den frühesten Werken des produktiven Autors gehört, keinerlei Darstellung von Geschehnissen an der Front gibt, übte dieser auf viele Leser eine ernüchternde Wirkung aus. Das Buch erzählt die Geschichte eines polnischen Bürgermädchens, das seine Unschuld an einen russischen Offizier verliert. Mit den Briefen des Mädchens, die von ihrer Naivität zeugen, entsteht die Geschichte ihres Niedergangs. Dem ersten, noch von ihr geliebten Mann folgen immer weitere Bekanntschaften, deren Intimitäten zuweilen an Vergewaltigungen grenzen. Ohne Schlachtgemälde und Kampfbeschreibungen zu beinhalten, verdeutlicht dieses Entschwinden traditioneller Moralvorstellungen das Ausmaß der Katastrophe, das sich in Europa unter der Zivilbevölkerung zu vollziehen begann. Das Buch, das auf der Ebene der Figuren und der Schauplätze ohne ungarische Verbindung auskam, übte durch die Darstellung eines ansonsten tabuisierten Themas eine große Wirkung auf seine Leserschaft aus. Weil Tersánszky keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Räterepublik und den Kommunismus machte, erschien in der Zwischenkriegszeit allerdings keine weitere Ausgabe seines Werkes. Nach einer Zeit heftiger Anfeindungen und Entbehrungen verlegte er sich immer stärker auf humoristische Geschichten und Märchen. Der Autor blieb sein Leben lang ein Unangepasster. Als die Verfechter der kommunistischen Kulturpolitik Anfang der 1950er-Jahre bekannte Personen für die Kunst des sozialistischen Realismus zu gewinnen versuchten, verweigerte sich Ter­ sánszky standhaft. Mehrfach überliefert ist das Scheitern des Versuches, ihn zum Schreiben eines Buches über Bergleute, Arbeiter oder Bauern zu bewegen. Der wegen seiner antibürgerlichen Werke als wünschenswert erscheinende Partner erklärte dem Direktor des Parteiverlages Szikra [Funke], dass sein nächstes Buch nicht von Werktätigen, sondern viel eher von einer Prinzessin handeln werde. Das Ergebnis seiner Renitenz waren für ihn dann fünf Jahre, in denen kein einziges seiner neu entstandenen Werke veröffentlicht wurde.37 Nach dem 36 Jenő J. Tersánszky  : Viszontlátásra drága… Budapest 1916. 37 Siehe Mátyás Sárközi  : A bizarr évei [Die Jahre des Bizarren]. Budapest 2009, S. 76–77.



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Volksaufstand von 1956 erlebte der Roman Auf Wiedersehen Teuerste … zwischen 1957 und 1988 noch mehrere Veröffentlichungen. Seither ist dieser jedoch nicht mehr publiziert worden. Zu den ungarischen Bestsellerautoren der Zwischenkriegszeit gehört Lajos Zilahy (1891–1974), der seine literarische Laufbahn in den 20er-Jahren begann. Er entstammte einer Großgrundbesitzerfamilie und zählte so zu den erbittertsten Gegnern der Räterepublik, weshalb er aus der Sicht der ständischen Staatsmacht politisch wie literarisch zu den unbedenklichen Autoren zu rechnen war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er angesichts der sich abzeichnenden kommunistischen Machtübernahme in die USA. 1926 veröffentlichte Zilahy den durchaus erfolgreichen Roman Zwei Gefangene,38 der in den Weltkriegs-­ Kanon einzureihen ist. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Paares, dem großes Leid dadurch widerfährt, dass der Mann zum Kriegsdienst eingezogen wird und danach in Gefangenschaft gerät. Daher sind die im Titel genannten Gefangenen die beiden Liebenden selbst, die Gefangene der Umstände sind. Im Zentrum der Beschreibung stehen die psychischen Schwankungen und inneren Kämpfe der Frau. Selbstverständlich kann das Werk dahingehend gedeutet werden, dass der Krieg anhand der Trennung, die dem Paar widerfährt, in seiner destruktiven Wirkung vorgeführt wird. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich um eine im großbürgerlichen Milieu angesiedelte psychologische Studie handelt. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Unsicherheiten und die erotischen Verlockungen, während der Weltkrieg hingegen nur eine Staffage im Hintergrund bildet. Dem reißerischen Beigeschmack des Zilahy’schen Buches entgegengesetzt ist der balladenhaft trockene Ton des Romans Lied von den Weizenfeldern,39 der von Ferenc Móra (1879–1934) stammt. Nicht die mondäne Welt Zilahys ist der Schauplatz des Werkes, sondern die ungarische Tiefebene, die Puszta, die ohne einen Hauch von Romantik dargestellt wird. Im Zentrum des Geschehens steht gleichfalls ein Paar, das durch den Weltkrieg getrennt wird. Etel, die weibliche Hauptfigur, wartet unbeirrt auf die Rückkehr ihres Mannes, während eine an38 Lajos Zilahy  : Két fogoly. 2 Bde. Budapest 1926. – Insgesamt 18 Auflagen gab es bis 1942, nach dem Zweiten Weltkrieg ungarischsprachige Ausgaben in Jugoslawien (1966), den USA (1979), der ČSSR (1981) und Ungarn (1981, 1982). Seit der politischen Wende in Ungarn wurde der Roman bei verschiedenen Verlagen veröffentlicht  : Szépirodalmi Könyvkiadó (1992), Babits (1996, 2002), Unikornis (2000) und K. u. K. Kiadó (2006). 39 Ferenc Móra  : Ének a búzamezőkről. Budapest 1927. – Bis auf den heutigen Tag erschienen zahlreiche Ausgaben bei anderen ungarischen Verlagen.

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dere wartende Ungarin mit einem bei ihr arbeitenden Kriegsgefangenen eine Affäre beginnt. Daraus geht ein Kind hervor, bei dessen Geburt die Mutter stirbt. Eines Tages kehrt der Mann der Verstorbenen zurück, nicht jedoch der Mann von Etel, den sie daher letztlich für tot hält. Die beiden heiraten so einige Zeit später und haben bereits ein gemeinsames Kind, als sich herausstellt, dass der Mann von Etel noch am Leben ist, was zu einer Katastrophe führt. In einem durch Schuldgefühle ausgelösten Wahnzustand ertrinkt Etel im Fischteich und ihr zweiter Mann nimmt sich das Leben. Beide bilden insofern Opfer des Krieges, als sie mit den damit verbundenen Schuldgefühlen nicht umzugehen verstehen. 3.5 Satire ohne Biss Je größer die zeitliche Distanz zum Großen Krieg wurde, desto ungezwungener zeigte sich der Umgang mit diesem. So erschienen erste vor dem Hintergrund des Krieges spielende satirische Werke, 1925 Die schönen k. u. k. Tage40 und 1948 Die Geschichte eines Bleistiftes,41 wobei ersteres von János Komáromi (1890–1937) und letzteres von erwähntem Józsi Jenő Tersánszky verfasst wurde. Gerade diese Werke sind in der Hinsicht problematisch, dass sich ihre Satire nicht gegen den Krieg richtet. Komáromis Buch karikiert die Faulheit, Drückebergerei und Angeberei in einer Wiener Kriegspressestelle. Bei Tersánszky, der in der Zeit des Erscheinens seines Buches die Zensur nicht mehr zu fürchten hatte, wird die Odyssee eines Bleistiftes an der Westfront beschrieben, in deren Verlauf das an der Front herrschende Chaos und die militärische Inkompetenz der unteren Chargen verspottet werden. Mögen beide Bücher neben aller Ironie auch kritisch sein, so fehlt ihnen doch jene Schärfe und Treffsicherheit, die Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk auszeichnen. Zu offensichtlich richtet sich die Kritik, die als harmloser Spott daherkommt, gegen Personen, die nichts mit den wesentlichen Gründen und Entwicklungen des Ersten Weltkriegs zu tun hatten.

40 János Komáromi  : Cs. és kir. szép napok. Budapest 1925. – Zwei weitere Ausgaben erschienen in den dreißiger Jahren. 41 Jenő J. Tersánszky  : Egy ceruza története. Budapest 1948. – Seitdem wurde das Buch vier weitere Male auf Ungarisch veröffentlicht.



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4. Fazit

Die Darstellung des Ersten Weltkriegs spielt in der ungarischen Literatur eine untergeordnete Rolle. Angesichts der allgegenwärtigen und strengen Zensur war es nämlich nicht möglich, explizit kritisch über die Rolle Ungarns, die militärischen Fehlleistungen sowie die tatsächliche Anzahl an Opfern in den Armeen und in der Zivilbevölkerung zu schreiben. Somit wird verständlich, warum die wichtigsten Namen der zeitgenössischen ungarischen Literatur das Thema des Krieges weitgehend unberührt ließen. Festzuhalten bleibt, dass die Zensur insofern ihr Ziel erreichte, als diese nicht allein zum Verbot bereits entstandener Bücher beitrug, sondern überdies die Entstehung unliebsamer Werke verhinderte. Immerhin waren auf dem ungarischen Buchmarkt zahlreiche Übersetzungen der berühmten ausländischen Antikriegsromane erhältlich. Diese fungierten als Sprachrohr einer pazifistisch gesinnten Leserschaft.

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Gábor Kerekes

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Peter Beicken

„Ich schritte vorüber.“ Ernst Jünger als Todesengel in Stahlgewittern

1. Kriegsbuch und Heldenbericht

Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) ist ein in seiner Wirkung brisantes „Erinnerungsbuch“ zum Ersten Weltkrieg,1 zu der Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Gleichzeitig ist es ein dezidiert beschönigendes Selbstbildnis des Autors. Als literarische Ausführung basiert In Stahlgewittern bekanntlich auf Jüngers fünfzehn Kriegstagebücher-Kladden, die Helmuth Kiesel in wortgetreuer Transkription als „Kriegstagebuch“ herausgab. Von den 1.351 Tagen im Kriegseinsatz liegen an 567 Tagen Notate vor.2 Der „‚Kriegsmutwillig[e]‘“ (KTB  629) unterzog dieses Erlebnismaterial zwischen 1918 und 1920 einer erheblichen Umarbeitung, indem er das diaristische Substrat in die autobiografische Erzählung In Stahlgewittern umwandelte. Wie Kiesel treffend betont, findet sich in Jüngers Kriegsaufzeichnungen eine „fast radikal zu nennende Beschränkung auf den eigenen Horizont“, was „den sehr begrenzten Blick“ ausmacht und dabei der „unpolitischen Haltung des Abenteurers“ entspricht (St 2 10–11). Müller konstatiert, dass Jüngers Wunsch nach „‚Sachlichkeit‘“ bei der „Schilderung der Kriegserlebnisse“ zu „deskriptiver Genauigkeit“ führte und in der Folge auch zu einer „heroische[n] Interpretation“.3 Zu bedenken ist, dass „Jünger nicht etwa aus nationaler Begeisterung in den Krieg“ zog (St 2 11). Aus den Aufzeichnungen wird deutlich, dass er „sich nicht als Kämpfer für Kaiser und Reich zeigen [wollte]“, sondern sich „als genuiner Krieger und Held“ verstand (St  2  11). Dass der Autor seine literarische Umformung nicht als „Heldenkollektion“ verstanden wissen wollte, hinderte ihn nicht, über das, „wie es 1 Vgl. Ernst Jünger  : Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010, S. 595. – Im Folgenden wird die Sigle KTB unter Angabe der Seitenzahl verwendet. 2 Vgl. Ernst Jünger, Band 2  : Variantenverzeichnis und Materialien. In  : In Stahlgewittern. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Helmuth Kiesel. 2 Bde. Stuttgart 2013, S. 34. – Im Folgenden wird die Sigle St unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl verwendet. 3 Vgl. Hans-Harald Müller  : Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, S. 223.

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war“ (KTB  432), hinaus vor allem seine eigene soldatische Natur und sein helden­haftes Verhalten ausführlich darzustellen. So ging daraus dann doch ein „Heldenbuch“ hervor (St  2  36), wie Kiesel bemerkt. Jünger verfertigte eine kriegsfokussierte Selbst-Darstellung, die auch im Sinne einer „Selbstbehauptung […] des Subjekts“ zu verstehen ist.4 Der „Heldenbericht“ (St  2  18) des Kriegsfreiwilligen tendiert daher zur Verehrung des eigenen heldischen Selbst. Dass „Abenteuerlust“ Jünger „in den Krieg getrieben hatte“ (KTB  631), er seine bellizistische Weltsicht und Liebe zur Gefahr ausleben wollte, er sich als Krieger verstand und dazu ein besonderer Führer sein wollte, der eng verbunden war mit seinen Leuten – all das führte zu ehrgeizigen und auch todesverachtenden Aspirationen. Allerdings stand dem erhofften glorreichen Kampf und Heldentum die lähmende Alltagsroutine in den Schützengräben entgegen. Die Möglichkeiten zu heldenhafter Bewährung waren oft genug von langen Zwischenphasen unterbrochen. Zudem schuf die ungeheure Mechanisierung des Krieges neue, entsetzliche Extremsituationen, die den Kampf von Mann gegen Mann überholt erscheinen ließen. Der Titel In Stahlgewittern kündet davon in exaltiert-expressionistischer Weise, indem die technisch-naturhafte Metapher das apokalyptisch Destruktive der welthistorischen Katastrophe betont. Die Technisierung des Massenkrieges und der Einsatz barbarischer Mittel im Gaskrieg ab 1915 führten zu einem Terror der Vernichtung in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Dennoch bietet In Stahlgewittern eine Reihe bemerkenswerter Episoden, in denen Jünger seine ersehnten Abenteuer zu durchleben und seine kriegerische Lust auszutoben vermochte. Früh hielt er sich für „einen alten Schützengrabenkrieger“ mit unbändigem Tatendurst und erprobter Kampferfahrung (KTB 65). Aus den vielen Einsätzen ragt als ein besonderer Fall sein Kampf in der großen Frühjahrsoffensive im März  1918 hervor. In Jüngers „Kriegsbuch“5 wurde diese unter dem Titel „Die Große Schlacht“ (St  1  503) ausführlich dargestellt, obwohl die Tagebucheinträge nur stichpunktartig und fast ohne das übliche „heroische Pathos“6 das Geschehene aufnotierten (vgl. KTB 373–396). 4 Vgl. Jan Röhnert  : Selbstbehauptung. Autobiographisches Schreiben vom Krieg bei Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger, Handke. Frankfurt a. M. 2014, S. 19. – Siehe hierzu auch Peter Bürger  : Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt a. M. 1998. 5 Vgl. Hans-Peter Schwarz  : Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers. Freiburg i. Br. 1962, S. 52. 6 Vgl. ebenda, S. 48.



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Die fiktionalisierte Darstellung des Diaristischen, die mit In Stahlgewittern vorliegt, bringt die für Jünger typische „heroische Daseinshaltung des Front­ soldaten“,7 seinen immensen kriegerischen Willen und sein Draufgänger­tum dramatisch zur Geltung. Der unbestreitbare Hauptantrieb für ihn war sein Tötungsdrang. Beflügelt von der Lust am Töten, erscheint Jünger als ein Todesengel, der sich zum einen zum einzigartigen Kämpfer aufschwang, zum anderen aber auch zu einem Führer, der seine Leute mit sich in die Schlacht riss. Zwei Tage lang kämpfte Jünger mit dem Ingrimm und der Verbissenheit eines leidenschaftlichen Soldaten, um auf seinem Abschnitt einen Durchbruch gegen die englischen Truppen zu erzwingen, was unter großen Verlusten letztlich auch gelang. Doch erlitt er zwei Verletzungen  – einen flachen Durchschuss an der Brust und einen zweiten am Hinterkopf. Der von der Führung im Hinterland für tot Geglaubte meldete noch selber seinem General den Durchbruchserfolg, noch bevor er auf einem Verbandsplatz versorgt wurde. Später wurde Jünger für zwei Wochen zur Wiedergenesung in ein Lazarett nach Berlin verbracht. Danach folgten ein sechswöchiger Genesungsurlaub in Hannover und ein Aufenthalt bei den Eltern in Rehburg. Jünger hatte vermutlich zu dieser Zeit den Plan gefasst, seine Notate in den Kriegstagebüchern erzählerisch auszuführen und für eine Veröffentlichung nach dem Krieg vorzubereiten (vgl. KTB  580). Anfang Juni war der Wiedergenesene erneut an der Front, wo sein Einsatz Ende August 1918 durch die siebte schwere Verwundung, die er erlitt, einen Lungendurchschuss, beendet wurde. Der Überlebende, der schon „im Besitze vieler Orden und Ehrenzeichen“ war (KTB  433), erhält für seine Tapferkeit im Felde den höchsten preußischen Orden, Pour le Mérite, den Jünger mitsamt den anderen Dekorationen auf der Fotografie, die der Erstausgabe von In Stahlgewittern als Frontispiz diente, mit dem Stolz eines Kriegshelden zur Schau stellte.8 Natürlich finden sich in den Stahlgewittern viele Episoden, die Jüngers intensive Teilnahme am Kriegsgeschehen schildern. Dazu zählen Angriffe, die aus „Rache“ wegen eines feindlichen „Überfall[s]“ (KTB 103) durchgeführt wurden, oder Vorstöße des Stoßtruppführers und seiner meist freiwillig sich meldenden Leute, die neben der Auskundschaftung auch der Feindberührung dienten. Die besagte Episode aus der ‚Großen Schlacht‘ ragt unter den vielen Kampfdarstellungen auf besondere Weise hervor. Detailliert zelebrierte Jünger seinen Wagemut und Wutrausch, seine Unerschrockenheit und Kampfbegeisterung. ­Dadurch 7 Vgl. ebenda. 8 Siehe Heimo Schwilk  : Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Stuttgart 2014, Tafel VI.

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rückt eine überhöhte Selbstdarstellung als rauschhaft beflügelter Todesbringer in den Erzählfokus. Im Kontrast dazu steht der Trichter-Vorfall, der sich am Vortag der Großoffensive ereignete und den Großteil seiner Kompanie, fast einhundert Leute, durch einen Granatvolltreffer vernichtete.

2. Feuertaufe und das sich einpanzernde Selbst

Für Jünger bedeutete der 1913 „unternommene Ausbruch aus der Sekurität des Elternhauses in das Abenteuer der Fremdenlegion“9 nicht nur die Realisierung eines verlockenden Wunschtraumes von Afrika als „Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen“, wie es in der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens heißt, sondern auch „die prächtige Anarchie des Lebens“ fern des dominierenden Vaters.10 Sein durch die Intervention des Vaters beendeter Fluchtversuch aus der bürgerlichen Enge wiederholte sich mit der freiwilligen Meldung und Aufnahme ins Heer im Herbst 1914. Als Jünger an der Front angelangt war, verlockte ihn gleich die Sehnsucht „nach ein bischen Gefahr“ (KTB 16). Seine Lust am Abenteuer erscheint als unbändig, wenn er unverhohlen verkündete, dass er Soldat wurde, „um Abenteuer zu erleben“ (KTB 47). Ein in Klammern gesetzter Zusatz, „Traurig aber wahr  !“ (KTB  47), deutet darauf hin, dass der Autor Bedenken hatte, sich nicht genug enthusiastisch-patriotisch gegeben zu haben. Seine Ideale sind das Soldatische und die kriegerische Männlichkeit, die er immer wieder als Tugenden zelebriert. Ein „‚soldatische[r]‘ Jünger“11 figuriert so den martialischen Begriff der „Stahlgestalten“,12 den Theweleit in seiner Studie „Männerphantasien“ mit ‚maschinisiert‘ bestimmt hat.13 Mit Blick auf seine Stellung als Führer, dem die Soldaten sich gläubig anvertrauen, sieht sich Jünger   9 Vgl. Karl Prümm, Band 1  : Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918– 1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. 2 Bde. Diss. Saarbrücken 1973. Kronberg/Ts. 1974, S. 92. 10 Vgl. Ernst Jünger, Band 9  : Das Abenteuerliche Herz. In  : Essays III = Sämtliche Werke. 22 Bde. Stuttgart 1979, S. 48 u. 50. 11 Vgl. Harro Segeberg (Hg.)  : Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In  : Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770–1930). Tübingen 1991, S. 337–378, hier  : S. 350. 12 Vgl. hierzu das kriegsverherrlichende Essay „Der Kampf als inneres Erlebnis“  : Ernst Jünger, Band 7  : Betrachtungen zur Zeit. In  : Essays I = Sämtliche Werke. 22 Bde. Stuttgart 1980, S. 72. 13 Vgl. Klaus Theweleit, Band 2  : Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors. In  : Männerphantasien 1 + 2. München [u.a.] 2002, S. 162.



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in charakteristischer „Selbstbespiegelung“14 „der Gottähnlichkeit nahe“ (KTB 271), was eine maßlose Selbsteinschätzung darstellt. Anfang Januar 1915 erfuhr Jünger als Frontsoldat die Feuertaufe, die gleich nach der Ankunft in Orainville, in der Champagne nördlich von Reims erfolgte. Soeben der 9. Kompanie zugeteilt, erlebte er am darauffolgenden Morgen seinen ersten Kriegstag, nämlich den Beschuss des Ortes durch französische Artillerie. Als aufmerksamer Beobachter und Chronist beschreibt er im „Kriegstagebuch“ die Verheerungen durch Granattreffer   : hier ein blutüberströmter Verletzter, dort ein lose am Schenkel hängendes Bein, große Blutlachen, ein durchlöcherter Helm, Einschläge am Portal des Schlosses  – „und am Pfeiler klebte Hirn“ (vgl. KTB  8). Dieser Schlussanblick, mit dem der Schrecken ins Bild rückt, fehlt in der Erstausgabe von 1920 allerdings. Anders verfährt das „Kriegstagebuch“, in dem Jünger das Grausige unberührt verzeichnete, aber auch ein groteskes Schild „‚Zur Granatecke‘“ erwähnt, das er in einem Anfall von Galgenhumor „lustig“ (KTB 8) findet. Rückblickend auf die kolossale Verheerung, die ein Dutzend Kameraden aus dem Leben gerissen hatte, vermerkt Jünger auch  : Ich bin sehr neugierig, wie sich eine Shrapnellbeschießung ausmacht. Im allgemeinen

ist mir der Krieg schrecklicher vorgekommen, wie er wirklich ist. Der Anblick der von

Granaten zerrissenen hat mich vollkommen kalt gelassen, ebenso die ganze Knallerei, trotzdem ich einige Male die Kugeln sehr nah habe singen hören. Im allgemeinen

sind mir die Kälte und die Nässe in unser Erdlöchern das unangenehmste. (KTB 9–10)

Auffallend ist die Emotionslosigkeit, die Gefühlskälte dieser Passage. Das lässt auf eine psychische Abwehrgeste Jüngers schließen. Der abenteuerlustige, von der Gier nach Gefahr besessene Krieger, für den später „der Wille zum Kampf und zur Macht“ zum inneren Erlebnis des Kampfes gehört,15 zeigt keinerlei Anzeichen von Betroffenheit. Jünger scheint erstaunlich schnell gegen jegliche Schmerzempfindung abgehärtet gewesen zu sein. Sein mitleidloser Blick nimmt etwas vorweg, das er später im „Vorwort“ der Erstausgabe der Stahlgewitter anspricht, nämlich den Materialaspekt des Krieges, der auch die eingesetzten Soldaten umfasst. Metaphorisch-pathetisch hebt das besagte „Vorwort“ an  : „Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns.“ (St 1 18) Jünger geht 14 Vgl. Helmuth Kiesel  : Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 128. 15 Vgl. Jünger (1980), Bd. 7, S. 103.

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gleich danach auf die „überragende Bedeutung der Materie“ ein  : „Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht  ; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet.“ (St 1 18) Dass dieses ‚Gewertet-Werden‘ auch ein Verwerten des Menschen mit einschloss, wird darin unmissverständlich deutlich. Jüngers „ethische Indifferenz“ (St 2 118) und „kalte persona“16 lässt sich an diesem Blickwinkel festmachen. In einer Passage beschreibt Jünger das Zusammenknicken eines Kameraden nach einem Kopftreffer, sein röchelndes Sterben unter letzten Zuckungen und Wasserlassen. Zusammengekauert registriert er „diese Vorgänge mit Sachlichkeit“ (KTB 390). Kiesel sieht darin eine „kalt-ästhetizistisc[h] wirkende Haltung“ (KTB  578), obwohl die auf bloße Abläufe fokussierte Wahrnehmungsverengung eher ein motorisches Sehen verdeutlicht, das durch Abstumpfung, psychische Abwehr und Teilnahmslosigkeit bestimmt war. Dasselbe Ereignis erfährt in Jüngers Feldpostbrief an die Eltern auch eine merklich auf Beruhigung abzielende Darstellung. Zunächst berichtet der getreue Sohn beschwichtigend über seinen eigenen Unglauben und den seiner Kameraden angesichts des französischen Beschusses  : „Meine ersten Kriegseindrücke haben mich etwas enttäuscht. Als die ersten Gewehr- und Granatkugeln kamen, haben wir fast alle gelacht.“17 Nach den Einschlägen der Artilleriegeschosse wird zwar der Anblick der Verletzten vermeldet, aber der Aspekt der Grausigkeit ausgeblendet  : „Auch das Schreien der Getroffenen, das Blut und das Hirn des Postens am Schoßportal[!] konnte ich ruhig und lange ansehn.“18 Die Verlustzah­ len werden kommentarlos angeführt  : „Die Granate hat bis jetzt 12 Mann getötet, es liegen noch 3.“19 Der Briefschreiber zeigt sich emotional abgeschottet und legt dabei das Vermögen zutage, seine Gefühle zu kontrollieren  : „Ich glaube, in Hannover w[ä]re ich bei dem Anblick ohnmächtig geworden, aber ich freue mich, daß meine Nerven so stark sind.“20 Die Todesgefahr wird heruntergespielt und in fast sportlicher Manier zur unterhaltsamen Novität stilisiert  : „Granatfeuer ist überhaupt ganz interessant. Rumms – ssssssssssss – Bumms  !“21 Der Aspekt der 16 Vgl. Helmut Lethen  : Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994, S. 187. 17 Ernst Jünger  : Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers. Hg. von Heimo Schwilk. Stuttgart 2014, S. 27. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 27–28.

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Unbekümmertheit, der hinter dem Beschwichtigungs-Motiv hervortritt, ließe sich als jugendliche Verblendung oder koketter Galgenhumor eines Neunzehnjährigen abtun, wenn sich nicht auch in seinen Kriegstagebucheinträgen solch eine Emotionslosigkeit und Gefühlskälte zeigte. Schwilk spricht von einer stark gedämpften Kriegsbegeisterung bei den meisten Soldaten als Folge einer extremen Todeserfahrung, bei Jünger jedoch verweist er auf ein „Gefühl neugieriger Erregung“.22 Das erscheint als nicht überzeugend. Hingegen trifft die Annahme zu, dass ein „erster, noch unbewusster Prozess der Selbstpanzerung“ sich hier andeutet,23 der als psychische Abwehrgeste vollzogen wurde. Der psychischen Einpanzerung entspricht der „Körperpanzer“, den Theweleit als eine das Ich bestätigende Charakteristik des soldatischen Mannes fasst.24 Daneben spiegelt sich in Jüngers mitleidlosem Blick der Materialaspekt des Krieges wider, der auch die Soldaten zu bloßem Menschenmaterial machte und diese von „Krieger-Helden“ zu „Krieger-Funktionär[en]“ degradierte.25 Dass diese kaltblütige Passage sich nicht in der Erstfassung der Stahlgewitter findet, stellt ein Beispiel für die wohlbekannte Bearbeitungsmanie des Autors bei der Literarisierung der Erlebnisaufzeichnungen dar. Jünger arbeitete fortwährend an seiner Selbstdarstellung, woraus im Fall von In Stahlgewittern mindestens „sieben Fassungen“ aus „sechs Bearbeitungen resultieren“ (St  2  109).26 Die angesprochene Textstelle wurde in der Erstfassung durch einen Passus ersetzt, der von seiner persönlichen Sicht auf das erste brutale Kriegserlebnis ablenkt und durch eine Metaphernhäufung (vgl. HB  51–52) der Reaktion die Direktheit und damit das Authentische nimmt  : Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war

so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dies ge-

heimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die

Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung am hellen Mittag. (St 1 30)

22 Vgl. Schwilk (2014a), S. 104. 23 Vgl. ebenda, S. 107. 24 Vgl. Theweleit (2002), Bd. 2, S. 206. 25 Vgl. Heinz L. Arnold  : Krieger, Waldgänger, Anarch. Versuch über Ernst Jünger. Göttingen 1990, S. 16. 26 Vgl. Matthias Schöning (Hg.)  : Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart [u.a.] 2014, S. 53–56. – Im Folgenden wird die Sigle HB unter Angabe der Seitenzahl verwendet.

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Diese Passage veranlasste Schwilk, Jüngers kalten Blick folgendermaßen zu verharmlosen  : „Der Feind bleibt unsichtbar, ein heimtückisches Wesen, das Vernichtung und Tod aus heiterem Himmel herabregnen lässt.“27 Damit wird Jüngers Ausblendung der schockierenden Unmittelbarkeit des Tagebuches durch Übertragung in mystifizierende und entschärfte Kunstprosa nicht erfasst. Denn seine sinnverändernde Umarbeitung ging gegen den Tagebuchtext als Original zensurhaft vor. Jünger eliminierte den wahrgenommenen Schrecken und bediente sich des Schönredens, weshalb seine vielen „nachträglichen Harmonisierungen und Beschönigungen“28 oft bemängelt worden sind. Abgesehen vom Feldpostbrief, der das Konkrete des Gemetzels, mit dem sich Jünger konfrontiert sah, verschleiert – ein Geschehen, das ihn zudem kalt ließ –, siedelt auch die Ersatzpassage die Erlebniswelt im Nebulösen an, indem sie den ursprünglich erfahrenen, dann verdrängten Kriegsterror ins Ungefähre verweist. Obwohl Jünger in dem erwähnten „Vorwort“ der Erstfassung das „Schlachtfeld“ zu einer „Wüste des Irrsinns“ erklärt (St 1 18), wird sein Urerlebnis des ersten Kriegstages nicht als Schock beschrieben. Jünger beanstandet im Tagebuch die alltäglicheren Dinge in Orainville  : etwa den ermüdenden Grabendienst, das ewige Schanzen oder den permanenten Schlafentzug. Dem Unmenschlichen der Kriegsverheerung verweigert sich Jünger mit demonstrativer Hartnäckigkeit bzw. gekonnter Nonchalance. Das ist seine Art des inneren Widerstandes gegen äußere Angriffe, seine Methode der Abwehr der allgegenwärtigen Kriegsschrecken. Zum höchst unangenehmen Anderen, das Jünger an der Front erlebte, gehört die Schikane durch Vorgesetzte. Im „Kriegstagebuch“ beschreibt er eine frühe Episode, die ihn fast das Leben gekostet hätte, als er allein auf Posten stehend „einpennte“ und nicht bemerkte, dass ihm ein Unteroffizier sein Gewehr entwendete (KTB 15). Zur Strafe hatte Jünger nur mit einem Beil bewaffnet auf Posten zu stehen. Das war geradezu mörderisch angesichts der feindlichen Salven, denen er hilflos ausgesetzt war. Der Einsatz, der ihn zu einer wehrlosen Zielscheibe machte, brachte ihn gegen den sadistischen Vorgesetzten auf  : „mich ärgerte nur der gemeine Kerl“ (KTB 15). Daneben wird in der Erstfassung der Stahlgewitter noch allgemein beklagt, dass die jungen Freiwilligen von den Älteren „in jeder Weise schikaniert wurden“ (St 1 38). Jünger spricht von einer „aus der Kaserne in den Krieg mitgenommene[n] Gewohnheit“ (St 1 38), womit er 27 Schwilk (2014a), S. 104. 28 Vgl. Arnold (1990), S. 17.

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einen unnötig harten Drill und eine grausame Grundhaltung der Vorgesetzten anprangerte. Der in seinem Ehrgefühl verletzte Soldat beschrieb seine Empörung sehr deutlich  : „Ich habe dem Offizier-Stellvertreter diese Gemeinheit nie vergessen können.“ (St 1 46) In Widerspruch zu Kiesels Meinung muss betont werden (vgl. St 2 23), dass Jünger hier seinen Verdruss über einen ungerechten Vorgesetzten artikulierte, wie ihn Remarque in der Figur des Unteroffiziers Himmelstoß in seinem Roman Im Westen nichts Neues verewigte. In einem Brief vom 6. November 1915 an die Eltern gibt Jünger den aufwühlenden Vorfall fast erwartungsgemäß entschärft wieder  : Wir werden auch wohl bald wieder in die Front kommen, hoffentlich gibts dann mal ein paar saftige Gefechte, damit verschiedene Leutchen mal wieder eine kleinere

Schnauze kriegen. Am letzten Tage hätte ich fast noch genug gekriegt. Erst stand ich im Bachgrunde Posten ohne Deckung und schien bemerkt worden zu sein. Die ersten

5 Salven wurden in meine Richtung abgefeuert. Dann ging eine kleine Patrouille vor und verlor einen Mann. Nachher ging ich wieder im Bachgrund zum Graben 5a mit

einem Kameraden.29

Verschwiegen wurden das fahrlässige Einschlafen während des Postenstehens, das Entwenden des Gewehrs sowie das ungeschützte Strafestehen. Dass der vom Vater oft genug Eingeschüchterte alles Unehrenhafte zu verheimlichen trachtete, spricht für diesen als gefürchtete Instanz. Dieser Autorität gegenüber verliert der Sohn kein Wort über das Schikaniertwerden und den Grimm, der ihn erfasste. Je nach Adressat schafft Jünger sich die ihm genehmen Realitäten. Die tatsächlichen Ereignisse wurden lediglich angedeutet, wenn der verärgerte Briefeschreiber auf „saftige Gefechte“ hofft, darauf, dass einige Leute, der gemeine Vorgesetzte war wohl darunter, „mal“ weniger großschnäuzig würden. Auf den initiierenden Monat in Orainville zurückblickend, anerkennt Jünger in den Stahlgewittern, was er dieser Periode zu verdanken glaubte. Zwar bemerkt er in einer seiner „resultative[n] Feststellungen“ (HB 50), dass der Zeitraum „der härteste des ganzen Krieges“ gewesen sei, doch gleichzeitig spricht er von „eine[r] gute[n] Schule“, die ihn später davor bewahrt habe, „von [s]einen Leuten Unmögliches zu verlangen“ (St 1 46). Diese Wertungen, die rückblickend niedergeschrieben wurden, sind bedeutsam mit Blick auf Jüngers spätere Karriere als Offizier, als der er dann mit Stolz vorgab, vor allem um das Wohl seiner 29 Jünger (2014b), S. 33.

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Leute besorgt gewesen zu sein. Jünger in seinem Tatendrang wollte sich als Krieger bewähren, um als überragender militärischer Führer anerkannt und bewundert zu werden. Obwohl Jünger dazu tendiert, unliebsame Dinge und Ereignisse zu verdrängen, ist er als Soldat ein aufmerksamer Beobachter des Krieges. Sein kalter Blick macht ihn zum Flaneur des Schlachtfeldes, der das Geschehen zwar aufzeichnet, aber emotional von sich fernhält.30 Im „Flaneur“ bezeichnet Benjamin die Stadt als „‚Landschaft aus lauter Leben gebaut‘“, unter Verwendung einer Definition, die er Hofmannsthal zuschreibt.31 Jünger als Flaneur des Schlachtfeldes erblickte ein Gelände, auf dem das Leben dem Tod geweiht war. Sein Flanieren in den Landschaften des Todes war vielfältigen, unvorhersagbaren Rhythmen unterworfen. Die oft langen Pausen zwischen den Einsätzen benutzte er sowohl zum Naturstudium der Gesteine und der Käfer, mit dem Resultat des „Käferbuches“ (vgl. KTB 435–468), als auch zum Studium der Literatur, das sehr unterschiedlichen Werken galt.32 In seinem Erlebnisbericht In Stahlgewittern, den Jünger zu einem „‚Abenteuer- und Bildungsroman‘“33 umarbeitete, zeichnete der flanierende Kriegsbeobachter zugleich die ihm eigene Entwicklungsgeschichte als Soldat und Kämpfer nach, als Stoßtruppführer, wie die Erstausgabe im Untertitel sagt. Dem großstädtischen Flaneur, dessen Revier von Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) beschrieben wurde,34 widmete sich Jünger mit In Stahlgewittern nicht – auch fehlt die Frau als Liebesobjekt des Städtischen. Eine Ausnahme ist die Affäre mit der jungen Jeanne (Sandemont) in Quéant 1915 und 1916, was im Tagebuch einigermaßen verschleiert vorliegt (vgl. KTB  64, 100 u. 103). Das Ausblenden sexueller Dinge, des „Störfaktor[s]“,35 ist bezeichnend für In Stahlgewittern. Dies hat Methode bei Jünger, der sich auf das Krie30 Vgl. Karl H. Bohrer  : Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München [u.a.] 1978, S. 135. 31 Vgl. Walter Benjamin, Band 5.1  : Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann. In  : Gesammelte Schriften. Hg. von dems. und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1991, S. 525. 32 Vgl. hierzu auch Schwilk (2014a), S. 197. 33 Vgl. Eva Dempewolf  : Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen Hintergrund der Jahre 1920 bis 1980. Würzburg 1992, S. 193. 34 Siehe Georg Simmel, Band 9  : Die Großstädte und das Geistesleben. In  : Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung = Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden. Hg. von Th. Petermann. Dresden 1903, S. 185–206. 35 Vgl. Martin Meyer  : Ernst Jünger. München [u.a.] 1990, S. 222.



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gerische fokussiert und versucht, wie Kiesel summiert, „den Krieg in seiner absoluten und überwältigenden Augenblicklichkeit [zu] zeigen“ (HB  48). Al­­lerdings folgt sein Verfahren nicht immer der „Methode der präzisen verbalen Beschreibung“ (HB 49), denn auch eine übertreibende Selbstdarstellung durchzieht die Tagebücher. Wie Jüngers Umgang mit den Erstaufzeichnungen im Allgemeinen und seine Umformungsstrategie im Fall der Orainville-Episode im Speziellen zeigt, war eines seiner Hauptanliegen diese Art von Selbstbeschreibung. Trotz der Beteuerung, keine „Heldenkollektion“ vorzulegen (KTB  432), stellte Jünger seine mit vielen Orden hochdekorierte militärische Karriere in „Übermenschenperspektive“36 als beispielhaft dar  : „Unmerklich stempelt man sich zum Helden.“ (KTB 432) Jünger war wohl bewusst, dass die Darstellung seiner Person notwendigerweise auch Heldenhaftes zu beinhalten hatte. Eine weitere Selbstdefinition erfolgt durch sein Bekenntnis zum total-soldatischen Menschen, der den Kriegsterror in sich abwehrt durch eine Einpanzerung des Selbst  : „Ich bin im Geiste des Preußischen Offizierkorps erzogen und mit Leib und Seele Soldat.“ (KTB 433) Damit verbunden ist letztlich auch der Mythos vom auserwählten Krieger, dessen sich Jünger bedient. Infolge der „Neigung“ Jüngers, „eigene Erfahrungen mythisch zu überhöhen“,37 durchpulst dieses übersteigerte Selbstverständnis die literarische Darstellungswelt der Stahlgewitter und die vielen oft fragwürdig überformenden Bearbeitungen, die über fast ein halbes Jahrhundert hinweg erfolgten.

3. Die ‚Grosse Schlacht‘

Jünger hielt die Vorbereitungen zur ‚Großen Schlacht‘ vom März 1918 zunächst diaristisch fest. Der Hauptteil seiner ausführlichen Beschreibungen der Kämpfe, die unweit von Arras und Cambrai stattfanden, entstand erst Wochen später, nach Kiesel höchst wahrscheinlich in seiner Zeit im Berliner Lazarett, wobei ihm nur wenige sporadische Tagesnotizen zur Verfügung standen, so dass vieles der Erinnerung nach und „an einem Stück“ (KTB 576) geschrieben wurde. Was 36 Vgl. Felix J. Enzian  : Vom unwilligen Vollstrecker zum distanzierten Betrachter. Wie Ernst Jünger seine Rolle bei einer Hinrichtung inszeniert hat. In  : Ernst Jünger in Paris. Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung. Hg. von Tobias Wimbauer. Hagen-Berchum 2011, S. 97–103, hier  : S. 101. 37 Vgl. Schwilk (2014a), S. 92.

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diese Episode und die Stahlgewitter insgesamt auszeichnet, sind folgende drei Begebenheiten  : erstens der Trichter-Vorfall, dem ein Großteil seiner Kompanie zum Opfer fiel  ; zweitens der theatralische Kampfeinsatz, durch den sich Jünger zum Todesengel des Schlachtfeldes stilisiert  ; und drittens das Schlachtglück, nach einer Doppelverwundung dem nahezu sicheren Tod entkommen zu sein. Jüngers ‚Große Schlacht‘ bezieht sich auf die deutsche Großoffensive, die unter Einsatz von beinahe eineinhalb Millionen Soldaten das militärische Ziel verfolgte, alliiertes Gelände, das im Herbst des Vorjahres durch massiven Einsatz von englischen Panzern und Infanterie verloren gegangen war, zurückzuerobern. Zwar kam es auf einer breiten Front zur Rückeroberung des verlorenen Terrains, doch der geplante Durchbruch nach Paris blieb Illusion. Jünger kämpfte in einem Abschnitt, in dem englische und schottische Einheiten erbitterten Widerstand leisteten und die Verluste auf beiden Seiten in die Hunderttausende gingen. Jünger hatte vor den englischen Soldaten deshalb einen besonderen Respekt, weil sie in ihrer Mentalität seinem Ideal des ritterlichen Kampfes nahekamen. Jüngers Hochachtung zeigte sich schon bei den ersten Kampfhandlungen, die mit seiner Ankunft an der Front im Jahr 1915 einsetzten, indem es zu freundschaftlichen Begegnungen mit englischen Soldaten und Offizieren kam (vgl. KTB 65), und auch später, durch die ritterliche Bestattung eines tapferen Engländers, Leutnant Stokes, der im März 1917 von einer Handgranate tödlich verletzt wurde (vgl. KTB 220).

4. Der Trichter-Vorfall

Am 18.  März  1918, als der Aufmarsch zur Großoffensive „in vollem Gange“ (KTB  369) war, befand sich Jünger mit seiner Kompanie in Brunémont und damit in der Nähe des für den Kampfeinsatz angewiesenen Areals. Noch vor Erreichen der vordersten Frontlinie notierte er die Vorahnung, dass „bald ein Tod im Ansprung“ (KTB  369) sein könnte. Jünger hatte auch das „Gefühl größter Wurstigkeit“ und fand sich „gewissermaßen unbeteiligt“ am „eigenen Leben und Tod“ (KTB 370). Nach mehr als drei Jahren des Kriegseinsatzes bewertete er die anstehenden Dinge innerlich distanziert. Er war mittlerweile hartgesotten und gleichgültig. Nur das „Scheiden“ von „Familie und Natur“ täte ihm im Vorhinein „weh“ (KTB 370). Doch die Schlacht begann für Jünger noch vor dem eigentlichen Kampfeinsatz mit einem katastrophalen Unglück, bei dem seine Kompanie durch feindlichen Artilleriebeschuss allerschwerste Verluste erlitt.



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Besagter Trichter-Vorfall hatte sich beim Vorrücken seiner Leute ereignet. Um die feindliche Aufklärung zu täuschen, begaben sich die Soldatenverbände im Nachtmarsch in ihre Stellungen und durchquerten dabei ein Gelände, das vom Regen aufgeweicht und von Gräben und Trichterfeldern durchzogen war. Die Sicht war schlecht und einzelne Führer, die ihre Truppen zu den festgelegten Positionen bringen sollten, irrten umher und verliefen sich. Als der schwere feindliche Beschuss begann, sammelten sich Jüngers Leute, durchnässt und ermüdet, in einem großen Trichter. Jünger selbst überlebte in einem kleineren Trichter den Granatvolltreffer, bei dem von den 160 Soldaten38 fast zwei Drittel starben.39 Die wenigen Tagebucheinträge zur Michaeloffensive verzeichnen den Trichter-Vorfall mit keiner Silbe, nur eine vorläufige Verlustliste wird im Tagebuch angeführt (vgl. KTB 371–372). Kiesel als Herausgeber des „Kriegstagebuches“ erörtert den Trichter-Vorfall und das kritische Echo, das dieser in der Jünger-Forschung hervorgerufen hat. Er zitiert Nils Fabiansson, der Jünger „die verhängnisvolle Entscheidung, seine Kompanie in einem großen Granattrichter in Deckung gehen zu lassen“, vorwirft (vgl. KTB 575).40 Ebenso wird Heimo Schwilk zitiert (vgl. KTB 575), der zu Jüngers Rolle bemerkt  : „Man darf vermuten, dass er sich Vorwürfe machte, die Kompanie nicht auf mehrere Trichter verteilt zu haben, was man von einem erfahrenen Frontoffizier erwarten musste.“41 Kiesel versucht, diese Vorwürfe an Jünger als Kompanieführer, der demnach versagt habe, durch ein vorwiegend philologisches Argument zu entkräften. Er verweist darauf, dass die entscheidende Passage im „Kriegstagebuch“ davon spricht, sich in „‚den Trichtern [Mehrzahl  !] zu verteilen‘“, also auf die Pluralform (KTB  575). Weiterhin führt er an, dass von keinen Schuldgefühlen die Rede ist (vgl. KTB 575). Kiesel bewertet das „Kriegstagebuch“ insgesamt unkritisch, ohne dieses wesentlich später, aus der Erinnerung im Berliner Lazarett Geschriebene in seiner Authentizität zu hinterfragen. Es gibt nämlich Gründe, Jüngers Darstellung des Trichter-Vorfalls in Frage zu stellen. Zunächst ist festzustellen, dass Jünger die Großoffensive im Tagebuch in wenigen Notaten abhandelte, wobei er außer der Verlustliste stichwortartig Ge38 Schwilk führt eine Gesamtzahl von 163 an  : „zwei Offiziere, 19 Unteroffiziere und 142 Mannschaften“  ; vgl. Schwilk (2014a), S. 187. 39 Vgl. hierzu die entsprechende Passage aus Feuer und Blut  : Ernst Jünger, Band 1  : Der Erste Weltkrieg. In  : Tagebücher I = Sämtliche Werke. 22 Bde. Stuttgart 1978, S. 480. 40 Vgl. Nils Fabiansson  : Das Begleitbuch zu Ernst Jünger. In Stahlgewittern. Hamburg [u.a.] 2007, S. 109. 41 Schwilk (2014a), S. 188.

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schehnisse erwähnte, die vom Aufmarsch bis zum ersten Angriffstag reichen (vgl. KTB  396–398). Die Kurznotate wurden in der Berliner Ausarbeitung ­wesentlich detaillierter ausgeführt und kommen auf mehrere Seiten Umfang (vgl. KTB 373–376). Zu beachten gilt, dass Jünger den Trichter-Vorfall in den Erstnotizen nur durch eine Verlustliste andeutete, aber in seiner wirklich ungeheuerlichen Bedeutung verschwieg. Das passt in seine „Tendenz zur ‚Ab­schwä­ chung‘“.42 Dass Jünger in der Berliner Darstellung der ‚Großen Schlacht‘ den TrichterVorfall erwähnt und auch angibt, seinen Leuten zugerufen zu haben, sich „in den Trichtern zu verteilen“ (KTB 575), macht skeptisch – vor allem mit Blick auf den Zeitpunkt des Zurufes. Als Jünger seine ermüdeten Leute halten ließ, stellte die ungefähr 160 Mann starke Truppe ihre Gewehre zusammen und versammelte sich in dem großen Trichter. Wie Schwilk erkennt, wäre Jünger  – als „erfahrene[r] Frontoffizier“ (KTB 575) – verpflichtet gewesen, das Notwendige seinen Leuten jetzt nachträglich unverzüglich anzuordnen  : nämlich sich sofort auf die umliegenden Trichter zu verteilen.43 Im September 1915, als Jünger und eine kleinere Zahl von Leuten unter Beschuss gerieten, reagierte er noch ohne Umschweife  : „Ich ließ sofort schwärmen und hinlegen […].“ (KTB  42) Weil den Befehl nicht alle seine Leute mit der gebotenen Aufmerksamkeit befolgten, hielt ihnen Jünger anschließend eine „Standpauke“ (KTB 43). Dass er nun beim Trichter-Vorfall nicht gleich eingeschritten war, seine Leute nicht sofort ausschwärmen und sich verteilen ließ, sondern es zuließ, dass sie sich allesamt in dem großen Trichter versammelten, ist als sträfliche Unterlassung zu werten. Einem erfahrenen Kompanieführer, der Jünger war, hätte solch eine Fahrlässigkeit nicht unterlaufen dürfen. Im nachträglich verfassten Berliner Teil seines „Kriegstagebuches“ bemühte sich der Autor dann um eine chronologische Narration, die nach dem Anhalten der Kompanie Folgendes verzeichnet  : Dicht bei uns platzte eine schwere Granate. Ein Mann behauptete, am Fuß getroffen zu sein.

Ich saß in einem kleinen Trichter und rief den Leuten, die die Gewehre zusam-

mengesetzt hatten, zu, sich in den Trichtern zu verteilen.

Dann wendete ich mich dem Manne zu und untersuchte seinen Stiefel, ob ein

Loch darin zu finden wäre.

42 Vgl. Steffen Martus  : Ernst Jünger. Stuttgart [u.a.] 2001, S. 22. 43 Vgl. Schwilk (2014a), S. 188.

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Im selben Moment pfiff es wieder in der Luft, jeder hatte das Empfinden  : Die

kommt hierher, dann gab es einen furchtbaren Knall. Die Granate war mitten zwischen uns geschlagen. (KTB 373)

Wichtig bei dieser Chronologie ist, dass Jünger seine Leute die Gewehre wahrscheinlich zu einer Pyramide zusammenstellen ließ, was bei etwa 160 Mann gewiss eine ganze Reihe von Minuten in Anspruch genommen haben muss und so Zeit genug ließ, den Befehl zum üblichen Ausschwärmen zu geben. Jünger gibt eine Sequenz, den Beschuss, seine Beschäftigung mit dem Verwundeten und dann erst den Zuruf, sich „in den Trichtern zu verteilen“, wieder. Anschließend schlägt die Granate „mitten zwischen uns“ ein. Aus der Sicht der Werkphilologie beinhaltet die Berliner Lazarettfassung eine ungenaue sprachliche Fügung. Denn die Frage lautet, ob die Granate zwischen dem kleinen und dem großen Trichter niedergeht oder Jünger in seinem kleinen Trichter einen (unversehrten) Teil jenes großen bildet. Die Erstfassung von In Stahlgewittern verunklart zusätzlich  : Die Gruppen setzten die Gewehre zusammen und drängten sich in einen gewaltigen

Trichter, während ich mit dem Leutnant Sprenger auf dem Rande eines kleineren saß.

Schon seit einiger Zeit waren ungefähr 100 Meter vor uns einzelne Einschläge aufge-

flammt. Ein neues Projektil schlug in geringerer Entfernung ein  ; Splitter klatschten

in die Lehmwände des Trichter. Ein Mann schrie auf und behauptete, am Fuße getroffen zu sein. Ich rief den Leuten zu, sich in die umliegenden Löcher zu verteilen,

während ich mit den Händen den schlammigen Stiefel des Getroffenen nach einem

Einschuß untersuchte.

Da pfiff es wieder hoch in der Luft  ; jeder hatte das zusammenschnürende Gefühl  : die

kommt hierher  ! Dann schmetterte ein betäubender, ungeheurer Krach  ; – die Granate

war mitten zwischen uns geschlagen … (St 1 502, 504)

Wichtige Unterschiede ergeben sich im Abgleich mit der Berliner Fassung. Mit ‚gewaltig‘ präzisiert sich das davor indirekt angesetzte Merkmal groß bei der Trichterbeschreibung. Überdies war der Beschuss „seit einiger Zeit“ erfolgt, was besagt, dass Jünger es verabsäumt hatte, die vorhandene Zeit dazu zu nutzen, seinen Leuten das Ausschwärmen und In-Sicherheit-Gehen anzubefehlen. Auch stellt sich die Frage, ob mit den Splittern der explodierten Granate, die „in die Lehmwände des Trichter“ „klatschten“, der kleine Trichter, auf dessen Rand er mit dem jetzt erstmals namentlich erwähnten „Mann“ saß (KTB  373), ge-

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meint ist oder der große, gewaltige Trichter. Ist Jünger in dem „gewaltigen“ Trichter, als die tödliche Granate „mitten zwischen uns“ einschlägt (KTB 373)  ? Ebenso eigentümlich ist der Wechsel von „Trichtern“ (KTB 373) zu „Löcher[n]“, der in den beiden Versionen seines Zurufes erfolgt. Ein Trichter ist, militärisch gesehen, ein Krater, der nach einer Granatenexplosion entsteht, und deshalb zu unterscheiden von den Erdlöchern, in die sich Soldaten meist einzeln verkriechen. Bezeichnet sind damit entweder ‚Fuchslöcher‘ (St 1 514) in einem Graben oder auch jene „Löcher“, die einige Überlebende des Vorfalls „in die Grabenwände“ gruben (St  1  510). So stellt sich die Frage, ob Jüngers behaupteter „Löcher“-Zuruf der Versuch ist, seinen wahren Befehl  – der in Feuer und Blut von 1925 „‚Auseinander  ! Auseinander  !  !‘“ lautet  –44 zu beschönigen, um dem Vorwurf zu entgehen, neben einer verspäteten auch eine ungenügende Anordnung erteilt zu haben. Damit wird letztlich die Meinung befestigt, dass es die Schuld der Leute war, im gewaltigen Trichter verharrt zu haben, anstatt sich wie befohlen in „Löcher“ und damit in Sicherheit begeben zu haben. Jünger ist von der Bearbeitung des Trichter-Vorfalls nicht losgekommen, wie Kiesel weiter bemerkt (vgl. St 2 103). In Feuer und Blut wird der kleine Trichter, auf dessen Rand er und Sprenger sitzen, als „Balkon“ (und auch als „Nische“ und „Erker“) bezeichnet, „von dem man in die dunkle Tiefe hinunterblicken kann“.45 In der Schlussfassung belässt es Jünger bei dem „Balkon“, von dem aus er „in den großen Krater hinuntersah“.46 Das bedeutete, dass Jünger und Sprenger tatsächlich vom Rest der Kompanie separiert waren. In jedem Fall steht fest, dass Jünger es verabsäumte, seine Leute ausschwärmen zu lassen. Schwilk, der Kiesels Kritik ignoriert und seinen Vorwurf gegen Jünger in der aktualisierten Auflage von 2014 nicht zurückgenommen hat, ist daher zuzustimmen.47 Jüngers Verschweigen des Trichter-Vorfalls in den Erstaufzeichnungen hat Methode. Das tragische Ereignis, das er als Kompanieführer mit zu verantworten hatte, wurde wie sonstiges Unliebsames ausgelassen, und der konkret erlebte Schrecken wurde verdrängt. Was sich bei Jünger findet, sind dagegen Stichworte zum Davor und Danach. Erwähnt werden der „Anmarsch“ und die Vorbereitungen auf den Angriffstag  : „Anmarsch  /  in Stollen, Witze, Enge. Domaier, Schlangenbiß / 55 Weltuntergang, keine Antwort. / Freudige Stimmung, glänzende Augen / Auf Deckung, Blaukreuz / 825 Minenwerfer / Schweres Gesch. 44 Vgl. Jünger (1978), Bd. 1, S. 473. 45 Vgl. ebenda, S. 472–473. 46 Vgl. ebenda, S. 234. 47 Vgl. Schwilk (2014a), S. 188.

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antwortet, Brixen tot.“ (KTB 396) Jünger verzeichnete auch das Auffinden der in der Regennacht zunächst unauffindbaren „Stollen“ und die Absicht, die Stimmung unter den 63 verbliebenen Leuten durch „Schnaps“ zu heben (KTB 397). Zuvor setzte man Giftgas (Blaukreuzgas) ein, das allerdings vom Wind auf die eigenen Truppen zurückgetrieben wurde. Ernst Jünger notierte lediglich die „unangenehme Wirkung“ des Gases und das Anlegen von Gasmasken (KTB 376). Jünger, dessen Unmut sich einst in der Frage äußerte  : „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende  ?“ (KTB  258), unterließ es, sich über die Gas-Gefährdung der Truppen zu echauffieren. Vielmehr verzeichnete er, als das Gas sich verzogen hatte, die helle Begeisterung der Männer über das „ungeheure Getöse“ der Artillerie (KTB  376). Mit seltenem patriotischen Pathos beschwört Jünger den allgemeinen Kampf-Enthusiasmus  : Leute liefen herum mit strahlenden, freudigen Gesichtern, wie ich sie nie sonst im Graben gesehen hatte und schrieen sich freudige Bemerkungen über das vernichtende

Feuer in’s Ohr. Pioniere und Fernsprecher, Infantristen und Artilleristen, Bayern und

Preußen, Offiziere und Mann, alles war überwältigt von dieser elementaren Äußerung deutscher Kraft. (KTB 376)

Und in der bagatellisierenden Manier seiner Feldpostbriefe beschreibt er am 3. Juni 1916 einen Gaseinsatz mit „alles halb so wild“.48 Jüngers Hang zur Übertreibung ist neben jenem zur Verdrängung schmerzhafter Wahrheiten, der sich exemplarisch im Fall des Trichter-Verlusts zeigt, das zweite Negativmerkmal seiner Schriften. Als er die Unglücksstelle aus nächster Nähe betrachtete, kam es zu einem Erlebnis, dessen Beschreibung seinem Hang zu „Selbstrühmungen“ entspricht.49 Verwundete Soldaten begrüßten ihn mit „Herr Leutnant“, was Jünger wie folgt kommentierte  : „Immer wieder diese grenzenlose Zuversicht des Mannes zu dem Offizier, der ihm als tüchtig bekannt ist.“ (KTB 374) Auch in der Erstfassung von 1920 bleibt der Rekrut noch anonym, ab 1924 folgte der Name Jasinski und ein weiterer Zusatz  : „Meinem Unvermögen zu helfen, fluchend, klopfte ich ihm ratlos auf die Schulter. Solche Augenblicke vergißt man nie.“ (St 1 506) Zwar enthält das Schulterklopfen beides, Mitleid und Ermutigung, doch Jünger fand kein rechtes Wort, um sein Mitgefühl auszudrücken  – er verharrte in seinem Ich48 Vgl. Jünger (2014b), S. 82. 49 Vgl. Kiesel (2007), S. 128.

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Empfinden. Und eine zweite Reaktion, die auf den Trichter-Vorfall folgte, trägt ebenfalls solipsistische Züge  : „Ich warf mich zu Boden und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, während die Leute düster um mich herumstanden.“ (St 1 506) Der sich für kriegstauglich haltende Offizier erlitt einen Nervenkollaps, war jetzt für sich allein, entbehrte der Fähigkeit, im Verein mit seinen Leuten das Unglück zu bewältigen. Jünger tröstet sich damit, „daß es noch schlimmer hatte kommen können“ (KTB  374). In Erwartung des Angriffs auf die feindlichen Stellungen am 21. März „sprach“ Jünger „den Resten der Komp[.][anie] nochmal Mut zu“ (KTB 375). Der Krieger war bald in seinem unheimlichen Element.

5. Selbstinszenierung  : Der Todesengel im Kriegstheater

Als Jünger die verbliebenen Leute dazu gebracht hatte, sich auf den Angriff vorzubereiten, war er ein aktiver Teil der Gruppendynamik, indem er Führersein und Kameradschaft in die Waagschale warf. Als es zum geplanten Angriff kam, gab Jünger Parolen aus, die ihn als Krieger der Wut, Rache und Todesaffinität ausweisen. Seine Kriegslüsternheit erging sich in der Formel  : „‚Kinder nun zeigt mal, was die 7. Komp[anie] kann  !‘“ (KTB 377), die sich 1920 erweiterte zu dem Aufforderungs-Reigen  : „‚Nun wollen wir mal zeigen, was die siebte Kompanie kann  !“, „Jetzt ist mir alles ejal  !“, „Rache für die siebte Kompanie  !“ und „Rache für [den eben gefallenen] Hauptmann von Brixen  !‘“ (St 1 516). Mit gezogenen Pistolen ging es auf die feindliche Deckung zu, wobei Jünger an der Spitze seiner Kompanie stand, „[i]n einer Mischung von […] Aufregung, Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß“ (KTB 378). Im Vorwärtsstürmen auf den Feind war er ein von Gewalt beflügelter Racheengel, der mit der Pistole statt dem biblischen Schwert bewaffnet war. Segeberg hat allgemein darauf hingewiesen, dass Jünger in der Erstauflage von In Stahlgewittern sich bemühte, die „literarische Imagination soldatischer Autonomie in ein sakrales Sinnsystem einzubetten“.50 Aus dem „Gekritzel“ seiner Hefte destillierte Jünger im Vorwort zur 5. Auflage von In Stahlgewittern einen Querschnitt aus Satzbrocken bzw. Stichworten, und zwar in dem Bewusstsein, „daß sich in diese Zeilen der heiße Atem der Schlacht, eine wilde Ursprünglichkeit brannte, die stärker und unmittelbarer wirkt als der stilisierte Bericht“  : 50 Vgl. Segeberg (Hg.), Regressive Modernisierung. In  : Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770–1930). Tübingen 1991, S. 352.

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„Ran  ! Kein Pardon. Wut. Aus Stollen Schüsse, Handgranaten rein. Geheul. Über den

Damm. Packe einen am Hals. Hände hoch  ! Sprungweise hinter Feuerwalze vor. Melder Kopfschuß. Sturm auf M. G.-Nest. Mann hinter mir fällt. Schieße Richtschützen

ins Auge. Handgranaten. Drin  ! Allein, Streifschuß. Wasser, Schokolade. Weiter. Einige fallen. Zwei Mann laufen zurück, Kopfschuß, Bauchschuß. Bin grimmig. Eng-

länder fliehen aus Baracken, einer fällt. Stockung, befehle Sturm gegen Dorfrand

Vraucourt. Volltreffer, Verluste, Vor  !“ (St 1 23)

Volmert spricht hierbei „von der emotionalisierten, rauschhaften Schilderung“ der „Angriffsaktionen“.51 Im besagten „Wutrausch“ bewegte sich Jünger mit seinen Leuten durch den eigenen Drahtverhau auf die englischen Gräben zu (KTB 396). Die Erstnotiz, die Jünger in sein Gefechts-Stakkato nicht aufnahm, vermeldet recht ausführlich  : „Erster Verwundeter zeigt Familienbild.“ (KTB 396) Die Berliner Fassung breitet das erzählerisch aus  : „Wütend schritt ich voran. Da erblickte ich den ersten Feind.“ (KTB 379) Es ist ein verwundeter Engländer, der dem die Pistole ansetzenden Todesengel „flehend“ eine Fotografie entgegenhält, „auf der eine Frau und mindestens ein halbes Dutzend Kinder waren“ (KTB 379). Rückblickend betrachtete der Autor sein Verhalten als angemessen  : „Ich freue mich jetzt doch, daß ich meine irrsinnige Wut bezwang und an ihm vorüberschritt.“ (KTB 379) Mit der Verspätung einiger Wochen freute es den Autor, dass er wie ein Engel Gottes vorüberging und nicht seinem irrsinnigen Rachegelüst folgte. Auch diese Episode wird von Jünger mehrfach bearbeitet, mit dem Ergebnis von teils widersprüchlichen Einzelheiten. Der Verwundete befindet sich in der Erstfassung von In Stahlgewittern „etwa drei Meter“ (St 1 520) entfernt in einer Mulde, in der Endfassung von 1978 „zwanzig Schritt voraus“ (St 1 521). Beide Fassungen beinhalten ein Starren ‚mit weit geöffneten Augen‘ des „vor Angst Gelähmten“ (St 1 522–523), auf den Jünger im ersten Fall, „die Pistole vorstreckend“ (St 1 522), zuschreitet, während es in letzerem heißt, dass er sich „langsam und bösartig näherte“ (St 1 523). Eine starke Veränderung erfuhr die Fotografie des Gegners  : „Es war das Bild von ihm, umgeben von einer zahlreichen Familie …“ (St 1 522) Der Zusatz, dass das Lichtbild den Offizier im Kreis der Familie zeigt, findet sich, sprachlich leicht variiert, auch in der Endfassung (St  1  523). Der Wutfaktor erfährt mit der Erstfassung (1920) eine Abschwächung  : „Nach sekundenlangem inneren Kampfe hatte ich mich in der Hand. Ich schritte vorüber.“ (St 1 522) Wieder beschreibt sich Jünger als biblischen Engel, 51 Vgl. Johannes Volmert  : Ernst Jünger  : In Stahlgewittern. München 1985, S. 26.

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der vorüberzieht. Dass Jünger die Möglichkeit, den Verwundeten zu einem Verbandsplatz schaffen zu lassen, gar nicht in den Sinn kam, ist mit seinem Wutrausch zu begründen. Der ursprüngliche Wutmensch wird später humanisiert. Volmert ist zuzustimmen, wenn er Jünger „falschmünzerischen Umgang mit den ‚authentischen‘ Materialien der Kriegstagebücher“ vorwirft.52 Eine derartige Erinnerungsaufbesserung findet sich auch in Feuer und Blut. Dort nimmt Jünger als Verwundeter sich zweier verwundeter Engländer an. Der eine der beiden, der einen Bauchschuss erlitt, schleppt sich unter Hilfe des Kameraden mühsam voran. Jünger und sein Begleiter „verschlingen die Hände hinter seinem Kreuz, um ihn mitzuziehen“.53 Sie halten zudem eine Wagenstaffel an, um „noch etwas für unsere beiden Engländer [zu] tun, die man nicht mitnehmen will“.54 In den Erstnotizen wird zusätzlich zu dem das Foto zeigenden Verwundeten zwar ein zweiter Engländer erwähnt  – „Packe einen an Hals“ (KTB 397) –, was dort jedoch zu einer komischen Konfrontation gerät, indem Jünger „einen älteren Kerl, der [ihm] in die Quere kam an die Gurgel [fasste], oder vielmehr an den Schlips“, und ihm zuschrie  : „‚Go back, you english son of a bitch  !‘“ (KTB  380). Das Erscheinen der beiden englischen Verwundeten in Feuer und Blut grenzt an Erfindung und Selbstbespiegelung. Jünger, der immer weiter vordrang, „fühlte das unbezähmbare Bedürfnis, etwas kaputt zu machen“ (KTB 380). Er „riß einem Unteroffizier ein Gewehr aus der Hand“ und fällte darauf „wie auf dem Scheibenstand“ einen Engländer, „der ungefähr 75 m“ (KTB 380) von ihm entfernt steht – in der Erstfassung (1920) sind es sodann „150 Meter“ (St 1 528). Zwei Tage lang lebte Jünger seine Wut, auch seinen „Angriffsgeist“ und sein „Draufgängertum“ (KTB 380) gegen erbitterten englischen Widerstand aus. Zu den Opfern seiner Lust an der Gewalt zählte „ein riesenhafter Engländer, dem ein Kopfschuß […] das Auge herausgetrieben hatte“ (KTB  382). Von Jünger wurde dieser unter der Beschreibung „mein Engländer mit einem sauberen Kopfschuß“ (KTB 384) als eine Art Trophäe in seine Triumphliste eingereiht. Dass Jünger sich mit diesem Todesopfer in seinen Schriften mehrfach auseinandersetzte, auch ausschmückend, merkt Kiesel an (vgl. St 2 105–106). Nach dem Erlebnis mit dem verwundeten englischen Offizier wurde Jünger bald wieder zum erbarmungslosen Krieger. In Verkennung der Gefahr streifte 52 Vgl. ebenda, S. 27. 53 Vgl. Jünger (1978), Bd. 1, S. 538. 54 Vgl. ebenda, S. 538.



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sich Jünger, der Mantel und Stahlhelm abgeworfen hatte, allerdings einen englischen Uniformmantel über, wodurch er kurze Zeit später von einem seiner Leute einen Schuss durch die Brust erlitt. Dürftig mit einem Notverband versehen, suchte Jünger seine Kartentasche, die sein Tagebuch enthielt – was für die These vom Flaneur des Schlachtfeldes spricht. Eine ähnliche Episode im August 1918, in der Jünger, unter Beschuss stehend, sein verloren gegangenes Eisernes Kreuz wiederzufinden versuchte, wird laut Kiesel in der Forschungsliteratur „gelegentlich“ „als Beispiel für Jüngers Dandytum und Ruhmsucht gewertet“ (KTB 591). Jüngers Dandyismus hat schon Bohrer hervorgehoben.55 Daraufhin wurde Jünger auch am Hinterkopf verletzt, in Form eines zweiten Durchschusses. Dennoch vermochte er sich nach hinten durchzuschlagen, bis zum Regimentsstab, wo Jünger für ein groteskes Schauspiel sorgte  : „Ich fuchtelte allen mit meiner Pistole vor der Nase herum und schrie  : ‚Wir sind durchgebrochen, jetzt muß Alles nach vorn  !‘“ (KTB 394) Jüngers dramatischer Vorstoß in den Regimentsstab erscheint vor allem dadurch als Impertinenz, dass er „ein halbes Dutzend Leute mit Erschießen bedroht“, Soldaten, „die sich aber in ihrer Todesangst als Btls-Ordonnanzen auswiesen“ (KTB 394). Jünger gelangte nach diesen Großtagen als Todesengel, getragen von seinem Siegestaumel, in ein Feldlazarett, von wo aus es nach Berlin zur Wiedergenesung ging. Abermals hatte Jünger erfahren, was ihm lange treu blieb im Krieg   : „blödsinniges Glück“.56

6. Der Todesengel als luziferische Kriegergestalt

Als Abenteurer war Jünger in den Krieg gezogen, freiwillig und auf Heldentum bedacht. Als Stoßtruppführer vor allem gelang es ihm im verlustreichen Grabenkrieg, der oft ein Wartekrieg war, sein Draufgängertum unter Beweis zu stellen. Als jovial seine Leute behandelnder Kompanieführer hatte er gewiss Erfolge, obwohl sein Versagen im Trichtervorfall ihm einen Nervenzusammenbruch einbrachte. Als ungestümer Krieger jedoch fand Jünger zurück in den Rausch des Kampfes, besonders in den von Wut und Alkohol beeinflussten Momenten des Krieges. Dagegen stehen die Perioden, in denen er sich als Flaneur des Schlachtfeldes erging, in einer kalten, distanzierten, menschlich nicht 55 Siehe Bohrer (1978), S. 31–41. 56 Vgl. Jünger (2014b), S. 46 (Brief vom 29. April 1915).

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Peter Beicken

engagierten Sicht der Dinge. Das eingepanzerte Selbst schottete sich ab gegen emotionale Folgewirkungen von Schicksalsprüfungen und fand so Selbstbestätigung in immer neuen Formen des Desinteresses. Die ‚Große Schlacht‘ zeigt auf der einen Seite Jüngers Kaltblütigkeit und Wagemut bei der Umsetzung seiner bellizistischen Wunschfantasien und auf der anderen auch seine problematische, militärisch oft fragwürdige Art der Menschenführung. Dem Ideal der Landsknechte verschrieben, ihrem „Rausch vor der eigenen Kühnheit“,57 ging Jünger zuweilen impulsiv und unbedacht vor. Als Todesengel, zu dem er sich mitunter stilisierte, war er eher eine luziferische Kriegergestalt, ein „Teufelskerl“, denn eine gottgefällige Erscheinung.58 Die späteren Retuschen in den Stahlgewittern waren Versuche, seine kriegerischen Ekstasen zu verherrlichen, einen gewissen soldatischen Anarchismus zu verschleiern und sich selber humaner erscheinen zu lassen. Doch verkörpert er in vielem den unbedingten ‚Willen zur Macht durch Töten‘, der in seinem Fall oft genug ohne ethische Vorbehalte rauschhaft sich auslebte.59

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Thorben Päthe

Deutsch-österreichische Europavisionen bei Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt Der deutsche Nationalökonom Werner Sombart bezeichnete in seinen ‚patriotischen Besinnungen‘ (1915) den Ersten Weltkrieg als eine epochale, weltgeschichtliche Zäsur, die sich als „Glaubenskrieg“, als metaphysisches Ringen des ‚deutschen Geistes‘ mit den westeuropäischen Staaten um die gültige Weltanschauung manifestieren würde.1 Seine Abhandlung, die er ausdrücklich den „jungen Helden draußen vor dem Feinde“ widmete,2 situiert jenen Glaubenskrieg in die Traditionslinie der europäischen Konfessionskriege, die vom Kampf Karls des Großen gegen die Sachsen bis hin zu den napoleonischen Feldzügen reicht. Sombarts Ausführungen zum kriegerischen Flächenbrand, der des Weiteren auch die Türkei erfasste, machen deutlich, dass der wieder aufgenommene Glaubenskrieg sichtbarer Ausdruck des europäischen Zerfalls auf politischer Ebene war und dem Weltkrieg somit die Bedeutung einer Zäsur zukam. In ideeller Verbindung mit diesem politischen Zerfallsvorgang steht der aufkommende Europadiskurs, der sich vor allem im Anschluss an Friedrich Naumanns 1915 erschienenes Buch „Mitteleuropa“ formierte, an eine politische Schrift, die zu einer der auflagenstärksten im Deutschen Kaiserreich avan­cierte.3 Innerhalb der deutsch-österreichischen Kriegspublizistik wurde der Europa-­ Begriff bald zu einem heilsgeschichtlich aufgeladenen Kampfbegriff, in dessen Mittelpunkt ein kulturpolitisches Projekt stand. Bereits Naumann wies dem Weltkrieg eine friedensstiftende Funktion zu, weil dieser der deutsch-europäischen Einheit förderlicher gewesen sei als die Entwicklungen der vorangegangenen Jahrhunderte  : 1 Siehe hierzu das Auftaktkapitel  : Werner Sombart  : Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München [u.a.] 1915, S. 3–6. 2 Vgl. ebenda, S. 5. 3 Siehe hierzu Florian Greiner  : Der „Mitteleuropa“-Plan und das „Neue Europa“ der Nationalsozialisten in der englischen und amerikanischen Tagespresse. In  : Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 467–476 u. Jürgen Elvert  : „Irrweg Mitteleuropa“. Deutsche Konzepte zur Neugestaltung Europas aus der Zwischenkriegszeit. In  : Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Duchhardt und Małgorzata Morawiec. Mainz 2003, S. 117–137.

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Es gab in der langen vergangenen Zeit viel mehr Kampf in Mitteleuropa als Harmonie. Jeder Teil ging seinen eigenen Weg, denn noch waren keine zwingenden Gründe

zu dauerndem Bunde vorhanden. Die Territorialstaaten waren streitende Herrschafts-

gebilde und noch keineswegs weltgeschichtlich festgeformte Staatengruppen. […]

Auch die Gemeinsamkeit im alten Deutschen Reich war kein fester Verband, denn

kaum je oder wohl nie in den letzten Jahrhunderten ist dieses alte Reich als ein geschlossener politischer Körper aufgetreten. […] Jetzt genügt der Satz  : mehr Einheit

als je im alten Deutschen Reiche ist heute vorhanden  ! Heute sind alle alten Groß-

und Kleinstaaten der vorhin beschriebenen Fläche ein einziges gemeinsames kämp-

fendes Lebewesen geworden […]. […] Der Krieg wurde zum Schöpfer einer mitteleuropäischen Seele, die zeitiger da zu sein anfängt als die Ausgestaltung der zu ihr

gehörigen greifbaren Formen.4

Mit der Begründung, dass der „Geist des Großbetriebes und der überstaatlichen Organisation […] die Politik erfaßt“ habe, beschreibt Naumann jenen „mit­ tel­ europäische[n] Bund“ als historische „Notwendigkeit“.5 Inmitten des Weltkriegs­ geschehens kündete bei Naumann der Allgemeingeist von der Überwindung des Nationalen und von einem Denken in größeren Kategorien, das die Verwirklichung des Traumes von einem ewig ungeteilten Europa ermöglichen sollte.6 Das deutsch-österreichische Konzept, das Naumann zu Beginn des 20. Jahrhunderts befürwortete, lässt sich als impliziter Wiederaufgriff der alten Reichsidee verstehen und erinnert so an die reichspatriotische Nationalgeist-Tradition aus dem späten 18. und frühen 19.  Jahrhundert, die etwa von Friedrich Carl von Moser, Justus Möser, Thomas Abbt oder Johann Georg Zimmermann vertreten wurde  : Österreich-Ungarn ist älter, war längst an Land und Ehren reich, als noch Preußen

um Anerkennung seiner Königswürde nachsuchen mußte, war europäische Groß-

macht, ehe der Norden ernstlich mitreden durfte, wurde weder im Dreißigjährigen

Kriege noch in den Napoleonszeiten so gebrochen wie der Norden, ging mit bedächtigem Schritte durch die Jahrhunderte und hat viel mehr Traditionen zu tragen. Das

Deutsche Reich dagegen ist die letzte europäische Großstaatsgründung, ein Eindringling in die hochgekrönte Gesellschaft, weniger ererbt als erstritten, ein Kind des

4 Friedrich Naumann  : Mitteleuropa. Berlin 1916, S. 3–4. 5 Vgl. ebenda, S. 4. 6 Vgl. ebenda.

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neunzehnten Jahrhunderts. Es ist, als ob man das achtzehnte und das neunzehnte

Jahrhundert zusammengießen wollte, wenn man Österreich und Preußen zu einem historischen Metall verarbeiten will.7

Ähnlich wie in den nationalpatriotischen Projekten um 1800 begriff auch Naumann die konfessionelle Aussöhnung als Grundvoraussetzung für eine Annäherung zwischen Preußen, Österreich und Ungarn und damit für eine deutscheuropäische Kultureinheit. Mehr oder weniger mittelbar artikulierte Naumann die deutschen Hegemonialansprüche bezüglich solch eines neu entstehenden Mitteleuropas  : Entweder es ist ein deutscher Krieg, dann dürfen wir uns nicht beschweren, wenn er

in Prag und Agram als solcher aufgefaßt wird, oder es ist ein mitteleuropäischer Krieg, dann sollen und müssen wir von ihm mitteleuropäisch reden und dementsprechend

handeln.

Ähnlich liegt es mit der Verkündigung des „ d e u t s c h e n G e d a n k e n s i n d e r

We l t “ . […] Nur dürfen wir dabei nicht versäumen, uns daran zu erinnern, daß auch

die nichtgermanischen Bundesgenossen ein Lebensblut besitzen und wissen wollen,

wofür sie zu sterben bereit sind. Indem wir unsere Nationalität hochhalten, sollen wir die ihrige mit in unseren Händen tragen.8

Indem Neumanns geschichtlicher Parforce-Ritt zum Deutschen Reich in die Feststellung mündet, dass der „Krieg“ nichts Geringeres als der „Schöpfer einer mitteleuropäischen Seele“ sei,9 erhob dieser den ‚deutschen Geist‘ zum kultureuropäischen Fundament. Diese deutsche Grundidentität hätte demnach auch die nationalen Identitäten der Tschechen und Kroaten umfasst und sich zum Hüter der europäischen Werte entwickelt. Im Bezugsfeld von imperialistischen Deutsch-Europa-Konzeptionen wie dem Septemberprogramm des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg stehend, initiierte Naumann eine öffentliche Auseinandersetzung mit einem Europabegriff, der sich abseits von rechtlich-institutionellen Herausforderungen vor allem als geistiges, kulturpolitisches Projekt darstellt. Auch in den Schriften namhafter, öffentlich viel beachteter Autoren wie Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal oder Rudolf Borchardt 7 Ebenda, S. 12. 8 Ebenda, S. 10. 9 Vgl. ebenda, S. 4.

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finden sich dezidiert kulturphilosophische Europavisionen. Alle drei Autoren beschworen die Auferstehung des ‚geistigen Deutschlands‘ in der europäischen Krisis. So wie Naumann begriffen auch Mann, Borchardt und Hofmannsthal den Krieg als schicksalhafte ‚Notwendigkeit‘, die es gebiete, im Kampf für die ‚deutsche Seele‘ kriegspublizistisch einzuschreiten, was Thomas Mann in seinem gleichermaßen bewegten wie ernst gemeinten Großessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1917) als „Gedankendienst mit der Waffe“ beschreibt.10 Die Aufgabe, die Deutschland mit dem Zusammenbruch der europäischen Ordnung zufalle, ergebe sich nach Mann aus dem Überschuss eines Wesens, das immer schon ‚mehr als nur deutsch‘ gewesen sei. Das Deutsche wird von den deutschösterreichischen Kriegspublizisten unisono nicht nur als das höchste Gut, sondern zudem als Abbild des Europäischen beschrieben, das die europäischen Gegensätze beinhalte  : Die inneren geistigen Gegensätze Deutschlands sind kaum nationale, es sind fast rein

europäische Gegensätze, die beinahe ohne gemeinsame nationale Färbung, ohne nationale Synthese einander gegenüberstehen. In Deutschlands Seele werden die geisti-

gen Gegensätze Europas ausgetragen, – im mütterlichen und im kämpferischen Sinne

‚ausgetragen‘. Dies ist seine eigentliche nationale Bestimmung. Nicht physisch mehr – dies weiß es neuerdings zu verhindern –, aber geistig ist Deutschland immer noch das

Schlachtfeld Europas.11

Nach der Schwangerschaft in Gestalt eines Krieges, der aus Europas „geistigen Gegensätze[n]“ notwendig resultiere, werde der Kontinent neu geboren werden. Hervorzuheben sind die ‚Macht des Buchstabens‘ und die Vormachtstellung alles Geistigen gegenüber dem Politischen  : Geist ist nicht Politik  : man braucht, als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses „nicht“ einzustehen. Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und

Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur  ; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimm-

recht, Literatur. Der Unterschied von Geist und Politik ist, zum weiteren Beispiel, der

10 Vgl. Thomas Mann  : Betrachtungen eines Unpolitischen. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1983, S. 9. 11 Ebenda, S. 53.

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von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt der kulturellen Sphäre

und ist deutsch  ; dieser entstammt der Sphäre der Zivilisation und Demokratie und

ist – etwas ganz anderes.12

Ähnlich wie Borchardt in seinen Kriegsreden setzt auch Mann im Rahmen seiner Gegensatzpaare  – Geist/Politik, Kultur/Zivilisation, Gemeinschaft/Gesellschaft – auf die Einsicht in die fundamentalen Wesensunterschiede zwischen Deutschland und Westeuropa. Aus der Überzeugung, dass „[e]uropäische Kriege […] auch deutsche Bruderkriege“ seien,13 geht hierbei die Anerkennung des Krieges als schicksalhaftes Ereignis hervor  : Der Friede Europas kann nur beruhen auf dem Sieg und der Macht des übernationalen

Volkes, des Volks, das die höchsten universalistischen Überlieferungen, die reichste

kosmopolitische Begabung, das tiefste Gefühl europäischer Verantwortlichkeit sein eigen nennt. Daß das gebildetste, gerechteste und den Frieden am wahrsten liebende

Volk auch das mächtigste, das gebietende sei, – darauf, auf der durch keine Zettelung mehr antastbaren Macht des Deutschen Reiches ruhe der Friede Europas.14

Dem ‚deutschen Geist‘ als Hüter allgemeiner Menschlichkeit und Humanität sei es vorbehalten, ein geistig-kulturelles Europaprojekt zu realisieren, wodurch die europäische Versöhnung, vermittels dieser deutschen ‚Beseelung‘, erst erfolgen könne. Denn laut Mann wisse der Mensch Folgendes  : […] daß die Politik, nämlich Aufklärung, Gesellschaftsvertrag, Republik, Fortschritt

zum „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl“ überhaupt kein Mittel ist,

das Leben der Gesellschaft zu versöhnen  ; daß diese Versöhnung nur in der Sphäre der

Persönlichkeit, nie in der des Individuums, nur auf seelischem Wege also, nie auf politischem sich vollziehen kann, und daß es Aberwitz ist, das soziale Leben im entferntesten zu religiöser Weihe erheben zu wollen.15

Auch Borchardt wie Hofmannsthal vertreten in ihren Redefragmenten „Gedanken über Schicksal und Aussicht des Europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges“ (1917) und „Die Idee Europa“ (1917) einen Europabegriff, dem diese 12 Ebenda, S. 31. 13 Vgl. ebenda, S. 194. 14 Ebenda, S. 207–208. 15 Ebenda, S. 256.

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geistig-kulturelle Vormachtstellung konzeptionell zugrunde liegt. Dass die Fragmente im Anschluss an gemeinsame Treffen zwischen Borchardt und Hofmannsthal entstanden, die im März 1917 in Berlin erfolgten, erklärt einerseits die argumentativen Parallelen und verdeutlicht andererseits, dass beide Autoren an einem beinahe identischen Konzept zur Europavision und Nachkriegsordnung arbeiteten.16 Im Mittelpunkt dieser Europakonzeption steht die deutsche Sendung, die „missio“, mit der abermals an die europäische Herrschaftsidee der Monarchia universalis angeknüpft wurde. Borchardt und Hofmannsthal beziehen sich auf die supranationale Reichstradition der Vorreformationszeit und grenzen jene von den rein politischen Ordnungsvorstellungen, dem europäischen Mächte­ ausgleich des 19.  Jahrhunderts ab. Gleich zu Beginn hebt Hofmannsthal hervor, dass es sich bei der „Einheit Europas“ weder um eine „geographische“ noch um eine „rassenmäßige ethnische“, sondern um eine geistig-seelische handele.17 Hofmannsthal unterstreicht ausdrücklich deren „ideologisch[en] und spirituell[en]“, „transzendent[en]“ Wesenszug, der sich „den Realitäten über[schichtet]“,18 womit er die Übertragung der heilsgeschichtlichen Dimension des Christentums auf den ‚deutschen Geist‘ zu plausibilisieren versucht. In der Folge beschreibt Hofmannsthal die Translationsbewegung, die Translatio Imperii, beginnend bei der „Gemeinbürgschaft der griechischen Städtestaaten“, fortfahrend mit der Renaissance und dem „Übertreten des gehüteten heiligen Gutes aus dem Raum des Glaubens in den des Wissens“, bis hinein in die „[d]ritte und höchste Form des Begriffs“, die nichts Geringeres als „die deutsche Humanität“ sei.19 In Borchardts Augen werden die Transzendenz des Glaubens einerseits und „das Pathos der Missio“ andererseits weiterhin von der Wissenschaft getragen, indem nämlich zur „Civitas Dei“ die „Res publica litterarum“ hinzutrete.20 Legitimiert wird mithilfe dieser Verlagerung der ‚europäischen Idee‘ in die „deutsche Humanität“ letztlich der Krieg selbst, der 16 Siehe hierzu Gregor Streim  : Deutscher Geist und europäische Kultur. Die ‚europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz. In  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 174–197. 17 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Band 9  : Reden und Aufsätze 2. 1914–1924. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Bernd Schoeller. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1979, S. 43–44. – Vgl. hierzu auch Rudolf Borchardt  : Prosa V. Reden und Schriften zur Politik, hg. von Marie L. Borchardt und Ulrich Ott. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. 14 Bde. Stuttgart 1979, S. 326. 18 Vgl. Hofmannsthal (1979), Bd. 9, S. 44. 19 Vgl. Hofmannsthal (1979), Bd. 9, S. 44–45. – Vgl. hierzu auch Borchardt (1979), S. 327. 20 Vgl. Borchardt (1979), S. 327.



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demnach im Namen der Wiederauferstehung Deutsch-Europas geführt werden müsse. Solch ein Europabegriff, auf den die deutsche Kriegspublizistik von Mann bis Borchardt Bezug nahm, steht denn auch nicht in der Traditionslinie der euro­ päischen Aufklärung, sondern beruft sich auf die organisch-holistischen Europaentwürfe der deutschen Klassik und Frühromantik.21 Im Kontext der Weltkriegserfahrung und der zunehmenden Siegesskepsis reaktualisierten sich die Europa-Diskurse um 1800, die ebenfalls dezidiert nationalpolitische waren und unter dem Deckmantel des Allgemein-Menschlichen geführt wurden. Die Rückbezüge auf die Zeit um 1800 scheinen auch insofern nicht zufällig erfolgt zu sein, als diese alten Europakonzepte als Gegenentwürfe zum politischen Prozess der Französischen Revolution zu verstehen sind, zum Wandel einer Staatsform, der von Goethe und Novalis als radikaler Bruch mit der alten europäischen Tradition des Staatensystems verstanden wurde. Darüber hinaus stand durch das politische Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auch die deutsch-nationale Identität in ihrer Einheit zur Disposition. Im Zuge der territorialstaatlichen Bedrohung wurde um 1800 geradezu inflationär die deutsche Kulturnation beschworen.22 Auffällig ist der Bezug auf das Win­ckel­ mann’sche Griechentheorem, das ab Mitte des 18. Jahrhunderts paradigmatisch wird und als Gegenentwurf zur römisch-institutionellen Translationsbewegung fungierte, der man das absolutistische und später das revolutionäre Frankreich zurechnete.23 Beschworen wurde mit der Kulturnation die Vorrangstellung des Geistig-Kulturellen, das von Herder und Fichte bis hin zu Schlegel und Novalis nationalisiert wurde. Im Schiller’schen Fragment „Deutsche Größe“ heißt es dazu  : Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Werth gegrün-

det und wenn auch das Imperium untergienge, so bliebe die deutsche Würde unange-

fochten. […] Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur u  : im Character der

21 Siehe Streim, Deutscher Geist. In  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 177–179. 22 Siehe hierzu Clemens Pornschlegel  : Das Reich wieder holen. Zum Europa-Diskurs der klassischromantischen Bildung. In  : Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800. Hg. von Tobias Döring und Barbara Vinken [u.a.]. München [u.a.] 2010, S. 147–160. 23 Vgl. Conrad Wiedemann, Band 9  : Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmawechsel zwischen Gottsched und Winckelmann. In  : Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation  ? = Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Hg. von Franz N. Mennemeier und Conrad Wiedemann. 11 Bde. Tübingen 1986, S. 173–178, hier  : S. 178.

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Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist. – Dieses Reich blüht in

Deutschland […].24

Die europäischen Werte würden durch die „von dem Weltgeist“ „erwählt[en]“ Deutschen konserviert.25 Der erlöserische Auftrag zur Erfüllung des Weltplans betrifft auch die Literatur, die ebenfalls das Wiederherstellungsversprechen des Alten Reiches verbürgt. Der Prozess der Translatio Imperii findet sich bei Mann und Hofmannsthal wieder und führt zusammen „mit den Ahnengütern […] Bildung und Humanität“ „zu dem Begriffe europäischer Kultur“.26 Die Privilegierung des antidemokratischen Kulturbegriffs erfolgte unter Rückbezug auf das binäroppositionelle Schema der Zeit um 1800. Weder Mann noch Hofmannsthal ging es um die Wiederherstellung des europäischen Mächtegleichgewichts, sondern um eine „historische ‚Mission‘ der Deutschen“.27 Mit Blick auf die deutsch-österreichische Kriegspublizistik verweist Streim auf das Ziel der „Aufhebung der politisch-kulturellen Identität der unterlegenen Nationen und ihre[r] Neubildung unter deutscher Führung“.28 Ähnlich wie Mann verstanden auch Borchardt und Hofmannsthal die Dichter und Publizisten als intellektuelle Speerspitze des deutschen Sendungsbewusstseins, so dass sich ihre Beiträge keineswegs als metaphorische Gedankenspiele abtun lassen. Das ausgegebene Ziel lautete dabei, wie Hofmannsthal es ausdrückte  : „Postuliert ist nicht Europa sondern namens Europa die Menschheit (namens der Menschheit göttliche Allgegenwart  : Gott selber).“29 Im Sinn der klassisch-romantischen Tradition wendet sich Hofmannsthal gegen den „Materialismus“, dem er das Konzept des ‚gelebten Wortes‘ entgegenstellt  : In diese Welt hinein – die Dichter sind symbolische Träumer – zielt das Ringen um den Begriff „Tat“ in „Elektra“  : alle Worte, die nur Schall sind, wenn wir das Ding in

24 Friedrich Schiller, Band 2.1  : Gedichte, hg. von Norbert Oellers. In  : Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von dems. und Siegfried Seidel [u.a.]. Weimar 1983, S. 431. 25 Vgl. ebenda, S. 433. 26 Vgl. Borchardt (1979), S. 331. 27 Vgl. Streim, Deutscher Geist. In  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 179. 28 Vgl. ebenda, S. 181. 29 Hofmannsthal (1979), Bd. 9, S. 46. – Deren Sprache zeigte sich heilsgeschichtlich konnotiert und damit dem Politisch-Körperlichen übergeordnet. Diskutieren ließe sich dies anhand der konstatierten Sprach-, Sinn- und Subjektkrise um 1900, die Hofmannsthal nicht zuletzt in seinem prominenten Chandos-Brief problematisiert.

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ihnen suchen, werden hell, wenn wir sie leben  : im Tun, in „Taten“ lösen sich die Rätsel der Sprache.

Es war durch den Relativismus das Ich der Sklave der Zeit, des schwindelnden

Vergehens geworden. Durch den Materialismus Sklave seines Körpers […].30

Vor diesem Hintergrund wurde der Krieg als metaphysischer Ringkampf mit der westeuropäischen Zivilisationsgesellschaft begriffen, an dessen Ende die geistige Versöhnung Europas hätte stehen sollen. Das Ziel war ein „neues europäisches Ich, ein geändertes Verhältnis des Ich zum Dasein, zum Geld“.31 Die „neue Wirklichkeit“,32 um die sich Hofmannsthal so akribisch bemühte, zielte ebenso wenig auf konkrete politische Freiheit und demokratische Mitbestimmung ab wie das Konzept eines Mann oder Borchardt. Weil die „Wirklichkeit“ „nicht nur […] aus exakt Greifbarem“ bestehe, stellte sich laut Hofmannsthal das Bezugssystem des Glaubens keineswegs als überwunden dar.33 Neben Hofmannsthal bleibt auch bei Borchardt die Gnostik des geistig-kulturellen Bodensatzes – wie schon in der deutschen Klassik und Frühromantik  – der „stillen Gemeinde“ vorbehalten, die für die Einsetzung der deutsch-europäischen Europavision Sorge trägt  : Äußere Unscheinbarkeit, ja Öffentlichkeitsscheu dieser ‚stillen Gemeinde‘, in der die

letzte Phase des Begriffs Europa sich verteidigt und vertieft. In ihr allein das Ganze

auf allen seinen Stufen bewußt oder unbewußt lebendig, zugleich mit jenem Charisma der Gemeinbürgschaft für das gesamte Erbe. Hier allein Europa als die geistige

Grundfeste des Planeten empfunden, das Europäische als absoluter Maßstab aufgestellt, das jeweilig Nationale immer wieder an ihm gemessen und korrigiert, das von

ihm Abgeleitete (Provinzielle, Koloniale, Amerikanische) an seinen gebührenden

Platz geniert. Andererseits letzter Rest der Missio und des naiven Pathos verschwunden.34

30 Ebenda, S. 49. 31 Vgl. ebenda, S. 52. 32 Vgl. ebenda. 33 Vgl. ebenda. 34 Borchardt (1979), S. 332–333. – Bei Hofmannsthal heißt es nahezu wortgleich  : „Es werden vereinzelte Individuen sein, eine stille Gemeinde, die schon da war, in denen die letzte Phase des Begriffes Europa sich verteidigt und vertieft. Von hier allein Europa als die geistige Grundfarbe des Planeten empfunden, das Europäische als der absolute Maßstab aufgestellt […]“  ; Hofmannsthal (1979), Bd. 9, S. 53.

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Borchardts Vorhersage, dass eine „Erneuerung […] nur aus dem Individuum kommen [könne], das ein altes Heiliges frisch erlebt und neu verkündigt“,35 liest sich als Dokument persönlicher Bewegtheit, ähnlich wie Thomas Manns „Betrachtungen“. In den Schriften beider Autoren wird die deutsche Innerlichkeit emphatisch hervorgehoben, wobei diese den kriegerischen Militarismus genauso wenig ausschließt wie die deutsche Barbarei.36 Borchardt endet mit dem heilsgeschichtlichen Ausblick, „daß dem Kriege eine neue Epoche der Seele folg[e]“, so „wie im Pietismus hinter dem dreißigjährigen Kriege eine neue Welt des Inneren entdeckt“ worden sei.37 Nicht zufällig rekurrierte Borchardt auf das Ereignis, das den Zerfall der Monarchia universalis im 17. Jahrhundert einleitete und so die rechtliche Grundlage für die einsetzende nationalstaatliche Ausdifferenzierung schuf. Auch Hofmannsthal beschwor die Reichstradition, wenn in Bezug auf Österreich von einem „tausendjährige[n] Ringen um Europa“ und dem „tausendjährige[n] Glaube[n] an Europa“ die Rede ist.38 Die Europa-Visionen von Mann, Borchardt und Hofmannsthal weisen trotz aller Gemeinsamkeiten auch bemerkenswerte Unterschiede auf, die sich vor allem aus den jeweiligen konfessionellen Verankerungen ergeben. Während Mann sich auf Luther als Urvater der deutschen Innerlichkeit beruft, betonen Borchardt und Hofmannsthal die katholische Reichstradition, in welcher der universal-sakrale Machtanspruch der Monarchia universalis beständig aufrechterhalten worden sei. In Borchardts Fall ist hervorzuheben, dass er in den frühen deutsch-europäischen Notizen noch das preußisch-wilhelminische Kaiserreich als Bastion der ‚höchsten europäischen Werte‘ ansah.39 Erst in den Weltkriegsschriften begann Borchardt, enttäuscht vom Ausbleiben der geforderten geistigen Erneuerung, sich von den Hohenzollern abzuwenden und seine Hoffnungen auf die katholischen Wittelsbacher zu übertragen. Gemeinsam mit dem an der ‚österreichischen Idee‘ arbeitenden Hofmannsthal trat er für die Umsetzung des geistig-katholischen, deutsch-österreichischen Europabegriffes ein. Ausgehend von ihrer Bejahung des katholischen Reichserbes, beschreiben beide Autoren die Translationsbewegung vom römischen auf das deutsch-österreichische Reich, wobei sie die römisch-institutionelle Dimension strikt ablehnen. In die35 Vgl. Borchardt (1979), S. 334. 36 Vgl. hierzu Streim, Deutscher Geist. In  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 177. 37 Vgl. Borchardt (1979), S. 334. 38 Vgl. Hofmannsthal (1979), Bd. 9, S. 54. 39 Siehe hierzu Kai Kauffmann (Hg.)  : Rudolf Borchardts Rhetorik der ‚Politischen Geographie‘. In  : Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt. Bern [u.a.] 2002, S. 27–61.



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sem Punkt tritt noch einmal das Gemeinsame der protestantischen und katholischen Europavisionen hervor, die im Translatio-Gedanken gipfelten, der neben Mann, Borchardt und Hofmannsthal auch von Rudolf Pannwitz, Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Ernst Bertram beschrieben wurde. Nicht die Wiederherstellung eines auf nationalstaatlicher Basis beruhenden Mächtegleichgewichts – wie es das gesamte 19. Jahrhundert über geprägt hatte – steht darin im Mittelpunkt, sondern eine supra-nationale Platzhalterschaft, die sich aus der beschriebenen Selbstidentifikation mit Europa ableitet. Auf die Problematik der deutsch-österreichischen „Kulturmission“ bezieht sich Hugo Ball in seiner „Kritik der deutschen Intelligenz“, wenn er auf die Schattenseiten des ‚deutschen Geistes‘ und des ihm eigenen Kulturimperativs verweist  : Im theokratischen Sinne muss man die Handlungen der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierungen und die Haltung der ihnen unterstehenden Volksmassen interpretieren, wenn man den Sündenturm wahrhaft erkennen will. Alle

Vorurteile der alldeutschen Ideologie weisen zuletzt auf Vorurteile der Theokratie und

des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation zurück. Die Anmassung moralischer

Überlegenheit und des Messiasberufes, die Anmassung kultureller Superiorität, das

Recht auf gewaltsame Unterwerfung der „Randvölker“ und die Überzeugung von der sittlichen Minderwertigkeit dieser Randvölker  ; die Richterallüre im Kriege und in

Fragen der europäischen Politik, die Strafexpedition wegen Hochverrats gegen das

„moralische Herz und Zentrum Europas“  : das alles sind Vokabeln aus dem romantischen Wortschatz des mittelalterlichen Universalstaats und jener langen Jahrhunderte,

da ein gemeinsamer heiliger römischer „Kaiser der Christenheit“ gerade von Deutsch-

land aus die Kulturwelt „schützte“ und Deutschland der Schauplatz seines Gepränges,

aber auch Tummelplatz seines Gesindels und seiner betrunkenen Heerlager war.40

Die vorgebliche Höherwertigkeit, die noch in der Selbststilisierung zu Barbaren bei Mann und Borchardt zum Ausdruck kommt, wertet Ball durch seine Rede von unkultivierten Teutonen ab, deren Charakterzüge er selbst prägenden Figuren der deutschen Geschichte – von Luther über Nietzsche bis zu Bismarck – attestiert. Ball forderte dagegen die nationalstaatliche Einordnung in ein politi40 Hugo Ball  : Die Folgen der Reformation. Zur Kritik der deutschen Intelligenz, hg. von Hans D. Zimmermann. In  : Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Hugo-Ball-Gesellschaft. Göttingen 2005, S. 323–324.

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sches Europa und ein demokratisches Mitbestimmungsrecht, damit das deutsch-­militaristische Säbelrasseln beendet und ein für alle Mal zu Grabe getragen würde  : Die Einordnung Deutschlands in eine Liga der europäischen Völker ist eine unabweisbare Forderung. Mit stürmischem Nachdruck muss sie erhoben werden. Wozu die Nation selbst zu träge und ihre Geister nicht stark genug waren  : die Isolation zu sprengen, in die sich Deutschland drohend und eigensinnig begab  : heute müssen die

Nachbarvölker erzwingen, dass der veraltete Unfug des Waffenspektakels für alle

Zeiten beseitigt werde.

Die Einreihung Deutschlands  ! Hier zeigt sich endlich die Einheitsidee, die Hei-

lung, Grösse und Demut verbürgt. Das deutsche Volk soll die Augen öffnen. Sein

Vorteil wird sein, dass es mit Schmerzen, Unglück und Opfern geschlagen wird. So

wird es die Kraft in sich finden, zu fallen und aufzuerstehen. Wir verlangen die Demokratie. Der politische Geist ist der ordnende Geist.41

Dass es mit der institutionspolitischen Dimension des ‚deutschen Geistes‘ nicht weit her war, lässt sich sowohl an der Reaktualisierung der Europavisionen im Nationalsozialismus ablesen als auch an der Dauer des Prozesses, der notwendig war, damit Deutschland und Österreich zu einem Teil einer tatsächlich stabilen politischen Ordnung innerhalb Europas werden konnten.

Literaturverzeichnis Ball, Hugo  : Die Folgen der Reformation. Zur Kritik der deutschen Intelligenz, hg. von Hans  D. Zimmermann. In  : Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Hugo-Ball-Gesellschaft. Göttingen 2005, S. 323–324. Borchardt, Rudolf  : Prosa V. Reden und Schriften zur Politik, hg. von Marie L. Borchardt und Ulrich Ott. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. 14 Bde. Stuttgart 1979. Elvert, Jürgen  : „Irrweg Mitteleuropa“. Deutsche Konzepte zur Neugestaltung Europas aus der Zwischenkriegszeit. In  : Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Duchhardt und Małgorzata Morawiec. Mainz 2003, S. 117–137. Greiner, Florian  : Der „Mitteleuropa“-Plan und das „Neue Europa“ der Nationalsozialis41 Ebenda, S. 147–148.



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ten in der englischen und amerikanischen Tagespresse. In  : Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 467–476. Hofmannsthal, Hugo von, Band 9  : Reden und Aufsätze 2. 1914–1924. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Bernd Schoeller. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1979. Kauffmann, Kai (Hg.)  : Rudolf Borchardts Rhetorik der ‚Politischen Geographie‘. In  : Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt. Bern [u.a.] 2002, S. 27–61. Mann, Thomas  : Betrachtungen eines Unpolitischen. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1983. Naumann, Friedrich  : Mitteleuropa. Berlin 1916. Pornschlegel, Clemens  : Das Reich wieder holen. Zum Europa-Diskurs der klassischromantischen Bildung. In  : Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800. Hg. von Tobias Döring und Barbara Vinken [u.a.]. München [u.a.] 2010, S. 147–160. Schiller, Friedrich, Band 2.1  : Gedichte, hg. von Norbert Oellers. In  : Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von dems. und Siegfried Seidel [u.a.]. Weimar 1983. Sombart, Werner  : Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München [u.a.] 1915. Streim, Gregor  : Deutscher Geist und europäische Kultur. Die ‚europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz. In  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 174–197. Wiedemann, Conrad, Band 9  : Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmawechsel zwischen Gottsched und Winckelmann. In  : Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation  ? = Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Hg. von Franz  N. Mennemeier und Conrad Wiedemann. 11 Bde. Tübingen 1986, S. 173–178.

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„… daß die Jugend heranwachse, deutsch bis ins Mark“ Kriegsbilderbücher für die Jüngsten im Umkreis des Ersten Weltkriegs

In der Kaiserzeit und im Ersten Weltkrieg erschienen bis etwa 1916 zahlreiche kriegsverherrlichende Bücher für Kinder und Jugendliche. Man hat von einer literarischen Mobilmachung im Kinderzimmer gesprochen.1 Diese Bücher folgen einerseits den herrschenden Traditionen der Kinder- und Jugendliteratur und stehen andererseits im gesellschaftlichen Kontext der Kaiserzeit, ihres militaristischen und chauvinistischen Denkens.

1. Kinderliteratur  : Erziehung als Programm

Seit es eine spezifische Literatur für Kinder und Jugendliche gibt, im Wesentlichen ist dies seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Fall, dient sie in erster Linie der moralischen Unterweisung, erst in zweiter Linie der Unterhaltung und Lesefreude. Diese Tradition zieht sich durch die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Schon seit der Aufklärung wird Kindheit als eine Zeit der Vorbereitung auf das künftige Erwachsensein gesehen. Dieser Pädagogik ordnet sich die Kinderliteratur unter – Kindheit bedeutet Lernen, und Kinderliteratur ist in erster Linie Erziehungsliteratur. Sie möchte dazu beitragen, dass die nachrückende Generation nach den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen und Interessen heranwächst. Daraus leitet sich ab, was Kinder in ihren Kinderbüchern zu lesen bekommen und was sie dabei lernen sollen. Dass Kinderliteratur vor allem nützlich zu sein habe, schlägt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in sehr vielen Titeln und Untertiteln nieder. Es geht dabei nicht nur um Wissen und Kenntnis, sondern gerade auch um Tugend und Moral, um Einstellungen und Haltungen. Die Tugenden in der 1 Siehe Marieluise Christadler  : Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914. Frankfurt a. M. 1978.

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Zeit der Aufklärung sind Toleranz, vernünftiges Handeln, Rechtschaffenheit, Fleiß, Zufriedenheit, aber von Beginn an stets auch Einsicht in die Unfehlbarkeit aller Arten von Obrigkeit. Kinderliteratur entsteht im 18.  Jahrhundert keineswegs nur im fortschrittlichen Geist der Aufklärung. Häufig geht es um Unterdrückung, Dressur und Strafe  ; die zahlreichen Warn- und Strafgeschichten fordern vor allem eines  : Gehorsam. Dieses Grundmuster der Kinderliteratur verstärkt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, wobei aufklärerische Haltungen wie Toleranz und Vernunft mehr und mehr in den Hintergrund treten. Die Bilderbücher des 19.  Jahrhunderts mit ihrer engen Bild-Text-Integration sind hier in erster Linie zu nennen. Vor allem Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845),2 der in mehr als 200 Auflagen allein bis 1896 (und in weit über 1000 Auflagen bis heute) erschien, hat Schule gemacht. Zwar tut man dem Struwwelpeter Unrecht, wollte man ihn nur als ein autoritär disziplinierendes Bilderbuch ansehen. Der stigmatisierte garstige Struwwelpeter könnte auch Bürgerschreck, ein radikaler Revolutionär, ein Anarchist sein, der sich trotzig, breitbeinig, standhaft zur Wehr setzt. Auch Auflehnung, Widerstand, Umkehr der Machtverhältnisse und ein Beharren auf den Rechten der Kinder können aus diesem Bilderbuch herausgelesen werden. Aber das Buch wurde anders rezipiert, und dominierend sind Disziplinierung, Strafe und Unterdrückung. Peter Weiss spricht von der „bedrängenden erstickenden Wahrheit“ dieses Buches.3 Viele Nachahmer erweiterten das Strafarsenal erheblich und tilgten die liberalen Elemente. Titel wie Der schwarze Mann und andere Sachen, um böse Kinder brav zu machen sind symptomatisch  ; Gehorsam wird zu einem verabsolutierten Wert. Die tradierte spezifische Bedeutung der Kinderliteratur wird dem gesellschaftlichen Interesse untergeordnet, das Lesevergnügen ist Mittel zum Zweck. Die Moral wird verpackt in spannende kleine Geschichten, es wird anschaulich erzählt mit Identifikationsangeboten und Sympathielenkung, wobei den Bildern eine besondere Bedeutung zukommt.

2 Alle aufgeführten Bilderbücher sind Teil der umfangreichen „Sammlung Seifert“ und der „Vordemann-Sammlung“, zweier Sammlungen historischer Kinderbücher am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. 3 Vgl. Peter Weiss  : Abschied von den Eltern. Frankfurt a. M. 1961, S. 63.



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2. Propagandistische Kriegsverherrlichung

Dieses Grundmuster gilt auch für die Kriegsbücher, die vor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs für Kinder und Jugendliche publiziert wurden. Sie ordnen sich nahtlos ein in den autoritär-disziplinierenden Geist der Kinderliteratur dieser Zeit. Auch Kriegsbücher für Kinder und Jugendliche sind Erziehungsbücher. Erziehung zur Kriegsbereitschaft ist ihre Intention. Sie spiegeln den Militarismus der Kaiserzeit, werden zum Medium der nationalen Identitätsbildung4 und Teil einer patriotischen Geschichtsschreibung – einerseits durch die Verherrlichung der Befreiungskriege und des Sieges von 1871 über den Erbfeind Frankreich, andererseits durch die allgemeine Heldenverehrung. Vor allem aber ging es ihnen um eine ungehemmte propagandistische Kriegsverherrlichung und eine literarische Mobilmachung ungeheuren Ausmaßes, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich, gegen Frankreich richtete. Diese Kriegsverherrlichung ging einher mit einer bornierten Siegesgewissheit und einer hemmungslosen Verharmlosung des Kriegsgrauens. Promies spricht von einer „Einheitsfront“ aus Chauvinismus und militantem Imperialismus.5 Man könne ohne Übertreibung sagen, dass der Enthusiasmus in weiten Kreisen des deutschen Volkes bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch durch die Kinder- und Jugendliteratur „planmäßig und langfristig“ entfacht worden sei.6 Das geschieht zumeist ganz direkt wie beispielsweise in Oskar Höckers Jugendroman Deutsche Treue, welsche Tücke (zuerst 1881, 1903 bereits in 11. Auflage),7 in dem sich der Nationalismus und der Hass auf Frankreich schon im Titel ausdrücken, häufig aber auch indirekt wie etwa in Waldemar Bonsels’ millionenfach aufgelegtem Roman Die Biene Maja (1912), in dem die kleine Biene in Todesbereitschaft und Treue freudig sterben und den Todfeinden mit glühendem Verlangen begegnen will.8 Schenda spricht von einer systematisch 4 Vgl. Ute Dettmar  : Erzählen vom Krieg – Erziehen zum Krieg. Kriegsszenarien in der historischen Kinder- und Jugendliteratur. In  : Wolfgang Wangerin (Hg.)  : Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 331–335, hier  : S. 331. 5 Vgl. Wolfgang Promies (Hg.)  : 1870–1945. Erziehung zum Krieg – Krieg als Erzieher. Mit dem Jugendbuch für Kaiser, Vaterland und Führer. Eine Ausstellung im Rahmen der 5. Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse 1979. Oldenburg 1979, S. 10. 6 Vgl. ebenda, S. 11. 7 Oskar Höcker  : Deutsche Treue, welsche Tücke. Kulturgeschichtliche Erzählung aus der Zeit der großen Revolution, der Knechtschaft und der Befreiung. Leipzig 1881 [Das Ahnenschloß, Bd. 4]. 8 Waldemar Bonsels  : Die Biene Maja und ihre Abenteuer. Ein Roman für Kinder. Berlin [u.a.] 1912.

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militaristischen Erziehung der Jugend in einer Gesellschaft, die vom Militarismus erfüllt war und den Krieg als etwas Heiliges ansah  ; in einer Familienillustrierten wie der „Gartenlaube“ war offene Kriegshetze eine Selbstverständlichkeit  : „Hätten da die Jugendschriftsteller anders denken sollen  ?“9 Die Ausnahmen sind zahlenmäßig überschaubar. Zu ihnen gehört der bedeutende Illustrator Fedor Flinzer (1832–1911) mit seinen wunderbar satirischen Bildern gegen den aufgeblasenen Militarismus der Kaiserzeit. Sein Bilderbuch Wie die Tiere Soldaten werden wollten erschien bereits 1892 und danach in weiteren Auflagen.10 Eine der Illustrationen zeigt die Armee der Frösche (Abb. 1), die beim ersten Anblick der Störche panikartig die Flucht ergreift. Eine kongeniale Ergänzung bilden die oft hintergründigen Verse von Georg Bötticher (1849– 1918), dem Vater von Joachim Ringelnatz. Die traditionell in Buchform publizierte Kinder- und Jugendliteratur wurde ergänzt durch fliegende Blätter, Bilderbögen, Heftchen, Zeitschriften, durch Jahrbücher, Broschüren, Traktate, Postkarten, Fotoalben, Sammelbilder, Spiele und Kriegsspielzeug – ganz zu schweigen von den Schulbüchern. Sie alle hatten für die richtige Einstellung zu sorgen  ; deutsch-national zu sein, war dabei das mindeste. Unter den Romanen für jugendliche Leser gibt es kriegsverherrlichende (und rassistische) Abenteuerromane, Geschichtsromane, Marine- und Kadettenromane. Die Technikbegeisterung der Jungen wurde durch illustrierte Kriegssachbücher ausgenutzt, aber auch für Mädchen geschriebene Erzählungen, Romane und Ratgeber, von Frauen verfasst, verherrlichen zum Teil offen den Krieg. Ihnen geht es weniger um die Begeisterung für U-Boote und Kampfflieger als vielmehr um das Dienen und das Sorgen, um das Stricken von Gamaschen, das Abschiednehmen, die Arbeit im Lazarett und vor allem die deutsche Treue. Allen Büchern gemein war das Ziel, die nachwachsende Generation auf den Militarismus der Kaiserzeit einzuschwören und für den Krieg zu begeistern.

  9 Rudolf Schenda  : Schundliteratur und Kriegsliteratur. Ein kritischer Forschungsbericht zur Sozialgeschichte der Jugendlesestoffe im Wilhelminischen Zeitalter. In  : Historische Aspekte zur Jugendliteratur. Hg. von Karl E. Maier. Stuttgart 1974, S. 72–85, hier  : S. 81. 10 Georg Bötticher und Fedor Flinzer  : Wie die Tiere Soldaten werden wollten. Ein Bilderbuch. Leipzig 1892. 4. Aufl. Frankfurt a. M. [um 1910].



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Abb. 1  : Wie die Tiere Soldaten werden wollten, um 1910. Illustration von Fedor Flinzer.

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3. Kriegsbilderbücher für die Jüngsten

Dieser Militarisierung der Kinder- und Jugendliteratur entsprechen auch die Kriegsbilderbücher, die zum Teil für die allerjüngsten Leserinnen und Leser produziert wurden, die diese Bücher oft noch nicht selber lesen konnten. Einige Beispiele werden im Folgenden vorgestellt. Als Genres begegnen uns Sachbilderbücher, Bilderbücher mit ergänzenden und verstärkenden Erklärungen zu den Bildern, zum Teil ergänzt durch Gedichte bzw. Lieder, und Bilderbücher, die in Versen eine zusammenhängende Geschichte erzählen und dabei Bild und Text direkt aufeinander beziehen. Diese Bücher richteten sich zugleich an die vorlesenden Eltern, die gleich mit indoktriniert werden sollten,11 und orientierten sich hierbei vielfach an der erfolgreichen Form des Struwwelpeter, der erstmalig eingängige Verse, die gut im Gedächtnis haften, eng mit den dazugehörigen Bildern verknüpft. Die führenden Verlage waren Scholz in Mainz, Schreiber in Eßlingen, Spamer in Leipzig, Flemming in Glogau und Beck in München. Als Autoren und Illustratoren sind Herbert Rikli und Arpad Schmidhammer zu nennen, dazu Adolf Holst, der spätere NS-Sympathisant, als Texter. Neben Schmidhammer und Rikli befinden sich der junge Ernst Kutzer und Else Wenz-Viëtor unter den Illustratoren. Schon die Bilderbücher arbeiteten mit an der Legendenbildung, dass das friedfertige und moralisch überlegene Deutsche Reich umstellt sei von böswilligen, kriegerischen Nachbarn.12 Mit dieser Ideologie sollten Kriegsbegeisterung, Kriegstreiberei und Kriegshetze legitimiert werden.

4. Öffentliche Gegenstimmen

Öffentliche Gegenstimmen waren selten zu vernehmen. Denken wir an Bertha von Suttner, die vor einem Vernichtungskrieg warnte, an Wilhelm Lamszus’ Antikriegs-Roman Das Menschenschlachthaus (1912) oder auch an Hermann Hesses berühmt gewordenen Beitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 11 Vgl. Christoph Jürgensen  : Szenen aus dem Soldatenleben. Kriegsbilderbücher. In  : Wolfgang Wangerin (Hg.)  : Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 336–338, hier  : S. 336. 12 Vgl. Dettmar, Erzählen vom Krieg. In  : Wolfgang Wangerin (Hg.)  : Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 332.



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Novem­ber 1914.13 Hesse wurde als Verräter, als vaterlandsloser Geselle und ­Gesinnungslump öffentlich gebrandmarkt. Lamszus, der als Lehrer und Sozialdemokrat den Hamburger Jugendschriftenausschüssen nahestand, wurde als landes­verräterischer Pazifist beschimpft und später aus dem Schuldienst entlassen. Die der SPD nahestehenden Hamburger Jugendschriftenausschüsse mit ihrer auflagenstarken „Jugendschriften-Warte“ (seit 1893) waren gegen die propagandistische Indoktrination der Kinder- und Jugendliteratur, allerdings eher aus ästhetischen Gründen. Ihr wichtigster Vertreter, Heinrich Wolgast, wurde bespitzelt und als Vaterlandsfeind verleumdet. Die Gegner hatten eindeutig die Oberhand, unter ihnen Karl Brunners Zeitschrift „Die Hochwacht“, die sich ab 1910 und in Konkurrenz zu den Jugendschriftenausschüssen dem nationalen Fühlen verschrieben hatte, sowie der besonders einflussreiche und chauvinistische Jugendbuchautor und Lehrer Wilhelm Kottenrodt, der sich Kotzde nannte und später Nationalsozialist war. Er hatte Erfolg mit seinem kriegstreiberischen Roman Die Geschichte des Stabstrompeters Kostmann, der vom Hamburger Jugendschriftenausschuss abgelehnt wurde, und war unter anderem Herausgeber der „Mainzer Volks- und Jugendbücher“, die wiederum von der „Hochwacht“ als vorbildlich gelobt wurden. Kotzde spricht 1915 in seiner Programmschrift „Was sollen wir tun  ? Wünsche für Deutschland nach dem Kriege“ vom Krieg als „Markstein deutschen Lebens“, schwadroniert von dem „großen Führer, der, mit der Kraft tiefsten Schauens begabt, uns auf den rechten Weg zwingt“  ; er nennt die Franzosen „gallischen Pöbel“ und ruft offen auf zur kriegerischen Vertreibung der Russen Richtung Osten.14 Rudolf Schenda merkt hierzu an   : „Kotzde kämpfte schon vor dem ersten Weltkrieg für ein faschistisches Großdeutschland.“15

5. Deutschlands Wehr zu Land und Meer in Bild und Wort

Im Jahr 1912 erschien im hannoverschen Molling-Verlag das Sachbilderbuch Deutschlands Wehr zu Land und Meer in Bild und Wort.16 Die Illustrationen und wahrscheinlich auch die Texte stammen von dem bekannten Historien- und 13 Hermann Hesse  : „O Freunde, nicht diese Töne  !“. In  : Neue Zürcher Zeitung, 3. November 1914. 14 Vgl. Wilhelm Kotzde  : Was sollen wir tun  ? Wünsche für Deutschland nach dem Kriege. Leipzig 1915, S. 1. 15 Schenda, Schundliteratur und Kriegsliteratur. In  : Historische Aspekte zur Jugendliteratur. Hg. von Karl E. Maier. Stuttgart 1974, S. 75. 16 Richard Knötel  : Deutschlands Wehr zu Land und Meer in Bild und Wort. Hannover 1912.

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Abb. 2  : Deutschlands Wehr zu Land und Meer in Bild und Wort, 1912. Illustration von Richard Knötel.

Militärmaler Richard Knötel (1857–1914), der mehrfach als Illustrator von Kinder- und Jugendbüchern hervortrat. So illustrierte er unter anderem Oskar Höckers Roman Kadett und Feldmarschall über den Großen Kurfürsten (1892 in vierter Auflage), eine Kriegsgeschichte, die auch den Hass auf den Erbfeind Frankreich schürt, und Paul Knötels Buch Im Kampf um die Heimat. Eine Geschichte aus schweren Tagen (1904), die in den Befreiungskriegen spielt, in dem der Hass gegen den Erbfeind Frankreich trotz des patriotischen Grundtons moderat bleibt.17 Deutschlands Wehr zu Land und Meer enthält sich eines offenen Hasses  ; das Buch möchte einerseits das für notwendig erachtete militärische Wissen sachlich vermitteln, andererseits aber auch die jungen Leser für Militär und patriotische Gesinnung begeistern. Auf den großformatigen Farbbildern stehen zunächst Kaiser Wilhelm  II. und die Reiterei im Mittelpunkt, danach wird das Soldatenleben als harmloses Abenteuer dargestellt. Der Text enthält zwar auch Schlachtenbeschreibungen, aber hier wie in den Bildern wird jeglicher Schrecken des Krieges ausgeblendet. Der zweite Teil ist den neuen Waffengattungen gewidmet, gezeigt werden Zeppelin und Flugzeuge, Maschinenge17 Oskar Höcker  : Kadett und Feldmarschall. Der große Kurfürst und seine Paladine. Leipzig 1892 u. Paul Knötel  : Im Kampf um die Heimat. Eine Geschichte aus schweren Tagen. Leipzig [u.a.] 1904.



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wehre und die Marine (Abb. 2). Das Buch erinnert in seiner Gestaltung an die Bilderbücher des Verlages Scholz in Mainz. Der Verlag A. Molling & Comp., in dem das Buch erschien, war 1887 von dem jüdischen Bankier Adolf Molling gegründet worden. Der erfolgreiche Verlag wurde am Ende der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten „arisiert“.

6. Wer will unter die Soldaten  !

Das Bilderbuch Wer will unter die Soldaten  ! mit Bildern von Felix Schmidt und Versen von A. Steinkamp gibt es in zwei verschiedenen Versionen, aber mit identischen Bildern  : einmal als konventionelles Bilderbuch (vermutlich um 1900 publiziert), einmal als Leporello aus robuster Pappe, aufklappbar und aufstellbar (bereits 1892 erschienen). Der Leporello hat zudem einen zusätzlichen Einbandtitel, Lieb Vaterland magst ruhig sein, mit einem Portrait Kaiser Wilhelms II. auf schwarz-weiß-rotem Grund, umkränzt von Eichenlaub (Abb. 3). Der Einbandtitel entstammt dem Refrain des nationalistischen Liedes „Die Wacht am Rhein“, das nach 1871 in Deutschland weit verbreitet war. Man kann wohl davon ausgehen, dass der Leporello die ältere Form ist und die Illustrationen für die spätere Ausgabe wieder verwendet und durch zwei weitere Bilder und zahlreiche Texte ergänzt wurden. Neu ist nun auch der Untertitel Bilder aus dem Soldatenleben für angehende Rekruten, der deutlich auf die pädagogische Intention abzielt. Die farbigen Bilder zeigen Jungen im Kindergartenalter inmitten von Soldaten, und auf fast jedem Bild auch inmitten von Pferden. Die Schrecken des Krieges kommen nicht vor, weder Verwundung noch Tod, nirgendwo Angst oder Leid. Die Kinder beobachten die Soldaten und probieren sich spielerisch aus. Selbstredend endet der Krieg siegreich, und das letzte Bild zeigt in leuch­ tenden Farben die triumphale Heimkehr der siegreichen Soldaten (Abb. 4). Die beiden in der Göttinger „Sammlung Seifert“ vorhandenen Versionen dieses offenbar seltenen Buches präsentieren zu diesem Schlussbild, das eher historisch orientiert ist und an den Sieg von 1871 denken lässt, zwei unterschiedliche Texte in Versform. In der Leporello-Version lauten die Verse zum Siegerbild  : Jetzt ist der Hans zwar noch ein Kind, Kaum von der Mutter Schoß,

Doch flieh’n die Jahre pfeilgeschwind, Nicht lang, so ist er groß.

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Abb. 3  : Wer will unter die Soldaten  !, 1892. Illustration von Felix Schmidt.

Braust wieder dann der Ruf durchs Land  :

Zum Rhein, zum Rhein, zum Rhein  !

So nimmt auch er ein Schwert zur Hand, wird nicht der Letzte sein.

Das Herz erfüllt von Kampfesmut,

Zieht er hinaus in’s Feld,

Dem deutschen Vaterland sein Blut

Zu weihen als ein Held.

Im Schmuck des Siegers – welche Lust  ! Kehrt er zurück nach Haus,

Das Kreuz von Eisen auf der Brust,

Am Helme einen Strauß.18

18 Felix Schmidt und A. Steinkamp  : Wer will unter die Soldaten  ! [Einbandtitel  :] Lieb Vaterland magst ruhig sein. Duisburg 1892, o. S. [Leporello].



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Abb. 4  : Wer will unter die Soldaten  !, 1892.

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Zu selbiger Abbildung lautet der Text in der gebundenen Buchform folgendermaßen  : Der Kampf ist aus, der Krieg beendet,

In Trümmer sank des Feindes Macht. Gott hat den Sieg uns zugewendet,

Ihm, ihm sei Preis und Dank gebracht  ! Klingt’s nicht von fern wie Jubellieder  ?

Wie Trommelwirbel, Hörnerklang  ? Die tapfern Sieger kehren wieder,

Auf, auf, zum festlichen Empfang  !

Laßt Fahnen wehen, Böller knallen, Herbei, was reget Hand und Fuß  !

Laßt laut von allen Türmen schallen

Die Glocken den Willkommensgruß  ! Da kommen sie. Ha, welch ein Jubel  !

Wie’s jauchzt und klingt, wie’s blitzt und kracht  ! Bis an den Abend währt der Trubel

Und dann wird Feuerwerk gemacht.19

7. Die Überlegenheit des Deutschen und die Lächerlichkeit der Gegner

Der Hauptgegner in den Kinderbüchern ist Frankreich, aber auch England und Russland sind immer wieder die Feinde des Vaterlandes. In direkter Anknüpfung an das bekannteste Bilderbuch nimmt Der Kriegs-Struwwelpeter von Karl Ewald Olszewski, erschienen im Kriegsjahr 1915, die Entente-Mächte aufs Korn, ohne selbst ein Kinderbuch zu sein. Hier wurde die Popularität von Hoffmanns Struwwelpeter genutzt, um ideologische Botschaften erfolgreich zu verbreiten. Der Kriegs-Struwwelpeter ist die Antwort auf ein anti-deutsches Bilderbuch aus England, das in Deutschland für Empörung gesorgt hatte. Die Bildsprache und die eingängige Versform des Struwwelpeter, den so gut wie jeder kannte, wurden übernommen, ebenso die Stigmatisierung. So erscheint Zar Nikolaus als Friederich, der Wüterich  ; Mariannchen repräsentiert 19 Felix Schmidt und A. Steinkamp  : Wer will unter die Soldaten. Bilder aus dem Soldatenleben für angehende Rekruten. O. O. u. J., o. S.

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Abb. 5  : Der Kriegs-Struwwelpeter, 1915. Illustration von Karl Ewald Olszewski.

Frankreich und kommt als Paulinchen daher (sie hat Revanche-Absichten und brennt deshalb am Ende lichterloh). Jene Strafen für ungebührliches Verhalten der Kinder, die sich in Hoffmanns Original-Struwwelpeter finden, folgen in der Darstellung des Verfassers auch in der Politik auf dem Fuße. Der große Wilhelm II. bleibt zudem souverän Herr aller Situationen. Er steckt die bösen Buben, die den Michel ärgern, ins Tintenfass (Abb. 5)  : Er packte gleich die Buben fest,

In Nord und Süd, in Ost und West,

Den F r a n z m a n n und den N i k o l a u s , Dem G r e y ging faßt der Atem aus.20

Die Überlegenheit all dessen, was Deutsch ist, wird in den Kinderbüchern als ein ehernes Naturgesetz mit viel Pathos in Szene gesetzt und korreliert mit der Verspottung der Gegner. Wir finden diese Muster auch auf vielen Bilderbögen. Ein 20 Karl Ewald Olszewski  : Der Kriegs-Struwwelpeter. Lustige Bilder und Verse. München 1915, S. 10.

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Beispiel dieser Gattung sind die Neuen deutschen Bilderbogen für Jung und Alt, die bei Werckmeister in Berlin erschienen und 10 Pfennig pro Blatt kosteten. Auch sie verhöhnen den Feind, oftmals mit satirischen Mitteln, verherrlichen die Taten der eigenen Soldaten und sind wegen der vorgeblichen Überlegenheit Deutschlands in moralischer wie militärischer Hinsicht voller Siegeszuversicht. Angesichts des im Verlauf des Krieges fortschreitenden Grauens, das in krassem Widerspruch stand zur Ideologie der Bilderbögen und Bilderbücher, konnten solche Publikationen später kaum noch erscheinen, und ab 1916 gingen sie fast ganz zurück. Die Bilderbögen griffen vielfach Erfahrungen auf, die in der Heimat jedermann bekannt waren, wendeten diese aber stets ins ideologisch Gewollte.

8. Vater ist im Kriege

Zur gleichen Zeit wie die Bilderbögen erschien das Bilderbuch Vater ist im Kriege (1915). Den 24 ganzseitigen Farbbildern, die von verschiedenen Illustratoren stammen, sind jeweils auf der gegenüberliegenden Seite Verse von Rudolf Presber zugeordnet. Identifikation und Sympathie werden dabei auf die deutschen Kämpfer gelenkt. In den Kriegsdarstellungen gibt es auch hier kein Sterben, keine Verwundung, kein nachvollziehbares Leid, nur ein freundliches L ­ azarett mit Leichtverletzten, mit Kindern und Blumen, hübschen Krankenschwestern, das zudem von den jungen Prinzen besucht wird. Eine Ausnahme bildet die sehr eindringliche Darstellung eines brennenden Dorfes (Abb. 6). Zur Beruhigung der jungen Leserinnen und Leser machen die dazugehörigen Verse sofort klar, dass es hier im Feindesland brennt und nicht etwa im eigenen Land. Der Krieg ist weit weg, es besteht daher kein Grund zur Beunruhigung. Zudem gehört der Sieg den Deutschen. Noch ein weiterer Aspekt ist ideologisch bedeutsam  : Es waren nicht etwa die deutschen Soldaten, die für das verheerende Feuer verantwortlich sind, es war vielmehr der Feind, der sein eigenes Städtchen in Brand geschossen hat. Kein Makel sollte auf den deutschen Soldaten liegen, zu denen auch die Väter gehörten. Folgende Verse begleiten das Bild auf der gegenüberliegenden Seite  : Der Feind hat die letzten Granaten gesandt –

Er schoß sein eigenes Städtchen in Brand. Die Flammen werfen gewaltigen Schein  ; Die Deutschen ziehen in Frankreich ein.

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Abb. 6  : Vater ist im Kriege, 1915. Illustration von Hans  Rudolf Schulze.

Durch nächtliche Straßen ein harter Klang  : Grenadiere marschieren die Straße entlang

Und singen jubelnd die „Wacht am Rhein“ –

Die Deutschen ziehen in Frankreich ein  !21

Wie sehr Verharmlosung als Prinzip die Kinderliteratur bestimmte, zeigt beispielhaft das Bild, auf dem Kanonen im Schützengraben zu sehen sind (Abb. 7). Sie erscheinen keineswegs als Teil von Kampfesszenen – auch hier wird jegliche Gefahr ausgeblendet. Die bis zur Lüge euphemistischen Verse deuten die Funktion der Kanonen zwar an, verharmlosen sie aber zugleich  : Hübsch eingepackt am Grabenrand

Auf schmaler Hügel Krone,

Steht unter’m Schild in Sack und Sand

21 Kriegskinderspende deutscher Frauen (Hg.)  : Vater ist im Kriege. Ein Bilderbuch für Kinder. Berlin 1915, o. S.

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Abb. 7  : Vater ist im Kriege, 1915. Illustration von Adolf Closs.

Ein Ungetüm und droht in’s Land,

Auf Rädern – die Kanone.

Noch ist der Morgen still und stumm, Da – – bumm  ! und bumm  !  !

Aus ihres Rohres Eisenhaus, Bedient von Kanonieren,

Speit blitzend sie Granaten aus.

Dort, in dem Dorf bricht Feuer aus

An Ecken, allen vieren.

Die Feinde laufen wild herum

Und – – bumm  ! und bumm  !  !22

Der Verfasser dieser Verse, Rudolf Presber (1868–1935), war promovierter Germanist, Feuilleton-Redakteur (u. a. der „Lustigen Blätter“) und ein zu seiner 22 Ebenda.



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Zeit bekannter Schriftsteller. 1933 unterzeichnete er das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler mit weiteren 87 Schriftstellern, unter ihnen der Jugendbuchautor Oskar Höcker sowie Benn, Rudolf Binding, Hermann Claudius, Agnes Miegel und Ina Seidel.

9. ‚Deutsch bis ins Mark‘. Arpad Schmidhammer und der Scholz-Verlag

Schon mit den bislang genannten Beispielen zeigte sich, dass Bild und Text eine enge Beziehung eingehen und sich wechselseitig verstärken. Arpad Schmidhammer (1857–1921) und Herbert Rikli (1880–1939), zwei bekannte Illustratoren, gingen in dieser Hinsicht mit ihren Bilderbüchern noch weiter. Bei ihnen sehen wir eine Text-Bild-Integration, die sich dadurch intensiviert, dass den jungen Lesern eine fortlaufende Geschichte erzählt wird und alles, was ihnen in Versen vorgelesen wird, auf den jeweiligen Bildern auch zu sehen ist. Das eine ist ohne das andere nicht zu verstehen. Die Bilder sind daher weit mehr als nur Illustrationen, sie sind der veranschaulichende, unmittelbar wahrnehmbare Teil des Geschehens. Die Verse sind durch ihr Metrum und ihren Reim eingängig, und im Zusammenspiel mit den Bildern sorgen sie für eine intensive Wirkung, die im Gedächtnis bleibt. Genau darum geht es in den Bilderbüchern. Die Bücher von Schmidhammer und Rikli stellen den Krieg als Spiel dar. Die Knaben, die hier Krieg spielen, sind im Kindergartenalter, ebenso wie die Adressaten, an die sich die Bücher richten. Schmidhammer zeichnete und textete Die Geschichte vom General Hindenburg, die 1915 erschien.23 Es handelt sich um eine plumpe Heroisierung Hindenburgs, des „Kriegshelden“ in der Schlacht bei Tannenberg – allerdings gut gezeichnet mit geschickt formulierten Versen, die sich gut merken lassen und die trotz der nationalistischen Tendenz nicht ohne karikaturistischen Witz sind. Die „Soldaten“ sind kleine Kinder, wobei die russischen Soldaten als unfähig und tölpelhaft verspottet werden. Am Ende sind die Knabensoldaten wie immer siegreich und nehmen den Generalfeldmarschall triumphierend in ihre Mitte (Abb. 8). In der gleichen Reihe des Mainzer Scholz-Verlages erschien 1916 das Buch Hans und Pierre. Eine lustige Schützengrabengeschichte, das ebenfalls von Schmid­hammer stammt. Ein deutscher und ein französischer Junge verabschieden sich jeweils von zu Hause und stehen sich darauf im Schützengraben 23 Arpad Schmidhammer  : Die Geschichte vom General Hindenburg lustig dargestellt und gereimt (= Scholz’ Künstler-Bilderbücher  ; 145). Mainz 1915.

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Abb. 8  : Die Geschichte vom General Hindenburg, 1915. Illustration von Arpad Schmidhammer.

gegenüber. Auch hier wird Krieg gespielt – das Spiel transportiert Haltungen und enthält alle Elemente des Soldatenlebens  : den tränenreichen Abschied von der Mutter, die Strapazen im Felde (an denen der verweichlichte Pierre im Gegensatz zu Hans fast scheitert), das Verschanzen in den Schützengräben, den gegenseitigen Beschuss, die Gefangennahme des Gegners, schließlich die Auszeichnung des Helden, der den französischen Gegner gefangen genommen hat. Das alles geschieht in durchaus unterhaltsamer Form, die notwendig ist, um die intendierten Haltungen erfolgreich zu vermitteln. Dolle-Weinkauff spricht von der „Miniaturisierung des Krieges und der Schlachtfelder“.24 Die militärischen Requisiten werden auf ein kindliches Format verkleinert  : „Das ermöglicht effektive Einflussnahme im Sinne patriotischer Erziehung.“25 24 Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff  : Deutschsprachige Kriegsbilderbücher 1914–1918. Ein Abriss der Themen, Typen und Tendenzen. In  : Kinder- und Jugendliteraturforschung 2014/2015. Hg. von Bernd Dolle-Weinkauff und Hans-Heino Ewers [u.a.]. Frankfurt a. M. [u.a.] 2015, S. 29–53, hier  : S. 41. 25 Dolle-Weinkauff, Deutschsprachige Kriegsbilderbücher. In  : Kinder- und Jugendliteraturforschung



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Abb. 9  : Hans und Pierre. Eine lustige Schützengrabengeschichte, 1916. Einband-Illustration von Arpad Schmidhammer

Zugleich finden wir auch hier die Überlegenheit des Deutschen und die Verspottung des Gegners. Das zeigt sich schon bei der Einbandillustration (Abb. 9) und setzt sich durch die gesamte Handlung fort. Hans steht breitbeinig da, sicher, stark und mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck, Pierre dagegen erscheint in Verliererhaltung, liederlich in den französischen Farben gekleidet und erniedrigend geknebelt. Hans präsentiert diesen Gefangenen am Ende der Geschichte  : „Den bring’ ich meinem General“  ! Sagt Hans und freut sich kolossal

Und kriegt dagegen seinerseits

Doch jedenfalls das Eisern’ Kreuz.26

2014/2015. Hg. von Bernd Dolle-Weinkauff und Hans-Heino Ewers [u.a.]. Frankfurt a. M. [u.a.] 2015, S. 41. 26 Arpad Schmidhammer  : Hans und Pierre. Eine lustige Schützengrabengeschichte (= Scholz’ Künstler-Bilderbücher  ; 147). Mainz 1916.

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Beide Bilderbücher von Schmidhammer sind im Mainzer Verlag J. Scholz in der Reihe „Scholz’ Künstler-Bilderbücher“ erschienen. Der Scholz-Verlag hatte sich eine nationalistische Haltung auf die Fahnen geschrieben. Joseph Scholz ging es um den vaterländischen Gedanken in der Jugendliteratur, um Kampfesfreude und frische vaterländische Begeisterung. Nur wenige Jahre nach der Katastrophe des Weltkrieges hielt Karl Scholz in seiner Dissertation „Die volkswirtschaftliche Bedeutung des deutschen Bilderbuch-Verlages“ an dieser Tradition fest. Er verwies auf den Kampf des Scholz-Verlages gegen Internationalismus und Pazifismus und vertrat die Ansicht  : Das ideale Bilderbuch müsse dazu beitragen, „daß die Jugend heranwachse, deutsch bis ins Mark“.27 Des Weiteren erklärte er  : „Selbst bei dem Buche für die Kleinen spielen Fragen der Weltanschauung, ethische und nationale Gesichtspunkte mit hinein.“28 Dass der Verlag ab 1916 keine soldatischen und kriegerischen Bücher mehr publizierte, erklärte er mit dem nachlassenden Siegeswillen des Deutschen Volkes und einer damit veränderten Nachfrage – mithin mit rein wirtschaftlichen Argumenten.29

10. ‚Patsch  ! deutsche Hiebe sitzen gut‘

Zu den exponiertesten Beispielen der Gattung gehört Hurra  ! Ein Kriegs-Bilderbuch des Schweizer Illustrators Herbert Rikli, der sich wie andere Deutschschweizer auf die deutsche Seite schlug. Wir haben hier das gleiche Phänomen wie bei Schmidhammer. Kleine Kinder spielen den großen Krieg in allen Aspekten nach, und zwar mit einer ungemilderten Brutalität und einer rassistischen Haltung, dargestellt in Text und Bild  : Klein Willi hörte viel vom Krieg,

Von Schlachtendonner, Kampf und Sieg. Da ward ihm oft das Herzlein schwer  :

Ach, wenn ich ein Soldat doch wär’, […]

27 Vgl. Karl Scholz  : Die volkswirtschaftliche Bedeutung des deutschen Bilderbuch-Verlages. Diss. Mainz 1922, S. 34–35. 28 Ebenda, S. 23. 29 Vgl. Christadler (1978), S. 31.



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Abb. 10  : Hurra  ! Ein Kriegs-Bilderbuch, 1915. Illustration von Herbert Rikli.

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Abb. 11  : Hurra  ! Ein Kriegs-Bilderbuch, 1915.



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Schöss’ ich mit Kugeln und mit Schrot

Die Feinde alle mausetot  ! –30

Aber er ist zu klein für den Krieg, und so erträumt er ihn sich  : „Kriegsengel fliegen durch die Luft. / Das Vaterland zum Kampfe ruft. –“31 Klein Willi wütet schwer bewaffnet gegen die Franzosen („‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein, / Ich lasse keinen übern Rhein  !‘“32), und ganz allein schießt er die feindlichen Soldaten ab. Zudem nimmt es der kleine deutsche Junge allein mit hundert erwachsenen Feinden auf – als ein Superheld, der von seinem Zeppelin aus Bomben abwirft und mit seinem U-Boot feindliche Schiffe versenkt. Die Turkos werden vom Baum geschossen („Doch Willi knallt sie keck und munter  /  Wie Affen von dem Baum herunter.“33), und nicht nur im Kampf gegen den Gurkha wird offener Rassismus sichtbar (Abb.  10).34 Gegen Engländer und Russen wird ebenfalls siegreich gekämpft  : „Piff  ! paff  ! der Russe lebt nicht mehr.  /  Klein Willi aber fröhlich lacht  /  Und denkt, das hab’ ich schlau gemacht.“35 Das Grauen des Krieges trifft nur den bösen Feind (Abb. 11)36 und wird durch den Text zugleich verharmlost.

11. ‚Und wär ich eine deutsche Frau‘

Noch gegen Ende des Krieges entstand ein Bilderbuch, das 1918 erschien und von zwei Frauen gestaltet worden war  : Sei gegrüßt mein Heimatland. Die Bilder stammen von Anneliese von Lewinski. Die verharmlosenden, stellenweise geradezu poetischen Bilder handeln, zusammen mit Ruth von Mauves nationalistisch-militaristischen Versen und kleinen Erzählungen, vom Durchhalten und verfälschen zugleich die Geschichte des Krieges. Anneliese von Lewinski war als Autorin nicht unbekannt. Sie hatte noch vor Kriegsbeginn ein Kinderbuch illustriert, das viele Auflagen erfahren hat und durch seine einfallsreichen, kindgerechten Illustrationen erfolgreich war  : Weißt Du wieviel Sternlein stehen  ? 30 Herbert Rikli  : Hurra  ! Ein Kriegs-Bilderbuch. Stuttgart 1915, S. 1. 31 Ebenda, S. 3. 32 Ebenda, S. 4. 33 Ebenda, S. 8. 34 Vgl. ebenda, S. 9. 35 Ebenda, S. 12. 36 Vgl. ebenda, S. 21.

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In ihrem Kriegsbilderbuch stellt die Illustratorin ihre künstlerischen Fähigkeiten nun in den Dienst der Kriegserziehung – zu einer Zeit, als die Kriegsbegeisterung längst der Desillusionierung gewichen war. Das Buch beginnt mit einem Text der Illustratorin, unter dem Titel „Die kleine Armee“, mit dem sie die lesenden oder eher zuhörenden Kinder direkt anspricht  : Diese kleine Armee „ist nicht etwa ein Teil unsrer großen Armee, die draußen in Ost und West Deutschlands Feinde besiegt, sondern eine Armee ganz für sich, die keine Uniformen trägt und keinen Helm und auch keine Waffen […]. Euch alle meine ich, die deutschen Buben und Mädel“.37 In der Heimat zu dienen, ist die Aufgabe dieser Kinderarmee. Bevor tapfere Kriegskinder, Kindersoldaten und Luftschiffe gezeigt werden, wird die Situation, die gegen Ende des Krieges mit der sich abzeichnenden Niederlage bestand, noch ins rechte ideologische Licht gerückt  : Sie lagen so neidisch im Hinterhalt, sie haben geheuchelt, gelogen,

sie kamen mit starker Waffengewalt

an unsre Grenzen gezogen.

Da rief unser Kaiser sein treues Heer, da rief er sein Volk zu den Fahnen,

da rief er den Schiffen auf weitem Meer, und sie kamen, würdig der Ahnen.

Mit Rosen am Helm und am Säbelknauf So kamen die Alten und Jungen, sie haben alle, landab, landauf,

von der Wacht am Rheine gesungen. Es zogen die Väter und Brüder mit,

der Knecht mit dem Fürstensohne –

in unsre Träume klang schwer der Tritt marschierender Bataillone.

37 Vgl. Anneliese von Lewinski und Ruth von Mauve  : Sei gegrüßt mein Heimatland  ! (= Dietrichs Münchner Künstler Bilderbücher  ; 29). München 1918, o. S.

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Nun stehen sie draußen, die graue Schar, schützend ihr Land mit dem Leben,

harren nun zäh schon im fünften Jahr zwischen Verhauen und Gräben.

Harren so treu und tun ihre Pflicht, wie lang die Kämpfe auch dauern –

Deutschland, ach Deutschland, so schirmten dich nicht

Zehntausend eherne Mauern.38

Unmittelbar darauf folgt ein Huldigungsgedicht über Hindenburg, der dem „Russenpack“ standhielt, das „mit Brand und Mord“ Deutschland schlagen ­wollte.39 „Vater Hindenburg“ hat sich damit nicht nur in die Geschichte eingegraben, „er grub sich noch viel tiefer ein / in tausend Kinderherzen“.40 Mit dieser vermeintlichen Erfolgsmeldung – die Russen hatten seit der Oktoberrevolution und dem separaten Frieden von Brest-Litowsk nicht mehr am Krieg teilgenommen, das Buch ist hier sehr aktuell – verschweigt die Autorin ihren jungen Leserinnen und Lesern die sich abzeichnende Niederlage gegen die weiteren Kriegsgegner. Zu dem Bild eines kaum dreijährigen, blond-gelockten Knaben, der in seinem Bettchen sitzt und davon träumt, ein deutscher Mann mit einem Gewehr zu sein, heißt es unter anderem  : Und wär ich eine deutsche Frau, ich wüßt schon, was ich tät,

Zigarren schickte ich ins Feld Und strickte früh und spät.41

In der Wunschvorstellung des Kindes ginge das Mädel ins Lazarett zu den Soldaten  : Und sorgt für sie und pflegte sie und wachte alle Stund –

38 Ebenda. 39 Vgl. ebenda. 40 Ebenda. 41 Ebenda.

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Abb. 12  : Sei gegrüßt mein Heimatland  !, 1918. Illustration von Anneliese von Lewinski.

bis daß sie alle wieder frisch

und fröhlich und gesund.42

Ein derart frech camouflierender Text, Kindern zu lesen gegeben, missbraucht das Interesse der jungen Lesenden an Bildern und Geschichten. Das gilt ebenso für das folgende Beispiel  : Zwei Mädchen und ein Junge spielen Seeschlacht im Gartenteich (Abb. 12). Hier zeigt sich noch im Jahr 1918 die Miniaturisierung und Verharmlosung des Krieges. Ihre Kriegsschiffchen auf dem flachen Tümpel erhalten schwarz-weiß-rote Wimpel, der Frosch ist „John Bull, breitmäulig, frech und satt“  : Hip hip hurra, wir greifen an  ! –

Wer konnte das vermuten  ?

Es stürzt John Bull, so schnell er kann, kopfüber in die Fluten  !43

42 Ebenda. 43 Ebenda.



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Der Schluss dieses Buches lautet  : „und die Glocken jauchzen zugleich  : / ‚Endlicher Sieg und Frieden im Reich  !‘“44 Das Buch von Anneliese von Lewinski und Ruth von Mauve erschien 1918. Im Herbst desselben Jahres ging das Grauen des Ersten Weltkriegs vorüber – ohne jauchzende Glocken und ohne ‚endlichen‘ Sieg.

Literaturverzeichnis Bonsels, Waldemar  : Die Biene Maja und ihre Abenteuer. Ein Roman für Kinder. Berlin [u.a.] 1912. Bötticher, Georg und Fedor Flinzer  : Wie die Tiere Soldaten werden wollten. Ein Bilderbuch. Leipzig 1892. 4. Aufl. Frankfurt a. M. [um 1910]. Christadler, Marieluise  : Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914. Frankfurt a. M. 1978. Dettmar, Ute  : Erzählen vom Krieg – Erziehen zum Krieg. Kriegsszenarien in der historischen Kinder- und Jugendliteratur. In  : Wolfgang Wangerin (Hg.)  : Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 331–335. Dolle-Weinkauff, Bernd  : Deutschsprachige Kriegsbilderbücher 1914–1918. Ein Abriss der Themen, Typen und Tendenzen. In   : Kinder- und Jugendliteraturforschung 2014/2015. Hg. von Bernd Dolle-Weinkauff und Hans-Heino Ewers [u.a.]. Frankfurt a. M. [u.a.] 2015, S. 29–53. Höcker, Oskar  : Deutsche Treue, welsche Tücke. Kulturgeschichtliche Erzählung aus der Zeit der großen Revolution, der Knechtschaft und der Befreiung. Leipzig 1881, 11. Aufl. 1903 [Das Ahnenschloß, Bd. 4]. Höcker, Oskar  : Kadett und Feldmarschall. Der große Kurfürst und seine Paladine. 4. Aufl. Leipzig 1892. Jürgensen, Christoph  : Szenen aus dem Soldatenleben. Kriegsbilderbücher. In  : Wolfgang Wangerin (Hg.)  : Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 336–338. Knötel, Paul  : Im Kampf um die Heimat. Eine Geschichte aus schweren Tagen. Leipzig [u.a.] 1904. Knötel, Richard  : Deutschlands Wehr zu Land und Meer in Bild und Wort. Hannover 1912. Kotzde, Wilhelm  : Was sollen wir tun  ? Wünsche für Deutschland nach dem Kriege. Leipzig 1915. Kriegskinderspende deutscher Frauen (Hg.)  : Vater ist im Kriege. Ein Bilderbuch für Kinder. Berlin 1915. 44 Vgl. ebenda.

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Lewinski, Anneliese von und Ruth von Mauve  : Sei gegrüßt mein Heimatland  ! (= Dietrichs Münchner Künstler Bilderbücher  ; 29). München 1918. Neue deutsche Bilderbogen für Jung und Alt. Berlin 1915. Olszewski, Karl Ewald  : Der Kriegs-Struwwelpeter. Lustige Bilder und Verse. München 1915. Promies, Wolfgang (Hg.)  : 1870–1945. Erziehung zum Krieg – Krieg als Erzieher. Mit dem Jugendbuch für Kaiser, Vaterland und Führer. Eine Ausstellung im Rahmen der 5. Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse 1979. Oldenburg 1979. Rikli, Herbert  : Hurra  ! Ein Kriegs-Bilderbuch. Stuttgart 1915. Schenda, Rudolf  : Schundliteratur und Kriegsliteratur. Ein kritischer Forschungsbericht zur Sozialgeschichte der Jugendlesestoffe im Wilhelminischen Zeitalter. In  : Historische Aspekte zur Jugendliteratur. Hg. von Karl E. Maier. Stuttgart 1974, S. 72–85. Schmidhammer, Arpad  : Die Geschichte vom General Hindenburg lustig dargestellt und gereimt (= Scholz’ Künstler-Bilderbücher  ; 145). Mainz 1915. Schmidhammer, Arpad   : Hans und Pierre. Eine lustige Schützengrabengeschichte (= Scholz’ Künstler-Bilderbücher  ; 147). Mainz 1916. Schmidt, Felix und A.  Steinkamp  : Wer will unter die Soldaten  ! [Einbandtitel  :] Lieb Vaterland magst ruhig sein. Duisburg 1892 [Leporello]. Schmidt, Felix und A. Steinkamp  : Wer will unter die Soldaten. Bilder aus dem Soldatenleben für angehende Rekruten. O. O. u. J. Scholz, Karl  : Die volkswirtschaftliche Bedeutung des deutschen Bilderbuch-Verlages. Diss. Mainz 1922. Wangerin, Wolfgang (Hg.)  : Pfui, ruft da ein jeder. Alte Kinderbücher aus der Vordemann-Sammlung der Universität Göttingen. München 1989. Weiss, Peter  : Abschied von den Eltern. Frankfurt a. M. 1961.

Gernot Wimmer

Der Erste Weltkrieg und das Geschlechterverhältnis in Joseph Roths Romanen1

1.

Benennt man für Roths vielschichtige Romane und Erzählungen eine gemeinsame thematische Basis, hat diese in der Dominanz der Liebesdinge begründet zu liegen. Dem vorexilischen Romantypus des ideologischen und partnerschaftlichen Halt Suchenden folgt in der Exilzeit eine leitmotivische Varianz, die sich von den Themen des Glaubens, der Identität und nicht zuletzt der Liebe herleitet. Im ersten Fall sind es die Kriegsheimkehrer, die militärisch Besiegten, die sich neben prekären Lebensbedingungen ebensolchen Liebesverhältnissen ausgesetzt sehen. Und selbst die männlichen Figuren aus der zweiten Gruppe zeigen sich in ihrem Handeln durchgängig vom militärischen Motiv-Bereich determiniert. Um die von Roth beschriebenen Geschlechterrollen umfänglich sichtbar zu machen, haben die allgemeinen Lebensbedingungen berücksichtigt zu werden. Dadurch erst werden die Geschlechter, die sich bei Roth wiederholt um den eigenen Vorteil bedacht zeigen, als Opfer einer nicht nur ideologisch, sondern auch ökonomisch belasteten Zeit sichtbar. Während die frühen Prosastücke Der Vorzugsschüler und Barbara noch eines Weltkriegs-Schauplatzes entbehren  – weil im ersten Fall der bürgerliche Aufstieg des Anton Wanzl und im zweiten die unerwiderte Liebe eines Sohnes zu seiner sich aufopfernden Mutter beschrieben werden  –, eröffnet sich mit den nachfolgenden Zwischenkriegs-Romanen eine einschlägige, um den Themenbereich des Großen Krieges angesiedelte Historisierung. In diesem bedeutsamen Werkabschnitt, der vor Roths Exilzeit entstand, zeigen sich die Akteure in ihrem Handeln stets durch die Urkatastrophe des Weltkrieges determiniert – un1 Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung des Vortrages, der im September 2014 auf der Konferenz „Exile and Gender“ am „Research Centre for German and Austrian Exile Studies“ der Universität London gehalten wurde. Obwohl der damalige Titel „Zur Gender-Relation in Joseph Roths Exil-Literatur“ lautete, sei auch hier der Untersuchung der längeren Emigrations-Prosa eine Bestimmung des vorexilischen Romanwerkes vorangestellt.

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Gernot Wimmer

abhängig davon, ob es sich um eine narrative Fokussierung der Kriegszeit selbst oder um eine der unmittelbaren Folgezeit handelt. Ein erster chronologisch strukturierter Abschnitt widmet sich im Folgenden dem vorexilischen Romanschaffen, das künstlerisch im Jahr 1923 mit der Veröffentlichung des Fortsetzungsromans Das Spinnennetz begann und politisch 1933 mit der erzwungenen Ausreise aus Deutschland ein abruptes Ende fand.

2.

Der Werdegang des Weltkriegsveteranen Theodor Lohse in Das Spinnennetz veranschaulicht die politischen Spannungen zur Zeit der Weimarer Republik insofern repräsentativ, als sich an diesem sozial Degradierten die ideologischen Grabenkämpfe manifestieren, die zwischen den konkurrierenden politischen Bewegungen ausgetragen wurden. Selbst das Verhalten des engsten sozialen Umfeldes offenbart nach seiner Heimkehr den Prestigeverlust, den der einstige Offizier der deutschen Kaiserarmee erleidet, indem da zu erfahren ist, dass die „Schwestern“ „es Theodor nicht verzeihen“ „konnten“, „daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte“.2 Der Kriegsheimkehrer Lohse, Sohn eines „Bahnzollrevisors und gewesenen Wachtmeisters“, hat sich mangels beruflicher Alternativen als „Hauslehrer beim Juwelier Efrussi“ zu verdingen (4 65). Eine erste Verwirklichung des von materiellen Motiven geprägten Frauentypus stellt die Ehefrau seines Arbeitgebers dar  : „Als Leutnant hätte er sie besessen, alle, auch die junge Frau Efrussi, die zweite Gattin des Juweliers.“ (4  68) Die Möglichkeit eines alternativen Brotberufes tut sich für ihn erst auf, als es über den Mittelsmann Dr. Trebitsch zur Begegnung mit dem Prinzen Heinrich kommt, in dessen „Regiment“ Lohse als „Leutnant“ gedient hat (4  71). Lohse, der nun in eine völkisch-nationale Geheimorganisation eintritt, für die auch Trebitsch arbeitet, hegt sogleich die „gräßlichste[n]“ „Vorstellung, daß kein Entrinnen möglich war und daß er nicht mehr zurückkonnte“, doch wird dem antisemitisch Befangenen so die Genugtuung zuteil, die Stelle bei dem „reiche[n] Jude[n]“ Efrussi kündigen zu können 2 Zitiert wird aus der im Jahr 1994 in der Büchergilde Gutenberg veröffentlichten Roth-Ausgabe, unter Angabe des jeweiligen Bandes dieser sechsbändigen Lizenzedition  ; vgl. Joseph Roth, Band 4  : Romane und Erzählungen. 1916–1929, hg. von Fritz Hackert. In  : Werke. Mit einem Vorwort zur Werkausgabe von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Hg. von dems. und Klaus Westermann. 6 Bde. Frankfurt a. M. [u.a.] 1994, S. 65.



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(4 75). Dass die Beziehung zu einer Spionin, die ihm „Berichte brachte“ und die er „liebte“, damit endet, dass sie „mit seiner Kasse“ „verschwand“ (4 94), stellt keineswegs eine Roth’sche Geschlechtstypologie dar, denn später wird es der Vorgesetzte Trebitsch dieser Figur gleichtun. Seine politische Karriere geht mit einem erheblichen Zugewinn an sozialer Attraktivität einher, doch „gab“ es „keinen so bescheidenen wie Theodor Lohse“, „dem Ruhm, Erfolg und Ehrgeiz nicht Schüchternheit vor den Damen genommen hätten“ (4  130). Dennoch beschäftigt ihn die Möglichkeit der Heirat  : „Er war mehr als dreißig. Im besten Alter für die Ehe. Er hatte eine Zukunft. Eine Frau, die hoch hinauswollte, konnte seinen Ehrgeiz nützlich machen.“ (4 130) Aber erst auf Anraten seines Wegbegleiters, eines gewissen Benjamin Lenz, wird er eine Heirat ins Auge fassen  : „‚Nützen Sie die Konjunktur aus  !‘ […].“ (4 130) Lohse, der eine 26-jährige Frau „aus berühmter Familie, aber ohne Geld“ ehelicht (4 129), handelt in dem rationalen Ansinnen, seine Aussichten auf beruflichen Aufstieg weiter zu verbessern. Schließlich wird Lohse zum „Chef des Sicherheitswesens“ ernannt – es ist dies ein Amt, das „es gar nicht“ „gab“, das eigens für ihn geschaffen wird (4 137). Theodor Lohse „sprach sich hinauf, schon galt er mehr als der Polizeipräsident, mehr als der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, mehr als der Minister“ (4 143). Die Ehefrau sieht in ihm, den „Erwachsenen und Wachsenden“, bereits den „Präsident[en] des Reiches“, den „Platzhalter für den kommenden Kaiser“ (4  144). Im Fall dieses Erstlingsromans ist festzustellen, dass der Frauentypus, der Roths frühe Romane kennzeichnet, bereits in seinen Grundzügen vorliegt  : ein von ökonomischen Überlegungen geleitetes Geschlecht, das den Unsicherheiten wirtschaftlich schwieriger Zeiten die Aussicht auf Versorgungssicherheit entgegensetzt. Lohse als männlicher Geschlechtsvertreter wird dagegen von einer Sehnsucht nach sozialem Aufstieg angetrieben. Diese ­Haltung ist insofern kennzeichnend für das vorexilische Werk, als dessen Männerfiguren den klassischen Lebenszielen der Liebe, Heirat und Fortpflanzung wiederholt Hohn sprechen. Für die Figur des Gabriel Dan, den österreichischen Soldaten der K.-u.-k.Armee, bildet das finanzielle Motiv ebenfalls ein das Leben bestimmendes. Langt der einst nach Sibirien Deportierte doch mit dem Ziel im Hotel Savoy an, von Verwandten „Geldmittel“ zu erhalten, um danach den „Weg nach dem Westen fortzusetzen“ (4 149). Weil der „reiche“ Onkel (4 154) den Hilfesuchenden in Sachen „Reisegeld“ (4 159) abweist, tut sich für ihn die Notwendigkeit einer Arbeitstätigkeit auf. Wie der Weltkriegsveteran Lohse sieht sich auch dieser Heimkehrer mit ökonomischen Schwierigkeiten konfrontiert  – einer

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„schlechte[n] Zeit“, in der das „Geld“ „seinen Wert verloren“ hat (4  225). Schließlich gelingt es Dan, sich als Sekretär des neureichen Bloomfield zu verdingen, eines ehemaligen Sohnes der Stadt, der es in der Neuen Welt zu ungeheurem Reichtum gebracht hat. Dem beschriebenen Ungleichgewicht in Sachen Kapital- und Güter-Verteilung entspricht, dass nicht die Figur des Dan die Varietee-Tänzerin Stasia, die ebenfalls im Hotel Savoy weilt, für sich zu gewinnen vermag, sondern sein Cousin aus wohlhabendem Haus, Alexander Böhlaug. Obwohl ihr Letzterer „unsympathisch“ ist (4  230) und sie nur „auf ein gutes Wort“ von Dan „wartete“ (4  231), fällt die Wahl der einseitig Umworbenen letztlich auf den vermögenden Verwandten. Sein Zögern rechtfertigt Dan mit den wirtschaftlichen Verhältnissen, die sich anscheinend zwangsläufig auf die Partnerwahl der Frauen auswirken  : „Es ist vielleicht nicht mehr an der Zeit, einen armen Gabriel Dan zu lieben […].“ (4 231) Der Typus der nach materieller Absicherung strebenden Frau, deren Handeln auf ökonomischen Implikationen beruht, erfährt in diesem Roman eine ironische Variation. Für den Kriegsinvaliden Andreas Pum aus Die Rebellion ist die finanzielle Frage ebenfalls handlungsbestimmend. Als der Beinamputierte noch im Spital erfährt, dass angeblich „nur“ die einschlägig Erkrankten, die sogenannten „Zitterer“, in Behandlung „bleiben“ und die Regierung „[a]lle[n] anderen“ allenfalls „Geld“ und „vielleicht“ auch eine „Drehorgellizenz“ zubilligen wird, erleidet sein Bild von der gerechten Obrigkeit eine erste Trübung (4 250). Indem es ihm auf wundersame Weise gelingt, vor der medizinischen Kommission zu bestehen  – „Noch ein Zitterer“  –, und der Erhalt einer Drehorgellizenz folgt, bleibt seine Weltsicht jedoch vorerst unangetastet (4  252). Als sich zu dem materiellen Glück alsbald ein zwischenmenschliches in Gestalt der jungen Witwe Katharina Blumich hinzugesellt – eines jedoch, das sich als ein trügerisches herausstellen wird  –, meint der Protagonist ein weiteres „Wunder“-Wirken gegeben (4  267). Denn die Witwe entscheidet sich gegen einen „jugendliche[n]“ und „vom Scheitel bis zur Sohle verführerische[n] Unterinspektor der Polizei“ (4  263) und überraschenderweise für den versehrten Pum. Das Motiv dieser Partnerwahl gründet in der Überzeugung, dass „man“ „[g]egen das Schicksal“ „nichts unternehmen“ „kann“, „man“ „aber den Verstand“ „sprechen lassen“ „muß“  : „Dieser plädierte für einen Mann gesetzten Alters, mit einem körperlichen Mangel womöglich, der das eheliche Glück dennoch nicht verhindern konnte […].“ (4 265) Daneben führt der Erzähler zu deren von Vernunft getragenen Überlegungen aus  : „Dabei spielte der Stand keine Rolle oder nur eine geringe, insofern, als es Frau Blumich praktischer erschien, ein Wesen aus tiefe-



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rer Sphäre zu sich emporzuziehen, als selbst emporgezogen zu werden.“ (4 265) Die Witwe entspricht dem Typus der erfahrenen Frau, die praktische Lebensnähe und rationale Besonnenheit offenbart  – was kennzeichnend ist für das vorexilische Werk –, wenngleich die Inflations- bzw. Deflations-Zeiten jetzt von der Kriegsempirie abgelöst werden. Dadurch geht Pum als Sieger aus einem keineswegs von Romantik, sondern von Pragmatik bestimmten Gedankenspiel zum passenden Lebenspartner hervor. Mit einem öffentlich ausgetragenen Streit und einer anschließenden Handgreiflichkeit gegenüber einem Polizisten bricht allerdings die schicksalhafte Wende an. Als der reumütige Spielmann sich seiner Ehefrau anvertraut, folgt kein tröstender Zuspruch, sondern eine herabwürdigende Behandlung, so dass Pum den wahren Wert der Beziehung zu erkennen hat  : „‚Elender Krüppel  !‘ kreischte sie.“ (4  286) Durch einen Doppelschlag findet sich das Zweifach-Wunder der Arbeit und der Liebe vernichtet – mit der Folge, dass der Pum-Protagonist ernsthaft am Bild eines gerechten Gottes zu zweifeln beginnt. Während der Liebesbegriff romantischer Prägung durch die lebenserfahrene Witwen-Figur nachhaltig unterminiert wird, hängt Pum diesem als Repräsentant des männlichen Geschlechtes dagegen lange Zeit nach. Im Roman Die Flucht ohne Ende geht mit der Entfremdung von der Wiener Heimatstadt und den österreichischen Landen auch ein Verlust des Gefühls gemeinschaftlicher Verbundenheit einher. Das Lebens-Dilemma der H ­ auptfigur ähnelt jenem der übrigen Weltkriegsveteranen. Die österreichisch-ungarische Monarchie war „zerfallen“ und Tunda verlor seine „Heimat“ (4 395). Immerhin meint sich der Offizier noch von seiner Wiener Verlobten erwartet. Obwohl der einstige Lagerinsasse seit Langem „nichts von“ seiner „Braut“ „gehört“ hat – der Tochter des verstorbenen Bleistiftfabrikanten Hartmann –, „zweifelte“ er „nicht“ „daran“, dass „sie ihm treu war“ (4 395). Als Fabrikantentochter aus „verarmte[m]“ Haus fasste sie, wie der Erzähler erklärt, einst deswegen eine Verlobung ins Auge  : „Verlobtsein war beinahe soviel wie Großjährigkeit.“ (4 400) Auch erfolgt eine erzählerische Spekulation zur Fortdauer der vermeintlichen „Liebe“   : „Wahrscheinlich hätte die Liebe, die auf diesem Grunde gewachsen war, die juristische Großjährigkeit, das Kriegsende, die Revolution nicht überdauert, wenn Tunda zurückgekommen wäre.“ (4  400) Die faktische Treue, die nach seinem Verschwinden noch lange Zeit fortbesteht, relativiert sich durch den kommentierenden Zusatz, dass „Verschollene“ einen „unwiderstehlichen Reiz“ auf Frauen ausüben (4  400). Wie im Fall der Witwenfigur ist auch in jenem der Hilde Hartmann zu erfahren, dass die Empirie des Krieges eine Art von Rationalisierung der Lebenshaltung erwirkt  : „Sie gehörte zu der Generation der illu-

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sionslosen großbürgerlichen Mädchen, deren natürlich-romantische Veranlagung der Krieg zerstört hatte.“ (4  400) Die „Frauen dieser Generation“ sind „skeptisch wie nur Frauen, die eine große Erfahrung in der Liebe haben“ (4 400). Bei Tunda stellen sich, trotz seiner Überzeugung von ihrer Treue, zugleich wirklichkeitsnahe Zweifel die eigene soziale Anziehungskraft betreffend ein  : „Daß sie aber aufhören würde, ihn zu lieben, wenn er einmal da war und vor ihr stand, schien ihm ebenso gewiß.“ (4  395) Auf dem Weg zurück in die Heimat, den Tunda sich letztlich anzutreten entschließt, wird der einstige Offizier von zaristischen Truppen aufgegriffen. In der Folge berichtet der Erzähler, wie Tunda durch „Zufall“ zum Revolutionär wird und im russischen Bürgerkrieg „für die Revolution zu kämpfen begann“ (4 401). Tunda als für Ideologien unanfällige Person beginnt zuerst die 23-jährige Natascha Alexandrowna und erst in der Folge die Revolution zu lieben. In ihrer Liebe zu ihm wird seine Partnerin, die Revolutionärin, bis zu einem gewissen Grad auch beeinflusst von einer verborgenen Schwärmerei für das Bürgerliche  : „Tunda war der erste Mann von bürgerlicher Beschaffenheit. Ihn nahm sie sofort.“ (4 402) Natascha ist nicht unerfahren  ; wie die Witwe hat sie – nebst den Kriegserfahrungen – schon eine Ehe vorzuweisen  : „Sie […] hatte sich früh mit einem französischen ParfümerieFabrikanten verheiratet und nach einem Jahr von ihm scheiden lassen.“ (4 402) Ihrerseits kommt es zu einer allmählichen Distanzierung  – denn einerseits „hätte“ die „Liebe“ „zur Folge gehabt“, „daß sie eine Stunde später ihr Tagewerk begonnen hätte“, und andererseits ist zu erfahren  : „Auch langweilte sie Tunda, ein Mann ohne Energie, dessen Rückfälle in die bourgeoise Ideologie allein schon in seiner stärkeren Liebesbereitschaft deutlich wurden.“ (4  409) Durch Tundas Anstellung an einem staatlichen Institut, „dessen Aufgabe es war“, „neue rationale Kulturen zu schaffen“ (4 411), ergibt sich die Bekanntschaft mit der jungen Alja, seiner „zweite[n]“ Exil-„Liebe“ (4 412). Erst als eine Romanze mit einer jungen Französin die Erinnerungen an die Wiener Verlobte wachruft  – „Als mich die Dame ansah, fiel mir Irene ein“ (4  419)  –, spricht der einstige Offizier, mittlerweile „Bürger der Sowjetstaaten, zufriedener Beamter, verheiratet mit einer schweigsamen Frau, wohnhaft in Baku“ (4  416), im österreichischen Konsulat in Moskau vor. In Wien erfährt Tunda, „daß seine Braut geheiratet hatte und wahrscheinlich in Paris lebte“ (4 427). Zugleich bestätigen sich seine Mutmaßungen zur Treue, wenn er hört, dass seine Braut erst vor vier Jahren geheiratet, also eine erheblich lange Zeit auf ihn gewartet habe (4 429). Vorgeblich dient ihm die Verlobte nunmehr als bloße Chiffre für eine noch „unbekannte“ Frau, „die ich liebe und von der ich nicht weiß, wo sie lebt“ (4 461).



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In der Stadt Paris, in der ein unglücklicher Tunda nach Erlösung sucht, werden ihm die ehemalige Verlobte sowie die Geliebte zu „eine[r] Frau, und er liebte sie“ (4  469). Als Tunda seiner Lebensliebe Irene zum ersten Mal nach dem Krieg begegnet, „erkannte“ sie ihn „nicht“, weil eine „Wand“ „in der Tiefe ihres Auges“ „stand“, „eine Wand zwischen Netzhaut und Seele, eine Wand in ihren grauen, kühlen, unwilligen Augen“  : Irene gehörte zur anderen Welt. Sie ging zu den Cardillacs. Sie fuhr mit Fräulein

Pauline nach Dresden. Sie lebte gesund und glücklich, spielte Golf, badete an den

sandigen Ufern der Meere, hatte einen reichen Mann, empfing und gab Gesellschaf-

ten, gehörte Wohltätigkeitsvereinen an und hatte ein gutes Herz. Tunda aber erkannte sie nicht. (4 494)

Irene Hartmann erscheint als ein unversöhnlicher Gegenentwurf zur russischen Revolutionärin. Denn während Irene nach ökonomischem Vorteil strebt, verfolgt die Revolutionärin anders gelagerte Ziele. Dass Tunda, dieses Liebesopfer zweier Frauen, sich im Fall seiner ihm treu ergebenen Ehefrau ebenfalls als Täter verhält, stellt keine textlogische Zufälligkeit dar. Diese ihm angetraute Slawin, die junge Alja, die noch dem romantischen Liebesbegriff anhängt, hat zur Kategorie der unerfahrenen Frau gerechnet zu werden. Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, die in der jungen Republik Österreich herrschten, geht aus Zipper und sein Vater hervor, dass zum einen das Geld „wertlos“ wurde und zum anderen „[e]ine Million junger Männer“ „Arbeit“ „suchte“ (4 533). Zurückgekehrt aus dem verlustreichen Krieg, bemüht sich der orientierungslose Arnold Zipper um seine einstige Jugendliebe Erna Wilder. Für seine inneren Irritationen ist bezeichnend, dass sein Werben erst einsetzt, als ihm der Ich-Erzähler den Rat gibt, doch „eine Frau zu nehmen“ (4 548). Weil Arnold zwar „keine Veranlagung hatte, sich zu verlieben“, sich aber dennoch sogleich im „Zustande“ der „Verliebtheit“ „befinde[t]“ (4  560), folgert der Erzähler, dass er sich „aus Verzweiflung verliebt hatte“ (4 561). Der ökonomische Aspekt spielt bei der Partnerwahl keine Rolle  ; es offenbart sich ein widerwilliges Festhalten an den durch den Vater geschätzten bürgerlichen Gepflogenheiten, und in erster Linie eine Suche nach Sinnerfüllung. Die fast durchgängige Entromantisierung des klassischen Liebesbegriffes, die das Romanwerk kennt, setzt sich somit fort – in Bezug auf eine Weltkriegsempirie, die auch erneut das weibliche Geschlecht umfasst. Ernas Einwilligung in die Heirat ist keineswegs das Ergebnis einer tieferen Verbundenheit mit ihrer Jugendliebe, sondern das eines kühl berech-

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nenden Verhaltens. Arnold soll ihr ein kostenloser „Diener[n]“ „für“ die angestrebte Schauspiel-„Karriere“ sein (4  563). Sowohl Arnolds Ansinnen, seinem Leben neuen Sinn zu geben, als auch Ernas berechnendem Vorgehen liegen ernüchternde Kriegserfahrungen zugrunde. Der alsbald Geehelichten gelingt es, nach ersten Engagements an deutschen Provinzbühnen, beim Film Karriere zu machen. Arnold ist ebenfalls ein berufliches Fortkommen beschieden. Nach der ungeliebten Stelle als kleiner Finanzbeamter, die ihm sein Vater verschafft hat, füllt ihn nun die Tätigkeit als Filmredakteur aus. Arnold, dessen Aufgabe es ist, Ernas Laufbahn journalistisch zu befördern, ist ihr vollends ergeben  : „Er sah nur eine Aufgabe  : seiner Frau nützlich zu sein.“ (4 576) Erst als Erna, die ihn stets auf Distanz hält, einen Reitunfall erleidet und das „Gebrechen“ „nicht“ „heilte“ (4  594), erfährt die Beziehung eine nachhaltige Irritation. Doch Arnold sieht selbst jetzt keinen Grund, sich zu trennen  : „Wir leben wie ein altes Ehepaar.“ (4 595) Schließlich gelangt seine Frau „nach Amerika“, in die bekannten Hollywood Studios, wo sie an ihre Karriere anschließt (4  595). Auch mit Blick auf Ernas emotionale Distanziertheit und ihre andersartige sexuelle Orientierung, die sich erahnen lässt, ist von rationalen Beweggründen zur Unterhaltung der Beziehung auszugehen. Als nach Selbstständigkeit strebende Künstlerpersönlichkeit gehört sie zum Typus der lebenserfahrenen Frau, die berechnend ihre Lebensziele verwirklicht. Mit Arnold wiederum erscheint der Liebesbegriff in einer paradoxalen Dimension. Arnolds antibürgerlicher Attitüde entspricht die Skepsis seiner Ehefrau dem bürgerlichen Frauenbild gegenüber. In Rechts und links weist die Romanhandlung dadurch einen Wirtschaftsbezug auf, dass von einer Hyperinflation die Rede ist, was zur Erfolglosigkeit des von Paul Bernheim betriebenen Bankgeschäftes führt, einer unfreiwilligen Tätigkeit, die dieser nach dem Tod seines vermögenden Vaters ausübt. Neben der Bankierstätigkeit verbindet die beiden eine weitere Gemeinsamkeit. Paul unterhält in jungen Jahren eine Beziehung zur „jungen Frau eines Bezirksrichters“, „deren Bedarf an Jünglingen in dieser nur mittelgroßen Stadt kaum gedeckt werden konnte“ (4  616). Der männliche Trieb, der hierin noch dem jugendlichen Alter zugeordnet ist, erfährt in der Folge eine altersmäßige Erweiterung. Denn sein Vater, „der Stolz des Bürgertums“, „verliebte“ sich „in eine Akrobatin“ (4 618). Das Eros-Motiv drängt weiterhin in den Vordergrund, wenn zu Pauls Berliner Zeit zu erfahren ist, dass die „Frauen, zu denen er Beziehungen hatte“, ihn „nur“ „beschäftigten“, „solange er sich in ihrer Nähe aufhielt“ (4 658). Einzig die junge Schauspielerin Marga, „die ihr Theater auf keinen Fall verlassen wollte“, stellt eine Ausnahme in Form eines Zugeständnisses an die Sozialkon-



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ventionen dar  : „Sie brauchte ihn nur, weil es die Sitte erforderte. Er liebte sie nicht, aber auch ihm befahl die Tradition, eine Freundin zu erhalten. Es erhöhte den gesellschaftlichen und sogar den geschäftlichen Kredit.“ (4  658) Als die Mutter sodann ihrem Sohn, dem Heimkehrer aus dem Krieg, die Möglichkeit einer Heirat zu bedenken gibt, stellt sich mit dem Drang nach sozialer „Größe“ die ernsthafte Absicht einer festen Bindung ein  : „Eine Heirat war ein Weg zur Größe.“ (4  708) Als Bankier, dessen Geschäfte unter den ökonomischen Verhältnissen leiden, zieht es Paul in die höheren „Gesellschaften“ (4 708). Auf einem Kostümfest kommt es zur Begegnung mit einer gewissen Irmgard Enders, die einer Magnatenfamilie aus der Chemieindustrie entstammt. Als Paul ihre Identität entdeckt, verfliegt seine Unbefangenheit sogleich  : „Er fühlte, daß sein Leben von diesem Fräulein abhing und daß er um keinen Preis langweilig erscheinen durfte.“ (4 713) Indem Paul Bernheim „kein anderes Interesse hat, als ‚hinaufzukommen‘“ (4 719), erlangt der ökonomische Aspekt, nun dem männlichen Geschlecht zugeordnet, den bekannten Stellenwert. Die Bankiers-Figur deckt in Liebesdingen eine beachtliche Konzeptionsbreite ab, die vom Eros über soziale Gepflogenheiten bis zur Heirat als soziales Aufstiegsmittel führt. Und auch Irmgard Enders entbehrt eines romantischen Liebesverständnisses. Als sich der Onkel bei seiner Nichte nach ihren Gefühlen erkundigt, knüpft der Autor an die bekannte Motivkette der Unromantik an  : „‚Verliebt  ?  !‘ […]  : ‚Vielleicht nur bereit zu heiraten  !‘“ (4  717) Herr Enders wertet ihre Skepsis als Zeichen der Zeit  : „‚Es freut mich, daß du modern genug bist, die Liebe nicht mit der Ehe zu verwechseln. […]‘“ (4 717) Als sich Paul nicht länger zu seiner Ehefrau hingezogen fühlt, stellt sich eine Affinität für die junge Ukrainerin Lydia Markowna ein, die von Brandeis, dem Ex-Revolutionär und jetzigen Profiteur der Geldwertschwankungen, einst von ihrem Theaterfreund freigekauft wurde („Das Geld bekommen Sie“, 4 703). Zur Ursache ihrer Anziehungskraft auf ihn erklärt der Erzähler einerseits, dass Paul in ihr eine „echte, distinguierte, köstlich fremde Dame“ sieht  : „Man liebt nicht die Frauen, man liebt die Welten, die sie repräsentieren.“ (4 750) Andererseits verachtet er Brandeis’ Besitzansprüche  : „Der fremde Mongole […] besitzt diesen jungen Körper jede Nacht. Denn er betrachtete natürlich den Beischlaf als eine Bestätigung dafür, daß der Mann besaß und die Frau besessen wurde.“ (4 751) Die Liebe erscheint im Fall von Paul als Hülle, die das tatsächliche Handlungsmotiv verbirgt  : „Hier wollte er sich rächen. Da er aber sentimental genug war, sich ohne eine moralische Deckung nicht rächen zu können, hielt er es für notwendig, Lydia zu lieben. Und also liebte er sie.“ (4 752) Der angestrebte Racheakt bleibt unverwirklicht, weil

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die Schauspielerin ihrer Theatertruppe hinterherzureisen beschließt. Inwieweit dem Verhalten von Brandeis, der die „Frau nach östlichen Manieren“ „behandelt“ (4  751), eine ursächliche Bedeutung eingeschrieben ist, bleibt dahingestellt. Diese Frauenfigur  – ebenfalls eine Künstlerpersönlichkeit  –, die sich mit dem Wohlstand nicht abfindet, ist jedenfalls bestrebt, sich eine anti-bürgerliche Existenz zu schaffen. Im Gegensatz zu den bislang besprochenen Romanen scheint mit Der stumme Prophet, Hiob und Radetzkymarsch die ökonomische Not der Protagonisten nicht als Zeichen der Kriegs- bzw. der Nachkriegszeit auf, sondern als Ergeb­nis einer Gelehrten- bzw. tristen Soldatenexistenz  – im ersten Fall des Stummen Propheten fehlt diese sogar weitgehend. In Der stumme Prophet wird anfänglich, wie bereits in Zipper und sein Vater, die der Weltkriegs-Katastrophe vorausgehende Zeit beschrieben. Der in Odessa geborene Friedrich Kargan, der die „Kindheit“ bei einem Onkel „verbrachte“, einem „wohlhabende[n] Kaufmann in Triest“, erlebt als Sympathisant der sozialistischen Idee eine wechselvolle Lebensgeschichte (4 779). Von dem Vorhaben getrieben, sich eine höhere Schulausbildung anzueignen, lernt Kargan in seiner Wiener Zeit eine gewisse Hilde von Maerker kennen. Die Initiative geht von dem mittellosen Protagonisten aus, der von den gesellschaftlichen Vorteilen, die eine Beamten-Familie bietet, profitieren möchte. Deswegen ist bei der Beurteilung der Umstände, unter denen seine Partnerwahl erfolgt, vorrangig das ökonomische Motiv zu berücksichtigen. Als die umworbene Hilde von Maerker einen Brief von Kargan erhält, dessen Inhalt sie mit ihm besprechen möchte, vollzieht sich ein entscheidender Bruch. Der Adressant zerreißt den Brief und verleugnet somit seine Gefühle, die sich mittlerweile eingestellt haben. Einer gemeinsamen Beziehung stehen letztlich seine politischen Ambitionen im Weg, weshalb er später sein Verhalten auch wie folgt erklären wird  : „Warum hat er je daran gezweifelt, daß er sie liebt. Er hat sich geschämt vor seinem Gewissen, vor R., vor seinem Ehrgeiz.“ (4  836) Dass der Revolutionär schließlich den Entschluss fasst, nach Russland zu reisen, führt der Erzähler auf seine Beziehung zu Hilde von Maerker zurück  : „Ich habe den Verdacht, daß Friedrichs freiwillige Fahrt nach Rußland […] die törichte Folge einer törichten Verliebtheit war, die er damals für aussichtslos hielt und deren Wichtigkeit er selbstverständlich übertrieb.“ (4 802) Im Gegensatz zum Vater zeigt Hilde, die „entschlossen“ war, sich „nicht“ der „Ehe auszuliefern“, ein modernes Geschlechterverständnis (4 810)  : „Die Zeit warb hartnäckig für die Freiheit des weiblichen Geschlechts  ; Herr von Maerker, der inzwischen Ministerialrat geworden war und der die

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Unfreiheit des männlichen so genau kannte, keineswegs.“ (4  809) Als Kargan, aus der russischen Verbannung zurückkehrend, einen Aufenthalt in Wien einlegt, um Hilde zu treffen, legt er brieflich ein Liebes-„Bekenntnis“ ab  : „Ich liebe Sie nämlich. Oder, weil ich den Begriffen mißtraue, die uns das bürgerliche Wörterbuch zur Verfügung stellt, und den Worten, die Ihre Gesellschaft so oft mißbraucht hat  : Ich glaube, Sie zu lieben.“ (4 862–863) Wenngleich die klassischen, mit Liebe assoziierten Gefühle tatsächlich vorzuliegen scheinen, werden diese durch die verqueren Umstände abermals hinterfragt. In diesem Brief bekennt sich Kargan auch schonungslos zu seinem originären Handlungsmotiv  : Als ich Sie zum erstenmal im Wagen sah, waren Sie gewissermaßen noch ein Bestandteil des Ziels, das ich noch nicht genau kannte […]. Ich wollte die Macht innerhalb

der Gesellschaft erobern, der Sie angehören. Früher, als ich damals gedacht hätte, hat sich mir die Ohnmacht dieser Gesellschaft enthüllt. (4 863)

Später erfährt Kargan von einem einflussreichen Geschäftsmann, bei dem es sich um Hildes Ehemann handelt, dass diese in der Zwischenzeit „zwei Knaben“ geboren hat (4 910). Deren Zueinanderfinden beschreibt der Erzähler als eines, das nicht zuletzt durch Hildes modernes, aufgeklärtes Geschlechterbild beeinflusst war  : Denn Hilde, die von der Lächerlichkeit der alten Moral ebenso überzeugt war, wie

von ihrer Selbständigkeit, von der Entdeckung, welche die Mädchen der bürgerlichen

Stände während des Krieges gemacht hatten, daß eine Frau über ihren Körper verfü-

gen könne, wie sie wolle, entzückt war, setzte schon der Theorie zuliebe den Forderungen, die Herr Derschatta an eine Sekretärin stellte, keinerlei Widerstand entgegen.

(4 890)

Wie der Erzähler erklärt, möchte sich Hilde, deren Haltung maßgeblich auf ihre Erfahrungen zu Kriegszeiten zurückgeht, damit von dem strengen Wertekorsett der Müttergeneration distanzieren  : „Es war eine Zeit, in der die Frauen, während sie mißbraucht wurden, sich der Einbildung hingaben, sie seien verpflichtet, etwas zu tun, wodurch sie sich von ihren Müttern unterschieden.“ (4 890) Und Herr von Derschatta, zur Heirat gedrängt, willigt einzig deshalb ein, weil es „um jeden Preis“ zu vermeiden gilt, „an der Front“ oder „im Hinterland“ „zu sterben“ (4 891). Hilde „brachte den Vorurteilen ein Opfer, heiratete und tröstete sich mit der Aussicht auf eine freie, moderne Ehe, in der beide Teile machen konnten,

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was sie wollten“ (4 891–892). Erst nach vollzogener Heirat setzt bei Derschatta ein Wandel ein, womit ihm diese mit einem Mal zu einer „heilige[n] Institution“ wird (4 892). Hilde erhält von ihrer „einzige[n] Freundin“ den Rat  : „Sie solle ihren Mann betrügen. Das wäre die einzige Rache.“ (4 892) Hilde von Maerker, die unwillkürlich in dieses Ehebündnis geraten ist, gelangt so zur Gewissheit, dass sie Friedrich Kargan „liebte“  : „Er war der einzige Mensch, dem ich je begegnet bin.“ (4 895) So wird Hilde letztlich den Ausbruch aus dem Großbürgertum wagen. Denn obwohl Kargan „nicht der alte mehr“ ist, was die Beziehung zu der Beamtentochter betrifft, und der Revolutionär „nur noch“ „aus Ritterlichkeit“ mit der einstigen Lebensliebe „spiel[t]“, wie er sich jetzt eingesteht, „war es zwischen ihnen abgemacht, daß Hilde ihren Mann und die Kinder verlassen würde“ (4 925). Auch Kargan erscheint in seinen Empfindungen als Spielball sozialer bzw. beruflicher Nöte, die ihn schwanken lassen in seinen Empfindungen und die im Wechselspiel mit einem aufgeklärten Rollenbild am Ende sogar zur völligen Abstinenz einer von Liebe getragenen Verbundenheit führen. In Hiob stehen die Schicksalsschläge der Familie Singer im Mittelpunkt  – deren Ursachen auch im Weltkrieg begründet liegen – und folglich der Wandel ihres Gottesbildes, der sich vornehmlich am Familienoberhaupt, am gläubigen Bibellehrer Mendel Singer darstellt. Bezüglich des weiblichen Rollenbildes, das sich in diesem Glaubensroman manifestiert, ist das Verhalten der Tochter Mirjam anzuführen  : „Sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen […].“ (5 51) Mirjam Singer tritt als Apologetin eines erotischen Sensualismus auf, die ähnlich einem „Schmetterling“ „in die Richtung“ der „Kaserne“ „flatterte“, in der ihre geliebten Soldaten kaserniert sind (5 62). Der Handlung des Romans Radetzkymarsch liegt hauptmotivisch eine fiktive Lebensrettung zugrunde, die anlässlich der Schlacht von Solferino im Jahr 1859 den österreichischen Kaiser vor dem sicheren Tod bewahrt. Im Handlungsverlauf wird die Sinnhaftigkeit dieser Rettungsmaßnahme, die in einem Krieg erfolgte, mit dem sich der Zerfall der Donaumonarchie frühzeitig abzuzeichnen begann, ad absurdum geführt. Während der Held, wegen der heroischen Verklärung seiner Tat aus dem Militär ausgetreten, dem eigenen Sohn verbietet, eine Karriere beim Militär einzuschlagen, besteht dieser Nachfahre wiederum – nun selbst Vater und Bezirkshauptmann  – auf einer militärischen Laufbahn des Enkels des Retters. Für diesen Leutnant spielen die Frauenbekanntschaften nur eine untergeordnete Rolle. Was seine jungen Jahre betrifft, ist eine tragisch endende Affäre mit der Frau des Wachtmeisters Slama zu nennen. Dabei tritt die



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Ehefrau als reife Verführerin auf, vom Interesse am anderen Geschlecht geleitet  : „Auf einmal lagen ihre beiden schimmernden Ärmel an seinem Hals, und ihr Gesicht lastete auf seinen Haaren.“ (5  166) Weiterhin ist von Inbesitznahme und Überwältigung die Rede  : „Wie ein ohnmächtig Gefesselter sah er zwischen halb geschlossenen Lidern, daß sie ihn entkleidete, langsam, gründlich und mütterlich.“ (5  167) Damit nimmt eine Liebesbeziehung nach romantischem Verständnis ihren Anfang, wie die Reaktion des Enkels auf den unerwarteten Tod der Geliebten belegt  : „Vor ihm lag also ein langes Leben voller Trauer.“ (5 173) Bezüglich des Eros ist auch ein Gespräch zwischen Doktor Demant und seinem Schwiegervater aufschlussreich, in dem Letzterer ihn vor der Gefahr von Affären warnt  : „Ich kenne meine Tochter  ! Du kennst deine Frau nicht  ! Die Herren Leutnants kenn’ ich auch  ! Und überhaupt die Männer  !“ (5 214) Als er seine Frau mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Affäre mit Trotta zu unterhalten, bezeichnet ihm die Beschuldigte schonungslos offen ihre gefühlsmäßige Gleichgültigkeit  : Jetzt saß sie, den Oberkörper in den Hüften verrenkt, ein lebloses Wesen, Modell aus

Wachs und seidener Wäsche. […] Und mit einer tiefen Stimme, die er niemals von ihr

vernommen zu haben glaubte und die ebenfalls ein Mechanismus in ihrer Brust hervorzubringen schien, sagte sie ganz langsam  : „Ich vermisse dich nie  !“ (5 217)

Auf die große Ernüchterung folgt für den Arzt die Selbsterkenntnis  : „Er liebte sie nicht mehr […].“ (5  218) Späterhin erweist sich die verwitwete Frau Demant tatsächlich als Verführerin, wie Trotta zu erkennen hat  : „Wie der gefährliche Befehlshaber all der Kissen und Polster sah sie aus.“ (5  249) Über den gesellschaftlichen Umgang mit aristokratischen Frauen, die durch erotische Umtriebigkeit gegen die Standesgepflogenheiten verstoßen, ist durch den Erzähler zu erfahren  : Die Zeit war damals strenge, wie man weiß. Aber sie erkannte Ausnahmen an und

liebte sie sogar. Es war einer jener wenigen aristokratischen Grundsätze, denen zufolge […] die Frauen in einer überlieferten Moral lebten, aber diese und jene Frau

lieben durfte wie ein Kavallerieoffizier. (5 316)

Laut dem Erzähler waren das „Grundsätze“, „die man heute ‚verlogene‘ nennt, weil wir soviel unerbittlicher sind“, was für einen aufklärerischen Umgang mit dem Eros spricht (5 316). Die nachfolgende Beziehung zu Frau von Taußig, die

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den Anlass für diesen Kommentar bildet, wird aus der Sicht des Enkels wie folgt wahrgenommen  : „[…] wer ihn liebte, mußte ihn ganz lieben, ehrlich und bis in den Tod, wie die arme Katharina. Und wer weiß, wie viele Männer dieser schönen Frau einfielen, während sie ihn ganz allein zu lieben glaubte oder zu lieben vorgab  ?  !“ (5  324) Mit den späten vorexilischen Romanen zeichnet sich eine Tendenz ab, die die Frau zur Verführerin werden lässt  ; der Enkel stellt mit seinen Treuebezeugungen den romantischen Gegenentwurf dar.

3.

Joseph Roth verbrachte einen Großteil seiner Exilzeit, die sich von 1933 bis 1939 erstreckte, in Paris. Als erstes im Exil entstandenes Werk ist sein TarabasRoman zu nennen. Im Unterschied zum ersten, politisch geprägten Werkabschnitt liegt im späteren Werk einer der Schwerpunkte auf der GlaubensIdeologie, so dass das Weltkriegs-Ereignis allmählich aus dem Motivzentrum rückt. Die Figur des Nikolaus Tarabas lernt nach revolutionärem Aufbegehren und anschließender Flucht nach New York „ein Mädchen aus Nischnij Nowgorod“ kennen, das der junge Ukrainer „liebte“ „wie seine verlorene Heimat“ (5  482). Bei Ausbruch des Weltkrieges kehrt Tarabas in seine Heimat zurück, um im Rang als „russischer Leutnant der Reserve“ (5 492) in der Zarenarmee zu kämpfen. Zu seiner Kusine Maria, zu der sich ein intimes Verhältnis entspinnt, spricht Tarabas noch die vereinnahmenden Worte  : „‚Du gehörst mir  !‘ […] ‚wir heiraten, bis ich zurückkomme. Du bist treu. Du siehst keinen Mann an. Leb wohl  !‘“ (5 500) Tarabas dagegen sieht sich keineswegs an eine derartige Treuepflicht gebunden (vgl. 5 502). Als Tarabas nach längerer Wanderschaft im elterlichen Hof einkehrt, und zwar unerkannt, erzählt ihm einer der Diener von Marias Verbleib  : „Jetzt ist sie in Deutschland. Sie ist mit so einem Deutschen mitgezogen, man sagt, er hat sie geheiratet, aber ich glaub’ es nicht.“ (5 613) Die weitere Rede des Dieners lautet  : „‚[…] Dieses Fräulein Maria hat den Krieg genossen, sagt man. Nun, der deutsche Herr wird es auch gemerkt haben …‘“ (5  613) Vordergründig verstärkt sich der Eindruck der lebenslustigen Geschlechter und hintergründig der Aspekt der De-Romantisierung. Im Roman Die Hundert Tage steht einerseits die höhere Form der Liebe des Kaisers Napoleon zu seiner Heimat im Mittelpunkt, andererseits die profane zur leiblichen Mutter, die sich gegen Handlungsende im christlichen Glaubenskleid



Der Erste Weltkrieg und das Geschlechterverhältnis in Joseph Roths Romanen |

präsentiert. Der Kaiser selbst wird abgöttisch, doch platonisch, von der jungen Hofbediensteten Angelina Pietri geliebt. Als es zur Begegnung mit einem Wachtmeister kommt, hat sich Pietri diesem als „[s]chicksal“-haft empfundenen Ereignis zu fügen  : „Sie nahm ihn hin und erkannte ihn an, wie man ein Schicksal hinnimmt.“ (5  741) Pietri führt ihre Passivität auf patriarchale Strukturen zurück  : „Obwohl sie das Gefühl hatte, daß er allein der Anlaß ihrer schwersten Sünden war, schien es ihr dennoch, als sei es noch mehr Sünde, ihm zu widerstehen […].“ (5 741) Später ist diese der Meinung, sich „fortgegeben“ zu haben „wie einen beliebigen Gegenstand“ (5  749). Mit jener korsischen Bediensteten liegt eine Frauenfigur vor, die zwar der physischen Stärke wie der sozialen Stellung eines männlichen Geschlechtsvertreters unterliegt, dabei jedoch stets eine romantische Verbundenheit mit dem unerreichbaren Napoleon wahrt. Ihr Sohn, der in der Schlacht von Waterloo fällt, nimmt als Spross des Wachtmeisters und als Soldat des Kaisers eine Art von Mittelstellung ein. Dem Liebesbetrug in Beichte eines Mörders liegt erneut keine ideologische Verquerung zugrunde, sondern eine individuelle Identitätsproblematik. Semjon Golubtschiks leiblicher Vater, ein Adeliger, der ihn außerehelich gezeugt hat, als Kind aber nie offiziell anerkennt, entledigt sich seiner Verpflichtungen durch die Schenkung eines kostbaren Gegenstandes. Weil der junge Fürst in der Vergangenheit einige der Dosen dem Vater entwendete, gerät der Beschenkte in ein schiefes Licht. Nachdem man Golubtschik wegen des angeblichen Diebstahls verhaftet hat, um den wahren Täter zu schützen, beginnt er für die Ochrana, den zaristischen Geheimdienst, zu arbeiten. Spätestens jetzt hat sich seine Antipathie für den angeblichen Halbbruder, der in Wirklichkeit der „Sohn des Grafen P.“ ist (6 35), in Hass gewandelt. Im Rahmen seiner Spitzeltätigkeit verliebt sich Golubtschik in ein französisches Model, das der Entourage eines Pariser Modeschöpfers angehört. Als Golubtschik die angebetete Lutetia bei Intimitäten mit seinem falschen Bruder Krapotkin beobachtet, fällt der Gekränkte bereits jenes Todesurteil, das er erst geraume Zeit später vollstrecken wird  : „Im Namen des [‚sittlichen‘] Gesetzes sprach ich mein Urteil  : Es lautete auf Tod.“ (6 63) Daraufhin wird Golubtschik von seinem Arbeitgeber wohl ein Pass auf den ersehnten Namen Krapotkin ausgestellt, doch seine Identitätsprobleme sind damit keineswegs behoben – im Gegenteil. Als Golubtschik seinen Dienst am neuen Arbeitsort Paris antritt, verstärkt sich seine Liebesskepsis noch  : „In jenem Augenblick fühlte ich undeutlich, daß ich Lutetia eigentlich gar nicht aus Liebe gefolgt war und daß ich mir nur zu meiner Rechtfertigung eine starke Leidenschaft eingebildet hatte […].“ (6  76) Die verborgenen Motive werden

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durch Golubtschik schonungslos bloßgelegt  : „In Wirklichkeit hatte ich mich darein verbissen, Lutetia zu besitzen, wie ich versessen war, nicht mehr Golubtschik zu sein.“ (6  76) Die Liebe erscheint als Mittel zum Zweck, als bloßer Teilaspekt der Grundmotivation. Die Beziehung zu dem Model gewinnt an Intimität, als Golubtschik der „[K]äuflich[en]“ (6 104) – „sie hatte sich mir […] angeboten“ (6 84) – einen aufwändigen Lebenswandel ermöglicht  : „Ach, meine Freunde, es ist besser, sich einem erklärten Feind auszuliefern, als eine Frau wissen zu lassen, daß man sie liebt.“ (6 56) Die weitere Handlung führt zu dem vermeintlichen Mord, den Golubtschik an seiner Geliebten und ihrem Liebhaber – dem falschen Halbbruder – begeht, die von ihm in flagranti ertappt werden. Die Tat vollzieht sich vor dem Hintergrund der wandelbaren Identitäten. Golubtschiks Geliebte, das Model, entspricht durchaus dem weiblichen Triebtypus. Zwar nimmt sie seine verschwenderischen Geschenke dankend an, doch ist das für sie kein Hinderungsgrund, erotischen Reiz auch außerhalb ihrer Zweckgemeinschaft zu suchen – bei dem wohlhabenden Jungfürsten. Im Roman Das falsche Gewicht wird die scheiternde Ehe des Eichmeisters Anselm Eibenschütz beschrieben und somit die unglückliche Liebesbeziehung zu Euphemia, der „Zigeunerin“ (6  148). Der Lebensmittelpunkt des österreichisch-ungarischen Staatsbeamten lag ursprünglich in Mähren. Erst auf Betreiben seiner Ehefrau fasste der Unteroffizier eine Tätigkeit als „staatliche[r] Eichmeister“ im „fernen Osten der Monarchie“ ins Auge (6 131). Nicht Liebe bildete das Motiv der Heirat, sondern deren Zweckmäßigkeit gab den Ausschlag  : „Also hatte auch der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheiratet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können.“ (6 130) Seine Frau, die als „gleichgültige“ die Beidseitigkeit der Liebesabsenz verdeutlicht, wurde vormals durch Eibenschütz’ Uniformierung in den Bann gezogen  : „In seine Uniform hatte sie sich dereinst verliebt  – fünf Jahre war es im ganzen her.“ (6 131) In der neuen, fremden Umgebung hat ein der „Liebe und Zutraulichkeit“ bedürftiger Eibenschütz zu erkennen, „daß nichts davon“ „zu Hause“ „vorhanden“ war (6  135). Außerdem tritt das Unglück eines ehelichen Zerwürfnisses hinzu, das dadurch entsteht, dass seine Ehefrau von seinem Kanzleischreiber schwanger wird. Eibenschütz verliebt sich daraufhin in Euphemia Nikitsch, eine junge „Zigeunerin“ aus Bessarabien  : „Bieder und einfach, wie er war […], erlebte er die erste Leidenschaft seines Lebens gründlich […].“ (6 183) Ihr Verhältnis zu Eibenschütz, den die Behörde zum Verwalter der Grenzschenke bestellt, beschreibt der Erzähler wie folgt  : „In Wahrheit liebte sie ihn. Sie liebte auch das Geld, die Sicherheit, die Schenke, den Laden, der an sie angeschlossen



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war […].“ (6  172) Diese Figur entspricht insofern Roths standardmäßigem Frauentypus, als auch Euphemia Nikitsch im Bann von Macht und Geld steht. Dass Nikitsch einen „Geliebte[n]“ hat (6  184), den Maronibrater Sameschkin, der jeden Herbst in die Gegend kommt, stellt sich für Eibenschütz als schmerzliche Gewissheit heraus. Der „[n]och“ „junge[r]“ Eibenschütz, in dem die „Sehnsucht nach einem Menschen“ „glühte“, verfällt als Zweifachopfer der Frauen allmählich dem Alkohol (6 204). Die unglückliche Liebe zu der Fremden endet für den Eichmeister tödlich, als ihn der Besitzer der Grenzschenke, Leibusch Jadlowker, mit einem Stein niederstreckt. Wiewohl sich das Verhalten der Euphemia Nikitsch auch von lebensfaktischen Gegebenheiten ableitet  – „das Geld, die Sicherheit, die Schenke, den Laden“ –, dominiert ihre romantische Verbundenheit mit dem zeitweilig fernen Geliebten. Die Ehefrau dagegen stellt eine Apologetin erotischer Lebenslust dar, wie sie bei Roth typisch ist für den Exil-Roman. In Die Kapuzinergruft zeichnen sich der Zerfall des Habsburgerreiches und das Erstarken des Nationalsozialismus ab. Der Roman stellt eine Fortsetzung des Radetzkymarsches dar, mit der nun der Wiener Zweig des Trotta-Geschlechtes beschrieben wird. Wenn mit Roths bekanntestem Roman sich die Schlussfolgerung aufdrängt, dass jenes Geschlecht mit dem Tod des Bezirkshauptmannes und seines Sohnes sein Ende findet, erfährt man jetzt von einer weiteren Linie, deren jüngster Spross die Protagonistenrolle einnimmt. Seine wechselvolle Liebe zu der 19-jährigen Elisabeth Kovacs, der Schwester eines Freundes, bildet dabei das Hauptmotiv. Zur Haltung seiner Generation in Liebesdingen erklärt Franz Ferdinand Trotta, der „in der fröhlichen, ja ausgelassenen Gesellschaft junger Aristokraten“ „lebte“ (6 233)  : „Ich kämpfte lange Zeit vergebens gegen diese Liebe, nicht so sehr deshalb, weil ich mich gefährdet glaubte, sondern weil ich den stillen Spott meiner skeptischen Freunde fürchtete.“ (6 236) Eine weitere Erklärung ist dem Verfall der bürgerlichen Sitten gewidmet  : „Es war damals, kurz vor dem großen Kriege, ein höhnischer Hochmut in Schwung, ein eitles Bekenntnis zur sogenannten ‚Dekadenz‘, zu einer halb gespielten und outrierten Müdigkeit und einer Gelangweiltheit ohne Grund.“ (6 236) Auch zu dem Zeitpunkt, als der Krieg ausbricht, überwiegt bei Trotta nicht Liebes-, sondern Kriegslust  : „In Wirklichkeit lag es in meiner Absicht, Elisabeth und meine Wiener Freunde und meine Mutter zu vergessen und mich […] der nächsten Station des Todes auszuliefern, nämlich dem Ergänzungsbezirkskommando Zloczow.“ (6 262) Hinter der hastig vollzogenen Heirat macht der Ich-Erzähler folgendes Motiv aus  : „Sie machte uns den Tod, den wir zwar fürchteten, aber

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jedenfalls einer lebenslänglichen Bindung vorzogen, weniger gefährlich und häßlich.“ (6 268) Als Trotta nach dem Ende des Krieges zurückkehrt, lebt seine Frau in einer Partnerschaft mit einer vorgeblichen Kunstprofessorin  : „‚Das ist mein Mann  !‘ sagte Elisabeth.“ (6 302) Das Selbstverständnis dieses Frauenpaares beschreibt Trotta voller Ironie  : „Ich war ein lächerliches Ding in ihren Augen, Sohn eines kümmerlichen Geschlechts, einer fremden, geringgeschätzten Rasse […].“ (6  307) Trotta, der seine Frau zurückgewinnen möchte, stellt folgende Spekulation zur eigenen Motivation an  : Vielleicht war’s mein Verlangen, das törichte Verlangen aller jungen und jugendlichen

Männer, die Frau, die sie einmal geliebt, später vergessen haben und die sich verändert hat, um jeden Preis noch einmal zurückzuverwandeln  ; aus Eigensucht. (6 304)

Dem Protagonisten gelingt es, Elisabeth ein zweites Mal zu erobern  : „‚Ich liebe dich  !‘ sagte sie.“ (6  328) Nach der Geburt eines Sohnes kommt es allerdings zum endgültigen Bruch  : „Es stellte sich heraus, daß Elisabeth absolut keine Mutter bleiben wollte   ; sie wollte unbedingt eine Schauspielerin werden.“ (6  338–339) Mit dieser Geschichte verliert der einstige Soldat der K.-u.-k.Armee, der sich in der neuen Nachkriegs-Wirklichkeit nicht zurechtfindet, seine Lebensliebe noch ein zweites Mal  – dem bürgerlichen Verständnis der Geschlechterrollen gemäß, infolge einer neumodischen Karriereabsicht. Auch viele der Erzählungen zeigen sich von Liebes- bzw. Geschlechterfragen bestimmt. Mit der Erzählung April, dieser Geschichte einer Liebe, die der Untertitel verheißt, kommt dem ökonomischen Aspekt dadurch eine tragende Rolle zu, dass der Protagonist in den nördlichen Teil der Neuen Welt immigriert. Angesichts der parabolischen Bedeutung, die sich mit der Liebe zu einem geheimnisvollen Mädchen entspinnt  – als sentimentale Verbundenheit mit dem Heimatkontinent Europa (nicht von ungefähr entwickelt sich diese auf der Abschiedsreise) –, ist von einem den amerikanischen Kontinent im Gesamten umfassenden Vorstellungskomplex auszugehen, der geografischen Fokussierung auf Nordamerika zum Trotz. Die Frauenfiguren entbehren aufgrund ihrer metanarrativen Funktion weitgehend des Roth’schen Geschlechterbildes. Im kleinen Roman Der blinde Spiegel lebt eine junge Stenotypistin namens Fini, als eines von drei Kindern, ein finanziell bescheidenes und der dominanten Mutter gegenüber emotional distanziertes Leben. Fini, die körperlich reift und erste Liebschaften knüpft, macht weder die Liebe zu einem Maler noch die zu einem Musiker glücklich, ebenso wenig die spätere zu Rabold, dem politischen



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Redner. Der Romantik-Aspekt, der an diese junge Erwachsenen-Figur gebunden ist, bewirkt eine Verstärkung des Werkmotivs der naiven Unbedarftheit. In der Erzählung Stationschef Fallmerayer wird die Liebe zwischen einem österreichischen Bahnbeamten und einer russischen Adeligen beschrieben. Damit erlangt eine kulturelle Divergenz im weiteren Sinn Bedeutung, die im Gegensatz zum vorexilischen Werk nunmehr nicht länger ideologisch verhandelt wird. Das Verhängnis des Krieges wird von Adam Fallmerayer keineswegs als Bedrohung wahrgenommen, sondern als Chance, die Bekanntschaft zur verehrten Gräfin zu vertiefen. In seiner Obsession stattet der Offizier – als er in der Nähe ihrer Besitzungen stationiert ist – der Verehrten einen Besuch ab. Weil der Ehemann der Gräfin in der russischen Armee kämpft, stellt sich tatsächlich die erhoffte Zweisamkeit ein. Nach der Flucht des österreichisch-russischen Liebespaares nach Monte Carlo – inzwischen haben die Bolschewiken die Macht ergriffen – taucht eines Tages der in Vergessenheit geratene Ehemann auf. Als sich die Geliebte letztlich für den Versehrten entscheidet, findet diese transnationale Liebesbeziehung ein jähes Ende. In der Erzählung Triumph der Schönheit erinnert sich ein Kurarzt an einen Diplomaten, dessen Privatleben durch den Weltkrieg eine entscheidende Störung erfuhr. Als der Krieg überstanden ist, „kam [s]ein Freund zurück, immer noch verliebt und wie jeder verliebte Mann überzeugt, daß ihm seine Frau die Treue gehalten habe“ (V 646). Allzu bald findet er jedoch „erdrückende[n] Beweise“ für eheliche Untreue, woraufhin die Betroffene „in Zuckungen“ „verfiel“ (V 648). Gleichwohl stellt sich der Heimgekehrte in den Dienst der unerwartet erkrankten Frau. Diese gesundet nach dem Selbstmord des Mannes schlagartig und heiratet erneut, wie der Arzt „[e]ines Tages“ in Paris in Erfahrung bringt, in „eine[m] der vielen nächtlichen Lokale auf dem Montmartre“  : „Im Arm eines glattgekämmten, ölig-schwarzhaarigen Gigolos tanzte sie einen sogenannten Java.“ (V  653) Dass die anfänglich in Liebesdingen unerfahrene Ehefrau mit dem Tod des Gatten nun materiell abgesichert ist, schafft erst die Möglichkeit dafür, den Eros ungezügelt leben zu können.

4.

Joseph Roths Rollenbilder zeigen Tendenzen, die das vorexilische vom exilischen Romanwerk unterscheiden. In der Zeit, die vor der Emigration lag, dominierte der Typus der lebenserfahrenen Frau bzw. des orientierungslosen

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­ eteranen. Bei den Frauenfiguren zeigt sich die Kriegsempirie wiederholt als V Nähr­ boden einer lebensnahen Pragmatik. In den Exil-Romanen dagegen herrscht beim weiblichen Geschlecht das Eros-Motiv und damit der Typus der lebenslüsternen Verführerin vor. Beim männlichen Geschlecht verstärkt sich nun die Rolle des selbstkritischen Kommentators, sofern von der Liebe und den zugrunde liegenden Motiven die Rede geht. Durchkreuzt wird der moderne, aufklärerische Liebesbegriff immer wieder von Figuren, die sich der Dekonstruktion der klassischen Definition entziehen. Der autobiografische Abgleich legt die Annahme nahe, dass das „Gefühl der Verlassenheit“, das sich mit der Erkrankung seiner Frau Friederike einstellte und mittels „Alkohol“ und „erotische[r] Beziehungen“ kompensiert werden sollte, letztlich auch Eingang in Roths Erzählkunst fand.3 Dadurch erscheint der Wandel von der Rationalität zur Lüsternheit, der anhand der Frauenfiguren zu beobachten ist, zugleich als Spiegelbild der lebensgeschichtlichen Zäsuren, zu denen letztlich auch seine Vertreibung aus dem vertrauten Kulturkreis zu zählen ist.4

Literaturverzeichnis Bronsen, David  : Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 1993. Cziffra, Géza von  : Der heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth. Frankfurt a. M. [u.a.] 1989. Roth, Joseph  : Werke. Mit einem Vorwort zur Werkausgabe von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. 6 Bde. Frankfurt a. M. [u.a.] 1994. Sternburg, Wilhelm von  : Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 2009. Wimmer, Gernot  : Das „uralte“ jüdische „Gespenst“ als Unheilbringer und Christenschänder. Imagologische Chimäre und repressiver Gewaltreflex in Joseph Roths Tarabas-Roman. In  : Täter und Opfer. Verbrechen und Stigma im europäisch-jüdischen Kontext. Hg. von Claudia  S. Dorchain und Tommaso Speccher. Würzburg 2014, S. 177–197. 3 Vgl. Wilhelm von Sternburg  : Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 2009, S. 379. 4 Siehe zum politisch-ideologischen Wandel Roths den Aufsatz des Vf.: Das „uralte“ jüdische „Gespenst“ als Unheilbringer und Christenschänder. Imagologische Chimäre und repressiver Gewaltreflex in Joseph Roths Tarabas-Roman. In  : Täter und Opfer. Verbrechen und Stigma im europäisch-jüdischen Kontext. Hg. von Claudia S. Dorchain und Tommaso Speccher. Würzburg 2014, S. 177–197.

Tomislav Zelić

Über die Ursprünge des Ersten Weltkriegs in Hermann Brochs Schlafwandler-Romantrilogie und anderen Schriften

Der australische Historiker Christopher Clark veröffentlichte im Vorfeld des hundertjährigen Andenkens an den Kriegsausbruch einen Bestseller,1 in dem er die Sicherheits- und Bündnispolitik der europäischen Großmächte seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert, die geschichtlichen Ereignisse auf dem Balkan sowie die Ereignisse der Julikrise von 1914 untersucht. Insbesondere die Kriegsschuldfrage unterzieht Clark einer Neubewertung. Aus seiner Analyse leitet er die Schlussfolgerung ab, dass das Deutsche Kaiserreich nicht die Alleinverantwortung trage. Mit schlafwandlerischer Sicherheit spazierte man demnach lange Zeit auf einem Drahtseil, bis das Gleichgewicht der Mächte aus der Balance geriet und aus den bündnispolitischen Verbindlichkeiten die folgenschweren Kriegserklärungen resultierten. Clark sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass er mit seinen als neu angepriesenen Antworten dem historischen Revisionismus das Wort rede. Schon der Buchtitel lässt sich ebenso eindeutig wie irreführend auf den österreichischen Romancier Hermann Broch beziehen, der unter dem lebhaften Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 seine gleichnamige Romantrilogie verfasste. Im Anschluss an Broch geht es Clark darum, zu veranschaulichen, dass der Kriegsausbruch keineswegs die unausweichliche Folge einer Reihe von Entscheidungen war, die von verschiedenen Haupt- und Nebenakteuren getroffen wurden. Clarks Kritikern zufolge verdeutliche auch der romanhafte Stil seiner historiographischen Darstellungstechnik, dass es sich um Geschichtsklitterung handle. Im Gegensatz dazu gestaltete Broch seine Romantrilogie teils narrativ konkreter, teils essayistisch abstrakter.

1 Christopher Clark  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013.

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1. Narration und Essayismus

Neben der erzählerischen Darstellung des titelgebenden Somnambulismus bei Broch erörtert der fortlaufende Essay über den „Zerfall der Werte“ die Genealo­ gie des Ersten Weltkrieges in einem ideen- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Damit rückt die Kriegsschuldfrage in den Hintergrund, und stattdessen stehen die veränderten Bedingungen der Moderne, die sich seit der Renaissance, dem Humanismus und der Reformation ergaben, im Vordergrund. Der hier verwendete Begriff der Genealogie geht auf Nietzsche und Foucault zurück und bezeichnet nicht die herkömmliche Erforschung von Ursachen im Sinn der historisch-kritischen Quellenforschung, sondern die ideologiekritische Entlarvung von Phänomenen, die durch fiktionale, imaginative und spekulative Ableitungen aus der Gesellschafts- und Kulturgeschichte entstehen. Dadurch soll die Plausibilität herkömmlicher wie neuartiger Darstellungen hinterfragt werden. Die epistemologischen Vorteile liegen auf der Hand. Denn die tagespolitischen Ursachen geraten hiermit aus dem Blick. Die Kriegsschulddebatte ist dabei nur das einfachste Muster. Der essayistische Roman schärft stattdessen, frei nach Robert Musil, den ‚Möglichkeitssinn‘ einer am Kontrafaktischen orientierten Historiographie, die unter der Leitfrage steht, was gewesen wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Allgemein betrachtet ist die Erzählung eine Form der Darstellung, die der Wiedergabe von Handlung dient. Das Erzeugnis von solchen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen ist eine Geschichte oder Narration (lat. narratio, engl. story), die der Bekanntmachung von unbekannten Erlebnissen und Erfahrungen dient. Sie ist eine Äußerung mit Inhalt, Form und Botschaft. Die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen Roman und Essay bestehen darin, dass der Roman berichtend erzählt und der Essay gedanklich erörtert, dass der Roman eine fiktionale Erzählung beinhaltet, während der Essay nichtfiktionale Erörterungen in sich birgt. Damit schließen sich Roman und Essay strenggenommen aus. Der Roman verzichtet, auktoriale Kommentare über die Handlung und Figuren einmal ausgenommen, weitgehend auf Argumentation, auf gewichtende Begründungen, und erhebt auch keinen streng wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch. Der Essay dagegen beinhaltet argumentative Strukturen, die allerdings insofern keine streng wissenschaftlichen sind, als dieser auf die strikte Einhaltung einer Methodik und Systematik entweder verzichtet oder sie vernachlässigt. Im Vordergrund stehen experimentelle Denkversuche und nicht die methodisch-­ systematische Entfaltung von Gedanken. Mit seiner dialektischen Spontaneität



Über die Ursprünge des Ersten Weltkriegs in Hermann Brochs Schlafwandler-Romantrilogie |

und Eigenlogik verbindet der Essay einen antidogmatischen Skeptizismus mit einem apodiktischen Subjektivismus. Die unbefangenen Deutungen und Urteile, die dem Leser oft zufällig erscheinen mögen, entfalten ihre Überzeugungskraft durch klare Formen und einen einprägsamen Stil. Mit dem Einzug des sogenannten Essayismus in die erzählende Prosa des Romans und dem Eingang der Fabel in den Essay bildet die SchlafwandlerTrilogie vor allem im dritten Teil eine Mischgattung. Die fiktiven Geschichten innerhalb der Essayfolge veranschaulichen die Erörterungen zu den Ursachen des Wertezerfalls, während die Essayfolge mit ihrer allgemeinen Zeitdiagnose die fiktionale Handlung definitorisch auf den Punkt bringt. Mit dem wechselseitigen Ineinandergreifen von Narration und Essayismus vollzieht sich mittels der Romantrilogie ‚performativ‘ das, was sie ‚konstativ‘ zum Ausdruck zu bringen beabsichtigt. Was die narrative Struktur der Romantrilogie betrifft, herrscht eine M ­ ischung der Gattungen vor. Diese umfasst die drei Grundgattungen der Literatur  : Epik, Lyrik und Drama. So wird die fortlaufende „Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin“ im dritten Roman teils in Versform vorgetragen.2 Ebendort findet sich auch ein dramatischer Text mit dem Titel „Das Symposion oder Gespräch über die Erlösung“, worin die drei Protagonisten gemeinsam in einem Theaterstück auftreten.3 Unter Verwendung von verschiedenen Gebrauchstexten bedient sich Broch zudem der Montage-, Collage- und Simultantechnik. Darunter finden sich Auszüge aus dem Geschäftsvertrag zwischen Esch und Huguenau4 sowie aus dem Leitartikel, den Pasenow in Eschs „Kurtrierschen Boten“ vom 1. Juni 1918 drucken lässt.5 Außerdem herrscht Stilvielfalt bzw. „Stilagglomeration“, von der Broch in „James Joyce und die Gegenwart“ spricht.6 Diese reicht vom psychologischen Realismus über den Expressionismus bis zur Neuen Sachlichkeit. Solch eine stilistische Vielfalt, die eine entsprechende „Beherrschung“ der „äs­the­tische[n] Ausdrucksmittel“ voraussetzt, wie Broch in seinem Joyce-Porträt

2 Vgl. Hermann Broch, Band 1  : Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1980, S. 600. 3 Siehe ebenda, S. 551–559. 4 Siehe ebenda, S. 457–460. 5 Siehe ebenda, S. 466–470. 6 Vgl. Hermann Broch, Band 9.1  : Schriften zur Literatur 1. Kritik. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1975, S. 71.

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formuliert, galt diesem Autor als unabdingbar.7 Darüber hinaus belegen die selbstreflexiven und dissoziativen Schreibverfahren ein geistiges Naheverhältnis zu Psychoanalyse und Relativitätstheorie. Der Beobachter beeinflusse, so Broch, stets seine eigene Wahrnehmung, ganz gleich, ob er sich selbst, andere Menschen oder bestimmte Sachverhalte betrachtet.8 Dies gilt nicht nur für das personale Erzählverhalten, in Weiterentwicklung der erlebten Rede, sondern ebenso für den bereits erwähnten Essayismus. Die Eckdaten 1888, 1903 und 1918 der drei Romantitel markieren als Schlüsseljahre der Herrschaftszeit Wilhelms  II. die Verschärfungen der politischen Krise, die in drei Zeitschüben zur Katastrophe führten. Im Dreikaiserjahr 1888 bestieg Wilhelm II. den Kaiserthron, nachdem sein Großvater und Vater innerhalb von 99 Tagen gestorben waren. 1903 erfolgte angesichts der Balkankrise die Annäherung zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits sowie zwischen Österreich und Russland andererseits. 1918 endete der Große Krieg und das Wilhelminische Reich brach zusammen. Im ersten Roman über den Major von Pasenow, der den Titel „1888 – Pasenow oder die Romantik“ trägt, überwiegt der psychologische Realismus und Naturalismus, unter Dominanz der auktorialen Erzählerinstanz. Im zweiten Roman „1903  – Esch oder die Anarchie“ findet sich bereits eine anspruchsvolle Mischung aus den herkömmlichen Erzählverfahren, samt der poetischen Bibelkontrafaktur aus der Apostelgeschichte als „Technik des Leitmotivs“.9 Im dritten Romanteil „1918  – Huguenau oder die Sachlichkeit“ erfolgt zunächst eine partielle Ersetzung der herkömmlichen berichtenden Erzählung durch die gedanklichen Erörterungen aus dem Essay über den „Zerfall der Werte“, was schließlich in ein Ineinandergreifen von sachlichem Erzählerbericht und essayistischem Erzählerkommentar mündet.

2. Krisendiskurs

Brochs Romantrilogie und einige essayistische Begleitschriften greifen Topoi des modernen Krisendiskurses auf, der sich im deutschen Kultur- und Sprachraum seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts ausbildete. Vor allem der Essay 7 Vgl. ebenda, S. 87. 8 Siehe ebenda, S. 76–77. 9 Vgl. ebenda, S. 72.



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über den „Zerfall der Werte“ enthält eine allgemeine Gesellschafts- und Kulturgeschichte in Gestalt einer historisch-ideologiekritischen Genealogie, die an Schopenhauers pessimistische Lebensphilosophie und Nietzsches DekadenzKritik anschließt. Ausnahmslos alle Haupt- und Nebenfiguren erleiden in Brochs Roman auf die eine oder andere Art individuelle wie existentielle Krisen. Unter letztere fallen normative Wertkrisen, die durch den strukturellen Wandel der Gesellschaft hin zur differenzierten Gesellschaft entstehen. Alte Obrigkeitsmächte wie Staat und Kirche sowie gesellschaftliche Einrichtungen wie Ehe und Familie verlieren als Punkte der Lebensorientierung in der Moderne an Bedeutung, was vor allem der erste Romanteil eindringlich vorführt. Gleichzeitig zu nennen sind auch die systemischen Steuerungskrisen, die im Zuge der funktionalen Differenzierung in den Gesellschaftsbereichen entstehen. Dabei handelt es sich um das, was im Sinn der kritischen Theorie der Frankfurter Schule als instrumentelle Vernunft und Zweckrationalität bezeichnet wird und zunächst vor allem in Wirtschaft, Recht und Politik aufscheint, indem Vernunft in Unvernunft und Rationalität in Irrationalität umschlagen. Außerdem sind die epistemischen, ästhetischen und poetischen Krisen, verstanden als Sprach-, Wissens- und Erzählkrisen, zu nennen. Von dem allgegenwärtigen Krisendiskurs bleiben Wissenschaft, Kunst und Literatur nicht verschont. Bis zum Ausbruch des Weltkrieges galten Krisen als Übergangskrisen. Danach änderte sich das schlagartig. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 erscheinen die Krisen bei Broch als chronische, langfristige, sich wiederholende und beschleunigende Dauerkrisen. Die gesellschafts- und kulturgeschichtliche Essayfolge über den „Zerfall der Werte“ trägt, unter dem Eindruck des Krieges stehend, zunächst symptomatische Beobachtungen vor und erkennt „Kriegsmüdigkeit“ sowie auch „echte Kriegs- und Schießbegeisterung“.10 Daran schließt eine Reihe rhetorischer Fragen an, die unter anderem subjektive, objektive und absolute Ironien beinhalten  : […] wie kann der Mensch, all dieser Werte Schöpfer und ihrer teilhaftig, wie kann er die Ideologie des Krieges „begreifen“, widerspruchslos sie empfangen und billigen  ?

wie konnte er das Gewehr zur Hand nehmen, wie konnte er in den Schützengraben

ziehen, um darin umzukommen oder um daraus wieder zu seiner gewohnten Arbeit

zurückzukehren, ohne wahnsinnig zu werden  ? Wie ist solche Wandelbarkeit mög-

10 Vgl. Broch (1980), Bd. 1, S. 419.

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lich  ? wie konnte die Ideologie des Krieges in diesen Menschen überhaupt Platz finden, wie konnten diese Menschen eine solche Ideologie und deren Wirklichkeitssphäre überhaupt begreifen   ? von einer, dabei durchaus möglichen, begeisterten

Bejahung ganz zu schweigen  ! sind sie wahnsinnig, weil sie nicht wahnsinnig wurden  ?11

Daraufhin trägt Broch, der Essayautor, den Grundgedanken über den „Zerfall der Werte“ vor  : „[…] es ist eine Zerspaltung des Gesamtlebens und -Erlebens, die viel tiefer reicht als eine Scheidung nach Einzelindividuen, eine Zerspaltung, die in das Einzelindividuum und in seine einheitliche Wirklichkeit selber hinablangt.“12 Die hierfür verantwortliche Desintegration der traditionellen Gemeinschaft in der Frühneuzeit steht im dialektischen Spannungsfeld von Aufbau und Zerfall, Fortschritt und Rückschritt, Evolution und Dekadenz. Im Zentrum steht die horizontale, vertikale und funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft. Der Klassiker der Soziologie von Georg Simmel führte den Begriff der ‚socialen Differenzierung‘ bereits 1890 ein.13 Die horizontale Aufgliederung umfasst die berufliche Arbeitsteilung, die sich im Zuge der Bürokratisierung, Industrialisierung und Professionalisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt hat. Die vertikale Differenzierung beinhaltet Machtstrukturen, Herrschafts- und Entscheidungsgewalt sowie soziale Klassen oder Schichten. Die funktionale Ausdifferenzierung wiederum bezeichnet die gesellschaftlichen Teilbereiche, die unter der Herrschaft der instrumentellen Rationalität stehen. Die Gesellschaft löste sich in spezielle Bereiche auf, die eine eigenständige Logik entwickelten. Daraus folgte die Einrichtung von operativ geschlossenen Gesellschaftssystemen, die nach immanenten Grundsätzen wie Profit, Gesetzeskonformität oder Macht funktionieren.14 Im dritten Teil der Romantrilogie vertritt Broch die darüber hinausgehende Einsicht, dass jedes der gesellschaftlichen „Wertgebiete“15 einen Anspruch auf Totalität und Universalität erhebe. Denn Autonomie, Axiomatik und Logik der einzelnen Wertgebiete verabsolutieren sich bis zur absoluten Souveränität, das heißt, sie verstoßen paradoxerweise gegen ihre eigenen Regeln  :

11 Ebenda, S. 420. 12 Ebenda. 13 Georg Simmel  : Über sociale Differenzierung. Leipzig 1890. 14 Siehe Niklas Luhmann  : Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. 15 Vgl. Broch (1980), Bd. 1, S. 498.

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Zur Logik des Soldaten gehört es, dem Feind eine Handgranate zwischen die Beine zu schmeißen  ;

zur Logik des Militärs gehört es überhaupt, die militärischen Machtmittel mit

äußerster Konsequenz und Radikalität auszunützen und wenn es nottut, Völker auszurotten, Kathedralen niederzulegen, Krankenhäuser und Operationssäle zu beschie-

ßen  ;

zur Logik des Wirtschaftsführers gehört es, die wirtschaftlichen Mittel mit äußers-

ter Konsequenz und Absolutheit auszunützen und, unter Vernichtung aller Konkur-

renz, dem eigenen Wirtschaftsobjekt, sei es nun ein Geschäft, eine Fabrik, ein Konzern

oder sonst irgendein ökonomischer Körper, zur alleinigen Domination zu verhelfen  ;

zur Logik des Malers gehört es, die malerischen Prinzipien mit äußerster Konse-

quenz und Radikalität bis zum Ende zu führen, auf die Gefahr hin, daß ein völlig esoterisches, nur mehr dem Produzenten verständliches Gebilde entstehe  ;

zur Logik des Revolutionärs gehört es, den revolutionären Elan mit äußerster

Konsequenz und Radikalität bis zur Statuierung einer Revolution an sich vorwärtszutreiben, wie es überhaupt zur Logik des politischen Menschen gehört, das politische

Ziel zur absoluten Diktatur zu bringen  ;

zur Logik des bürgerlichen Faiseurs gehört es, mit absoluter Konsequenz und

Radikalität den Leitspruch des Enrichissez-vous in Geltung zu setzen  : auf diese

Weise, in solch absoluter Konsequenz und Radikalität entstand die Weltleistung des

Abendlandes – um an dieser Absolutheit, die sich selbst aufhebt, ad absurdum geführt

zu werden  : Krieg ist Krieg, l’art pour l’art, in der Politik gibt es keine Bedenken, Ge-

schäft ist Geschäft –, dies alles besagt das nämliche, dies ist alles von der nämlichen

aggressiven Radikalität, ist von jener unheimlichen, ich möchte fast sagen, metaphysischen Rücksichtslosigkeit, ist von jener auf die Sache und nur auf die Sache gerich-

teten grausamen Logizität, die nicht nach rechts, nicht nach links schaut, – oh, dies

alles ist der Denkstil dieser Zeit  !16

Infolge der radikalen Umwälzungen seit der Frühneuzeit sowie der zahlreichen Revolutionen „war die Bindung der einzelnen Wertgebiete an einen Zentralwert mit einem Schlage unmöglich geworden“  : […] mitleidlos durchdringt das Abstrakte die Logik jedes einzelnen Wertschaffens,

und ihre Inhaltsentblößung verbietet nicht nur jegliche Abweichung von der Zweck-

form […], sondern sie radikalisiert auch die einzelnen Wertgebiete so sehr, daß diese, 16 Ebenda, S. 495–496.

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auf sich selbst gestellt und ins Absolute verwiesen, voneinander sich trennen, sich

parallelisieren und, unfähig einen gemeinsamen Wertkörper zu bilden, paritätisch

werden,  – gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines „Geschäftemachens an sich“ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein

militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes au-

tonom, jedes „an sich“, ein jedes in seiner Autonomie „entfesselt“, ein jedes bemüht,

mit aller Radikalität seiner Logik die letzten Konsequenzen zu ziehen und die eige-

nen Rekorde zu brechen. Und wehe, wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält, emporwachsend

über allen anderen Werten, emporgewachsen wie das Militärische jetzt im Kriege oder

wie das ökonomische Weltbild, dem sogar der Krieg untertan ist,  – wehe  ! denn es

umfaßt die Welt, es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschre-

ckenschwarm, der über ein Feld zieht.17

Mit der Idee einer zügellosen Vernunft, die über die Grenze der Unvernunft führt, nimmt der Essayautor den ideologiekritischen Hauptgedanken der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vorweg, demzufolge die instrumentelle Rationalität in absurde Irrationalität umschlage  :18 […] die autonom gewordene Vernunft ist radikal böse, sie hebt die Logizität des

Systems und damit dieses selber auf  ; sie leitet seinen Zerfall und seine endgültige

Zersplitterung ein. […] am Ende dieses Prozesses steht neben einer entfesselten autonomen Vernunft ein entfesseltes autonomes irrationales Leben.19

Das Umschlagen der Rationalität der differenzierten modernen Gesellschaft in die individuelle und kollektive Irrationalität kulminierte demnach im Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit der vom Romanautor Hermann Broch vorgeschobenen Erzählerfigur Dr. phil. Bertrand Müller, die nicht nur als fiktiver Autor der Essayfolge über den „Zerfall der Werte“ im dritten Romanteil, sondern als Verfasser der gesamten Romantrilogie gelten darf, tritt die in der Essayfolge behandelte ­„ Zerspaltung unsere[r] Seele“ zutage  :20 „Letzte Zerspaltungseinheit im Wertzerfall ist das 17 Ebenda, S. 498. 18 Siehe Max Horkheimer und Theodor W. Adorno  : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1989. 19 Broch (1980), Bd. 1, S. 691. 20 Vgl. ebenda, S. 421.



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menschliche Individuum.“21 Seine Anamnese mündet schließlich in eine Kritik an der Individualisierung und Differenzierung in der modernen Gesellschaft, die unter der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft und Zweckrationalität stehe. Den Grundgedanken zum Wertezerfall veranschaulicht der fiktive Autor nicht nur mit drei Exkursen zu Logik, Geschichte und Erkenntnistheorie, sondern auch durch Überlegungen zur zeitgenössischen Architektur, bildenden Kunst und Dichtung. Die Krise in den Bereichen der Künste sei der sinnfälligste Ausdruck für die soziale und kulturelle Gesamtkrise  – den „Ungeist dieser Unzeit“.22 Dabei lautet die Hauptthese, dass die ästhetische Moderne durch die Unfähigkeit zur Ausbildung eines eigenen Stils gekennzeichnet sei. Im Gegensatz zum europäischen Barock, wo es augenfällig anders gewesen sei, herrsche in der Gegenwart „Ornamentfreiheit“.23 Dahingestellt bleibt, ob der fiktive Autor mit diesem Urteil einem habsburgischen Mythos betreffend den europäischen Barock zum Opfer fällt. Er sieht diesen Sachverhalt jedenfalls insbesondere durch die moderne Architektur im Anschluss an Adolf Loos und das Weimarer Bauhaus bestätigt, wobei er die zeitgenössischen Bauten in Berlin und Weimar vor Augen hat, die einen funktionalistischen und eklektizistischen Baustil, einen „Maschinen-, Kanonen- und Eisenbetonstil“ vorwiesen  :24 so etwa das Warenkaufhaus Wertheim auf der Leipziger Straße in Berlin, 1906 erbaut nach den Entwürfen von Alfred Messel.

3. Die Romankrise

Die Romankunst bleibt von der Krise nicht verschont.25 Erich Maria Remarques vorgeblich pazifistischer Antikriegsroman Im Westen nichts Neues (1928/29) enthält zwar im poetologisch-programmatischen Sinn der Neuen Sachlichkeit genaue Beschreibungen in leichtverständlicher Sprache, wirkt aber mit seiner 21 Ebenda, S. 692. 22 Vgl. ebenda, S. 437. 23 Vgl. ebenda, S. 463. 24 Vgl. ebenda, S. 436. 25 Die Romankrise wird nicht nur in Essays, sondern ebenso in Romanen behandelt, so etwa in James Joyces Ulysees, Thomas Manns Der Zauberberg, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz sowie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften  ; vgl. hierzu Helmuth Kiesel  : Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 315–320. – Die bisher einzige und nach wie vor einschlägige Monographie hierzu stammt von  : Dietrich Scheunemann  : Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978.

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einfachen Botschaft und naiven Wirkungsabsicht plakativ. Es ist fraglich, ob es ihm gelingt, die Gefahren der ästhetischen Aufwertung von Gewalt und Krieg zu vermeiden. An die Darstellung der Kriegserlebnisse und ihrer Auswirkungen auf die Psyche der Soldaten, die einen desillusionierenden Wert in sich birgt, ist nämlich keineswegs eine pazifistische Zukunftsperspektive geknüpft. Der Roman richtet sich zwar gegen das falsche Pathos des Expressionismus, bleibt jedoch vage, was die Begründung dieser Geisteshaltung betrifft. So wird die Frage nach den Ursachen für den Kriegsausbruch vollständig ausgeblendet, von einzelnen Stellen abgesehen, an der die Soldaten diesbezüglich Stellung beziehen. Dass für den Ich-Erzähler und die Leserschaft diese Frage offen bleibt, verringert die gesellschafts- und kulturgeschichtliche Erkenntnisleistung deutlich. Unter dem Eindruck der Dynamisierung der Zeitgeschichte, die mit der Gründerzeit einsetzte und bis in die Zeit nach den beiden Weltkriegen fortdauerte, lasse sich Walter Benjamin zufolge nicht nur nicht mehr auf herkömmliche Weise von den krisenhaften und katastrophalen Erfahrungen erzählen, sondern ihm zufolge herrsche eine allgemeine erzählerische Unfähigkeit vor.26 Der moderne Romancier stehe nämlich, so Theodor W. Adorno in Anlehnung an Benjamin, vor einer „Krisis der literarischen Gegenständlichkeit“  :27 „[…] es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt.“28 Gleichzeitig erfordern die normativen Wertkrisen und systemischen Steuerungskrisen eine Darstellung als gedankliche Erörterung, wie die Essayfolge über den „Zerfall der Werte“ in der Romantrilogie eindrucksvoll vorführt. Der Wandel der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit erforderte neue Gestaltungsformen. Broch fordert die Überwindung der konventionellen Illusionstechnik. Der moderne Roman verbindet nun den mimetischen Weltbezug im Sinne des Realismus und Naturalismus mit dem poetischen Selbstbezug der Allegorie. Der „Hypernaturalismus“ oder „erweiterte[r] Naturalismus“, den die moderne Romankunst kennt, verwendet das „Realitätsvokabular“,29 um die „eigene[n] Syntax und Logik“ durch poetische Komposition umzuschreiben.30 26 Siehe Walter Benjamin, Band 2  : Die Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz. In  : Angelus Novus = Ausgewählte Schriften. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1966, S. 437–443. 27 Vgl. den Aufsatz „Der Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“  : Theodor W. Adorno, Band 11  : Noten zur Literatur. In  : Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1997, S. 42. 28 Ebenda, S. 41. 29 Vgl. Hermann Broch, Band 9.2  : Schriften zur Literatur 2. Theorie. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1981, S. 105. 30 Vgl. ebenda, S. 106.



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Die neuartige „Syntax“, „Logik“ und „Architektur“31 des modernen Romans folgt aus der Desintegration des Realismus und mündet in eine höhere Einheit und Totalität, nämlich die der poetischen Allegorie. Auf dem literarischen Feld setzt Broch damit ins Werk, was Pablo Picasso mit der Gegenstandslosigkeit und Abstraktion in der Malerei und Arnold Schönberg mit der Atonalität in der Musik gelang.32 Somit darf der Essayismus als der stillose Stil und das ornamentfreie Ornament des Romans gelten.33 Broch versteht seine Romantrilogie als Symptom der Gegenwartskrise und zugleich als deren Therapeutikum. Bei der Frage nach der Art der therapeutischen Intervention und der Prognostik ist der fiktive Autor zurückhaltender als der reale Autor in seinen essayistischen Schriften, sofern es um die kulturelle Funktion der Romankunst geht.

4. Autonomie und Funktion

Der essayistische Roman in der Zwittergestalt von Erzählung und Erörterung ist eine Allegorese der Welt sowie „eine Allegorie zweiter und dritter Potenz“,34 ist nicht nur Dichtung der Welt, sondern ebenso Dichtung der Dichtung. Broch zufolge hat die Romankunst in Krisenzeiten eine eminent wichtige Leistung zu erbringen. Diese ist die Antwort auf die wissenschaftliche Erkenntniskrise, die Broch in der Vorherrschaft des logischen Positivismus in der zeitgenössischen Philosophie ausmachte. Der Wiener Kreis um Moritz Schlick und Rudolf Carnap grenzte Metaphysik, Ethik und Ästhetik strikt aus dem Zuständigkeitsbereich der Philosophie aus. Jenem Vakuum ausgesetzt, wies Broch als „ein sich in die Literatur verirrter Philosoph“35 der modernen Romankunst eine metaphysisch-kognitive wie psychoanalytisch-therapeutische Funktion zu. Mit ihren „polyhistorische[n] Tendenzen“ könne diese „die Nachfolgeschaft der Philosophie an[zu]treten“, wie Broch in „Über die Grundlagen des Romans Die Schlafwandler“ erklärt.36 Die metaphysisch-kognitive Funktion besteht darin, dass die Totalität der Welt, der Kulturepoche und des Zeitgeistes durch den Zusammenschluss der 31 Vgl. ebenda. 32 Siehe Broch (1975), Bd. 9.1, S. 79–83. 33 Vgl. Paul M. Lützeler  : Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs. Würzburg 2000, S. 40. 34 Vgl. Broch (1975), Bd. 9.1, S. 73. 35 Vgl. Paul M. Lützeler  : Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1988, S. 111. 36 Vgl. Broch (1980), Bd. 1, S. 732.

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pluralistischen Weltbilder in ein universales Weltbild, das unter der Herrschaft der platonischen Idee des Guten steht, hergestellt wird. Und die psychoanalytisch-­ therapeutische Funktion besteht in der religionsähnlichen Wirkung, die sich mit der Rückverzauberung der entzauberten Welt oder mit der innerweltlichen Erlösung von der Gesellschaft im Medium der Fiktionalität zeigt.37 Anthropologisch betrachtet, erfülle Dichtung, so Broch in seinem Joyce-Essay, das ethische und metaphysische Erkenntnisbedürfnis des Menschen. A ­ ngesichts der zeitgenössischen Unordnung stelle sie für den Menschen „den Keim zu einer neuen religiösen Ordnung“ dar.38 In einem Radiovortrag von 1933 über „Die Kunst am Ende einer Kultur“ ging es Broch bereits um „die Wiedergewinnung der religiösen Haltung in ihrer ganzen gemeinschaftsbindenden Strenge und in ihrer ganzen ideellen Einheitlichkeit“.39 Das allein ermögliche die „Angst­ befreiung“.40 Gegen die unlösbare Dauerkrise der katastrophalen M ­ oderne mit ihrem universellen Wertezerfall und ihrer Pluralität der Weltbilder setzt die moderne Romankunst ihren ästhetischen Schwerpunkt auf eine „neue[n] Einheit des Weltbilds“.41 Zwar geht es um eine rein ästhetische Vertröstung als Lösung, die aber nicht in Form einer ästhetizistischen Kunstreligion nach dem Beispiel des George-Kreises erfolgt. Derartige antimoderne Versuche der Entdifferenzierung übersehen nämlich, dass ein symbolisch generalisierter Gesamtsinn aus dem Bereich der Religion und der Moral in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft entbehrlich ist.42 Broch möchte den Weltsinn poetisch und ästhetisch wiedergewinnen. Damit überantwortet er Kunst und Dichtung kulturelle Aufgaben, die kaum zu leisten sind.

5. Schlussfolgerung

Im Lichte von Brochs ideologiekritischer Genealogie besehen, erscheint der Erste Weltkrieg, die sogenannte ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘, nicht länger als unausweichliche Folge der internationalen Sicherheits- und Bündnispolitik, der 37 Siehe Niklas Luhmann  : Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2008. 38 Vgl. Broch (1975), Bd. 9.1, S. 91. 39 Vgl. Hermann Broch, Band 10.1  : Philosophische Schriften 1. Kritik. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1977, S. 57. 40 Vgl. Broch (1981), Bd. 9.2, S. 111. 41 Vgl. ebenda, S. 117. 42 Siehe Luhmann (2008).



Über die Ursprünge des Ersten Weltkriegs in Hermann Brochs Schlafwandler-Romantrilogie |

Balkankrise sowie des tödlichen Attentats auf den österreichischen Thronfolger. Die Anlagen liegen dagegen, genealogisch und ideologiekritisch gewendet, in der Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Moderne begründet, wie Broch in seiner Romantrilogie und anderen Schriften darlegt. Die Weltwirtschaftskrise erscheint demnach als vorläufiger Höhepunkt in der Zerfallsgeschichte der europäischen Kultur, die erst in der frühen Neuzeit einsetzte. Die Krisenzeit am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurde von einer ganzen Generation als willkommener Kairos gefeiert, der jedoch unvermittelt in eine Katastrophe von bis dahin ungekanntem Ausmaß führte. Brochs Romankonzeption lässt bereits die Grundlinien der Führerideologie erkennen, die sich Faschismus, Bolschewismus und nicht zuletzt Nationalsozialismus binnen kürzester Zeit angeeignet hatten.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W., Band 11  : Noten zur Literatur. In  : Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1997. Benjamin, Walter, Band 2  : Die Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz. In  : Angelus Novus = Ausgewählte Schriften. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1966. Broch, Hermann  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul  M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1976 ff. Band 1  : Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Frankfurt a. M. 1980. Band 9.1  : Schriften zur Literatur 1. Frankfurt a. M. 1975. Band 9.2  : Schriften zur Literatur 2. Frankfurt a. M. 1981. Band 10.1  : Philosophische Schriften 1. Frankfurt a. M. 1977. Clark, Christopher  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno  : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1989. Kiesel, Helmuth  : Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Luhmann, Niklas  : Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. Luhmann, Niklas  : Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2008. Lützeler, Paul  M.: Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs. Würzburg 2000. Lützeler, Paul M.: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1988. Scheunemann, Dietrich  : Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978. Simmel, Georg  : Über sociale Differenzierung. Leipzig 1890.

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Der Große Krieg und das moderne deutsche Gedächtnis

Da die Gesamtheit der deutschsprachigen Literatur, die in den Dekaden nach 1914 geschrieben wurde, notwendigerweise unter dem Einfluss des Großen Krieges zu stehen hatte, wurde der Horror, die Verzweiflung und der zweifelhafte Ruhm dieses Ereignisses entweder reflektiert oder einfach verdrängt. In diesem Essay werden aus der Vielzahl an Kriegsschriften jene herausgegriffen, die sich explizit auf die Fronterfahrung der Soldaten beziehen, zusammen mit anderen Arten von Schriften, in denen eine unmittelbare Beziehung zum Großen Krieg besteht.1 Die allgemeine Reaktion auf den Ausbruch des Krieges, die in den deutschen und österreichischen Großstädten zu beobachten war, zeichnete sich auf den öffentlichen Plätzen durch sich Bahn brechende Stürme der Begeisterung aus. Diese entsprangen Menschenmassen, die so groß waren, dass sie die Kraft besaßen, alle Beobachter in ihren Bann zu ziehen. Franz Kafka wurde 1914 hineingespült in die Menschenansammlungen auf den Straßen von Prag, der damaligen Hauptstadt der Böhmischen Kronländer. Was Kafka bestaunen konnte, war der Gemeinschaftsgeist, das Gefühl der Zusammengehörigkeit  – und weniger der Inhalt des großen Aufschreis. Der Sommer dieses Jahres war in ganz Zentraleuropa ein bemerkenswerter, ein in der jüngeren Vergangenheit unvergleichlich schöner gewesen  ; und so ist es denkbar, dass, wenn das Wetter schlechter gewesen wäre, es nie zur Verderbnis des Krieges gekommen wäre. Dieser Kriegsenthusiasmus steht in mehreren Essays von Robert Musil im Mittelpunkt. Im September 1914, einen Monat nach der deutschen Invasion in Belgien, veröffentlichte er das Essay „Europäertum, Krieg, Deutschtum“, dem enthusiastische Essays von anderen prominenten deutschen Autoren beigestellt waren.2 1 Dieser Aufsatz des Vf. erschien in englischer Fassung unter dem Titel „The Great War and Modern German Memory“  ; Vincent Sherry (Hg.)  : The Cambridge Companion to the Literature of the First World War. Cambridge [u.a.] 2005, S. 191–216. – Die deutsche Fassung besorgte Gernot Wimmer, der Mitherausgeber des vorliegenden Bandes. 2 Robert Musil  : Europäertum, Krieg, Deutschtum. In  : Die Neue Rundschau 25 (1914), Heft 9, S. 1303–1305.

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Musils Stimmung tritt darin als eine ekstatische in Erscheinung. Was den heutigen Leser daran überrascht, ist die Beschreibung einer feindseligen Haltung  – „der phantastische Ausbruch des Hasses wider uns und Neides ohne unsre Schuld“ –, die eine wertmäßige Herabsetzung von allem Deutschen meinte – „Weltbild, […] inneres Gleichgewicht, […] Vorstellung von menschlichen Dingen“.3 Die damalige Stimmung war eine der nationalen Verängstigung, durch die jeder Moment des Lebens, jedes zukünftige Vorhaben von der Feindseligkeit anderer Völker überschattet schien. Als Deutschland sich im Krieg befand, waren neue Tugenden zum Leben erwacht – Tugenden, die beinahe unbekannt waren in der deutschen Literatur der vorangegangenen fünfzig Jahre  : „Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit“.4 Dass diese Eigenschaften in der modernen Literatur lange Zeit unberücksichtigt blieben, war nicht allein die Schuld der Schriftsteller, schreibt Musil, der diesen Umstand wie folgt begründet  : „denn wir haben nicht gewußt, wie schön und brüderlich der Krieg ist“.5 In einem gewissen Sinn unterschied sich die moderne Kultur gar nicht grundlegend von dieser neuen Kriegskultur, fährt Musil fort, indem ihr Ziel immer das „Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener, eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen“ war.6 Spätestens jetzt, da diese Aggression in Erscheinung getreten war, wurde offenbar, dass die deutsche ­Kultur von jeher inspiriert wurde durch den „gleichen kriegerischen und erobernden Geist […], den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen“.7 Deutschland hatte laut Musil lediglich reagiert auf „eine Verschwörung […], in der unsre Ausrottung beschlossen worden war“,8 indem es ein außergewöhnliches Maß an Zusammenhalt und Inbrunst offenbarte. Dies sind die dominierenden Leitlinien in diesem Beispiel für eine „höhere“ deutsche Lesart des Krieges, das aus dem Jahr 1914 stammt. Musil folgert  : […] neues Gefühl [wurde] geboren […], und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns

das Herz aus den Händen […]. […] und doch fühlen wir […], wie wir von einer

3 Vgl. Robert Musil, Band 8  : Essays und Reden. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. 9 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1020. 4 Vgl. ebenda, S. 1020. 5 Vgl. ebenda. 6 Vgl. ebenda, S. 1021. 7 Vgl. ebenda. 8 Vgl. ebenda.



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unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der Einzelne plötz-

lich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen.

Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß wach  ; […] ein Glück […]

über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude. Der Tod hat keine Schre-

cken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren

Besitz opfern, haben das Leben und sind reich  : das ist heute keine Übertreibung,

sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Ur-

macht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.9

Anhand derartiger Schriften wird ersichtlich werden, welcher Stellenwert dem einstigen Moment der Euphorie in den Jahren nach der Niederlage zukam. Wir wissen, dass der Krieg für Deutschland entsetzlich endete. Wenn man bei der Suche nach den Gründen für die Niederlage die rechtsextremen Agitatoren der Weimarer Republik zu Wort kommen lässt  – nicht zuletzt Ludendorff, einen führenden Kopf der Obersten Heeresleitung  –, dann sieht man sich mit der Legende vom ‚tödlichen Stoß in den eigenen Rücken‘ (Dolchstoßlegende) konfrontiert, von einer heimtückischen Tat, die angeblich von Sozialisten, Pazifisten und jüdischen Profiteuren ausgeführt wurde. Selbst wenn man glaubwürdigeren Historikern Glauben schenkt, sieht man sich mit diesem Terminus nach wie vor konfrontiert, etwa im Fall des Revisionisten Niall Ferguson, der noch zur Jahrtausendwende von einem ‚Stoß in die Front‘ spricht, der ihm zufolge allerdings die Folge eines unentschuldbaren Defätismus von Ludendorff und der Obersten Heeresleitung gewesen sei.10 Den Versuch, den beinahe göttlichen Moment nationalen Zusammenhaltes in all seiner Kraft zu konservieren, einen Rausch kollektiver Verbindung, zeigt auch Musils Nachkriegsessay „Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit“ von 1921. Niemals wird er darin müde, diesen Moment zu beschwören. Dieser könne nicht als illusionär abgetan werden, als Begleiterscheinung von „Mas­sen­ suggestion[en]“.11 Denn wenn eine Ordnung zerbricht, zerbricht sie vollständig, der eigenen „ungewollten vernachlässigten Spannungen“ wegen  : Dieser explosive Aufschwung, mit dem sich der Mensch befreite und, in der Luft

fliegend, sich mit seinesgleichen fand, war die Absage an das bürgerliche Leben, der

9 Ebenda, S. 1021–1022. 10 Vgl. Niall Ferguson  : The Pity of War. Explaining World War I. New York 1999, S. 314. 11 Vgl. Musil (1978), Bd. 8, S. 1061.

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Wille lieber zur Unordnung als zur alten Ordnung, der Sprung ins Abenteuer, mochte es noch so moralische Namen erhalten.12

In einem Essay, das aus dem September des Jahres 1914 stammt, trat Musil noch für Tugenden ein, die ganz im Einklang mit dem bürgerlichen Leben standen. Die Überzeugung, Krieg im Interesse der Nation zu führen, war bei ihm von jeher eine naturwüchsige Kraft  ; aber jetzt zeigte sich eine Bewegung a contrario  : die bedingungslose Flucht vor dem Frieden. Und nur bei oberflächlicher Betrachtung entstammte der deutsche Kriegsenthusiasmus dem Hass, der vonseiten der Feinde auf das Deutsche Reich einwirkte. Dieser Enthusiasmus war eine Kraft, die zur (kreativen) Selbstzerstörung führte. Musils Deutung des einstigen Kollektivmomentes ergibt Sinn, wenn sie als eine Vision vom Zerfall verstanden wird, der sich in Musils Der Mann ohne Eigenschaften dann tatsächlich realisierte. In seinem großen unvollendeten Roman (1930–1932) fuhr Musil mit der Beschreibung der grundsätzlichen Stimmungslage und der Vorkriegs-Malaise in Österreich-Ungarn fort. Das eindrucksvollste ideologische Traktat, das zu Zeiten des Großen Krieges aus den Nationalliteraturen hervorging, ist allerdings Thomas Manns kunstvoll verschleierte Verteidigung Deutschlands. Seine umfangreichen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die Mann 1915 zu schreiben begann, verfasste er in einem Zustand beachtlicher Gemütserregung. Dabei handelt es sich um eine Rechtfertigung der Gründe, die Deutschland zum Krieg bewogen, sowie auch der Ereignisse des Jahres 1917 – obgleich die Deutschen zwei Jahre zuvor mit dem Gasund Unterseeboot-Krieg begonnen hatten. Manns Argumentation ist deshalb in großer Entfernung zum Schlachtfeld angesiedelt  : Diese befasst sich mit Fragen des Ideals, wenngleich sie sich von persönlicher Wut und einem Bedürfnis nach Rechtfertigung geprägt zeigt. Abseits der Schlachtfelder wurde ein erbitterter Propagandakrieg ausgetragen. Für eine große Provokation sorgten die grauenhaften Vorfälle, die im August 1914 der Okkupation der belgischen Stadt Louvain, des Oxford Belgiens, durch deutsche Truppen folgten. Schüsse waren zu vernehmen  ; und deutsche Divisionen übten blindwütig Vergeltung, was zahlreiche geplünderte Häuser, 209 tote Zivilisten und eine Bibliothek, deren 230.000 Bände in Flammen aufgingen, zum Ergebnis hatte.13 Der pazifistische Schriftsteller Romain Rolland griff in 12 Ebenda, S. 1071. 13 Siehe Robert E. Norton  : Secret Germany. Stefan George and His Circle. Ithaca, N.Y., 2002, S. 521– 522.



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mehreren Veröffentlichungen das brutale Vorgehen der Deutschen an und erkannte darin ein beispielhaftes Narrativ für das preußisch-imperialistische Wesen. Rolland verabsäumte es auch nicht, in „Pro Aris“ moralisch Anklage gegen einen „monströsen“ Artikel zu erheben,14 der aus der Feder Manns stammte und voll von überschwänglicher Kriegsbegeisterung war. Als Reaktion auf die angeblichen Verleumdungen durch die ausländische Presse verfasste der Berliner Bürgermeister Georg Riecke, zusammen mit den deutschen Dramatikern Ludwig Fulda und Herman Sudermann, die Propagandaschrift „An die Kulturwelt“, die von 93 Wissenschaftlern und Intellektuellen unterzeichnet wurde und das deutsche Vorgehen als gerechtfertigten Akt der Selbstverteidigung darstellte  : Die Armee in Louvain hätte auf die Provokation, die durch Scharfschützen erfolgte, reagieren müssen. Des Weiteren wurden in den deutschen Soldaten Missionare gesehen, die damals die deutsche Kultur gegen den anglo-französischen Westen zu verteidigen hätten, was die Überzeugung, dass lediglich gegen das feindliche Militär Krieg geführt würde, infrage stellte – ein Krieg, der so in Wahrheit die deutsche Seele betraf.15 In dieser kritischen Zeit hatte Manns älterer Bruder Heinrich sich auf die pazifistische Seite Rollands gestellt und hierdurch in Thomas’ Wahrnehmung gemeinsame Sache mit den anglo-französischen Gegnern gemacht. Thomas Mann sah seinen Bruder als Vertreter jener Gruppe von Autoren, die die modernen Überzeugungen der anglo-französischen Zivilisation unterstützten  – etwa die Idee politischer Beteiligung – und darin sich als Leser der Feuilletons, der Kulturbeilagen der Sonntagszeitungen zu erkennen gaben. Welche Gegenargumente, die genug Gewicht hatten, um den Krieg zu rechtfertigen, vermochte Thomas Mann nun ins Feld zu führen  ? Diese betrafen die deutschen Werte von Tiefe, Ironie und Pessimismus – die Werte einer originären Kultur (nicht Zivilisation). Die Deutschen seien keineswegs politisch, verkündete er  ; sie würden eine Ausnahme im Umgang mit römischen, universalistischen Werten bilden, deren Verbreitung in der Moderne vorangetrieben worden sei  ; das seien Menschen, die natürlicherweise nicht zu klassischen republikanischen Disziplinen neigten, zum Schreiben und zum Debattieren. Eine wichtige Bezugnahme – eine, die der Anlass zu weitreichenden Spekulationen war  – erfolgte auf den Philosophen Nietzsche, den Thomas Mann als exemplarischen Hüter der deut14 Vgl. Romain Rolland  : Au-dessus de la mêlée. Paris 1915, S. 13. 15 Siehe Uwe Reinecke  : Deutsche Kriegskultur. In  : Ossietzky 5 (2002), Heft 25, Online-Ausgabe, 23. Mai 2016, http://www.sopos.org/aufsaetze/3e15a492b3b8a/1.phtml.

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schen Tugenden präsentierte. Nietzsche bildete für Mann zusammen mit Schopenhauer und Wagner ein „Dreigestirn“,16 eine glanzvolle Verkörperung der kulturellen Ideale, die ihm als Leitsterne in seinem Kampf für die deutsche Kultur dienten. Der große Soziologe Max Weber benötigte keinen Bruderzwist, um 1916 wie Thomas Mann eine idealistische Verteidigungsschrift zur deutschen Kriegswut zu verfassen. Weber analysiert in seinem Aufsatz „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“ mit großer Überzeugungskraft und Klarheit die Besonderheiten der Tagesprobleme, unter Zurückweisung der Nationalismen, und erklärt, dass das angemessene Schicksal Belgiens keineswegs darin bestehe, annektiert zu werden. Gleichzeitig betont Weber die Notwendigkeit für eine ­Politik, die weder von Hass noch Egoismus, sondern von objektiven Anliegen bestimmt werde  : Deutschland sei ein „Machtstaat“, eine Nation von 70 Millionen, deren historische Mission nicht beiseitegeschoben werden könne.17 Darin liegt „der letzte entscheidende Kriegsgrund“ beschlossen, das gewichtige Faktum, dass Deutschlands Bestimmung die einer großen Nation sei und als solche daher verpflichtet sei, die eigene Kultur  – und tatsächlich die der Welt  – zu bewahren  :18 Nicht von den Schweizern, den Dänen, Holländern, Norwegern wird die Nachwelt

Rechenschaft fordern über die Gestaltung der Kultur der Erde. Nicht sie würde sie schelten, wenn es auf der Westhälfte unseres Planeten gar nichts mehr geben würde

als die angelsächsische Konvention und die russische Bürokratie.19

Der Krieg sei keine Angelegenheit der Selbstverteidigung oder des materiellen Profits, sondern eine der Ehre und der historischen Verantwortung. Das ist das entscheidende Kriterium, wenn die Frage nach seiner Bedeutung aufgeworfen wird  : Die Wucht dieses Schicksals, das wir bestehen müssen, führte die Nation empor, an

Abgründen und Gefahr des Untergangs vorbei, auf der steilen Bahn der Ehre und des

16 Vgl. Thomas Mann  : Betrachtungen eines Unpolitischen. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1983, S. 77. 17 Vgl. Max Weber  : Gesammelte politische Schriften. In  : Gesammelte Aufsätze. Hg. von Johannes Winckelmann. 7 Bde. Tübingen 1988, S. 175. 18 Vgl. ebenda. 19 Ebenda, S. 176.



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Ruhmes, auf der es keine Umkehr gab, in die klare harte Luft des Waltens der Weltgeschichte, der sie in ihr grimmiges, aber gewaltiges Angesicht schauen mußte und durfte, späten Nachfahren zu unvergänglichem Gedächtnis.20

Die deutsche Sicht des Krieges stellt sich in den entsprechenden Schriften durchgängig als eine binokulare dar. Diese registriert durch die eine Linse die militärischen Schlachten, die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen dienen, während durch die andere eine Mission in Sachen deutscher Kultur sichtbar wird. Diese Überzeugung vom höheren Wert der deutschen Kultur wurde gefestigt durch die Erinnerung an den fast übernatürlichen Zustand nationaler Erregtheit, der den Ausbruch des Krieges begleitete. Diese Doppel-Perspektive, die versuchte, real-vitale Interessen und spirituelle Belange zu einem einzigen Bild zu verschmelzen, nahm extravagante und sogar monströse Formen an und verdeutlichte dadurch die spekulative Beziehung zwischen den pragmatischen Zielen des Krieges und jenen höheren Werten. Zu Deutschlands herausragenden Dichtern zählte in diesen Jahren auch der bis vor Kurzem weitgehend vergessene Stefan George.21 Als George von einigen seiner Schüler um ein Gedicht über den Krieg gebeten wurde, verfasste er die lyrische Arbeit Der Krieg. Seine Argumentation vermengt Kriegspraktiken und Visionen zum Ausgang des Krieges zu einem verqueren Extrem.22 Jener abscheuliche Krieg sei laut George nicht der wirkliche Krieg. Der echte Krieg bestehe in dem Bemühen, dem fehlgeleiteten Deutschland des Jahres 1914 ein Exempel für ein neues, maskulines Männerbild zu geben. Obwohl der wahre Krieg sich „schon auf sternen“ „entschied“,23 sei es entscheidend, dass die Deutschen diesen schäbigen Krieg gewännen. Denn wenn Deutschland verloren ginge, würde neben dem Schauplatz auch das Motiv für den echten Kampf verloren gehen. Auch ginge nach George daraus das Unheil der Rassenmischung hervor. Das ist die Gefahr, die der große Dichter in der französischen und britischen Beteiligung von schwarzen Kolonialsoldaten am Stellungskrieg zu erkennen meinte. Mit 20 Ebenda, S. 177. 21 George hat mittlerweile das Interesse einer kritischen Leserschaft geweckt, die sich für den ideellen Hintergrund der modernen deutschen Dichtung interessiert. Er wird inzwischen als eine Art von Autokrat gesehen, der eine unkritische Jüngerschaft um sich scharte und eine Haltung irrationaler Unterwürfigkeit einforderte, eine Attitüde, die der Machtergreifung Hitlers in einem gewissen Sinn vorgriff. 22 Siehe Stefan George, Band 1  : Der Krieg. In  : Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal = Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München [u.a.] 1958, S. 410–415. 23 Vgl. ebenda, S. 415.

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diesen Ansichten versuchte George, sich als Typus eines völkischen Dichter­hel­ den zu inszenieren  – „Sieger  /  Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken“.24 Seine Furcht vor dem Verlust der rassischen Reinheit der ­Deutschen dürfte zur verstörendsten These geführt haben, die aus dem Kanon der deutschen Kriegsschriften stammt. Nachhaltig beeinflusst wurden die Deutschen in ihrer Haltung zum Krieg allerdings nicht von der Lyrik, sondern durch Bühnenstücke und Romane. Georg Kaisers expressionistisches Drama Die Bürger von Calais, dessen Publikation bereits 1914 erfolgte, wurde erstmals im Jahr 1917 aufgeführt, und zwar vor ­einem enthusiastischen Publikum. Das Stück stellt ein typisches Beispiel für ein kriegsexpressionistisches Drama dar. Es wurde erstens in einem expressionistischen Tonfall geschrieben, und es ist ein Kriegsdrama in dem Sinn, dass es über einen Krieg handelt – den englischen Angriff von Edward III. auf Calais im Jahr 1347. In Die Bürger von Calais werden zahlreiche konfliktträchtige Einstellungen zum Großen Krieg kodiert verhandelt. Das Drama handelt von den Forderungen des englischen Königs, die zu erfüllen sind, wenn die Hafenstadt der Zerstörung entgehen soll  ; die Stadt hat dem König sechs Bürger zu übergeben, „mit dem Kittel des armen Sünders bekleidet und den Strick im Nacken“.25 Die Besonderheit des Plots liegt darin, dass sich sieben und nicht sechs Bürger als Märtyrer zur Verfügung stellen. Die Handlung schreitet voran, indem die Suche nach einem geeigneten Mittel beschrieben wird, durch das einer der Bürger aus der Gruppe ausgeschlossen werden kann. Aber aus der angewendeten Methode  – dem Ziehen von farbigen Bällen  – gehen alle als Gewinner hervor, was unter den sieben für Verwirrung sorgt. Eustache de  Saint-Pierre sieht sich als Initiator nun außer Stande, einem aus der Gruppe die Feierlichkeit der Entscheidung, zu sterben, zu versagen. Daraufhin erscheint einer der sieben, die bei „der ersten Glocke“ auf dem Marktplatz anzutreten haben,26 überraschenderweise nicht. Die Märtyrer und die Menschenmenge wittern Verrat, bis – in einer packenden Szene – der blinde Vater von Eustache erscheint und seinen toten Sohn herbeiträgt. Eustache hat sich frühzeitig seinem Schicksal gestellt und in der Nacht umgebracht. Daraus geht eine schreckliche Tragikomik hervor, denn mit Tagesanbruch verkündet ein 24 Ebenda. 25 Vgl. Georg Kaiser  : Die Bürger von Calais. Bühnenspiel in drei Akten. Berlin 1917, S. 25. 26 Vgl. ebenda, S. 80.

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englischer Bote, dass der König von England in derselben Nacht die Geburt eines Sohnes erfahren und so beschlossen habe, von Güte überwältigt, die Stadt zu verschonen. In der letzten Szene des Stückes, die vor der Stadtkirche spielt, sehen die Bühnenanweisungen vor, dass die sechs Freiwilligen die Bahre hochheben, auf der sich der tote Eustache de  Saint-Pierre befindet. „Hebt diesen auf “, sagt zuvor Jean de  Vienne, einer der sechs Bürger, „und stellt ihn innen auf die höchste Stufe nieder  : – der König von England soll – wenn er vor dem Altar betet – vor seinem Überwinder knien“  : Die Sechs heben die Bahre auf und tragen Eustache de  Saint-Pierre auf ihren steil

gestreckten Armen – hoch über den Lanzen – über die Stufen in die weite Pforte […]. […]

Das Licht flutet auf dem Giebelfeld über der Tür  : in seinem unteren Teil stellt sich

eine Niederlegung dar  ; der schmale Körper des Gerichteten liegt schlaff auf den

Tüchern – sechs stehen gebeugt an seinem Lager. – Der obere Teil zeigt die Erhebung des Getöteten  : er steht frei und beschwerdelos in der Luft – die Köpfe von sechs sind mit erstaunter Drehung nach ihm gewendet.27

In dieser Szene erscheinen die verbliebenen sechs als Jünger des Märtyrers Eustache de Saint-Pierre  ; gleichzeitig wird jener sechs Bürger von Calais gedacht, die gewissermaßen Jünger Christi darstellen. Spinnt man die Assoziation weiter, stellt sich die Frage, ob man annehmen soll, dass Eustaches Selbstmord in irgendeinem metaphysischen Sinn erst die Geburt des Königssohnes ermöglicht hat – ein Märtyrer stirbt (hier durch die eigene Hand) und ein Kind ward geboren. Beschreibt der Tod dieses Mannes einen mystischen Lebenskreislauf, in dem jene ersetzt werden, die unschuldig sterben  ? Und was bedeutete dieser Kreislauf dann für die Sichtweise des Großen Krieges  ? Während beinahe alle Kritiker in Eustaches Selbstmord einen Triumph des einzelnen Individuums über die Gruppe ausmachen, und somit eine Befreiung von einem Denken, das die soldatische Pflicht und den Gehorsam betont, erkennt eine Minderheit eine verquere Opferbereitschaft, die auf die deutsche Kriegsbegeisterung abzielte  : Demnach handelte es sich um einen selbstzerstörerischen Todesschwur. Das Drama ergreift hierbei keineswegs Partei, sondern komprimiert lediglich die Ansichten und Überzeugungen, die auch vom Krieg 27 Ebenda, S. 108.

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hervorgebracht wurden. Doch dieses kann auch leicht missverstanden werden  : als Zelebrierung einer heldenhaften Opfermentalität, die einer größeren Sache dient. Das Publikum wäre so auf eine Weltsicht vorbereitet worden, die bereits die Kriegsniederlage und den Verlust aller materiellen Vorzüge inkludiert hätte – und dennoch auf eine „höhere“ Kategorie von Sieg hinausgelaufen wäre. Auf der Basis eines Todeseifers verschmelzen in dem Stück die Sache des Todes und die der Nation auf komplizierte und verwirrende Weise. Wenn wir an dieser Stelle eine kurze Beschreibung des kulturellen Phänomens des Dadaismus einfügen, geschieht dies mit einem präzisen Ziel  – um dessen kosmopolitisches, anti-nationalistisches sowie anti-ideologisches Wesen zu betonen. Der Legende nach begann Dada 1916 mit einer Party im Café Voltaire in Zürich  : Hugo Ball und Emmy Jennings führten einen Brieföffner in ein Französisch-Deutsch-Wörterbuch ein (Dada war in seiner Konzeption von Beginn an internationalistisch) und landeten bei dem Eintrag „dada“, der im Deutschen so viel wie „Steckenpferd“ bedeutet (auf Rumänisch auch „ja, ja“, was wegen des lebensbejahenden Charakters dieser Strömung eine durchaus treffende Übersetzung ist). In einer berühmt gewordenen Kritik an Dada vertritt der situationistische Philosoph Guy Debord die Ansicht, dass diese Kunst versuche, die Kunst selbst abzuschaffen.28 Die Kunst, deren ‚Abschaffung‘ Dada anstrebte, wird in diesem Essay als ein Vorhaben verstanden, das durch den Anspruch der Transzendenz befeuert wurde, verdeckt jedoch eine leere, national-konventionelle Ethik. Das bekannte Dada-Manifest von 1918 verkündet  : Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der Literatur und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlossen, die heute schon sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für eine

ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert. Unter dem Vorwand, die Seele zu propa-

gieren, haben sie sich im Kampf gegen den Naturalismus zu den abstrakt-pathetischen Gesten zurückgefunden, die ein inhaltloses, bequemes und unbewegtes Leben zur Voraussetzung haben.29

Das Manifest hätte auch zu dem Zweck geschrieben werden können, das mystifizierende Hochgefühl von Die Bürger von Calais zu widerlegen. Im Werk Ernst Jüngers stoßen wir jedoch auf einen Rückfall in diese Jubelstimmung. 28 Vgl. Guy Debord  : The Society of the Spectacle. New York 1994, Abschn. 191. 29 Richard Huelsenbeck  : En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus. Leipzig [u.a.] 1920, S. 28.



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In der Dekade, die auf den Krieg folgte, galt als dasjenige Werk in deutscher Sprache, das die Erfahrung des Großen Krieges am ehesten wiedergab, Jüngers In Stahlgewittern von 1920.30 Das „Stahlgewitter“ steht wörtlich für den Sturm aus Granaten und Geschossen, die in schier endloser Anzahl auf die Frontsoldaten niederregneten. Ernst Jünger, der 1998 im Alter von 102 Jahren starb, diente als Infanterieoffizier an vorderster Front und wurde für seine Kühnheit und Ausdauer mit zahlreichen Orden ausgezeichnet. Als er sich im Jahr 1918 von seinen jüngsten Verwundungen erholte  – Jünger wurde siebenmal schwer verwundet –, erhielt er die höchste militärische Auszeichnung, die damals vergeben wurde, den Orden „Pour le mérite“. Nach der ersten Veröffentlichung von 1920 erschien In Stahlgewittern im Lauf der folgenden Jahrzehnte in stark veränderten Fassungen. Unter diese Änderungen fallen einerseits eine Tilgung von verherrlichenden Kommentaren und andererseits Ausschmückungen, die hinzugefügt wurden, um einen übermäßig brutalen Berichtcharakter zu überhöhen. Nachfolgend sei ein Beispiel für die gefühlskalte Objektivität Jüngers angeführt, das aus dem Jahr 1920 stammt  : Ein 76er neben mir schoß mit wildem Gesichtsausdruck, ohne an Deckung zu denken,

eine Patrone nach der anderen ab, bis er blutüberströmt zusammenbrach. Ein Geschoß hatte ihm mit dem Knall eines aufschlagenden Brettes die Stirn durchbohrt. Er

knickte in seiner Grabenecke zusammen und blieb, den Kopf gegen die Wand gelehnt, in kauernder Stellung stehen. Sein schnarchendes Röcheln ertönte in immer längeren

Abständen und hörte endlich ganz auf. Ich ergriff sein Gewehr und feuerte weiter.31

Mit dieser Passage wird nichts gesagt, was nicht dem Programm entspräche, das Jünger in Ausgabe von 1924 beschrieb  : „[…] ich [habe] mir vorgenommen […], in diesem Buche die Betrachtung ganz zurückzustellen […].“32 Eine Szene wie diese, die alle folgenden Überarbeitungen überstand, entspricht jener reinen Reportageform, die In Stahlgewittern wesentlich bestimmt. Passagen von ultra30 In Deutschland wurden verschiedene Schriftsteller im Nachkriegs-Jahrzehnt in einer Auflagenhöhe gelesen, die jene von Ernst Jünger überstieg – Walter Bloem, Werner Beumelberg, Walter Flex, Franz Schauwecker, Hans Magnus Wehner –, aber sie sind mittlerweile alle in Vergessenheit geraten  ; vgl. Wolfgang G. Natter  : Literature at War 1914–1940. Representing the „Time of Greatness“ in Germany. New Haven [u.a.] 1999, S. 69. 31 Ernst Jünger, Band 1  : Die gedruckten Fassungen unter Berücksichtigung der Korrekturbücher. In  : In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Helmuth Kiesel. 2 Bde. Stuttgart 2013, S. 554. 32 Ebenda, S. 68.

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nationalistischem Sentiment wiederum war Jünger erst in den Ausgaben nach 1934 zu entfernen gewillt – etwa den Schlussabschnitt der Ausgabe von 1924  : Wir – unter diesem wir verstehe ich die geistige und begeisterungsfähige Jugend unseres

Landes – werden … [die neuen Kämpfe] nicht scheuen. Wir stellen uns vor das Andenken

von Toten, die uns heilig sind. … Wenn auch von außen Gewalt und von innen Barbarei sich in finsteren Wolken zusammenballen, – solange noch im Dunkel die Klingen blitzen

und flammen, soll es heißen  : Deutschland lebt und Deutschland soll nicht untergehen  ! 33

Dass diese Passage entfernt wurde, hängt womöglich damit zusammen, dass die Nationalsozialisten den Gedanken von der „inne[re]n Barbarei“ als Provokation hätten verstehen können. Im Allgemeinen wurden derartige Kommentare jedoch wegen ihrer ideologischen Aufgeladenheit aus den Ausgaben der späten 30er-Jahre genommen. Jünger versucht, das halluzinatorische Inferno des Fronteinsatzes möglichst unmittelbar zu vermitteln. Der Handlungsgang stellt sich als brüchig dar – und ähnelt darin der gestrichelten Frontlinie des Stellungskrieges. Man fühlt sich in ihn hineingestoßen, ganz so, als befände man sich selbst im Krieg. Die Welt der Erzählung, die stoßweise zum Vorschein kommt, präsentiert sich gewissermaßen als eine in Stücke gerissene. Es gibt kaum einen Moment, in dem die Explosionen der Feinde nicht zumindest nachhallen – und manchmal auch der Beschuss von der eigenen Seite. Jüngers Berichte entfalten eine unmittelbare Wirkung. Die Erzählperspektive beschränkt sich auf Eindrücke, die ein Soldat an der Front wahrzunehmen vermag. Dabei gibt es eine Art von Trotz, der sich durch eine irrationale Fixiertheit auf den Augenblick zeigt. In solchen Momenten weichen die Taubheitsgefühle einem Hass auf den Feind und einer Gier nach Mord  : In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt auf die feindlichen Linien los. Ich war weit vor der

Kompanie, gefolgt von meinem Burschen und einem Einjährigen. Die rechte Hand

umklammerte den Pistolenschaft, die linke einen Reitstock aus Bambusrohr. Ich

kochte vor einem mir jetzt unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten, beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere Tränen.34

33 Ebenda, S. 646. 34 Ebenda, S. 518. – Die Passage stammt aus der Ausgabe von 1920  ; in jener von 1978 liegt diese Passage in einer entschärften Fassung vor.



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Der erklärten Absicht, die Empfindungen selbst zu reproduzieren, zum Trotz, zeigt Jünger zuweilen eine Vorliebe für ästhetische Effekte. Ein eingefügter Kommentar von 1934 verleiht dem Schlachtfeld eine Art von Kunstcharakter  : Diese Augenblicke, in denen die volle Besatzung in höchster Spannung hinter der

Brüstung stand, hatten etwas Zauberhaftes  ; sie erinnerten an jene atemlose Sekunde

vor einer entscheidenden Vorführung, während deren die Musik abbricht und die große Beleuchtung eingeschaltet wird.35

Auch andere Arten ästhetischer Effekte sind tief mit Jüngers Vorstellungswelt verwurzelt. Denn das Auf und Ab des Kampfes zeigt sich auf den Kreislauf der Jahreszeiten bezogen. Nach Momenten des rasenden Angriffes oder eiligen Rückzuges bewegt sich der Erzähler weder in eine ihn umgebende zivilisierte Welt hinein noch neben einer solchen entlang, sondern dieser streift durch die idyllische Welt von Landschaften und Witterungen  :36 Die verrotteten Felder trugen Blumen von heißerem und wilderem Geruch. Zuweilen

standen einzelne Bäume am Weg, unter denen im Frieden der Landmann gerastet

haben mochte, weiß, rosa oder dunkelrot überblüht, zauberhafte Erscheinungen inmitten der Einsamkeit. Der Krieg hatte dem Bilde dieser Landschaft, ohne seine

Lieblichkeit zu zerstören, heroische und schwermütige Lichter aufgesetzt  ; der blühende Überfluß wirkte betäubender und strahlender als sonst.

Es fällt leichter, inmitten einer solchen Natur in die Schlacht zu gehen […].37

Es gibt eine ganze Reihe solcher Abschnitte, in denen Jünger darauf bedacht ist, die archaische Verbindung von Kunst und Krieg zu erwecken. Die autobiographische Erzählung zeigt Jünger beim Innehalten, um Atem zu holen und Bilanz zu ziehen. Weil die Notizen unter dem Eindruck des Krieges entstanden, mit dem Ziel, jenem ein authentisches Antlitz zu verleihen, dürfen diese nicht unter der Annahme beurteilt werden, dass sie aus einer These heraus entstanden. Deshalb sind jene Kommentare, die den Editionsprozess überstanden haben und einen konzeptionellen Aussagewert aufweisen, zwangsläufig zu berücksichtigen. Als Beispiel sei eine Passage angeführt, die Jünger nach dem 35 Ebenda, S. 179. 36 Letztere Verbindung wird mit dem Titel des Romans, In Stahlgewittern, auch angekündigt. 37 Jünger (2013), Bd. 1, S. 329. – Aus der Fassung von 1924 stammend.

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massiven deutschen Endangriff auf die Westfront im Jahr 1918 schrieb, und zwar zur Rechtfertigung der Schlacht  : Die ungeheure Ballung der Kräfte in der Schicksalsstunde, in der um eine ferne Zukunft gerungen wurde, und die Entfesselung, die ihr so überraschend, so bestürzend

folgte, hatten mich zum ersten Male in die Tiefe überpersönlicher Bereiche geführt.

Das unterschied sich von allem bisher Erlebten  ; es war eine Einweihung, die nicht nur

die glühenden Kammern des Schreckens öffnete, sondern auch durch sie hindurch-

führte.38

Mit dieser Beschreibung von soldatischer Ehre und mystischer Selbstfindung hat der Eindruck zu verbleiben, dass der Große Krieg trotz all des Horrors veredelnd wirkte. Ein noch gewichtigeres Faktum liegt in der Knappheit dieser reflektierenden Zwischenspiele begründet. Dem Werk geht es vor allem um eines nicht  : um das Argument. Damit entspricht die stückhafte Form von Jüngers Reflexionen und kulturellen Bezügen  – poetologisch gesprochen  – dem Thema der Erzählung, einer Welt, die voll von Schrapnellkugeln ist. An einer Stelle, in einer bedeutsamen Nebenbemerkung, reflektiert Jünger die Taktik der verbrannten Erde, die seine eigene Armee anwendet – die mutwillige Zerstörung eines normannischen Dorfes infolge eines Rückzuges. Jünger ist über die Verwüstung zwar entsetzt  : „sie ist unheilvoll mit dem ökonomischen Denken unserer Epoche verknüpft“.39 Aber diese Sichtweise ist irrational – das Wort „unheilvoll“ ist seine Signatur  –, denn der ökonomische Faktor „unserer Epoche“ wäre vom zugehörigen Destruktionsmotiv zu unterscheiden, entsprechend seinen vielfältigen Funktionsweisen. An dieser Stelle ist es angebracht, Jüngers Denken einer Passage aus dem Meisterwerk des österreichischen Dichters, Kritikers und Intellektuellen Karl Kraus gegenüberzustellen, das den Titel Die letzten Tage der Menschheit trägt. Wegen einer britischen Seeblockade, die den Volkswirtschaften der Zentralmächte zusetzte, erfolgte ein Aufschrei in Deutschland und Österreich, auch innerhalb der Presseorgane, in denen die Rede von einer hinterhältigen und niederträchtigen Art der Kriegsführung war. Kraus lässt seinen Helden nun argumentieren, dass die Blockade ein logisches und zulässiges Mittel der Kriegsführung sei, zumal der Krieg grundsätzlich da38 Ebenda, S. 571. – Aus der Fassung von 1924 stammend. 39 Ebenda, S. 297.

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rauf abziele, den Wohlstand des Feindes zu vernichten. Die betreffende Passage beginnt mit einer kritischen Frage des „Optimisten“ an sein Gegenüber, den notorischen Kritiker (den „Nörgler“)  : Der Optimist  : Wie sollte man sich […] gegen den infernalischen Plan einer Aushungerung wehren  ?

Der Nörgler  : Der infernalische Plan einer Aushungerung ist in einem Krieg, der sich um die höchsten Güter der Nation, nämlich um Verdienen und Fressen dreht, ein

ungleich sittlicherer, weil harmonischerer Behelf als die Anwendung von Flammen-

werfern, Minen und Gasen. Dort ist das Kriegsmittel vom Stoff des heutigen Kriegs

bezogen. Daß Absatzgebiete Schlachtfelder werden und aus diesen wieder jene, will

nur der Mischmasch einer Kultur, die aus Stearinkerzen Tempel erbaut und die Kunst

in den Dienst des Kaufmanns gestellt hat.40

Das Ökonomie-Argument wird am Ende des Essays wieder aufgegriffen werden, um jenen Aspekt einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Thomas Manns großer Bildungsroman Der Zauberberg (1924) scheint von Jüngers Bildern vom Schlachtfeld inspiriert worden zu sein. Obwohl dieses Werk hauptsächlich deshalb aus den übrigen herausragt, weil es die Kraft besitzt, die Figuren durch ihre Ideen darzustellen – mittels ihrer Vorsätze und Gegensätze –, zählt das letzte Kapitel zu den eindrücklichsten Gestaltungen, die in der gesamten Kriegsliteratur zum Grabenkampf zu finden sind  : Wo sind wir  ? Was ist das  ? Wohin verschlug uns der Traum  ? Dämmerung, Regen und

Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft

daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen

beendet von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trom-

meltakt, der schleuniger, schleuniger treibt … […]

[…] vorwärts stürzen sie, wie es gehen will, mit sprödem Schreien und qualtraum-

schwer die Füße, da die Ackerklüten sich bleiern an ihre plumpen Stiefel hängen.

Sie werfen sich nieder vor anheulenden Projektilen, um wieder aufzuspringen und

weiterzuhasten, mit jungsprödem Mutgeschrei, weil es sie nicht getroffen hat. Sie 40 Karl Kraus, Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986, S. 211.

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werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fechtend, in die Stirn, in das Herz, ins

Gedärm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren sich nicht mehr. […]

Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp  ! […] Er glüht durchnäßt, wie alle. Er

läuft mit ackerschweren Füßen, das Spießgewehr in hängender Faust. Seht, er tritt

einem ausgefallenen Kameraden auf die Hand, – tritt diese Hand mit seinem Nagelstiefel tief in den schlammigen, mit Splitterzweigen bedeckten Grund hinein. […]

Er stürzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen, da ein Höllenhund anheult, ein

großes Brisanzgeschoß, ein ekelhafter Zuckerhut des Abgrunds. Er liegt, das Gesicht

im kühlen Kot, die Beine gespreizt, die Füße gedreht, die Absätze erdwärts. Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fährt dreißig

Schritte schräg vor ihm wie ein Teufel selbst tief in den Grund, zerplatzt dort unten

mit gräßlicher Übergewalt und reißt einen haushohen Springbrunnen von Erdreich,

Feuer, Eisen, Blei und zerstückeltem Menschentum in die Lüfte empor. Denn dort lagen zwei, – es waren Freunde, sie hatten sich zusammengelegt in der Not  : nun sind sie vermengt und verschwunden.41

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Mann, der körperlich nicht imstande war, an der Front zu kämpfen, ohne das literarische Beispiel von Jünger diese Passagen hätte schreiben können. Bereits 1914 hatte Mann erklärt, dass sein „Vorkriegsroman“ mit dem Krieg zu enden habe.42 Der Zauberberg würde dennoch nicht über den Krieg handeln, denn sein Erzähler, der dieses „Festival des Todes“ erst spät in Szene setzt, scheut tatsächlich davor zurück, diesen Horror umfassend zu imaginieren. Der Erzähler wendet seinen Blick schließlich ab und weigert sich, an jenem Schauplatz länger zu verharren. Dem möglichen Vorwurf, es nicht gewagt zu haben, sich überhaupt in dieses zeitgeschichtliche Epizentrum zu begeben, kommt der stolze Erzähler so zuvor. Die betreffende Handlung wirft eine Reihe von Fragen zur Motivation des Protagonisten auf. Einerseits besteht die Erzähllogik keinesfalls darin, dass ihn alles, was Hans Castorp während seines Aufenthaltes im Sanatorium gelernt hat, notwendig in den Krieg führt. Diese Logik ist schlichtweg nicht vorhanden und wäre im Jahr 1924 von jedem Leser zurückgewiesen worden, weil der Krieg und die Demütigung Deutschlands nach wie vor traumatische Erinnerungen bilde41 Thomas Mann  : Der Zauberberg. Frankfurt a. M. 2013, S. 980–983. 42 Das Faktum, dass der Der Zauberberg mit dem Ausbruch des Krieges zu enden hatte, „stand fest von dem Augenblick an, wo es los ging“, wie aus Manns Brief vom 22. August 1914 an seinen Verleger Samuel Fischer hervorgeht  : vgl. Thomas Mann  : Der Zauberberg. In  : Selbstkommentare. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1993, S. 11.

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ten. Da Mann den Roman in jedem Fall mit dem Kriegsmotiv abschließen wollte, hat die Logik der Ereignisse in der Aussage zu bestehen, dass es erst zum Krieg kommen musste, damit der Bildungsgang des Helden enden und ihn von der Bergspitze hinab ins Tal führen konnte. Der Autor hatte die Wirkung, die vom Ausbruch des Krieges ausstrahlte, plausibel darzustellen, unter Berücksichtigung seiner Folgewirkungen. Dieser Notwendigkeit wurde in einer Passage, die den Kriegsabschnitt einleitet, wie folgt entsprochen  : Da erdröhnte –

Aber Scham und Scheu halten uns ab, erzählerisch den Mund vollzunehmen von

dem, was da erscholl und geschah. Nur hier keine Prahlerei, kein Jägerlatein  ! Die

Stimme gemäßigt zu der Aussage, daß also der Donnerschlag erdröhnte, von dem wir alle wissen, diese betäubende Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von

Stumpfsinn und Gereiztheit,  – ein historischer Donnerschlag, mit gedämpftem Respekt zu sagen, der die Grundfesten der Erde erschütterte, für uns aber der Donnerschlag,

der den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt.43

Die vermittelte Assoziation lautet, dass angehäufter „Stumpfsinn und Gereiztheit“ eine „Detonation“ herbeigeführt haben, die wortwörtlich ‚Krieg‘ bedeutet. Damit werden exakt die Stimmungen des Hans Castorp benannt, die im letzten Jahr seines siebenjährigen Aufenthaltes auf dem Zauberberg eingesetzt haben. Seine Stagnation des Geistes ruft geradezu nach Korrektur und Veränderung, auch gewaltsamer Art. Wenn es dabei auch so etwas wie eine „explosive“ Entscheidung zu treffen gilt, verlässt Castorp die Höhen tatsächlich. Die zeitgeschichtliche Explosion führt zu einer des Willens, „denn seit dem Augenblick seines Erwachens sah Hans Castorp sich in den Trubel und Strudel von wilder Abreise gerissen, den der sprengende Donnerschlag im Tale angerichtet“.44 Andererseits wäre die Annahme, dass noch im Jahr 1924 der Weltkrieg als Ereignis bejaht und in ihm eine kathartische Reinigung von der europäischen Krankheit gesehen worden wäre, höchst fragwürdig. Mann selbst hatte zu Zeiten des Kriegsausbruches tatsächlich so gedacht  ; in einem an Samuel Fischer adressierten Brief vom 22. August 1914 ist dies dokumentiert  : „Diese Friedenswelt, die jetzt mit so erschütterndem Getöse zusammengestürzt ist, – hatten wir alle sie nicht im Grunde satt  ? War sie nicht faulig geworden vor lauter Kom43 Mann (2013), S. 975. 44 Ebenda, S. 979.

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fort  ?“45 Wenn wir die Donnerschlag-Parallele zwischen den Vorgängen auf dem Zauberberg und jenen auf dem Flachland berücksichtigen, erscheint die Kriegsstimmung als unvermeidlich. Wenn wir jedoch annehmen, dass Castorps Abstieg in das Flachland unwillkürlich erfolgt und von der Handlung auch exkludiert werden könnte, werden wir den eigentlichen Krieg als überflüssig betrachten. Manns Haltung ist jedenfalls zweideutig  – sie ermutigt zu beiden Lesarten, was wenig überraschend ist, wenn man sich folgende Stelle aus den „Betrachtungen“ vor Augen führt  : „Schriftstellertum selbst erschien mir v­ ielmehr von jeher als ein Erzeugnis und Ausdruck der Problematik, des Da und Dort, des Ja und Nein, der zwei Seelen in einer Brust, des schlimmen Reichtums an inneren Konflikten […].“46 Diese Unsicherheit wirft die Frage auf, welche Alter­native sich hätte bieten können zu dem ausschweifenden und spekulativen Leben auf dem Zauberberg. Die Handlung führt lediglich zu einem fortwährenden Verlassen aller weltanschaulichen Positionen, das mit dem Gang vom Zauberberg endet – das ist Nihilismus –, und lässt dadurch die Annahme plausibel werden, dass der Autor im selbstzerstörerischen Krieg das logische und unvermeidliche Ergebnis einer Episode des europäischen Nihilismus sah. Hans Castorps Bildungsweg erweist sich in jederlei Hinsicht als ein Prozess der kontinuierlichen Suspension von vormals bezogenen Positionen. Man beachte die Vorschriften seines Mentors Naphta, der zwischen mystischer Absonderung von der Gesellschaft und der Anwendung von Terror aus Gründen des sozialen Zusammenhaltes schwankt. Diese Haltung ist sowohl für Mann als auch seinen Helden wenig überzeugend. Castorps anderer Mentor, Settembrini, tritt dagegen für ein Leben der sozialen Aktion ein, um den Menschen zu verbessern. Diese Haltung, die wohl auf einer Leidenschaft für soziale Gleichheit basiert, birgt nach Manns Verständnis eine unheilvolle Gier nach pädagogischer wie politischer Autorität in sich. Angesichts der Voreingenommenheit gegenüber solch einer Haltung, die bei Mann seit den „Betrachtungen“ bestanden hatte, konnte bei ihm kein entsprechender Glaube daran vorgelegen haben. Selbst das künstlerische Ideal der Kreativität fehlt ‚da und dort‘ gleichermaßen, ist in diesem Roman weder dargestellt noch angedeutet, außer vielleicht durch den geheimnisvollen Hinweis, dass das Leben auf dem Berg wie das in einer Fiktion erscheint, oder mittels Castorps Freizeitaffinität, über den Privatbereich 45 Mann  : Betrachtungen. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1983, S. 592. 46 Ebenda, S. 20.

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seiner Gedanken zu regieren (was eine Art fiktionalen Schreibens ist). Nur das Soldatenleben seines Vetters Joachim ist eine echte Alternative zum Leben auf dem Zauberberg. Aber Joachim, der einst in das Flachland geflohen ist, wird zurückgeschickt und stirbt  ; und damit stirbt im übertragenen Sinn auch das Ideal der Soldatenehre. Für Castorp, der sich anschließend ins Tal begibt, eröffnet sich mit dem Weltkrieg keinerlei Möglichkeit, zu Ehre zu gelangen. Manns kurzer Bericht visualisiert dagegen das „wütend höllenhundhaft daherfahrende[m] Heulen“ der pfeifenden Granaten,47 die für einen gesichtslosen Tod stehen. Abermals sehen wir uns mit der Andeutung konfrontiert, dass sich dem europäischen Leben zu Beginn des 20.  Jahrhunderts nichts anderes als ein Akt der Selbstzerstörung als Option geboten habe. Dennoch lehrt der Roman seinen Protagonisten  : „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“48 Darin spiegelt sich die Haltung des liberalen und lebenslustigen Settembrini, dem Castorp den größten Respekt entgegenbringt. Von den drei Mentoren ist Settembrini derjenige, der den größten Einfluss auf ihn ausübt  ; jener hat ihn wiederholt dazu gedrängt, das Sanatorium zu verlassen und sich in das Flachland seines Heimatstaates zu retten – in dessen Zivilgesellschaft  : Anders hatte ich dich reisen zu sehen gewünscht, aber sei es darum, die Götter haben es

so bestimmt und nicht anders. Zur Arbeit hoffte ich dich zu entlassen, nun wirst du

kämpfen inmitten der Deinen. Mein Gott, dir war es zugedacht und nicht unserm Leutnant [ Joachim]. Wie spielt das Leben … Kämpfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet  !49

Settembrini ist auch in anderer Hinsicht bedeutsam. Mit dieser Figur verbinden sich verschiedene kodierte Hinweise auf die „Betrachtungen“, die zwischen 1915 und 1918 entstanden  – der Zauberberg war bereits zuvor begonnen worden  –, und kehren als solche die Argumentation der Schrift um. Mit dem Weg, den Castorp einschlägt, folgt er bis zu einem gewissen Grad auch dem Rat einer gütigeren Inkarnation von Manns älterem Bruder Heinrich, dem Settembrini auch äußerlich ähnelt. Jener Heinrich ist als der „literarische“ Mann, der sich von den Werten des zivilisierten Westens eingenommen zeigte, übrigens der implizite und heftig kritisierte Adressat der „Betrachtungen“. Da Heinrich ei47 Vgl. Mann (2013), S. 980. 48 Ebenda, S. 679. 49 Ebenda, S. 979–980.

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nen Menschen wie Hans Castorp aber niemals ermutigt hätte, sich am Krieg zu beteiligen, weist die Figur des Settembrini zugleich stark verfremdete Züge auf. Und im Gegensatz zum Heinrich der Jahre 1915 bis 1918 unterstützt Settem­ brini insofern die Position von Thomas, als es diese Figur grundsätzlich für ehren­voll hält, für Deutschland zu kämpfen. Die Überzeugungen, die der Autor mit dieser romanischen Figur artikulierte, bereiteten den Weg für Manns gefeierten ideellen Wandel, der sich in den Jahren nach der Entstehung des Zauberbergs vollzog. Schlussendlich war Mann mit den Grundwerten Europas, der Zivilisation und der Liga der Nationen in Freundschaft verbunden. Diese Wandlung vollzog Mann unter dem Eindruck von Nietzsches Ehrfurcht einflößendem Abfall von Wagner  ; in seinen „Betrachtungen“ lieferte der Philosoph, zusammen mit Schopenhauer und Wagner, noch Argumente gegen das zivilisierte Frankreich und England. Manns Darstellung des Frontkrieges ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch das wegweisende Buch In Stahlgewittern beeinflusst worden  ; aber dieser Einfluss zeigt sich an der Handlung und ihren Bildern, keineswegs in der erzählerischen Verfahrensweise. Arnold Zweigs herrlicher und detaillierter Streit um den Sergeanten Grischa (1927) ist im Gegensatz zum Zauberberg zwar in größerer räumlicher Nähe zur Front angesiedelt – an der Ostfront –, dabei jedoch ganz bewusst außerhalb des Einflussbereiches eines Jünger positioniert. Mit Ausnahme von kurzen Erinnerungspassagen erfolgt keinerlei Darstellung des Grabenkrieges  ; zudem hat das Werk nichts von Jüngers phantasmagorischem, modernistisch-reißerischem Stil. Andererseits teilt Der Streit um den Sergeanten Grischa den grundsätzlichen Narrationsanspruch mit dem Zauberberg. Diesen könnte man mit Erzählbarkeit der Welt überschreiben. Offenkundig zielt das Werk darauf ab, eine Bedeutung im Krieg zu entdecken, sei es eine erbauliche oder entmutigende. Dies führt letztendlich zu der eindeutigen Provokation einer politischen Revolution. Zweigs Beschreibung der Wirkung auf den deutschen Generalstab, die von einem einzelnen feindlichen Gefangenen ausgeht, erlangte enorme Popularität, zuerst als Theaterstück und danach als der umfangreiche Roman, der von Eric Sutton derart wirkungsvoll ins Englische übertragen wurde, dass in der englischen Literaturkritik von einem der bedeutendsten Romane gesprochen wurde, die aus dem Krieg und seinen Nationalliteraturen hervorgegangen seien. Der Streit um den Sergeanten Grischa wird aus der antiquierten Perspektive eines allwissenden Erzählers vermittelt. Das ist dem erzählerischen Prinzip des In-der-Welt-zuhause-Seins geschuldet, durch das die Welt eines vernünftigen



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wie einfältigen Protagonisten geschildert wird, mit guten Männer- und Frauenfiguren, deren Bewusstseinshaltung der Autor vergnüglich befürwortet. Und wenn sich die Dinge schlecht entwickeln, ist dafür nicht einfach der Zufall verantwortlich  ; in entscheidenden Momenten zieht sich der Erzähler von solch einer anspruchslosen Lösungsmöglichkeit für heikle Fragen der Handlung zurück. Dieses Werk ist eine Enzyklopädie über die verständlichen, allzu menschlichen Reaktionen, die aus erfahrenem Unrecht hervorgehen. Auch heute noch sollte eigentlich ein großes Maß an Interesse an diesem überaus lesenswerten und lehrreichen Werk bestehen, mit dem sich einst alle Gymnasiasten in Ostdeutschland zu beschäftigen hatten (Zweig, in seiner Furcht vor Kapitalismus und Faschismus, wurde zu einer Art literarischem Anführer in diesem pseudo-kommunistischen totalitären Staat). Außergewöhnlich ist die unermüdlich sich fortspinnende epische Breite, die in der Tradition eines Balzac, Fontane oder auch Mann steht, mit ihren mannigfaltigen Charakteren und den vielfältigen Versuchen, die Figuren in ihrer eigenen Diktion zu zeigen. Jener Reigen beginnt bei dem naiven russischen Feldwebel Grischa Paprotkin und seinen Partisanen-Kameraden, setzt sich über den kultivierten jüdisch-berlinerischen Rechtsbeamten Posnanski und seinen Assistenten, den Romancier Bertin, fort und führt zu dem bejahrten Junker General von Lychow, dem Helden des Werkes, und seinem schneidigen Adjutanten Paul Winfried. Auch Ostjuden und junge russische Intellektuelle kommen darin vor sowie die vielgepriesenen Armee-Krankenschwestern, die als Figuren alle eine extreme visuelle Klarheit aufweisen und eine ständig variierte Redesyntax, die in ihrer Vielfalt beinahe hypnotisch wirkt. In diesem Roman dreht sich alles um das Schicksal von Grischa, der aus einem Kriegsgefangenenlager entkommt und anschließend ostwärts wandert, um in seine Heimat zu gelangen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als ihm eine Partisanin namens Babka, seine spätere Geliebte, vorschlägt, die Identität eines anderen Soldaten anzunehmen, eines gewissen Bjuschew. Babka weiß nicht, dass man Bjuschew, weil er durch die feindlichen Linien mäanderte, inzwischen zum Tode verurteilt hat. Als Grischa aufgegriffen wird und behauptet, Bjuschew zu sein, soll an ihm das Todesurteil vollstreckt werden. Zur Zufriedenheit der Rechtsabteilung der Division, in deren Zuständigkeitsbereich der Fall fällt, gelingt es Grischa, zu beweisen, dass er keineswegs Bjuschew ist. Die Sache wird dem alten General von Lychow zur Genehmigung vorgelegt  ; und weil er dem allgegenwärtigen Grischa bereits vorgestellt worden ist, einem Soldaten, dessen einfache Lebenskraft ihn an einen russischen Bauern erinnert, der ihm im Kindesalter das Reiten beibrachte, widerruft er das Urteil nur zu gerne.

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Die Handlung nimmt eine kritische Wendung, als die Bitte von keinem Geringeren als dem Oberbefehlshaber im Osten zurückgewiesen wird, einem gewissen Schieffenzahn, der eine respektvolle Parodie von Ludendorff, dem Stabschef Hindenburgs, darstellt. Die Antwort, die der Kommandant der Ostfront verfasst, fällt folgendermaßen aus  : Wenngleich die Identität des Verurteilten Bjuschew mit einem desertierten Kriegsgefangenen Paprotkin, Kriegsgefangenenkommando Waldlager Nawarischki, bis zu ge-

wissem Grade wahrscheinlich gemacht worden ist, darf doch unter höheren Gesichtspunkten von einem gelungenen Identitätsbeweise die Rede um so weniger sein, als in

Übereinstimmung mit dem Herrn Generalquartiermeister geltend gemacht werden muß, daß die juristische Seite des Falles hinter der militärpolitischen entscheidend

zurückzutreten hat. Im Interesse des Ansehens unserer Rechtsprechung und unter

dem Gesichtspunkt der militärischen Disziplin muß die für den Angeklagten einge-

legte Revision als unbegründet und dem Gesamtinteresse schädlich verworfen werden.

Die Vollstreckung des rechtsgültigen Urteils, welches hiermit wieder in Kraft tritt, ist auf dem Dienstwege nach hier zu melden.50

Am unteren Ende des Schriftstückes befinden sich die handschriftlich hinzugefügten Wörter  : „‚ges.‘“ und „Sch.“,51 was bedeutet, dass Schieffenzahn für das Schreiben verantwortlich zeichnet. Lychow, der eine direkte Konfrontation mit Schieffenzahn fürchtet und dem sein fortgeschrittenes Alter bereits zu schaffen macht (er ist über 70 Jahre alt), schwankt nur eine Sekunde lang zwischen Auflehnung und Gehorsam  : Hier unternahm ein fremder Wille, ungesetzlich einbrechend die Entscheidung über

Recht und Unrecht in seinem Bezirke anzutasten. Entweder bestand Deutschland auf

Rechttun nach der Einsicht seiner Träger, und lediglich das Gewissen des Verantwortlichen, das Rechtsgefühl in der Brust eines sachlichen Menschen verbürgte unumschränkt entscheidend die Richtigkeit seines Rechts – oder Dreinrede jeder Art war

möglich  ; die Anarchie, zu welchem Zweck immer, stieß durch und zeigte ihr scheuß-

liches, gesinnungsloses Haupt […].52

50 Arnold Zweig, Band 1.2  : Der Streit um den Sergeanten Grischa. In  : Arnold Zweig. Berliner Ausgabe. Hg. von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Akademie der Künste. Berlin 2006, S. 226–227. 51 Vgl. ebenda, S. 227. 52 Ebenda, S. 231.

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Lychows Ehrgefühl und Selbstachtung erfordern eine Intervention  ; der General beschließt, diesen Konflikt ins Hauptquartier zu tragen, wo es zur Begegnung mit Schieffenzahn kommt, dessen Belehrung in der indirekten Erzählerrede wie folgt lautet  : Er habe klar und unzweideutig seinen Willen mitgeteilt, den unerträglichen Zustand

zu beseitigen, daß da ein Mann, als Aufwiegler verurteilt, als stinkender Bolschewik,

immer noch lebe. Und statt einfach zu parieren, komme man ihm mit Zuständigkeiten, Juristerei, mit Rayonfimmel. Er, Schieffenzahn, sei verantwortlich dafür, daß der

Sieg den deutschen Waffen nicht entgleite, soweit es hier den Osten anging. Er habe

das Heer straff zu halten. Nichts sei gleichgültiger in einem so großen Zusammen-

hange als Haarspalterei über Recht und Unrecht.53

In dieser dramatischen Szene, die in Erinnerung ruft, dass der Roman zuallererst als Drama Popularität erlangte, legt Schieffenzahn noch folgende Aussage nach  : „‚[…] Mir gefällt im Grunde der krasse ruhige Fall […]. Der Staat schafft das Recht, der Einzelne ist eine Laus.‘“54 Schieffenzahns Aussage ist sowohl für den General als auch den Erzähler unerträglich  : „[…] Schafft der Staat das Recht  ? Nee, aber Rechttun erhält die Staaten, Herr. So hab’ ich’s von Jugend auf gelernt, und das allein gibt dem Leben Schmalz und Tunke. Weil

gutes Recht die Staaten bescheint, dürfen sich Menschengeschlechter für sie verpul-

vern. Wo aber der Staat anfängt, Unrecht zu tun, ist er selber verworfen und niedergelegt. Ich weiß, Herr, in wessen Auftrag ich hier im Lichtkreis Ihrer Lampe für einen

armseligen Russen fechte  ! Um größeres als Ihren Staat, nämlich um den meinen  ! Um

ihn als Beauftragten der Ewigkeit  ! Staaten sind Gefäße  ; Gefäße altern und platzen.

Wo sie nicht mehr dem Geiste Gottes dienen, krachen sie zusammen wie Kartenhäuser, wenn der Wind der Vorsehung sie anbläst. Ich aber, Herr General Schieffenzahn,

weiß, daß Rechttun und Auf-Gott-Vertrauen die Säulen Preußens gewesen sind, und will nicht hören, daß man sie von oben her zerbröckelt.“55

Doch dieses Argument ist für Schieffenzahn, den Oberbefehlshaber der Ostfront, nicht entscheidend. 53 Ebenda, S. 305. 54 Ebenda, S. 307. 55 Ebenda.

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Das Bewusstsein des Erzählers erfasst in diesem Roman jeden Gegenstand und jede Situation, angefangen von dem Pferd, das der Adjutant Brettschneider reitet, bis zu dem völkisch-moralischen Bewusstsein des Oberbefehlshabers, der ein riesiges deutsches Reich im Osten schaffen möchte. Zweigs Absicht ist es, problematische Geisteshaltungen und schwierige Persönlichkeiten darzustellen. Sein Ziel sieht er erst erfüllt, als wir Zeugen von Grischas Bewusstsein in dem Moment werden, als der Verurteilte dem Erschießungskommando und damit dem Tod ins Auge zu blicken hat. Während Mann eine deutliche Scham davor zeigt, sich in den Kriegshorror hinabzubegeben, schreckt Zweig in seiner Affirmation der Welt niemals davor zurück, zu benennen und zu beschreiben, was Sache ist – einschließlich des Todeskampfes. Die dynamische Handlung des Romans ist durchsetzt von sich kreuzenden Strängen aus erotischen und nicht zuletzt politischen Motiven  : etwa der Hoffnung auf ein anderes Deutschland, die sich im Traum von einer neuen Führerschaft äußert, oder auf eine Symbiose aus dem altbewährten preußischen Ehrgefühl und der Gedanken-Schnelligkeit der jüdisch-berlinerischen Intelligenzia. Wenn der Zauberberg ein ‚Vorkriegsroman‘ ist, wie Mann behauptete, dann ist dieses Werk ein Nachkriegsroman. Die gutartige Kollusion von preußischen und jüdischen Sichtweisen ist eine der auffälligsten Besonderheiten der Handlung. Letzterem Motivaspekt widmet sich Lychow mit den Worten  : „diese jüdischen Rechtsanwälte. Ich möchte schwören, sie lieben das Recht um seiner selbst willen, so wie wir unsere Güter und Felder“,56 womit sich ein Gegenüber zeigt, dessen Antrieb tatsächlich im Gleichheitsgrundsatz begründet liegt. Jene Forderung von Gleichheit verstärkt sich durch die glückliche, doch unrechtmäßige Liebe zwischen dem jüdischen Romancier Bertin, der verheiratet ist, und der blaublütigen Sophie, die aus einer Junker-Familie stammt. Die sozial unzulässigen Beziehungen, die durchweg vorliegen, werden durch den Erzähler ohne ein Körnchen von Besorgnis dargestellt, da im Zentrum seine Zelebrierung der Lebensfreude steht – besonders der Geschlechtlichkeit und der Fortpflanzung. Der Erzähler ist so sehr auf das Positive fokussiert, dass er sogar hin und wieder „vergisst“, die Schrecken des Krieges unparteiisch zu verurteilen. Dies ist etwa der Fall, als von den Grausamkeiten der deutschen Besatzer die Rede ist. Diese werden innerhalb der Rahmenhandlung geschildert, durch eine Frau, nämlich Babka, die sich davon gut erholt zu haben scheint  : Ihr 56 Ebenda, S. 112.



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Vater und die Brüder wurden von deutschen Soldaten ermordet, nachdem sie von einem eifersüchtigen Nachbarn denunziert worden waren – im Gegenzug ermordete Babka ihren Nachbarn sowie auch einen jungen deutschen Offizier, dessen prächtige Kleidung sie jetzt trägt  ; und nun ist sie in Grischa verliebt, dessen Kind sie in sich trägt. In diesem Werk steht, wie im Zauberberg, aber ohne die Intellektualität und Raffinesse des letzteren, das Erzählen an sich im Vordergrund. Daher ist dieser Roman modern in seinem Bestreben, uns die Welt allumfassend zu vermitteln, nicht jedoch in seinem Verzicht auf Erzählmittel wie unaussprechbare Diktion à la Joyce, aufwendige kreisförmige Referenzstrukturen à la Proust oder Montage wie beim späten Thomas Mann. Der Fortgang der Handlung erfolgt ruhig und stetig und ist immer wieder mit dem bekannten Handlungsmotiv des Realismus versehen  : dem glücklichen Zufall. Am Ende des Romans erfolgt eine letzte politische Richtungsbestimmung. Auch wenn der Roman die deutsche Kultur in ihrer lokalen Vielfalt zeigt, die in allen Erscheinungsformen hinter der Ostfront anzutreffen ist, fehlt keineswegs die Einbindung der Frage nach der Zukunft der sozialen Schichten. Demnach wird das Proletariat einen Aufschwung erleben und die Adelsklasse ihren Niedergang (obwohl ihre Gesinnungen die neuen politischen Koalitionen weiterhin bestimmen werden). Zweigs Darstellung einer Umwälzung, die von der unteren Gesellschaftsschicht ausgeht, erfolgt erst andeutungsweise gegen Ende des Romans. Der bescheidene Korporal, der Grischa bewacht hat, tritt jetzt einen Heimaturlaub an, doch die Station erreicht er eine Minute zu spät. Der Zug, der Richtung Westen fährt, verlässt bereits die Station. Zum Erstaunen der Passagiere treffen die beiden Lokführer  – der Maschinist und der Heizer  – eine überraschende Entscheidung  ; sie reduzieren das Tempo so weit, dass der Unteroffizier noch aufspringen kann. Diese Bekundung von Solidarität passte als Verhaltensweise durchaus zum Figureninventar von Remarques Im Westen nichts Neues – die eingeschlagene Fahrtrichtung aber ist eine andere. Dieser Zug fährt nicht der Front und daher dem Tod entgegen, sondern führt die Figur in ein neues Leben. Die Solidarität, die diese Figuren der Unterschicht untereinander zeigen, ist nicht als Widerstand gegen das mögliche Schicksal jedes Frontsoldaten, nämlich von Geschossen zerstückelt zu werden, zu verstehen  ; ihre Solidarität bezieht sich auf eine andere Verwendung der Maschinen, auf deren Funktionalisierung als Motor der Klassenloyalität. Einer der Offiziere, die sich im Offiziersabteil befinden, spricht diesen Punkt dezidiert an  : „‚[…] Aber ich glaube, wer heute Lokomotivführer heißt, figuriert unabkömmlicher als Schief­

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fenzahn.‘“57 Ein anderer Offizier murmelt gleichfalls  : „‚Das Pack beginnt sich zu fühlen‘, sagt er, ‚die gelernten Arbeiter, alles, was von Berufs wegen an Maschinen steht  !‘“58 Und der Erzähler fügt hinzu  : „Sie wissen es noch nicht, denkt ein Oberarzt, der als vierter Mann in diesem Herrenabteil mitreisen darf. Und wenn sie es erst wissen …“59 Der Roman endet mit dieser filmisch inszenierten symbolischen Verschmelzung von politischer Hoffnung und komplizierten Maschinen, die für die Überlegenheit einer technisch versierten Arbeiterklasse stehen. Der Moment der Hoffnung, der ursprünglich auf die Schaffung von Lebensraum im Osten bezogen war, ist auch jetzt noch, in der Umkehr der geographischen Richtung vorhanden, wie der Zug zeigt, der nun „westwärts in den aufhellenden Mittag [kroch]“.60 In Erich Maria Remarques berühmtem Roman Im Westen nichts Neues (1927– 1928) gibt es keinen solchen erlöserischen Nachkriegsmoment mehr. Hier fehlt die Generation, die weiterführen könnte, was Weber im Jahr 1916 „die Kultur der Erde“ genannt hat.61 Dieser kurze, episodische Roman, der eine bescheidene literarische Unternehmung darstellt, wurde schnell zum Objekt der Anbetung wie der Auseinandersetzung  – zuerst in Deutschland und nach seiner Übersetzung auch in ganz Europa und Amerika. Einerseits sprach sein pazifistisches Pathos die nicht politischen Leser an, andererseits wurde jener zum ideologischen Spielball der Nationalsozialisten und Kommunisten. Die Nazis sahen durch den Roman, der eines propagandistischen Idealismus entbehrt, auf schändliche Weise die deutschen Kriegstoten entehrt sowie auch die Möglichkeit eines militärischen Racheaktes verbaut. Für die Kommunisten wiederum eignete sich das Buch nicht zur Mobilisierung, denn seine Perspektive war limitiert auf die des unaufgeklärten Kleinbürgers, der die sozialen Widersprüche nicht zu durchschauen vermochte, die zum Krieg geführt hatten. Im Gegensatz zu den Schriften, die wir bislang untersucht haben, findet sich in diesem Buch nichts, das die sogenannte Elite betrifft  : keine Darstellung von Offizieren, Industriellen, Ideologen oder eines kultivierten Bürgertums. Der Ich-Erzähler namens Paul Bäumer pflegte als Absolvent eines Gymnasiums 57 Ebenda, S. 470. 58 Ebenda. 59 Ebenda. 60 Vgl. ebenda. 61 Vgl. Weber, Politische Schriften. In  : Gesammelte Aufsätze. Hg. von Johannes Winckelmann. 7 Bde. Tübingen 1988, S. 176.

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einst zu lesen und zu schreiben. Nun, nachdem Bäumer nach Hause gekommen ist, um Urlaub zu machen, starrt er die „Bücherrücken“ in seinem Zimmer an  : Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen  : Sprecht zu mir, – nehmt mich auf – nimm mich auf, du Leben von

früher, – du sorgloses, schönes – nimm mich wieder auf – Ich warte, ich warte.

Bilder ziehen vorüber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen. Nichts – nichts.

Meine Unruhe wächst.

Ein fürchterliches Gefühl der Fremde steigt plötzlich in mir hoch. Ich kann nicht

zurückfinden, ich bin ausgeschlossen  ; sosehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts

bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Ver-

gangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spüre ich Furcht, sie zu sehr zu beschwören,

weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen könnte. Ich bin ein Soldat, daran muss ich mich halten.

Müde stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bücher

und blättere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind

Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, blättere, nehme neue Bücher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger – Blätter, Hefte, Briefe. Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.

Mutlos.

Worte, Worte, Worte – sie erreichen mich nicht.

Langsam stelle ich die Bücher wieder in die Lücken. Vorbei. Still gehe ich aus dem Zimmer.62

Die ungewollte Fremdheit, die sich gegenüber den vertrauten Büchern einstellt, steigert sich nach seinem Aufenthalt in einem Soldatenspital zu einer unbändigen Ablehnung. Denn ihm wird bewusst, dass es jetzt hunderttausende Orte gibt, an denen vom Krieg zermarterte Körper liegen – in Deutschland, Frankreich und Russland  : Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas

möglich ist  ! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtau-

62 Erich M. Remarque  : Im Westen nichts Neues. Köln 2009, S. 122–123.

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senden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wur-

den […].63

Weil für den Helden die Sprache der Bücher an Wert verliert, hat der Roman selbst sich einer unauffälligen Sprache zu bedienen  – wiewohl von Fürchterlichem erzählt wird. So besteht Remarques Methode darin, durch den Jargon der einfachen Soldaten Verschwiegenheit zu bewahren. Pauls Gespräche mit den Kameraden sind ein wenig rau und obszön, wobei dieser Jargon hauptsächlich von den anderen gesprochen wird. Hohe Literarität ist reserviert für Bäumers Momente der Erinnerung oder Reflexion, die losgelöst sind vom tristen Leben, das er tatsächlich führt. Die Bedeutung der Loslösung, die das Ich der Erfahrung vom Ich des Gedächtnisses vollzieht, wird verstärkt durch Bäumers Behauptung, dass er seine Erinnerungen nicht länger als die eigenen zu identifizieren vermag. Die Erinnerungsmomente, die inmitten des schmutzigen Grabenkrieges auftauchen und beinahe über dem Schlachtfeld schweben, beschränken sich auf idyllisch anmutende Eindrücke  – die ruhige Pappelallee in seiner Stadt, den Innenhof der heimatlichen Kirche, der voller Rosenstöcke ist  ; aufschlussreich ist die Tatsache, dass er sich darin nun nicht mehr wiederzufinden vermag. So handelt es sich um Erinnerungen, die jetzt nicht mehr seine eigenen sind  : Die Leuchtschirme gehen hoch – und ich sehe ein Bild, einen Sommerabend, wo ich im Kreuzgang des Domes bin und auf hohe Rosenbüsche schaue, die in der Mitte des

kleinen Kreuzgartens blühen, in dem die Domherren begraben werden. Rundum stehen die Steinbilder der Stationen des Rosenkranzes. Niemand ist da  ; – eine große

Stille hält dieses blühende Viereck umfangen, die Sonne liegt warm auf den dicken

grauen Steinen, ich lege meine Hand darauf und fühle die Wärme. […] Zwischen den

beglänzten kleinen Säulen der umlaufenden Kreuzgänge ist das kühle Dunkel, das nur

Kirchen haben, und ich stehe dort und denke daran, dass ich mit zwanzig Jahren die verwirrenden Dinge kennen werde, die von den Frauen kommen.64

Die religiöse Hingabe und die angedeutete Verlockung, die von den Geheimnissen der Frauen herrührt, haben ein Rilke’sches Flair. Dieses zeigt sich dennoch ganz anders eingerahmt als beispielsweise in den Gedichten aus Rilkes Das Buch 63 Ebenda, S. 180. 64 Ebenda, S. 87–88.

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der Bilder.65 Denn ersteres wird von den Tötungsmaschinen des Grabenkrieges bestimmt  : „Das Bild ist bestürzend nahe, es rührt mich an, ehe es unter dem Aufflammen der nächsten Leuchtkugel zergeht.“66 Der Konnex zwischen der „Leuchtkugel“ und dem unfreiwilligen Gedächtnismoment („Bild“) hat für den zeitgenössischen Leser den Wert eines suggestiven Datumsstempels. Denn im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit hat ein „Bild“, das sich auf eine „Leuchtkugel“ bezieht, zwangsläufig die Assoziation eines Fernsehgerätes oder Monitors hervorzurufen. Der Alltagscharakter eines solchen Bildes verbindet sich so mit den mörderischen Kriegsmaschinen. In diesem Moment sorgt der Roman dafür, dass der Große Krieg auch im übertragenen Sinn in die moderne Alltagswelt eindringt. Diese ungewollten Effekte scheinen heute provokativer zu wirken als die bewusst eingesetzten Stilmittel, etwa die allzu expliziten Erklärungen, durch die das Motiv der ‚verlorenen Generation‘, von der zu Romanbeginn die implizite Rede ist, beschworen werden soll  : „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde  – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“67 Damit erfolgt der Auftakt zu einem erzählerischen Reigen, der auf der letzten Seite mit jenem Satz endet, der dem Roman auch seinen Titel gab. Hier wechselt der Erzähler, um Autorität bemüht, plötzlich von der Ich- in die Er-Perspektive  : Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.

Er war vornübergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn um-

drehte, sah man, dass er sich nicht lange gequält haben konnte  ; – sein Gesicht hatte

einen so gefassten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, dass es so gekommen war.68

65 Nach einer kurzen patriotischen Phase, in der er Kriegsgedichte schrieb wie auch die vierte seiner Duineser Elegien, hatte Rilke 1915 in der österreichischen Armee Kriegsdienst zu leisten. Nach München kehrte er in einer Stimmung der lähmenden Verzweiflung zurück. Die damit verbundene Beeinträchtigung seiner poetischen Energien hielt bis 1921 an. 66 Remarque (2009), S. 88. 67 Ebenda, S. 9. 68 Ebenda, S. 199.

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In gewisser Weise zeigt diese Schlussfolgerung den konzeptionellen Grundfehler des Romans, eine allzu augenscheinliche Ironie und Sentimentalität sowie eine Ästhetisierung der brutalen Wirklichkeit. Die Literatur über den Krieg erzählt uns von dem fürchterlichen Niedergang menschlicher Ideale und von einer schrecklichen Entwürdigung des mensch­ lichen Körpers. Auch erfahren wir von der verzweifelten Anstrengung der Schriftsteller, etwas Lehrreiches, womöglich sogar das menschliche Leid Veredelndes ausfindig zu machen. Abschließend sei noch ein Effekt erwähnt, der oftmals unbeachtet bleibt  : die buchhalterische Mentalität der Berechnung und Gewinnerzielung. Karl Kraus – in seinem Habitus als jüdischer Antisemit  – kritisiert im Aufsatz „In dieser großen Zeit“ die Beschwörung des Gottes des Kommerzes, der im Krieg unter den gewinnorientierten Kaufleuten regiere  – eines Gottes mit menschlichem Antlitz  : […] der registrierende Großjud, der Mann, der an der Kassa der Weltgeschichte sitzt, nimmt Siege ein und notiert täglich den Umsatz in Blut und hat in Kopulierungen und Titeln, aus denen die Profitgier gellt, einen Ton, der die Zahl von Toten und

Verwundeten und Gefangenen als Aktivpost einheimst, wobei er zuweilen mein und dein und Stein und Bein verwechselt […].69

Aber es war nicht nur der bösartig-aufgerufene „jüdische Plutokrat“, der solche Berechnungen anstellte  ; diese Weltanschauung umfasste die gesamte, obere und untere, österreichische wie deutsche Gesellschaft. Im Jahr 1918 wies Kaiser Wilhelm II. Ludendorffs verzweifelten Rücktritt zurück, fügte aber hinzu  : „Ich sehe ein, wir müssen die Bilanz ziehen. Wir sind an der Grenze unserer Leistungsfähigkeit. Der Krieg muß beendet werden.“70 Es war diese Art von Mentalität, die den großen österreichischen Romancier Hermann Broch veranlasste, Huguenau zu verfassen, den dritten Teil seiner Trilogie Die Schlafwandler (1930–32). Dieser Roman beschreibt die Karriere des Titelhelden, eines Elsässer Profiteurs, der seinen beruflichen Aufstieg als Geschäftsmann durch Betrug und Mord vollzieht. In seinem „Historischen Exkurs“ über den „Zerfall der Werte“ konstatiert Broch schließlich  : „Die beiden großen rationalen Verständigungs69 Karl Kraus, Band 5  : Weltgericht I. In  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1988, S. 14. 70 Vgl. Alfred Niemann  : Kaiser und Revolution. Die entscheidenden Ereignisse im Großen Hauptquartier. Berlin 1922, S. 43.



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mittel der Moderne [sind] […] die Sprache der Wissenschaft in der Mathematik und die Sprache des Geldes in der Buchhaltung […].“71 Der Triumph dieser beiden ‚Sprachen‘, unter den perversen Bedingungen in Kriegszeiten, hätte das endgültige Scheitern des deutschen Traumes über „das Wenden [und das] Durchblicken“72 (Musil) der brutalen Tatsachen des Krieges als eine Rechtfertigung des deutschen Idealismus bedeutet. Im Jahr 1933 schrieb Walter Benjamin die ‚Armut‘ der Kriegserfahrung dem Zerfall der Ekstase der nationalen Bindung zu.73 Diese Armut könnte konkreter beschrieben werden als der Zusammenbruch einer Methode der Berechnung, die dem Feind größtmöglichen Schaden bei minimalem Aufwand zuzufügen beabsichtigte.

Literaturverzeichnis Benjamin, Walter, Band 1  : Erfahrung und Armut. In  : Illuminationen  =  Ausgewählte Schriften. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1977. Broch, Hermann, Band 1  : Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1980. Debord, Guy  : The Society of the Spectacle. New York 1994. Ferguson, Niall  : The Pity of War. Explaining World War I. New York 1999. George, Stefan, Band 1  : Der Krieg. In  : Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal = Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München [u.a.] 1958. Huelsenbeck, Richard  : En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus. Leipzig [u.a.] 1920. Jünger, Ernst, Band 1  : Die gedruckten Fassungen unter Berücksichtigung der Korrekturbücher. In  : In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Helmuth Kiesel. 2 Bde. Stuttgart 2013. Karl, Kraus  : Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1986 ff. Band 5  : Weltgericht I. Frankfurt a. M. 1988. Band 10  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 1986. Mann, Thomas  : Betrachtungen eines Unpolitischen. In  : Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1983. 71 Hermann Broch, Band 1  : Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. In  : Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul M. Lützeler. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1980, S. 537–538. 72 Vgl. Musil (1978), Bd. 8, S. 1021. 73 Siehe Walter Benjamin, Band 1  : Erfahrung und Armut. In  : Illuminationen = Ausgewählte Schriften. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1977, S. 291–296.

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Mann, Thomas  : Der Zauberberg. Frankfurt a. M. 2013. Mann, Thomas  : Der Zauberberg. In  : Selbstkommentare. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1993. Musil, Robert, Band 8  : Essays und Reden. In  : Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. 9 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978. Musil, Robert  : Europäertum, Krieg, Deutschtum. In  : Die Neue Rundschau  25 (1914), Heft 9, S. 1303–1305. Natter, Wolfgang  G.: Literature at War 1914–1940. Representing the „Time of Greatness“ in Germany. New Haven [u.a.] 1999. Niemann, Alfred  : Kaiser und Revolution. Die entscheidenden Ereignisse im Großen Hauptquartier. Berlin 1922. Norton, Robert E.: Secret Germany. Stefan George and His Circle. Ithaca, N. Y., 2002. Reinecke, Uwe  : Deutsche Kriegskultur. In  : Ossietzky 5 (2002), Heft 25, Online-Ausgabe, 23. Mai 2016, http://www.sopos.org/aufsaetze/3e15a492b3b8a/1.phtml. Remarque, Erich M.: Im Westen nichts Neues. Köln 2009. Rolland, Romain  : Au-dessus de la mêlée. Paris 1915. Weber, Max  : Gesammelte politische Schriften. In  : Gesammelte Aufsätze. Hg. von Johannes Winckelmann. 7 Bde. Tübingen 1988. Zweig, Arnold, Band 1.2  : Der Streit um den Sergeanten Grischa. In  : Arnold Zweig. Berliner Ausgabe. Hg. von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Akademie der Künste. Berlin 2006.

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Kurt Anglet Studium der Theologie, Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main und Münster  ; Promotion in Fundamentaltheologie 1988  ; Habilitation in Dogmatik 2003 in Breslau  ; wissenschaftlicher Mitarbeiter von Alois Kardinal Grillmeier  ; Priesterweihe 2002 in Berlin  ; Professor in Berlin am Seminar Redemptoris Mater, einer Affiliation der römischen Gregoriana. Arbeitsschwerpunkt  : theologische Deutung der Moderne. Peter Beicken Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und München (Magister Artium 1968)  ; Ph. D. an der Stanford University 1971  ; Lehrtätigkeit an der Princeton University  ; Gastprofessuren an der University of North Carolina/Chapel Hill, Georgetown University, Bergischen Universität Wuppertal, Universität Gießen  ; Professor of German Studies an der University of Maryland, College Park. Stanley Corngold Professor emeritus für Germanistik und Komparatistik an der Princeton University und Fellow der American Academy of Arts and Sci­ences. Gábor Kerekes Ph.  D. im Jahr 1998 an der Eötvös Loránd Universität  ; Mitglied des Germanistischen Institutes (ELTE). Arbeitsschwerpunkte  : österreichische und deutsche Literatur des 20.  Jahrhunderts, österreichisch-ungarische Kulturbeziehungen. Bernd Neumann Studium der Germanistik, Psychologie und Geschichte in Hamburg, Frankfurt und Berlin  ; Professor emeritus für Deutsche Literatur an der Technischen Universität Trondheim (NTNU), Norwegen. Thorben Päthe wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Zürich  ; 2014/2015 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum (IFK) in Wien  ; 2015/2016 Abroad Fellow an der ENS Paris. Wolfgang Wangerin lehrt am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen seit 1975 Fachdidaktik Deutsch für das Lehramt an Gymna-

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sien; ehemals Leiter der Arbeitsgruppe „Historische Jugendbuchforschung“ und der „Bibliothek für Kinder- und Jugendliteratur“. Gernot Wimmer lehrt Neuere deutsche Literatur und deutsche Sprache an der St.-Kliment-Ohridski-Universität von Sofia  ; Promotion im Jahr 2004 zu Kafkas Romanfragment Der Verschollene. Arbeitsschwerpunkte  : Neuere ­deutsche Literatur und Weltliteratur. Tomislav Zelić Studium der Philosophie und der Deutschen Philologie in Heidelberg, New York und Berlin  ; 2009 Promotion am Department of Germanic Languages and Literatures an der Columbia University  ; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zadar, Kroatien  ; 2011 Inauguration zum Priv.-Doz. an der Universität Zadar.