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German Pages 577 [576] Year 2011
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger
Band 119
Michael Titzmann
Anthropologie der Goethezeit Studien zur Literatur und Wissensgeschichte
Herausgegeben von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort
De Gruyter
Redaktion des Bandes: Christian Begemann
ISBN
978-3-484-35119-6
e-ISBN 978-3-484-97140-0 ISSN
0174-4410
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Titzmann, Michael. Anthropologie der Goethezeit : Studien zur Literatur und Wissensgeschichte / by Michael Titzmann ; edited by Wolfgang Lukas, Claus-Michael Ort. p. cm. -- (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 119) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-484-35119-6 (alk. paper) 1. German literature--18th century--History and criticism. 2. German literature--19th century--History and criticism. 3. Literature and anthropology. I. Lukas, Wolfgang. II. Ort, Claus-Michael. III. Title. PT311.T58 2011 830.9‘006--dc23 2011032953
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band versammelt zwölf Aufsätze von Michael Titzmann aus den Jahren 1979 bis 2008 sowie einen Originalbeitrag. Sie widmen sich zwar in erster Linie der Goethezeit, die daher titelgebend erscheint, behandeln aber auch den gesamten Zeitraum der Aufklärung vom frühen 18. Jahrhundert an und gehen zum Teil bis in das 17. Jahrhundert zurück (so u.a. die Beiträge zur Utopie und zur Pornographie). Konvergenzpunkt aller Beiträge ist der säkulare Prozess der ›Entdeckung des Menschen‹ und der Wende zur Anthropologie, der in Literatur und Denken die ästhetische Moderne grundgelegt hat. Auf der Basis eines umfangreichen Korpus sowohl literarischer als auch theoretischer Texte lassen die Aufsätze einen gemeinsamen intellektuellen Denkraum erstehen, den sie aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen thematischen Fragestellungen in literarhistorischer, wissens- und diskursgeschichtlicher sowie sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht vermessen und erschließen. Die wiederabgedruckten Texte wurden durchgesehen und gegebenenfalls korrigiert, die bibliographischen Verweisungen weitgehend vereinheitlicht. Von diesen Eingriffen abgesehen und bis auf einen Aufsatz (zu Schillers Lyrik), der vom Autor erweitert wurde, werden alle Texte unverändert abgedruckt. Sämtliche Aufsätze wurden außerdem auch von Michael Titzmann selbst noch einmal durchgesehen. Diejenigen Beiträge, die in besonderer Weise mit einem großen Textkorpus arbeiten, sind jeweils mit einem (zum Teil neu erstellten) chronologischen Verzeichnis der Primärtexte versehen. Um den monographischen Charakter des Bandes zu unterstreichen und seine Benutzbarkeit als Studienbuch zu ermöglichen, enthält er darüber hinaus sowohl ein alphabetisches Gesamtverzeichnis des zugrundegelegten Korpus literarischer und theoretischer Quellentexte als auch ein Namensregister. Die Herausgeber wurden in vielfältiger Weise unterstützt: Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski haben Korrektur gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Korrektur- und Recherchearbeiten wurden geleistet von Arthur Pyrskala, ferner von Annika Engelhardt, Kai Jürgens, Anneke Schilling und Manuela Walter. Olaf Koch hat den Satz eingerichtet. Ihnen allen – und nicht zuletzt auch Michael Titzmann selbst – sei hiermit ganz herzlich gedankt. Dank gilt ferner Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger, die diesen Band bereitwillig in die Reihe der »Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur« aufgenommen haben. Nicht zuletzt danken wir auch dem De Gruyter-Verlag und Birgitta Zeller-Ebert für ihre Langmut und ihre Geduld.
Wuppertal und Kiel im Mai 2011
Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort
Inhaltsverzeichnis
Claus-Michael Ort / Wolfgang Lukas Literarische Anthropologie der ›Goethezeit‹ als Problem- und Wissensgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
I
Z U R T H E O R IE L IT E R A T U R G E S C H IC H T L IC H E R P E R IO D IS IE R U N G
Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung . . . . . . . . 31 II
D IS K U R S E D E R A U F K L Ä R U N G
Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde: Historischer Ort und Argumentationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Wielands Staatsromane im Kontext des utopischen Denkens der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
I I I D AS M O D E L L D E R › IN IT I A T IO N S G E S C H IC H T E ‹
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen . . . . . . 173 Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre . . . . . . . . . 195 Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche . . . . . . . . . . . . . . 223 Semiotische Textanalyse und historische Anthropologie. Am Beispiel von Eichendorffs Das Marmorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
VIII IV Z U R D IS K U R S G E S C H IC H T E D E R › GE F Ü H L E ‹
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche . . . . . . . . . . . . . . 373 Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung: Der philosophisch-pornographische Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
V
L Y R IK A L S S C H N IT T P U N K T D E R D IS K U R S E
Vom ›Sturm und Drang‹ zur ›Klassik‹: Grenzen der Menschheit und Das Göttliche – Lyrik als Schnittpunkt der Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Schillers Lyrik und die Philosophie der Spätaufklärung: Freigeisterei der Leidenschaft und Resignation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Bibliographie der historischen Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
Claus-Michael Ort / Wolfgang Lukas Literarische Anthropologie der ›Goethezeit‹ als Problem- und Wissensgeschichte.
Der Vorschlag, die ›schöne‹ Literatur als Quelle anthropologischer Erkenntnis zu nutzen, ist so alt, wie die Anthropologie selbst: Beide verdanken sich der ›Aufklärung‹ ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, als erzählende und dramatische Gattungen ›menschenkundliche‹ Versuchsanordnungen simulieren (Christoph Martin Wieland, Karl Philipp Moritz, Friedrich Schiller u.a.), in der »Doppellinie des Entwicklungsromans« und »der Autobiographie«1 zu Geburtshelfern von Psychologie (Moritz: ›Erfahrungsseelenkunde‹), Pädagogik, Ethnologie und Kriminologie werden und den Prozeß ihrer disziplinären Institutionalisierung begleiten. Diese Diskurse bearbeiten das nicht erst seit Descartes’ Leib-SeeleDualismus verhandelte, nun aber verstärkt problematisierte commercium mentis et corporis und popularisieren es wiederum in einer Vielzahl von Fallgeschichten, die die inneren und die äußeren Grenzen des Menschen ausloten.2 Zugleich bringt die »Aufspaltung des Menschen in eine Sinnennatur und in ein nicht-materielles Geistwesen […] Vermittlungsdesiderate« hervor,3 auf deren Behebung nicht nur die ›moralisierende‹ und ›psychologisierende‹ Medizin der ›philosophischen Ärzte‹ (Johann August Unzer, Ernst Platner u.a.) einige Mühen verwendet und die
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Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literatur-geschichte. Bd. II. Berlin, New York 2000, S. 432–434, hier S. 433. Für das 18. und 19. Jahrhundert siehe auch schon Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, vgl. zur Einführung S. 1– 28. Vgl. die Einleitung von Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes F. Lehmann in: Dies. (Hgg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001, S. 7–14. Zum »Literarische[n] der Anthropologie« und zum »eigentümlich Anthropologische[n] der Literatur« siehe auch Helmut Pfotenhauer: Einführung. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 555–560, hier S. 557. Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003, S. 60; vgl. im einzelnen Rainer Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart, Bad Canstatt 1966.
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Literarische Anthropologie der Goethezeit
den literarischen und außerliterarischen Diskurs über den ›Menschen‹ zwischen Natur und Kultur, Physis und Psyche, Trieb und Moral langfristig prägen. Fungiert die ›schöne‹ Literatur als Medium ›anthropologischer‹ Wissensgenerierung und Wissensdiskursivierung, so liegt es umgekehrt nahe, sie auch selbst explizit als Quelle für das von ihr konstruierte Wissen zu nutzen: Endlich sind zwar eben nicht Quellen, aber doch Hülfsmittel zur Anthropologie: Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. Denn obzwar bei den letzteren eigentlich nicht Erfahrung und Wahrheit, sondern nur Erdichtung untergelegt wird, und Übertreibung der Charaktere und Situationen, worein Menschen gesetzt werden, gleich als im Traumbilde aufzustellen hier erlaubt ist, jene also nichts für die Menschenkenntnis zu lehren scheinen, so haben doch jene Charaktere, so wie sie etwa ein Richardson oder Molière entwarf, ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung des wirklichen Tun und Lassens der Menschen genommen werden müssen; weil sie zwar im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmend sein müssen.4
Und wie Michael Titzmann am Beispiel ›goethezeitlicher‹ Initiationsgeschichten und ihres Altersklassen-Diskurses zeigt, scheint sich die ›anthropologische‹ Theoriebildung des Zeitraumes tatsächlich partiell aus ihrer literarischen DiskursUmwelt zu speisen, so daß »nicht die Literatur auf theoretisch artikuliertes Wissen zurückgreift, sondern […] der theoretische Diskurs, wenn auch selektiv, Elemente des literarischen Modells [der Altersklassen, CMO/WL] übernimmt« und Literatur und Theorie außerdem auf »gemeinsames vortheoretisches Wissen« rekurrieren.5 Wie ›anthropologieaffin‹ die Literatur seit dem 18. Jahrhundert an der Stelle, »an der sich […] Körpergeschichte und philosophische Anthropologiegeschichte begegnen,«6 auch immer sein mag, die Literaturwissenschaft erkennt jedenfalls erst im Kielwasser der cultural turns des 20. Jahrhunderts, wie stark sie in beide involviert ist. Die Hochkonjunktur der ›Anthropologie der Literatur‹ wird insbesondere von der zunehmenden Soziologisierung und Historisierung der
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Vorrede in Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. VI.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1964, S. 395–690, hier S. 401f. – Schon Herder erblickt in den „Weissagungen der Dichter […] Stoff zur wahren Seelenlehre“ und verweist auf Shakespeare und Klopstock (Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume [1773]. In: Ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787. Hgg. von Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 327–393, hier S. 340 und 343f.). Michael Titzmann: Die ‚Bildungs-’/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche (2002). Im vorliegenden Band S. 223–287, hier S. 272. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 6 (1994), S. 93–157, hier S. 101; schon allein aufgrund ihres Gegenstandsbereichs sei die Literaturwissenschaft – so Riedel – »von sich aus anthropologieaffin« (ebd.).
Einführung
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philosophischen Anthropologie seit Kant (Max Scheler, Helmuth Plessner, Ernst Cassirer, Arnold Gehlen)7 und der Ankunft anthropologischer Fragestellungen innerhalb einer mentalitäts- und sozialgeschichtlich gewendeten Historiographie (v.a. in der Annales-Schule) begünstigt.8 Darüber hinaus öffnet sich eine in ihrem Selbstverständnis und Erkenntnisanspruch gewandelte Literaturwissenschaft ethnologischen ›Hermeneutiken‹ (im Sinne von Clifford Geertz: Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, 1973),9 so dass die
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Zur Konjunktur der philosophischen Anthropologie bis ins 20. Jahrhundert siehe Odo Marquard: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts. In: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973, S. 122–144. Folgenreich waren Thomas Nipperdey: Bemerkungen zum Problem einer historischen Anthropologie. In: Ernst Oldemeyer (Hg.): Die Philosophie und die Wissenschaften. Meisenheim 1967, S. 350–370, und Wolf Lepenies: Probleme einer Historischen Anthropologie. In: Reinhard Rürup (Hg.): Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis. Göttingen 1977, S. 126–159; vgl. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben. Köln 2000 und den knappen forschungsgeschichtlichen Überblick in Christoph Wulf: Grundzüge und Perspektiven Historischer Anthropologie. Philosophie, Geschichte, Kultur [2002]. In: Aloys Winterling (Hg.): Historische Anthropologie. Stuttgart 2006, S. 265–290, v.a. S. 265–271. Vgl. auch die ausführliche problemorientierte wissenschaftsgeschichtliche Skizze in Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg 2004, S. 9–96. – Eine anthropologisch und soziobiologisch erweiterte Soziologie vertritt schon Walter Ludwig Bühl: Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens. Tübingen 1982; zur neueren ›Konvergenzanthropologie‹ vgl. Christian Illies: Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Zur Konvergenz von Moral und Natur. Frankfurt a. M. 2006, der von der Konvergenz von Vernunftmoral und ›moralfähiger‹ menschlicher Natur ausgeht (vgl. S. 9–16, hier S. 13ff.). Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, S. 7–43; zu Geertz siehe Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 445–477. Als initiierend für die Literaturanthropologie können gelten: Howard Bloch: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of French Middle Ages. Chicago, London 1983 und Fernando Poyatos (Hg.): Literary Anthropology: A New Interdisciplinary Approach to People, Signs and Literature. Amsterdam, Philadelphia 1988 sowie für den deutschsprachigen Kontext Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Kulturwissenschaft. Reinbek 1996. Zu einer ›literaturanthropologischen‹ Germanistik vgl. auch Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung. In: Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hgg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 337–366; zur transdisziplinären Vorgeschichte einer ›literarischen Anthropologie‹ siehe Fauser 2003 (Anm. 1), S. 41–65, v.a. S. 59ff., sowie zum Ansatz von Michael Titzmann, der kulturwissenschaftlich kaum angemessen zur Kenntnis genommen worden ist: Hans Krah/Claus-Michael Ort: Kulturwissenschaft: Germanistik. In: Klaus Stierstorfer/Laurenz Volkmann (Hgg.): Kulturwissenschaft interdisziplinär. Tübingen 2005, S. 121–150, hier S. 131–133.
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Literarische Anthropologie der Goethezeit
»Anthropologisierung der Literatur und Literaturwissenschaft« zugleich als »eine ethnologische Wende« erscheint, die umgekehrt mit einer »Literarisierung der ethnologischen Forschung«10 korrespondiert und bis in die Ansätze des New Historicism (Stephen Greenblatt u.a.) hinein ausstrahlt. Literarische Texte werden demnach »als Medien begriffen […], die bereits selbst verdichtete Formen ethnographischer Beschreibung und Kulturauslegung enthalten«.11
1.
Literaturanthropologie I und II
Zu unterscheiden sind vor diesem Hintergrund zwei literaturanthropologische Forschungsperspektiven, die ebenso wenig in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt wie sachlich und argumentativ vermengt werden sollten: Zum einen bedeutet ›Anthropologie der Literatur‹ (genitivus objectivus, Literaturanthropologie I), daß sich die Literaturwissenschaft fächerübergreifend als eine ›Anthropologie‹ versteht, die den langfristigen Bestandserfolg von Dichtung in die Evolutionsgeschichte von Sozialität, Kommunikation und Symbolgebrauch einordnet und daraus – notwendig abstrakt – anthropologische Funktionskonstanten eines mimetischen und spielerisch fingierenden Weltbezugs ableitet.12 Der Gegenstand einer so verstandenen Literaturanthropologie I gehört genauso wie die körperlich-seelischen Grunderfahrungen des Menschen (Kindheit, Alter, Tod, Sexualität, Gewalt, Fremdheit) und die mit ihnen verknüpften Performanzen und Rituale (rites de passage)13 zum Objektbereich anthro-pologischer Forschung. Dieser fällt jedoch gerade nicht in den Zuständig-keitsbereich einer Literaturanthropologie II (›Anthropologie der Literatur‹: genitivus subjectivus), der zufolge die Literatur selbst als Quasi-›Anthropologie‹ interpretiert werden kann.14
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Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Dies. (Hg.) 1996 (Anm. 9), S. 7–64, hier S. 11, 19. Ebd., S. 25. In diesem Sinn anthropologische weil tendenziell enthistorisierende Argumentationswege beschreitet z.B. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991; vgl. auch die inzwischen sechs Titel umfassende Buchreihe »Poetogenesis – Studien zur empirischen Anthropologie der Literatur« (Verlag mentis): darin – evolutionstheoretisch – Karl Eibl: Animal poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004, ferner Rüdiger Zymner/Manfred Engel (Hgg.): Anthropologie und Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004 und – an der Grenze zum neurowissenschaftlichen Reduktionismus – Gerhard Lauer: Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung. In: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hgg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 137–163. Im Sinne von Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage) [1909, 1981]. 3., erw. Aufl. Frankfurt a. M., New York, Paris 2005. Siehe ähnlich Riedel 2004 (Anm. 9), S. 349–366, der »Literatur als Anthropologie (Literarische Anthropologie)« (S. 349) von einer »Literaturwissenschaft als Anthropolo-
Einführung
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Für diese gilt nämlich erstens (genauso wie für die historische Anthropologie), dass sie, »anders als der Name denken läßt, eine Art von Historie, nicht eine Art von Anthropologie«15 ist, und zweitens, dass sich ihr Erkenntnisinteresse nicht auf die elementaren menschlichen Erfahrungshorizonte selbst richtet, sondern auf die Geschichte ihrer literarischen Diskursivierungen, darauf also, auf welche Weise die Literatur einer Gesellschaft die psycho-physischen Rahmenbedingungen menschlicher Verhaltens- und Handlungsalternativen narrativ, dramatisch oder ›lyrisch‹ konstruiert. Literatur fungiert somit als Speicher- und Verbreitungsmedium des gesellschaftlich kommunizierten anthropologischen Wissens und Selbstbildes einer raum-zeitlichen Kultur (z.B. der ›Goethezeit‹) und kann zugleich als historische Quelle solchen Wissens wiederum zum Gegenstand einer ›historischen Ethnologie‹ (z.B. der ›Goethezeit‹) werden. In diesem Sinne versteht Michael Titzmann die »literaturgeschichtliche Komponente […] [der] Literaturwissenschaft« als eine »historische Anthropologie«16 und zugleich als Teil einer historischen Ethnologie, die in der Zeit tut, was Ethnologie im Raume tut: die Rekonstruktion fremder Kulturen, wie sie nicht nur das Mittelalter oder das Barock, sondern auch die Goethezeit, der Realismus, usw. für uns darstellen, und deren Grenzfall schließlich die aktuelle Gegenwart ist.17
Literaturgeschichte als temporalisierte Ethnologie leistet somit einen Beitrag zur »Rekonstruktion historischer Fremdheit«. Neben der Erkenntnis »sozialer oder ethnologischer Fremdheit« ist darin auch die wesentliche »Voraussetzung eines adäquaten Selbstverständnisses der jeweils gegenwärtigen Kultur/Epoche« zu
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gie« unterscheidet, mit letzterer aber – der angloamerikanischen Kulturanthropologie (literary anthropology) folgend – v.a. die kulturwissenschaftlich-ethnologische Wende meint, die »Literatur und Dichtung […] nicht primär als Objekt der ›Kunst‹ begreift, sondern als Objektivation der ›Kultur‹, zu der sie historisch und geographisch gehört« (S. 339). Dass auch erstere ohne diskurs- und wissensgeschichtlichen Deutungshorizont nicht nur an literarhistorischem Erkenntniswert einbüßte, sondern der conditio-humanaEmphase einer enthistorisierenden Literaturanthropologie I zu erliegen droht (vgl. ebd. S. 359ff.), klingt bei Riedel immerhin an; kritisch zu Riedel auch Harald Neumeyer: Historische und literarische Anthropologie. In: Ansgar Nünning/Vera Nünnig (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar 2008, S. 108–131, v.a. S. 123. Rüdiger Bittner: Anthropologie – das Projekt und seine Aussichten. In: Braungart/Ridder/Apel (Hgg.) 2004 (Anm. 9), S. 329–336, hier S. 332. Michael Titzmann: Verantwortung und Leistung der Literaturwissenschaft. In: Philipp Schäfer (Hg.): Verantwortung und Wissenschaft. Ein Symposion an der Universität Passau 11.–12.1.1990. Passau 1990, S. 65–79, hier S. 74. Titzmann 1990 (Anm. 16) S. 74. Zur Literaturgeschichte als »historische Ethnologie des Empfindens, Denkens, Redens einer vergangenen Kultur« vgl. auch Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 427.
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Literarische Anthropologie der Goethezeit
erblicken: »Die Kenntnis alternativer anthropologischer Möglichkeiten, die Kenntnis des Fremden, ist die Bedingung der Erkenntnis des Eigenen«.18 Aneignung des Fremden und Entfremdung vom Vertrauten bedingen dabei einander notwendig. Der ethnologische bzw. ethnographische Blick des Literarhistorikers leistet grundsätzlich jene gezielte »Befremdung« des Objekts, die, als methodologische Prämisse, dessen Intelligibilität zu allererst garantiert.19 Die an der ethnologischen Leitdifferenz ›Fremdheit vs. Vertrautheit‹ orientierten Arbeiten Michael Titzmanns zerstören systematisch falsche, weil scheinbare Vertraulichkeiten – exemplarisch etwa, um stellvertretend nur ein Beispiel zu zitieren, die Studie zur Genese der modernen Liebeskonzeption in der Literatur des (vor)goethezeitlichen 18. Jahrhunderts,20 die einen wesentlichen Beitrag zu einer historischen Emotionsforschung leistet, wie sie sich derzeit in der Geschichtswissenschaft, allerdings noch kaum in der Neugermanistik, etabliert. Die durchgehend ethnographische Perspektive stiftet nicht zuletzt auch den charakteristischen explorativen Gestus dieser Studien, die, auf breiter empirischer Materialbasis operierend, ihren ›fremden‹ Gegenstand ›entdecken‹ und ihn in seiner Historizität konstituieren und modellieren.21
2.
Das anthropologische Denksystem und die Literatursysteme der ›Goethezeit‹
2.1 Der ›Leib-Seele‹-Diskurs und die Probleme seiner Begrenzung Eine literarische Anthropologie der ›Goethezeit‹ findet sich unvermeidlich auf die eigene Diskurs-Vorgeschichte und die eigenen Entstehungsbedingungen zurückverwiesen. Zugleich bietet sich ihr aber die Chance, die Probleme einer spezifisch ›anthropologischen‹ Gegenstandskonstitution zu reflektieren, die die ›literarische Anthropologie‹ als historisch generalisierbare Forschungsperspektive betrifft. Obwohl deren historische Reichweite sich nicht auf den Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart beschränkt, trifft das literarisch gespeicherte ›anthropo-
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Michael Titzmann: Strukturalismus. Was bleibt. In: Hans-Harald Müller/Marcel Lepper/Andreas Gardt (Hgg.): Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910 – 1975. Göttingen 2010, S. 371–411, hier S. 409. Siehe Stefan Hirschauer und Klaus Amann (Hgg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M. 1997, die programmatische Einleitung S. 7–52. Empfindung und Leidenschaft. Strukturen, Kontexte, Transformationen der Emotionalität/Affektivität in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1990), im vorliegenden Band S. 333–371. Vgl. auch zum Zusammenhang von Empirie und Theorie die grundsätzlichen, am Beispiel der Ethnographie der eigenen Gegenwartskultur entwickelten, aber auf eine literarhistorische Ethnographie übertragbaren Ausführungen von Hirschauer/Amann (Anm. 19), S. 16–41.
Einführung
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logische‹ Wissen erst seit dem quantitativen und qualitativen DiskursFormierungsschub der literaturexternen ›Anthropologie‹ im 18. Jahrhundert auf die Parallelgeschichte eines zusehends verwissenschaftlichten und disziplinär formierten ›anthropologischen‹ Wissens.22 Der Begriff ›anthropologia‹ ist erstmals im 16. Jahrhundert belegt23 und durchläuft seit dem 18. Jahrhundert eine intensionale und extensionale Erweiterung, die
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Siehe v.a. Hans-Jürgen Schings (Hg.) 1994 (Anm. 2), Jürgen Barkhoff/Eda Sagarra (Hgg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992 und den Forschungsbericht von Riedel 1994 (Anm. 6), sowie schon Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. München 1979, ferner Rudolf Behrens/Roland Galle (Hgg.): Leibzeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Würzburg 1993, Bergengruen/Borgards/ Lehmann 2001 (Anm. 2), Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1996, Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 und Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005. – Für eine vor-›anthropologische‹ Literaturanthropologie stehen z.B. Christian Kiening: Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven. In: Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Forschungsberichte zur germanistischen Mediävistik I. Bern u.a. 1996, S. 11–129 und Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt. Göttingen 2006 oder Karin Kelping: Frauenbilder im deutschen Barockdrama. Zur literarischen Anthropologie der Frau. Hamburg 2003; für die Romantik und das 19. Jahrhundert vgl. ferner: Manfred Engel: Romantische Anthropologie. Skizze eines Forschungsprojektes. In: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 264–271, Stefan Schweizer: Anthropologie der Romantik: Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik. Paderborn 2008, Maximilian Bergengruen: Schöne Seelen, groteske Körper: Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, Wolfgang Lukas: ›Gezähmte Wildheit‹. Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ›Bürgers‹ um die Jahrhundertmitte (ca. 1840–60). In: Achim Barsch/Peter M. Hejl (Hgg): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850– 1914). Frankfurt a. M. 2000, S. 335–375 sowie für die Frühe Moderne etwa Wolfgang Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, Wolfgang Riedel: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. Würzburg 2008 und Markus Dauss/Ralf Haeckel (Hgg.): Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Würzburg 2009. Udo Benzenhöfer/Maike Rotzoll: Zur »Anthropologia« (1533) von Galeazzo Capella. Die früheste bislang bekannte Verwendung des Begriffs Anthropologie. In: Medizinhistorisches Journal 26 (1991), S. 315–320. Zum vor-cartesianischen ›anthropologischen‹ Diskurs siehe ansonsten Thomas Leinkauf: Selbstrealisierung. Anthropologische Konstanten in der Frühen Neuzeit. In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 10 (2005), S. 129–161 und zur Wissensformation ›Anthropologie‹ zwischen Medizin und Naturrecht vom 16. bis zum 17. Jahrhundert umfassend Simone de Angelis:
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die Limitierung des Objektbereichs einer Literaturanthropologie im hier verstandenen Sinn alles andere als erleichtert. Zedlers Universal-Lexicon kennt ›Anthropologie‹ zwar v.a. noch in der physiologischen und anthropometrischen Bedeutung (»natürliche Beschaffenheit und der gesunde Zustand des Menschen«),24 problematisiert darüber hinaus aber bereits die totalisierende Tendenz des Begriffs: Anbey ist auch noch dieses zu mercken, daß, wenn man das Wort ›Anthropologie‹ überhaupt nehmen will, auch die Lehre von der moralischen Beschaffenheit des Menschen zugleich mit abzuhandeln, ja auch die Vernunfft-Lehre dahin zu ziehen wäre; weil aber hieraus ein ungeheurer Cörper erwachsen würde, so hat man die moralische Betrachtung in die ›Ethik‹ und die Untersuchung des menschlichen Verstandes in die ›Logik‹ locieret.25
1772 unterscheidet Ernst Platner in seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise ›Anatomie‹ und ›Physiologie‹ als Wissenschaften der ›Maschine‹ von der Seelenwissenschaft ›Psychologie‹ und definiert ›Anthropologie‹ vor dem Hintergrund eines Leib-Seele-Hiatus gerade als diejenige Disziplin, die diesen Hiatus wenn nicht zu überwinden so doch zu erforschen versucht: Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne. Es ist natürlich, daß die Anthropologie auch einzelne Bemerkungen haben muß welche den Körper allein betreffen, und wiederum andere welche die Seele allein angehen. Aber diese Bemerkungen müssen doch von der einen oder von der andern Seite eine Beziehung haben, und die welche das nicht haben, gehören eigentlich nicht in diese Wissenschaft.26
Spätere Lexikalisierungen von ›Anthropologie‹ tragen dieser Bedeutungserweiterung Rechnung und bezeichnen damit die »Lehre von dem Menschen, seinen Theilen und Verhältnissen, so wohl im theologischen, als physischen und moralischen Verstande«27, während der Brockhaus von 1819 die ›Anthropologie‹ als »Naturgeschichte des Menschen« v.a. auf Medizin und Psychologie ausrichtet:
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Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ›Wissenschaft vom Menschen‹ in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2010. Lemma »Anthropologia« in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste […]. Anderer Band. Halle, Leipzig 1732, Sp. 522. Ebd. Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil. Mit einem Nachwort von Alexander Košenina. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1772. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. XVII; siehe dazu Zelle 2001 (Anm. 22) und Jörn Garber/Heinz Thoma (Hgg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. – Auch Friedrich Schillers medizinische Dissertation greift diese ›psycho-somatischen‹ Diskurs auf: Johann Christoph Friderich Schiller: Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Stuttgart 1780. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart […]. Erster Theil von A – E. Wien 1811, S. 392.
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ANTHROPOLOGIE […] bezeichnet die Naturgeschichte des Menschen, und zwar in dem Verstande, als man das Wort gewöhnlich bei uns gebraucht, aus der ganzen Summe von Kenntnissen des Physischen und Geistigen im Menschen, so viel, als jedem gebildeten Manne, der auch nicht Mediciner ist, nothwendig ist, um den Menschen kennen zu lernen, […]. Hierher gehört also aus der Anatomie und Physiologie so viel als jenem Zwecke entspricht, um den Bau und die Theile des Körpers sowohl, als auch deren Verrichtungen kennen zu lernen; ferner aus der Psychologie dasjenige, was sie uns Erfahrungsmäßiges über die Seele, deren Eigenschaften und Vermögen lehrt.28
Das heterogen weite (ethnologische, soziologische, ›volkskundliche‹, kriminologische usf.) Themenspektrum zwischen Physiologie und Medizin einerseits und Psychologie und Moralphilosophie andererseits, das der anthropologische‹ Diskurs der ›Aufklärung‹ absteckt, hat sich seither eher noch vergrößert. So addiert z.B. Alexander Košenina (Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. 2008) resümierend und in einer bis Georg Büchner extrapolierenden Perspektive zwölf gleichermaßen literarische wie nicht-literarische Wissensfelder und Diskurssegmente. Sie reichen von Reiseliteratur (S. 23ff), vom ›Irrenhaus‹ und seinen Krankengeschichten (S. 39ff), von Kriminalliteratur und ihren Fallgeschichten (S. 53ff) und vom ›anthropologischen Roman‹ (S. 69ff) über die Pädagogik (S. 85ff), das ›anthropologische Lehrgedicht‹ (S.99ff), die ›Selbstbestimmung der Frau‹ (S. 115ff) und den Diskurs der ›Physiognomik und Pathognomik‹ (S. 131ff) bis zur ›psychologischen Schauspielkunst‹ (S. 147ff), zum ›anthropologischen Drama‹ (S. 163ff), zur ›anthropologischen Traumdeutung‹ und zum Somnambulismus (S. 177ff) und schließlich zum Thema ›Kunst und Wahn‹ (S. 193ff).29 Ohne die Orientierungsfunktion solcher exemplarischen Schlaglichter auf Wissensfelder des 18. Jahrhunderts zu verkennen, droht die Ubiquität des Epithetons ›anthropologisch‹ auf der Objektebene (Reisen, Krankheit, Kriminalität, Traum usf.) und auf der Metaebene literarischer Genres (Roman, Lehrgedicht, Drama) seine Bedeutung ins Unscharfe zu erweitern. Michael Titzmann erschließt der historischen Literaturanthropologie sogar ein noch größeres Themenspektrum, rekonstruiere diese doch die Konzeptionen des Menschen und seiner Umwelt, die das jeweilige kulturelle System entworfen hat, die Regeln des Redens, Denkens, Empfindens, Verhaltens, die implizit oder explizit unterstellten Kategorien und Regularitäten, die biologischen, soziologischen, psychologischen, politischen, ökonomischen, juristischen, moralischen, physischen und metaphysischen Annahmen, die Wert und Normensysteme, die das Literatursystem transportiert bzw. entwirft;30
Aus der Vogelperspektive einer derart weit verstandenen historischen Literaturanthropologie II – als einer literarischen Diskursgeschichte des ›Menschen‹ –
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Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (ConversationsLexicon). In zehn Bänden. Erster Band A bis Boy. 5. Aufl. Leipzig 1819, S. 239. Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Titzmann 1990 (Anm. 16), S. 74.
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entfaltet sich eine komplex differenzierte Interdiskurs-Landschaft, in der auch der Objektbereich einer literarischen ›Anthropologie‹ im engeren Sinn angesiedelt ist. Als solche grenzt sie nicht nur an eine literarische ›Psychologie‹ und ›Medizin‹, eine literarische ›Soziologie‹, eine literarische ›Theologie‹, ›Philosophie‹, ›Epistemologie‹ usf. an,31 sondern stößt dort potentiell ebenfalls auf Importe der nichtliterarischen Anthropologie, die ihre semantischen Leitunterscheidungen nicht nur aus ihren Nachbardisziplinen und der ›schönen‹ Literatur gewinnt, sondern sie permanent auch an ihre Diskurs-Umwelten wieder (zurück-)gibt.32 Die ›anthropologische‹ Kernzone einer solchen Literaturanthropologie II im engeren Sinn ließe sich thematisch und auf einem mittleren Abstraktionsniveau auf die literarische Verhandlung der wechselseitigen Konditionierungen und semantischen Koppelungen von menschlicher ›Natur‹ und ›Kultur‹/›Moral‹ einschließlich ihrer Hierarchisierungskonflikte eingrenzen. Diese Kernzone inkludierte dabei sowohl die sich durchkreuzenden und überlagernden Kodierungen von Körperlichkeit und ›Seele‹/Affekt/Emotion als auch ihre Überschneidungszonen, also z.B. die je dargestellten Verwandtschafts-, Abstammungs- und Familienbeziehungen, verbale und non-verbale Figurenkommunikation, Raum- und Zeit-Wahrnehmung und die je thematisierten menschlichen Elementarerfahrungen wie Sexualität, Gewalt/Schmerz, Kindheit/Adoleszenz/Alter und Tod einschließlich ihrer semiotisch-medialen (rituell-performativen, ikonischen, sprachlichen usf.) Repräsentationen. Letztere umfassen auch die seit dem frühen 19. Jahrhundert zu beobachtenden körperlichen und kognitiven ›Schnittstellen‹ zwischen ›Mensch‹ und Medientechniken, die als Technologien der Macht die menschlichen ›Sinne‹ raumzeitlich erweitern, ›Blick‹ und ›Stimme‹ zugleich aber auch kontrollieren und disziplinieren.33 Als eine darüber hinaus originelle Fragestellung Michael Titz-
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Vgl. die systemtheoretische Parallelaktion einer ›polykontexturalen Literaturwissenschaft‹ von Gerhard Plumpe/Niels Werber (Hgg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995, die die Metaphern vom ›wilden‹ und ›hybriden‹ Interdiskurs der Literatur als Medium der Diskursverknüpfung (z.B. bei Riedel 2004 [Anm. 9], S. 362ff) in Hierarchisierungs- und Inklusionsverhältnisse von ›Systemen‹ und ›Umwelten‹ übersetzen. Insofern entspricht die Anthropologie der ›Goethezeit‹ genau Foucaults Definition von ›Wissen‹ (Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969]. Frankfurt a. M. 1981, S. 259–260), konstituiert sie doch eine synchron und diachron anschlußfähige »interdiskursive Konfiguration« (ebd. S. 225f, hier S. 226) an der Schwelle zur ›Wissenschaft‹, deren semantischer Kern und deren Reichweite in einem eigenen – ›anthropologischen‹ – Diskurssektor bearbeitet werden. Zum Verhältnis von »spezialdiskursiven und interdiskursiven Elementen« siehe auch Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1988, S. 284–307, hier S. 285. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a. M. 2000 plädiert für eine »kulturwissenschaftlich ausgerichtete Medienanthropologie« (S. 36) und bezieht die »Figurationen anthropologischen Wis-
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manns sei hier die nach der Konzeption der ›Person‹ hervorgehoben, in der sich ethnographische Methode (und Terminologie) und spezifisch historischer Gegenstand exemplarisch verschränken, geht es doch in seinen Aufsätzen wiederholt – so am Beispiel von Initiationsprozessen, der Inzestproblematik u.a. – um die Konstitutions-bedingungen jener modernen ›Person‹, wie sie erst nach der säkularen Wende zur Anthropologie in der Literatur erscheint.34 All diese thematischen Felder semiotischer – literarischer und außerliterarischer, verbalsprachlicher und ikonischer – Realitätskonstruktion wären dabei hinsichtlich ihrer Konfigurationen aus narrationsfähigen Leitsemantiken wie ›eigen/fremd‹ (worunter ›schön/häßlich‹, ›gut/böse‹, ›gesund/krank‹, ›normal‹/›monströs‹ zu subsumieren wären), ›jung/alt‹, ›weiblich/männlich‹, ›natürlich/künstlich‹ usf. zu untersuchen.35 Im vorliegenden Band und gegliedert nach unterschiedlich abstrakten Kriterien wie ›Epochen‹ (II. Diskurse der Aufklärung), Genres und Gattungen (III. Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹; V. Lyrik als Schnittpunkt der Diskurse) und einzelnen Teildiskursen (IV. Literarische Diskurse über ›Affekt‹ und ›Sexualität‹) beleuchtet Michael Titzmann eine Reihe der oben genannten und miteinander korrelierten Themenbereiche und ihre je text(korpus)spezifischen Konfigurationen, wie z.B. – um nur die wichtigsten zu nennen – Konzeptionen der ›Person‹ und deren innere und äußere Grenzen, Probleme der Initiation, Adoleszenz und Familiengründung, Altersklassen, Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse, Affektivität, Sexualität und Inzest, Probleme des Theodizee-Postulats. Diese Themenfelder einer literarischen ›Anthropologie‹ unterhalten darüber hinaus auf verschiedenen
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sens« (S. 279–302) auf die Medientechniken anthropologischer Wissensgenerierung im 19. und 20. Jahrhundert; siehe auch die Beiträge in Annette Keck/Nicolas Pethes (Hgg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld 2001. Siehe Marcel Mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: der Begriff der Person und des »Ich« [1938]. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. II: Gabentausch – Soziologie und Psychologie – Todesvorstellung – Körpertechniken – Begriff der Person. Hg. von W. Lepenies und H. Ritter. Frankfurt a. M. u.a. 1978, S. 221–252. Vgl. aus systemtheoretischer Perspektive auch Niklas Luhmann: Die Form »Person«. In: Ders. (Hg.): Soziologische Aufklärung, 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 142–154. Mindestens fünf der acht thematischen »Arbeitsfelder historischer Anthropologie«, die Claudia Benthien: Historische Anthropologie: Neuere deutsche Literatur. In: Dies./Hans Rudolf Velten (Hgg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neuere Theoriekonzepte. Reinbek 2002, S. 56–82, hier S. 72–74, absteckt, lassen sich unter die Leitdifferenzen ›menschlich/nicht-menschlich‹, ›körperlich/seelisch‹ und ›fremd/eigen‹ subsumieren; vgl. ähnlich Christoph Wulf: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004, der ›Körper‹, ›Mimesis‹, ›Performanz/Ritual‹, ›Sprache/Bild‹, ›Tod/ Alterität‹ fokussiert. – Frank Robert Vivelo: Handbuch der Kulturanthropologie. Eine grundlegende Einführung [1978]. Stuttgart 1981 unterscheidet dagegen eine ›evolutionäre‹ und eine ›institutionelle‹ Perspektive und nennt innerhalb letzterer als genuin anthropologische Themenfelder u.a. ›Lebenszyklus‹, ›Altersstufen‹, ›Verwandtschaft/Deszendenz‹, ›Ehe/Familie‹ und ›Religion‹, S. 157–272.
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Abstraktionsniveaus unterschiedlich explizite Relationen zu literaturexternen und zusehends verfachlichten ›anthropologischen‹ Diskursen des Zeitraumes in (Popular-)Philosophie, Psychologie, Medizin aber auch in Theologie und Strafrecht. Die Basisopposition von ›Natur‹ und ›Kultur/Moral‹ wird dabei – sei es als implizite semantische Paradigmatik, sei es als explizites Problem der Vermittlung oder Hierarchisierung ihrer Oppositionsglieder – vielfältig bearbeitet, spezifiziert, variiert und ›interpretiert‹.
2.2 Literaturanthropologie der ›Goethezeit‹ als ›Problem‹-Geschichte Als Gegenstand einer Literaturanthropologie II sowohl im weiteren als auch im engeren Sinn kann der wissensgenerierende, -stabilisierende, -transformierende, potentiell auch wissenspopularisierende Beitrag gelten, den die Literatur verschiedener Zeiträume jeweils zur Konstruktion der Vorstellungen und Bilder leistet, die Gesellschaften von den Beziehungs-, Überschneidungs- und Konfliktfeldern zwischen ›Leib‹ und ›Seele‹, Natur und Kultur/Gesellschaft – mithin auch von sich selbst und ihren Alteritäten – produzieren.36 Mit Hilfe solcher ›Selbstbeschreibungen‹37 unterscheiden sie, harmonisierend oder kontrastierend, ihr ›Fremdes‹ und ihr ›Eigenes‹, beobachten sich selbst und ihr je spezifisch ›Anderes‹, ihr ›Außen‹ – die »ungelösten Probleme der Welt«.38 Literatur fungiert insofern nicht nur als eine Institution, in der das Wissen über sich selbst Rechenschaft ablegen kann, in der es um Aspekte des Ausgegrenzten angereichert werden kann. Und diese Funktion ist seit dem 18. Jahrhundert auf Dauer gestellt, […],39
sondern sieht sich seit der ›Aufklärung‹ mit einer denk- und diskursgeschichtlichen Problemkonstellation konfrontiert, die sich erstens dem ›Basispostulat‹ der ›Aufklärung‹ verdankt, nämlich der Setzung des menschlichen Verstandes als letzter und einziger Instanz der Entscheidung über die Wahrheit von Aussagen. In seinem Selbstbewußtsein als menschliches Abbild des göttlichen Verstandes glaubt der menschliche, die Welt aus sich deduzieren zu können und läßt Empirie als Wahrheitskriterium eben deshalb zu, weil er sich gar nicht denken kann, daß sie ihn falsifizieren könne. Wie sehr ihr auch mentalitätsgeschichtliche Veränderungen und Verschiebungen schon vorausliegen und sie überhaupt erst
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Eine Literaturanthropologie II untersucht also – systemtheoretisch reformuliert – das literarische re-entry der Unterscheidung von ›Natur/Kultur‹ bzw. von ›Natur/Gesellschaft‹ in menschliche Kultur und Gesellschaft und die Art und Weise, wie diese Unterscheidung jeweils innerliterarisch reproduziert und bearbeitet wird. Durchaus im Sinne von Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 879–893: ›Selbstbeschreibungen‹ als ›Beobachtungen‹ (S. 882). Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M., Leipzig 1995, S. 31; vgl. ebd.: »Jedes ungelöste Problem impliziert als Signifikat: Es gibt noch anderes, das wir nicht kennen oder nicht beherrschen«, referiert also auf »Nichtwelt«. Fauser 2003 (Anm. 3), S. 60.
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ermöglichen, beginnt Aufklärung doch erst mit der expliziten oder impliziten Emanzipation von der Dominanz des theologischen Diskurses, der noch dem barocken Rationalismus die Grenzen des legitim Denkbaren vorgegeben hatte.40
Zweitens führt aber genau diese Konstellation zu jener ›anthropologischen Wende‹, deren literarische Folgen Michael Titzmanns Beiträge im vorliegenden Sammelband auf breiter Quellenbasis und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und die David Wellbery mit Blick auf den Bildungsroman wie folgt zusammenfaßt: Von der Warte höchster […] Abstraktion aus betrachtet, weisen die diversen kulturellen Bemühungen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, die unter den Epochenbegriffen Klassik und Romantik subsumiert werden, eine gemeinsame Konfiguration auf. Sie sind […] als Lösungsversuche zu begreifen, die einem einzigen semantischen Problem galten. Die von der Aufklärung initiierte Umpolung von einer theologischen auf eine anthropologische Sichtweise, […], ließ ein […] problematisches Zwitterkonstrukt entstehen: den ›Menschen‹ als das sinnlich-vernünftige, das natürlich-moralische Wesen. Auf die Irritation eines solchen Widerspruchs reagieren Kulturkomplexe häufig durch die Ausformung von narrativen Strukturen, die in ihrer Ereignisdimension nichts anderes sind als Darstellungen eines Übergangs zwischen opponierten Sinndomänen.41
Dieses abstrakte semantische Problem der Opposition von ›Leib‹ und ›Seele‹ bzw. ›Natur‹ und ›Moral‹ hat zwar eine sehr viel weiter zurückreichende Vorgeschichte und generiert seit dem 16. Jahrhundert im Diskursfeld von Medizin und Naturrecht ›anthropologisches‹ Wissen. Dies führt jedoch nicht zu einer »›Vordatierung‹ der ›anthropologischen Wende‹«, sondern verdeutlicht lediglich, daß die Entwicklung der Anthropologie im 18. Jahrhundert auf Probleme reagiert, die sich bereits im 16. Jahrhundert in der Debatte um die Unsterblichkeit der Seele konstituiert haben und die im 17. Jahrhundert zu der Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Diskursen geführt haben.42
Erst die spezifische Diskurslandschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts generalisiert das argumentative und narrative Funktionsspektrum dieser Opposition derart,
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Michael Titzmann: ›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹, im vorliegenden Band S. 333–371, hier S. 335. – Zur literarischen Repräsentation von Postulaten der ›Aufklärung‹ vgl. Ders.: Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung (1990), im vorliegenden Band S. 129–170. David Wellbery: Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman bei Wieland, Goethe, Novalis [1996]. In: Ders.: Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft. München, Wien 2006, S. 70–118, hier S. 70 (Hervor. CMO/WL). De Angelis 2010 (Anm. 23), S. 1–2. Grundlegend ist nach wie vor Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Band 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 162–234, der die sozialstrukturelle Evolution zwischen 1650 und 1750 problemfunktionalistisch auf die Transformation von religiöser zu anthropologischer ›Semantik‹ bezieht, welche »auf die Semantikbedürfnisse der Übergangszeit anspricht«, vgl. S. 162–178, hier S. 163.
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daß sie nicht nur Erzählungen hervorbringt, sondern auch die überzeitlich definierten (›anthropologischen‹) Teilprobleme kodiert, denen sich v.a. eine ›problemgeschichtliche‹ Literaturwissenschaft mit Vorliebe und nachhaltig zuwendet (›Religion‹, ›Liebe‹, ›Tod‹ usf.).43 Sie schreibt der poetischen Thematisierung und Bearbeitung dieser ›ungelösten Probleme‹ (Literaturanthropologie II) meist eine individuelle oder kollektive, lebens- bzw. sozialpraktische Problemlösungsfunktion zu, die sich entweder selbst als eine menschheitsgeschichtlich notwendige (›anthropologische‹) Konstante erweist (Literaturanthropologie I) oder sich auf gesellschaftlich kontingente Problemkonstellationen beschränkt. In diesem Fall reagiert Literatur dann aber zu allererst auf ihrerseits historisch wandelbare kulturelle Problemkonstruktionen und erfüllt gesellschaftlichen Kommunikationsbedarf mit poetischen Mitteln gerade dadurch, dass sie anthropologisch konstante oder auch sozial verfestigte, jedenfalls aber unter bestimmten historischen Bedingungen als unlösbar empfundene ›Probleme‹ narrativ, dramatisch oder in Gedichten bearbeitet – was Karl Eibl für das 18. Jahrhundert anhand der »symbolische[n] Generalisierung« der »ungelöste[n] Probleme« von ›Gesellschaft/Individualität‹, ›Liebe‹ und ›Tod‹ in den Werken Lessings, Schillers und Goethes plausibilisiert.44 Darüber hinaus wird deutlich, wie eng wissenschaftsge-
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Vgl. schon die Liste der von Dichtung behandelten »Menschheitsprobleme« bei Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey [1924]. In: Ders.: Gesammelte Studien. Bd. 1. Darmstadt 1966, S. 137–170, hier S. 155–167; zur Literaturgeschichte als Problemgeschichte siehe exemplarisch auch Ulf Schramm: Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgeschichte. In: Helmut Arntzen/Bernd Balzer/Karl Pestalozzi/Rainer Wagner (Hgg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Berlin, New York 1975, S. 59–82 und Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und ›Das Warum der Entwicklung‹. In: IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21 (1996) 2, S. 1–26, vgl. S. 14–17 zum sozialen Problem der Vergesellschaftung. Zur Historisierung und ›Entdramatisierung‹ einer ›menschheitsgeschichtlich‹ – philosophisch und anthropologisch – hochgespannten, aporetisch mit dem Überzeitlichen kokettierenden Problemgeschichte siehe Carlos Spoerhase: Dramatisierungen und Entdramatisierungen der Problemgeschichte. In: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hgg.): Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte. Hamburg 2010 (= Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 7), S. 107–123, v.a. ab S. 118; kritisch auch Ders.: Was ist kein Problem? In: Scientia Poetica. Jb. für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 13 (2009), S. 318–328. Eibl 1995 (Anm. 38), S. 125–133, hier S. 125. Nach Eibl markiert Goethes Werther einen »säkularen Schnitt in der Funktionsgeschichte der Dichtung, die Entstehung der Poesie, die sich vom Funktionsprimat der Unterstützung von Problemlösungen ablöst und zum Funktionsprimat der Reflexion ungelöster Probleme wechselt« (ebd., S. 134), und es hat den »Anschein, daß zumindest in der deutschen Dichtung ungelöste Probleme als ungelöste in größerem Umfang überhaupt erst seit gut 200 Jahren behandelt werden« (ebd., S. 32) – also seit dem Zeitraum, der sich durch die Generierung anthropologischen Wissens in der von David Wellbery 2006 (Anm. 41) charakterisierten Problem-konstellation auszeichnet; vgl. auch Marianne Willems: Das Problem der Individualität als Herausfor-
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schichtlich literaturanthropologische Fragestellungen mit der Entstehung problemgeschichtlicher Deutungs- und Erklärungsmuster in der Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschränkt sind.45 Der »Mensch ist nicht das älteste und nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat«,46 und auf welche Weise andere Jahrhunderte vor und während der Frühen Neuzeit und während und nach der ›Goethezeit‹ ihr Verhältnis von ›Natur‹ und ›Kultur‹ auch immer geregelt haben mögen und wie beide dabei auch immer unterschieden und semantisiert worden sind – erst die ›Aufklärung‹ in ihrer ›goethezeitlichen‹, also eher späten Phase entfaltet die »Natur des Menschen« zu einem »anthropologischen Denkraum«,47 in dem die Unterscheidungen von ›Natur‹ und ›Kultur‹, von ›Körper‹ und ›Seele‹, die den ›Menschen‹ selbst zugleich durchkreuzen und konstituieren, auf neue Art und Weise problematisiert werden.48 Das ›Denksystem‹ der ›Aufklärung‹ etabliert so einen ›anthropologischen‹ Diskurs, dessen kategoriale Leitsemantik nicht nur die wäh-
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derung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, Götz von Berlichingen und Clavigo. Tübingen 1995. Zur Geschichte der Problemgeschichte siehe Michael Hänel: Problemgeschichte als Forschung: Die Erbschaft des Neukantianismus. In: Otto G. Oexle (Hg.): Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932. Göttingen 2001, S. 85–127. Die Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen intentionalistischen und funktionalistischen Problem-LösungsKonzeptionen (letztere im ethnologischen Bestandsfunktionalismus von Bronsilaw Malinowski und in der soziologischen Systemtheorie von Talcott Parsons und Niklas Luhmann) und die Bezüge zu einer ›Funktionsgeschichte‹ der Literatur (Wilhelm Voßkamp) können an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden, siehe aber Spoerhase 2009 (Anm. 43), S. 322–326 sowie schon Friederike Meyer/Claus-Michael Ort: Literatur als soziales Interaktionsmedium. Zum Verhältnis von strukturaler Literaturwissenschaft und funktionalistisch-systemtheoretischen Ansätzen in der Soziologie. In: SPIEL. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 3 (1984), S. 67–97, v.a. S. 69f, S. 88f. Einen historisch-systematischen Überblick gibt Dirk Werle: Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie. In: Scientia Poetica. Jb. für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 13 (2009), S. 255–303, insbesondere S. 278–283, zum Ansatz Eibls siehe ebd. S. 291–293. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. Frankfurt a. M. 1974, S. 462. Wolfgang Riedel 1994 (Anm. 6), S. 105ff; Riedel beschränkt diesen ›Denkraum‹ allerdings auf den Zeitraum zwischen 1750 und 1800, was aus problemgeschichtlicher Perspektive zu kurz greift. Jedenfalls anders als im 17. Jahrhundert, vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Das anthropologische Paradigma der Affektenlehre und seine Krise im klassischen Drama Spaniens und Frankreichs. Zur funktionsgeschichtlichen Bestimmung einer Epoche. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hgg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985, S. 197–212. Zum neuzeitlichen Primat der Anthropologie und dessen Wandlungen vom barocken Rationalismus zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts s. grundsätzlich Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, u.a. S. 119–169, 309–342.
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rend der ›Goethezeit‹ endende ›Aufklärung‹, sondern auch die ›Goethezeit‹ selbst überdauert und die »moderne episteme« seit dem 18. Jahrhundert prägt.49 Ist nun aber im Anschluß an Michel Foucault und in der Definition von Michael Titzmann ein ›Diskurs‹ ein »von einem Textkorpus abstrahiertes System des Denkens über einen bestimmten Realitätsausschnitt, das der Produktion von Wissensbehauptungen dient« und das charakterisiert wird a) durch einen von ihm überhaupt erst diskursivierten (z.B. ›anthropologischen‹) Redegegenstand, d.h. eine in kulturellem Wissen unterschiedene Klasse von Objekten […], b) durch die Menge der bezüglich dieser Gegenstandsklasse als zulässig geltenden Formen der Argumentation zur Aufstellung von Wissensbehauptungen [und] c) durch Regeln der Formulierung, der semiotischen Präsentation von solchen Wissensbehauptungen,50
dann läßt sich aus dem ›anthropologischen‹ Diskurs etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch ein anthropologisches ›Denksystem‹ abstrahieren, das, so Titzmann weiter, die Wahrnehmung und Interpretation der ›Realität‹ [regelt]: von der Denkstruktur hängt ab, welche Daten der ›Realität‹ die Kulturmitglieder überhaupt wahrnehmen und wie sie sie interpretieren. Was der Kultur als ›Realität‹ erscheint, ist immer selbst schon ein kulturelles Konstrukt – ein Produkt der Interaktion zwischen Denksystem und – einer hypothetisch von uns angenommenen ›tatsächlichen‹ – Realität: ob Daten, die diesem Konstrukt widersprechen, überhaupt zur Kenntnis genommen werden und wie auf sie reagiert wird, hängt vom Denksystem, nicht von der Realität, ab. Auch die fundamentale Unterscheidung in ›Natur‹ und ›Kultur‹ ist eine Funktion des Denksystems der Kultur; verwiesen sei auf das bekannte Beispiel, wie kulturelle Normen, etwa Sexualnormen, immunisiert werden, indem sie als natürliche Normen ausgegeben werden.51
Das anthropologische ›Denksystem‹ des 18. Jahrhunderts bringt überhaupt erst innerweltliche ›Körper-Seele‹-Differenzen und das Problem ihrer innerweltlichen Vermittlung hervor und produziert zugleich literarisches wie außerliterarisches Wissen über dieses Problem. Seine historische Reichweite als ›Denksystem‹ übertrifft auf diesem Abstraktionsniveau allerdings deutlich seine literarische Problemgeschichte, also seine manifesten Auswirkungen auf einzelne ›Literatur(sub)systeme‹,52 die sich insbesondere während der ›Goethezeit‹ diesem Bezugsproblem zuordnen lassen.
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Foucault 1966 (Anm. 46), S. 412 und 461, siehe auch ebd. S. 410–412. Titzmann 2010 (Anm. 18), S. 402; vgl. ähnlich auch schon Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 406–407 und Ders.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 408; zur literarischen Konstruktion von Sexualnormen vgl. auch Ders.: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung: Der philosophisch-pornographische Roman, Originalbeitrag im vorliegenden Band, S. 433–483. ›Literatursystem‹ wiederum verstanden als »Abstraktion über […] den interpretierten Texten eines repräsentativen Korpus eines raumzeitlichen Segments«, also als »Gesamtmenge der Regularitäten, die für die Texte dieses Systems gelten«, d.h. aber letztlich als
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Nicht nur, aber v.a. aus der Perspektive der von der ›Aufklärung‹ hinterlassenen ›Anthropologie‹ als ›Denksystem‹ können die ›Literatur(sub)systeme‹ der ›Goethezeit‹ zwischen etwa 1770 und 1830 (›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹/›Frühromantik‹, ›Romantik‹) nun insofern als ein Makro-Literatursystem betrachtet werden, als dieses zum einen durch Invarianten der von ihm implizierten Anthropologie, zum anderen durch eine neue Funktion des LS [Literatursystems, CMO/WL] im Kultursystem charakterisiert ist: Sein (wiederum aus dem DS ›A‹ [Denksystem ›Aufklärung‹, CMO/WL] resultierendes) Konzept der Autonomie der Literatur impliziert eine Restrukturierung der Relation des LS zum DS, wobei die Literatur nicht mehr applikative, sondern eher komplementäre Funktionen gegenüber dem DS übernimmt.53
Gerade der langsame Übergang von einem eher ›applikativen‹ Bezug der Literatur auf anthropologisches Wissen, das sie selbst intern repräsentiert, zu einem eher ›komplementären‹ Bezug auf zusehends nur mehr literaturextern diskursiviertes anthropologisches Wissen scheint die ›Goethezeit‹ als ›anthropologieaffines Literatursystem‹ und den »Übergang von der Spätaufklärung zur Romantik als Hochzeit der Anthropologie« auszuzeichnen.54 Diese fungiert als fächer-übergreifende »Leitwissenschaft«, die »literarische Formen aufgreift«, während umgekehrt »die Literatur sich zur Anthropologie hinwendet und zu einem Versuchsfeld derselben wird.«55 Und in Ermangelung eines adäquateren Begriffs mag diese Phase, deren zeitliche Extension weitgehend den Lebensdaten bzw. der literarischen Produktionszeit Johann Wolfgang von Goethes entspricht, vorläufig weiterhin als ›Goethezeit‹ bezeichnet werden – weder in geistesgeschichtlicher Emphase noch im kritischen Impetus von Heinrich Heines ›Kunstperiode‹.56 Die Regularitäten der literarischen – narrativen, dramatischen, lyrischen – Repräsentation anthropologischer Themenfelder, die zwischen ›Aufklärung‹ und ›Romantik‹ als Bearbeitungen cartesianischer »Vermittlungsdesiderate«57 und als
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»(geordnete und hierarchisierte) Menge von Propositionen« (Titzmann 1991 [Anm. 17], S. 416, vgl. dazu auch S. 416–425; zu ›alternativen, nicht konkurrierenden‹ und ›alternativen konkurrierenden‹, weil zeitlich koexistierenden Subsystemen bzw. ›Systemzuständen‹ während der ›Goethezeit‹ ebd. S. 420. Titzmann 1990 (Anm. 40), im vorliegenden Band S. 334. Jörn Steigerwald: Schwindelgefühle. Das literarische Paradigma der ›Darstellung‹ als Anthropologikum (Klopstock, Sulzer, Herz, Hoffmann). In: Thomas Lange/Harald Neumeyer (Hgg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 109–131, hier S. 109; zu E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann »als literarische Anthropologie« siehe ebd. S. 124–131. Steigerwald 2000 (Anm. 54), S. 109. Erinnert sei nur an Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Leipzig 1923–1953. Zum Ende der ›Kunstperiode‹ siehe Günter Häntzschel: Das Ende der Kunstperiode? Heinrich Heine und Goethe. (15.12.2003). In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/haentzschel_kunstperiode.pdf (9.9.2010). Fauser 2003 (Anm. 3).
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Reaktionen auf die daraus abstrahierbaren, anthropologischen Basisprobleme interpretiert werden können, lassen zugleich auf eine konstante Funktion dieser Problemkonstellation für die Literatur der ›Goethezeit‹ schließen. Für eine historische Literaturanthropologie II der ›Goethezeit‹ als Problemgeschichte der Literatur des Zeitraumes erscheint dieser zumindest auf dem mittleren Abstraktionsniveau des leib-seelischen Problembezugs und der Bandbreite seiner (literarischen und nicht-literarischen) Diskursivierungen als relativ homogene Epoche, in der sich die Prämissen des aufklärerischen anthropologischen Denkens (›Denksystems‹) aus wissenschaftlichen und literarischen Texten gleichermaßen abstrahieren lassen. Anthropologisches Wissen wird demnach v.a. in der Zone der wechselseitigen Beobachtung von Literatur durch Wissenschaft und vice versa diskursiviert und insofern auch generiert. Zugleich lassen sich aber schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts divergierende und konkurrierende Hierarchisierungsversuche im Verhältnis von ›körperlich‹ und ›nicht-körperlich‹ (›seelisch‹, ›moralisch‹) beobachten, was wiederum die in diesem Spannungsfeld möglichen, ereignishaften Grenzziehungen zwischen ›gut/böse‹ und ›gesund/krank‹ in moralisierenden und pathologisierenden Narrationen und (komisierenden oder tragisierenden) Dramatisierungen verschiebt – und zwar nicht erst in Georg Büchners Woyzeck-Fragment (entstanden 1836/37),58 wie ein Seitenblick auf die Fallgeschichten der moralisierenden ›Criminalpsychologie‹ der späten ›Goethezeit‹ vor Augen führt.59 Als Indikatoren dafür, dass sich bereits im frühen 19. Jahrhundert eine langsame ›Entfremdung‹ zwischen Literatur und einer Anthropologie abzuzeichnen beginnt, die um Verwissenschaftlichung und disziplinäre Etablierung bemüht ist, können außerdem die expliziten Versuche gelten, ›erfahrungswissenschaftliche‹, im histo-
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Vgl. nur Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1985. Aufklärerische Psychologisierungen des ›Bösen‹ und Pathologisierungen von ›Verbrechen‹ werden von einer dezidierten Moralisierung von Schuldzu-rechnungsunfähigkeit und Krankheit als schuldhaft abgelöst und münden in Annahmen über die Naturgeschichte des ›Bösen‹ und den kollektiven ›Sündenfall‹ der Gattung ›Mensch‹. Eine solche ›Criminalpsychologie‹ zwischen Theodizee und Anthropologie vertritt dezidiert u.a. Johann Christian August Heinroth: Grundzüge der Criminal-Psychologie; oder: Die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege. Berlin 1833; siehe dazu im einzelnen Claus-Michael Ort: Das Problem der Schuldzurechnung und die Konkurrenz juristischen, medizinischen und moralischen Erzählens. Zur Diskussion über den Fall Schmolling und das Votum von E.T.A. Hoffmann. In: IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31 (2006), H. 2, S. 174–202. – Zur Diskursgeschichte der Kriminologie von einer Moralgeschichte des ›Bösen‹ als individuellem ›Sündenfall‹ zur Naturgeschichte des Menschen als ›Tier‹, dessen verhinderte Höherentwicklung ihn zum Verbrecher werden läßt, siehe Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002.
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rischen und ethnologischen Vergleich beobachtbare Leib-Seele-Relationen von bloß spekulativen Postulaten zu unterscheiden. So versucht beispielsweise Gottlob Ernst Schulze in der »Vorrede« zu seiner Psychischen Anthropologie (1816), wissenschaftliche Fragen »über das Wesen der Seele, und besonders über die Beschaffenheit ihrer Verbindung mit dem Körper« explizit von anderen zu unterscheiden, »welche keine menschliche Weisheit jemahls befriedigend beantworten wird«,60 kritisiert in diesem Zusammenhang ›schwärmerische‹ Fehlinterpretationen des Somnambulismus durch die Anhänger des »thierischen Magnetismus«61 und beklagt, »daß die geistige Menschenkunde unter allen Erfahrungswissenschaften noch am weitesten zurück sey«.62 Vor den Authentizitätsfiktionen literarischer Selbstzeugnisse wird deshalb auch nachdrücklich gewarnt: Die Autobiographien, womit in den neuern Zeiten die Welt so häufig beschenkt worden ist, sind insgesammt unbrauchbare Hülfsmittel für die Menschenkunde und gemeiniglich desto unbrauchbarer, jemehr sich deren Verfasser das Ansehen geben, ein treues und vollständiges Gemählde ihres innern Lebens mittheilen zu wollen. […]. […] die Autobiographien werden in der Absicht abgefaßt, um das Urtheil des Publikums über die Helden derselben zu leiten und zu bestimmen, damit es der Eigenliebe der Verfasser gemäß ausfalle.63
Inwieweit im 19. Jahrhundert eine wissenschaftlich ausdifferenzierte, verfachlichte Anthropologie im Konzert von Psychologie, Kriminologie, Ethnologie, Soziologie usf. aufgeht oder sich – zumal in der zweiten ›darwinistischen‹ Hälfte des Jahrhunderts – erneut als integrative Leitwissenschaft versteht, inwieweit sie ferner noch Reste der Anthropologie der ›Goethezeit‹ in späteren ›Denksystemen‹ konserviert und welche Geltungsdauer ›goethezeitlichen‹ Basispostulaten und seinen LeibSeele-Vermittlungsdesideraten überhaupt zuzubilligen ist, kann hier nicht untersucht werden. Jedenfalls scheint sich – hypothetisch und aus literaturgeschichtlicher Perspektive – erst in der Frühen Moderne, also in der ›naturalistischen‹ und nichtnaturalistischen Literatur vor und um 1900, erneut eine mit der ›Goethezeit‹ vergleichbare ›applikative‹ Konstellation zu ergeben: Wieder stellt die erzählende und dramatische Literatur anthropologische (kriminologische, tiefenpsycho-logische usf.) ›Fallgeschichten‹ bereit und schreibt ihnen para-wissenschaftliche Erkenntnisfunktionen zu, einmal mehr verschaffen sich die besagten Wissenschaften umgekehrt selbst eine narrative Quellenbasis.64 Als literatursystemische Anzeichen
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Gottlob Ernst Schulze: Psychische Anthropologie. Göttingen 1816, S. V. Ebd., S. IXf. Ebd., S. IV. Ebd., S. 9–10; Schulze propagiert stattdessen »Selbstbeobachtung« (S. 9). Zur literarischen Verarbeitung psychoanalytischen Wissens um 1900 vgl. Michael Titzmann: Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unbewußten in der Frühen Moderne. In: Thomas Anz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999, S. 183–217, Wiederabdruck in Ders.: Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von
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hierfür und als literarisch manifeste Reaktion auf anthropologische Problemstellungen kann, nach der quantitativen Stagnation während des ›Realismus‹, die wieder auflebende Konjunktur phantastischen und explizit psychologischen Erzählens um und nach 1900 ebenso gelten, wie die rekurrente Problematisierung von ›Person‹ und Selbstverlust bzw. Selbstfindung in Initiationsnarrationen.65 Dies legt allerdings die Vermutung nahe, daß auch die Literatursysteme zwischen ›Goethezeit‹ und Früher Moderne zeitgenössisches anthropologisches, psychologisches, kriminologisches, physiognomisches usf. Wissen implizit applizieren, repräsentieren und transformieren oder zumindest ›komplementär‹ voraussetzen und daß sich die je unterschiedlich starken Wissensreferenzen als signifikante Kriterien für literarischen Wandel erweisen können.66 Michael Titzmann modelliert diese Zwischen-Phase mit Blick auf psychologisches Wissen einmal mehr problemgeschichtlich mit Hilfe der Unterscheidung von abstrakten, epochen-übergreifend konstanten ›Problemen‹ und konkreten ›Lösungen‹: Die sukzessiven Literatursysteme – Biedermeier, Realismus, Frühe Moderne – haben die von ihren Vorgängern hinterlassenen Probleme partiell übernommen und deren Lösungen partiell transformiert; […]. […]: [Die] Goethezeit-Psychologie ist einerseits eine eigenständige literaturinterne ›Theorie‹, von allen späteren unterschieden; aufgrund ihrer
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Lutz Hagestedt. München 2009, S. 330–376, sowie Peter-André Alt/Thomas Anz (Hgg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin, New York 2008; zum Zeitraum um 1900 und später siehe ansonsten auch Christine Maillard/Michael Titzmann: Vorstellung eines Forschungsprojekts: »Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne«. In: Dies. (Hgg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart, Weimar 2002, S. 7– 37, sowie schon Michael Titzmann: 1890–1930. Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: Karl Richter/Jörg Schönert/Ders. (Hgg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 297–322; vgl. auch Riedel 2008 (Anm. 22) und Dauss/Haeckel 2009 (Anm. 22); zur zirkulären Generierung kriminologischen Wissens um 1900 siehe Claus-Michael Ort: »Du bist ein Schelm geworden ich Poet!« Zur Konstruktion literarischen und kriminologischen Wissens über ›Verbrechen‹ und ›Kunst‹ in der Frühen Moderne, in: Hans Krah/Ders. (Hgg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 211–234. Hinzuweisen ist auf Michael Titzmann: Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900. In: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau 1989, S. 36–52, Wiederabdruck in Ders. 2009 (Anm. 64), S. 308–329, Marianne Wünsch: Wege der ›Person‹ und ihrer ›Selbstfindung‹ in der fantastischen Literatur nach 1900. In: Pfister 1989, S. 168–179, Dies.: Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In: Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 187–203. Stellvertretend seien genannt: Friederike Meyer: Gefährliche Psyche. Figurenpsychologie in der Erzählliteratur des Realismus. Frankfurt a. M. 1992, Horst Thomé: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993 oder Marianne Wünsch: Konzeptionen der ›Person‹ und ihrer ›Psyche‹ in der Literatur der ›Goethezeit‹ bis zum ›frühen Realismus‹. In: Dies.: Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker et al. Kiel 2007, S. 121–151.
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spezifischen Struktur – zum Beispiel nicht zuletzt aufgrund der in ihr systemintern gegebenen und systemintern ungelösten Probleme – erscheint sie andererseits im historischen Prozeß als eine Art ›Potential‹, aus dem – im Kontext der sukzessiven denkgeschichtlichen und literarischen Transformnationsprozesse – sehr unterschiedliche (literarische und nicht-literarische) Psychologien in dem Sinne ›hervorgehen‹ können, daß sie – im Rahmen ihrer eigenen Strukturen – auf bestimmte Probleme oder Lösungen ihrer Vorgänger (transformierend) reagieren.67
2.3 Literaturanthropologie als Diskursanalyse und Wissensgeschichte Prinzipiell lassen sich Verfahrensweisen und Objektbereichskonstruktion einer Literaturanthropologie II sowohl auf frühneuzeitliche bzw. vor-›goethezeitliche‹ ›Epochen‹ anwenden, deren Literatur noch kein selbstreflexives anthropologisches ›Denksystem‹ im Sinne Michael Titzmanns antrifft, als auch auf nach›goethezeitliche‹ Literatursysteme, deren Anbindung an das anthropologische ›Denksystem‹ der ›Goethezeit‹ sich zumindest gelockert hat. Dessen Basisprämissen fungieren gleichwohl als nachhaltiges problemgeschichtliches Erbe, auf das literarische und nicht-literarische Diskurse mit je epochenspezifischen ›Lösungen‹ reagieren. Die heuristische Fruchtbarkeit der damit zugleich unterstellten Systemrationalität, der zufolge Literatursysteme unterschiedlicher Reichweite und Reichhaltigkeit – seien es Epochen, Gattungen, Autorenœuvres usf. – auf ›Probleme‹ als »Differenz[en] zwischen Sollzustand und Istzustand«,68 auf ›Krisen‹, Konflikte, Dissonanzen, auf Aporien, Dilemmata, Widersprüche und Paradoxien, jeweils mit ›Lösungen‹ reagieren oder ›antworten‹, ist nicht zu leugnen, ebenso wenig allerdings auch die damit verknüpften theoretischen Schwierigkeiten.69
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Titzmann 1999 (Anm. 64), zit. nach dem Wiederabdruck in: Titzmann 2009 (Anm. 64), S. 371. Titzmann 1991 (Anm. 17) S. 431. Für den Wandel von Autorenœuvres vgl. schon Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die systemimmanente Relation der Kategorien ›Literatur‹ und ›Realität‹: Probleme und Lösungen. Stuttgart u.a. 1975, v.a. S. 181–190, für den Wandel von ›Wissenssystemen‹ in der Frühen Neuzeit z.B. Michael Titzmann: Wissen und Wissensgeschichte. Theoretisch-methodologische Bemerkungen. In: Thorsten Burkard/Markus Hundt/Steffen Martus/Steffen Ohlendorf (Hgg.): Wissensdiskursivierungen. Themen, Medien und Räume des Wissens vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 2011 (im Ersch.). – Die Ähnlichkeiten mit funktionalistischen und systemtheoretischen Logifizierungen von Prozessdynamik (z.B. bei Niklas Luhmann: Paradoxie/Entparadoxierung) können hier ebenso wenig vertieft werden wie die theoretischen Probleme solcher Rationalitätsprämissen; zur ›Systematizität‹ literarischen Wandels vgl. aber schon Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung [1983]. Wiederabdruck im vorliegenden Band, S. 31–65 und grundlegend Ders. 1991 (Anm. 17), S. 431–436 sowie Ders.: ›Problem – Problemlösung‹ als literarhistorisches und denkgeschichtliches Interpretationsinstrument. In: Scientia Poetica. Jb. für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 14 (2010), S. 298–332. Siehe kritisch auch Spoerhase 2009
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Das Abstraktionsgefälle zwischen ›Problemen‹ und ›Lösungen‹ erinnert außerdem daran, dass Konstanz und Wandel als Variablen des Abstraktionsgrades anzusehen sind. Auch darauf hat Michael Titzmann schon früh – und leider nicht zum Vorteil literaturwissenschaftlichen Theoriefortschritts weil seither offenkundig folgenlos – aufmerksam gemacht: Invarianzen und Transformationen können […] gleichzeitig auch auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion und Systematisierung, von der Ebene relativ ›konkreter‹ partikulärer Sprachformen oder Stoff- bzw. Handlungselemente bis zu den Ebenen verschieden abstrakter und verschieden genereller Strukturen und Funktionen, auftreten; und die Invarianz auf einer Abstraktions- bzw. Systematisierungsebene bedingt die Invarianz auf der nächsthöheren oder nächsttieferen nicht notwendig, wie umgekehrt die Transformation auf einer Ebene nicht notwendig die auf der nächsthöheren oder nächsttieferen bedingt. In verschiedenen Epochen ist zudem auch häufig ein verschiedener Abstraktionsgrad erforderlich, um überhaupt eine relative epochale Invarianz zu finden. Es kann also auch einen epochenspezifischen/-typischen Abstraktionsgrad geben, ab dem innerhalb dieser Epoche überhaupt erst eine epochale Invarianz sichtbar wird.70
Festzuhalten ist darüber hinaus, daß Titzmanns systematische Unterscheidung von ›Textpropositionen‹, ›Texten/Textcorpora‹, ›Literatursystemen‹, ›Diskursen‹ und ›Denksystemen‹ in aufsteigender Abstraktionsrichtung eine flexible Skala von Abstraktionsebenen bietet, auf denen jeweils Konstanz und Wandel modelliert werden können, ohne die je unterschiedlich umfängliche empirische Datenbasis, von der aus abstrahiert wird, in diesem Fall also Textdaten, aus den Augen zu verlieren. Wie abstrakt oder spezifisch dabei Konstanten und relative Synchronie bzw. diachron verteilte Strukturdifferenzen ausfallen, hängt wesentlich von der qualitativen Heterogenität und vom quantitativen Umfang dieser empirischen Datenbasis ab – also von denjenigen Textdaten (Mengen von Propositionen), von denen ›Literatursysteme‹, ›Diskurse‹ und ›Denksysteme‹ abstrahiert werden. Ein genuin anthropologischer Problembezug scheint vor diesem Hintergrund zugleich weit genug zu sein, um die innerhalb der Literatursysteme ›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹/›Frühromantik‹ und ›Romantik‹ beobachtbaren ›Lösungen‹ und Reaktionen zu einem Literatursystem ›Goethezeit‹ zusammenzufassen.71
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(Anm. 43) S. 324–325, und zum Ansatz Titzmanns v.a. Werle 2009 (Anm. 45) S. 293– 296. Titzmann 1983 (Anm. 69), im vorliegenden Band S. 40–41; vgl. ebd. S. 60ff. und Titzmann 1991 (Anm. 17) S. 419: »Das Ausmaß der Abstraktion von der Textoberfläche, das erforderlich ist, um überhaupt Regularitäten zu entdecken, und die Relation zwischen dem geregelten und dem Ungeregelten im System sind jedenfalls signifikante Größen: signifikant für das System oder für den Erkenntnisstand«. Diese Periodisierung scheint sich inzwischen durchzusetzen, zumal noch weitere Kriterien (u.a. das der Kunstautonomie) für sie sprechen, vgl. jeweils mit explizitem Verweis auf Titzmann, Albert Meier: Klassik – Romantik. Stuttgart 2008, S. 9–11, hier S. 11, und Ludwig Stockinger: Die ganze Romantik oder partielle Romantiken? In: Bernd Auer-
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»Periodisierungen sind Hypothesen«72 – und dass diese Hypothese in der Tat sehr gut validiert werden kann, belegt nicht zuletzt die überaus umfängliche Textdatenbasis, auf die sich die nachfolgenden Studien beziehen, dient doch als Basis einer Epochenklassifikation bzw. -beschreibung […] im Prinzip die Gesamtmenge der literarischen Texte des Zeitraums, von der höchstbewerteten bis zur trivialsten. […]. Die Erzähltexte der GZ [Goethezeit, CMO/WL] z.B., die heutige Literaturgeschichten gern als ›Trivialliteratur‹ in eigene Kapitel verweisen […], sind von den anderen Erzähltexten der Zeit nicht nur […] nicht fundamental verschieden, sondern zudem für deren Geschichte […] unentbehrlich, und sie haben historische Leistungen erbracht, von denen die ›hohe Literatur‹ der GZ unverkennbar profitiert hat: sie haben nicht nur neue Erzählmodelle, sondern auch neue, hinfort verfügbare Sprachformen geschaffen, um literarisch neue Emotionen und psychische Zustände – Erfahrungen der Angst, des Unheimlichen, usw. – auszudrücken; sie behandeln dieselben anthropologischen Probleme, die auch diejenigen der ›hohen Literatur‹ der GZ sind.73
Bereits 1981 umfaßt Michael Titzmanns Textkorpus »zur Untersuchung der Anthropologie von GZ-Erzähltexten […] 718 Texte (Stand: Frühjahr 1981), davon 487 literarische (= 68 %) und 231 theoretische Texte (= 32 %), wobei die letzteren als Basis der Rekonstruktion des kulturellen Wissens über verschiedenste Realitätsbereiche dienen sollen«74– eine wohl innerhalb der Literaturwissenschaft eher singuläre Datenbasis, deren quantitativer Umfang auch in die spezifische Qualität der auf dieser Basis zu ziehenden interpretatorischen Schlußfolgerungen einfließt und überdies ahnen läßt, wie man sich Diskursanalyse im besten Sinne vorzustellen hätte. Wenn nämlich mit Titzmann gilt, daß jede »›Text‹-Analyse […] ein System von Hypothesen über den ›Text‹ [ist], die untereinander korreliert und hierarchisiert sind und auf möglichst einfache Grundhypothesen zurückgeführt werden« und jede »›Text‹-Analyse […] eine Theorie/ein Modell eines ›Textes‹ [Hervorh. CMO/WL]« produziert,75 dann produzieren Diskursanalysen ›Theorien‹ bzw. ›Modelle‹ derjenigen Textcorpora, die der Analyse zugrunde liegen. Dies gilt a fortiori für ›Denksysteme‹ als kategoriale ›Tiefenstrukturen‹, die prinzipiell noch von wesentlich umfänglicheren und heterogeneren Text- und Propositionsmengen zu abstrahieren sind, als es für ›Diskurse‹ geboten scheint, deren Extensionen sich jeweils auf einen bestimmten Redegegenstand, eine bestimmte Objektklasse beschränken. Solche Textkorpus-Strukturmodelle stellen nach wie vor ein methodologisch noch kaum vermessenes Terrain dar und sind auf einer mittleren Ebene zwischen der Summe von Einzeltextanalysen und den Ab-
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ochs/Dirk von Petersdorff (Hgg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Paderborn u.a. 2009, S. 21–41, hier S. 32–34. Titzmann 2010 (Anm. 18), S. 403; vgl. auch S. 402–405 zusammenfassend zu den theoretischen Problemen der Literaturgeschichtsschreibung (Periodisierung, Kriterienbildung usf.). Titzmann 1983 (Anm. 69), im vorliegenden Band S. 48f. Ebd. S. 52. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation [1977]. München ³1993, S. 26.
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straktionen von ›Diskurs‹ und ›Denksystem‹ (episteme im Sinne Foucaults) angesiedelt. Das von Titzmann vorgeschlagene Mehrebenenmodell der Textdatenaggregation von der subtextuellen Aussage (Proposition) über Einzeltext, Textkorpus und ›Literatursystem‹ bis zu ›Diskurs‹ und ›Denksystem‹ ermöglicht zudem von jeder Ebene aus Referenzen auf die Kategorie des kulturellen ›Wissens‹: Schon 1977 legt Titzmann eine ›struktural-semiotisch‹ fundierte ›Wissens‹Konzeption vor, in der er die Hermeneutik der Text-Kontext-Beziehungen durch eine Systematisierung textinterner semantischer ›Relevanzkriterien‹ für textexternes, propositional verfasstes ›kulturelles Wissen‹ – als »pragmatische Präsupposition des ›Textes‹«76 – expliziert. ›Wissen‹ manifestiert sich jedoch nicht nur auf der Ebene subtextueller semantischer Merkmale (Jürgen Link)77 und Propositionen (Titzmann), sondern auch auf der Ebene von ›Diskursen‹, die ›Wissen‹ bzw. ›Wissensbehauptungen‹ produzieren und deren semiotische Repräsentation regeln (Titzmann).78 Die begrifflich-theoretischen Engführungen, mit denen Michel Foucaults ›Positivitäten‹-Analyse ›Semantik‹, ›Diskurs‹ und ›Wissen‹ korreliert,79 werden so auf ein transparentes Raster von Zurechnungsebenen verpflichtet, auf denen Textpropositionen und ›Diskurse‹ als Medien sozio-kulturell archivierten, zirkulierenden und kommunizierten Wissens interpretiert werden können – allerdings zwischen einem mikrologischen und einem makrologischen Grenzfall, nämlich den semantischen Merkmalen der ›Kollektivsymbolik‹ und den epistemisch abstrakten ›Denksystemen‹, deren Tiefenstrukturen nicht notwendig gesellschaftlich ›gewußt‹, d.h. explizit kommuniziert werden.80 In wissensgeschichtlicher Perspektive scheint die
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Titzmann 1977 (Anm. 75) S. 263–330, hier S. 263; vgl. auch Ders.: Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation. In: Hans Krah/Ders. (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. 2. überarb. und erweiterte Aufl. Passau 2010, S. 83–108. Im Sinne von Jürgen Link: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution. In: Ders./Wulf Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 63–92. Titzmann 1989 (Anm. 50), Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 402–407, Titzmann 2010 (Anm. 18), S. 397–399, S. 402. Foucault 1969 (Anm. 32), S. 258: »Positivitäten zu analysieren, heißt zu zeigen, nach welchen Regeln eine diskursive Praxis Gegenstandsgruppen, Äußerungsmengen, Begriffsbündel und Serien theoretischer Wahlmöglichkeiten bilden kann.« Die theoretischen und wissenssoziologischen Probleme, die eine ›strukturelle Koppelung‹ von archivierter Semantik und sozialem Wissen aufwirft, können hier nicht entfaltet werden, vgl. dazu aber – auch mit Bezug auf die Arbeiten Titzmanns – Claus-Michael Ort: Literarischer Wandel und sozialer Wandel: Theoretische Anmerkungen zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursgeschichte. In: Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 367– 394; Ders.: Vom ›Text‹ zum ›Wissen‹. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hgg.): Vom Umgang mit Literatur und Literatur-
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spezifische kulturelle Leistung einer sich von der Instrumentalisierung für applikative Funktionen emanzipierenden, autonomen ›schönen‹ Literatur allerdings gerade darin zu bestehen, dass sie privilegiert, zum Teil gar exklusiv, jenes anthropologische Wissen zu artikulieren vermag, das unterhalb der Schwelle des kollektiven Bewußtseins liegt und deshalb entweder noch nicht zu expliziten theoretischen Diskursen geronnen ist oder grundsätzlich den Status eines ›Konterdiskurses‹ (Foucault)81 einnimmt. Die komplementäre bzw. supplementäre Relation zwischen Literatur und theoretischen Diskursen konkretisiert sich also von Fall zu Fall in je spezifischer Weise, und jeweils fungiert die Literatur als Medium einer genuinen Wissensproduktion. Der erstgenannte Fall, wo ein bestimmtes anthropologisches Wissen zuerst in der Literatur generiert wird, bevor es – später – die Schwelle zur Diskursivierung überschreitet, trifft beispielsweise auf die Kodifizierung der Altersklassenmerkmale (vgl. »Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte«) oder auf die Konstruktion eines individuenspezifischen psychischen Unbewußten in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu;82 der letztere Fall ist der zweifellos häufigere und wird hier an zahlreichen Beispielen vorgeführt: sei es die Inzestthematik, die in der Literatur in Konkurrenz zu den offiziellen Diskursen (der Jurisprudenz, der Medizin, der Theologie) Träger einer ganz spezifischen Semantik wird; sei es der Okkultismus, dessen konstitutive epistemologische Beziehung zur ›Aufklärung‹ gerade in den sog. ›Geisterseherromanen‹ exemplarisch greifbar wird (zu Jung-Stilling); oder sei es die spätaufklärerische Krise zentraler Postulate der ›Vernunft‹, die im Romanwerk Friedrich M. Klingers in singulärer Weise und ungleich radikaler entfaltet wird als im zeitgenössischen philosophischen Diskurs. Die literarische Diskursanalyse vermag dabei jene epistemologischen bzw. ›ideologischen‹ Grundannahmen und Postulate – wobei ›Ideologie‹ von Titzmann durchweg in einem weiten Sinn als semiotisches und als Diskurs-Phänomen begriffen wird83 – bloßzulegen, die sowohl der ›schönen‹ Literatur als auch der Wissenschaft als gemeinsames historisches Apriori des Sag- und Wißbaren zugrundeliegen (so u.a. zu »Wissen und
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geschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹. Stuttgart 1992, S. 409–441 sowie Ders.: Das Wissen der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik. In: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretischmethodische Zugänge der Literaturwissenschaft. Berlin, New York 2010, S. 164–191. Was nicht in Widerspruch zu ihrer Bestimmung über Interdiskursivität steht; s. hierzu die Überlegungen von Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 313–345, hier 316f. Vgl. Titzmann 1999 bzw. 2009 (Anm. 64) und Wolfgang Lukas: ›Figurenwissen‹ vs. ›Textwissen‹. Zur literarischen Archäologie des psychischen ›Unbewussten‹ in der Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampart (Hgg.): Figurenwissen. Funktionalisierung des Wissens bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin (im Ersch.). Vgl. in diesem Zusammenhang Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 2000, bes. Kap. VII »Diskurs und Ideologie«, S. 223–252.
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Literarische Anthropologie der Goethezeit
Sprache in der Goethezeit«). Da, wo sich Literatur als ›Schnittpunkt‹ verschiedener theoretischer Diskurse konstituiert, lässt sie sich schließlich auch als ›Metadiskurs‹ begreifen, der einen privilegierten übergeordneten Ort schafft, von dem aus eine innovative Reflexion über einzelne Fachdiskurse und Literatur sowie deren Verhältnis zueinander stattfindet (zu Goethes Lyrik). Daß Michael Titzmann dabei Foucaults ›Diskurs‹-Begriff um den ›Praxis‹Aspekt verkürzt, mag sich als theoretisch unbefriedigend und vorläufig erweisen, ist aber forschungspraktisch unvermeidlich: Wissen von Individuen oder Gruppen kann […] einerseits aus der Beobachtung ihrer non-verbalen Verhaltensweisen und Praktiken, andererseits aus ihren Äußerungen erschlossen werden. Da die Mehrheit der Kulturen der Vergangenheit angehört, die uns primär über ihre Texte zugänglich ist, beschränke ich mich auf diesen […] Fall der Produktion, Speicherung, Verbreitung von Wissen durch Texte. In der Realität mag das Wissen einer Gruppe oder Kultur als Durchschnitt aus den Wissensmengen ihrer Mitglieder sich darstellen: in der Rekonstruktion stellt es sich als Durchschnitt aus bestimmten Klassen von Aussagen verschiedener Texte dar.84
Textualistische und praxeologische Forschungsperspektiven – »Praxistheorie und Diskurstheorie« als »zwei konträre Fundierungsstrategien«85 – bewegen sich außerdem inzwischen in ihrem Problembewußtsein aufeinander zu: Die Forschungspraxis der Praxeologie nimmt selbst – ob sie will oder nicht – Züge einer Analyse von historischen Dokumenten an, die sie in die Nähe von Diskursanalyse – mit all ihren Problemen – bringt. Umgekehrt gilt: Jene der Diskurstheorie strebt selber auf die Seite der Analyse sozialer Praktiken, eines ›Kontextes‹ jenseits des ›Textes‹ hin. […]. […], und der Praxeologe sieht sich an das textuelle oder artefaktförmige Material der Diskursanalytiker und Semiologen verwiesen.86
Da eine »zusätzlichen Methodologie, die es erlaubt, aus den kulturellen Äußerungen auf die ›Realität‹ zu schließen«87 allerdings nach wie vor fehlt, kann es zumal der Literaturgeschichte (aber nicht nur dieser) vorerst nur um einen Vergleich von ›Literatur‹ mit »kulturelle[m] Denken und Wissen über die ›Realität‹«,88 nicht aber mit ›Realität‹ selbst gehen. Ob angesichts dessen und hinsichtlich welcher Fragestellungen eine im Sinne Michael Titzmanns konzipierte Literaturanthropologie II mit den Erkenntnisin-
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Titzmann 1989 (Anm. 50) S. 58. Zum Verhältnis von ›Wissen‹, Semantik und ›Praxis‹ siehe Foucault 1969 (Anm. 32), S. 74 und S. 258–262. Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation: In: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hgg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209, hier S. 191. Reckwitz 2008 (Anm. 85) S. 200–201; zu den »Relationen zwischen mentalen Wissensordnungen, körperlichen Verhaltensmustern und ›Texten‹ aus praxistheoretischer Perspektive« vgl. auch schon Ders.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 588–616, hier S. 588. Titzmann 1991 (Anm. 17), S. 411. Ebd., S. 426–427.
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teressen und Verfahrensweisen einer Literaturanthropologie I überhaupt eine fruchtbare Beziehung eingehen könnte, ob und auf welche Weise beide einander zukünftig zuarbeiten könnten oder nicht, bleibe dahingestellt. Ihre Unterschiede oder gar die Differenz von ›Semantik‹ und ›Praxis‹ metaphorisch zu überspielen, dürfte sich jedoch als der falsche Weg erweisen, zwischen beiden zu vermitteln. Und wenn Harald Neumeyer gar »das Fehlen fast jeglicher methodischer Fundierung einer literarischen Anthropologie«89 diagnostiziert, dann trifft dies nicht zuletzt auch deshalb zu, weil es die ›kulturwissenschaftliche‹ Literaturanthropologie (Literaturanthropologie II) bis heute weitgehend versäumt hat, die Vorschläge und Beiträge Michael Titzmanns zu einer solchen Fundierung – und sei es kritisch – zu diskutieren oder aufzugreifen und sie diese stattdessen offenkundig in der (vermeintlich obsoleten?) Schublade des ›Strukturalismus‹ abzulegen pflegt. Titzmanns Literaturanthropologie, die sich konsequent auf ein diskursanalytisches – und d.h. zugleich auch: auf ein struktural-semiotisches – Fundament stellt, Abstraktion als Analyseinstrument einsetzt und sich als Wissensgeschichte versteht, die sich nicht nur auf einer mittleren Abstraktions- und Zurechnungsebene von ›Wissen‹ ansiedelt, sondern dessen Wandel und Konstanz auf verschiedenen Ebenen modelliert und sich von der Textproposition bis zum ›Denksystem‹ empirischer Transparenz, d.h. der Validierung durch Textdaten verpflichtet weiß, – eine solche Literaturanthropologie verleugnet freilich nicht, was sie den Denkweisen und Verfahren der ›strukturalen Anthropologie‹ von Claude Lévi-Strauss verdankt.90 Sie ist aber auch davor gefeit, in deren ontologische Fallen zu gehen: Michael Titzmann öffnet die ›strukturale Textanalyse‹ vielmehr von Anfang an für Fragen nach dem von Literatur generierten, repräsentierten oder vorausgesetzten ›kulturellen Wissen‹, stellt Michel Foucaults Projekt einer ›Archäologie des Wissens‹ auf eine textanalytische Grundlage und greift Positionen seiner Diskurstheorie auf, um sie literaturwissenschaftlich zu nutzen und methodologisch zu präzisieren. Aufgrund von Titzmanns frühzeitigen theoretischen Vorentscheidungen und methodologischen Weichenstellungen mag er vor dem Hintergrund der wechselnden turns und der terminologischen Konjunkturen, die u.a. ›Anthropologie‹, ›Dis-
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Neumeyer 2008 (Anm. 14), S. 121. Vgl. paradigmatisch Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen [1955]. In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt a. M. 1967, S. 226–254 und Ders.: Strukturale Anthropologie II. Frankfurt a. M. 1975. Michael Oppitz: Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1975 unterstreicht (und überschätzt?) die Relevanz binärer Oppositionen als »elementare[r] Mechanismen, mit deren Hilfe überhaupt erst die Ausübung des Denkens ermöglicht wird« (S. 292) und unterstellt semiotischen und sozialen Systemen logische Kohärenz: »strukturale Anthropologie ist also eine Wissenschaft, die von der Hypothese eines logischen Arrangements der sozialen Phänomene ausgeht« (S. 329).
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Literarische Anthropologie der Goethezeit
kurs‹, ›Wissen‹91 und ›Problem/Lösung‹ seither in der Literaturwissenschaft erleben, in vielem als Theorie-Pionier erscheinen; zugleich sichern ihm aber seine konsequente Weiterentwicklung der theoretischen und methodologischen Grundlagen und ihre beharrliche literaturgeschichtliche Erprobung – nicht nur auf dem Feld der ›Goethezeit‹, aber wesentlich auf diesem – unverminderte Aktualität.
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Für die Konjunktur des Wissensbegriffs vgl. nur Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin, New York 2008 oder über die Literaturwissenschaft hinaus: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, der u.a. auch Beiträge zu Diskurstheorie und Anthropologie versammelt.
I ZUR THEOR IE LITERATURGESCHICHTLICHER PERIODISIERUNG
Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung
Etwa in der Mitte der 1960er Jahre wurde die klassische Form der Literaturgeschichtsschreibung praktisch totgesagt;1 sie hat gleichwohl seither erstaunlich floriert,2 ohne einen tiefgreifenderen Wandel durchgemacht zu haben als den, der von der Einbeziehung neuer Objektbereiche (z.B. ›Trivialliteratur‹) und neuer Fragestellungen (z.B. ›Sozialgeschichte‹) markiert wird. Mit dieser eher verstärkten literarhistorischen Produktion hat freilich die theoretische Reflexion über die methodologischen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung weder quantitativ noch qualitativ Schritt gehalten:3 bei allem, was an ihm wissenschaftsgeschichtlich überholt ist, ist noch immer das nunmehr über 60 Jahre alte Buch Teesings4 die beste Darstellung der Probleme des Epochenbegriffs, von denen, als exemplari-
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Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967, S. 5ff. So, um nur einige zu nennen, z.B.: Heinz Otto Burger: Renaissance – Humanismus – Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969; Hans Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. 2 Bde. München 1970; Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971ff.; Gerhard Kaiser: Aufklärung – Empfindsamkeit – Sturm und Drang. München 21976; Viktor Žmegaþ (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 4 Bde. Königstein i. Ts. 1979ff.; Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde. Reinbek 1980ff. (zitiert als Rowohlt); Rolf Grimminger (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 12 Bde. München 1980ff. (zitiert als Hanser). Stark ist der Anteil der DDR: Ernst Engelberg/Wolfgang Küttler (Hgg.): Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis. Köln 1977 (Kolloquium Berlin-Ost 1974); Werner Bahner (Hg.): Renaissance – Barock – Aufklärung. Epochen- und Periodisierungsfragen. Kronberg i. Ts. 1976; Claus Träger: Zur Stellung und Periodisierung der deutschen Literatur im europäischen Kontext. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Bd. I. Hg. von Heinz Rupp u. Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt a.M., Las Vegas 1981, S. 144–165. Hervorzuheben ist auch noch: Claudio Guillén: Second Thoughts on Currents and Periods. In: Peter Demetz/Thomas Greene/Lowry Nelson (Hgg.): The Disciplines of Criticism. Essays in Literary Theory, Interpretation and History. New Haven, London 1968, S. 477–509. Hubert Paul Hans Teesing: Das Problem der Periodisierung in der deutschen Literaturgeschichte. Groningen 1948.
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Theoretische Voraussetzungen
schem Paradigma der Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, hier die Rede sein soll. Mein Gegenstand werden dabei nicht die Probleme literarhistorischer Darstellung sein, sondern die Probleme der ihr vorausliegenden Untersuchung, die allen literarhistorischen Darstellungen zugrunde liegen, wie verschieden der Typ der Literaturgeschichte sonst auch sein mag. Meine Überlegungen zu einigen wenigen Aspekten des Epochenbegriffs versuchen, teils einen Konsens über Bekanntes festzuhalten, teils einige neue Probleme zu skizzieren. Da literarhistorische Beispiele fast immer zu komplex sind, um auf dem verfügbaren Raum vorgefühlt zu werden, muß ich mich auf wenige angedeutete Beispiele beschränken, insbesondere solche aus der ›Goethezeit‹ (GZ), womit die Phase 1770–1830 gemeint ist, und im übrigen auf die theoretische Phantasie des Lesers vertrauen. – Zur Verständigung führe ich zunächst den Begriff der ›Epoche‹ ein, und zwar in einer so allgemeinen, d.h. ungenauen Form, daß er konsensfähig sein müßte, also alle Varianten seiner derzeitigen Verwendung abgedeckt sein dürften: Epoche soll also heißen a) jedes Segment Ti (z.B. also 1770–1830) aus dem Kontinuum der chronologischen Zeit, in dem b) Elemente einer Klasse X (z.B. also literarische Texte insgesamt oder Texte eines bestimmten Typs – z.B. Gattungen – oder sozialgeschichtliche Strukturen, usw.) c) bezüglich einer Menge von Kriterien xl ..., xn (z.B. textinterne Merkmale/Strukturen oder gemeinsame Annahmen/Wertsysteme der Kulturmitglieder, usw.), d) deren jedes Ti entweder von Ti—l oder von Ti+l oder von beiden unterscheidet, e) eine relative Invarianz aufweisen. Wohl nur d) bedarf weiterer Erläuterung: abgedeckt soll sowohl der Fall sein, daß ein Merkmal M nur in Ti, nicht aber in Ti—l und in Ti+l auftritt, als auch der Fall, daß ein Merkmal M1 in Ti—l und Ti, aber nicht in Ti+l ein Merkmal M2 hingegen in Ti und Ti+l, aber nicht in Ti—l auftritt; im zweiten Fall besteht also das für Ti Spezifische dann darin, daß nur Ti die Kombination M1 + M2 aufweist, während die frühere und die spätere Phase jeweils nur eines – und jeweils ein anderes – dieser Merkmale aufweisen. Ich unterscheide demgemäß zwischen epochenspezifischen Merkmalen, die nur die Epoche, nicht ihre beiden Nachbarn, charakterisieren (hier also für Ti nur M1 + M2 aber weder M1 noch M2 alleine), und epochentypischen, die nicht nur die Epoche, sondern mindestens auch einen ihrer Nachbarn charakterisieren (hier für Tj sowohl M1 als auch M2). Um als ›Epoche‹ klassifiziert zu werden, muß jedenfalls eine Phase Tj nicht von jedem anderen Zeitraum Tj (j z i) unterschieden sein: es reicht, wenn Tj von seinen beiden Nachbarn, dem Vorgänger und dem Nachfolger, unterschieden ist. Von einer literaturgeschichtlichen Darstellung einer oder mehrerer Epochen erwarten wir selbstverständlich mehr als nur die Angabe der epochenspezifischen Merkmale, also die Angabe genau dessen, worin sich eine Epoche von ihrem Nachbarn unterscheidet: eine solche Epochenklassifikation, die nur eine Periodisie-
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rung begründet, d.h. angibt, warum wir einen Zeitraum als Epoche behandeln, ist somit nicht identisch mit einer Epochenbeschreibung, zu der zwar auch gehört, was die Epoche von anderen unterscheidet (also das Epochenspezifische), zu der aber zudem auch gehört, was einerseits die Epoche mit ihren Nachbarn teilt (das Epochentypische) und was andererseits innerhalb ihrer über die internen Gemeinsamkeiten (des Epochenspezifischen wie des Epochentypischen) hinaus an Verschiedenheiten existiert. Um die Probleme des Epochenbegriffs zu verdeutlichen, simuliere ich im folgenden den Prozeß der Periodisierung in abstracto: es soll systematisch rekonstruiert werden, welche methodischen Schritte und Entscheidungen bei einer Epochenklassifikation in jedem Falle stattfinden müssen, gleichgültig, ob sie im jeweiligen konkreten Falle bewußt oder nicht bewußt, explizit oder implizit stattfinden oder stattgefunden haben. Natürlich finden wir in der Praxis immer schon eine Periodisierung der Literaturgeschichte vor, die andere vor uns vorgeschlagen haben: dennoch ist diese Rekonstruktion nichts weniger als überflüssig. Denn erstens bedürfen wir eines Wissens über die erforderlichen Operationen und ihre Probleme, um die Vorschläge unserer Vorgänger kontrollieren zu können; zweitens divergieren die vorgeschlagenen Epochenklassifikationen zumindest in Teilbereichen erheblich, und wir benötigen also irgendwelche Entscheidungskriterien; drittens können wir uns selbst aufgrund neuer Überlegungen und Ergebnisse veranlaßt sehen, eine bislang Konsens findende Epochenklassifikation durch einen abweichenden Vorschlag in Frage zu stellen; viertens schließlich muß selbst eine einstimmig akzeptierte Periodisierung zumindest mit dem Fortgang der Geschichte selbst fortgesetzt und ergänzt werden. Gegeben sei also die geordnete Menge lückenlos aufeinanderfolgender chronologischer Einheiten gleichen Umfangs (z.B. Jahre, Jahrfünfte, Jahrzehnte, ...) zwischen zwei chronologischen Daten tx und tx+15. In jeder dieser Zeiteinheiten hat eine bestimmte Menge von Ereignissen stattgefunden, in unserem Falle also ist etwa eine Menge literarischer Texte verfaßt oder veröffentlicht worden. Gefragt ist, ob und wie der Gesamtzeitraum in ›Epochen‹ untergliedert werden kann. Wir stellen dazu an die Texte eine Reihe von Fragen, auf die hin wir sie untersuchen; wir fragen also, ob eine bestimmte Klasse von Sachverhalten in den Texten auftritt oder nicht und in welcher Form sie auftritt, wenn sie auftritt. Welche Fragen wir stellen, hängt natürlich von – literaturtheoretischen und/oder literarhistorischen – Vorüberlegungen auf der Basis unseres jeweiligen theoretischen bzw. historischen Wissens ab. Die Ergebnisse dieser Untersuchung fungieren als Kriterien der Klassifikation: wenn xi bis tx+i vorliegt, danach aber nicht mehr (oder umgekehrt), oder wenn xi bis tx+i immer in der Form A, ab dann aber in der wesentlich verschiedenen Form B vorliegt, können wir bezüglich des Sachverhalts xi einen Einschnitt zwischen zwei Phasen bei tx+1 annehmen. Wenn wir mehrere Kriterien, z.B. x1 ..., x6, benutzen wollen, dann müssen wir natürlich vor allem darauf achten, daß sie tatsächlich verschieden sind. Als verschieden sollen sie gelten, wenn sie logisch voneinander unabhängig sind, d.h. wenn kein Kriterium xi ein anderes Kriterium xj logisch impliziert bzw. inkludiert oder ausschließt; denn anderenfalls wären xi und
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xj nicht zwei, sondern nur ein Kriterium. Die wechselseitige logische Unabhängigkeit der Kriterien bedeutet natürlich nicht, daß sie empirisch-historisch voneinander unabhängig sein müßten: zu jedem Zeitpunkt tx+i können xi und xj natürlich feste strukturelle Beziehungen im Rahmen eines von den Texten aufgebauten Systems haben. Theoretisch denkbar und beim Stande unseres Wissens in der Praxis möglich ist dann etwa ein Untersuchungsergebnis der folgenden Art, bei dem jeder der Pfeile die Dauer angeben soll, während derer der jeweilige Sachverhalt, um den es bei x1, ..., x6 geht, auf eine bestimmte Weise geregelt ist:
Schema 1
Je nach dem, welches der Kriterien wir jeweils anlegen, erhalten wir dann also je verschiedene Periodisierungsmöglichkeiten. Wir müssen also offenbar, wie die französische Sozialgeschichtsschreibung, Strukturen verschiedener Dauer – kurz-, mittel-, langfristig konstante Strukturen5 – unterscheiden. Diese Benennungen erheben keinen theoretischen Anspruch: sie haben nur den Wert ungefährer, umgangssprachlicher Verständigung; denn selbst mein Schema belegt schon, daß weder eine präzise Abgrenzung der drei Klassen untereinander ohne Willkür möglich ist noch ein zwingender Grund zur Einteilung in nicht mehr und nicht weniger als genau drei Klassen besteht. Der gemeinte Sachverhalt ist aus der Literaturgeschichte gut bekannt. Gegenüber einem Phänomen mittelfristiger Dauer wie der GZ wäre etwa die ›Klassik‹ oder gar der ›Sturm und Drang‹ ein Merkmalskomplex/eine Struktur kurzfristiger Dauer, während z.B. bestimmte Gattungsnormen, so etwa die, daß Figuren der sozialen Unterschicht nicht als Hauptfiguren ›ernster‹ Dramen und Romane ›mittleren‹ oder ›hohen Stils‹ in Betracht kommen,
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Fernand Braudel: Histoire et sciences sociales. La longue durée. 1958. Wiederabgedruckt in ders.: Ecrits sur L’Histoire (Champs Bd. 23). Paris 1969, S. 44–83. – Vgl. dazu auch: M. Bloch/F. Braudel/L. Febvre u.a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. von Claudia Honegger. Frankfurt a.M. 1977; Michael Erbe: Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung (Erträge der Forschung Bd. 110). Darmstadt 1979.
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langfristig invariant geblieben sind, wie auch bestimmte Aspekte ebenso elementarer wie fundamentaler sozialgeschichtlicher Strukturen – und gern auch ihrer literarischen Darstellungen – zumindest in der Vergangenheit langfristige Konstanten gebildet haben: so etwa bestimmte Aspekte des Komplexes Liebe-Ehe-Familie6 oder der Formen des theoretischen und praktischen Umgangs mit dem Tode7 oder der Strukturen der sozialen Schichtung. Dementsprechend können wir also Epochen auf verschiedenen Niveaus chronologischer Dauer ansetzen: wenn etwa Ti—l, Ti, Ti+l aufeinander folgende Epochen mittelfristiger Dauer sind, dann können diese Zeiträume u. U. sinnvoll a) zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden (›Superepochen‹: beispielshalber Ti—l + Ti + Ti+l zu T), b) in kleinere Einheiten unterteilt werden (›Subepochen‹: beispielshalber Ti in Ti,…, Tj). Die terminologische Unterscheidung zugunsten leichterer Verständigung bedeutet keinen methodologisch verschiedenen Status: die Probleme des Epochenbegriffs und der Periodisierung sind auf allen drei Niveaus genau dieselben. Notwendig haben aber Subepochen mehr ihnen spezifische Merkmale als Epochen, da zu denen der Epoche noch die hinzukommen, um derentwillen wir sie als eigene Teilphasen unterscheiden; ebenso notwendig haben Superepochen weniger spezifische Merkmale als Epochen, da von den epochentypischen Merkmalen alle die entfallen, um derentwillen wir die eine von der anderen Epoche unterscheiden können. Man hat im übrigen immer schon Epochen in Teilphasen unterteilt, um ihrem internen Wandel gerecht zu werden, früher freilich zumal in evaluativer Absicht (z.B. ›Frühbarock‹–›Hochbarock‹–›Spätbarock‹8), wie sie auch biologisierenden
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Vgl. z.B. Philippe Ariès: Histoire des populations françaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIe siecle (Points Histoire Bd. 3). Paris 1971 (11948); ders.: L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime (Points Histoire Bd. 20). Paris 1973 (11960); Jean-Louis Flandrin: Familles. Parenté, maison, sexualité dans l’ancienne société. Paris 1976; ders: Späte Heirat und Sexualleben. In: Honegger 1977, S. 272–310; Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977. Heidi Rosenbaum (Hg.): Familie und Gesellschaftsstruktur. Frankfurt a.M. 1978; dies.: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M 1982; Elisabeth Badinter: L’Amour en plus. Histoire de l’amour maternel, XVIIe–XXe siècle (Champs Bd. 100). Paris 1980. – Eher essayistisch Barbara Beuys: Familienleben in Deutschland. Neue Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Reinbek 1980. Philippe Ariès: Essais sur l’histoire de la mort en Occident: du moyen Âge à nos jours (Ponte Histoire Bd. 31). Paris 1975; ders.: L’Homme devant la mort. Paris 1977; Michel Vovelle: Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVIIe et XVIIIe siècle (Archives Bd. 53). Paris 1974; Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren. München 1981. So z.B. Willi Flemming: Das Jahrhundert des Barock. In: Richard Newald, Willi Flemming, Fritz Martini, Wolfdietrich Rasch u. Wolfgang Baumgart: Geschichte der deut-
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Metaphern (›Blütezeit‹–›Verfall‹) zugrunde lag; verbunden war damit wohl auch ein geschichtsphilosophisches Postulat geschichtsinterner Teleologie. Wenn wir die Wertungsintention und das geschichtsphilosophische Postulat aus dem Konzept solcher Subkategorisierung tilgen, bleibt sie ein diskussionswürdiges Verfahren, um der historischen Komplexität Rechnung zu tragen. Weniger etabliert ist und war es, benachbarte Epochen zu größeren Einheiten zusammenzufassen, was, wo es geschehen ist, freilich auf sehr viele, zu viele Epochen ausgedehnt wurde und somit notwendig auf so hohem Abstraktionsniveau geschah, daß die solchermaßen gebildeten Klassen kaum noch historischen Aussagewert haben (z.B. ›Antike‹ vs. ›Mittelalter‹ vs. ›Neuzeit‹, die stattliche Mengen heterogener Jahrhunderte zusammenfassen; oder gar ›christliches Abendland‹ für die Zeit von der Spätantike bis ungefähr zur Gegenwart). Wenn er also sinnvoll und erwägenswert sein soll, muß der Versuch solcher Zusammenfassung auf geringerem Abstraktionsniveau und für kleinere historische Einheiten gemacht werden; ich diskutiere ihn hier nicht weiter, da er keine grundsätzlich anderen Probleme aufwirft. Jede Epochenklassifikation geht also jedenfalls nicht mit absoluten, sondern mit relativen Größen um: eine Zeit Ti ist eine Epoche nur relativ auf die Kriterien, für deren Anwendung man sich entschieden hat. In dem historischen Ablauf etwa, den mein Schema 1 fingiert, gibt es nur wenige Zeiteinheiten, nämlich nur x + 4, x + 6, x + 8, x + 12, wo nicht mindestens bezüglich eines der sechs Kriterien eine Struktur enden und eine neue anfangen würde: eine Situation, wie wir sie sicherlich in nicht wenigen historischen Zeiträumen tatsächlich ähnlich finden würden. Im Beispiel hätten wir also zwölf Zeitpunkte zur Wahl, wo wir eine Epoche enden bzw. anfangen lassen könnten. Im Extremfall könnten wir für jedes dieser sechs Kriterien eine eigene Epochenklassifikation vornehmen und erhielten so für den Zeitraum zwischen zwei (im Falle von x4) und sieben Epochen (im Falle von x6). Eine solche totale Relativierung des Epochenbegriffs macht zwar (fast) alle seiner Probleme verschwinden, aber auch ihn selbst: was wir dann erhalten, sind nur mehr Datierungen von Einzelphänomenen. ›Epoche‹ meint aber normalerweise eine Phase, die aufgrund von mehr als einem Kriterium konstituiert ist und in der mehr als ein Phänomen relativ invariant bleibt. Von ›Epoche‹ in diesem Sinne reden zu können, bedingt also, daß mehrere Einschnitte, die sich aufgrund verschiedener Kriterien ergeben, zeitlich, wo nicht zusammenfallen, so doch nahe beieinander liegen. Die Häufung struktureller Einschnitte in einer relativ eng begrenzten Zeiteinheit kann also ein entscheidendes Argument sein, dort eine Epoche anfangen oder enden zu lassen. Denn wenn sich fast in jedem Teilzeitraum etwas ändert, müssen wir wählen, wo wir Epocheneinschnitte ansetzen wollen; sonst führen wir wiederum das Epochenkonzept ad absurdum, indem wir fast ebenso viele Epochen wie Zeiteinheiten einführen. Im Beispiel des Schemas finden sich mehrfach solche Häufungen: so bei x + 5, x + 9, x + 10, x + 11, x + 13 je zwei
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schen Literatur vom Humanismus bis zu Goethes Tod (1490–1832). Stuttgart 21962, S. 339–404.
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Einschnitte, bei x + 3 und x + 15 je sogar drei. Nun sind aber offenbar – so viel zeigt wiederum auch schon das Schema – nicht alle dieser Einschnitte gleichwertig. Denn wo eine langfristig konstante Struktur endet, deren Existenz den Zeitgenossen allein schon aufgrund ihrer bisherigen Dauer, einer Dauer über ein oder mehrere Menschenleben hinaus, als (fast) selbstverständlich erscheinen muß, da handelt es sich um ein gravierenderes Ereignis, als wenn eine Struktur kurzfristigen Typs endet, deren mehr oder minder schnelle Transformationen man gewohnt ist. Im Schema liegen Transformationen langfristiger Phänomene etwa bei x + 3 vor, wo in der unmittelbaren Nachbarschaft (x + 2) eine solche Struktur abgelöst wird, und bei x + 15, wo in diesem Zeitraum selbst und zudem in der Nachbarschaft (x + 14) je eine solche Struktur ersetzt wird. Neben das Kriterium der Häufung von Einschnitten muß also das des Gewichts der Einschnitte treten, das seinerseits sicher nicht nur von der jeweiligen bisherigen Dauer des Phänomens abhängt. Das Kriterium der Häufung von Einschnitten muß also mit dem des Gewichts der Einschnitte kombiniert werden, wobei mein Beispiel der Dauer einer Struktur natürlich nur ein möglicher Indikator für Gewichtigkeit ist. Welche sonstigen – mutmaßlich komplexeren – Indikatoren für den Grad des Gewichts eines Einschnitts in Betracht kommen, wie sie sich zu einander verhalten und wie sie hierarchisiert werden können, wie die verschiedenen möglichen Kombinationen zwischen Grad der Häufung und Grad des Gewichts ihrerseits hierarchisiert werden, schließlich, ob eine befriedigende Lösung dieser Probleme überhaupt möglich ist: das alles könnte erst genauere methodologische Überlegung entscheiden; hier muß es genügen, das Problem benannt zu haben. Auf der Basis der wenigen Informationen, die uns Schema 1 liefert, könnten wir also Beginn und Ende einer Epoche Ti etwa bei x + 2/x + 3 einerseits und bei x + 14/x + 15 andererseits ansetzen. Die Häufung von Veränderungen von x + 9 bis x + 11 könnte als Kriterium für eine Unterteilung von Ti in zwei Teilphasen Ti1 und Ti2 dienen. Diese Häufung wäre auf jeden Fall im Rahmen einer Epochenbeschreibung zu interpretieren: sie könnte z.B. Symptom systeminterner Krisen sein. Zweierlei kann festgehalten werden: erstens sind die Einschnitte zwischen zwei Epochen A und B einerseits, B und C andererseits nicht notwendig gleichgewichtig: im fiktiven Falle des Beispiels wäre etwa der Einschnitt zwischen Ti und Ti+l gewichtiger als der zwischen Ti—l und Ti. Zweitens sind die Einschnitte zwischen Epochen nicht ideale Zeitpunkte, sondern selbst mehr oder weniger ausgedehnte Zeiträume: nicht ›in ti‹, sondern ›um ti‹ oder ›zwischen ti und tj‹ ist die genauest mögliche Angabe. Diese bloß approximative Datierbarkeit der Epocheneinschnitte ist, wie jeder weiß, ebenfalls eine realistische Implikation des Schemas, und literarhistorische Angaben zum Beginn bzw. Ende von Epochen sind sicher um so falscher, je genauer sie sind. Doch damit sind die Komplikationen noch nicht erschöpft. Denn Schema 1 arbeitet mit einer folgenreichen Fiktion: es behandelt literarhistorische Phänomene als rein qualitative und ignoriert ihren quantitativen Aspekt. Auch darin ist es gewissermaßen realistisch: denn diese Fiktion teilt es mit praktisch der gesamten
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Theoretische Voraussetzungen
Literaturgeschichtsschreibung bis heute, die den quantitativen Aspekt fast nur im extratextuellen Bereich des Buchhandels und Verlagswesens, sonst allenfalls in Form unkontrollierbarer Eindrücke (›X nimmt stark/schwach zu/ab‹) berücksichtigt. Denken wir uns also etwa vier literarische Phänomene A, ..., D: in Betracht kommt alles, was wir überhaupt an Aspekten literarischer Texte unterscheiden können; z.B. seien A, ..., D vier Gattungen oder sonstige Texttypen, vier Klassen von Handlungselementen oder von Strukturen des Textverlaufs überhaupt, vier sprachlich-stilistische Merkmalskomplexe, vier von den Texten interpretatorisch abstrahierbare semantische (Teil-)Strukturen usw. Wir untersuchen ihre Häufigkeit in den Texten pro Zeiteinheit und erhalten Schema 2:
Schema 2
Dabei könnte es sich ebenso um Entwicklungen über mehrere mittelfristige Epochen hinweg wie um solche innerhalb einer derartigen Epoche handeln; für den letzteren Fall gebe ich später ein Beispiel aus der GZ (Schema 6). Halten wir eine erste Folgerung fest: um epochentypisch/-spezifisch zu sein, muß ein Phänomen X keineswegs notwendig in (fast) allen, nicht einmal in den meisten Texten von Ti auftreten. Wenn z.B. X vor und nach Ti nie häufiger als in maximal 5 % der Texte, in Ti aber in etwa 30 % der Texte auftritt, dann ist X nicht nur epochentypisch, sondern seine quantitative Verteilung ist sogar epochenspezifisch: der prozentuale Anteil von X kann also durchaus als ein Kriterium der Un-
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terscheidung von Epochen oder Teilphasen auch dann dienen, wenn X immer auf eine Minderheit von Texten beschränkt bleibt (vgl. wiederum das Beispiel von Schema 6). Was epochentypisch/-spezifisch ist, ist also eine Frage, die nicht als Funktion der relativen Häufigkeit in einer Epoche, sondern nur als Funktion des Vergleichs der relativen Häufigkeiten aus mehreren benachbarten Epochen entschieden werden kann: jede Epochenklassifikation ist notwendig komparativ. Offenkundig wird eine begründbare Epochenklassifikation im Beispiel von Schema 2 äußerst schwierig: wo soll man bei diesen Kurven Einschnitte annehmen, wenn keine weiteren Informationen hinzukommen? Hier – und vermutlich meist auch sonst – erlauben die quantitativen Daten also allein keine Entscheidung: qualitative Überlegungen müssen hinzukommen, die aber den quantitativen Aspekt zu berücksichtigen haben. Im Falle unseres Schemas 2 erlauben die quantitativen Gegebenheiten zugleich die Formulierung qualitativer Hypothesen, die ihrerseits allerdings erst bei Einbeziehung weiterer (quantitativer und qualitativer) Daten entschieden werden könnten. Da die Bedingung der logischen Unabhängigkeit von einander natürlich auch für A, ..., D gilt, muß jede Korrelation der Kurven untereinander entweder auf dem bloßen Zufall oder auf einer nicht schon logisch vorgegebenen, sondern erst von den Texten der Zeit hergestellten Relation der Phänomene beruhen. Von einem bestimmten Zeitpunkt ab, der etwa zwischen t2 und t3 situiert werden könnte, ist der Verlauf der Kurven für A und B bzw. für C und D einigermaßen ähnlich mit einer Tendenz zur Parallelität. Falls sich nachweisen läßt, daß diese Ähnlichkeit auf einer Tendenz der Zeit beruht, tatsächlich A und B bzw. C und D in Beziehung zu setzen, dann wäre trotz der starken quantitativen Umverteilungen eine Invariante gefunden, die freilich nicht auf der Ebene der Einzelphänomene A, ..., D läge, sondern auf der Ebene einer ihnen übergeordneten und sie paarweise verknüpfenden Struktur. Während die Einzelphänomene stark variieren würden, lägen zwei relativ invariante Teilstrukturen, nämlich die Relation zwischen A und B und die zwischen C und D, vor. Da die quantitative Verteilung der Einzelphänomene vor t2/t3 dagegen spricht, daß diese Relationen vor diesem Zeitpunkt schon existieren, hätten wir ein Argument für die Annahme einer Epochengrenze bei diesem Zeitpunkt. Freilich nehmen die Belege für die eine Relation, R (A, B), deutlich zu, die für die andere, R (C, D), deutlich ab, was wir in keinem Fall ignorieren dürfen. Denn da vermutlich häufig beim Übergang zwischen zwei Epochen Phänomene existieren, die weder völlig verschwinden noch völlig neu auftreten, sondern nur eine andere quantitative Relevanz erhalten, könnten wir einen Epocheneinschnitt auch innerhalb des bei t2/t3 beginnenden Zeitraums vermuten. Eine weitergehende zweite Hypothese wäre die, daß auch zwischen den beiden Relationen selbst eine Relation besteht, d.h. daß das Abnehmen der einen und das Zunehmen der anderen nicht von einander unabhängig geschehen, sondern daß beide in dieser Zeit als einander ausschließende Größen fungieren, etwa derart, daß eine bestimmte, den beiden Teilstrukturen R (A,B) und R (C,D) übergeordnete Struktur, eine bestimmte Systemfunktion, konstant bleibt, diese Funktion aber durch verschiedene Größen,
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eben etwa durch die eine oder durch die andere Relation, besetzt und erfüllt werden kann. In diesem Falle hätten wir eine noch relevantere Invarianz für unsere hypothetische Epoche nachgewiesen, die alle Entwicklungen innerhalb dieser Periode zu einander in Beziehung setzt; diese Entwicklungen selbst blieben natürlich immer noch zu interpretieren, aber eben als intraepochale, nicht als interepochale. Wie beide Hypothesen bestätigt werden könnten, kann und muß hier nicht diskutiert werden; ein, wenn auch nicht hinreichendes, Indiz für beide zugleich läge etwa vor, wenn in den Texten in vergleichbaren, d.h. strukturellfunktional ähnlichen Zusammenhängen A und B bzw. C und D sehr häufig zusammen auftreten, während andere denkbare Kombinationen der vier Größen selten oder nie vorkommen, und wenn zudem die Paare A und B bzw. C und D selten oder nie zusammen erscheinen. Eine dritte mögliche Hypothese wäre die Annahme, daß A und D bzw. B und C in dieser Zeit als einander ausschließend fungieren und selten oder nie zusammen auftreten, wofür die Scherenform der Kurvenverläufe der beiden Paare sprechen könnte. Wenn nur Hypothese 3 bestätigt würde, spräche sie dafür, den Gesamtzeitraum als eine einzige, wenn auch unterteilbare Epoche aufzufassen; wenn zudem die Hypothesen 1 und 2 bestätigt würden, würde Hypothese 3 an der aufgrund der beiden anderen vorgenommenen Periodisierung nichts ändern. Offenbar bedeuten also weder selbst starke quantitative Veränderungen der Häufigkeit von Einzelphänomenen, daß nicht eine ihnen übergeordnete Struktur invariant sein könnte, noch die quantitative Invarianz von Einzelphänomenen, daß nicht eine ihnen übergeordnete Struktur sich wandeln würde. So hat man zu recht der älteren Toposforschung den Vorwurf gemacht, daß ihre Fixierung auf die Konstanz bestimmter Elemente oder Teilstrukturen gern den Wandel ihrer kontextuellen Bedeutungen und Funktionen übersah. Ähnliches gilt natürlich auch für die Stoff- und Motivgeschichte: der Faust des ›Volksbuchs‹, der Goethes, der Th. Manns haben weitaus mehr Verschiedenheiten als Gemeinsamkeiten. Nicht nur auf der Ebene eines ›horizontalen‹ Nebeneinanders verschiedener Phänomene/ Strukturen, wie es die Bemerkungen zu Schema 1 illustrieren, bieten sich also konkurrierende Periodisierungsmöglichkeiten an, sondern auch auf der Ebene ›vertikaler‹ Überordnung und Hierarchisierung, wie sie die Bemerkungen zu Schema 2 illustrieren. Invarianzen und Transformationen können also gleichzeitig auch auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion und Systematisierung, von der Ebene relativ ›konkreter‹ partikulärer Sprachformen oder Stoff- bzw. Handlungselemente bis zu den Ebenen verschieden abstrakter und verschieden genereller Strukturen und Funktionen, auftreten; und die Invarianz auf einer Abstraktions- bzw. Systematisierungsebene bedingt die Invarianz auf der nächsthöheren oder nächsttieferen nicht notwendig, wie umgekehrt die Transformation auf einer Ebene nicht notwendig die auf der nächsthöheren oder nächsttieferen bedingt. In verschiedenen Epochen ist zudem auch häufig ein verschiedener Abstraktionsgrad erforderlich, um überhaupt eine relative epochale Invarianz zu finden. So wird, um ihre intraepochale Gemeinsamkeit zu entdecken, für die Erzähltexte oder die Dramen der beiden Jahrzehnte um 1550 ein deutlich geringerer Abstraktionsgrad erforderlich sein als für die
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Erzähltexte oder Dramen der beiden Jahrzehnte um 1800 oder um 1900. Es kann also auch einen epochenspezifischen/-typischen Abstraktionsgrad geben, ab dem innerhalb dieser Epoche überhaupt erst eine epochale Invarianz sichtbar wird. Wenn dem aber so ist, daß nicht für alle Periodisierungen dasselbe Abstraktionsniveau gewählt werden kann, dann fragt sich wiederum, wie jene Willkür vermieden werden soll, die durch eine freie Wahl des Abstraktionsniveaus möglich wird: bei hinreichendem Abstraktionsgrad kann vermutlich jede beliebig umfängliche Zeiteinheit zu einer Epoche zusammengefaßt werden. Denn ein höherer Grad an Abstraktion ist noch kein Argument gegen sie, und eine Zunahme des Abstraktionsgrades ist auch nicht einer Abnahme des Realitätsgrades äquivalent: eine abstrahierte Struktur ist nicht um so ›realer‹ je näher sie am ›Konkreten‹ ist, und um so ›irrealer‹, je mehr sie sich vom ›Konkreten‹ entfernt; die historische Entwicklung der Physik würde ausreichen, dies zu demonstrieren, da hier zunehmende Abstraktion in der Theorie bekanntlich eine zunehmende Beherrschung der ›konkreten Realität‹ in der Praxis bedeutet hat. Auch jede literaturwissenschaftliche Tätigkeit, selbst die der Interpretation eines Einzeltextes, abstrahiert vom ›Konkreten‹, und so lange sie dies wissenschaftstheoretisch akzeptabel und methodologisch korrekt tut, ist dagegen nichts einzuwenden. Auch zeigt selbst die literaturwissenschaftliche Erfahrung, daß oft erst ein relativ hoher Abstraktionsgrad es erlaubt, den sonst unbegreiflichen strukturellen und/oder funktionalen Zusammenhang zwischen zwar gleichzeitig existenten, aber scheinbar heterogen-unvereinbaren Phänomenen, sei es nun in einem Einzeltext, sei es in mehreren Texten desselben oder verschiedener Autoren einer kleinen Zeiteinheit, zu entdecken. Da also im Abstraktionsgrad selbst nicht schon das Kriterium seiner Zulässigkeit liegen kann, bedarf es eines anderen Maßstabs, um in etwa festzulegen, welche Abstraktionsebene z.B. für eine Einteilung in Epochen mittelfristiger Dauer dienen soll, wobei dieser Maßstab zugleich flexibel genug sein muß, um berücksichtigen zu können, daß dieses Niveau selbst eine historische Variable sein kann. Aber auch dieses Problem kann hier nicht gelöst werden, sofern es überhaupt lösbar ist. Nicht immer aber wird es gelingen, hinter einem nicht-abrupten, quantitativgraduellen Wandel, wie ihn Schema 2 zeigt, eine invariante Ordnung zu finden. Denn erstens lassen sich möglicherweise diesbezügliche Hypothesen, wie etwa meine Hypothesen 1 und 2, nicht bestätigen: dann bleibt das Problem erhalten. Aber auch wenn solche Hypothesen sich bestätigen lassen, bleibt zweitens noch das Problem einer Unterteilung der angenommenen Epoche in Teilphasen, wozu eine solche Umverteilung der Häufigkeiten, wie sie mit A, ..., D, vorgeht, geradezu herausfordert, wenn A, ..., D denn tatsächlich relevante Phänomene der Literatur der Zeit sind. Und drittens schließlich hat nicht nur der Wandel von Einzelphänomenen, sondern auch der von komplexen Strukturen einen solchen quantitativen Aspekt. Denn zum einen bilden sich neue Strukturen in einer Serie sukzessiver und partieller Transformationen, bis vielleicht ein zeitweilig stabiler Zustand erreicht wird, wobei erstens dieser Prozeß sich auch in diskontinuierlichen Schüben vollziehen mag, so daß die einzelnen Schritte der Transformation nicht gleichmäßig auf die Zeiteinheiten zwischen Ausgangs- und Endzustand verteilt sind; zweitens
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mag der Prozeß auch über eine Reihe von in der Folge nicht fortgesetzten, folgenlosen Experimenten verlaufen. Selten, wenn überhaupt, scheinen sich Strukturen plötzlich vorzufinden, ohne daß ihnen erkennbar ein solcher genetischer Prozeß voranginge: diesem Falle kommen vielleicht das Drama des ›Sturm und Drang‹ oder des ›Naturalismus‹ nahe. Zum anderen wird sich eine solche Struktur zunächst immer wohl nur vereinzelt, d.h. in relativ wenigen Texten von relativ wenigen Autoren, finden, um sich in der Folge entweder quantitativ durchzusetzen oder nicht. Das Drama des ›Sturm und Drang‹ z.B. hat sich quantitativ nicht durchgesetzt; es blieb auf eine relativ kleine Autorengruppe beschränkt. Nur dieser zweite Prozeß der Durchsetzung, nicht der der Konstitution, scheint im Augenblick auch einer quantitativen Darstellung leicht zugänglich. Eine historische Erscheinung, an der beide Aspekte beobachtbar sind, sowohl eine allmähliche schrittweise Konstitution der typischen Strukturen als auch eine allmähliche quantitative Durchsetzung dieser Strukturen, dürfte z.B. die ›Aufklärung‹ sein. Wenn z.B. von jüngeren Literaturgeschichten die eine (Hanser) die ›Aufklärung‹ um 1680, die andere (Rowohlt, vgl. für beide Anm. 2) hingegen um 1740 beginnen läßt, aber eine frühere Stufe der ›Frühaufklärung‹ anzunehmen scheint, was hier offenbar nicht evaluativ gemeint ist, dann mag sich diese Divergenz etwa dadurch erklären, daß die erstere einen historischen Einschnitt eher dort setzt, wo Strukturen der ›Aufklärung‹ erstmals identifizierbar auftreten, die letztere hingegen dort, wo diese Strukturen sich mehr oder minder durchgesetzt haben; auch die erstere läßt im übrigen z.B. die epochenspezifischen Formen einer für die ›Aufklärung‹ so relevanten Gattung wie des Dramas erst um 1730 beginnen. Nehmen wir beispielshalber an, im Übergang zwischen ›Barock‹ und ›Aufklärung‹ entwickle sich der quantitative Anteil irgendeiner barocktypischen Textstruktur wie Kurve C in Schema 2, der Anteil einer aufklärungstypischen Struktur wie Kurve B: wo also sollen wir den Einschnitt beider Epochen ansetzen? Zwei der bislang bewußt oder unbewußt praktizierten Modelle zur Lösung solcher Probleme scheinen wenig befriedigend; es sind dies: a)
Die implizite Ausklammerung einer Zeit aus der Folge der Epochen und ihre Behandlung als bloße ›Übergangsphase‹ ohne eigene Spezifizität. Das ist z.B. bis heute das Schicksal der Jahrzehnte um 1600 gewesen: eine Epoche ›Reformation‹ läßt man um 15709 oder 158010 enden, das ›Barock‹ hingegen allenfalls erst um 1630 herum beginnen. Die Zwischenzeit von immerhin 50 oder 60 Jahren als eigene Epoche zu behandeln, hat man sich offenbar nicht entschließen können, und so wird diese Zeit denn notdürftig z.B. so aufgeteilt: »1582–1599: Ausklang«, nämlich der ›Reformation‹, »1600–1630: Vorläufer und Wegbereiter«, nämlich des ›Barock‹.11 Das Modell, das eine historische Lücke nur durch willkür-
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So Rupprich 1970 (Anm. 2). So Newald in: Newald et.al. 1962 (Anm. 8). So Newald und Flemming in: Newald et. al. 1962 (Anm. 8).
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liche Aufgliederung einigermaßen verschleiert, ist offenkundig schon deshalb unbefriedigend, weil auch innerhalb jeder Epoche immer ein Wandel stattfindet und umgekehrt wohl auch einer solchen ›Zwischenphase‹ spezifische Merkmale nicht a priori abgestritten werden können. b) Eine Periodisierung mit sich überschneidenden Phasen: das Enddatum einer früheren Phase liegt später als das Anfangsdatum der späteren Phase. Mit diesem Modell hat man sich bis heute gern beholfen, um z.B. das komplizierte Neben- und Nacheinander von ›Aufklärung‹, ›Empfindsamkeit‹, ›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹, ›Romantik‹ in der GZ zu ordnen.12 Die so benannten und beschriebenen Phänomene sind aber offenbar, wenn sie zumindest zeitweilig synchron koexistieren können, nicht Epochen, sondern strukturelle Typen innerhalb einer Epoche. Das Modell löst also das Problem der Epochenklassifikation nicht; es neigt sogar dazu, es zu verschleiern und zu leugnen, da in der Praxis der literaturgeschichtlichen Darstellung nicht selten der irreführende Eindruck eines einfachen Nacheinanders der Phänomene erzeugt wird. Es bleiben also zwei Alternativen: a) Wenn die Phase zwischen zwei gut als Epochen klassifizierbaren Zeiträumen lang genug ist und wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, können wir versuchen, sie als eigene Epoche zu klassifizieren. Für diesen Versuch böte sich m.E. z.B. die Zeit um 1600 (evtl. auch die um 1700?) an. b) Wenn dieses Verfahren nicht praktikabel ist, dann bleibt nur der Versuch, andere Kriterien zu finden, die es erlauben, einen Einschnitt in den quantitativen Prozessen zu finden. Wir werden die neue Epoche kaum mit dem ersten vereinzelten Auftreten neuer Strukturen beginnen lassen, sondern eher dort, wo diese Strukturen beginnen, dominant zu sein. Dominanz hat sicher auch einen quantitativen Aspekt: unter diesem allein gesehen, könnten wir etwa bei t6/t7 von Schema 2 das ›Barock‹ enden und die ›Aufklärung‹ anfangen lassen, wo die Kurven B und C sich schneiden. Die Phase massiven Wandels zwischen t3 und t6/t7 könnte dann als letzte Teilphase des ›Barock‹ fungieren, zu deren Merkmalen dann die Koexistenz heterogener Strukturen gehören würde. Aber der quantitative Aspekt ist wiederum nur einer und nicht notwendig der wichtigste der Dominanz. Ein Phänomen muß nicht notwendig quantitativ dominant sein, um es qualitativ zu sein, wenngleich qualitative Dominanz sicher immer ein bestimmtes Minimum an quantitativer Verbreitung voraussetzen wird, das im Prozeß der Konstitution und Verbreitung einer neuen Struktur in der Regel nicht schon anfangs gegeben sein wird. Ein mögliches qualitatives Kriterium der Dominanz eines Phänomens X gegenüber einem Phänomen Y ist es sicher, wenn Y sich gegenüber X ›reaktiv‹ verhält. Damit ist nicht einfach gemeint, daß Y sich gegen X verteidigt oder X angreift, was zwischen konkurrierenden
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Geradezu exemplarisch z.B. in: Herbert A. Frenzel u. Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Köln 1953. Bd. 1, München 181981.
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Richtungen normal wäre, sondern ein spezifischerer Fall von Verteidigung oder Angriff. Reaktivität soll heißen, daß sich Y dem Konkurrenten X mindestens partiell anpaßt und sich mit für X spezifischen Modellen gegen X wehrt, während X sich nur der Modelle bedient, die es als für sich spezifisch reklamiert. Dieser Fall liegt z.B. mindestens seit der ›Aufklärung‹, exemplarisch beobachtbar auch in der GZ13 oder in der Phase um 1900, in der Beziehung der Okkultisten zu den Nicht-Okkultisten vor: man beruft sich selbst auf jene ›wissenschaftliche Verfahrensweise‹ mit der man von den anderen bekämpft wird. In ähnlicher Weise beginnt sich im 18. Jahrhundert die christliche Orthodoxie gegen die Variante des Deismus und andere Abweichungen zu verhalten. Umgekehrt können natürlich auch neue Strukturen vor ihrer Durchsetzung zunächst reaktiv sein und sich tradierter fremder Modelle bedienen – sei es, weil spezifisch-eigene noch nicht zu Verfügung stehen, sei es, weil der Wandel – sich selbst oder anderen – noch nicht zugegeben wird. Andere solche Kriterien als Dominanz im allgemeinen oder Reaktivität im besonderen sind denkbar; aber wiederum breche ich die Frage ab. Die Behauptung, ein Ausschnitt Ti aus einem chronologischen Kontinuum ti, ..., tn sei eine Epoche, ist eine Hypothese wie jede andere, und wie jede andere Hypothese muß sie verifizierbar bzw. falsifizierbar sein. Sie ist dies zunächst, insofern festgestellt werden kann, ob in irgendeiner Zeiteinheit ti bezüglich der gewählten Kriterien xl ..., xn Einschnitte zu finden sind, wobei konkurrierende Periodisierungen möglich bleiben, solange nicht Kriterien der Hierarchisierung von Einschnitten untereinander, die sich aufgrund verschiedener Kriterien, Xi und Xj, ergeben haben, formuliert sind. Gegeben sei z.B. ein Teil des chronologischen Kontinuums, tx–tx+10, dessen optimale Periodisierung Schema 3 (oberhalb der Zeitachse) vorgäbe, die aber noch unbekannt sei:
Schema 3
Da sich nun zwischen benachbarten Zeiteinheiten immer Gemeinsamkeiten finden werden, habe man zunächst – aufgrund der Kriterien yl ..., yn – die folgenden Teilzeiträume
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Vgl. z.B. Vf.: Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde. Historischer Ort und Argumentationsstruktur (1979), in diesem Band S. 69–110.
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a) (x + 1) + (x + 2) (zwischen denen ein interepochaler Einschnitt läge), b) (x + 3) + (x + 4) (zwischen denen ein intraepochaler Einschnitt läge), c) (x + 5) + (x + 6) (zwischen denen kein epochaler Einschnitt läge), hypothetisch als ›Epochen‹ beschrieben. Entweder sind nun diese Kriterien yl, ..., yn mit den Kriterien xl, ..., xn, die der optimalen Periodisierung zugrunde liegen, identisch, oder sie sind es nicht. Sind sie es, dann ergibt der Vergleich der Phasen a), b), c), daß es eine bessere – weil ökonomischere – Periodisierung gibt. Denn x + 2 hat mehr mit x + 3 bis x + 6 als mit x + 1 gemeinsam und x + 2 und x + 3 einerseits, x + 4 und x + 5 und x + 6 andererseits, haben jeweils untereinander mehr gemeinsam als mit jeder anderen Einheit. Sind beide Kriterienmengen nicht identisch, dann mag die Klassifikation in a), b), c) bezüglich yl, ..., yn zwar zunächst bestätigt sein, doch wird spätestens die Epochenbeschreibung für diese Phasen auf xl, ..., xn stoßen und somit die bisherige Epochenklassifikation korrigieren können, wenn denn die andere ›besser‹ ist. Von einer optimalen Periodisierung kann natürlich überhaupt nur insofern die Rede sein, als einerseits die gewählte Periodisierung ein intersubjektiv nachweisbares empirisches Fundament hat, d.h. bezüglich der gewählten Kriterien xl, ..., xn bestätigbar ist, und andererseits im Rahmen der jeweiligen Theorie und Methodologie zwischen den – auf der Basis verschiedener Kriterienmengen gleichermaßen empirisch – möglichen Periodisierungen P1, ..., Pn zugunsten einer von ihnen intersubjektiv entschieden werden kann: ein Zustand, dem wir freilich nicht übermäßig nahe scheinen. Längst erledigt hat sich das alte Problem des erkenntnistheoretisch-ontologischen Status der Epochenbegriffe, das schon die ›geistesgeschichtliche‹ Literaturgeschichtsschreibung14 beschäftigt hat und noch die ›marxistische‹15 beschäftigt, die auch darin die gemeinsame Herkunft aus GZ und 19. Jahrhundert nicht verleugnet: Periodisierungen sind weder ›objektive‹ Gegebenheiten noch ›subjektive‹ Konstrukte, sondern, wie alle wissenschaftlichen Ergebnisse, im besten Falle das intersubjektive Produkt aus empirischen Gegebenheiten und theoretisch-methodologischem Rahmen der Untersuchung.16 Freilich variiert dieses Produkt folglich potentiell mit der Theorie/Methodologie nicht nur diachron, sondern auch synchron; doch lasse ich diese Frage hier dahingestellt. Das Beispiel des Schemas 3 macht noch auf einen anderen – wichtigeren, weil unmittelbar praktisch relevanten – Aspekt aufmerksam. Den Vergleich mehrerer Phasen, auf dem hier die Ersetzung der schlechteren durch die bessere Periodisierung basiert, erlaubt die Anwendung derselben Kriterienmenge auf alle Phasen. Zumindest auf der Ebene der Darstellung (nicht notwendig auch der der vorausliegenden Untersuchung) leiden praktisch alle vorliegenden Literatur-geschichten daran, daß verschiedene sukzessive Phasen – oder, insbesondere bei Autorenkol-
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Vgl. Teesing 1948 (Anm. 4), S. 51f. Vgl. z.B. Ernst Engelberg: Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte. In: Engelberg u. Küttler 1977 (Anm. 3), S. 10. Ähnlich schon Teesing 1948 (Anm. 4), S. 51f.
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lektiven, sogar die Teilphänomene innerhalb der Phase – nicht unter gemeinsamen, sondern unter je spezifischen Fragestellungen behandelt werden, was der Epochenklassifikation und der Epochenbeschreibung gleichermaßen schadet. Denn die Einschnitte zwischen z.B. Ti—l und Ti einerseits, Ti und Ti+1 andererseits mögen zwar jeweils auf verschiedenen Teilmengen der Kriterienmenge basieren, aber sowohl eine rationale Kontrollierbarkeit der Periodisierung als auch eine Vergleichbarkeit der Perioden selbst sind nur möglich, wenn die Gesamtmenge der Kriterien, bezüglich deren die Phasen untersucht werden, dieselbe bleibt. Wer also eine literarhistorische Darstellung einer oder mehrerer Epochen beabsichtigt, der sollte somit an alle Einzelobjekte mit derselben objektunspezifischen und invarianten Menge von Fragestellungen herantreten; schlimmstenfalls erweist sich eine Teilmenge des Fragenkatalogs für eine Teilmenge der Objekte als gegenstandslos, insofern sie keine Daten zu dieser Frage liefern. Im Idealfalle sollte sogar eine überindividuelle Absprache in der Forschergemeinschaft über einen elementaren literarhistorischen Fragenkatalog für beliebige historische Objekte möglich sein, der dann durch spezifischere Zusatzfragen von Fall zu Fall ergänzt werden könnte. Diese Forderung liegt freilich, ich weiß, derzeit (vorläufig?) im Bereich des Utopischen. Nicht viel besser steht es in der Praxis mit einer anderen Trivialität. Die Einschnitte, aufgrund deren wir die Geschichte einer Objektklasse periodisieren, müssen notwendig Einschnitte in der zu periodisierenden Geschichte selbst sein. Wenn also unser Objekt die ›Literatur‹ ist, dann kann deren Periodisierung, soll sie nicht willkürlich sein, nur aufgrund von Transformationen der ›Literatur‹ selbst erfolgen, nicht aber aufgrund solcher anderer Künste, nicht aufgrund solcher der Theologie oder Philosophie oder Wissenschaften, usw., nicht aufgrund solcher der politischen oder ökonomischen oder sozialen Geschichte. Auffällig häufig periodisieren jüngere, sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichten17 nach Daten der politischen Geschichte – nach Ereignissen, wie sie durch Daten wie 1789, 1815, 1848, 1918, usw. angedeutet werden, oder, noch überraschender, gar nach Regierungsantritt/-ende von Fürsten (z.B. 1740–1786 = Friedrich II. von Preußen). Solche Periodisierung der ›Literatur‹ ist also entweder willkürlich, weil diese Daten nicht zugleich auch einen literarhistorischen Einschnitt markieren; so scheint mir innerhalb der Erzählliteratur der GZ z.B. 1815 keinen Einschnitt zu bilden. Oder aber in dem Zeitraum um dieses Datum herum liegt tatsächlich auch ein literarhistorischer Einschnitt; das könnte in der Erzählliteratur der GZ etwa der Fall des Zeitraumes um 1790 herum sein, obgleich auch ein solcher Einschnitt noch nicht überzeugend nachgewiesen ist. Dann sind jedenfalls mehrere Fälle möglich: Entweder beide Einschnitte sind die Folgen zweier voneinander unabhängiger Ereignisserien, die nur zufällig zusammentreffen; oder beide Einschnitte sind das Ergebnis einer dritten Ursache, die sich auf beide Teilgeschichten (z.B. die literari-
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So z.B. sowohl Hanser als auch Rowohlt als auch Žmegaþ 1979ff. (Anm. 2). Die verblüffende Periodisierung 1740–1786 hat Rowohlt Bd. IV.
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sche und die politische) ausgewirkt hat; oder der eine Einschnitt (z.B. der politische) ist Ursache des anderen (z.B. des literarischen). Solche Datierungen erwecken jedenfalls notwendig den Eindruck, als werde dieser dritte Fall angenommen. Ich zumindest sehe nicht, wie für solche Kausalitätsannahmen derzeit methodologisch ein Nachweis erbracht werden sollte. Denn Gesetze, aus denen sie abgeleitet werden könnten, sind bislang nicht bekannt; selbst der Marxismus hat es bisher bei deren Postulat belassen müssen. Ebenso wenig könnte auch das Selbstverständnis der Zeitgenossen, wenn es eine solche Kausalkorrelation behauptete, hier entscheidend sein, wenngleich es im Rahmen einer Epochenbeschreibung natürlich zu interpretieren wäre. Wäre es aber diese Rezeption des außerliterarischen Phänomens, die den literarischen Wandel auslöste, dann wäre diese Wahrnehmungsweise des Ereignisses, aber nicht das Ereignis selbst, die Ursache des Wandels. Denn die Wahrnehmungsweise hängt nicht vom Ereignis selbst und nicht von ihm allein, sondern von einem ihm vorausliegenden Denksystem ab, aufgrund dessen es für die Zeitgenossen überhaupt erst diese oder jene Bedeutung gewinnt, wie denn alle Fakten und Transformationen der Teilgeschichten, seien sie dem Historiker heute auch zwingend nachweisbar, für die Geschichte der textinternen literarischen Struktur nur insofern relevant werden zu können scheinen, als sie Element des zeitgenössischen kulturellen Wissens18 geworden sind, d.h. bewußt oder nicht, expliziert oder nicht, unverändert oder transformiert, wahrgenommen worden sind. So wenig wie das politische Selbstverständnis der Zeitgenossen kann aber auch deren literaturtheoretische Programmatik entscheidend für unsere Periodisierung sein, sondern allein nachweisbare Veränderungen der Strukturen der literarischen Texte selbst können eine Periodisierung begründen. Jede solche Kausalitätsannahme zwischen literarischen und nichtliterarischen Strukturen bleibt also derzeit – höchst entbehrliche – apriorische Geschichtsphilosophie: nicht einer Geschichtsphilosophie, sondern einer Methodologie der Geschichtsschreibung, die historische Zusammenhänge nicht a priori präjudiziert, bedarf die Literaturwissenschaft. Eventuelle Korrelationen verschiedener Teilgeschichten können wir derzeit allenfalls beschreiben, aber sicher nicht erklären. Tritt zudem ein neues literarisches Phänomen, sei es auch noch vereinzelt, schon vordem außerliterarischen Datum auf (und das würde sicher sowohl für 1789 als auch für 1918 gelten, soweit überhaupt mit diesen Daten zumindest partiell neue Strukturen auftreten), dann kommt das Datum ohnedies nicht als Erklärung der neuen Struktur, sondern nur als Rahmenbedingung, die ihre Verbreitung regelt – begünstigt oder behindert – in Betracht. Das Beispiel mag ausreichen, ein generelleres Postulat zu illustrieren: es darf nicht a priori eine Einheit der verschiedenen Teilgeschichten angenommen wer-
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Der Begriff ist im Umfang des wissenssoziologischen Wissensbegriffs gemeint. Vgl. vom Vf.: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 31993, S. 263–331. Speziell zur GZ siehe Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen (1984), in diesem Band S. 173–193.
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den, wie dies im Zeichen des ›Epochengeistes‹ die ›geistesgeschichtliche‹ oder im Zeichen der ›sozioökonomischen Verhältnisse‹ die ›marxistische‹ Literaturwissenschaft getan haben. Beim Stande unseres Wissens können sich Teilgeschichten zueinander verhalten, wie die Einzelphänomene in den Schemata 1 und 2. Jede voreilige Synchronisierung der Teilgeschichten ist zu vermeiden, auch die der literarischen; nichts garantiert, daß Einschnitte in der Geschichte der ›Lyrik‹, des ›Dramas‹, der ›Erzählliteratur‹, usw. notwendig zusammenfallen. Solche Großgattungen sind heuristisch vielleicht auch die geeigneten historischen Größen, um von ihnen ausgehend – zunächst gattungsrelative – Epochen zu finden. Nicht gattungsrelative, gesamtliterarische oder gar gesamtkulturelle Epochen können sich allenfalls später als Produkt sukzessiv-systematischer Rekonstruktion ergeben, so sehr sie auch, zumindest in unseren Denktraditionen, als wünschenswertes Ergebnis erscheinen. Nur die vorläufig Teilgeschichten isolierende und unterscheidende Untersuchung erlaubt es z.B. auch, etwa zu zeigen, wie z.B. eine Teilstruktur der GZ-Erzählliteratur mit den zeitgenössischen juristischen Annahmen übereinstimmt, die andere von medizinischen Annahmen abweicht, und so die funktionale Rolle dieser Literatur in einem epochalen Denksystem zu identifizieren. Der Begriff der ›Literatur‹, als des Phänomens, dessen Geschichte zu schreiben ist, ist freilich selbst Problem. Nur weil etwa ein Theologe oder Philosoph oder Wissenschaftler einen ›guten Stil‹ schreibt, gehört er noch nicht in die Literaturgeschichte: denn eine Geschichte ›sprachlicher Meisterleistungen‹ ist nicht schon eine Geschichte der ›Literatur‹. Ein mäßiger Autor zu sein, schließt einen Literaten umgekehrt nicht aus der Literaturgeschichte aus, will diese wirklich Geschichte der ›Literatur‹ und nicht bloß Geschichte, oder besser additive Summe, zeitlich geordneter ›literarischer Meisterwerke‹ sein. Objekt der ›Literatur‹Geschichte kann also nur die ›Literatur‹ sein, und diese muß es in ihrer Gesamtheit sein, d.h. ohne eine vorgängige Wertung, die von vornherein den größeren Teil der ›Literatur‹ einer Zeit wegschneidet. Die Basis einer Epochenklassifikation bzw. -beschreibung ist also im Prinzip die Gesamtmenge der literarischem Texte des Zeitraums, von der höchstbewerteten bis zur trivialsten. Bis zum Erweis des – vielleicht epochenspezifischen/-typischen Gegenteils – bilden diese Wertungsunterschiede ein Kontinuum: sie zerlegen nicht die ›Literatur‹ in zwei Klassen, eine ›hohe‹ und eine ›triviale‹, die auch strukturell kategorial verschieden wären. Die Erzähltexte der GZ z.B., die heutige Literaturgeschichten gern als ›Trivialliteratur‹ in eigene Kapitel verweisen und absondern,19 sind von den anderen Erzähltexten der Zeit nicht nur nachweisbar strukturell nicht fundamental verschieden, sondern zudem für deren Geschichte, die keine autonome ist, unentbehrlich, und sie haben historische Leistungen erbracht, von denen die ›hohe Literatur‹ der GZ unverkennbar profitiert hat: sie haben nicht nur neue
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So in Rowohlt Bde. IV–VIII, unter je verschiedenen Titeln. Für die Bde. VII und VIII mag sich die Berechtigung des Verfahrens diskutieren lassen, für die Bde. IV–VI in dieser Form sicher nicht.
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Erzählmodelle, sondern auch neue, hinfort verfügbare Sprachformen geschaffen, um literarisch neue Emotionen und psychische Zustände – Erfahrungen der Angst, des Unheimlichen, usw. – auszudrücken; sie behandeln dieselben anthropologischen Probleme, die auch diejenigen der ›hohen Literatur‹ der GZ sind. Komplizierter verhält es sich mit der Abgrenzung zwischen ›literarischen‹ und nicht-›literarischen‹ Texten. Denn einerseits kommt die Literaturgeschichte nicht ohne nicht-literarische Texte aus; auch wenn sie nicht deren Geschichte schreiben will und muß, d.h. nicht an ihnen als Texten interessiert ist, bedarf sie ihrer als Quellenmaterial. Nicht nur entstammen die meisten Informationen über andere Teilgeschichten aus sprachlichen Texten, sie sind vor allem unentbehrlich für die Rekonstruktion des kulturellen Wissens einer Zeit, das seinerseits für die Interpretation der literarischen Texte benötigt wird. Andererseits sind die Grenzen ›Literatur‹/›Nicht-Literatur‹ epochenspezifisch oder -typisch. Für die Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts, wo die Texte, die wir als ›literarisch‹ empfinden, von vornherein, zumindest in bestimmten Gattungen, didaktisch-polemisch funktionalisiert denselben theologisch-politischen Absichten dienen, wie die Texte, die wir als ›nicht-literarisch‹ empfinden, müssen auch Texttypen der ›Erbauungs-‹ oder ›Kampfliteratur‹ einbezogen werden, die für die GZ, mit ihrem anti-didaktischen und anti-funktionalen Konzept von der ›Autonomie der Literatur‹ zurecht anderen, nicht literaturgeschichtlichen Untersuchungen überlassen werden können. Wenn nun jede Epochenuntersuchung zu Ti auf der Gesamtmenge der Texte der behandelten Gattung(en) aus Ti zu basieren hat, dann folgt daraus also: a) Keine Klassifikation, die nur auf einer Teilmenge der Texte aus Ti basiert (ob sie nun die anderen nur vernachlässigt oder gar ausschließt), kann eine ›Epoche‹ darstellen. b) Zwei ›Epochen‹ können sich nicht überschneiden. Machen wir beispielshalber die Anwendung auf die GZ. Keiner der zur Benennung von GZ-Phänomenen üblichen Begriffe – ›Sturm und Drang‹, ›Empfindsamkeit‹, ›(Spät-)Aufklärung‹, ›Klassik‹, ›Romantik‹ – kann ein Epochenbegriff sein. Keiner dieser Begriffe umfaßt die Gesamtmenge der literarischen Texte auch nur eines Teilzeitraumes der GZ: im Extremfall der ›Klassik‹ wird gar nur ein Teil des Werkes nur zweier Autoren benannt. Jeder dieser Begriffe überschneidet sich zeitlich mit mindestens einem der anderen. Es ist inzwischen allgemein bewußt, daß etwa die ›Aufklärung‹ – zumindest als denkgeschichtliches, wo nicht auch als literarhistorisches Phänomen – nicht um 1770/75 endet, sondern sich bis etwa 1800 erstreckt:20 ihr sind somit sowohl ›Sturm und Drang‹ als auch ›Empfindsamkeit‹ als auch ›Klassik‹ als auch ›Romantik‹ gänzlich oder teilweise gleichzeitig; noch die Anfänge des (philosophischen) Idealismus und der (literarischen) Romantik
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So etwa Kaiser 1976 (Anm. 2), S. 12; Žmegaþ 1979ff. (Anm. 2) Bd. 1/1, S. XXXI; Bahner 1976 (Anm. 3), S. 158; Krauss in Bahner 1976, S. 176. Die beiden DDR-Autoren postulieren natürlich einen fundamentalen Einschnitt durch die französische Revolution – so auch Grimminger in Hanser Bd. III, S. 71; dagegen Kaiser 1976.
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sind zudem von aufklärerischen Denkpositionen unübersehbar gekennzeichnet. Selbst die Gesamtheit dieser Benennungen umfaßt die Literatur der GZ nicht erschöpfend: bekanntlich können z.B. Jean Paul, Hölderlin, Kleist keiner von ihnen ohne weiteres subsumiert werden. All diese Begriffe benennen also allenfalls mehr oder weniger präzise abgrenzbare ›Tendenzen‹/›Richtungen‹21 innerhalb einer Epoche, nicht aber eine Epoche selbst. Eine solche Epoche wäre hingegen m.E. die GZ selbst, also der Zeitraum von etwa 1770 bis etwa 1830, zumindest bezüglich der Erzählliteratur. Alle diese ›Richtungen‹ wären demnach nichts als zeitlich und personal begrenzte Varianten in diesem epochalen Literatursystem (worin ich mich, von anderen Prämissen her, mit einem ›Geistesgeschichtler‹ wie Korff22 träfe); die eventuelle Unterteilung der GZ in zwei Teilphasen diskutiere ich hier nicht. Wenn nun die Basis einer Epochenklassifikation/-beschreibung im Prinzip die Gesamtmenge aller Texte des Zeitraums ist, die ich mit einem der Statistik entlehnten Terminus die Grundgesamtheit (N) nennen will, dann ist die Konstitution eines Textkorpus (K), das als Untersuchungsbasis fungiert, in der Regel ein Problem. Denn dieses Korpus muß repräsentativ (rK) sein, um eine adäquate Erfassung aller für die Zeit relevanten Phänomene zu garantieren. Der einfachste Fall eines repräsentativen Korpus rK ist natürlich das Korpus, das alle Texte aus N umfaßt. Solche Vollständigkeit ist selbstverständlich anzustreben, wo sie möglich ist, d.h. überall, wo die Textmenge N nicht allzu groß ist; bei einer Untersuchung etwa über das Drama der ›Klassik‹ oder ›Romantik‹ kann sie verlangt werden,23 hingegen nicht, wo es z.B. um alle Texte oder auch nur um die Erzählliteratur der GZ geht. In diesem Falle haben wir also eine Auswahl aus N zu treffen. Dieses Problem ist nicht für die Untersuchung von Epochen spezifisch, sondern tritt überall dort auf, wo der Untersuchungsgegenstand selbst eine Textmenge großen Umfangs darstellt (= a) oder voraussetzt (= b): a) Im ersten Falle ist der Untersuchungsgegenstand zunächst als eine Textmenge festgelegt, z.B. also als die Gesamtmenge der Texte einer Gattung in einem Zeitraum oder aller Texte dieses Zeitraums überhaupt, die dann unter dem Aspekt einer beliebigen Menge von Fragestellungen Fi untersucht wird: hier handelt es sich also darum, aus der gegebenen Menge N der tradierten Texte ein Korpus zu erstellen. b) Im zweiten Falle ist der Untersuchungsgegenstand zunächst als eine Fragestellung Fi festgelegt, zu der dann die Gesamtmenge N der Texte, die über-
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Ich übernehme den Begriff von Guillén 1968 (Anm. 3), der von »currents« spricht. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. 5 Bde. Leipzig 1923ff. Erstaunen darf es dann schon, wenn Glaser in Rowohlt Bd V, S. 276–312, unter dem Titel »Klassisches und romantisches Drama« natürlich als Repräsentanten der ›Klassik‹ Goethe und Schiller, darüber hinaus nur noch Kleist behandelt – repräsentiert somit Kleist das Drama der ›Romantik‹? Und wo sind die Dramen Brentanos, Arnims, Hecks, von mir aus auch Schlegels hingekommen? Wo ist Zacharias Werner?
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haupt Material zu Fi bieten, erst gesucht werden muß, bevor aus ihr ein Korpus erstellt werden kann. Im ersten Falle können im Prinzip die Elemente von N (fast) exhaustiv aufgezählt werden: wir können z.B. bei einer Untersuchung zu den Erzähltexten der GZ theoretisch aufgrund der existenten bibliographischen Hilfsmittel zunächst alle Erzähltexte der Zeit auflisten, um dann aus ihnen ein repräsentatives Korpus zu bilden. Das einfachste der bekannten statistisch-sozialwissenschaftlichen Verfahren24 zur Erstellung repräsentativer Stichproben wäre die Zufallsauswahl aus N, bei der alle Elemente von N dieselbe Chance haben, für K ausgewählt zu werden. Wir würden also festlegen, wie groß unser rK sein soll und dann z.B. jeden x-ten Text aus N auswählen. Nur ein solches im statistischen Sinne repräsentatives Korpus bietet die Gewähr, daß alle Tendenzen und Strukturen der Zeit tatsächlich adäquat in rK vertreten sind. Im zweiten Falle hingegen ist ein solches Verfahren praktisch unmöglich, sobald die in Frage kommende Textmenge, in der sich N als Teilmenge befinden muß, einen bestimmten Umfang überschreitet. Wenn wir etwa die ›inzestuösen Situationen‹ in der ›Romantik‹ als Fragestellung Fi behandeln wollen, müßten wir zunächst alle Texte der ›Romantik‹ aufarbeiten, um N, d.h. die Teilmenge der ›romantischen‹ Texte, in denen zugleich inzestuöse Situationen auftreten, ausfindig zu machen. Was im Prinzip für die ›Romantik‹ noch möglich wäre, ist es aber offenkundig nicht mehr, sobald wir dieselbe Frage Fi für die ganze GZ oder auch nur für deren gesamte Erzählliteratur untersuchen wollen. Wir können dann zwar sicher eine Menge von Texten ausfindig machen und als Korpus benutzen, aber wir können nie wissen, wie sich K quantitativ und qualitativ zu N verhält und ob K für N repräsentativ ist oder nicht. Ich gehe auf diesen Typ b) nicht weiter ein, da nur a) für Epochenuntersuchungen relevant ist. Nehmen wir also an, wir wollten als Fi die von GZ-Erzähltexten implizierte Anthropologie untersuchen. Um N feststellen und K auswählen zu können, müssen wir zunächst die Zeitgrenzen der GZ genau festlegen, womit wir in Kollision mit dem geraten, was ich die nur approximative Datierbarkeit genannt habe. Legen wir z.B. die Daten 1770 und 1830 fest, schließen wir damit auf der einen Seite immerhin Wielands Agathon in der Erstfassung, auf der anderen Seite immerhin Goethes Faust II aus. Ein zweites Problem, das aus der Chancengleichheit aller Texte bei einer Zufallsauswahl resultiert, ist ebenso evident: die Chancen höchstbewerteter Texte und Autoren sind nicht höher als die der unbedeutendsten; die höchstbewerteten Texte werden also allenfalls partiell in rK gelangen, und Einzeltexte von besonderer Relevanz wie etwa Wilhelm Meister, immerhin Modell eines ganzen Texttyps, möglicherweise gar nicht. Diesem und ähnlichen Problemen kann aber leicht durch die Bildung von Zusatzkorpora (zK) abgeholfen werden: wir können ein Zusatzkorpus bilden, um z.B.
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Vgl. hier und im folgenden Jürgen Friedrichs: Methoden empirischer Sozialforschung (Rowohlt Studium 28). Reinbek 1973, Kap. 3.4.
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a)
alle hochbewerteten Autoren und Texte vollständig einzubeziehen, soweit sie in Ti fallen und in rK nicht schon berücksichtigt sind; b) Texte einzubeziehen, die vor oder nach Ti liegen (z.B. Agathon, Faust II), uns aber zu dem System von Fi zu gehören scheinen, so z.B. eventuell auch die Werke von über Ti hinaus publizierenden Autoren (in der GZ z.B. Arnim, Brentano, Fouqué, Eichendorff, Tieck usw.), wenn uns z.B. die Frage interessiert, ob sich mit dem Ende von Ti auch die Werkstrukturen solcher Autoren verändern, oder ob sie den Epochenwechsel nicht mit vollziehen und die alten Strukturen fortsetzen; c) Texte einzubeziehen, die in rK (oder auch einem zK) nicht enthalten sind oder nicht enthalten sein können, aber in Texten aus rK bzw. zK angespielt/zitiert/vorausgesetzt oder in sonstiger Weise für Ti relevant werden. Dazu können sowohl literarische als auch theoretische, sowohl deutsche als auch fremdsprachige, sowohl aus der Zeit Ti als auch aus früheren Phasen stammende Texte gehören (auch hier könnte natürlich Wielands Erstfassung des Agathon ihren Platz finden). Ein zK dieser Art wird erst nach dem rK und nach den zK vom Typ a) bzw. b) konstituiert werden können, da es deren (partielle) Auswertung voraussetzt; d) nicht-literarische Texte einzubeziehen, soweit wir sie etwa als Materialbasis, z.B. für die Rekonstruktion kulturellen Wissens, brauchen. Ein solches zK kann nicht nur deutsche, sondern auch fremdsprachige, nicht nur aus Ti, sondern auch aus früheren Phasen stammende Texte umfassen, da die intellektuelle Synchronie der Epoche,25 d.h. die Menge der als relevant geltenden, noch diskutierten Texte, weder zeitlich noch räumlich mit Ti identisch sein muß. Ein solches zK kann, soweit es sich um die Texte aus Ti handelt, seinerseits als rK konstituiert werden (rzK). Selbstverständlich haben rK und zK1, ... zKn bei der Auswertung getrennt behandelt zu werden, was selbst im Fall der Typen a) und b) gilt, wenn die Repräsentativität von rK nicht wieder zunichte gemacht werden soll. Doch treten bei der Konstitution eines K oder rK noch weitere Probleme auf, die ich am eigenen Beispiel erläutere. Mein Korpus zur Untersuchung der Anthropologie von GZ-Erzähltexten umfaßt 718 Texte (Stand: Frühjahr 1981), davon 487 literarische (= 68 %) und 231 theoretische Texte (= 32 %), wobei die letzteren als Basis der Rekonstruktion des kulturellen Wissens über verschiedenste Realitätsbereiche dienen sollen. Der Umfang von K wäre als solcher zwar sicherlich ausreichend, dennoch ist K nicht im statistischen Sinne repräsentativ, da
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Zum Begriff vgl. Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit, im vorliegenden Band, S. 173–193.
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es einerseits praktisch alle hochbewerteten Erzähltexte umfaßt, und selbst die anderen Texte in K nicht auf dem Wege einer Zufallsstichprobe selegiert wurden. Dieses K kommt also zwar einem rK für die GZ-Erzählliteratur sicher näher als sonst üblich, aber Aussagen über K können eben dennoch nicht auf N generalisiert werden. Doch geht es hier um etwas anderes. Theoretisch-rechnerisch nämlich entfallen von K auf jedes Jahr der GZ ca. zwölf – acht literarische und vier theoretische – Texte; faktisch freilich stellt sich die chronologische Distribution anders dar:
Schema 4
Um der Übersichtlichkeit willen fasse ich die Kurve so zusammen, daß sie die Durchschnitte für Jahrfünfte darstellt:
Theoretische Voraussetzungen
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Schema 5
Z.B. für die Zeit 1771–1775 umfaßt das Korpus also pro Jahr durchschnittlich fünf Texte, insgesamt somit 25; für 1795–1800 pro Jahr über 25, insgesamt also über 125 Texte. Solche ungleiche Verteilung pro Zeiteinheit entsteht nun aber nicht nur bei nicht-repräsentativen Korpora, sondern ist – in historisch variablem Ausmaß – auch für ein rK zu erwarten. Denn bei einer Zufallsauswahl erhalten wir für rK zwar für jede Zeiteinheit ti annähernd denselben, vorher festgelegten Prozentsatz der Texte aus N in ti. Aber N selbst kann auf die Zeiteinheiten von Ti sehr ungleich verteilt sein. So steigt z.B. in der ersten Hälfte der GZ die Literaturproduktion tatsächlich erheblich an;26 noch erstaunlicher ist vielleicht der Anstieg der Menge deutschsprachiger Publikationen in den ersten Jahren der Reformation.27 Auch ein rK wird also in Abhängigkeit von der Verteilung von N innerhalb des Zeitraums eine mehr oder minder ungleichmäßige Verteilung auf die Zeiteinheiten aufweisen. Ich nehme beispielshalber an, sie sähe so wie die meines K aus, und erörtere an diesem die Probleme, die zwar nicht nur eine solche Verteilung aufwirft, die aber
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27
Dazu Peter Schmidt in Rowohlt Bd. V, S. 78; Wolfgang von Ungern-Sternberg: Hanser Bd. III, S. 134; auch: Helmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977, S. 181. Vgl. Newald u.a. In: Newald et.al. 1962 (Anm. 8).
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bei einer gleichmäßigeren Verteilung einfacher zu lösen wären: stark ungleiche Verteilung macht die Probleme jedenfalls besonders deutlich. Sie liegen darin, daß sich die Unterschiede der temporalen Distribution bemerkbar machen, sobald wir in Ti Teilphasen Tli, ..., Tni unterscheiden und, außer Ti insgesamt, auch jede Teilphase Tii gesondert untersuchen wollen oder müssen, um interne Strukturierungen und Transformationen der Epoche adäquat beschreiben zu können. Wenn ich z.B. in der GZ zwei Teilphasen, sagen wir: 1770–1780 und 1790–1800, jeweils gesondert untersuchen wollte, dann hätte ich nach Schema 5 für die erste ca. 33 Texte, für die zweite ca. 163 in K zur Verfügung. Wir stellen uns nun z.B. die Frage Fi, ob ein beliebiges Phänomen X in den Texten dieser beiden Teilkorpora vorkommt und wie häufig es vorkommt. Wenn wir annehmen, daß X beide Male in jeweils 10% der Texte vorhanden ist, dann tritt es in der ersten Phase in ca. drei Texten, in der zweiten in ca. 16 Texten auf. Bis dahin entsteht kein Problem: wenn wir nun aber an Fi weitere Teilfragen Fil, ..., Fin anschließen wollen, uns also z.B. dafür interessieren, welche Varianten von X jeweils vorkommen, oder gar diese Varianten ihrerseits durch Fragen fil, ..., fin untersuchen wollen, dann ist die Menge der Fälle von X für die erstgenannte Phase schon auf der Frageebene Fii, für die zweite sicher auf der Frageebene fii zu klein, um noch sinnvoll-repräsentative, nicht-zufällige Ergebnisse für die Teilphase zu erhalten. Das Problem kann natürlich bei einem rK dadurch gelöst werden, daß wir einen höheren Prozentsatz der Texte aus N auswählen, und somit auch für jede Teilphase Tii mehr Texte erhalten, in denen X auftritt. Damit die Repräsentativität von rK nicht gefährdet wird, müssen wir den Umfang rK dann aber für den Gesamtzeitraum erhöhen, womit dieser Umfang leicht ein nicht mehr bewältigbares Ausmaß erlangt und wir zudem gezwungen sind, auch dort weitere Texte einzubeziehen, wo wir ihrer gar nicht bedürfen. Die praktikabelste Lösung ist auch hier ein zK für Tii, entweder ein selbst repräsentatives Zusatzkorpus (rzK), in dem sich dann auch weitere Fälle von X finden werden, oder ein nicht-repräsentatives zK, das gezielt nur Texte mit X selegiert. Ein rzK dürfte dann bei allen Aussagen zu Tii, und nur zu diesem Zeitraum, ein gezieltes zK nur bei Aussagen zu X in Tii einbezogen und mit dem Teilkorpus von rK für Tii zusammen ausgewertet werden. Ein ähnliches Problem tritt auf, wenn in Ti ein Phänomen Y überhaupt zu selten auftritt, als daß die Belege in rK ausreichen würden, Y näher zu untersuchen, wir aber Grund zu dieser Untersuchung haben: auch hier könnte gezielt ein zK mit Belegen für Y zur Untersuchung von Y, und nur von Y, herangezogen werden. Der erforderliche Umfang von rK hängt jedenfalls ab von a) dem Umfang von N; b) dem angestrebten Genauigkeits- und Verläßlichkeitsgrad der Untersuchung; c) der Anzahl der Teilkorpora, in die rK zerlegt werden soll, indem etwa, außer dem Gesamtkorpus, Teilphasen, einzelne strukturelle Typen (z.B. ›Bildungsroman‹), einzelne Richtungen (z.B. ›Romantik‹), usw. ebenfalls untersucht werden sollen; d) der Menge an Antwortmöglichkeiten, die eine beliebige Frage Fi an das (Teil-)Korpus zuläßt: denn je mehr Antwortmöglichkeiten es gibt, desto
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Theoretische Voraussetzungen
kleiner werden die Teilmengen, in die Fi K zerlegt, und sie können dann selbst gegebenenfalls nicht mehr weiter untersucht werden, ohne nichtrepräsentative Ergebnisse zu erhalten; e) dem Grad an Untergliederung des gewählten Fragestellungssystems: wenn wir die Ergebnisse von Fragen F1, ..., Fn nicht weiter untersuchen, reicht ein geringerer Umfang aus, als wenn wir das Ergebnis einer Frage Fi seinerseits wiederum durch Fragen Fil, ..., Fin und das Ergebnis für jede Frage für Fii wiederum durch weitere Fragen fil, ..., fin untersuchen wollen, da jeder dieser Schritte rK in zunehmend immer kleinere Teilmengen zerlegt. Selbst ein Korpus solchen Umfangs wie das meine kommt bei einiger Differenziertheit der Untersuchungsziele schnell an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, wie mein Beispiel des Schemas 6 zeigen wird. Es ist freilich wohl kaum zu erwarten, daß alle literaturwissenschaftlichen Untersuchungen größerer Textmengen demnächst ganz selbstverständlich mit einem rK arbeiten werden: aber auch wer glaubt, praktische oder sonstige Gründe zu haben, mit einem nicht-repräsentativen K auskommen zu können, sollte sich zumindest der Problematik seiner Entscheidung und der von ihm in Kauf genommenen begrenzten Verbindlichkeit seiner Ergebnisse bewußt sein und wissen, daß im Prinzip die Konstitution eines rK möglich und die mit einem rK gegebenenfalls verbundenen Probleme lösbar wären. Soweit irgend möglich, sollte nun ein Textkorpus auch quantitativ ausgewertet werden. Bei literaturgeschichtlicher Arbeit auch zu zählen, mag einerseits auf ideologische Vorbehalte stoßen, andererseits als kaum möglich gelten. Aber, wie wir schon gesehen haben, quantitative Aspekte spielen ohnedies mindestens implizit in jeder Literaturgeschichtsschreibung eine Rolle, und jede Aussage des Typs, diese oder jene Menge literarischer Texte der Zeit Ti sei besonders durch Phänomene der Art X gekennzeichnet oder unterscheide sich von der Literatur der Zeit Tj durch solche Phänomene, stellt offenbar eine Behauptung quantitativer Natur dar. Dann aber spricht wohl nichts dagegen, ungefähre Eindrücke über quantitative Verteilungen durch genauere Angaben zu ersetzen. Natürlich liegt auf der Hand, daß gezählt nur werden kann, wenn eindeutig entscheidbar ist, ob ein Phänomen vorliegt oder nicht, wobei ein kleiner Prozentsatz unentscheidbarer Fälle nicht einmal sonderlich hindernd wäre. Alle Aussagen über Literatur, die hinreichend präzisiert werden können, erlauben also, wie viele praktische Probleme im Einzelfalle auch auftreten mögen, im Prinzip quantitative Angaben. Selbst Aussagen des Typs, dieser oder jener Menge literarischer Texte der Zeit Ti gehe es um ›Humanität‹ oder um eine gerechte ›Gesellschaftsordnung‹ oder um das ›Seelenheil des Menschen‹, d.h. um sehr allgemeine und verschieden interpretierbare Werte, fallen grundsätzlich in den Bereich abzählbarer Phänomene: denn entweder sind sie praktisch wertlose Pseudoinformationen, weil ihre Interpretation der Phantasie des Lesers überlassen bleibt, oder aber sie sind mit einer expliziten oder impliziten Angabe verbunden, welche nachweisbaren Textphänomene als Indikatoren Il ..., In für das Vorliegen dieser Werte gelten sollen: etwa Aussagen der Art X oder Handlungen der Art Y; dann aber kann wiederum gezählt werden. Aussagen quantitati-
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ver Natur sind jedenfalls nicht auf den textexternen Bereich beschränkt, in dem sie bislang schon üblich waren, also etwa in der Forschung zu Buchproduktion, Verlagswesen und Publikumsverhalten. Statistisch repräsentative Korpora erlauben bekanntlich die Generalisierung quantitativer Ergebnisse auf die Grundgesamtheit, wobei die maximal mögliche Fehlerquote (± x %) angegeben werden kann; bei nicht-repräsentativen Korpora gelten hingegen die Ergebnisse, ohne Generalisierbarkeit, nur für genau diese Korpora. Dennoch scheinen sie auch hier nützlich: einmal, insofern sie dem korpusinternen Vergleich von Phänomenen und ihren Beziehungen dienen; zum anderen, insofern sie für die Grundgesamtheit einen hypothetischen Wert haben und weitere Untersuchungen anregen können – sie sind mehr oder weniger gute Annäherungen an die faktischen Verteilungen in N, ohne daß aber die mögliche Fehlerquote, d.h. die eventuelle Abweichung von der Verteilung in N, angegeben werden kann. Es ist somit nicht entscheidbar, ob und inwieweit die Ergebnisse für K auch für N repräsentativ sind. In allen Fällen sind aber natürlich eigentliches Korpus K und eventuelle Zusatzkorpora zK1, ..., zKn gesondert auszuwerten. Solche quantitativen Aussagen über ein Phänomen X sind nun in mehrfacher Hinsicht möglich und sinnvoll, sofern der Umfang des Korpus den jeweiligen Grad an untergliedernder Spezifizierung zuläßt. Sie sind möglich und sinnvoll: a) hinsichtlich der Häufigkeit von X im Gesamtkorpus, d.h. als Aussage über den Gesamtzeitraum Ti (also z.B. die GZ); b) bezüglich der Häufigkeit von X in Teilkorpora, d.h. (1) bezogen auf die Gesamtheit der Texte einer Autorengruppe/einer Richtung/eines Texttyps innerhalb von K (also z.B. die ›Bildungsromane‹ der GZ); (2) bezogen auf Teilzeiträume Ti (also z.B. 1770–1800 innerhalb der GZ); (3) bezogen auf Kombinationen aus (1) und (2) (also z.B. die Romane der ›Romantiker‹ nach 1800). Nun kann es aber nicht ausreichen, einfach c) die absolute Häufigkeit von X in K anzugeben. Denn einerseits kommt der Fall vor, daß X zwar häufig belegt ist, alle diese Belege aber auf nur wenige Texte konzentriert sind, in denen X jeweils mehrfach auftritt. Andererseits mag X zwar häufig – und auch in vielen Texten – belegt sein, aber diese Texte stammen von nur sehr wenigen der Autoren, die in diesem (Teil-)Zeitraum publiziert haben. Der Prozentsatz der Texte und der der Autoren, bei denen X auftritt, können also sehr erheblich divergieren. Und schließlich muß der Befund sowohl in absoluten Zahlen als auch in Prozentsätzen ausgedrückt werden, weil absolute Zahlen allein nichts über die relative Häufigkeit aussagen, Prozentsätze allein aber wiederum beliebig verschiedene Quantitäten abdecken können. Somit muß c) ergänzt werden durch die Angabe d) (1) der Zahl von Texten aus dem (Teil-)Korpus, in denen X (einmal oder mehrfach) auftritt, und (2) den Prozentsatz, den diese Texte im (Teil-)Korpus ausmachen,
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e)
(1) (2)
die Zahl der Autoren, in deren Texten überhaupt X auftritt, und den Prozentsatz, den diese Autoren von der jeweiligen Gesamtmenge der Autoren des (Teil-)Korpus ausmachen. Zur Demonstration gebe ich ein eigenes Beispiel (Typ: b 2 + d 1 bzw. d 2): Im Vergleich etwa mit dem ›Realismus‹ treten in der Erzählliteratur der GZ zwei Phänomene bemerkenswert häufig auf, die ich, ohne sie hier zu präzisieren, ›Höhlenräume‹ (= unterirdische Handlungsorte) und ›inzestuöse Situationen‹ nenne; nach Jahrzehnten zusammengefaßt, stellt sich ihre Verteilung auf die Teilzeiträume so dar:
Schema 6.1
Probleme des Epochenbegriffs
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Schema 6.2
Einerseits zeigen sowohl die absolute wie die relative Verteilung des jeweiligen Phänomens einen ähnlichen Verlauf: im Korpus finden innerhalb des Gesamtzeitraums offenbar Veränderungen statt, die zu interpretieren und nach Möglichkeit mit anderen Phänomenen zu korrelieren wären. Eine solche mögliche Korrelation zeigen schon die beiden Abbildungen selbst: zwischen den zeitlichen Verteilungen beider Phänomene könnten Beziehungen existieren, da ihre jeweiligen Kurven offenbar ähnlich verlaufen. Ob solche Beziehungen existieren, läßt sich einerseits quantitativ mit den Mitteln der Statistik prüfen, worauf ich hier wiederum nicht eingehe; es läßt sich andererseits mit qualitativen Mitteln untersuchen. Wir könnten zum einen auf der inhaltlichen Ebene der Handlungsverläufe fragen, ob und in welchem Ausmaß beide Phänomene in den selben Texten auftreten und in welcher Weise sie in diesem Falle im Text koexistieren, d.h. ob sie dann also etwa unabhängig voneinander in verschiedenen Handlungssegmenten auftreten oder ob sie im selben Segment verknüpft werden, indem etwa die inzestuöse Situation auch in einem Höhlenraum stattfindet. Wir könnten zum anderen auf der semantischen Ebene fragen, ob die Implikationen und Merkmale, die die Texte diesen Phänomenen zuordnen, untereinander logisch verknüpft sind oder vom Text verknüpft werden; die Antworten für den Beispielfall würden freilich den Rahmen dieses Artikels sprengen. Beide Phänomene können natürlich zudem jeweils sehr verschieden organisiert sein (z.B.: der Inzest mag in einem Falle die Mutter, im anderen die Schwester, im dritten die Tochter betreffen), an verschiedenen Handlungsstellen auftreten, für verschiedene Figurentypen relevant werden, verschiedene Folgen haben, usw. Das
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jeweilige Teilkorpus der Texte mit Höhlenräumen bzw. inzestuösen Situationen kann also durch weitere Teilfragen untersucht werden: es könnte sich z.B. herausstellen, daß diese internen Strukturen des jeweiligen Phänomens sich in den verschiedenen Phasen der GZ ändern. In unserem Beispiel wird man diese Fragen freilich nur für den Gesamtzeitraum, nicht aber für Teilphasen behandeln können: für die meisten Teilphasen ist die absolute Anzahl der Belege offenkundig zu niedrig, um irgendwelche für das Korpus aussagekräftigen Verteilungen erhalten zu können, wenn man die Textmenge pro Zeitphase durch untergliedernde Fragestellungen erneut in Teilmengen zerlegen will. Jeder Epochenbegriff, das dürften diese Überlegungen nochmals verdeutlicht haben, ist also immer (wenn auch nicht ein beliebig-willkürliches, so doch) ein idealisierendes Konstrukt, das den historischen Gegenstand notwendig simplifiziert: tut man somit nicht besser daran, auf ihn zu verzichten? Einerseits aber ist eine nichtidealisierende Literaturgeschichtsschreibung wohl jedem undenkbar, der jemals versucht hat, eine mehr oder minder repräsentative Bestandsaufnahme der Literatur eines Zeitraums zu machen: der Verzicht auf idealisierende Konstrukte ist einem Verzicht auf Literaturgeschichtsschreibung äquivalent – es kann allenfalls darum gehen, diese Idealisierung nach methodologisch vertretbaren Regeln vorzunehmen, und hier ist in der Tat eine theoretische Lücke zu beklagen. Zum anderen aber sind Epochenbegriffe nicht nur für die Praxis literarhistorischer Darstellung unverzichtbare Ordnungsprinzipien: was sie implizieren, ist zudem auch ein theoretisch unerläßliches Konzept, das, wenn man sie eliminiert, unter anderem Namen unvermeidlich wiederkehrt. Es ist das heuristische Prinzip einer Suche nach einem – wie auch immer gearteten – systematischen Zusammenhang koexistenter Phänomene in einem gegebenen Zeitraum, der insofern als synchron gedacht wird. Diese systematische Ordnung in einer Synchronie mag eine nur partielle sein oder mehrere solche Ordnungen mögen koexistieren: die grundsätzliche Annahme relativer Systematizität für jede Zeiteinheit ist notwendige Prämisse der Annahme und Beschreibung eines literarhistorischen Wandels. Denn in der chronologischen Zeit gegeben ist nur eine Menge von sukzessiven Zeiteinheiten, in deren jeder simultan eine Menge von ›Ereignissen‹ – literarischen Texten – stattgefunden hat, und sowohl die Ereignisse, die simultan koexistieren, als auch die Ereignisse, die sukzessiv aufeinander folgen, unterscheiden sich: keines ist mit dem anderen identisch. Auf dieser Basis erhalten wir keine Literaturgeschichte, sondern nur eine Addition mehr oder weniger verschiedener, scheinbar voneinander unabhängiger, scheinbar nur zufällig zeitlich geordneter Texte: und wo in jedem Moment Heterogenes sowohl koexistiert als auch aufeinander folgt, da können wir weder sagen, daß ein Wandel stattfinde, noch, daß kein Wandel stattfinde. Die historische Zeit, in der es Wandel und Nicht-Wandel überhaupt erst gibt, entsteht immer erst in abstrahierend-systematisierender (Re-)Konstruktion. Um sagen zu können, in tj ändere sich etwas (nicht), bedarf es zumindest eines Ausgangszustands Z(ti) zu ti (i < j), dem sich das Phänomen von tj, wenn wir es mit ihm vergleichen, subsumieren läßt (oder nicht). Für jedes ti ist uns aber nicht ein Zustand Z(ti), sondern eine Menge von (relativ) synchronen Ereignissen gegeben: Z(ti) erhalten wir nur, wenn
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wir von diesen Ereignissen ihnen Gemeinsames abstrahieren, d.h. ein System ›hinter‹ den Ereignissen von ti herauszufinden versuchen. Daß Zeiteinheiten solche relative Systematizität legitim zugeschrieben werden kann, folgt aber schon daraus, daß nachweisbar in keiner Zeiteinheit ti eine beliebige Zufallsauswahl und Zufallsverteilung der – uns jeweils theoretisch bekannten – poetologischen Möglichkeiten von Texten, sondern jeweils nur eine und eine jeweils verschiedene Teilmenge dieser Möglichkeiten realisiert ist. In dieser Hinsicht besteht aber kein Unterschied zwischen Zustand und Veränderung. Wenn wir die Zeiteinheiten beliebig klein wählen, dann läßt sich jede Einheit tj gegenüber ti sowohl als Zustand als auch als Wandel beschreiben, und wir können auch nicht zwischen systemimmanenter Schwankung/Variation und systemtranszendierendem Wandel unterscheiden. Sobald – und erst dann, wenn – wir diese Zeiteinheiten ..., ti, tj , .. .untereinander vergleichen unter dem Aspekt des quantitativen und qualitativen Grades des Andersseins, erhalten wir größere Einheiten, innerhalb deren sich Zustand und Veränderung, Variation und Wandel unterscheiden lassen: damit aber haben wir nicht Zeitpunkte, sondern Zeitphasen, d.h. ein Äquivalent dessen, was man ›Epoche‹ nennt. Im besten Falle – im Falle erfolgreicher Periodisierung – rekonstruiert die Epochenbeschreibung also ein System, das den Texten von Ti zugrunde liegt bzw. von ihnen aufgebaut wird. In je mehr Aspekten der Textmenge aus Ti ihr dies gelingt, desto mehr ihrer Ergebnisse können zugleich als Kriterien der Epochenklassifikation dienen. Anders formuliert: die beste Epochenbeschreibung wäre die, deren Resultate zugleich auch am vollständigsten die Epochenklassifikation begründen. Wenngleich die Periodisierung/Epochenklassifikation als erster hypothetischer Schritt zur Epochenbeschreibung eher von einer literarischen Gattung als von der Literatur insgesamt, eher von der Literatur als von den nicht-literarischen Strukturen auszugehen hat, gehören selbstverständlich zum Objekt der Epochenbeschreibung nicht nur die textimmanenten Strukturen der literarischen Ereignisse (= Texte) bzw. das System, das sich von ihnen abstrahieren läßt, sondern auch die Poetiken/Literaturtheorien, die Literatur produzierenden oder vermittelnden Institutionen, die Gesamtmenge der Relationen der Literatur zu den nicht-literarischen – denk- oder sozialgeschichtlichen – Strukturen. Sie hat selbstverständlich nicht nur zu erfassen, was im jeweiligen ti dominant ist, sondern auch, was nichtdominant ist. Wie diese Rekonstruktion eines so umfassend-komplizierten Objektbereichs methodologisch geschehen kann, kann hier nicht erörtert werden (einige Andeutungen im folgenden); hingewiesen sei nur auf die noch kaum genutzten Anregungen, die jüngere Arbeiten zur Denk-, Wissens-, Wissenschaftsgeschichte bieten.28 Alle bisherigen Literaturgeschichten sind jedenfalls eher – narrative,
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So die Arbeiten – untereinander so verschiedener – Autoren wie Michel Foucault, Hans Blumenberg, Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn und Wolfgang Stegmüller.
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manchmal sogar spannende,29 oder deskriptive, manchmal ungemein materialreiche30 – ›Ereignisgeschichten‹: es gibt noch keine ›Strukturgeschichte‹ der Literatur, wie es sie in der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne gibt.31 Um eine Komplementarität, nicht um eine Substitution ginge es: die ›Ereignisgeschichte‹ ist als Typ unentbehrlich, wenn es auch nicht jedes ihrer Produkte ist. Der einfachste Typ eines epochalen Systems liegt zweifellos vor, wenn die Strukturen eines (Teil-)Systems S sich in jedem der Texte Tel ..., Ten manifestieren und S also das Gemeinsame aller Texte aus Ti ist:
Schema 7
Alle historische Erfahrung lehrt aber, daß wir statt und/oder neben diesem Typ der Relation von Tel ..., Ten und S, nach dem immer auch zu suchen wäre, mit einem anderen Typ rechnen müssen, wo in keinem der Texte aus Ti (auch nur annähernd) das ganze (Teil-)System S belegt ist, sondern wo jede Systemgröße (Element, Teilstruktur, Teilsystem) S´l ..., S´n von S sich jeweils nur in einer Teilmenge von Tel ..., Ten manifestiert:
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Z.B. Burger 1969 (Anm. 2). Z.B. Rupprich 1970; Sengle 1971ff. (beide Anm. 2). Dazu gehören nicht nur die sozialgeschichtlichen Arbeiten (wie z.B. die in Anm. 6 und 7 genannten Titel), sondern auch Epochengesamtdarstellungen strukturgeschichtlichen Typs; mehrere, wie mir scheint, gute Beispiele finden sich etwa in den Bänden der Fischer-Weltgeschichte, so etwa: Ruggiero Romano/Alberto Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation (Fischer-WG Bd. 12). Frankfurt a.M. 1967; Guy Palmade: Das bürgerliche Zeitalter (Fischer-WG Bd. 27). Frankfurt a.M. 1974; Richard van Dülmen: Die Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550– 1648 (Fischer-WG Bd. 24) Frankfurt a.M. 1982.
Probleme des Epochenbegriffs
63
Schema 8
Wenn und wo die Existenz eines solchen – sich nicht in jedem Einzeltext vollständig manifestierenden – Systems nachgewiesen werden kann, kann einerseits die Existenz strukturell heterogener Teilmengen in der Textgesamtmenge anerkannt werden, andererseits dennoch ein systematischer Zusammenhang gezeigt werden, ohne zugleich beliebig weit von den individuellen Textstrukturen abstrahieren zu müssen. Eine einfache Illustration bieten epochale Gattungssysteme der Literatur: ihre Systemgrößen, die zwar ein theoretischer Text vollständig resümieren kann, können per Definition in keinem literarischen Text vollständig realisiert sein, da er (meist) nur eine der Teilstrukturen dieses Systems, nämlich die Merkmale dieser oder jener Gattung, aufweisen kann. Derselbe Typ der Relation von Tel ..., Ten und S findet sich aber auch auf der Ebene komplexer semantischer oder ideologischer Strukturen der Epoche.32 Solche Typen der Te-S-Relation ergeben sich auch, wenn man epochale Regeln formuliert, d.h., wenn man so will, »spatiotemporale Gesetze«,33 die nur in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit gelten. Wenn wir z.B. die Regularitäten der von den GZ-Erzähltexten vorausgesetzen bzw. aufgebauten Anthropologie rekonstruieren, dann gibt es unter den Phänomenen
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Für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930 vgl. z.B. Marianne Wünsch: Das Modell der ›Wiedergeburt‹ zu ›neuem Leben‹ in erzählender Literatur 1890–1930. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hgg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß (Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag). Stuttgart 1983, S. 379–408; ähnlich komplexe Beispiele finden sich zahlreich auch in anderen Epochen, etwa in der GZ. Karl Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte. München 1976, S. 43ff. Ich habe in der Folge eine etwas von Eibl abweichende Formulierung gegeben, um die von ihm genannten Probleme zu vermeiden; in der hier angegebenen Form solcher Regeln würde die eigentliche Gesetzmäßigkeit, eine Regularitätsbehauptung in ›wenn-dann‹-Form, erst nach dem »daß« stehen. Die Frage, ob überhaupt ein Phänomen X auftritt bzw. unter welchen Bedingungen es auftritt, kann natürlich ihrerseits Gegenstand solcher Regularitätsbehauptungen werden, z.B. in der Form »X tritt (genau) dann auf, wenn Te ein Text des Typs Y ist« usw.
Theoretische Voraussetzungen
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dieser Anthropologie, die überhaupt erkennbare Regularitäten aufweisen, solche, die in allen Erzähltexten, und solche, die nur in manchen Erzähltexten auftreten, d.h. Fälle sowohl der Art des Schemas 7 als solche der Art des Schemas 8. So sind z.B. Voraussetzungen, Verlauf und Folgen inzestuöser Situationen nach festen Regeln organisiert; solche Situationen treten aber nur in manchen Texten auf, wenngleich sie ein Teilsystem (S´i) übergeordneter Strukturen (S) des Komplexes ›Familie + Erotik‹ bilden. Solche epochalen Regeln haben also die Form: »Für die Epoche Ti gilt: wenn (= falls) in einem Text Tei das Phänomen X auftritt, dann gilt für X, daß...« Heterogenität in Ti muß also nicht mit Nicht-Systematizität äquivalent sein. Wo aber findet dann der historische Wandel seinen Platz? Entweder wir setzen die Epochen als lückenlos aufeinanderfolgend an: dann muß auch der interepochale Wandel in diesen selbst untergebracht werden. Oder wir lassen zwischen den Epochen Zeiträume des Wandels frei: dann bleibt zumindest der intraepochale Wandel Bestandteil der Epochen selbst. Da zudem einerseits der Unterschied ›System‹/›Transformation‹ nur relativ und heuristisch ist, andererseits in eher durch ›Wandel‹ charakterisierten Phasen keineswegs eine beliebige Divergenz herrscht, würden solche ›Zwischenzeiträume‹ ohnedies wiederum nur ›Epochen‹ etwas anderer Struktur konstituieren. Das dritte Denkmodell der Überschneidung34 von Epochen ist per se indiskutabel: denn es setzt illegitimerweise ein Gesamtsystem (in dem möglicherweise ein struktureller Typ zeitweilig auch statistisch dominiert) mit einem strukturellen Typ (der, auch statistisch, dominant oder nichtdominant sein kann) gleich. Der inter- und der intraepochale Wandel stellen also dasselbe Problem, das innerhalb des Epochenbegriffs gelöst werden muß. Dieser Wandel kann zum einen durch die quantitative Auswertung des Korpus abgebildet werden, wobei, soweit sich im spezifischen Falle historisch wohldefinierte strukturelle Typen unterscheiden lassen, auch deren statistische Verteilung pro Zeiteinheit dargestellt und interpretiert – und damit die scheinbare Leistung des ›Überschneidungsmodells‹ integriert – werden kann. Wenn zum anderen in den Phasen, die eher – d.h. ›stärker‹ als die anderen – durch Wandel charakterisiert sind, dieser Wandel selbst zugleich einen Systemcharakter hat, dann muß zudem bei jedem Wandel etwas relativ invariant geblieben sein, was, als fundamentale Grundstruktur GS des Denk- und Literatursystems und als Rahmenbedingung des jeweiligen Wandels dessen Möglichkeiten begrenzt, wobei GS selbstverständlich beim Wandel von Ti-l, zu Ti und von Ti zu Ti+l, nicht dieselbe Konstante sein muß. Der jeweilige (Grad von) Wandel kann mit der Systematizität vereinbart werden, wenn Strukturen verschiedener Dauer und verschiedenen Niveaus unterschieden werden, wobei sich ›Transformation‹ und ›System‹ dann darin unterscheiden, daß eine Zeit stärkeren Wandels erstens durch einen höheren Grad quantitativer Umverteilung der relevanten Phänomene charakterisiert ist und zweitens erst auf der Ebene von – relativ zum jeweiligen System – fundamentaleren Strukturen eine relative Invari-
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Teesing (Anm. 4), S. 35f. hatte es explizit vorgeschlagen.
Probleme des Epochenbegriffs
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anz aufweist als eine Zeit stärkerer Konstanz. Nicht selten wird sich dabei der Wandel selbst als funktional für das (Denk- und Literatur-)System erweisen lassen, insofern er als Problemlösung fungiert (die freilich neue Probleme aufwerfen kann). Das Modell von Wandel als Problemlösung im System ist nach theoretischen und praktischen Vorgängern in der Denk- und Wissenschafts-geschichte35 auch in der Literaturgeschichtsschreibung schon vereinzelt theoretisch vorgeschlagen36 und praktisch erprobt worden.37 Es vereinbart optimal ›System‹ und ›Transformation‹; aber es bedarf noch der terminologischen Präzisierung und der Festlegung methodologischer Regeln, um zu vermeiden, daß willkürlich systeminterne Probleme für eine beliebige Phase Ti angenommen werden, um einen inter- oder intraepochalen Wandel beschreiben und interpretieren zu können. Auch ist der Umfang einer tatsächlichen Anwendbarkeit dieses Modells auf die Literaturgeschichte noch zu erproben: aber welches methodologische Problem der Literaturgeschichtsschreibung wäre schon abschließend, d.h. mit Konsens der Forschergemeinschaft, gelöst?
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So z. B das Modell des Wissenschaftswandels, das Kuhn vorgeschlagen und Stegmüller verbessert hat. Siehe dazu Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1967; Wolfgang Stegmüller: Theorienstrukturen und Theoriendynamik. Berlin, New York 1973. So z.B. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München 1973, S. 219; Eibl 1976 (Anm. 32), S. 93 ff. Aufzugreifen wären evtl. auch die diesbezüglichen Anregungen der sozialpsychologischen Dissonanztheorien – vgl. dazu Werner Herkner: Einführung in die Sozialpsychologie. Bern, Stuttgart, Wien 1975. So Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die systemimmanente Relation der Kategorien »Literatur« und »Realität«: Probleme und Lösungen. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975; theoretische Überlegungen dort insbesondere S. 181–190.
II DISKURSE DER AUFKLÄRUNG
Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde: Historischer Ort und Argumentationsstruktur
0.
Ein vergessenes Problem: der Okkultismus der Goethezeit
Jung-Stillings Geisterkunde ist weder nur ein historisches Kuriosum für Liebhaber des Abstrusen noch nur ein Dokument aus der offenbar unabschließbaren Geschichte des Irrationalismus. Beides ist sie auch. Hier aber interessiert sie als ein repräsentativer Text ihrer Epoche, der Goethezeit, worunter ich den Zeitraum von etwa 1770 bis 1830 verstanden wissen möchte. Als ›Okkultismus‹ fasse ich im folgenden alle die Theorien zusammen, die, wie es in der Sprache der Goethezeit heißt, die Existenz des ›Wunderbaren‹ behaupten und deren Anhänger von den ›aufgeklärten‹ Zeitgenossen als ›Schwärmer‹ bezeichnet werden. Mehr oder weniger ausgeprägt okkulte Theorien durchziehen aber die ganze Epoche. Ihre kulturelle Relevanz wird schon daran sichtbar, wie viele und wie bedeutende Autoren der Zeit sich mit ihnen, zustimmend oder ablehnend, auseinandergesetzt haben. Weder können sie, wie man wiederholt versucht hat, einer bestimmten Teilphase oder Richtung dieses Zeitraums, etwa der Romantik,1 zugeordnet werden, noch handelt es sich um den Aberglauben ungebildeter oder sozial niederer Schichten. Diesen Aberglauben gibt es zudem auch;2 seine Existenz wird von den Gebildeten, so etwa Jung-Stilling, bestätigt, und es scheint, daß die okkulten Systeme, neben Elementen verschiedenster Provenienz, auch solche aus dem ›Volksaberglauben‹ aufgenommen haben. Die Theorien, von denen hier die Rede sein soll, sind freilich
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An diesem Problem laboriert selbst der ansonsten bemerkenswerte Band von Henri Brunschwig: Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des Preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität. Frankfurt a. M. u. a. 1976. So auch Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785. München 1968. Einige Belege dafür etwa in Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur. Berlin 1969. Ein kurioses Beispiel dieser Glaubensebene bietet Eberhard Heinrich Fischer: Albertus Magnus, der Andere und Wahre; das ist: Geheimnisse der Natur und Kunst, auch der raresten Wunderwirkungen in Hunderten hoch nützlicher curioser, magischer, sympatischer etc. Vorschriften. Altona, Leipzig 1790.
Diskurse der Aufklärung
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solche von Gebildeten oder gar Gelehrten für Gebildete und Gelehrte: Sie sind nicht ein Randphänomen, das von Gruppen getragen würde, die von den intellektuellen Leistungen und Fortschritten dieser Kultur unberührt wären; sie treten auch mit deutlich wissenschaftlichem Anspruch auf, wie auch die diversen okkulten Betrüger, Magiergestalten wie Cagliostro oder Schrepfer, ihre Kunststücke mit Hilfe der Mittel der zeitgenössischen Wissenschaft inszenieren. Sie sind zweitens mehr oder weniger originelle Theorien, die weder, wie der Glaube an Besessenheit und Exorzismus, von etablierten Institutionen, hier der Kirche, noch, wie der ›Volksaberglaube‹, von den selbstverständlichen Traditionen sozialer Gruppen getragen werden. Selbst dann, wenn ihre Autoren, wie etwa Jung-Stilling oder Eckartshausen, sich auf das Christentum berufen und es zu verteidigen glauben, sind diese Theorien gegenüber den Annahmen ihrer jeweiligen Konfession mehr oder weniger deutlich heterodox. Nicht um ein kulturelles Randphänomen geht es also: Eher ließe sich sagen, daß sich das für die Goethezeit charakteristische Denken immer auf einer heiklen Grenze am Rande des Okkultismus bewegt. Die Interpretation dieses Okkultismus steht freilich noch aus, obwohl er weder in den Theoriebildungen der Zeit noch in der Literatur zu übersehen ist. Er darf auch nicht isoliert vom sonstigen Denken dieser Kultur beschrieben werden: Er scheint vielmehr eine komplexe Funktion des Denk- und Wissenssystems dieser Kultur und ist für dieses ebenso erhellend, wie es etwa ihre spezifischen Formen und Theorien des Wahnsinns sind.3 Denn der Okkultismus ist natürlich selbst ein historisches Phänomen: Seine Erscheinungsformen, sein jeweiliger kultureller Ort, seine Funktion für die sozialen Gruppen, die ihn tragen, seine Relevanz in der Gesamtgesellschaft sind in der Goethezeit zweifellos andere als im späteren 19. Jahrhundert oder in unserer unmittelbaren Gegenwart, wo er sich wieder einmal mit einiger Dreistigkeit manifestiert. Daß der Geist, der da spricht, bestenfalls der Geist der eigenen Kultur ist, wußte schon die Goethezeit selbst: Etwa Meister thematisiert, daß die ›Schwärmerei‹ immer die »Farbe des Zeitalters«4 annimmt. Was etwa die Geister dem eifrigen Spiritisten Kardec5 im späteren 19. Jahrhundert enthüllen, ist unübersehbar von den moralischen und wissenschaftlichen Annahmen einer zeitgenössischen Gruppe geprägt und unterscheidet sich dementsprechend von den goethezeitlichen Aufschlüssen über das Geisterreich. Daß der Geist zudem so dumm oder so klug ist wie der, dem er erscheint, bestätigen nicht nur Jung-Stillings Erzählungen, sondern, erschreck-
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Vgl. dazu Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M. 1973; Robert Castel: Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens. Frankfurt a. M. 1979; allenfalls zu erstem Überblick geeignet ist das mäßige Buch von Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a.M. 1975. Leonhard Meister: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung. Zwei Theile. Bern 1775, hier Bd. I, S. 56. Allan Kardec: Le Livre des esprits, contenant les principes de la doctrine spirite. Paris 1857.
Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde
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end genug, auch der jüngste bayerische Exorzismus, der traurigen Ruhm erlangt hat. Ich kann im folgenden nur einige Aspekte der Kontexte, in denen der goethezeitliche Okkultismus meines Erachtens interpretiert werden müßte, und einige der Denkkategorien, die ihn mit dem nicht-okkultistischen Denken der Epoche verknüpfen, skizzieren. Der wenige Raum, der mir zu Verfügung steht, erlaubt es auch nicht, die verschiedenen Formen des Okkultismus der Epoche (Geistertheorien und -beschwörungen, sonstige magische Praktiken, Magnetismus/Mesmerismus, Alchemie, Wunderheilpraktiken) genauer zu unterscheiden und in ihren Relationen untereinander und mit dem sonstigen Denken zu interpretieren. Notwendig wäre es freilich, wenngleich die Aufgeklärten der Zeit selbst die heterogenen Phänomene immer zusammenfassen und als Varianten der ›Schwärmerei‹ mehr oder weniger einheitlich abhandeln. Ebenso wäre zu berücksichtigen, daß die Formen des Okkultismus nicht im gesamten Zeitraum gleichmäßig belegt sind, sondern in der Zeit Schwerpunktverschiebungen eintreten, die nach Interpretation verlangen: So gehören etwa die großen Magiergestalten alle dem Anfang des Zeitraums an. Gänzlich beiseite lassen muß ich auch die Frage, ob und wie die verschiedenen Varianten mit sozialen Strukturen korreliert sind und welche Funktionen sie in ihnen erfüllen.6 Doch dürften für eine so komplexe Kultur wie die
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Sozialwissenschaftliches Interesse haben von dem okkultistischen Phänomen bislang vor allem die magischen Praktiken gefunden, die zumal in ethnologischen oder ethnologisch orientierten Arbeiten behandelt wurden. Die schon alte Arbeit von James George Frazer: The Golden Bough. A Study in Comparative Religion in two Volumes. London 1890 ist wohl nur mehr von historischem Interesse. Außer der berühmten Arbeit von Edward Evans Pritchard: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande. Frankfurt a. M. 1978, die exemplarisch die funktionalen Korrelationen zwischen Sozialstruktur und magischen Praktiken zeigt und auch sozialhistorischen Arbeiten als Vorbild dienen kann, seien noch genannt: Marcel Mauss: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie I. München 1974, S. 43–179; Edmund Leach: Animal Categories and Verbal Abuse. In: Pierre Maranda (Hg.): Mythology. Harmondsworth 1972, S. 39–67; Claude Lévi-Strauss: Der Zauberer und seine Magie. In: Ders.: Strukturale Anthropologie (I). Frankfurt a. M. 1976, S. 183–203; Ders.: Die Wirksamkeit der Symbole. In: ebd., S. 204–225; Ders.: Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1973; Paul Parin/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Mattèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt a.M. 1978; Tzvetan Todorov: Le discours de la magie. In: L’Homme 13 (1973), S. 38–65; Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a.M. 1978; Mary Douglas (Hg.): Witchcraft Confessions and Accusations. London, New York 1970; Victor W. Turner: The Ritual Process. Structures and Anti-structures. Chicago 1969. – Neben diesen ethnologisch orientierten Arbeiten sind einige sozialgeschichtliche Arbeiten zum europäischen Hexenwesen hervorhebenswert, die in der Regel von französischen oder englischen Sozialhistorikern stammen: Claudia Honegger (Hg.): Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1978 (die beiden Historiker Thomas und MacFarlane sind auch in Douglas 1970 vertreten). Ein Beispiel, wie man Sozialgeschichte sicherlich nicht machen kann, liefert
Diskurse der Aufklärung
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Goethezeit einstweilen ohnedies noch kaum die erforderlichen sozialen Daten verfügbar sein. Ich merke nur an, daß die Autoren solcher Theorien immer auch zu extrem konservativen politischen Positionen zu neigen scheinen: Jung-Stillings oder Eckartshausens Reaktionen auf die französische Revolution sprächen jedenfalls für diese Vermutung.7 Okkulte Praktiken und Theorien, ›Wunder‹ von allerlei Art und ihre Diskussionen, treten natürlich auch schon vor der Goethezeit im 18. Jahrhundert auf, doch scheinen sie einen deutlich anderen Status zu haben und eine andere Rolle zu spielen. Jedenfalls bestätigen mehrere Zeitgenossen diesen Eindruck und schreiben ihrer Zeit ein Anwachsen eines Okkultismus von neuartiger Qualität zu.8 Doch handelt es sich dabei weder um die Überwindung der Aufklärung noch um die Vorläufer neuerer Denkstrukturen, die im Gegensatz zur Aufklärung stünden. Dieses Rearrangement okkulter Elemente und die neue Position des Okkultismus scheinen vielmehr ganz im Gegenteil eng mit dem Denken der Spätaufklärung und des Idealismus in der Goethezeit korreliert zu sein. Doch auch das bliebe genauer zu untersuchen. Auch ließe sich wohl zeigen, dass diese Okkultismen nicht zuletzt dank der intellektuellen, sozialen, politischen Erfolge der Aufklärung überhaupt erst möglich werden. Denn Theorie und Praxis des Wunders scheinen im vorgoethezeitlichen 18. Jahrhundert, wenn man von den Wunderheilern absieht, vor allem in zwei eng korrelierten Kontexten relevant zu werden. Einmal handelt es sich um die Auseinandersetzung der Aufklärung mit den geoffenbarten
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der Beitrag von Silvia Bovenschen in Gabriele Becker/Silvia Bovenschen/Helmut Brackert u.a.: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt a.M. 1977, S. 259–312. Hervorhebenswert ist auch eine Studie zu aktuellen magischen Praktiken in Frankreich: Jeanne Favret-Saada: Die Wörter, der Zauber, der Tod. Der Hexenglaube im Hainland von Westfrankreich. Frankfurt a.M. 1979. Eckartshausens Beitrag Was trägt am meisten zu den Revolutionen jetziger Zeit bei? München 1791, ist jetzt zugänglich in: Zwi Batscha (Hg.): Aufklärung und Gedankenfreiheit. A. Bergk, J. L. Ewald, J. G. Fichte u. a. Frankfurt a.M. 1977, S. 161–192. Eckartshausen spielte ja auch eine maßgebliche Rolle bei der Aufhebung und Verfolgung des bayerischen Illuminatenordens (vgl. Graßl 1976, Anm. 1). Samuel Christoph Wagener: Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit. 4 Bde. Berlin 1798– 1802, der den Okkultismus bekämpft, bemerkt im zweiten Band, er habe Beschimpfungen erhalten: »Wenn ich anders diesen tönenden Bombast recht verstehe: so will man wohl gar damit sagen, der Unglaube in Hinblick auf die angeblich von Wesen höherer Natur bewirkten Wunder fördere das Republicanisiren der Neufranken?« (Bd. II, S. IV– V). So z.B. Damel Jenisch: Über die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten. In: Gnoti Sautón. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. V. Bd., 3. Stück (1787), S. 23–48. Jenisch bemerkt: »Es läßt sich zum wenigsten so viel daraus schließen, daß entweder neue und gefährlichere Quellen der Schwärmerey sich geöffnet; oder auch, daß die gewöhnlichen Ursachen derselben mit verstärkter Kraft auf unsere Zeitgenossen würken.« (S. 24f.). Ähnliches auch in Karl von Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse. 4 Bde. München 1788–1792, hier Bd. II, S. 13; Johann Heinrich Voß: Antisymbolik. 2 Bde. Stuttgart 1824–1826, hier Bd. I, S. 344ff.
Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde
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Religionen, die freilich primär außerhalb des deutschen Sprachgebiets stattfindet. Spätestens Spinoza hat im Tractatus theologico-politicus (Kap. VI) die Existenz von Wundern, aufgefaßt als Verstöße gegen die von Gott gegebene Ordnung der Naturgesetze, überhaupt, und also auch für die Bibel, bestritten. Es ist hinreichend bekannt, wie diese Diskussion, zumal in der französischen Aufklärung, seitens der Deisten wie Voltaire oder Rousseau9 und der Materialisten wie Helvétius und d’Holbach10 geführt wird und, bei der grundsätzlichen Bestreitung der Möglichkeit von Wundern, d.h. Abweichungen von den Naturgesetzen, den christlichen Wundern z.B. die Wunder anderer Religionen oder die wunderfrei ›natürliche Religion‹ des Deismus konfrontiert werden. Zum anderen finden Wunder, die die offiziellen Religionen nicht mehr hervorbringen, gleichzeitig in sehr verschiedenen Sekten der Zeit statt und werden eifrig durch die Presse11 berichtet und kritisiert – oft freilich nicht, weil sie Wunder wären, sondern weil sie außerkirchliche sind. Die Sekten aber sind kleine geschlossene Gemeinschaften, am Rande der Gesellschaft und immer von der durch die Kirche in Auftrag genommenen politischen Macht mit Verfolgung bedroht. Erst eine doppelte Schwächung der offiziellen Kirchen durch die Aufklärung scheint mir den Okkultismus der Goethezeit möglich gemacht zu haben, der sich nicht mehr in geächteten Randgruppen abspielt. Denn einerseits erliegen die Kirchen selbst dem Rationalismus, der sich vor den biblischen Wundern geniert: Es ist bekannt, welchen rühmlichen Widerstand etwa das preußische Oberkonsistorialkollegium, als höchstes Organ des preußischen Protestantismus, gegen das Wöllnersche Religionsedikt (1788 unter Friedrich Wilhelm II. eingeführt, 1797 von Friedrich Wilhelm III. aufgehoben) geleistet hat, mit
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Voltaire hat das Thema ›Wunder‹ z.B. im Dictionnaire philosophique, 1764, wenn auch mit einiger Vorsicht, abgehandelt; in Briefen ist er begreiflicherweise wesentlich deutlicher geworden (z.B. Brief an D’Alembert vom 28.12.1755). Rousseau hat sich in der »Profession de foi du Vicaire savoyard« im vierten Buch des Emile ou de l’éducation, 1762, unzweideutig geäußert, was ihm eine theologische Erwiderung von NicolasSylvestre Bergier: Le Déisme réfuté par lui-même: ou Examen, en forme de lettres, des Principes d’incrédulité repandus dans les divers Ouvrages de M. Rousseau. 2 Bde. Paris 1765 (5. Aufl. 1771) einträgt, der sein ganzes letztes Kapitel der Auseinandersetzung über die biblischen Wunder widmet. Bergiers apologetischer Fleiß wird im übrigen belohnt werden: Im Auftrag des französischen Klerus darf er, bei 2000 Livres pro Jahr, auch die Erwiderung auf Holbachs Système de la Nature schreiben (zu Bergier siehe Manfred Naumann in Vorwort und Anmerkungen des von ihm herausgegebenen Bandes: Paul Thiry d’Holbach: Religionskritische Schriften. Berlin, Weimar 1970). Z.B. Claude Adrien Helvétius: De l'homme, de ses facultés et de son éducation, 1772 und Paul Thiry d’Holbach: Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral, 1770. Vgl. etwa die von Eberhard Buchner herausgegebenen Bände: Ärzte und Kurpfuscher. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (17. und 18. Jahrhundert). München 1922; Religion und Kirche. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (16. bis 18. Jahrhundert). München 1925; Medien, Hexen und Geisterseher. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen und Zeitschriften (16. bis 18. Jahrhundert). München 1926.
Diskurse der Aufklärung
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dem die protestantische Geistlichkeit wieder auf den wörtlichen Glauben an die Bibel und die sogenannten Symbolischen Bücher verpflichtet werden sollte.12 Lavater, den die Epoche als besonders glaubensstark anerkennt,13 hat sich nicht nur über Lessing und die Reimarus-Fragmente, nicht nur über die aufgeklärten Philosophen Eberhard und Steinbart, sondern auch über die protestantischen Theologen Semler, Spalding, Abraham Teller, Sack (die drei letzteren werden auch dem genannten Oberkonsistorialkollegium angehören) wegen ihres Rationalismus erbost (Brief an Herder vom 10. November 1772). Andererseits aber verfällt die politische Macht der Kirche. Entsprechende juristische Veränderungen scheinen sich abzuspielen. Während früher der Staat okkulte Theorie und Praxis zum Schutze der offiziellen Kirchen verfolgte, ob sie Bürgern geschadet haben oder nicht, beginnt er sie in der Goethezeit nur mehr zum Schutze der Bürger vor Betrug zu verfolgen, ob sie den kirchlichen Theoremen widersprechen oder nicht.14 Die Abtrennung des Okkultismus von seiner Bindung an religiöse Sekten scheint sich zuerst in den Geheimbünden abgespielt zu haben: Nach der Jahrhundertmitte werden nicht selten Freimaurerverbände okkultisch unterwandert, wie schließlich auch die Rosenkreuzer auftauchen, bis endlich die großen Magier öffentlich hervortreten. Die durch die Aufklärung erworbene neue Freiheit scheint also eine
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Vgl. Brunschwig 1976 (Anmerkung 1), S. 269–277. So Jenisch 1787 (Anm. 8), S. 24, der von den »großen Talenten eines Lavater, – der demohngeachtet der größte Schwärmer seines Jahrhunderts ist« spricht. Carl Friedrich Bahrdt,: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. 4 Bde. Frankfurt a.M., Berlin 1790/91, benutzt ihn als bekannte Größe für Vergleiche, und spricht z.B. bei einem Irrationalisten vom »Lavaterschen Wunderglauben« (Bd. III, S. 239) oder: »Der Mann hatte einen Glauben wie Lavater« (Bd. IV, S. 177). Noch 1776 beklagt Johann Salomo Semler, daß es in Deutschland noch keine geeigneten Gesetze gegen die »angebliche Magie« gebe (Johann Salomo Semler: Sammlung von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen. 2 Bde. Halle 1776. Bd. II, S. 363). Sein Wunsch wird bald erfüllt werden, so im österreichischen Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey=Übertretungen von 1803: Strafbar wegen Betrugs ist, »wer den Schwachsinn eines Andern durch abergläubische, oder sonst hinterlistige Verblendung zu dessen, oder eines Dritten Schaden mißbrauchet« (Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen. 2. Aufl. Wien 1815. I. Theil, § 180 b). Noch detaillierter wird das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (II. Theil, 20. Titel): »§ 220. Wer bey sonst ungestörtem Gebrauche seines Verstandes, gewisse Religionshandlungen, oder zum Gottesdienst bestimmte Sachen zu vermeintlichen Zaubereyen, Gespensterbannen, Citiren der Verstorbenen, Schätze graben, und anderen dergleichen abergläubigen Gaukeleyen mißbraucht, soll zuerst eines besseren belehrt, im Falle der Wiederholung aber mit vier- bis achtwöchentlicher Gefängnis- oder Zuchthausstrafe belegt werden. § 221. Sind dergleichen Gaukeleyen betrüglicher Weise, oder, um damit gewisse Nebenabsichten zu erreichen, vorgenommen worden: so findet gegen den Thäter, außer der durch den Betrug oder Diebstal an sich verwirkten, annoch Festungs- oder Zuchthausstrafe auf sechs Monathe bis zwey Jahre statt.«
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wesentliche – nicht zureichende, aber notwendige – Bedingung für den neuen, sich öffentlich präsentierenden Okkultismus gewesen zu sein, zu dem man sich ohne soziale Ächtung bekennen und für den man öffentlich werben darf.
1.
Elemente des historischen Kontextes
Ich skizziere zunächst einige Daten des Kontextes der Geisterkunde, wobei ich Namen und Ereignisse bevorzuge, auf die Jung-Stilling selbst Bezug nimmt. Trotz den von Jung-Stilling angespielten Schriften von Balthasar Bekker (1634– 1698; Die verzauberte Welt, Amsterdam 1691) und Christian Thomasius (1655– 1728; Theses de crimine magiae, Halle 1701, u. a.) – laut Friedrich II. der Mann, der den Frauen »die Gewißheit vindizierte in Ruhe alt werden und sterben zu können«15 – war zu Anfang der Epoche die Zeit der Hexenverfolgung noch nicht lange vorüber – und die des Hexenglaubens nicht im geringsten. Zwar fanden in Preußen die letzten Hexenprozesse 1721 und 1728 mit unblutigem Ausgang statt, doch wird in Kempten noch einmal 1775 eine Hexe verbrannt,16 neun Jahre nach Wielands Agathon, ein Jahr nach Goethes Werther. Ebenfalls 1775 läßt der geachtete Wiener Mediziner Anton de Haen sein De magia Liber (Leipzig) erscheinen, worin er die Möglichkeit von Hexerei und Besessenheit zu beweisen sucht. JungStilling sieht noch 1808 in der Theorie Anlaß, den Glauben an Besessenheit und Hexerei anzugreifen – zu Recht: Noch 1834 publiziert der Dichter und Mediziner Justinus Kerner (1786–1862) die Geschichten Besessener neuerer Zeit. Beobachtungen aus dem Gebiete kakodämonisch-magnetischer Erscheinungen, wozu sein Freund Carl August Eschenmayer (1768–1852), Professor der Medizin und Philosophie Einige Reflexionen über Besitzung und Zauber beisteuert, in denen er die Möglichkeit von Besessenheit und Hexerei bescheinigt. Am Anfang der Epoche, in den frühen siebziger Jahren, erregt der – bei Jung-Stilling genannte – bayerische Priester Johann Josef Gaßner (1727–1779) gesamtdeutsches Aufsehen, indem er behauptet, ein Teil der Krankheiten sei nicht physischen, sondern dämonischen Ursprungs, und durch Exorzismus Wunderheilungen vollbringt.17 An den Reaktionen zeigt sich eine interessante epochale Struktur: Während Deutschland sonst in protestantisch/katholisch gespalten ist und etwa die Berliner Aufklärer unentwegt Umtriebe der 1773 von Clemens XIV. aufgehobenen Jesuiten wittern und Kryptokatholizismus befürchten, überlagert sich dieser Spaltung die in die zwei überkonfessionellen Gruppen der Aufgeklärten und der Okkultisten. Gaßner wird im selben
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Zitiert nach Manfred Hammes: Hexenwahn und Hexenprozesse. Frankfurt a.M. 1977, S. 239. (Das Buch ist im übrigen wichtig für die juristischen Regelungen und Probleme der Hexenprozesse.). Die Daten nach Hammes 1977 (Anm. 15), S. 242, und Brackert in Becker u.a. 1977 (Anm. 6), S. 323. Im Detail dargestellt in Graßl 1968 (Anm. 1).
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Sinne von dem katholischen Theologen Ferdinand Sterzinger (1721–1786; Aufgedeckte Gaßnerische Wunderkuren, aus authentischen Urkunden beleuchtet und durch Augenzeugen bewiesen, München 1774) und dem protestantischen Theologen Johann Salomo Semler (1725–1791; Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, 2 Bde., Halle 1776) angegriffen. Sterzinger berichtet an den bayerischen Kurfürsten »Nihil a Deo, plurima naturalia, multa ficta, a daemone nulla«;18 Semlers Sammlung läßt die Prominenz der Zeit antreten. Ihnen stehen z.B. auf Seiten der Protestanten der Schweizer Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741–1801), zeitweiliger Freund Goethes, später Freund und Geistesgenosse Jung-Stillings, auf Seiten der Katholiken Bernhard Joseph Schleiß gegenüber, der einen Band gegen Semler schreibt und sich dabei auch auf Lavater beruft; beide reisen im übrigen zu Gaßner. Lavater produziert ein auch in der Folge zentrales Argument, dessen sich etwa JungStilling bedienen wird: »Laßt uns nicht a priori dagegen kämpfen. Untersuchen laßt uns, ob’s sey.«19 Aber noch eine Person tritt in den Fall Gaßner ein und hilft, ihn zu einem signifikanten Beispiel zu machen: Aus Wien reist Franz Anton Mesmer (1733–1815) an, der mit der Entdeckung bzw. Ausbeutung des sogenannten ›tierischen Magnetismus‹ in Deutschland und Frankreich berühmt wird. Es kommt zum Kampf der Magier: Mesmer demonstriert 1775 in München dem Kurfürsten die Natürlichkeit von Gaßners Heilverfahren, indem er ohne Exorzismus denselben Erfolg erzielt – Bayern und Österreich verbieten schließlich Gaßners Kuren. Auch Mesmer und mehr noch sein Magnetismus spielen bei Jung-Stilling eine relevante Rolle; die Theorie wird in den folgenden Jahrzehnten von vielen Autoren ausgebaut und ist noch bei Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860) von großer Relevanz; er stellt sie auch wiederholt dar (Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808; Die Symbolik des Traumes, Bamberg 1814; Die Geschichte der Seele, Stuttgart 1833) und benutzt sie ebenso zu naturphilosophischen, halb okkultistischen Spekulationen wie Johann Wilhelm Ritter (1776–1810; Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers, Heidelberg 1810); auch Kerner und Eschenmayer werden sich ihrer nicht zuletzt in okkultistischen Schriften bedienen. Die Wissenschaftlichkeit des Magnetismus bleibt in der Epoche umstritten; aber er erreicht nicht nur eine enorme Bekanntheit, sondern liefert vor allem allen möglichen irrationalen Zwecken ein pseudowissenschaftliches Alibi. Die institutionalisierten Irrationalismen Hexenglaube und Besessenheit sind zwar gebrochen, doch werden sie nur durch die florierenden Privatmystizismen und die pseudowissenschaftlichen Theorien – bis hin zur Naturphilosophie der Goethe, Schelling, Hegel, Ritter, Schubert usw. – abgelöst. Schon zu Beginn der Epoche stehen die Magier bereit, die geheime Kenntnisse, Lebenselixiere, den Stein der Weisen, alchemistische Verwandlungen, Umgang mit der Geisterwelt
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Graßl 1968 (Anm. 1), S. 144. Semler lobt Sterzinger explizit in dieser Sammlung (Bd. I, S. 110 und S. 179). Semler 1776 (Anm. 14), Bd. I, S. 134 (= Lavaters Schreiben vom 19.5.1775).
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usw. versprechen, und so mancher, der als Aufklärer begann, erliegt ihrer Faszination und endet wie der alte Semler bei der Alchemie. Die Magier bilden zwei Gruppen: die reinen Betrüger und die, die sich selbst glauben. Am berühmtesten werden die Abenteurer Cagliostro (1743–1795) und Saint-Germain (?–1780), die sich eines europäischen Renommees erfreuen und bis über das Ende der Epoche hinaus bekannt bleiben: Bloßes Nennen ihres Namens genügt, das kulturelle Wissen über sie abzurufen.20 Von den vielen kleineren ist für Deutschland Johann Georg Schrepfer (1730–1774), oft, wie bei Jung-Stilling, unrichtig Schröpfer geschrieben, hervorzuheben, der gern auch mit den beiden anderen zusammen genannt wird. Er betätigt sich in Leipzig als Geisterbeschwörer, bis er sich schließlich seiner unhaltbar gewordenen Situation durch einen gut inszenierten Selbstmord entzieht. Zu seinen Klienten gehört Johann Rudolf von Bischhofswerder (1737–1803), der zusammen mit Johann Christoph Wöllner (1732–1800) Friedrich Wilhelm II. selbst Geistererscheinungen vorspiegeln wird, was bei diesem einfältigen Monarchen beiden eine Karriere einträgt, die Wöllner 1788 Justiz- und Kultusminister werden läßt, bis schließlich Friedrich Wilhelm III. ihn 1798 kurz nach Regierungsantritt entläßt. Jeder Betrüger findet seine Gläubigen. Lavater z.B. ist immer bereit, ihnen aufzusitzen, so auch dem Cagliostro; dieser und Schrepfer treten zwar auch bei JungStilling auf, doch sind sie zu diesem Zeitpunkt schon entlarvt. Nicht der Entlarvung verfallen hingegen zwei ebenso bekannte, sich selbst glaubende Magier, deren erster eine zentrale Rolle für Jung-Stilling spielt: Emanuel von Swedenborg (1688–1772; Arcana coelestia quae in scriptura sacra verbo domini sunt detecta, 8 Bde., London 1749–1756) und Louis-Claude de Saint-Martin (1743–1803; Des erreurs et de la vérité, Lyon 1775, deutsch von Matthias Claudius 1782; De l’esprit des choses, 2 Bde., 1800; deutsch von Gotthilf Heinrich Schubert 1811). Auch sie sind in der ganzen Epoche bekannte Namen, wobei in Deutschland SaintMartin der eher weniger bekannte ist.21 Diese Magier organisieren ihre Anhänger
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Das Wissen über die Cagliostro, Mesmer, Saint-Germain, Sant-Martin, Schrepfer, Swedenborg speichert etwa die bei Brockhaus in Leipzig erscheinende Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon), 12 Bde. 1833ff., am Ende der Epoche. Vgl. auch Friedrich Bülau: Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen. 2 Bde. Leipzig 1850, hier Bd. I. Eine eher unsystematische Sammlung in den mir bekannten Texten der Epoche, literarischen wie theoretischen, hat auf Anhieb 27 Belege des Namens Cagliostro, 14 von Swedenborg, 14 von Gaßner und 13 von Schrepfer erbracht. Nicht nur Goethes Komödie Der Groß-Cophta lebt davon, daß das Wissen über Cagliostro als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann: Noch am Ende der Epoche, 1831, kann Tieck in Die Wundersüchtigen das Wissen über Cagliostro und Schrepfer voraussetzen und damit spielen, daß einer seiner Magier, Sangerheim, ebenso eindeutig mit Schrepfer wie der andere, Feliciano, mit Cagliostro identisch ist. Claudius merkt in der Vorrede zu seiner Übersetzung an: »[I]ch verstehe das Buch auch nicht« (zitiert nach Matthias Claudius: Der Wandsbecker Bote. Frankfurt a.M. 1975, S. 287). Der Band ist in der Tat wenig lesbar (vgl. Nachdruck: Louis Claude de SaintMartin: Œuvres majeures. Bd. I. Hildesheim 1975) und scheint auch in Deutschland we-
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gern in sektiererischen Geheimbünden, so Cagliostro und Saint-Martin (nach Swedenborgs Tod bilden sich solche ebenfalls in seinem Namen), die die vorgefundenen Freimaurerlogen zu neuartigen Bünden mit komplexen Einweihungsritualen und Hierarchien umstrukturieren, in denen nach langen Prüfungen geheimes Wissen verheißen wird. Diese neuen Geheimbünde schießen überall aus dem Boden, unter ihnen am bemerkenswertesten die Rosenkreuzer. Der Versuchung erliegen auch Fürsten, die sich als dumme Lehrlinge des Bundes manipulieren lassen; kaum ein bekannter Intellektueller, der nicht mindestens einmal einem solchen Bund angehörte. Die mystisch-okkulten Publikationen florieren, so etwa das Archiv für Freimäurer und Rosenkreuzer, Berlin 1783–1785, in dem abstruseste okkultistische Schwarten rezensiert werden und höchst sonderbare Beiträge zu finden sind; so Die theoretischen Brüder oder zweite Stufe der Rosenkreuzer und ihrer Instruktion, Athen (= Regensburg) 1785, worin ein Graf von Löhrbach die absurden Rituale und Theoreme eines solchen Bundes, darunter auch solche über die Geisterwelt, vorstellt. Magier und Geheimbünde sind jedenfalls mindestens der ersten Hälfte der Epoche so vertraut, daß der Freiherr Adolph von Knigge (1752– 1796) in seinem Über den Umgang mit Menschen, 1788, auch Kapitel über den Umgang mit mystischen Betrügern, Geistersehern und Geheimbünden schreibt. Von Anfang an existieren freilich auch die Gegner. Schon 1766 schreibt Kant gegen Swedenborg und die Möglichkeit des Geistersehens (Träume eines Geistersehers, Königsberg), was er noch 1800 in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Königsberg) beiläufig wieder aufnimmt. Es hat, wie man sieht, JungStilling wenig beeindruckt. Die Opposition ist in diesem Falle nicht nur die der Aufklärung: Denn Swedenborgs Visionen weichen allzu deutlich von der theologischen Orthodoxie beider Konfessionen ab. Noch 1826 schreibt Joseph Görres (1776–1848) eine Nachschrift über Swedenborg, seine Visionen und sein Verhältnis zur Kirche.22 An Semlers Sammlung hatten sich so prominente Philosophen wie Crusius,23 Eberhard, der außer Schrepfer auch de Haen angreift, und Mendels-
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nig Folgen gehabt zu haben – ich kenne nur ein eindeutiges Wirkungszeugnis: Johann Friedrich Kleuker: MATIKON oder das geheime System einer Gesellschaft unbekannter Philosophen unter einzelne Artikel geordnet, durch Anmerkungen u. Zusaetze erlaeutert u. beurtheilt u. dessen Verwandtschaft mit aeltern und neuern Mysteriologien gezeigt. Frankfurt a.M., Leipzig 1784. In: Der Katholik. Eine religiöse Zeitschrift zur Belehrung und Warnung 6, 22 (1826), S. 96–127, S. 222–256, S. 337–365; 7, 23 (1827), S. 302–352. Görres will ihn weder als Betrüger abtun noch als Wahnsinnigen klassifizieren – andererseits aber ist Swedenborgs Mythologie mit dem Katholizismus unvereinbar. Görres produziert deshalb eine komplexe Natur- und Religionsphilosophie, in der er ihm zwar wirkliche Visionen, aber solche mit falschem Inhalt zuschreiben kann. Er lobt ihn als »Zeugen für das Daseyn einer höheren Welt« »in einer im gröbsten Materialismus verkommenen Zeit« (S. 351). Bahrdt 1790/91 (Anm. 13), Bd. I, S. 202, berichtet, wie Crusius, bei dem er studiert hat, aus der Bibel eine Geisterwelt bewies. Crusius bestreitet demnach auch nicht diese, sondern nur Schrepfers Zugang zu ihr. Bahrdt (Bd. I, S. 188) nennt im übrigen auch Johann
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sohn beteiligt, auch der Theologe Ernesti war dabei. Einen konsequenten Kampf gegen alle Arten von Okkultismus führt die Berliner Aufklärung, vor allem auch in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek (ab 1765)24 und in der von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift (ab 1783), die kontinuierlich über alle auftretenden angeblichen Wunder und alle kleinen und großen Magier berichtet. Unter den vielen Schriften, die etwa Cagliostros Weg durch Europa begleiten, ist – nicht zuletzt dank der Berlinischen Monatsschrift und Nicolai, der es herausgibt und mit einem Vorwort versieht, das Buch der Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin, Stettin 1787, besonders bekannt geworden, das ihr freilich den Tadel eines Prinzen Eugen von Württemberg zuzieht, der sich ebenfalls in der Berlinischen Monatsschrift mit einer Verteidigung der Möglichkeit von Wundern auch in der Gegenwart, unter Verweis auf die Bibel, zu Wort meldet (Bd. 8, 1786). Auch sonst scheute die Aufklärung nicht, wie ihr Jung-Stilling vorwirft, vor der Prüfung konkreter Fälle zurück: Nachdem es in einem Haus bei Berlin seit Jahren angeblich spukt, ernennt man 1797 eine Kommission aus aufgeklärten Theologen wie Johann Friedrich Zöllner und Wissenschaftlern wie dem Chemiker Martin Heinrich Klaproth (1743–1817), die den Betrug aufdeckt.25 Schwer zu prüfen sind freilich notwendig die Fälle, wo das angeblich okkulte Phänomen nicht wiederholt auftritt. Denn während die Phänomene der Magie und des Magnetismus im Prinzip wiederholbar sein müssen, lassen sich einmalige Phänomene von Spuk oder Geistererscheinungen nur aus den Berichten der angeblichen Zeugen selbst diskutieren. Es erscheinen nicht wenige Publikationen, die grundsätzlich die Möglichkeit von Geistererscheinungen diskutieren und bestreiten, wobei sie entweder von einem konkreten Einzelfall ausgehen oder ganze Mengen überlieferter Geschichten okkulter Art durchsprechen. Vom letzteren Typ sind etwa die Publikationen von Justus Christian Hennings (Von Geistern und Geistersehern. Hrsg. vom Verfasser der Abhandlung von den Ahnungen und Visionen, 1780) und Gottfried Immanuel Wenzel (Unterhaltungen über die auffallendsten neueren Geistererscheinungen, Träume und Ahndungen nebst Darstellung anderer sonderbarer Beobachtungen am Menschen, 1800). Auch Wieland beteiligt sich mit mehreren Beiträgen an der Diskussion (Über den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben, 1781; Nikolaus Flamel, Paul Lukas und der Derwisch von Brussa, 1788; Euthanasia. Drei Gespräche über das Leben nach dem Tode, veranlaßt durch D. J. K. W++ls Geschichte der wirklichen Erscheinung seiner Gattin nach dem Tode, 1805). Die beiden letztgenannten Texte versuchen, konkrete Einzelfälle angebli-
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Friedrich Teller, von dem später die Rede sein wird, als einen Phantasten und durch Crusius verdorbenen Schüler. Die Allgemeine deutsche Bibliothek war bekanntlich das für die Verbreitung der Aufklärung lange Zeit wichtigste Organ. Brunschwig 1976 (Anm. 1), S. 300.
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chen Okkultismus im Rahmen allgemeiner Überlegungen zu widerlegen. Zumindest der Fall des W++l (= Dr. Karl Wötzel) scheint allgemeineres Interesse gefunden zu haben, da auch Johann Friedrich Teller (Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unsrigen nach dem Tode, und Geistererscheinungen überhaupt. Meine Überzeugung nach Crusiusischen Grundsätzen, Zeitz 1806) eben diese Geschichte zum Ausgangspunkt nimmt. Jung-Stilling hat Wieland die Euthanasia ersichtlich übel genommen; er verwirft sie zusammen mit dem »heut zu Tage so sehr gelobten und gerühmten Elpizon« und klassifiziert beide als gefährliche Bücher.26 Die Positionen der Aufklärer sind im übrigen durchaus untereinander verschieden: Sie können eine Geisterwelt grundsätzlich leugnen, was explizit wegen des Konflikts mit der Theologie selten scheint, oder sie zwar im Prinzip anerkennen und nur ihre Einwirkung auf den menschlichen Bereich und ihre Wahrnehmbarkeit bestreiten; sie können die Erscheinungen gänzlich, z.B. als bloße Einbildungen, leugnen oder sie zwar als Phänomen anerkennen, aber ohne Rekurs auf die Geisterwelt ›natürlich‹ erklären, was sowohl bei Wenzel als auch später bei Schopenhauer zu kaum weniger abstrusen Annahmen führen kann. Es konstituiert sich in diesem Zeitraum geradezu eine neue literarische Gattung, in der okkulte Geschichten erzählt und rational aufgeklärt werden, so etwa Cajetan Tschinks (erfundene) Wundergeschichten samt den Schlüsseln zu ihrer Erklärung, Wien 1792, oder Samuel Christoph Wageners (offenbar authentische Geschichten) Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit, 4 Bde., Berlin 1798–1802. In späterer Zeit erscheinen etwa das Gespensterbuch, 4 Bde., 1810– 1812, von Johann August Apel und Friedrich Laun, und das Wunderbuch, 3 Bde., 1816/17, von Apel, Laun und Fouqué; doch enthalten sich beide Texte weitgehend einer Bewertung der von ihnen erzählten erfundenen Wundergeschichten; interessant sind sie freilich nicht nur als Quellen von ›Volksaberglauben‹, sondern vor allem wegen der textinternen Diskussionen über die theoretische Möglichkeit des ›Wunderbaren‹.
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In der Apologie der Theorie der Geisterkunde 1809 (= Johann Heinrich Jungs sämmtliche Schriften Sechster Band. Stuttgart 1837, S. 627). Es handelt sich um (des Konsistorialrats!) Christian Friedrich Sintenis’ (1750–1820) anonym erschienenes Werk: Elpizon oder über meine Fortdauer im Tode. Bd. I. 1795, Bd. II und III. 1804/05 (schon 1803 erscheint der erste Band in einer dritten verbesserten Auflage). Sintenis hat diesen Erfolg fortgesetzt mit Pistevon. Oder über das Dasein Gottes. Ein Anhang zum Elpizon (3., verb. Aufl. 1809) und Elpizon an seine Freunde 1808 (2. Aufl. 1810). Nachdem Sintenis im Elpizon ausgeführt hat, daß die Unsterblichkeit der Seele aus der Offenbarung der Bibel nicht folge, da deren Autorität schon den Glauben an Gott voraussetze, Gott aber selber erst bewiesen werden müsse und zudem auch daraus noch nicht die Unsterblichkeit gefolgert werden könne, schickt er sich an, sie aus der Vernunft zu beweisen. Für den Helden hatte die Bibel »nicht mehr Gewicht, als alles, was davon in jedem anderen Buche der Welt steht« (Bd. III, S. 5) – Man versteht Jung-Stillings Erregung, aber auch den Reiz dieses Buches für sein Publikum, dem es verspricht, ihm alles das zu beweisen, wofür die Bibel keine hinlängliche Autorität mehr zu sein scheint – freilich ist das Ergebnis notwendig ein Deismus.
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Die Menge verfügbarer okkulter Geschichten scheint begrenzt zu sein: Selbst wenn man von den Taten der berühmten Magier absieht, sind es doch in erstaunlichem Ausmaß immer wieder dieselben okkulten Fälle, denen man bei Hennings, Kerner, Wenzel, Wagener, Jung-Stilling begegnet; noch Schopenhauer wird aus diesem okkulten Fundus, angereichert durch einige spätere Fälle, schöpfen. Daß immer wieder dieselben Fälle erzählt werden, ist freilich auch ein Indiz für die Stagnation der Diskussion: Die Okkultisten können den okkulten Charakter der Fälle niemals zwingend beweisen, sie setzen ihn einfach – die Aufgeklärten können den okkulten Charakter niemals zwingend widerlegen und selbst die plausibelsten Argumente seiner aufgeklärten Vorgänger werden etwa von Jung-Stilling ignoriert. Es ist freilich auch ein Indiz für die Faszination, die diese Fälle für die Zeitgenossen, ob aufgeklärt oder nicht, gehabt zu haben scheinen. Jedenfalls setzt sich trotz aller Einwände die okkulte Literatur mit nicht wenigen Texten fort. Neben Jung-Stilllings Theorie von 1808 ist vor allem der von ihm beifällig zitierte Karl von Eckartshausen, Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen, 1788–1892, zu nennen.27 Die Zeit nach Jung-Stillings Buch kann hier knapp behandelt werden. Seine Theorie wird im Jahre seines Todes, 1817, von Arnim in der von Friedrich Wilhelm Gubitz herausgegebenen Zeitung Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz rezensiert, im wesentlichen wohlwollend. Bei Arnims Bemerkung »[d]och sollte die Überzeugung eines so frommen, vorurteilsfreien Mannes selbst dem Allesleugner nicht gleichgültig sein...« fühlt sich freilich der Herausgeber Gubitz zu einer Fußnote gedrängt: »Man kann auch auf die frommste Weise sehr verderblich irren.«.28 Johann Heinrich Voß (1751–1826) resümiert in seiner gegen Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1810 geschriebenen Antisymbolik, Stuttgart 1824–1826, die Geistesgeschichte der Epoche, so weit es den Irrationalismus betrifft, wobei er als Hauptvertreter unter anderem Lavater, Gaßner, JungStilling und Friedrich Jacobi hervorhebt und im Zusammenhang dieser Richtungen auch die idealistische Philosophie, am Beispiel Fichtes, einordnet. Fichte selbst hatte in Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1806, einigermaßen Schwierigkeiten gehabt, den Idealismus vom Okkultismus abzugrenzen: Ihm zufolge haben sie gemeinsam, daß sie beide die bloße Erfahrungswissenschaft transzendieren und daß der Okkultismus seinerseits ebenfalls zur Naturphilosophie hinstrebe; er gibt zu, daß für den Außenstehenden beide schwer zu unterscheiden seien (8. Vorlesung). Diese zweite Hälfte der Epoche ist jedenfalls vor allem auch eine Blütezeit der Naturphilosophien. Der Okkultismus selbst erreicht einen neuen – und in dieser Kultur letzten – Höhepunkt mit Kerners Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und das Hereinragen einer
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Eckartshausen 1788ff. (Anm. 8). Schopenhauer nennt 1851 noch weitere Okkultisten der Goethezeit, wie z.B. Horst, die ich hier aber, da ich sie nicht kenne, beiseite gelassen habe. Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Ein Volksblatt 1 (1817), Nr. 97, S. 385f.; Nr. 98, S. 389–391; Nr. 99, S. 394f., Zitate S. 391.
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Geisterwelt in die unsere, 2 Bde., Tübingen 1829, worin man im übrigen viele der Theoreme Jung-Stillings wiederfindet, dessen Theorie freilich neben der Kerners geradezu harmlos anmutet. Kerner, und neben ihm andere wie Eschenmayer und Görres, lauschen gläubig den Offenbarungen einer physisch wie psychisch schwerkranken Psychotikerin, die ihnen in der Tat so Eindrucksvolles und Ungewöhnliches enthüllt, daß sich Schopenhauer noch 1851 in den Parerga und Paralipomena darüber erbost. Brentano z.B. zeichnet ab 1818 die Visionen der Nonne Anna Katharina Emmerick auf und läßt, offenbar mit großem Erfolg, 1833 Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich (sic) erscheinen.29 Mörike seinerseits schreibt allen Ernstes an Kerner über den Spuk in seinem Pfarrhaus.30 Tieck bemerkt 1839: »Die große Nüchternheit der ehemaligen Aufklärer wird durch den Aberglauben der neuen Glaubenshelden bedeutend überboten. Die Berliner Monatsschrift und Biester und Nicolai erringen sich jetzt eine Art Ehrenerklärung«.31 Arndt registriert 1818 auf allen Lebensgebieten einen neuen Mystizismus32 und Zschokke berichtet 1820 von religiösen Schwärmereien, die zumal um 1816/17 in den unteren sozialen Schichten ausgebrochen seien.33 1851 schließlich wird Jung-Stilling neben Kerner und vielen anderen noch einmal in Ehren von Schopenhauer in dessen Versuch über das Geisersehen und was damit zusammenhängt (in den Parerga und Paralipomena) genannt werden; Schopenhauer erkennt zwar viele der angeblich okkulten Phänomene als Realitäten an und behandelt den Magnetismus als erwiesen, aber er interpretiert diese Sachverhalte im Rahmen seiner ›atheistischen‹ Metaphysik und lehnt die religiös-spiritualistischen Deutungen der Jung-Stilling und Kerner ab, wie er auch die Offenbarungen der Magnetisierten für Unsinn erklärt, worauf früher schon selbst Schubert hingewiesen hatte.34
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Angaben nach der Lebens- und Werkchronik in: Clemens Brentano: Werke. Hg. von Wolfgang Frühwald. Bd. I. Hg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. München 1968, S. 1273ff. Brief vom 29.4.1839, in: Eduard Mörike: Sämtliche Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1946, S. 1207–1218. In Ludwig Tieck: Schriften. Bd. XXVI. Berlin 1854, S. 464f. Im selben Kontext ärgert sich Tieck offenbar auch über Brentanos Nonne: »So haben wir schon ein gedrucktes Buch, welches eine unwissende, aber wunderwirkende Nonne diktirt hat, in welchem die Passion des Erlösers so deutlich und klar beschrieben ist, mit den kleinsten Nebenumständen, Lokalitäten, Kleidern und Zufälligkeiten, daß unsere Evangelien nur dagegen dämmernde Fragmente sind. Und dieser Aberwitz eines kranken Gehirns, diese komödischen Phantasieen werden selbst von manchem Geistlichen mit einer Art von Ehrfurcht betrachtet [...]«. Ernst Moritz Arndt: Geist der Zeit. 4 Bde. Altona 1806–1818, hier Bd. IV, S. 494ff. Heinrich Zschokke: Vom Geist des deutschen Volkes im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Aarau 1820, S. 151f. Gotthilf Heinrich von Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden 1808, S. 327.
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Auf die Literatur selbst kann ich hier nicht eingehen. In der sogenannten ›Trivialliteratur‹ wimmelt es von Texten, die mehr oder weniger ernst, mehr oder weniger gläubig oder aufklärerisch Okkultes darstellen.35 Auch dürfte es kaum einen Autor der ›hohen Literatur‹ geben, der nicht wenigstens in einem Text mit diesen Phänomenen gespielt hätte. Häufig sind auch in der Literatur die theoretischen Diskussionen zwischen den Figuren über Möglichkeit und Wirklichkeit übersinnlicher Erscheinungen: Die Argumentationsformen von JungStillings Theorie können dabei als repräsentativ gelten; analoge Argumente wiederholen sich unzählige Male.
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Johann Heinrich Jung(-Stilling)
Einige Anmerkungen zur Person des Autors dürften nützlich sein. Der Hofrat Prof. Dr. Johann Heinrich Jung (1740–1817) ist wohl nur mehr durch seinen autobiographischen Roman bekannt, dessen ersten Band Goethe, mit dem er während seines Studiums in Straßburg bekannt wurde, zum Druck beförderte und dem Jung seinen Beinamen verdankt. Auf Heinrich Stillings Jugend, 1777, folgen dann dessen Jünglingsjahre 1778, Wanderschaft 1778, Häusliches Leben 1789, LehrJahre 1804 und das nicht mehr abgeschlossene Alter 1817. In qualvoll engem Milieu aufgewachsen, nach freudloser Jugend als Schneider, Bauer, Verwalter, Volksschullehrer und Kaufmannsgehilfe kann er schließlich 1770 Medizin studieren und praktiziert ab 1772, wobei er durch Augenoperationen, die er bis an sein Lebensende fortsetzt, berühmt wird, ohne doch glücklich und wohlhabend zu werden. Mit seiner Berufung zum Professor der Kameralwissenschaft (ab 1778 Kaiserslautern, ab 1784 Heidelberg, ab 1787 Marburg) geht es aufwärts. Vor allem zwischen 1780 und 1798 publiziert er viele umfängliche Lehrbücher zu allen Teilgebieten seines Faches, das die Wirtschaftswissenschaften (›Handlungswissenschaft‹, ›Fabrikwissenschaft‹, ›Rechnungswissenschaft‹, ›Finanzwissenschaft‹, ›Staatswirtschaft‹), die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft, die Verwaltung (›Staatspolizeiwissenschaft‹) umfaßt, und im Falle seines speziellen Lehrstuhls in Kaiserslautern gar noch die ›Tierarzneikunde‹. Daneben schreibt er noch vier Romane, Die Geschichte des Herrn von Morgenthau, 2 Bde., 1779; Die Geschichte
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Vgl. dazu etwa Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. Bonn 1969; Marianne Thalmann: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses ›Genius‹ bis Tiecks ›William Lovell‹. München 1970; die umfänglichste Liste von Titeln aus dieser Literatur liefert der wichtige Artikel von Jörg Schönert: Behaglicher Schauer und distanzierter Schrecken. In: Alberto Martino (Hg): Literatur in der sozialen Bewegung. Tübingen 1977, S. 27–92; eine frühe zeitgenössische Quelle für diese Literatur ist Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799; generell zur fantastischen Literatur siehe Marianne Wünsch: Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen. München 21998.
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Florentins von Fahlendorn, 3 Bde., 1781/82; Leben der Theodore von der Linden, 2 Bde., 1783; Theobald oder die Schwärmer, 2 Bde., 1784. In diesen Romanen, zumal den drei ersten, schlägt sich auch sein kameralistisches Wissen nieder: Immer wieder werden in ihnen Güter wirtschaftlich reformiert und reorganisiert. In Theobald setzt er sich kritisch mit verschiedenen mystisch-okkulten Richtungen auseinander – gemäß dem Diktum der Geisterkunde, es gelte, sowohl Unglauben als auch Aberglauben zu vermeiden – auch das eine typische und in der Epoche häufig belegte Denkform. Auf die französische Revolution reagiert auch er 1793 mit zwei mehr als konservativen Schriften: In der Bedrohung der weltlichen Ordnung spiegelt sich für ihn die der göttlichen. Ab 1794 setzen dann hauptsächlich die religiösen und okkultistischen Schriften ein, zu denen die Geisterkunde gehört. Der Aufklärung gilt seine Intimfeindschaft, die sich schon vor der Autobiographie in Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister den Verfasser des Sebaldus Nothanker, 1775 und Die große Panacee wider die Krankheit [sic!] des Religionszweifels, 1776 manifestiert; mit der erstgenannten Schrift legt er sich mit dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai (1733–1811) an, dessen Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, 3 Bde., 1773–1776, noch nicht einmal zur Gänze erschienen war. Sein mystischer Neueinsatz beginnt 1794–1796 mit seinem letzten und interessantesten Roman Das Heimweh,36 4 Bde., dem er noch Der Schlüssel zum Heimweh 1796 folgen läßt. Der Roman gehört in die Serie der epochal typischen Geisterseher- und Geheimbundromane, deren Erzählmodell hier aber christlich interpretiert wird. Es ist sozusagen ein theologischer Reißer, dem er mit dem Schlüssel noch eine allegorische Exegese verabreicht. Die christlichen Helden folgen der Verkündigung zur Gründung eines theokratischen Reiches im fernen Asien, wobei sie sich, um den Nachstellungen der bösen Aufklärer zu entgehen, in Geheimbundform organisieren und die Ihrigen in allerlei mystischen Initiationsritualen prüfen und auswählen; Häupter der aufklärerischen Verschwörung sind Frau von Traun und Fräulein Nischlin, deren Namen im Schlüssel als Anagramme für »Natur« und »sinnlich« dekodiert werden, womit Jung-Stillings Feinde genau benannt wären. Neben erbaulichen Fortsetzungsschriften und christlichmoralischen Erzählungen folgen unter anderem Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, oder Denkwürdigkeiten der göttlichen Gnadenführung und Fürsehung in dem Leben eines Christen, 1799, Die Siegergeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung Johannis, 1799, Szenen aus dem Geisterreiche, 2 Bde., 1795–1801. Ab 1803 kann er die ihm längst verhaßte Lehrtätigkeit im hessischen Marburg aufgeben: Der Kurfürst von Baden bezahlt ihn hinfort, damit er von Karlsruhe aus Christentum und Moral befördere. Seine theologisch-mystischen Schriften haben nach eigener Aussage großen Erfolg; nicht
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Der Roman scheint nicht erfolglos gewesen zu sein: 1826 erscheint die »Vierte wohlfeile Ausgabe« (4 Bde., Stuttgart); 1836 erscheint er erneut zusammen mit dem Schlüssel in den Sämmtlichen Schriften. Bd. IV und Bd. V.
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wenige Fürsten protegieren ihn. Sein Publikum dürfte freilich nur sehr partiell mit jenen identisch gewesen sein, die die Produktionen der Weimarer, Jenaer, Berliner Literaten und Philosophen trugen.37 Die Geisterkunde selbst scheint schon unmittelbar nach Erscheinen heftige Kontroversen ausgelöst zu haben: Noch im selben Jahre verbietet sie der König von Württemberg, ebenso der Rat von Basel, der ein Gutachten seiner Geistlichkeit einholt, das negativ ausfällt – man war offenbar in Basel noch aufgeklärt. Schon 1809 antwortet er darauf mit seiner Apologie der Theorie der Geisterkunde. Veranlaßt durch ein über dieselbe abgefaßtes Gutachten des hochwürdigen geistlichen Ministeriums zu Basel, Nürnberg.
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Der Gang der Argumentation
Die Existenz einer Geisterwelt nachzuweisen, ist für Jung-Stilling nur Mittel, nicht Zweck: Die Aussagen über sie sollen die wörtliche Wahrheit der Bibel bestätigen, die im Laufe des Jahrhunderts unter dem Siegeszug der Naturwissenschaften und der aufklärerischen Bibelkritik gelitten hatte – auch für die aufgeklärte protestantische Geistlichkeit ist die Bibel mehr oder minder zur orientalisch-bilderreichen Einkleidung moralischer Wahrheiten geworden, was er bitter beklagt. Er interpretiert die impliziten Folgen der Wissenschaftsgeschichte für die Religion durchaus hellsichtig: In dem, was er das »mechanische System« nennt, ist in der Tat kein Platz für eine wörtlich genommene Bibel, und was von ihr bleibt, ist, außer einer explizit nie angetasteten Moral,38 allenfalls ein abstrakter Gott, der sich, wie bei Kant, allein durch die Negation aller Beschränkungen der menschlichen Fähigkeiten definiert. Kant und Fichte kommen denn auch in Atheismusverdacht; aber auch bei Schelling vor seiner Konversion zum Katholizismus, dem etwa Ritter in den Fragmenten ebenfalls Atheismus unterstellt (Bd. II, S. 179), und bei Hegel ist Gott nur eine solche abstrakte Denkgröße ohne Merkmale, auf die denn schließlich ein Autor wie Schopenhauer gänzlich verzichten kann, was freilich atypisch bleibt. Gegeben ist also ein etabliertes Wissenschaftssystem auf der einen, der Wille, im Interesse der Bibel ein okkultes System zu beweisen, auf der anderen Seite. Von
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So bemerkt Bergk 1799 (Anm. 35): »Jungs Schriften verrathen eine lebhafte Einbildungskraft, viel Kenntnis des Menschen, aber nur zu oft keinen Geschmack. Er ist Schwärmer und frommer Mystiker, und seine Schriften gewähren uns daher [!] kein reines Vergnügen.« (S. 292) Zum Publikum der späteren Romane »dieses frommen Biedermannes« behauptet Ludwig Wachler in den Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1818, Bd. II, S. 281: »Wenigen Stillen im Lande [= Pietisten, M.T.] dürften die Gebilde einer üppig fruchtbaren religiösen Phantasie zusagen«. Deren Rechtfertigung, möglichst unabhängig von allen metaphysischen Theorien, gilt das ungeteilte Interesse der philosophischen Zeitgenossen; unentwegt versuchen sie, Recht oder Moral allein aus der ›Vernunft‹ oder aus der ›Natur‹ zu begründen – Kants Kritik der praktischen Vernunft ist nur der bekannteste Fall.
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der Goethezeit bis heute kann der Nachweis des Okkulten (oder anderer abstruser Systeme – man vergleiche den gewissen Däniken oder die Freunde des Parapsychologischen) in einer für die ›Gebildeten‹ akzeptablen Argumentation aber nur mehr geführt werden, wenn man die Wissenschaft scheinbar nicht ablehnt, sondern mit ihren eigenen Methoden zu schlagen vorgibt: Aller anspruchsvolle Irrationalismus modelliert sich seitdem nach dem Vorbilde seines Gegners und strebt eine pseudowissenschaftliche Struktur an. Mit den Mitteln der Wissenschaft soll und muß also die Möglichkeit der Geisterwelt nachgewiesen und ihr Ort im System der Realität gefunden werden; diesen Schritt unternimmt Jung-Stilling in seinen beiden ersten Teilen, während in den folgenden Teilen der Beweis der Wirklichkeit verschiedener okkulter Phänomene angestrebt wird. Jung-Stillings Einfall, den er schon im Heimweh skizziert hatte, ist so einfach wie genial. Kants Kritik der reinen Vernunft (1781), die Jung-Stilling laut Autobiographie 1788 gelesen hat, hatte versucht, Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu bestimmen, ein Programm, das Kant schon in der Schrift gegen Swedenborg 1766 entworfen hatte. Womit Kant aber den Okkultismus abwehren wollte, das wird bei Jung-Stilling die Möglichkeit seiner Begründung: Die Struktur der Realität, die das mechanische System entwirft, sei an die Begrenzungen des menschlichen Denkens gebunden, an die Gott, der durch ihre Negation Definierte, nicht gebunden sei – es könne daher Welten jenseits unseres Vorstellungsvermögen geben, in denen auch die Bibel wörtlich wahr sei. Soweit hätte Kant wohl zugestimmt; doch folgerte er, daß solche eventuellen Welten eben deshalb für uns unerkennbar seien: Selbst wenn es sie gäbe, so wären sie doch nicht wahrnehmbar. Jung-Stilling muß also ein weiteres Problem lösen, damit die angenommene jenseitige Welt wenigstens unter bestimmten Bedingungen auch im Diesseits wahrgenommen werden kann: Nachdem die Möglichkeit ihrer Existenz gezeigt ist, muß die Möglichkeit ihrer Wahrnehmbarkeit, falls sie existiert, gezeigt werden, bevor er seine Zeugen für ihre Wirklichkeit beschwören kann. Denn anderenfalls würden diese als »Kandidaten des Hospitals« (Kant 1766) abgefertigt werden, wie etwa sein Garant Swedenborg, den z.B. auch Heinroth als an ›Dämonomanie‹ leidenden Geisteskranken abtut.39 Alle anthropologischen Theorien kennen als einen gern in Wahnsinn übergehenden psychologischen Typ den ›Schwärmer‹,40 der – zumeist optische, aber auch gelegentlich
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Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens. Zwey Theile Leipzig 1818, Bd. I, S. 292. Auch Jung-Stilling bleibt dabei nicht ungeschoren; Heinroth bemerkt: »Eine dieser Krankheit sehr verwandte Stimmung liegt wohl auch Jung-Stillings Geisterlehre zum Grunde« (ebd., S. 308). Zur Korrelation von ›Wahnsinn‹ und ›Schwärmerei‹ vgl. etwa: Meister 1775 (Anm. 4), Bd. I, S. 38; Johann G. E. Maaß: Versuch über die Einbildungskraft. Halle 1792, S. 264f.; Karl Friedrich Pockels: Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntnis, besonders in Rücksicht unserer moralischen Natur. 2 Bde. Berlin 1788, hier Bd. I, S. 40; Ders.: Neue Beiträge zur Bereicherung der Menschenkunde überhaupt und der Erfahrungsseelenlehre insbesondere. Ein Buch für Gelehrte und Ungelehrte. Hamburg 1798, S. 51; Johann Christian Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszer-
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akustische – Halluzinationen als Realität außerhalb seiner selbst wahrnimmt und also, wieder mit den Worten Kants von 1766, ein »Blendwerk seiner Einbildung außer sich versetzt«;41 darunter sind immer auch ›Geisterseher« – ein bemerkenswert häufiges Lexem der Epoche, das gern deutlich negative Konnotationen trägt. Diese Unglücklichen würden heute als Paranoiker klassifiziert werden und ebenfalls in einer geschlossenen Anstalt landen. Jung-Stilling benützt also eine weitere gängige – wenn auch in ihrer Wissenschaftlichkeit umstrittene – Theorie der Epoche, die biologisch-psychologische Theorie des Magnetismus, in deren Rahmen man auch Weissagungen über ferne Orte oder ferne Zeiten und dergleichen beobachtet haben will. Mindestens für einen – gar nicht kleinen – Teil der Zeitgenossen handelt es sich hier um gesicherte Befunde. Für ihre Anhänger demonstriert die Theorie die Existenz einer mit geheimnisvollen Kräften begabten Seele. In der Literaturwissenschaft ist das Mißverständnis verbreitet, es handle sich bei solchen Goethezeit-Theorien um ahnungsvolle Vorwegnahmen späterer Psychologien des Unbewußt-Irrationalen. Es geht in ihnen aber gar nicht um die Seele als psychologische Größe, sondern um sie als metaphysische – nicht um Psychologie, sondern um Pneumatologie.42 (So setzt etwa Johann Joachim Eschenburg in seinem Lehrbuch der Wissenschaftskunde. Ein Grundriß enzyklopädischer Vorlesungen, Berlin, Stettin 1792, S. 100 f., Pneumatologie und Psychologie in Opposition.) So werden auch in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (ab 1783) übersinnliche Begebenheiten berichtet, die Jung-Stilling eifrig zitiert.43 Womit man sich befaßt, ist der ontologische Status der Seele als Entität, ihre nach außen manifestierbaren Fähigkeiten, nicht die Vorgänge in ihr. Die zeitgenössischen Theorien, die, ob explizit so genannt oder nicht, Psychologien sind, sind ausgesprochen rationalistisch: Sie sind zwar nicht in derselben Weise wie der Magnetismus und seine Verwandten offen zum Jenseitigen, in ihnen spielen aber auch unbewußt-unbekannte Vorgänge der Psyche keine theoretische Rolle; das gilt sogar für die vielen Publikationen zum Thema des Wahnsinns, die, ob bei Kant,
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rüttungen. Halle 1803, S. 281; Friedrich Wilhelm Daniel Snell: Lehrbuch für den ersten Unterricht in der Philosophie. 2 Bde. Gießen 1794. Bd. I, S. 46 (ich zitiere nach der 5., verb. Aufl. von 1810); Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. III. Bd., 1. Stück (1785), S. 98 (Pockels); V. Bd., 3. Stück (1787), S. 28 (Jenisch). Zitiert nach: Immanuel Kant: Werke. Theorie-Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1968, Bd. II, S. 954. So beschwert sich etwa Teller über die Diskussionen im Falle von W++L: »Ich wundre mich gar sehr, daß man bei dieser Gelegenheit so viel von Psychologie und Anthropologie geredet, und der Pneumatologie mit keinem Worte gedacht hat!!?« (Johann Friedrich Teller: Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unsrigen nach dem Tode, und Geistererscheinungen überhaupt. Meine Überzeugung nach Crusiusischen Grundsätzen. Zeitz 1806, S. 16). Er ignoriert dabei aber alle Beiträge, die den Okkultismus ablehnen, wie sie schon 1785 (III. Bd., 3. Stück, S. 81–99) durch Pockels und ab da regelmäßig auftreten. 1787 (V. Bd., 3. Stück) wird sogar eine neue Rubrik »Beyträge zur Geschichte der Schwärmerey in unseren Tagen« im Magazin eingerichtet.
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Reil, Heinroth oder anderen, abgesehen von ihren moralistischen Bewertungen eher phänomenologisch-deskriptiv den beobachtbaren Sachverhalt beschreiben. Hier wird die alte Kontroverse zwischen Locke und Leibniz relevant, ob es nicht bewußte Vorstellungen geben könne. Die Frage ist in der Goethezeit noch offen und kann wohl auch mit den Denkmöglichkeiten dieser Kultur nicht befriedigend und definitiv entschieden werden. Wer jedenfalls die radikale Version der rationalistischen Psychologie wählt und wie Jung-Stilling die Möglichkeit unbewußter Vorstellungen bezweifelt, der kann in der Tat sehr schnell auf die psychologische Unerklärbarkeit vieler Phänomene folgern; wer hingegen unbewußte Ideen annimmt, der ist damit zugleich im Besitz eines mindestens potentiell sehr starken Erklärungsinstruments.44 Wichtig wird diese Annahme z.B. für die Assoziationspsychologie der Zeit: Die ›Erklärung‹ der ›Ideenassoziation‹ kommt kaum ohne diese Annahme aus;45 die Assoziationstheorien sind aber ihrerseits wiederum eines der stärksten Mittel der Zeit zur Erklärung von Geistererscheinungen als Halluzinationen. Nur die Annahme unbewußter Vorstellungen ermöglicht aber auch die Entwicklung der Idee der self-fulfilling prophecy, die es etwa erlaubt, Prognosen des eigenen Todes und ähnliche okkulte Fälle zu erklären. Am nächsten scheinen Moritz und Pockels der Idee dieser Art von Prophezeiung gekommen zu sein.46 Eben um die Seele als jene metaphysische Entität geht es aber Jung-Stilling. Über die Weissagungen der Magnetisierten, die er als bewiesen annimmt, kommt er freilich auch auf diese Weise nicht hinaus: Er muß sich also zu ihrer Erklärung eine für seine Zwecke geeignete Theorie schaffen, die derart strukturiert ist, daß ihre Annahmen nicht nur diese Möglichkeit von Weissagungen erklären, sondern daß aus ihnen zusätzlich auch die Beobachtbarkeit von Geistererscheinungen folgt. Das heißt, der zweite Schritt, der Nachweis der Wahrnehmbarkeit von Geistern, gelingt nicht mehr ebenso gut wie der erste; denn aus dem Magnetismus kann er, genau genommen, nicht gefolgert werden – hier macht Jung-Stilling also einen gut verschleierten logischen Sprung, indem er die Möglichkeit der Wahrnehmung plötzlich als bewiesen behandelt und sie durch seine Beispiele demonstriert, während er doch nur Hypothesen aufgestellt hat, aus denen diese Möglichkeit zwar folgen würde, wenn diese Hypothesen ihrerseits bewiesen werden könnten. Die umfängliche Menge von Hypothesen, die er an dieser Stelle einführt, ist aber nicht in dem Sinne legitimiert, daß diese Hypothesen die einzig möglichen wären, um den als solchen angenommenen Sachverhalt magnetischer Ahnungen zu erklären. Genau die immerhin denkbare psychologische Hypothesenbildung, die die Fähig-
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Unbewußte Vorstellungen lehnen z.B. Justus Christian Hennings: Von Geistern und Geistersehern. Herausgegeben vom Verfasser der Abhandlung von den Ahnungen und Visionen. Leipzig 1780, S. 5, oder Reil 1803 (Anm. 40), S. 115, ab, während sich etwa Maaß 1792 (Anm. 40), S. 64, dafür ausspricht. Die stärkste und ausgebauteste der mir bekannten Assoziationstheorien der Goethezeit ist denn auch das zitierte Werk von Maaß. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. IV. Bd., 1. Stück (1786), S. 20; V. Bd., 1. Stück (1787), S. 6.
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keiten der Somnambulen unbekannten psychischen Strukturen zuschreibt, lehnt er explizit ab und muß sie ablehnen: Er erklärt sie für ›wunderbarer‹ als das okkultistische Hypothesensystem, dessen er sich bedient. Der Psyche wird nicht viel an Geheimnis zugetraut, wohl aber dem Pneuma; das Geheimnis wird in dieser Kultur eher außerhalb der Person als in ihr vermutet. Diese Argumentation entlastet einerseits das Individuum: Nicht in ihm geht das Unheimliche vor, sondern es kommt von außen; dem ist etwa auch die goethezeitliche Revolutionstheorie homolog, die eher das Wirken einer Geheimgesellschaft als eine Genese aus der Sozialstruktur selbst annimmt; über eine solche Verschwörungstheorie hat ja Jung-Stilling selbst in der Autobiographie geheimnisvoll orakelt. Auch in den Geisterseher- und Geheimbundromanen kommt die Bedrohung der Person regelmäßig von außen. Zum zweiten aber liegt die Stärke des Arguments darin, daß es die traditionelle, dem kulturellen Wissen angehörige Hypothese der Geisterwelt, die zudem durch die Religion abgesichert ist, gegen die neue Hypothese ausspielt: Die Goethezeit arbeitet aber generell lieber mit originellen Kombinationen aus vorgegebenen Elementen, als daß sie Elemente neu erfände. Hier ist der Rekurs auf eine bei JungStilling generelle Argumentationsstruktur nötig, bei der er geschickt eine epochale Tendenz ausnützt. Es handelt sich um eine allgemeine Neigung der zeitgenössischen Theoriebildung, Gesamtsysteme des kulturellen Wissens zu entwerfen, die das Wissen über heterogenste Realitätsbereiche zu integrieren versuchen; Beispiele dafür geben etwa Kant, Fichte, Schelling, Ritter, Goethe, Hegel, Schopenhauer und viele andere auf je verschiedene Weise ab. Schon Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769 skizziert ein solches Totalprogramm. In diesen Wissenssummen muß idealiter alles vorkommen, was der Kultur bis dato jeweils relevant war, und möglichst alles mit jedem korreliert werden. Jung-Stillings Theorie folgt dieser Tendenz: Er arbeitet mit dem physikalisch-astronomischen Wissen, mit der Erkenntnistheorie Kants, mit den biologisch-psychologischen Theorien, mit einer bestimmten Theologie, und vermittelt den Eindruck, diese verschiedenen kulturellen Wissensmengen als untereinander vereinbar und sinnvoll miteinander korrelierbar erscheinen zu lassen. Zudem werden von ihm ungemein viele epochale Denkstrukturen, Theoreme und Probleme eingearbeitet und verknüpft. Er mobilisiert alle Kategorien, über deren Relevanz ein kultureller Konsens nicht nur in den wissenschaftlichen, pseudowissenschaftlichen, philosophischen Theorien, sondern auch in der Literatur besteht. So sind Raum und Zeit als grundsätzlich erkenntnistheoretische Kategorien anerkannt, so wird Erkenntnis gern an das Sehen gebunden und selbst bei weitgehender Abstraktion vom Wahrnehmbaren noch in einer optischen Terminologie ausgedrückt – etwa als ›Anschauung‹, allenfalls als ›intellektuelle‹ von der ›sinnlichen‹ unterschieden; es werden auch theoretisch-fiktive Größen gedacht, die allenfalls einem mystischen ›Schauen‹ zugänglich sind, wie etwa das, was die Epoche ›Symbol‹ oder ›Idee‹ nennt.47 Wenn dort Nicht-
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Vgl. dazu Tzvetan Todorov: Théories du symbole. Paris 1977; Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der
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Sichtbares sichtbar wird, und zwar in einem Akt, der von Goethe, Schelling, Solger, Hegel, Schopenhauer übereinstimmend als ›Offenbarung‹ klassifiziert wird, warum sollte man dann nicht auch Geister sehen können, die, als jenseitige Größen, für sich ›Offenbarung‹ viel wörtlicher beanspruchen können? Zu den zentralen anthropologischen Kategorien der Epoche gehört auch die der ›Einbildung(skraft)‹, deren Leistungen und Probleme unablässig diskutiert oder dargestellt werden; ›Bilder‹ absenter Größen werden auch sonst von Figuren der Literatur außerhalb ihrer in enthusiastischen Zuständen wahrgenommen, so z.B. in der Lyrik des frühen Goethe48 und anderer49 das Bild der abwesenden Geliebten. Der ganze Problemkomplex ist schon am Anfang der Epoche, etwa mit Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769 oder Johann August Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin 1776, gegeben. An dieses Problem schließt sich die zeitgenössische Typologie ›Schwärmer‹ – ›Geisterseher‹ – ›Wahnsinniger‹ als verstärkte Ausprägung dieser Fähigkeit zu Halluzinationen an, für die auch physiologische Erklärungen gesucht werden (vgl. Johannes Müller: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum. Koblenz 1826). Immer wieder geht es darum, etwas zu sehen, und darum, ob das Gesehene Realität hat. Hier steht zugleich immer die Relation von ›Innen‹ und ›Außen‹ in Frage: Was gehört zum Innen, was zum Außen, und wo ist die Grenze der Person? Wie der Okkultist im Extremfall jede Halluzination für eine Realität außerhalb seiner hält, hält der erkenntnistheoretische Solipsist, auch eine charakteristische Figur der Epoche, jede Wahrnehmung für ein Produkt seiner Einbildungskraft; die zeitgenössischen Wahnsinnstypologien kennen ebenfalls beide Fälle. Im Magnetismus wird die Grenze der Person in doppelter Hinsicht als gefährdet erfahren: Der Magnetiseur kann vielleicht in die Person eingreifen, der/die Magnetisierte vielleicht über die Grenzen der Person hinaus wirken. Im Okkultismus ist diese Bedrohung verschärft: Bei Jung-Stilling wird ebenso die Einwirkung der Geisterwelt auf die Psyche wie die Möglichkeit, sich aus seinem Körper an andere Orte zu versetzen, postuliert. Zu den zentralen anthropologischen Theoremen gehört es auch, den Menschen als Größe zwischen zwei ›Welten‹ zu
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deutschen Romantik. Kopenhagen 1963; Vf.: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978; Ders.: »Allegorie« und »Symbol« im Denksystem der Goethezeit (1770–1830). In: Walter Haug (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979, S. 642–665; Peter Kobbe: Symbol. In: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte. Begr. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser. 5 Bde. Berlin, New York 1979– 1988. Bd. IV, S. 308–333. Vgl. Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Stuttgart 1975. Teil I. Das Thema begegnet selbst in den theoretischen Anthropologien, wo etwa Johann Erich von Berger: Grundzüge der Anthropologie und Psychologie mit besonderer Rücksicht auf die Erkenntniß- und Denklehre. Altona 1824, S. 405 oder Heinroth 1818 (Anm. 39), Bd. I, S. 291, behaupten, daß dem »Jüngling« das Bild der Geliebten überall vorschwebe.
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beschreiben: zwischen Tier und Gott, zwischen animalischen und moralischen Wesen, zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Denkbaren, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits usw.; diese Oppositionen lassen sich zudem schon im Sprachgebrauch durch ein und dasselbe Begriffspaar ›Sinnenwelt‹ vs. ›Geisterwelt‹, ausdrücken, d.h, schon sprachlich gleitet man leicht von der einen zur anderen inhaltlichen Besetzung des Modells der zwei Welten.50 Epochale Annahme ist auch der ›Hang zum Wunderbaren‹ als anthropologische Invariante, die der Aufklärer bedauernd, Jung-Stilling triumphierend vermerkt. Denn wenn dieser Hang universal ist, dann fragt sich, wie er sich erklärt, worauf Jung-Stilling mit der Realität von Geistererscheinungen antworten kann, während die Aufgekärten ihn als irreduzible Gegebenheit hinnehmen müssen. Der Begriff des ›Wunderbaren‹ selbst ist theoretisch wie literarisch ein epochales Diskussionsthema: Er kann interpretiert werden als übernatürlicher Eingriff in die physischen Gesetze durch dazu befähigte irdische oder außerirdische Individuen oder als Ergebnis der Anwendung noch unbekannter Naturgesetze.51 In Eckartshausen 1788ff. wird konstant mit dieser Ambiguität des Begriffes gespielt, und es bleibt bei ihm letztlich offen, ob es wirklich Magie im ersteren Sinne gibt oder ob alle Magie im letzteren Sinne rational zu erklären ist. Zu den erkenntnistheoretischen Topoi dieser Kultur gehört jedenfalls die Annahme, daß die Zunahme des Naturwissens nur den Umfang des Nicht-Wissens deutlicher gemacht habe: So argumentiert Wieland 1781, daß gerade die Menge der Entdeckungen »auch unsere Begriffe vom Wunderbaren und Natürlichen, Möglichen und Unmöglichen eine merkliche Veränderung erleiden« ließ.52 Jenseits des Gewußten ist für diese Kultur immer der Ort möglicher Geheimnisse. Während die Helden der Romane des Alltagslebens im bekannten Diesseits, in einem begrenzten Innen verbleiben, brechen die reisenden Helden der Bildungs-, Geisterseher-, Geheimbundromane immer nach einem unspezifizierten und unbekannten ›Jenseits‹ außerhalb der Grenzen des hic et nunc auf, das zwar auch topographisch, aber nicht nur topographisch interpretiert wird. Seine nicht-
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›Geist‹ ist überhaupt eines der vieldeutigsten Lexeme dieser Kultur: Sie kennt ihn als Weingeist, als medizinische Hypothese eines Nervengeistes, als die Denkart eines Buches oder Menschen, als Geist der Zeit, als die intellektuelle Fähigkeit des Menschen, als Denkvermögen, als transzendentes Prinzip im Menschen, als jenseitige metaphysische Wesenheit. Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig. 2. Aufl. 1793–1801. Z.B. Karl von Eckartshausen: Mistische Nächte, oder der Schlüssel zu den Geheimnissen des Wunderbaren. Ein Nachtrag zu den Aufschlüssen über Magie. München 1791, S. 18: »Viele Sachen scheinen uns oft unmöglich; allein nur relativ unmöglich nach unseren dermaligen Kenntnissen.« Ähnlich in: Eckartshausen 1788–1792 (Anm. 8), Bd. I, S. 12, oder d’Holbach 1770 (Anm. 10), S. 60: »Das, was wir als Wunder, als übernatürliche Wirkungen bezeichnen, sind Naturerscheinungen, deren Prinzipien und Wirkungsart wir nicht kennen, [...].« Christoph Martin Wieland: Über den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben. In: Ders.: Sämtliche Werke. Leipzig 1853–1856, Bd. XXX, S. 97.
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topographische Komponente muß nur metaphysisch interpretiert werden, und schon wird aus dem Helden des Bildungsromans der des Geisterseherromans. Das wissenschaftlich schon Entdeckte ist noch nicht Gewohnheit, sondern noch angestauntes Wunder: Die Leistung der Wissenschaft überrascht noch wie die der Magie.53 Vorgetäuschte Geistererscheinungen werden in der Literatur denn etwa auch in ihrer Auflösung als eine komplexe Technologie beschrieben, die auf mehreren physikalischen Theorien beruht. Von Schillers Der Geisterseher 1789 über Tschinks Geschichte eines Geistersehers (1790–1793), über Jung-Stillings Heimweh, über viele andere, bis zu Tiecks Die Wundersüchtigen 1831 werden diese Verfahren immer wieder demonstriert; Eckartshausens Aufschlüsse beschreiben, wie man dabei technisch zu Werke gehen muß.54 Wenn die Wissenschaft noch wie Magie wahrgenommen wird, dann kann vielleicht auch hinter der Magie Wissenschaft stehen. Das entdeckte Geheimnis ist einem Versprechen weiterer Geheimnisse äquivalent: Da das Mögliche noch vor kurzem unglaublich schien, könnte das Unglaubliche möglich sein. Die Faszination eines möglichen, geheimen, höheren Wissens durchzieht die soziale Praxis wie die Literatur. Zur Ontologie der Goethezeit gehört der horror vacui: Sie duldet keine Leere zwischen zwei Klassen in einer Reihe von Sachverhalten. Die Realität wird als Kontinuum konstruiert, wie es die Taxonomien der Naturgeschichte seit Linné mit den botanischen und zoologischen Phänomenen tun.55 Nun bildet zwar die ganze
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»Die Aufklärung dekulturierte die Wissenschaft erneut. In diesem Augenblick der Geschichte wurde die Wissenschaft jedoch selbst ein Idol des Marktplatzes: ein nichtobjektives Stück kultureller Magie.« (Georges Devereux: Ethnopsychoanalyse. Frankfurt a.M. 1978, S. 277). Solche Angaben machen auch Hennings, Mendelssohn und Eberhard. Vgl. dazu Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Frankfurt a.M. 1978, S. 41–47. Voltaire lehnt z.B. im Dictionnaire philosophique die Idee der »chaîne des êtres créés« ab; auch der Naturwissenschaftler Johann Friedrich Blumenbach bestreitet 1789 eine Stufenfolge und einen Übergang zwischen dem Anorganischen und dem Organischen (Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb. Göttingen 21791, S. 79). Gellert hingegen vertritt folgendes Modell: »Von den Thieren steigt die Vollkommenheit auf unzähligen Stufen bis zum Menschen, und von ihm nach den Lehren der Offenbarungen bis zu den höchsten Ordnungen der Geister, Engel und Erzengel.« (Christian Fürchtegott Gellerts Moralische Vorlesungen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von Johann Adolf Schlegeln und Gottlieb Leberecht Heyern. o. O. 21771, Bd. II., S. 436). Solche Stufen der Geister zwischen dem Menschen und Gott behaupten etwa auch Hennings 1780 (Anm. 44), S. 339f. und 370ff., und Eckartshausen 1788 (Anm. 8), Bd. I, S. 41ff., 91. Kurios ist die Argumentation von Teller 1806 (Anm. 42), S. 149: »Denn wenn auch für das Daseyn solcher Mittelgeister zwischen dem höchsten Wesen und den menschlichen Seelen der unphilosophische Beweis nicht zureicht, daß außer dem der graduale und perpendiculare Abstand endlicher Geister von dem menschlichen durch einen ganz geisterleeren, oder von edleren Geistern leeren Raum zu groß seyn würde, weil dieser Abstand kein gradualer und stufenartiger, sondern ein generischer ist; so fehlt es doch dafür nicht an andern wahrscheinlichen und meines Dafürhaltens zureichenden Beweisen [für diese mittlere Geisterwelt, M.T.].«
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Natur bis herauf zum Menschen in der Sicht dieser Kultur ein solches Kontinuum, aber zwischen Mensch und Gott liegt eine ungeheure Leere: Der Abstand zwischen diesen beiden Klassen entspricht nicht dem Abstand, der sonst in dieser Taxonomie der Realität angenommen wird. Sofern Gott und Mensch in derselben Ebene der Realität liegen, erfordert dieses Denken geradezu logisch die Annahme von Geistern – und sofern Gott auch nur eines seiner traditionellen anthropomorphen Merkmale behält, befindet er sich in ein und derselben Realität mit dem Menschen. Kant und die Seinen kommen ohne Geister aus, nicht zuletzt, weil sie Gott auf eine undenkbar-andersartige Ebene als totale Negation alles aus der Realität des Menschen Bekannten verlagern: Er gehört nicht mehr zur zu beschreibenden Welt und ist das ganz Fremde außerhalb ihrer.56 Wenn und insoweit nun also das Modell der kontinuierlichen Stufenfolge der Wesen angenommen wird, das – und zwar nicht zuletzt von einer seiner zentralen Stützen her, der ›Naturgeschichte‹ selbst – allmählich zum Problem wird,57 dann muß dieser leere Raum zwischen Gott und Mensch gefüllt werden. Dann wiederum sind angesichts der Größe des Abstands verschiedene Klassen von Wesen erforderlich; die eine Klasse ›Geist‹ muß ihrerseits in eine Stufenfolge verschiedener – etwa nach dem Grade ihrer Perfektion geordneter – Geisterklassen zerlegt werden. So ergibt sich etwa eine Skala, die von den – ihrerseits wiederum nach dem auf Erden erlangten Grade der Perfektion geordneten – Geistern der Verstorbenen bis zu höheren Arten wie Engeln usw. reicht. Denn diese Taxonomie verlangt gleiche Abstände zwischen den benachbarten Klassen. Eine solche Geisterhackordnung scheint schon Swedenborg gehabt zu haben; Jung-Stilling und Eckartshausen nehmen sie jedenfalls an. Dabei wird aber zugleich ein bemerkenswertes neues Element eingeführt, das die offizielle Theologie jedenfalls nicht gekannt zu haben scheint: Es ist die Extrapolation des goethezeitlichen Bildungspostulats vom Diesseits auf das Jenseits. Die für das irdische Leben angenommene Norm der Fortbildung und Vervollkommnung des Menschen, sowohl als Individuum wie als Gattung,58 die nur je nach ideologischer Position verschieden aufgefüllt wird, wird auch zur Norm im Jenseits: Sie macht hier wie dort den Zweck der Existenz aus. Der Übergang ins Jenseits bedeutet also auch insofern keine Ende, als das Individuum mit seinem Tode nicht schon ein für
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So klagt Christoph Levin Heinrich Dedekind: Die Zeichen der Zeit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde. Wolfenbüttel 1798/99, Bd. I, S. 51f., daß nicht wenige Wissenschaftler argumentieren würden, die »Lehre von dem Daseyn Gottes gehöre nicht in das Gebiet des Wissens«. Lepenies 1978 (Anm. 55), S. 45. Diese Norm liegt bekanntlich allen Geschichtsphilosophien der Zeit, den ›aufklärerischen‹ wie den ›idealistischen‹, zugrunde. Vgl. z.B. Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris 1795. Ebenso: Daniel Jenisch: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. 3 Bde. und ein Nachtragsbd. Berlin 1800/01 oder Fichtes schon genannte Grundzüge oder Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807.
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allemal klassifiziert wird, sondern seinen – hier nicht nur moralisch-intellektuellen, sondern auch sozialen! – Aufstieg zu größerer Nähe zu Gott aus eigener Kraft fortsetzen kann. Wiederum handelt es sich nicht nur um einen Einfall der Okkultisten, sondern um einen weiter verbreiteten Gedankengang. In den Versuchen, aus ›Natur‹ und ›Vernunft‹ die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, findet sich in der Epoche auch die Überlegung, daß es dem a priori postulierten ›Sinn‹ und ›Zweck‹, den das menschliche Leben haben müsse, zuwiderlaufe, wenn das menschliche Leben ende, bevor dieses Ziel, das eben in der Bildung und Selbstvervollkommnung vermutet wird, erreicht sei. Nun aber, argumentiert man, gelte, daß nicht nur manches Leben ende, ehe das Individuum die ihm maximal mögliche Vollkommenheit erreicht habe, sondern auch, daß das Individuum immer sterbe, bevor es, selbst bei größtem Bemühen, seine Vervollkommnungsfähigkeit ausgeschöpft habe, selbst wenn es nicht durch ungünstige Sozialbedingungen behindert werde, womit zugleich Bildung des Individuums und überindividueller Bildungsweg der Gattung in Einklang gebracht werden können. Denn da ein Fortschritt des Menschengeschlechts angenommen wird, ist ja der benachteiligt, der früher lebt und somit ungünstigere Perfektionschancen antrifft. Die Unsterblichkeit folgt dann also aus der Unabgeschlossenheit der Bildung auf Erden, die einer jenseitigen Fortsetzung bedarf.59 Da nun die Forderung einer Geisterhierarchie logisch aus dem Denksystem folgt, wenn man seine Prämissen akzeptiert hat, kann Jung-Stilling ein gravierendes Problem lösen. In den Berichten seiner Garanten treten allzu deutlich höchst alberne Geister auf, da natürlich der Intelligenzquotient der Geister nicht höher als der der Geisterseher sein kann. Entweder müsste er also aufgrund dieser Berichte eine gewisse Dummheit der Geisterwelt annehmen oder an seinen Zeugen zweifeln – beides ist unannehmbar. Er gerät also in ein Dilemma zwischen zwei Bedürfnissen, das die Sozialpsychologie als Dissonanzproblem kennt. Er löst es einesteils mit der Hypothese der Stufenfolge: Solche Geister sind niedere, aus der unmittelbar an den Menschen angrenzenden Klasse. Er löst es andererseits durch die weitere Hypothese, nur solche niederen Geister erschienen überhaupt dem Menschen. Überhaupt verändert sich seine Argumentationsstruktur, sobald er einmal die Möglichkeit der Geister und ihrer Wahrnehmbarkeit theoretisch gesichert glaubt: Ab jetzt gelten nicht nur alle Berichte als wahr, wobei die Rechtfertigungen dieser Annahme deutlich zurücktreten, sondern er bricht auch zu den unbefangensten Hypothesen über die Geisterwelt und ihre Organisation auf, wobei er sogar bereit ist, von den ›symbolischen Büchern‹ des Protestantismus abzuweichen, sofern nur die Übereinstimmung mit seiner Interpretation der Bibel gesichert ist (vgl. das Beispiel Hades usw.). In diesem Umgang mit dem Leser manifestiert sich eine implizite psychologische Annahme, die auch für die Praxis der Magier in der Realität wie in der Literatur der Epoche zu gelten scheint: Je weiter der Rezipient
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Exemplarisch führt Sintenis’ Elpizon 1795, 1804/05 (Anm. 26) diese Argumentation vor, die natürlich auch Gegner findet.
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gefolgt ist, desto mehr kann ihm zugemutet werden. Die wesentliche Grenze, an die das Opfer sorgfaltig herangeführt werden muß, um sich dann zu ihrer Überschreitung bewegen zu lassen, ist somit in dieser Kultur eindeutig die Annahme der Möglichkeit von Geisterkontakten, was sich auch darin bestätigt, daß es das ist, was Autoren wie Kant, Wieland und andere bekämpfen, nicht aber die Möglichkeit der Existenz einer Geisterwelt. Nicht der Konflikt mit der offiziellen Religion, in den sie die Bestreitung von Geistern brächte, scheint ausschlaggebend für die Wahl des Streitpunktes, sondern der besondere Status dieser Grenze: Jenseits ihrer können zwar sehr verschiedene okkulte Theorien und magische Praktiken postuliert werden, aber deren Unterschiede scheinen als sekundär gegenüber dieser ihrer allgemeinen Basis zu gelten. Sie ist es auch, die in der Geisterseherliteratur immer wieder diskutiert wird. Freilich hat Jung-Stilling jetzt erst allenfalls die Möglichkeit, nicht aber die Wirklichkeit einer Geisterwelt bewiesen. Diesen zweiten Schritt versucht er durch die Berufung auf seine Zeugen zu leisten. Doch können diese allenfalls nur belegen, daß etwas ›Außergewöhnliches‹, gar ›Wunderbares‹ stattgefunden habe, ihm aber nicht den Schritt der Rechtfertigung seiner Interpretation des Phänomens als Eingriff aus der Geisterwelt ersparen. So bleibt es also letztlich beim Schluß von der – wie es scheint, nur selten und nur von Atheisten60 bestrittenen – logischen Möglichkeit auf die Wirklichkeit, dem klassischen Fehlschluß des ab posse ad esse, der in dieser Epoche auch in anderen Kontexten ebenso oft vollzogen wie kritisiert wird; und nicht selten kritisiert ihn ein Autor in einem Bereich, der ihn in einem anderen ungescheut selbst vollzieht. Er tritt sowohl in naturgeschichtlichen61 wie in religionsphilosophischen Kontexten geradezu gewohnheitsmäßig auf. Nicht nur die Folgerung der Unsterblichkeit der Seele aus der Unabgeschlossenheit der menschlichen Bildung ist von dieser Art, sondern auch alle Versuche, Gott aus ›Natur‹ und ›Vernunft‹ zu erweisen, sind es, wie z.B. Holbach62 dem englischen Theologen Clarke vorwirft; Kant wird dann nicht nur die Gottesbeweise kritisieren, sondern Gott auch nurmehr als Postulat der praktischen Vernunft, d.h. als für die Moral nützliche Größe setzen. Wie sehr aber der Argumentationstypus verbreitet ist, belegt etwa der Kant-›Schüler‹ Snell, der trotz Kant weiterhin Gott aus ›Natur‹ und ›Vernunft‹ folgern wird.63 Die kontinuierliche Taxonomie der Welt fordert auch, daß die Arten, Gattungen usw. zwar eine lückenlose Reihe bilden, aber doch deutlich von einander abge-
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Atheismus scheint sich im deutschsprachigen Gebiet, wenn man von Schopenhauer absieht, freilich nirgendwo explizit zu manifestieren; bekannt ist er natürlich aus englischen oder französischen Quellen. So hat der berühmte Buffon als Spielregel gesetzt: »Man darf nichts für unmöglich ansehen, man muß auf alles gefaßt sein und annehmen, daß alles, was sein kann, auch ist.« (Zitiert nach Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Hg. von Wolf Lepenies. Frankfurt a.M. 1979, S. 68). D’Holbach 1770 (Anm. 10), S. 395. Snell 1794 (Anm. 40), Bd. II, S. 120–138.
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grenzt sind. Die Grenzen benachbarter Klassen gelten als unüberschreitbar; Unsicherheit und Durchlässigkeit dieser Grenzen schaffen tabuisierte Überschneidungsklassen und lösen Angst aus: Solche Klassen stellen in der Literatur etwa Maschinen, die als Menschen gelten können, Wahnsinnige, die sich nicht mehr menschlich verhalten, Magier, die halb schon dem Geisterreich angehören, Wachsfiguren, die täuschend Leben simulieren usw. dar. Jung-Stillings Argumentation behält also auch hier die Grundprämissen des Denksystems bei. Denn der Kontakt des Menschen mit dem Geist gilt ihm erstens als nicht wünschenswert und darf nicht gesucht werden; er wird zweitens nur Personen zugeschrieben, die psychophysisch (Kranke: so etwa Hypochonder und Hysteriker) oder sozial (amoralische Gruppen: Totengräber usw.) Abweichungen von der Ordnung der Gattung sind – eher negative als positive Überschreitungen der menschlichen Grenzen. Noch Kerners Seherin wird ja von dieser Art sein. Daß sich die Geisterwelt nur in solchen Typen manifestieren kann, löst freilich zugleich hypothetisch ein weiteres fundamentales Problem. Denn einerseits bleibt der Einwand zu beantworten, warum Geister (noch heute) die Gewohnheit haben, niemals denen zu erscheinen, die sie leugnen; diese sind eben laut Jung-Stilling aufgrund ihrer psychophysischen Organisation nicht zum Kontakt mit der Geisterwelt geeignet. Andererseits muß er ja auch das Wissen seiner Zeitgenossen in die Theorie integrieren, daß gerade anerkannt psychopathische Personen gern am Geistersehen laborieren. Um seine Zeugen freilich nicht selbst als Tollhäusler abzuwerten, darf diese Krankheit sich nicht auf jene Fähigkeiten erstrecken, deren intakte Funktionsfähigkeit kulturell als Voraussetzung objektiver Realitätsprüfung gilt – besehen wir also seine Zeugen.
4.
Zeugen und Adressaten
Jung-Stilling fordert, die Wissenschaft dürfte seine Erscheinungen nicht a priori verwerfen, sondern habe sie ebenso wie andere Naturphänomene zu prüfen. Nun stößt solche Prüfung aber auf ein gravierendes Hindernis. Denn während die Phänomene des Magnetismus allenfalls in diesem Sinne prüfbar sind, wovon die Epoche großen Gebrauch gemacht hat, stellen die eigentlich okkulten Sachverhalte in der Regel singuläre Ereignisse dar, für die jede Prüfung durch den NichtBeteiligten immer schon zu spät kommt, weil sie nicht im Experiment wiederholt werden können; das Problem hat schon Wieland 1805 angemerkt. Nicht die Ereignisse, sondern nur die Erzählungen über sie stehen der Prüfung zur Verfügung; die Basler Geistlichkeit warf ihm denn auch vor, daß seine Belege nur auf Hörensagen beruhten. Es ist demnach für seine Theorie auch gleichgültig, ob die Ereignisse in der Gegenwart oder in der Vergangenheit stattfanden; von dieser Lizenz macht er reichlichen Gebrauch und verwendet auch Erzählungen über Ereignisse, deren Zeugen selbst schon tot sind. Schon in der Swedenborg-Kritik von 1766 hatte Kant pessimistisch prophezeit, daß in wenigen Jahren das nicht mehr überprüfbare Gerücht von Swedenborgs Wundertaten zur Gewißheit geworden sein werde,
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»wenn das Hörensagen zu einem förmlichen Beweise wird gereifet sein, und das ungelegene obzwar höchst nötige Verhör der Augenzeugen der einst unmöglich geworden sein wird«.64 Charakteristisch ist die – gern mehrfach – eingebettete Erzählung: Jung-Stilling erzählt, dass X erzählt, daß Y erlebt hat.65 Das System ist also weitgehend gegen jede denkbare Kritik immunisiert: Die Fakten selbst sind einer Untersuchung nicht zugänglich. Wo ein okkultes Phänomen wiederholt produziert wurde und somit unter Umständen untersucht werden konnte wie im Falle der betrügerischen Magier oder im unter 1. genannten Beispiel des Berliner Spuks, mochte sich das Phänomen als Betrug oder Selbsttäuschung erweisen: Doch kann kein Einzelfall das Hoffnungssystem des Okkultisten je widerlegen. Die Literatur – etwa Schillers oder Tschinks Geisterseher wie Tiecks Wundersüchtige – führt immer wieder vor, wie sogar bei aufgedecktem Betrug ein Rest bleibt, und die anfälligen realen Individuen wie Lavater bestätigen es: Vielleicht war doch nicht alles Betrug/Täuschung, oder: Wenn dieser schon ein Betrüger/Getäuschter war, so muß es jener doch nicht sein. Wenn 1000 Fälle unwahr sind, könnte doch der 1001. wahr sein. Das System ist somit für den Gläubigen nie zu widerlegen: Denn es arbeitet mit dem singulären Fall und lebt von der Hoffnung derer, die, laut Schillers Geisterseher, »mit der Kette entsprungen« sind. Jede Widerlegung kann nur einen singulären Fall widerlegen: Daß es neben wahren Erscheinungen sowohl Betrug als auch Selbsttäuschung gibt, räumen die JungStilling und Eckartshausen mit Vergnügen ein, weil gerade dadurch ihre Theorie immunisiert wird; die unwahre Erscheinung wird selbst zum Beleg der Theorie, indem sie in ihr schon vorgesehen ist und ihre Bedingungen diskutiert werden. Der Analyse bleiben also allenfalls die Erzählungen vom Ereignis, die Zeugen des Ereignisses und, falls diese nicht selbst berichten, die Vermittler der Erzählung, die sie publik machen oder Jung-Stilling zugehen lassen.66 Laut Jung-Stilling
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Kant 1968 (Anm. 41), S. 970. Mindestens in einem Falle erzählt er dabei eine schon definitiv falsifizierte Geschichte – die von Prof. Oeder (= § 217). Im vierten Teil der Volksmährchen der Deutschen (1782– 1786) hatte Johann Karl August Musäus (1735–1787) offenbar auf dieselbe Geschichte, den »weiland Geisterseher Oeder, der das renommierte Braunschweiger Gespenst inquirierte« (zitiert nach dem von Norbert Miller herausgegeben Neudruck München 1977, S. 552), angespielt, worauf offenbar der Bruder Oeders die Geschichte bestritt; Musäus nimmt sie im fünften Teil der Volksmährchen zurück und widerruft sie auch in der Gothaischen Gelehrten Zeitung 1786 (S. 753 und 872) . Die Epoche kennt mehr oder minder ausgebaute Theorien der ›historischen Kritik‹, d.h. der Regeln, die für die Prüfung von Zeugenberichten anzuwenden sind. Repräsentativ für deren goethezeitlichen Stand scheint etwa Snell 1794 (Anm. 40), Bd. I, S. 156–161 (= §§ 175–178). In derartigen Regeln spielt gemeinhin wie auch bei Jung-Stilling, mehr noch als die Anzahl, die Person der Zeugen eine wesentliche Rolle; überhaupt sind die Kriterien im allgemeinen relativ schwach und dehnbar formuliert und lassen leicht verschiedene Interpretationen zu. Solche Regeln werden natürlich auch auf die angeblichen okkulten Phänomene angewandt (vgl. z.B. Hennings 1780: Anm. 44, S. 420–427). Während die Vertreter okkulter Theorien dazu neigen, die Beweislast – unter Verweis auf die
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sind aber die Zeugen entweder tot oder sie wollen nicht genannt werden; das gilt nicht selten auch für die Vermittler, so daß meist nur die Erzählung selbst der Kritik zur Verfügung steht. An ihr kann interne, logisch-psychologische Kritik geübt werden, was die Aufgeklärten immer wieder vorgeführt haben, so epochal typisch etwa Wieland 1788 und 1805. Solche Kritik kann natürlich nie mehr leisten, als die Realitätsdeutung des Erzählers der Ereignisse unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. Sie muß an der Erzählung des Gewährsmanns selbst, d.h. an dessen Selektion aus der Menge der für die Beurteilung des Ereignisses vielleicht relevanten Daten zeigen, daß er bestimmte Daten nicht in seiner Argumentation benützt, die eine andere Deutung als die von ihm behauptete übernatürliche zulassen würden. Natürlich kann umgekehrt der Garant seine Erzählung gegen den Nachweis alternativer, nicht-übernatürlicher Deutungsmöglichkeiten bewußt oder unbewußt immunisieren, indem er nur solche Daten mitteilt, die für seine Deutung zu sprechen scheinen. Wielands Opfern gelang dies nicht; auch ein Teil der JungStillingschen Erzählungen bietet sich solcher Kritik an, so die Geschichte vom Schatzgräbergeist. Der Geist erscheint optisch und akustisch nur dem Sohn und besteht darauf, seine Fingerabdrücke nicht auf dem Taschentuch des Vaters, sondern dem des Sohnes zu hinterlassen; die Betrugsmöglichkeit liegt auf der Hand. In
——————— Bibel und/oder die Erfahrung so vieler Zeugen aller Zeiten – den Aufgeklärten zuzuschieben (Teller 1806: Anm. 42, S. 158, formuliert etwa die kuriose Regel »Negantis est probare«) und somit also das Okkulte als eine bisher anerkannte Wahrheit und seine Bestreitung als eine neue somit von ihren Vertretern zu beweisende – Behauptung behandeln, schieben die Aufgeklärten – unter Verweis auf die Alltagserfahrung und den Normalfall – die Beweislast dem zu, der das ›Wunderbare‹ behauptet. So setzt Hennings etwa, man müsse einen ›natürlichen‹ Ursprung der Phänomene solange vermuten, bis das Gegenteil bewiesen sei; auch Maaß 1792 (Anm. 40), S. 140, verlangt, daß, wer den natürlichen Ursprung prophetischer Träume leugne, die Beweislast zu tragen habe. In anderem Kontext formuliert Berger 1824 (Anm. 49), S. 479, generell: »So sollen wir doch nimmer auch dem reichsten Glauben einen Widerspruch verstatten mit dem kleinsten Wissen.« Semler verlangt gar als einzig möglichen Beweis einer göttlichen Wundertätigkeit Gaßners: »Es müsste Gott vom Himmel ruffen, dieses alle thue ich selbst in Gaßnern: sonst kann es kein Zeugnis geben, daß es durch Wunder geschieht.« (Semler 1776: Anm. 14, Bd. I, S. 45). Das Beispiel macht zugleich das Problem deutlich, vor dem sich nicht wenige Aufgeklärte gefunden haben dürften: Semlers Forderungen sind zwar stark genug, allen Okkultismus abzuwehren, doch schließen sie bei konsequenter Anwendung auch alle geoffenbarte Religion aus, selbst wenn Gott in einer Generation persönlich sich gezeigt und gesprochen hätte, schon in der nächsten Generation nur mehr ein Fall von Hörensagen vorläge und ein weiterer Eingriff Gottes nötig würde. Daß sehr starke Regeln der Prüfung von Zeugnissen allenfalls noch einen Deismus, nicht aber Offenbarungsreligionen zulassen, wird am deutlichsten in Humes An Enquiry Concerning Human Understanding (1748, unter dem genannten Titel seit 1758), der die stärksten Kriterien, die ich aus dem 18. Jahrhundert kenne, formuliert hat, die aber in dieser Konsequenz in Deutschland nicht übernommen worden zu sein scheinen (David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übers. und hg. von Herbert Herring. Stuttgart 1967, S. 141– 167). Hier mag einer der Gründe liegen, warum die Argumente der Aufgeklärten oft so wenig generell-theoretisch und nicht selten auch schwach formuliert sind.
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der Geschichte der Pastorin vom kindlichen Geiste begründet dieser sogar unverfroren, warum er nur ihr und nicht ihrem Manne erscheinen könne. Auffällig ist auch die Erzählung von Cazotte wegen ihrer ungewöhnlich detaillierten und umfänglichen Prognosen, an denen eben deshalb schon Nodier, wie Cazotte Autor phantastischer Literatur, gezweifelt hat, der Cazottesche Prophezeiungen selbst erlebt haben will und diese eine als für ihn ungewöhnlich erklärt.67 Andere Erzählungen sind gegen solche interne Kritik durch Nachweis alternativer Deutungsmöglichkeiten der Ereignisse weitgehend gesichert: Hier hätte allenfalls an dem argumentativen Gebrauch, den Jung-Stilling von ihnen macht, systeminterne Kritik geübt werden können. So gehört etwa zu seinen grundsätzlichen Prämissen, die er auch an seinen Beispielen beweisen will, die These der menschlichen Willensfreiheit, die er als Voraussetzung der moralischen Aufrechenbarkeit des Verhaltens benötigt und die, zusammen mit der mit ihr schwer vereinbaren These der göttlichen Fügung und Führung, schon in der Autobiographie in extenso verwendet hatte. Wiederum handelt es sich um ein epochales Thema: ob Freiheit oder Notwendigkeit, ob Zufall oder Schicksal oder göttliche Fügung das menschliche Leben beherrschen. Da Jung-Stilling zugleich die menschliche Freiheit und die göttliche Führung vertritt, muß er somit deren Relation regeln. Während etwa die erzählten Fälle jenseitiger Warnung vor drohendem, aber vermeidbarem Unglück beide Faktoren als gut vereinbar erscheinen lassen, schließen z.B. Cazottes Prophezeiung und die Geschichten vom Leichensehen die Freiheit der menschlichen Entscheidung aus. Denn etwa die Revolution ist ja menschliches Produkt, und die Prognose Cazottes kann somit nur genau dann sicher sein, wenn schon gewiß ist, daß die verschwörerischen Bösewichte von ihrem Unterfangen nicht abstehen werden, womit aber ausgeschlossen wird, daß sie sich rechtzeitig zur Besserung entschließen könnten; sie sind also deutlich in der Freiheit ihrer Entscheidung beeinträchtigt. Die interne aufklärerische Kritik versucht also, wenn möglich, zu zeigen, daß der Erzähler in seinen Argumentationen die verfügbaren Daten nur selektiv verwendet und allenfalls mögliche Hypothesen zu den einzig möglichen macht. Wenn sie ihn nicht des Betrugs verdächtigt, so doch der Selbsttäuschung: Ihre Kritik ist, wie Wieland 1805 exemplarisch vorführt, auf die Psychologie des Geistersehers aus – sie demontiert, wo nicht seinen Anspruch auf moralische Redlichkeit, so doch seinen Anspruch auf intellektuelle Zurechnungsfähigkeit, indem sie in seiner Erzählung selbst Merkmale zu finden sucht, die seine Eignung zu objektiver Realitätsprüfung verdächtig machen. Jung-Stilling grenzt demnach von vornherein seine Zeugen gegen das ab, dessen sie bezichtigt werden könnten, und behauptet ihre Rechtschaffenheit und Zurechnungsfähigkeit. Die Krankhaftigkeit der Fähigkeit zum Geisterkontakt erstreckt sich nach Jung-Stilling also weder auf Moralität noch Intellekt der Zeugen. Da nun aber die Zeugen selbst meist der Möglichkeit jeder
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Nach Pierre-Georges Castex: Le Conte fantastique en France. De Nodier à Maupassant. Paris 21962, S. 38.
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Untersuchung und kritischen Befragung entzogen sind, verlagert sich der Beweiszwang auf die, die den Zeugen diese positiven Eigenschaften attestieren. Das ist natürlich in letzter Instanz immer Jung-Stilling selbst: Denn wer, wenn nicht er, sollte für die Garanten der Garanten bürgen? Diese Last erleichtert er sich gern, indem er Persönlichkeiten mittelbar oder unmittelbar für die Zeugen zeugen läßt, deren sozialer Status sie vor dem Risiko schützt, selbst in ihrer moralischen oder intellektuellen Integrität öffentlich verdächtigt zu werden; am liebsten sind ihm begreiflicherweise gekrönte Häupter. So zeigt er auch generell eine doppelte Argumentationsform: Neben dem demokratischen Argument, wie viele Menschen an Geister glauben oder solche gesehen hätten, steht das aristokratische, wie ausgezeichnete Menschen unter ihnen gewesen seien, an denen zu zweifeln sozial unerlaubt ist; natürlich hat auch die Widmung des Buches an einen Fürsten, ähnlich wie bei Eckartshausen, eine solche Funktion der sozialen Immunisierung, die den Ungläubigen zwar kaum überzeugen, aber vielleicht zum Schweigen verurteilen wird. Denn seine intendierten Adressaten sind, wie sich aus seiner Argumentationsstruktur folgern läßt, keineswegs die Ungläubigen, sondern allenfalls die noch Zweifelnden, die Schwankenden und Unentschiedenen. Seine christliche Liebe erstreckt sich zwar auf Geister, aber nicht auf aufgeklärte, sondern auf tote. Die notwendigen Tugenden seiner Zeugen, ihre intellektuelle und moralische Integrität, leitet er regelmäßig aus ihrer Christlichkeit ab. Da dieses Merkmal natürlich eher die Bereitschaft, Geister zu sehen, befördert, wäre das Argument für Ungläubige kaum geeignet. Und wäre seine eigene Hypothese richtig, daß Gegner des Okkultismus solche des Christentums seien, wäre dieses Merkmal der Zeugen sicherlich unbrauchbar, um die Ungläubigen zu überzeugen, während es, mit seiner impliziten Drohung, bei den Schwankenden, die sich aber als Christen verstehen, zu wirken vermag. Da christliche Lebenspraxis wiederum sozial gegen Angriffe tabuisiert, erschwert er seinen Gegnern den Angriff auf seine Zeugen, da ein solcher Angriff sie ihrerseits in den Verdacht der Unchristlichkeit bringen kann. Auch der Predigerton seiner Leseranreden adressiert sich deutlich an seine Schäflein, die Gruppe der »Ihr«, denen die ausgeschlossenen »Sie« gegenüberstehen, die nicht nur mit schöner Selbstverständlichkeit als Nicht-Christen klassifiziert, sondern zudem moralisch diffamiert werden: Er traut ihnen jede Schandtat zu und droht ihnen Höllenstrafen an – Argumente, die angesichts der Religionslosigkeit, die er ihnen unterstellt, bei ihnen gänzlich wirkungslos bleiben müssten. Sein intendiertes Publikum sind die, die nur darauf warten, überzeugt zu werden: ein Typ, der auch die Helden der Geisterseherromane stellt. Mit einem demagogischen Trick setzt er seinen Okkultismus mit dem Christentum gleich: Seine Gegner werden somit zu Verfolgern des Christentums und das Christentum eine gefährdete Minderheit, während in der Realität die Verhältnisse eher umgekehrt gelegen haben dürften. Es fehlt nicht viel, und er würde in der Apologie auch die ungläubigen Basler Geistlichen zu gefährlichen Ketzern ernennen. Ähnlich argumentiert aber auch die Berliner Aufklärung, wenn sie überall katholische Verschwörungen wittert. Ähnlich argumentiert man in Realität und
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Literatur, wenn man sich von Geheimbünden und undurchschaubaren Manipulatoren verfolgt fühlt. Es ist überall dieselbe für diese Kultur typische Struktur paranoider Projektionen. Paranoid ist auch das Geistersehen selbst: Nicht zufällig erzählt Jung-Stilling immer wieder, wie Geister dem Zeugen sich aufdrängen, ihn verfolgen, ihn beängstigen. Als reale Erscheinung wird nach außen projiziert, was innere Leistung der Psyche ist: am deutlichsten in dem Grenzfalle des Sich-selbstSehens, was ja auch dem jungen Goethe in Frankfurt begegnete und überleitet zu der Serie der für die Epoche charakteristischen Formen verdoppelter Person, so im Doppelgängerthema, im Phänomen der Verdoppelung durch Trennung von Körper und Geist, die Jung-Stilling allen Ernstes erzählt, oder auch in der gerne von den Magiern beanspruchten Fähigkeit der Bilokation (vgl. Schillers Geisterseher oder Goethes Groß-Kophta usw.). Ausgeschlossen bleibt aus Jung-Stillings System die Magie: Sie würde ihn in einen technologischen Beweiszwang setzen. Denn sie ist nicht nur durch Wiederholbarkeit ihrer Phänomene charakterisiert, sie verspricht vor allem einen Wahrheitsbeweis der Theorie in der Praxis, dem sich z.B. Eckartshausen mit allerlei Tricks zu entziehen suchen muß. Für die Wahrheit der Erzählung steht die Vertrauenswürdigkeit der Erzähler ein, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die Erzähler frei von Betrugsabsichten und mit einem Minimum an Intellekt ausgerüstet sein müssen: Es ist immer die Totalität der Person, die die Wahrheit verbürgt. Die ihnen zugeschriebene Christlichkeit besagt nichts anderes, als daß sie im Wertsystem Jung-Stillings in jeder Hinsicht vortrefflich sind. Bezüglich auch nur eines Merkmals zweifelhafte Personen, selbst wenn das Merkmal gar nicht die unmittelbar erforderlichen Fähigkeiten betrifft, müssen, wie etwa die Leichenseher, Zusatzbedingungen wie das Eintreffen von Prognosen erfüllen. Der Person werden implizit Einheit und Kontinuität zugeschrieben: Aus den Momenten normaler Realität, in denen man die Zeugen allenfalls kennt, wird auf die Momente abnormer Realitätserfahrung, in denen man sie nicht erlebt, ihre Vertrauenswürdigkeit extrapoliert. Jung-Stillings Theorie impliziert eine Psychologie, die die rationalistische Psychologie der Epoche ist. So stört ihn im Falle des Magnetismus weder das in der Epoche bekannte und auch bei ihm angespielte Faktum, daß die Patienten in der Wahl der Heilmethode, die sie sich selber vorschreiben, regelmäßig mit der vom magnetisierenden Arzte vertretenen medizinischen Richtung übereinstimmen (vgl. Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 346f.), noch denkt er jemals an die Möglichkeit der Selbsterfüllung von Prophezeiungen, die dem, den sie betreffen, bekannt sind, sei es, weil er sie erfahren hat, sei es, weil er sich selbst seine Zukunft prophezeit hat. Ganz zwar mag er sich der Person des Zeugen doch nicht anvertrauen, und auch er entwickelt daher Zusatzkriterien: Zur Unterscheidung natürlichen und übernatürlichen Wissens dient die Frage, ob die Person dieses Wissen aus sich haben kann, was wiederum jeweils im Sinne der rationalistischen Psychologie, die kein Unbewußtes kennt, einfach entschieden werden kann. Zur Unterscheidung eingebildeter und wahrer Erscheinungen dient die Frage, ob auch mindestens eine andere Person die Erscheinung selbst oder doch wenigstens sichtbare Folgen von ihr wahrnimmt, was die unbeeinflußbare Autonomie einer Person
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gegenüber anderen voraussetzt und gruppenpsychologische Phänomene68 negiert. Wenn Personen, die sonst ein sozial normales Verhalten zeigen, gelegentlich Ahnungen und Erscheinungen haben, wäre die Alternative zur Annahme von deren Realität, d.h. einer geheimnisvollen Geisterwelt, in der Tat die Annahme einer geheimnisvollen Psyche: Das okkulte Modell ermöglicht aber, daß die Psyche klar und einfach bleiben kann, was wiederum eine wesentliche Voraussetzung für die moralische Aufrechenbarkeit des Verhaltens ist. Auch die Größe ›Person‹ ist aber im übrigen ein epochales Problem. Jung-Stilling sichert sich aber gegen seine Garanten noch auf ganz andere Weise ab: durch einen Superzeugen, der in seiner Sicht Gott selbst, vertreten durch die Bibel, ist. Die Wahrheit eben dieser Bibel, die er nachweisen wollte, wird in der Argumentation immer schon präsupponiert, wenn er sie etwa zur Begrenzung der bei ihm als möglich anerkannten okkultistischen Theoreme benützt: Jede neue Offenbarung muß sich ihm zufolge dadurch ausweisen, daß sie der Bibel nicht widerspricht. Wenn die Bibel für ihn in einem Punkte, nämlich in der Existenz einer Geisterwelt, bestätigt ist, extrapoliert er die angenommene Wahrheit dieses Punktes auf alle anderen Punkte der Bibel und kann dann diese anderen Punkte wiederum im folgenden als Argument und dezisives Kriterium der Wahrheit und Realität voraussetzen. Wenn aber die Vertrauenswürdigkeit der Zeugen durch ihre Übereinstimmung mit der Bibel gesichert wird, dann ist Christlichkeit der Zeugen tatsächlich ein notwendiges Merkmal ihrer Vertrauenswürdigkeit. Die Bibel selbst, die bestätigt werden sollte, wird dann freilich die Voraussetzung aller Bestätigungen, und die Argumentation wird zirkulär. Dieser sein letzter und höchster Zeuge ist es, der überall die Lücken der Argumentationskette schließen muß. Die Offenbarung bleibt das letzte Kriterium und die im Titel angekündigte Identifizierung von Natur, Vernunft, Bibel ein unerfülltes Programm. Die Relation dieser drei Maßstäbe so zu arrangieren, daß sie vereinbar scheinen, ist freilich eine Aufgabe, die alle Versuche der Wissenssummen dieser Kultur umspielen und keiner löst. Denn was hinter diesen Systemen steht und ihre paranoiden Strukturen begründet, ist ein nicht mehr ohne Konflikt mit irgendeiner der gleichzeitig gegebenen kulturellen Wissensmengen möglicher Versuch, die Welt noch einmal als nicht-tote, als in sinnvoll erlebbaren qualitativen Kategorien beschreibbare, als auf den Menschen als Individuum oder als Gattung im Mittelpunkt der Welt hin orientierte zu erfassen. Der philosophische Idealismus versucht es nur auf andere Weise als der Okkultismus. Lieber soll das Individuum von Geistern, Geheimbünden, Magiern verfolgt sein, als daß es eine Größe ohne Interesse am Rande der Welt ist. Verursachungszusammenhänge können als göttliche Vorsehung, als Eingriff aus der Geisterwelt, als menschliche Manipulation begriffen werden: Nur zufällig dürfen sie nicht sein (vgl. dazu auch das erbauliche Kuriosum: Joseph Bernhard Hacker, Der Unsichtbare oder Menschenschicksale und Vorsehung. Ein historisch-
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Wie z.B. die von der Psychiatrie des späten 19. Jahrhunderts erfaßten Formen des ›induzierten Wahnsinns‹, der ›folie à deux‹ usw.
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moralisches Lesebuch zur Belehrung und zum Troste für Zweifler und Leidende, Leipzig 1811). Die Struktur etwa der Bildungsromane und seiner Verwandten im Geisterseher- oder Geheimbundroman postuliert auf verschiedene Weise die sinnvolle Ordnung als Bezogenheit der Welt auf das Individuum: Eine Führungsinstanz, die sich in teleologischen Weg-Ziel-Strukturen äußert, ist ausgesprochen oder unausgesprochen immer präsent. Die Welt wird anthropomorphisiert und selbst der Natur wird ein Symbolcharakter, d.h. Bedeutung, zugeschrieben, wie denn auch konsequenterweise in allen Naturphilosophien der Epoche die Mathematisierung der Physik abgelehnt wird.69 Jung-Stilling anthropomorphisiert auch die Geisterwelt und macht sie zur kontinuierlichen Fortsetzung des Diesseits und des menschlichen Bildungsweges. Ihre Organisation ist deutlich irdischen Sozialstrukturen nachempfunden, wenngleich die Kriterien für den Platz in der jenseitigen Hierarchie wechseln, so daß die auf Erden nur theoretischen Moralmaßstäbe jetzt faktisch und allein entscheidend werden. Im Jenseits bleiben Freundschaft und Verwandtschaft, ja sogar Moden und Vorurteile erhalten. Sein Angriff auf Wielands Euthanasia fällt wohl primär deshalb so hart aus, weil dieser die Fortsetzungen der irdischen Beziehungen im Jenseits bezweifelte.70 Ein Problem umgeht Jung-Stilling äußerst sorgfältig, nämlich die Frage, woher die Geister, in denen die Menschen nach ihrem Tode überleben, denn kommen: Entweder müsste er annehmen, dass Geister im Akt der Zeugung bzw. Geburt neu entstehen, oder er müsste vermuten, daß die Menge der Geister schon vorgegeben ist und bei der Geburt eines Menschen sich jeweils einer von ihnen in diesem verkörpert. Das Wiedergeburtsmodell71 mit dem etwa der Spiritist Kardec argumentieren wird, käme jedenfalls für Jung-Stilling deshalb nicht in Frage, weil eine mehrfache Existenz Unordnung in die Verwandtschaftsverhältnisse bringen müsste, auf die er solchen Wert legt. Die Kontakte an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits kreisen bei Jung-Stilling wiederum um irdisch relevante Kategorien. Soweit die Geister sich in eigenem Interesse an den Menschen wenden, geht es um Schuld und um Schulden: um unaufgearbeitete irdische Reste. Soweit sie sich im Interesse des Menschen an ihn wenden, geht es um Prognosen von Leben und Tod, um moralische Warnungen, um Geld und wirtschaftliche Verhältnisse. Eine Sonderklasse bilden die Erscheinungen zum Zwecke der Versicherung, daß eine jenseitige Welt existiere. Die Kontakte bewegen sich in einem engen Bereich utilitaristisch-moralischer Interessen: Im Unterschied zu anderen Okkultismen der Epoche sind hier von der Geisterwelt keine intellektuellen Aufschlüsse zu erwarten. Es geht um die Interessen des bürgerlichhäuslichen Lebens, wie sie etwa Bahrdt im Handbuch der Moral für den Bürger-
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Vgl. etwa Titzmann 1979 (Anm. 47). Diese Fortsetzung bestreiten etwa Teller 1806 (Anm. 42), Sintenis 1795, 1804/04 (Anm. 26), und Max Carl Friedrich Grävell: Der Mensch. Eine Untersuchung für gebildete Leser. 3., verb. u. verm. Aufl. Wien 1818. Grävell 1818 (Anm. 70), S. 113, spielt z.B. mit dem Wiedergeburtsmodell; vgl. auch das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde V. Bd., 3. Stück (1786), S. 2.
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stand beschreibt. Die Kontaktpersonen sind auf beiden Seiten der Grenze problematische Individuen, die Kontakte geduldet, aber nicht wünschenswert, eher anrüchig, wie der Umgang mit sozial bedenklichen Personen. Man hat sie gottergeben zu erleiden: Gegen Gott, das Muster eines Haus- und Landesvaters, läßt sich nicht appellieren.
5.
Okkultisten und andere
Der Zusammenhang der Theorie Jung-Stillings mit dem Denksystem seiner Kultur sollte deutlich geworden sein: Es sind dieselben fundamentalen Kategorien, in denen die Aufgeklärten wie die Okkultisten denken, es sind dieselben Probleme, die sie zu lösen versuchen. Der Okkultismus ist in dieser Kultur nicht ein Randphänomen und nicht die Position geistig Zurückgebliebener: Er ist eine repräsentative Variante des epochalen Denkens, in diesem angelegt, aus diesem nicht eliminierbar, ohne dieses Denken selbst zu transformieren. Beide Gruppen sind nicht nur nicht scharf getrennt; zwischen ihnen vermittelt auch die idealistische Philosophie. Beide Gruppen arbeiten mit denselben Denkmodellen – sie unterscheiden sich nur darin, ob und wie sie dessen formale Größen inhaltlich auffüllen. Diese Korrelation erklärt auch, warum die Aufgeklärten dieser Kultur ihre okkultistischen Gegner niemals zwingend argumentativ besiegen können. Denn sie argumentieren nach denselben Schemata. Die Wissenschaftstheorie und Methodologie der Epoche ist nicht geeignet, die Beweisstücke und Argumentationen der Okkultisten generell als unzureichend und unzulässig klassifizieren zu können: Die Aufgeklärten denken selbst zwar anderes, aber nicht anders. Beide Gruppen bleiben als komplementäre Teilsysteme aufeinander bezogen. Die Aufgeklärten stellen, außer der Widerlegung von Einzelfällen und außer dem grundsätzlichen Zweifel, den Okkultisten letztlich nur jenes praktisch moralische Argument aus dem Schlusse des Candide entgegen, das Kant am Ende seines Aufsatzes von 1766 zitiert: »Cela est bien dit, repondit Candide, mais il faut cultiver notre jardin«.
Literaturverzeichnis 1. Literarische Texte 1759
VOLTAIRE (François Marie Arouet): Candide ou l’optimisme
1773–76
NICOLAI, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. 3 Bde.
1777
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte
Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde
105
1778
ders.: Henrich Stillings Jünglings-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte ders.: Henrich Stillings Wanderschaft
1779
ders.: Die Geschichte des Herrn von Morgenthau. 2 Bde.
1781/82
ders.: Die Geschichte Florentins von Fahlendorn. 3 Bde.
1782–1786
MUSÄUS, Johann Karl August: Volksmährchen der Deutschen. 5 Bde.
1783
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Leben der Theodore von der Linden. 2 Bde.
1784
ders.: Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte. 2 Bde.
1789
ders.: Henrich Stillings häusliches Leben. Eine wahrhafte Geschichte SCHILLER, Friedrich: Der Geisterseher. Eine Geschichte aus den Memoiren des Grafen von O**
1790–1793
TSCHINK, Cajetan: Geschichte eines Geistersehers. Aus den Papieren des Mannes mit der eisernen Larve. 3 Bde.
1792
ders.: Wundergeschichten samt den Schlüsseln zu ihrer Erklärung GOETHE, Johann Wolfgang: Der Groß-Cophta. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen
1794–96
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Das Heimweh. 4 Bde.
1796
ders.: Der Schlüssel zum Heimweh
1798–1802
WAGENER, Samuel Christoph: Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit. 4 Bde.
1804
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Heinrich Stillings Lehr-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte
1810–1812
APEL, Johann August/LAUN, Friedrich (= SCHULZE, Friedrich August): Das Gespensterbuch. 4 Bde.
1816/17
APEL, Johann August/LAUN, Friedrich/FOUQUÉ, Friedrich de la Motte: Das Wunderbuch. 3 Bde.
1817
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Heinrich Stillings Alter. Eine wahre Geschichte
1831
TIECK, Ludwig: Die Wundersüchtigen
2. Theoretische Texte 1670
SPINOZA, Baruch: Tractatus theologico-politicus
1691
BEKKER, Balthasar: Die bezauberte Welt. Oder Eine gründliche Untersuchung des Allgemeinen Aberglaubens / Betreffend / die Arth und das
Diskurse der Aufklärung
106
Vermögen / Gewalt und Wirckung Des Satans und der bösen Geister über den Menschen / Und was diese durch derselben Krafft und Gemeinschafft thun […] 1701
THOMASIUS, Christian: Theses de crimine magiae (dt. 1702 u.d.T.: Kurtze Lehr-Saetze Von dem Laster der Zauberey)
1748
HUME, David: Philosophical Essays Concerning Human Understanding
1749–56
SWEDENBORG, Emanuel (von): Arcana coelestia quae in scriptura sacra verbo domini sunt detecta. 8 Bde.
1751
HUME, David: An Enquiry Concerning the Principles of Morals
1762
ROUSSEAU, Jean-Jacques: Emile ou de l’Education
1764
VOLTAIRE [= François Marie Arouet]: Dictionnaire philosophique portatif
1765
BERGIER, Nicolas-Sylvestre: Le Déisme réfuté par lui-même: ou Examen, en forme de lettres, des Principes d’incrédulité répandus dans les divers Ouvrages de M. Rousseau. 2 Bde.
1766
KANT, Immanuel: Träume eines Geistersehers
[1769]
HERDER, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahre 1769 [Ms.; Erstdruck 1846]
1770
HOLBACH, Paul Thiry d’: Système de la nature, ou des lois du monde physique & du monde moral. 2 Bde.
1770
GELLERT, Christian Fürchtegott: Moralische Vorlesungen
1774
STERZINGER, Ferdinand: Aufgedeckte Gaßnerische Wunderkuren, aus authentischen Urkunden beleuchtet und durch Augenzeugen bewiesen
1775
SAINT-MARTIN, Louis Claude: Des erreurs et de la vérité. Lyon (dt. Übs. 1782 v. Matthias Claudius u.d.T.: Irrthümer und Wahrheit oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Principium aller Erkenntniß […]) DE HAEN, Anton: De Magia liber MEISTER, Leonhard: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung. 2 Bde.
1776
HELVETIUS, Claude-Adrien: De l’Homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation
1776
SEMLER, Johann Salomo: Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen. 2 Bde. EBERHARD, Johann August: Theorie des Denkens und Empfindens
1780
HENNINGS, Justus Christian: Von Geistern und Geistersehern. Herausgegeben vom Verfasser der Abhandlung von den Ahndungen und Visionen
1781
BLUMENBACH, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (Neubearb. 1789 u.d.T.: Über den Bildungstrieb)
Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde
107
WIELAND, Christoph Martin: Über den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben KANT, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1783–1785
ANONYM: Archiv für Freimäurer und Rosenkreuzer
1783–1793
MORITZ, Karl Philipp (Hg.): Gnothi sautón oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. 10 Bde.
1784
KLEUKER, J. F.: MATIKON oder das geheime System einer Gesellschaft unbekannter Philosophen unter einzelne Artikel geordnet, durch Anmerkungen u. Zusaetze erlaeutert u. beurtheilt u. dessen Verwandtschaft mit aeltern u. neuern Mysteriologien gezeigt
1785
LÖHRBACH, Graf von: Die theoretischen Brüder oder zweyte Stuffe der Rosenkreutzer und ihrer Instruktion. Das erstemahl ans Licht herausgegeben von einem Prophanen. Nebst einem Anhang aus dem dritten und fünften Grad, als Probe
1787
RECKE, Elisabeth von der: Nachricht von des berüchtigten Cagliostros Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen JENISCH, Daniel: Über die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten
1788
KNIGGE, Adolph von: Über den Umgang mit Menschen. 2 Bde. WIELAND, Christoph Martin: Nikolas Flamel, Paul Lukas und der Derwisch von Brussa. Historische Nachrichten, Untersuchungen und Vermuthungen. Ein Beytrag zur Geschichte der Unsichtbaren. [zit. Ausg.: Sämmtliche Werke. Bd. XXX. Leipzig 1797] KANT, Immanuel: Critik der practischen Vernunft POCKELS, Karl Friedrich: Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntnis, besonders in Rücksicht unserer moralischen Natur. 2 Bde.
1788–1792
ECKARTSHAUSEN, Karl von: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse der Natur. 4 Bde.
1789
BAHRDT, Carl Friedrich: Handbuch der Moral für den Bürgerstand
1790
FISCHER, Eberhard Heinrich: Albertus Magnus, der Andere und Wahre; das ist: Geheimnisse der Natur und Kunst, auch der raresten Wunderwirkungen in Hunderten hoch nützlicher curioser, magischer, sympatischer etc. Vorschriften
1790/91
BAHRDT, Carl Friedrich: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. 4 Bde.
108 1791
Diskurse der Aufklärung ECKARTSHAUSEN, Karl von: Mistische Nächte, oder der Schlüssel zu den Geheimnissen des Wunderbaren. Ein Nachtrag zu den Aufschlüssen über Magie ders.: Was trägt am meisten zu den Revolutionen jetziger Zeit bei?
1792
MAAß, Johann Gebhard Ehrenreich: Versuch über die Einbildungskraft ESCHENBURG, Johann Joachim: Lehrbuch der Wissenschaftskunde. Ein Grundriß enzyklopädischer Vorlesungen
1793–1801
1794
ADELUNG, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […]. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. 4 Bde. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. 3 Bde. (ALR) SNELL, Friedrich Wilhelm Daniel: Lehrbuch für den ersten Unterricht in der Philosophie. 2 Thle.
1795–1806
CONDORCET, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat marquis de: Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain SINTENIS, Christian Friedrich: Elpizon, oder Ueber meine Fortdauer im Tode. 3 Theile
1798
POCKELS, Karl Friedrich: Neue Beyträge zur Bereicherung der Menschenkunde überhaupt und der Erfahrungsseelenlehre insbesondere. Ein Buch für Gelehrte und Ungelehrte KANT, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
1798/99
DEDEKIND, Christoph Levin Heinrich: Die Zeichen der Zeit, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde.
1799
BERGK, Johann Adam: Die Kunst, Bücher zu lesen. Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller
1800
SAINT-MARTIN, Louis Claude: De l’esprit des choses. 2 Bde. (dt. Übs. 1811/12 von G. H. Schubert u.d.T.: Vom Geist und Wesen der Dinge oder philosophische Blicke auf die Natur der Dinge und den Zweck ihres Daseyns wobei der Mensch überall als die Lösung des Räthsels betrachtet wird) WENZEL, Gottfried Immanuel: Unterhaltungen über die auffallendsten neueren Geistererscheinungen, Träume und Ahndungen nebst Darstellung anderer sonderbarer Beobachtungen am Menschen SINTENIS, Christian Friedrich: Pistevon oder über das Dasein Gottes. Ein Anhang zum Elpizon
1800/01
JENISCH, Daniel: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. 3 Bde. und ein Nachtrag
Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde 1803
109
Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen. 3 Bde. REIL, Johann Christian: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen
1805
WIELAND, Christoph Martin: Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode, veranlaßt durch D. J. K. W**ls Geschichte der wirklichen Erscheinung seiner Gattin nach ihrem Tode. [zit. Ausg.: Sämmtliche Werke. Bd. XXXVII, Leipzig]
1806
FICHTE, Johann Gottlieb: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters TELLER, Johann Friedrich: Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unsrigen nach dem Tode, und Geistererscheinungen überhaupt. Meine Überzeugung nach Crusiusischen Grundsätzen
1806–1818
ARNDT, Ernst Moritz: Geist der Zeit. 4 Bde.
1807
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes
1808
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Theorie der Geister-Kunde, in einer Natur- Vernunft- und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße SCHUBERT, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft SINTENIS, Christian Friedrich: Elpizon an seine Freunde vor und nach der wichtigsten Epoche seines Lebens
1809
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Apologie der Theorie der Geisterkunde, veranlaßt durch ein über dieselbe abgefaßtes Gutachten des Hochwürdigen geistlichen Ministeriums zu Basel
1810
RITTER, Johann Wilhelm: Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers
1811
HACKER, Joachim Bernhard Nicolaus: Der Unsichtbare oder Menschenschicksale und Vorsehung. Ein historisch-moralisches Lesebuch zur Belehrung und zum Troste für Zweifler und Leidende
1814
SCHUBERT, Gotthilf Heinrich: Die Symbolik des Traumes
1817
GUBITZ, Friedrich W. (Hg.): Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz
1818
HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen
1818
GRÄVELL, Maximilian Carl Friedrich Wilhelm: Der Mensch. Eine Untersuchung für gebildete Leser. 3., vermehrte Auflage
CREUZER, Friedrich: Symbolik und Mythologie der alten Völker
Diskurse der Aufklärung
110 1818/19
WACHLER, Ludwig: Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur. 2 Bde.
1820
ZSCHOKKE, Johann Heinrich Daniel: Vom Geist des deutschen Volkes im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
1824
BERGER, Johann Erich von: Grundzuege der Anthropologie und Psychologie mit besonderer Ruecksicht auf die Erkenntniß- und Denklehre
1824–1826
VOß, Johann Heinrich: Antisymbolik. 2 Bde.
1826
GÖRRES, Joseph: Nachschrift über Swedenborg, seine Visionen und sein Verhältniß zur Kirche MÜLLER, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum; den Philosophen und Aerzten gewidmet
1829
KERNER, Justinus: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. 2 Bde.
1833
SCHUBERT, Gotthilf Heinrich: Die Geschichte der Seele BRENTANO, Clemens: Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Augustinerin des Klosters Agnetenberg zu Dülmen (9. Februar 1824) nebst dem Lebensumriß dieser Begnadigten
1833–1837
[Brockhaus:] Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. 12 Bde. 8. Aufl.
1834
KERNER, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Beobachtungen aus dem Gebiete kakodämonisch-magbetischer Erscheinungen […]
1850
BÜLAU, Friedrich (Hg.): Geheime Geschichten und räthselhafte Menschen. Sammlung verborgener oder vergessener Merkwürdigkeiten. 2 Bde.
1851
SCHOPENHAUER, Arthur: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammen hängt
1857
KARDEC, Allan: Le Livre des esprits, contenant les principes de la doctrine spirite sur la nature des esprits, leurs manifestations et leurs rapports avec les hommes
Wielands Staatsromane im Kontext des utopischen Denkens der Frühen Neuzeit
Was wir ›Utopie‹ nennen, ist nicht gleichmäßig über die bekannten Räume und Zeiten verteilt. Texte, deren Weltentwürfe wir insgesamt als utopisch klassifizieren oder denen wir zumindest partiell utopische Elemente nachsagen, sind ein Phänomen vor allem der Neuzeit. Aber verständigen wir uns zunächst über den Begriff der Utopie.1 ›Utopie‹ bedeutet den Entwurf einer alternativen Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, deren Merkmale in Opposition zu jenen stehen, die man, zu Recht oder zu Unrecht, der eigenen Gesellschaft zuschreibt und als für diese relevant oder sogar konstitutiv erachtet. Diese alternative Gesellschaft kann nun als positive und wünschenswerte gedacht sein, wie dies schon der Titel der ersten und namensgebenden neuzeitlichen Utopie – Thomas Morus’ De optimo reipublicae statu, deque noua insula Vtopia 1516 – ausweist und wie dies in der Regel für alle Utopien der Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert gilt, wo erstmals negative Alternativen, nichtwünschenswerte und bedrohliche Zustände entworfen werden: Folge einer Krise der Moderne, die für sich selbst Böses voraussieht (Orwell, Huxley). Vorher waren negative Utopien, wie z.B. in Geigers Reise eines Erdbewohners in den Mars 1790, oder in Sades Aline et Valcour 1795, nur übersteigerte Abbildungen von Strukturen, die man der eigenen Gesellschaft zuschrieb und an ihnen kritisieren wollte; der Intelligenz- und Niveauunterschied beider Texte bzw. Autoren braucht hier nicht diskutiert zu werden. So präsentiert Geigers Mondstaat Papaguan einen
——————— 1
Verwiesen sei auch auf folgende Forschungsliteratur: Hans-Georg Soeffner: Der geplante Mythos. Untersuchung zur Struktur und Wirkungsbedingung der Utopie. Hamburg 1974; Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique. Brüssel 1975; Gilles Lapouge: Utopie et civilisations. Paris 1978; Michael Winter: Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Stuttgart 1978; Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. 2. neubearb. Aufl. Stuttgart 1982; Urs Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Die europäisch-überseeische Begegnung. München 1982. Sven Aage Jørgensen: Vom Fürstenspiegel zum ›Goldenen Spiegel‹. In: Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. Bd. I. Wiesbaden 1991, S. 365–375. Siehe ferner Vf.: Konstanz und intraepochaler Wandel im deutschen Barock. In: ebd., S. 63–83; Artikel ›Utopie‹. In: Literatur Lexikon. Hg. von Walter Killy. Bd. XIV. München 1993, S. 451–456; sowie Vf.: Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-) Aufklärung (1990), in diesem Band S. 129–170.
112
Diskurse der Aufklärung
christlichen, von Priesterherrschaft und Intoleranz dominierten Staat, sein Biribi Preußen zur Zeit des okkultistisch verführbaren Schwachkopfes Friedrich Wilhelm II. und seines Verführers und Ministers Wöllner, dessen der Aufklärung verhaßtes Religionsedikt 1788 erlassen wird; Sades afrikanisches Königreich Butua stellt hingegen generell außermoralische Despotie dar. Beide Male wird den Negativzuständen eine positive Utopie konfrontiert, Momoly bei Geiger, der Staat Zamés bei Sade. Diese alternative Gesellschaft kann nun als restaurative Utopie gedacht sein, wenn ihr Zustand einer ist, den man früheren vergangenen Gesellschaften schon zugeschrieben hat, sei, was man rekonstruiert, nun das Goldene Zeitalter antiker Mythologie, ein ursprünglicher Naturzustand des Menschen wie gern in der Aufklärung, oder ein feudaler Zustand vor der Französischen Revolution, wie es in Köpfen wie denen eines Novalis oder Adam Müller herumspukt, ein Mittelalter mit ständischer Ordnung und Repression, die als gottgewollt anzusehen man sich untersteht. Diese Utopie kann aber auch eine systemoptimierende sein, die in der eigenen Gesellschaft eine Differenz von theoretisch geglaubten Werten und Normen zur tatsächlichen sozialen Praxis feststellt und eine Gesellschaft entwirft, in der diese Werte und Normen tatsächlich erfüllt wären: Das dürfte ebenso auf den Commentariolus de Evdaemonensium Republica des – katholischen – Kaspar Stiblin von 1555 wie auf die Reipublicae Christianopolitanae Descriptio des – protestantischen – Johann Valentin Andreae von 1619 oder auf Johann Gottfried Schnabels Wunderliche Fata einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Julii [...] auf der Insul Felsenburg von 1731–1743 zutreffen. Diese Utopie kann schließlich eine innovative sein, d.h. neue Werte und Normen setzen bzw. alte bis zur Unkenntlichkeit radikal beim Wort nehmen und in der entworfenen Gesellschaft realisieren: Das wird von Morus’ Utopia an der dominante Typ der neuzeitlichen Utopie sein. Der systemoptimierende Typ ist der zweifellos am wenigsten abweichende, da er nur geltende Werte und Normen einfordert; der konservative Typ ist weniger abweichend als der innovative, denn wo jener herstellt, was man für schon einmal gegeben hält, fordert dieser, was bis dato unerhört war. Utopie impliziert also die Abweichung des Entwurfs der Gesellschaft von der gegebenen Gesellschaft, wie sie sich dem zeitgenössischen Denken darstellt, und der Grad dieser Abweichung ist eine Variable: Für den Zeitgenossen ist die Utopie umso radikaler, je mehr Merkmale der eigenen Gesellschaft sie negiert und substituiert und als je wesentlicher diese Merkmale im eigenen Denken gelten. Utopie ist also letztlich eine Art Skala zwischen einem Mehr oder Weniger an Abweichung, und welches Ausmaß an Abweichung jeweils schon oder noch nicht als utopisch empfunden wird, hängt von den Denkstrukturen dieser Gesellschaft ab; eine konservative Gesellschaft wird schon kleinere Abweichungen als utopisch empfinden, während eine auf Veränderung und Wandel angelegte Gesellschaft vermutlich erst relativ radikale Abweichungen als utopisch wahrnehmen wird. Zumindest auf den ersten Blick erscheinen jedenfalls Thomas Morus’ Utopia von 1516 oder Tommaso Campanellas Civitas Solis von 1623, wo grundsätzlich neue politische und soziale Strukturen gedacht und Privateigentum wie Privatleben abgeschafft wer-
Christoph Martin Wielands Staatsromane
113
den, ›utopischer‹ als etwa Francis Bacons Nova Atlantis von 1638, wo der Akzent vor allem auf postulierten Entwicklungsmöglichkeiten von Wissenschaft und Technik liegt, oder gar Andreaes Christianopolis von 1619. Keine Utopie substituiert aber alle Merkmale der eigenen Gesellschaft: Jede Utopie stellt somit eine komplexe Kombination aus solchen Sozialstrukturen dar, die man transformiert, und solchen, die man invariant läßt. So mögen etwa die Utopien des 16. bis 18. Jahrhunderts die abweichendsten politischen Verfassungen denken, sie mögen Eigentum und soziale Schichtung aufheben, sie mögen, wie etwa schon der christliche Kanzler Morus, ihren Utopiern eine bloß deistische Religion zuschreiben: Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil glaubt an nichts davon, sondern an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches, göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt und sich als wirkende Kraft, nicht als Stoff, über diese ganze Welt ausdehnt; sie nennen es Vater.2
oder wie in Fontenelles posthum erschienener Histoire des Ajaoïens von 1768 eine kaum verschleierte atheistisch-materialistische Position: [...] les Ajaoïens regardent la seule Nature comme leur bonne mère. Eternelle dans son existence […] Venons à l’âme: c’est un être que les Ajaoïens ne reconnaissent point.3
In Cyrano de Bergeracs Utopie, deren Manuskript L’autre monde ou les Etats et Empires de la lune, posthum und um die verfänglichsten Stellen gekürzt, 1647 erscheint, wird schließlich, ebenso witzig wie aggressiv, gegen christliche Annahmen polemisiert. Aber kaum eine Utopie hebt etwa lustbegrenzende Normen der Sexualität wirklich auf, oder gar die traditionellen Geschlechterrollen. Insofern sagen die Utopien nicht zuletzt etwas über ihre eigenen Gesellschaften aus: über deren Hierarchie von Normen, Werten, Ideologemen. Wenn Verfassung, Schichtung, Eigentumsverhältnisse, sogar die Religion als transformierbar gedacht werden können, kaum aber Geschlechterrollen und Sexualverhalten, dann muß offenkundig gefolgert werden, daß, entgegen der offiziellen Ideologie, die letzteren als sehr viel konstitutiver und unverzichtbarer gedacht bzw. empfunden werden. Utopien sind also immer zugleich – explizit oder implizit – Informationen über den gegebenen Systemzustand – bzw. das, was man dafür hält – als auch Informationen über einen wünschenswerten Systemzustand: Aus der Relation beider Komponenten ergibt sich, wo man Defizite des Gegebenen, Systemprobleme also, sieht und welche Problemlösungsmöglichkeiten man sich vorstellen kann. So kann man für die Utopien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert sicherlich sagen, daß ihr Hauptproblem, das primäre Defizit der je aktuellen Gesellschaften, das sie erfahren und zu beseiti-
——————— 2
3
Thomas Morus: De optimo reipublicae statu, deque noua insula Vtopia (1516). Zitiert nach der dt. Übs. in: Der utopische Staat. Übs. und hg. von Klaus J. Heinisch. Reinbek 1979, S. 96. Bernard le Bovier de Fontenelle: La République des Philosophes, ou Histoire des Ajaoïens. Ouvrage posthume de Mr. de Fontenelle. Genf 1768. Reprint Paris 1970, S. 38 und 45.
114
Diskurse der Aufklärung
gen suchen, das der Gerechtigkeit ist: der Gerechtigkeit der politischen Ordnung, dem man durch verschiedenste Verfassungsentwürfe begegnet, und mehr noch das der sozialen Gerechtigkeit. In der Mehrheit aller Utopien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gilt für alle Bürger, im Sinne des Staatsbürgers, eine mehr oder weniger gleichmäßige Arbeitsverpflichtung: Jeder soll produktiv zum gemeinsamen Wohl beitragen, welche soziale Funktion auch immer er erfüllen mag. Das heißt aber, daß in allen radikaleren Utopien kein Platz ist für jene, die nicht arbeiten: für den alten Adel, für Mönche und Nonnen, für Bettler, generell: für die unproduktiven Gruppen der eigenen Gesellschaft. Was im deutschen 16. Jahrhundert noch Anliegen einer elitären Minorität von Humanisten ist und sich sprachgeschichtlich als Neusemantisierung und Aufwertung des mittelhochdeutschen Wortes arebeit (= Mühe, Anstrengung, Leiden) zur Be-deutung von verpflichtender und wertvoller produktiver Tätigkeit vollzieht, beobachtbar sogar in den literarischen Niederungen, etwa eines Hans Sachs, das wird mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihrer Durchsetzung zur dominanten intellektuellen Position bis in die staatliche Praxis hinein Norm für alle, der sich nur noch die reichen Besitzenden zu entziehen vermögen. Damit Utopien existieren können, müssen nun also Alternativen zur gegebenen Gesellschaft denkbar sein. Praktisch zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte haben die europäischen Gesellschaften andere, insofern alternative Gesellschaften gekannt: Die sukzessiven sozialen Systeme der griechisch-römischen Antike kannten etwa Perser, Ägypter, usw.; das Mittelalter wußte mehr oder weniger Genaues von der Antike und von den islamischen Gesellschaften; von der Frühen Neuzeit des 15. bis 17. Jahrhunderts über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert ist die denk- und sozialgeschichtliche Entwicklung von Entdeckungs- und Forschungsreisen begleitet, die das je zeitgenössische ethnohistorische Wissen über fremde Kulturen der Vergangenheit und der Gegenwart, d.h. über alternative Gesellschaften, ungeheuer vermehren: Noch in der Spätaufklärung markieren Cooks und Bougainvilles Entdeckungsreisen in Polynesien, in Sonderheit ihre Entdeckung Tahitis, einen Einschnitt: Bougainvilles Voyage autour du monde (1771), Georg Forsters Reise um die Welt, (1777 englisch, ab 1778 deutsch), oder des Unterschichtlers Heinrich Zimmermanns Reise um die Welt, (1781), waren zugleich ideologische Ereignisse. Denn im Rahmen eines neuen – durch Rousseaus Naturbegriff – definierten Wertsystems erscheint nun Tahiti als reale Utopie eines Lebens jenseits der ökonomischen, sozialen, sexuellen Regeln Europas, aus der Diderots Supplément au voyage de Bougainville (Ms. 1772; Druck 1796) explizit, und eine Vielzahl literarischer und theoretischer Texte der Goethezeit implizit, die subversiven ideologischen Folgerungen ziehen. Nun sind aber zum einen die theoretisch denkbaren Alternativen umfänglicher als die ethnohistorisch bekannten: Die Utopien seit Morus und Campanella entwerfen Sozialsysteme ohne historische oder ethnologische Modelle. Und zum anderen sind die akzeptablen Alternativen begrenzter als die bekannten und die denkbaren: Nicht jede Gesellschaft, von der man hört, taugt auch als alternatives Modell; und welche – und inwieweit – dafür taugt, ist wiederum eine Funktion des eigenen
Christoph Martin Wielands Staatsromane
115
Denksystems. Niemand im 16. Jahrhundert fühlt sich verlockt durch jene indianische Gesellschaften, die z.B. durch Richard Hakluyts gesammelte englische Reiseberichte, Divers Voyages touching the Discovery of America 1582, oder Hans Stadens Warhaftig Historia vnd beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschenfresserleuthen 1557 bekannt gemacht werden; freilich wird schon in der Frühaufklärung, etwa in Lahontans Reisebericht Nouveaux Voyages de Mr. le baron de Lahontan dans l’Amérique Septentrionale 1703, das Modell des edlen Wilden am Beispiel der Indianer auftauchen; sehr wohl wird jedenfalls im 18. Jahrhundert das Modell Tahiti relevant, ebenso, wie schon früh im Aufklärungsdenken, China, das man z.B. aus den Lettres édifiantes et curieuses de Chine par des missionaires jésuites, erschienen von 1702 bis 1776, auch etwa von Wieland gelesen, kennt. Noch eine letzte theoretische Unterscheidung: Das alternative soziale System, das eine Utopie entwirft, kann gedacht werden als nicht realisierbar, so sehr es wünschenswert erscheinen mag, oder aber als realisierbar. Der Kanzler Morus wird wohl kaum an die Verwirklichbarkeit seiner Insel Utopia geglaubt haben, und für die meisten Utopien der Frühen Neuzeit ist es unwahrscheinlich, daß – bzw. zumindest unentscheidbar, ob – Produzenten oder Rezipienten die Denkbarkeit einer Verwirklichung angenommen haben. Der Entwurf einer der realen Erfahrung konfrontierten utopischen Gesellschaft war gleichwohl auch dann nicht sinnlos: Die Darstellung des Gegenentwurfs war immerhin eine elegante Form der Kritik des eigenen Systems. Utopie, ob sie sich nun in theoretischen Diskursen, etwa der Philosophie, manifestiert, die der aktuellen Gesellschaft eine andere als wünschenswerten SollZustand konfrontieren, oder ob sie sich in literarischen Texten manifestiert, die eine wünschenswerte Alternative als Ist-Zustand einer fingierten Gesellschaft darstellen, ist also zunächst eine Denkform, die sich in sehr unterschiedlichen Diskursen und Gattungen realisieren und durchaus sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen kann. Mein Thema sind nun zwar auftragsgemäß literarische Utopien, doch sind diese offenkundig von der Denkgeschichte, und damit von den theoretischen Utopien, nicht abtrennbar. Ich denke, es dürfte sich nun fast von selbst erklären, warum ›Utopie‹ so sehr ein neuzeitliches Phänomen ist. Jederzeit können natürlich Einzelindividuen Utopien entwerfen: Damit diese ein verbreiteter, relevanter Texttyp werden, müssen offenkundig bestimmte denkgeschichtliche Bedingungen gegeben sein. Das zeitgenössische kulturelle Denksystem muß so beschaffen sein, daß Alternativen zum Gegebenen denkbar, akzeptabel, zulässig sind, und das heißt, daß es erlaubt ist, die eigene Gesellschaft als defizitär zu empfinden. Zur Verdeutlichung das vereinfachte Gegenbeispiel. Solange das europäische Denken vom traditionellen theologischen Diskurs dominiert wird, kann es im Grunde keine Entwürfe alternativer Gesellschaften geben: Alle Varianten etwa eines Chiliasmus sind schon auf dem Konzil von Ephesus 431 als häretisch erklärt worden. Ein befriedigender Zustand kann also erst im Jenseits erreicht werden, der irdische Zustand muß geradezu negativ sein, wenn denn das Postulat der Erbsünde gelten soll; die gegebene Ge-
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Diskurse der Aufklärung
sellschaft legitimiert sich inklusive ihrer Herrschaftsverhältnisse und ihrer Schichtung als gottgewollt. Dieses Denksystem läßt also eigentlich keinen Platz für weltlich-innerirdische Utopien: Die Welt muß aus menschlicher Schuld grundsätzlich schlecht sein: oder der Glaube wäre irrig. Mit Renaissance und Humanismus beginnt nun aber, kurzfristig durch das Barock unterbrochen, ein Prozeß der Aufwertung des Diesseits. Am Ende des Rationalismus – der noch nicht Aufklärung ist – steht ein bemerkenswerter Text: Leibniz’ Essais de Théodicée von 1710. ›Théodicée‹ heißt Verteidigung Gottes gegen die Anklage, die Welt sei schlecht, weil erfüllt von Leiden und Übel im Physischen wie im Moralischen. Leibniz postuliert bekanntlich, die Welt, die Gott geschaffen habe, sei die beste aller möglichen, »le meilleur des mondes possibles«. Wenn es keine bessere Welt geben kann, als die unsere, dann kann es keine Utopie geben: Il est vrai qu’on peut s’imaginer des mondes possibles sans péché et sans malheur, et on en pourrait faire comme des romans, des utopies, des Sevarambes; mais ces mêmes mondes seraient d’ailleurs fort inférieurs en bien au nôtre.4
Voraussetzung der Möglichkeit von Utopie ist also die Abwendung von allen theologischen Modellen, in denen gegebene Sozialsysteme unmittelbar theologisch legitimiert werden. In der Renaissance ist diese Bedingung nun zwar partiell erfüllt, aber in dieser Phase koexistieren und konkurrieren zwei Tendenzen: eine, die zu Individualisierung und Grenzüberschreitung tendiert, und eine – vielleicht als Reaktion darauf aus Angst –, die zu Normierung und Standardisierung, damit auch zu Komplexitätsreduktion drängt: Utopien vom Typ des Morus und seiner Nachfahren entsprechen nun aber der Normierungstendenz, die sich wiederum im Verlauf von Reformation und Gegenreformation durchsetzt; deshalb kann ja im späten 16. Jahrhundert ein neuer politischer Diskurs, der des Absolutismus, entstehen (vgl. z.B. Bodins Six livres de la république 1577). Die Produzenten der meisten frühneuzeitlichen Utopien normieren und standardisieren ihre Gesellschaften, wie es der absolutistische Fürst mit der seinen erfolgreich versucht: Die Denkstruktur ist dieselbe, die Inhalte sind verschieden. Eben in diese Phase des Aufstiegs und der Durchsetzung absolutistischer Modelle im frühen 17. Jahrhundert fallen nun auch viele bekannte Utopien: Andreae, Bacon, Campanella. Noch eine weitere denkgeschichtliche Transformation zeitigt ihre ersten Folgen: der Prozeß der Konstituierung einer modernen Wissenschaft. Francis Bacon schreibt ihr in seinem Novum Organum von 1620 ein Programm, und hier heißt es: [...] tradamus hominibus fortunas suas emancipato intellectu, et facto tanquam majore: unde necesse est sequi emendationem status hominis et amplificationem potestatis ejus super naturam. Homo enim per lapsum et de statu innocentiae decidit, et de regno in
——————— 4
Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Théodicée. Hg. von J. Brunschwig. Paris 1969, S. 109. Die Sevaramben sind das utopische Volk einer Utopie des Franzosen Denis Vairas(se) von 1675: Histoire de Sevarambes, Peuples qui habitent une Partie du troisième Continent, communement appellé La Terre Australe.
Christoph Martin Wielands Staatsromane
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creaturas. Utraque autem res etiam in hac vita nonnulla ex parte reparari potest: prior per religionem et fidem, posterior per artes et scientias. (Hervorhebungen M.T.).5
Im Zitat finden Sie hier noch bloß auf den Bereich Wissenschaft angewandt, was die Aufklärung des 18. Jahrhunderts generalisieren wird. Auch sie spricht von Emanzipation und Mündigwerden des menschlichen Subjektes, am bekanntesten in Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784. Gedacht wird bei Bacon menschliche Herrschaft über die Welt als Wiederherstellung dessen, was der Mensch beim Sündenfall verloren habe: Der potentiell blasphemische Charakter der Stelle liegt auf der Hand; außerhalb des biblischen Heilsplans kann der Mensch aus eigener Kraft seinen Status restituieren. Indem eine mögliche ›Verbesserung‹ gedacht wird, wird zugleich Geschichte erstmals als Prozeß einer Vervollkommnung gedacht; ähnliche Formulierungen hat in derselben Phase etwa Comenius. Eine zweite Häufung von Utopien scheint sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu finden: Das barocke Modell gottgewollter Herrschaftsformen und ständischer Schichtung verliert hier in der Tat seine Selbstverständlichkeit und allmählich seine Verbindlichkeit. Der wesentliche Einschnitt wird nun aber die Aufklärung sein. Wo Leibniz 1710 noch unter der Dominanz des theologischen Diskurses denkt, da denkt schon zehn Jahre später sein Schüler Christian Wolff unabhängig davon, und parallel dazu, auch in der Religionsphilosophie. Der Prozeß der Aufklärung, wie ihn Kant a posteriori definiert hat, setzt ein: Die menschliche Vernunft setzt sich als letzte Entscheidungsinstanz über Wahrheit und erweitert allmählich ihren Herrschaftsanspruch auf alle Bereiche der Realität; sobald sie, in der zweiten Jahrhunderthälfte, auch den Bereich der politisch-sozialen Phänomene zu ihrem Thema macht, sind erneut optimale Bedingungen für Utopie geschaffen. Hinzu kommt eine wesentliche neue Bedingung: die um die Jahrhundertmitte entstehende Geschichtsphilosophie. Den Begriff scheint Voltaire geprägt zu haben, der Sachverhalt selbst entsteht allerorten aus systeminternen Denknotwendigkeiten. Denn zum einen: wenn die von einem – im Regelfalle nicht mehr christlichen, sondern deistischen – Gott geschaffene Welt eine vernünftige ist, muß es auch in der Geschichte eine rationale Ordnung geben, und Geschichtsphilosophie hätte sie zu zeigen. Zum anderen: eine göttlich-vernünftige Weltordnung ist notwendig eine solche der Théodicée – dieses Stichwort durchzieht die Aufklärung bis hin zu Kants Versuch, die Unmöglichkeit aller Théodicéen zu erweisen (1791). Diese vernünftige und gerechte Weltordnung der Théodicée gerät aber in die Krise; allzuviele Strukturen des sozialen und des natürlichen Bereiches scheinen Anforderungen der Vernunft und der Gerechtigkeit nicht zu genügen. Auch dieses Problem löst die Geschichtsphilosophie: genialisch schon am Ende von Wielands Die Natur der Dinge, 1752 erschienen, als der Autor
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Francis Bacon: Novum Organum. Lateinisch – deutsch. Hg. von Wolfgang Krohn. Darmstadt 1990, S. 610–612.
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kaum zwanzig war. In wenigen Versen seines Lehrgedichts begründet Wieland die Geschichts-philosophie: So schwindet nach und nach das Übel aus der Welt, Das jetzt die Ordnung stört und unser Glück vergällt; So wird die Zukunft erst des Schöpfers Güte preisen. Dann löst sich alles auf [...].6
Der Weltzustand der Théodicée ist jetzt noch nicht gegeben; er wird erst am Ende der historischen Transformationsprozesse stehen; Geschichte ist eine Entwicklung auf das Ziel der Théodicée hin – und so werden denn alle Geschichtsphilosophien der Aufklärung bis in den deutschen Idealismus, bis zu Fichte und Hegel hin, beschaffen sein. Wenn Geschichte denn nun aber zur zielorientierten Entwicklung auf einen optimalen Systemzustand wird, dann ist Utopie nicht mehr bloßes Denkspiel: Die Weltordnung selbst strebt zur Utopie, und die richtige Utopie, diejenige also, die dem gesetzmäßigen geschichtlichen Prozeß entspricht, wird auch realisierbar sein. Erstmals wohl erscheint Utopie als tatsächlich machbar, jedenfalls sofern sie die geschichtsphilosophisch richtige ist. Was die Entwicklung der Geschichtsphilosophie selbst betrifft, so muß nun einer unbedingt erwähnt werden, der Geschichtsphilosophie und politische Philosophie verknüpft hat: Jean-Jacques Rousseau. Sein Du Contrat social von 1762 leitet die radikale Systemkritik der französischen Spätaufklärung ein; sein Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755 stürzt einerseits die Geschichtsphilosophie in ein Problem, insofern er die moralische Überlegenheit eines theoretisch konstruierten ›Naturzustandes‹ des Menschen behauptet, was ihn nicht hindert, zugleich zu behaupten, was den Menschen vom Tiere unterscheide, »c’est la faculté de se perfectionner«.7 Das Dilemma wird im übrigen z.B. Schiller (Etwas über die erste Menschengesellschaft, 1790) beseitigen: Bei ihm wird zwar auch ein uranfänglich positiver Zustand des Menschen verloren, und der Mensch tritt in die Geschichte ein; aber das Ereignis dieses Sündenfalls ist ein positives, eine ›felix culpa‹, da es den Menschen eben die Realisierung seiner Entwicklungsmöglichkeiten erlaubt und am Ende zu einer Natur auf neuer und höherer Ebene, einer bewußten und intendierten, einer selbstbestimmt hergestellten, führen wird. Rousseau hat damit jedenfalls zwei zentrale Stichworte für die deutsche Goethezeit geliefert: das Konstrukt einer ›Natur‹ als Norm zur kritischen Bewertung von Gegebenem, etwa im Sturm und Drang, und damit auch die Basis möglicher Utopien, und das der menschlichen Vervollkommnung. Wie man Geschichte der Gattung als positiven Entwicklungsprozeß zu denken angefangen hat, so wird man auch anfangen, die Geschichte des
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Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Halle 1752. Zitiert nach: Sämmtliche Werke. Leipzig 1856. Bd. XXV, S. 136f. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. 1755. Zitiert nach: Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts/ Discours sur […] l’inégalité. Hg. von Jacques Roger. Paris 1971, S. 171.
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Individuums als solchen zu denken: Der erste ist bekanntlich wiederum Wieland mit seinem Agathon von 1766/67, woraus, mit einigen semantischen Veränderungen, das Konzept der ›Bildung‹ – Goethes Wilhelm Meister von 1795 – werden wird. Auch diese ›Entwicklung‹ bzw. ›Bildung‹ des Subjektes, d.h. sein Transformationsprozeß zur im aufklärerischen Sinne autonomen, emanzipierten Person, die alle ihre Fähigkeiten entfalten und in harmonisches Gleichgewicht bringen würde, ist ein Konzept mit utopischen Implikationen. Denn Wieland oder Goethe wissen – und thematisieren – sehr wohl, daß für solche Prozesse auch bestimmte soziale und ökonomische Voraussetzungen nötig sind, die die gegebene Gesellschaft nur wenigen bietet. Wenn aber solche Selbstverwirklichung mit einem anderen typischen Begriff des 18. Jahrhunderts ›Bestimmung‹ des Menschen ist, dann müßten in letzter Konsequenz die sozialen Hindernisse beseitigt, d.h. aber utopisch gedacht und gehandelt werden – diese theoretischen Folgelasten versucht Fichte 1800 in Die Bestimmung des Menschen aufzuarbeiten. Generell formuliert: die Goethezeit wird eine literarische Epoche sein, die zutiefst auf alternative positive Zukunft, des Individuums wie des Kollektivs, orientiert ist – noch der utopische Charakter der humanitären Konzepte der Weimarer Klassik belegt es, und dieser Charakter ist, etwa in Goethes Iphigenie 1787 belegbar, den Autoren bewußt. Bis hierher nun war alle literarische Utopie Raumutopie: Die alternative Gesellschaft fand sich in einem fernen, fremden, anderen Raum, entweder und vorzugsweise auf einer einsamen Insel, so von Morus, Campanella, Andreae, Bacon über Schnabel bis hin zu Heinses Ardinghello 1787, Stolbergs Die Insel 1788, Restif de la Bretonnes La Découverte Australe 1781, Sades Aline et Valcour 1795, oder, als Funktion des naturphilosophischen Denkens, auf anderen Gestirnen, von Goodwins The Man in the Moone über Cyrano de Bergerac bis zu Geiger, übrigens theoretisch abgesichert durch Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes von 1686, oder schließlich gar im Erdinneren, wie von Ludvig Holbergs Nicolai Klimii iter subterraneum 1741 bis zu Casanovas Icosameron von 1788 oder Bulwer Lyttons The Coming Race 1870. Die utopische Gesellschaft war, in anderen Worten, bis dato eine, die man anderswo schon vorgefunden zu haben behauptete; sie war nicht Utopie der eigenen Zukunft. Nun aber setzt die Zeitutopie ein: mit Louis-Sébastien Merciers L’An deux mille quatre cent quarante, 1771, schon 1772 ins Deutsche übersetzt. Der früheste, soweit ich sehe, bislang in der Forschung unbekannte Beleg einer deutschen Zeitutopie ist wohl der 3. Teil von Zschokkes Geheimbundroman Die schwarzen Brüder, der ab 1791 erscheint. Der Text verarbeitet zugleich die Erfahrung der Französischen Revolution: Und die Verarbeitung dieses Ereignisses stürzt zumindest im deutschen Sprachgebiet zugleich die Geschichtsphilosophie in eine tiefe Krise. Denn für die apriorischen Revolutionsgegner wie etwa Goethe ist die Revolution an sich schon eine Störung der teleologischen Ordnung der Geschichte, die überhaupt nicht sein dürfte; für die kritischen Revolutions-Freunde, darunter fast alle relevanten deutschen Intellektuellen, Klopstock, Wieland, der das Ereignis im übrigen auch in ebenso intelligenter wie kritischer Sympathie publizistisch und
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gut informiert begleitet, Schiller, Hölderlin, Klinger, bis hin zu Hegel, wird die geschichtsphilosophische Konzeption durch den bösen Ausgang des guten Ereignisses gestört, der ebenfalls nicht sein dürfte. Die Verunsicherung in den 1790er Jahren seit der ›terreur‹ ist massiv: Schiller in seinen geschichtsphilosophischen Diskursen, Klinger in seinen philosophischen Romanen thematisieren gleichermaßen, daß der erhoffte, positive Endzustand der Geschichte insofern problematisch geworden ist, als er nicht mehr verläßlich erscheint, daß er aber gleichwohl, sozusagen als Postulat der praktischen Vernunft, angenommen werden müsse: als Motivation des Menschen, positiv-vernünftige und moralische Verbesserungen des Gesellschaftszustandes anzustreben – und damit kann das grundsätzlich utopische Denken der Goethezeit in Philosophie wie in Literatur aufrechterhalten werden, freilich mit skeptischem Vorbehalt. Aber aufgetragen war mir Wieland im besonderen; und ich kann nur hoffen, daß Sie den langen Umweg zu ihm nicht als Irrweg empfinden. Neben Wielands theoretisch kritischer und begleitender Diskussion der Französischen Revolution – immerhin auch ein Versuch zur Utopie – findet sich sein literarischer Beitrag zum Thema Utopie im engeren Sinne vor allem in den beiden Romanen, Der goldene Spiegel oder die Könige von Scheschian von 1772, in Verarbeitung der Französischen Revolution 1794 mit einem neuen Schlusse versehen, und in der Fortsetzung Geschichte des weisen Danischmend von 1775. Der erstere ist zweifellos der zentrale Text für unser Thema und soll daher im Vordergrund stehen. Der goldene Spiegel wird in einer Vergangenheit in der Geschichte Indiens situiert und spielt am Hofe des dortigen Herrschers; diesem, durchschnittlich schlechten, Herrscher, Schach Gebal, erzählt man in Hoffnung auf Belehrung die Geschichte eines lange schon untergegangenen Reiches, Scheschians nämlich, wobei freilich der Herrscher gerade an den besonders moralischen, für Herrscher lehrreichen Stellen, einzuschlafen pflegt; einer der Erzähler ist nun der weise Danischmend. Über die erzählte Geschichte Scheschians wird im Gespräch zwischen Erzähler Danischmend und Zuhörer Gebal reflektiert und diskutiert. Dem gesamten Text ist zudem eine fiktive Zueignung vorangestellt, der zufolge wiederum die Geschichte insgesamt von einem chinesischen Übersetzer für einen chinesischen Kaiser aufbereitet worden sei. Unser Text hat vielfältige Bezüge auf literarische Modelle; explizit bezieht er sich etwa auf Tausend und eine Nacht, welcher Text im frühen 18. Jahrhundert durch die französische Übersetzung Antoine Gallands in Europa bekannt geworden ist; explizit bezieht er sich auf Crébillons Tansaï et Néardarné von 1734, von dem er das orientalische Gewand übernimmt, das bei Crébillon von vornherein als Verschleierung für Frankreich gemeint bzw. von seinen Lesern so rezipiert wurde; auch bei Wieland wird immer wieder deutlich auf französische Verhältnisse angespielt, etwa z.B. auf die Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV., die der Text als politischen Fehler interpretiert und erklärt durch die Beherrschung des Herrschers durch eine frömmelnde Mätresse. Die Erzählstrategie, Europäisches zu meinen, aber Orientalisches darzustellen, gehört zu den Aufklärungsstrategien der Verschiebung und der imaginierten Außenperspektive, wie sie wohl erstmals in Montesquieus Lettres persanes 1721
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praktiziert wurde, wo sich Frankreich aus der Perspektive eines persischen Besuchers kritisch darstellte. Zu den literarischen Modellbezügen Wielands gehört auch noch der Fürstenspiegel, d.h. der fiktive Erzähltext, der der fürstlichen Erziehung eines Herrschers dienen soll. Das bekannteste Modell dafür hatte der Bischof Fénélon in seinen Les Avantures de Télémaque 1699 gegeben, einem Text, der übrigens seinerseits utopische Teile umfaßte; Wielands unmittelbarer Vorgänger im Modell des Fürstenspiegels war Albrecht von Hallers Usong von 1771, der seine dargestellte Welt ebenfalls im Orient situierte, nämlich als mongolische und persische. In wenigen Jahren erscheinen also gleich mehrere Utopien – Haller 1771, Mercier 1771, Wieland 1772. Von den Zeitgenossen wurden diese Utopien auch wahrgenommen und rezipiert: In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, die in diesem Jahre von Goethe, Herder und Merck beherrscht werden, finden sich positivere Rezensionen zu Mercier und Wieland und eine sehr distanzierte zu Haller, der seinerseits in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen extrem kritisch auf Mercier reagiert: Dieser gehöre, wie Rousseau, zu den Verteidigern der menschlichen Bosheit; denn Rousseau hatte deklariert, »que 1’homme est naturellement bon«, was Haller aus seiner konservativ-christlichen Perspektive ablehnt. Haller ist durchaus seinerseits ›aufgeklärt‹ in bestimmtem Sinne – aber er hat die jüngeren Transformationen des Aufklärungsdenkens seit der Jahrhundertmitte nicht mehr mitvollzogen. Denn Aufklärung ist ein Denksystem, das von vornherein dynamisch ist: Es expandiert, indem es immer weitere Realitätsbereiche unter den neuen Denkprämissen reflektiert, und es radikalisiert sich, indem es diese Prämissen immer konsequenter anwendet. Dieses Denken transformiert sich aus der Logik seines eigenen Systems heraus: Und jeder neue Entwicklungsschritt wird nur von einem Teil der bis dahin ›Aufgeklärten‹ mitvollzogen, so daß zugleich eine Ausdifferenzierung stattfindet, bei der am Ende verschiedene Entwicklungsstadien der Aufklärung nebeneinander koexistieren. Folgerichtig wird denn vor allem in der Spätaufklärung über die Grenzen legitimer Aufklärung gestritten: Die neuen Entwicklungsschritte gehen den Vertretern des früheren Standes zu weit. Haller bleibt früh stehen: Wieland nicht. Wo nun Hallers Usong dem Typ Fürstenspiegel auch darin folgt, daß er Lebenslauf und Lernprozeß eines exemplarischen Prinzen und dessen aus Hallers Perspektive weise Maßnahmen in seiner Regierungszeit darstellt, da entwirft Wieland eben nicht nur die Geschichte eines Herrschers, sondern die Geschichte eines Reiches, und damit einer Vielzahl sukzessiver Herrscher. Hier geht es also von vornherein zwar auch um individuelle Geschichten, aber darüber hinaus um kollektive Geschichte, und damit zugleich auch um Geschichtsphilosophie. Wielands Text benutzt also zwar eine Vielzahl literarischer Modelle: Aber er geht in keinem von ihnen auf; die Modelle werden bewußt gemacht und zugleich zu etwas Neuem transformiert. Erzählt wird zunächst von einer Serie negativer Herrscher, den aus ihrer Sozialisation resultierenden Fehlern, den Folgen dieser Fehler für die ideologischen, politischen, sozialen, ökonomischen Strukturen dieses Landes; das Ergebnis ist
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eine erstaunlich radikale Satire auf Königsherrschaft. Den Schauergeschichten von Unfähigkeit und Machtmißbrauch wird eine sehr typische Utopie konfrontiert: die der ›Kinder der Natur‹ – der Name sagt es schon: Auch Wieland hat seinen Rousseau gelesen. Ein kleiner Stamm am Rande der zivilisierten Welt wird konstruiert, der ein ›einfaches‹, ›unverdorbenes‹, ›naturnahes‹ Leben führen wird. Auch im Danischmend finden wir einen solchen utopisch-idyllischen Raum: Der in Ungnade gefallene Danischmend begibt sich in eine ebenfalls abgelegene Gegend, wo sich unter der Landbevölkerung eine solche ›Natürlichkeit‹ finden bzw. herstellen läßt, die aber sofort durch Verführung von außen bedroht wird. An beiden Fällen wird deutlich, daß Wieland sehr gut weiß, ein solcher Quasi›Naturzustand‹ sei realisierbar allenfalls unter sehr spezifischen Bedingungen: a) nur, wenn die Population eine sehr kleine ist; b) nur, wenn sie sich möglichst weit entfernt, am besten räumlich abgegrenzt von den normalen Kulturen befindet. Auffälliger noch ist eine dritte Bedingung: c) der Quasi-›Naturzustand‹ ist beide Male nicht eine primäre, sondern eine sekundäre Natur. Denn beide Male wird dieser Zustand überhaupt erst durch einen Fremden von außen, einem selbst aus einer Hochkultur kommenden, selbst gebildeten, also nicht ›natürlichen‹ Ratgeber, als sozusagen regressive Utopie, unter der jeweiligen Population etabliert. In Sades Aline et Valcour ist der Gründer und Garant des Quasi-›Naturzustandes‹ auf der fernen Insel ganz analog ein Europäer, der diese Insel sogar mit modernen Befestigungsanlagen umgibt, weil er weiß, daß die Utopie des ›Natürlichen‹ durch die europäische Zivilisation bedroht ist. Bei Wieland wie bei Sade erscheint der Quasi-›Naturzustand‹ zwar als durchaus positiv: Aber er ist von vornherein künstlich, d.h. kulturell, erst hergestellt und erhaltbar nur unter sozusagen außerhistorischen Bedingungen. Beide wissen, daß die Utopie der ›Natürlichkeit‹ für die eigene Gesellschaft der Gegenwart nicht realisierbar ist: Eine sehr kleine und von der übrigen Welt abgeschnittene Gesellschaft erhält sich ohne Mühe bei der angeborenen Einfalt und Güte der Natur. Hingegen ist es eine schlechterdings unmögliche Sache, daß etliche Millionen, welche zusammen in Einem Staate von mäßiger Größe, oder etliche Hunderttausend, welche in Einer Stadt zusammengedrängt leben, einander nicht in ziemlich kurzer Zeit sehr verderben sollten, sofern der Gesetzgeber nicht ganz besonders Sorge getragen hat, dem Übel des Zusammenstoßes der Interessen, und dem noch größern Übel der sittlichen Ansteckung durch weise Einrichtungen zuvorzukommen.8
Aufgebaut ist damit ein kognitives Dilemma: Auf der einen Seite die realen, aber negativen Herrschaftsverhältnisse der Zivilisation, auf der anderen die positive, aber nicht realisierbare Quasi-›Natur‹, auf der einen Seite der unbefriedigende,
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C.M. Wieland: Der goldene Spiegel. Zitiert nach: Sämmtliche Werke. Bde. VII und VIII. Leipzig 1853/54; hier Bd. VIII, S. 107.
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aber auf der anderen Seite der unmögliche Zustand. Die Frage ist somit: Welche wünschenswerte Utopie ist denn unter den Bedingungen der Zivilisation und der ›Naturferne‹ noch möglich? Der Geschichte der schlechten Herrscher setzt der Text nun die Geschichte eines guten Herrschers, Tifan, entgegen: Erst wird vorgeführt, wie es nicht geht, bis der Leser bereit ist, einen neuen Vorschlag als einzige Alternative zu akzeptieren. Tifans Geschichte ist nun ein Fürstenspiegel im Sinne Fénélons und Hallers, der in den Gesamtroman eingebettet ist. Erzählt wird Tifans Erziehungsgeschichte, die ihrerseits schon ein Warnsignal an den Leser enthält: Seine Erziehung findet wiederum unter der spezifischen Bedingung statt, daß er, unkundig seiner fürstlichen Abstammung, fern vom Hofe in bäuerlichem Milieu durch einen Weisen zum Herrscher gebildet wird. Tifans eigene Gesetzgebung erstreckt sich auf alle Bereiche und Themen, die das aufklärerische staatstheoretische Denken kennt. Tifans Staat ist eine durch Grundgesetze eingeschränkte und kontrollierte Monarchie, in der zwar die Adelsprivilegien und die ständische Ordnung erhalten bleiben, aber die unteren Schichten, die Bauern und Bürger, gegen Willkür und Ausbeutung geschützt werden. Der Staat fördert die Ökonomie auf der Basis der Landwirtschaft und sorgt für ein effizientes Ausbildungssystem für seine Bürger. Selbstverständlich wird Priesterherrschaft getilgt und religiöse Toleranz eingeführt, wobei die Präferenz, wie erwartbar, dem Deismus gilt. Wiederum ist ein Element in diese Staatskonzeption eingebaut, bei dem der aufgeklärte Leser stutzen mußte: die Erhaltung eines Sozialsystems mit fast unüberschreitbaren Standesgrenzen. Tifan erscheint zunächst so sehr als modellhafter Herrscher, daß ausgerechnet Schach Gebal an seiner Realität zweifelt: Es ist wahr, man merkt je länger je mehr, daß er nur der phantasierte Held eines politischen Romans ist.9
Wenn ausgerechnet ein König an der Realität eines optimalen und idealen Königs zweifelt, so ist das offenkundig eine Satire auf Königsherrschaft überhaupt. Danischmends Antwort lautet jedenfalls: Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlecht daran, daß er keines sey. Entweder ist er schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke), nicht unter den itzt lebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal seyn.10
Danischmend vertritt also scheinbar den Optimismus der Théodicée. Daß nun auch in Tifans Idealstaat die Monarchie herrschen soll, begründet dem jungen Tifan sein Mentor: Der Himmel verhüte (sagte Dschengis, da sie sich miteinander über die Sache besprachen), daß Tifan aus der Verfassung seines Vaterlandes ein unförmliches Mittelding von Monarchie und Demokratie mache, welches, eben darum, weil es beides
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Ebd., S. 127. Ebd., S. 123f.
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seyn will, weder das eine noch das andere ist. Die Nation von Scheschian muß den König als ihren Vater, und sich selbst, in Beziehung auf den König, als unmündig betrachten. Will sie mehr seyn, will sie das Recht haben, den König einzuschränken, ihm und dem Staat Gesetze vorzuschreiben, und ihre wichtigsten Angelegenheiten selbst zu besorgen, so muß sie sich gar keinen König geben. Wer sich selbst regieren kann, hat keinen Vormund, keinen Hofmeister vonnöthen. Erkennt sie aber den König für ihren Vater, und sich selbst als Nation für unmündig, welche Ungereimtheit wär’ es, gerade den wichtigsten Teil der Staatsverwaltung ihrer Willkür überlassen zu wollen!11
Die implizierte Argumentation bewegt sich innerhalb der bekannten aufklärerischen Metaphorik: a) Aus der Äquivalenz Volk § Kind § Unmündigkeit folgt, daß ein Vater § Herrscher, also Monarchie, nötig sei. b) Wie in Kants berühmter Definition gilt hier Aufklärung § Mündigwerden. c) Monarchie ist also die Staatsform für die noch nicht Aufgeklärten § noch nicht Mündigen. Die konservative Position des Lobs der Monarchie ist also eine nur scheinbare: Sie gilt nur für die noch Unmündigen. Aus der biologischen Metaphorik Volk § Kind folgt aber, daß Erwachsenwerden als gesetzmäßiger Prozeß eintreten – und damit wiederum Monarchie unnötig werden – wird. Tifans scheinbarer Idealstaat wird also sofort relativiert: Ideal ist er nur allenfalls unter bestimmten historischen Bedingungen, in einer ganz bestimmten Phase des geschichtsphilosophisch als notwendig gedachten historischen Prozesses. Das scheinbar utopische Ideal wird also vom historischen Prozeß überholt werden. Kaum ist eine Utopie gesetzt, wird sie also schon relativiert als gültig nur vorläufig für eine bestimmte geschichtsphilosophische Phase. Bei Wieland gibt es somit keine außerzeitliche Utopie mehr: Utopie wird historisiert. So setzt schon nach Tifans Tod der allmähliche Niedergang des Reiches ein, nicht zuletzt, weil seine Verfassung dem späteren geschichtlichen Entwicklungsstand nicht mehr angemessen ist. Wo der Leser Wieland zunächst für einen üblen Opportunisten halten mochte, da Tifans scheinbarer Idealstaat den Adel stark privilegierte, da leitet Wieland in eleganter Bosheit gerade aus dieser Adelsposition den späteren Niedergang Scheschians ab. Danischmend darf generalisieren: Damit ein Volk sich gutwillig einer Regierung unterwirft, welche, vermöge der Natur der Sache und des Menschen, ewig nach ungebundener Willkürlichkeit strebt, muß besagtes Volk sich in einem Zustande von Dummheit, Einfalt und Unmündigkeit befinden, der genau so lange und keinen Augenblick länger dauern kann, als es in Unwissenheit und Vorurtheile, gleich einem Wickelkinde, um und um eingewickelt bleibt: Und wofern ein gewisser Grad von Kultur sich mit diesem Zustande vertragen soll, so muß die vereinigte Gewalt der Gesetze, der Erziehung, der Sitten und der Gebräuche, im Nothfall durch die Schrecken eines eisernen Despotismus verstärkt, zusammenwirken, jeden Fortschritt zu höheren Stufen unmöglich zu machen. Ist aber dieser Fortschritt freigelassen, wird er durch die Verfassung sogar befördert: so ist nichts natürlicher, als daß endlich die Zeit kommen muß, wo das besagte Volk mit seinen Befugnissen und Rechten, und überhaupt
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Ebd., S. 138.
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mit seinem wahren Interesse so bekannt wird, daß es sich nicht länger zum leidenden Gehorsam bequemen will, geschweige daß die Blendwerke, Gaukeleien und Zauberformeln länger bei ihm anschlagen sollten, womit es sich ehemals in seiner Dumpfheit bemaulkorben und nach der Pfeife seines Führers tanzen machen ließ.12
Der Leser des Romans wird durch dessen Struktur also selbst einem Lernprozeß unterworfen: Die Opposition negativer, aber realer Staats- und Sozialverhältnisse und positiver, aber unrealisierbarer Naturutopie macht ihn zunächst einmal reif für die realisierbare Utopie einer aufgeklärten Monarchie, die, da sie sozial konservativ und ständisch organisiert ist, auch den privilegierten Gruppen der eigenen Gesellschaft akzeptabel scheinen mag, sofern sie vom Aufklärungsdenken überhaupt tangiert sind; kaum hat der Leser, wie auch der Zuhörer Gebal, aber diese Utopie akzeptiert, wird ihm demonstriert, daß im historischen Prozeß ihre Schwächen zu negativen Folgen führen und das Modell seinen utopischen Charakter verlieren wird; ohne daß diese noch explizit ausgesprochen würden, wird der Leser also zu radikalen politischen Folgerungen kommender Überwindung von Monarchie und Adelsherrschaft animiert, die nun wiederum eine neue Utopie gegenüber dem politischen System der eigenen Gegenwart darstellen würden. Wenn Wieland aufgrund seines Goldenen Spiegels zum Fürstenerzieher berufen wird, belegt das deutlich genug, daß seine raffinierte Strategie offenbar erfolgreich war. Wielands Umgang mit utopischen Modellen steht also in grundsätzlicher Opposition zu allen bisherigen Utopien, die immer als außerzeitliche Ordnung, als Ordnung für alle Zeiten, gedacht waren: Die Utopie der Frühen Neuzeit setzt dem geschichtlichen Chaos die eine optimale und daher invariante Ordnung entgegen, wie es auch Tifan versucht. Intelligenter als andere Zeitgenossen zieht Wieland aus der Geschichtsphilosophie die Konsequenz, daß jedes politisch-soziale System im historischen Prozeß überholt wird. Danischmend darf ausdrücklich sagen, daß die Dauer von Institutionen nur in extrem unfreien, despotischen Systemen garantiert werden kann. Laut Wieland gibt es also nicht mehr die eine unzerstörbare Utopie für alle Zeiten: sondern jede Utopie ist selbst historisch bedingt und daher nur für eine bestimmte historische Phase tauglich. Diese historische Relativierung aller Utopien hebt nicht das utopische Denken auf. Im Gegenteil: die Suche nach dem politischen und sozialen Optimum ist immer wieder von neuem aufzunehmen als Leitvorstellung wünschenswerter Evolution für eine zeitlich begrenzte Zukunft. Utopie ist in diesem Denken zwar nötig, aber nie definitiv. Angestiftet durch Priesterintrigen läßt Gebal am Textende Danischmend verhaften: eine letzte ironische Satire auf die Unbelehrbarkeit absoluter Herrschaft. Wielands Mensch ist zwar insofern rousseauistisch, als er zum Guten grundsätzlich befähigt ist, aber die Anthropologie der Aufklärung ist bei Wieland schon skeptisch geworden: Dieses Gute wird der Mensch nur unter bestimmten Bedingungen tun. Wieland hat dem Goldenen Spiegel, in Reaktion auf seine Erfahrungen mit der Entwicklung der Französischen Revolution, 1794 noch einen neuen, pessimisti-
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Ebd., S. 250f.
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schen Schluß gegeben: Scheschian, deutlich nach dem Modell Frankreich geschildert, wird, verschuldet durch seine Herrscher und seine Adels- und Priesterkaste, eine Revolution erleben und in Anarchie versinken. Das Denken über Utopie wird hier mit unbestreitbarer zeitgenössischer Realität verknüpft: Der Text setzt das Chaos der Revolution als die logische Folge politischer Fehlentscheidungen konservativer Natur. Wenn der Leser noch eine letzte Lehre folgern will, so kann diese nur lauten, daß es höchste Zeit wäre, in den europäischen Monarchien die dem geschichtlichen Entwicklungszustand angemessene, machbare Utopie zu realisieren.
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BOUGAINVILLE, Louis-Antoine de: Voyage autour du monde par la frégate du Roi ›La Boudeuse‹ et la flute ›L’Etoile‹. Paris. (Engl. Übs. 1777 v. Georg Forster) HALLER, Albrecht von: Usong. Eine Morgenländische Geschichte MERCIER, Louis-Sébastien: L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fût jamais. Amsterdam (Dt. Übs. 1772 von C. F. Weiße: Das Jahr Zwey tausend vier hundert und vierzig. Ein Traum aller Träume)
Diskurse der Aufklärung
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DIDEROT, Denis: Supplément au voyage de Bougainville ou Dialogue entre A et B sur l'inconvénient d’attacher des idées morales à certaines actions physiques […]. [Ms.; Erstdruck 1796] Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772 WIELAND, Christoph Martin: Der goldene Spiegel oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte (2. Fassung 1794)
1775
WIELAND, Christoph Martin: Geschichte des weisen Danischmend Danischmend und der drey Kalender. Ein Anhang zur Geschichte von Scheschian
1777
FORSTER, Georg: A Voyage Round the World. London (Dt. Ausgabe 1778– 1780: Reise um die Welt […]. 2 Bde.)
1781
RESTIF DE LA BRETONNE, Nicolas-Edme: La Découverte Australe Par un Homme-volant, ou Le Dédale français. Nouvelle trés-philosophique […]. Leipzig (Dt. Übs. 1784 von W. C. S. Mylius: Der fliegende Mensch. Ein Halbroman, von dem Verfasser der Zeitgenossinnen) ZIMMERMANN, Heinrich: Reise um die Welt mit Capitain Cook
1784
KANT, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
1787
HALLER, Albrecht von: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. Hg. von J.G. Heinzmann HEINSE, Wilhelm: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Eine italiänische Geschichte aus dem sechzehnten Jahrhundert. 2 Bde.
1787 1788
GOETHE, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel CASANOVA, Giacomo: Icosameron, ou Histoire d’Edouard et d’Elisabeth STOLBERG, Friedrich Leopold Graf zu: Die Insel
1790
GEIGER, Carl Ignaz: Reise eines Erdbewohners in den Mars SCHILLER, Friedrich: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde
1791
KANT, Immanuel: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Théodicée
1791–1795
ZSCHOKKE, Heinrich Daniel: Die schwarzen Brüder. Eine abentheuerliche Geschichte. 3 Bde.
1795
SADE, Louis-Donatien-Alphonse, Marquis de: Aline et Valcour, ou le roman philosophique
1795/96
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre Ein Roman. 4 Bde.
1800
FICHTE, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen
1871
BULWER Lytton, Edward: The Coming Race. 4. Aufl.
Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung
I Klingers ›philosophische Romane‹ stehen in einem doppelten Zusammenhang vorangegangener und gleichzeitiger Texte: dem der Erzählliteratur und dem der Aufklärungsphilosophie.1 Um zentrale Themenkomplexe und Fragestellungen der Aufklärung geht es in diesem Romanwerk; in den Betrachtungen hat Klinger im übrigen selbst auf seine philosophische Belesenheit hingewiesen und fast alle großen Namen der europäischen Aufklärungsphilosophie genannt,2 am häufigsten Rousseau und Kant. Nicht erwähnt wird freilich der Aufklärungsdenker, der sich ebenfalls mit diesen beiden Autoren auseinandergesetzt hat und dessen Positionen denen Klingers vielleicht am nächsten stehen: Friedrich Schiller.3 Es sei daran erinnert, daß die jüngere Forschung nicht nur die Aufklärung von ihrer traditionellen deutschen Geringschätzung befreit, sondern vor allem gezeigt hat, daß das Aufklärungsdenken nicht etwa in den siebziger Jahren, sondern allenfalls nach Ende des Jahrhunderts ausläuft. Nach ihrer von Wolff und Gottsched dominierten Frühphase erreicht die deutsche Aufklärungsphilosophie im Gegenteil schließlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit Lessing, Kant, Herder, Fichte, Schiller, und eben auch Klinger einen zweiten Höhepunkt. Deutlicher als dies geistesgeschichtliche Ansätze taten, muß somit zwischen der Aufklärung als zentraler und dominanter Tendenz des theoretischen Denkens dieses Jahrhunderts und der literarischen Produktion unterschieden werden. Mit dem theoretischen
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Nachrichten an das Publikum über die philosophischen Romane von Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt bis zum +++. In: Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung. Nr. 89 (1798). So etwa: Addison, Berkeley, Burke, Condillac, Diderot, Fichte, Garve, Gibbon, Helvétius, Hume, Johnson, Kant, La Mettrie, Leibniz, Locke, Mandeville, Mendelssohn, Moser, Montesquieu, Raynal, Robertson, Rousseau, Shaftesbury, Swift, Voltaire, Wieland, Wolff. Lessing, Goethe, Schiller werden, soweit ich sehe, nur als Literaten, nicht als Theoretiker erwähnt. Wie schon Christoph Hering: F.M. Klinger. Der Weltmann und der Dichter. Berlin 1966, S. 329 angedeutet hat. Ich verweise gelegentlich in den Anmerkungen auf (fast wörtliche) Entsprechungen zwischen Schillers Gedicht Resignation (1786) und Klingers Sahir (schon in der Erstfassung von 1785, auch in der zweiten Fassung von 1798) und Genius (1803).
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Diskurse der Aufklärung
Denken der Aufklärung, das ohnedies, und schon von seinen eigenen Prämissen her, notwendig nicht nur jeweils synchron verschiedene Varianten zuläßt, sondern sich vor allem auch diachron transformiert, sind aber sehr verschiedene Formen von Literatur kompatibel und können auf ihm basieren: die im engeren Sinne ›Aufklärungsliteratur‹ genannte Literatur der Jahre 1730–1770/80 ebenso wie die ›Empfindsamkeit‹, der ›Sturm und Drang‹, die ›Klassik‹ und noch, mindestens partiell, die ›Frühromantik‹.4 Insbesondere für das letzte Drittel des Jahrhunderts gilt ohnehin, daß die üblichen historischen Ordnungsbegriffe – ›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹, ›Romantik‹ – nur einen und vermutlich den weitaus kleineren Teil der Literatur der Zeit abdecken.5 Die neuen Literaturformen basieren jedenfalls ebenso auf dem Denken der Aufklärung wie die früheren: Literarhistorisch beginnt wohl in den siebziger Jahren eine neue Epoche, nicht aber denkgeschichtlich. Wo im übrigen neue Konzeptionen der Literatur auftreten, so z.B. solche einer Autonomie der Literatur oder einer Orientierung am Geniebegriff, handelt es sich wiederum um Konzepte, die die Aufklärung selbst entwickelt hat. Auch das Denken der Aufklärung transformiert sich: aber aus der ihm eigenen Logik seiner Entwicklung. Als Beispiel seien die geschichtsphilosophischen Entwürfe oder Systeme genannt, wie sie sich, nach Rousseaus Ansätzen in den fünfziger Jahren, gehäuft im letzten Drittel des Jahrhunderts finden: bei Millar und Ferguson, bei Herder und Lessing, bei Kant, Condorcet, Schiller, Fichte.6 Der denkgeschichtliche Prozeß der Aufklärung im 18. Jahrhundert und die interne Logik ihrer Transformationen kann wohl als die Anwendung eines (invarianten) Basispostulats und deren – aus diesem selbst begründete – Ausweitung und Radikalisierung, durch die Einbeziehung weiterer tradierter Prämissen andererseits, rekonstruiert werden, wobei das Basispostulat bekanntlich fordert, daß einzig und allein die menschliche Vernunft über den Wahrheitsanspruch aller (tradierten oder originellen) sozial relevanten Aussagen zu entscheiden habe. Das Basispostulat
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Vgl. etwa: Gerhard Kaiser: Aufklärung – Empfindsamkeit – Sturm und Drang. 2. Aufl. 1976, S. 12; Viktor Žmegaþ (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. I/1. Königstein/Taunus 1979, S. XXXI. Vgl. Žmegaþ 1979 (Anm. 4), S. XXXI, sowie Vf.: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung (1983), in diesem Band S. 31–65. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts (1751), Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755); John Millar: Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society (1771); Adam Ferguson: An Essay on the History of the Civil Society (1767); Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791); Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780); Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786); Condorcet: Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain (1795); Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789), Etwas über die erste Menschengesellschaft (1790), Die Sendung Moses (1790); Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800) usw.
Friedrich Maximilian Klingers Romane
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bedarf einer Einschränkung: Denn nur ein Teil der sozial relevanten Behauptungen ist in der Aufklärung insgesamt auch tatsächlich diskutiert worden und dieser Teil verändert sich zudem in der Geschichte der Aufklärung selbst. Das Basispostulat gilt also nur mit der Einschränkung auf solche Aussagen, die irgendwann von einer (sozial relevanten) Gruppe in Frage gestellt worden sind: Was selbstverständlich bleibt, bedarf, solange es selbstverständlich bleibt, auch im 18. Jahrhundert keiner rationalen Legitimation. Diese Selbstgewißheit des menschlichen Intellekts basiert auf einer, aus dem Rationalismus des 17. Jahrhunderts herkommenden und also zu den Elementen der Ausgangssituation der Aufklärung gehörenden theologischen Prämisse, die etwa bei Wolff oder Gottsched7 deutlich genug erkennbar ist: Der Gott, den diese Autoren zu deduzieren vorgeben, ist immer schon stillschweigend, samt seinen Merkmalen, von der Argumentation präsupponiert, und die theologische Prämisse besteht darin, daß der menschliche Intellekt dem göttlichen, der ihn und die Welt geschaffen hat, strukturgleich ist: nichts als dessen verkleinertes Abbild. Aus der theologischen Prämisse folgt nun aber eine ontologische Prämisse: da Gott die Welt mit seinem Intellekt geschaffen hat, und da der menschliche Intellekt das verkleinerte Abbild des göttlichen ist, folgt die Homologie von Denkstruktur und Weltstruktur.8 Da wiederum selbstverständlich mit Hilfe der Sprache und in den von ihr zur Verfügung gestellten Kategorien gedacht wird, ergibt sich daraus zugleich eine sprachphilosophische Prämisse: die Homologie von Sprachstruktur und Weltstruktur – man unterstellt unreflektiert die referentielle Realität der sprachlichen Klassifikationen. Aus der ontologischen Prämisse der Frühaufklärung ergibt sich aber auch eine erkenntnistheoretische Prämisse: Die Welt kann aus dem bloßen Intellekt heraus deduziert werden, wie dies Wolff und Gottsched exemplifizieren. Empirie erscheint demnach – zunächst – nur als Datenmaterial, dessen rationale Struktur zu zeigen ist. Es kann grundsätzlich nur der Bestätigung, nicht aber der Widerlegung des logisch korrekt Deduzierten dienen. Sobald aber in der Folge der Fall eintritt, daß empirische Daten zur Kenntnis genommen werden müssen, die dennoch die deduzierte Theorie falsifizieren, ensteht logischerweise ein entsprechender Zweifel an der Deduzierbarkeit der Welt. Damit dieser Prozeß im 18. Jahrhundert stattfinden kann, muß somit die Verbindlichkeit einer Empirieprämisse für das aufklärerische Denken unterstellt werden. Empirische Daten der Realität dürfen nicht ignoriert werden, soweit sie als
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Von diesen Autoren habe ich verwendet: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (1719; Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. II, Hildesheim 1983 = 11. Aufl. von 1751); Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (1720; Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. IV, Hildesheim 1976); Vernünftige Gedancken Von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721; Repr. Frankfurt a.M. 1971). Johann Christoph Gottsched: Erste Anfangsgründe der Gesammten Weltweisheit (1734; Ausgewählte Werke, Bd. V/1 und 2, Berlin 1983 = 7. Aufl. von 1762). So schließlich noch Hegels bekanntes Diktum in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821): »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«.
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Diskurse der Aufklärung
gesichert gelten – darauf beruft sich ja sogar der Okkultismus des 18. Jahrhunderts gegenüber der Aufklärung, insofern er seine vorgeblichen Phänomene als durch viele glaubwürdige Zeugen gesichert ausgibt.9 Zur Rationalität des eigenen – und folglich, nach der theologischen Prämisse, auch des göttlichen – Intellekts gehört nicht zuletzt ein Ökonomieprinzip, das nach der ontologischen Prämisse auch für die Weltstruktur gelten muß: Daraus resultiert der bis in den Idealismus reichende Versuch, möglichst viele verschiedene Realitätsbereiche in möglichst wenigen gemeinsamen Kategorien zu denken, woraus die bekannten Serien von Äquivalentsetzungen resultieren, etwa die Gleichsetzung von Lebensaltern und Geschichtsphasen oder die – in der Frühaufklärung theoretisch wie literarisch so beliebte – Gleichsetzung von Vernunft, Moralität und Glück. Aus den vermeintlich ableitbaren Merkmalen der Gottheit ergibt sich schließlich die Behauptung der »besten aller möglichen Welten«, die Serie von Théodicéen,10 die die Physikotheologie11 zu untermauern sucht, indem sie zum deduzierten System in der Empirie konsequent nach beständigen Daten sucht. Die deutsche Frühaufklärung setzt zumal mit Religions- und Moralphilosophie ein; es bleibt also zu skizzieren, wie sich aus der Logik der Aufklärung die Geschichtsphilosophie ergibt. Die Genese der Geschichtsphilosophie ist selbst vom Ökonomieprinzip bestimmt: ›Geschichte‹ fungiert zugleich als ein zu lösendes Problem wie auch als Problemlösung. Die Genese der Geschichtsphilosophie ist überdeterminiert, d.h. sie erfüllt im Denken der Aufklärung mehrere wichtige Funktionen zugleich. Zum einen existiert empirisch Geschichte, ein Bereich, in dem ebenfalls eine sinnvoll-rationale, letztlich göttliche Ordnung aufzufinden ist;
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Vgl. Vf.: Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde: Historischer Ort und Argumentationsstruktur (1979), in diesem Band S. 69–110. Den Begriff hat ja bekanntlich Leibniz geprägt (Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’origine du Mal, 1710). Aber zum einen ließe sich unschwer zeigen, daß, wie relevant auch bestimmte Elemente der Leibnizschen Argumentation in der Aufklärung geworden sind, seine eigene Theorie doch noch nicht der Aufklärung angehört; zum anderen existiert die Fragestellung, wenn auch ohne den Begriff, auch sonst schon im frühen 18. Jahrhundert. Vgl. etwa: Shaftesbury: The Sociable Enthusiast (1705, bzw. in der 2. Aufl. 1709: The Moralists). Théodicéen theoretischer oder literarischer Art liefern dann: Wolff 1719 (Anm. 7); Gottsched 1734 (Anm. 7); Alexander Pope: An Essay on Man (1753); Albrecht von Haller: Über den Ursprung des Uebels (1734); Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt (1752); Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen (1770); Peter Villaume: Von dem Ursprung und den Absichten des Uebels (1786). Infragegestellt wird die Möglichkeit einer Théodicée von Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (1791). William Derham: Physico-Theology or, A Demonstration of the Being and Attributes of God, from His Works of Creation (1713). Unter die Versuche einer empirischen Théodicée kann auch Carl von Linnés Manuskript Nemesis Divina gerechnet werden.
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schließlich fand man sie ja sogar in der Bevölkerungsstatistik.12 Zum anderen hat die Aufklärung sich bald empirischen Erfahrungen nicht entziehen können, die der anfängliche Theorietyp der Wolff und Gottsched nicht integriert hat und nicht integrieren konnte. Denn erstens mußte die Erfahrung gemacht werden, daß die Anwendung der Vernunft zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen kann – einerseits als soziale Erfahrung mit anderen Gruppen in der eigenen Kultur, andererseits als ethnologische Erfahrung mit fremden Kulturen. Der zentrale Punkt der Integration fremden Denkens ist dabei offenkundig das System der Normen und Werte: Zu den Konstanten der europäischen Aufklärung gehört der Versuch, die eigenen Normen und Werte als außerzeitliche Universalien – und nicht als sozial, historisch, kulturell relative und variable Größen – zu denken. Dementsprechend können die Moralbegründungen variieren (etwa christlich, deistisch, atheistisch, kantisch usw. sein), die Moralinhalte sucht man im wesentlichen konstant zu halten. Die Strategie der Temporalisierung, die das Gleichzeitig-Heterogene in ein vorgebliches entwicklungsgeschichtliches Nacheinander auflöst,13 beseitigt das Problem, indem sie andere Kulturen einfach als Vorstufe der eigenen denkt. Zweitens beseitigt die Geschichtsphilosophie noch die Gefährdung der Théodicée. Wo die empirischen Daten das Postulat einer ebenso vernünftigen wie gerechten Weltordnung in der eigenen Gegenwart problematisch erscheinen lassen, wird die Théodicée gerettet, wenn die Gegenwart nur Stufe in einem teleologischen historischen Prozeß ist, indem die beste aller möglichen Welten sich zumindest in dessen Endphase herstellen wird: Die Sinnfrage kann in die Zukunft verlagert werden.14 Zudem war ja, in Fortführung eines christlichen Modells, schon in der Frühaufklärung dem Einzelsubjekt eine positive Verbesserung seiner selbst aufgetragen worden:15 Die Geschichtsphilosophie extrapoliert dieses Konzept auf die Gattung. Als Einzelner wie als Gattung erhält der Mensch somit ein Ziel, eine »Bestimmung«, wie es, mit
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J.P. Süßmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen. Nebst einer Vorrede Herrn Christian Wolffens (1741). Vgl. Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen (1984), in diesem Band S. 173–193. So postuliert schon Wieland 1752: »So schwindet nach und nach das Übel aus der Welt, / Das jetzt die Ordnung stört und unser Glück vergällt; / So wird die Zukunft erst des Schöpfers Güte preisen. / Dann löst sich alles auf...« (Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Stuttgart 1856. Bd. XXV, S. 136f.). Zum Zusammenhang von Théodicée und Geschichtsphilosophie im allgemeinen vgl. auch Odo Marquard: Idealismus und Theodizee. In: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1973, S. 52–65. Wolff 1719 (Anm. 7), S. 261f. und S. 670; 1720, S. 16 und S. 42; Gottsched 1734 (Anm. 7), Bd. I, S. 627; Bd. II, S. 87f., S. 96, S. 105, S. 173.
Diskurse der Aufklärung
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dem Terminus aus Spaldings Bestseller,16 noch in der Goethezeit heißt; die menschliche Existenz hat einen vernünftigen Zweck erhalten.
II Klingers Romane kommen jedenfalls in den neunziger Jahren nicht mit historischer Verspätung: weder im Hinblick auf das theoretische Denken noch im Hinblick auf die Literatur. Was Klingers Texte von der zeitgenössischen Literatur abhebt, sind nicht die Techniken literarischer Darstellung philosophischer Probleme im Erzähltext; es sind vielleicht die Explizitheit, Konsequenz und Radikalität seiner Behandlung dieser Fragen, es sind vermutlich die von ihm angedeuteten Lösungen, es ist sicher sein Experiment eines Zyklus aufeinander bezogener philosophischer Romane: Ich wagte in den folgenden Bänden, was, so viel mir bekannt ist, kein Schriftsteller vor mir gewagt hat, ich faßte den wenigstens kühnen Entschluß, auf einmal den Plan zu zehen ganz verschiedenen Werken zu entwerfen, und zwar so, daß jedes derselben ein für sich bestehendes Ganze ausmachte und sich am Ende doch alle zu einem Hauptzwecke vereinigten.17
Das Projekt wurde bekanntlich nur partiell realisiert; ich rufe zunächst die tatsächlich publizierten Texte in Erinnerung: Romane: 1791 1792–1794 1793 1795 1797
Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt in fünf Büchern. St. Petersburg [= Leipzig]18 Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. 2 Bde. St. Petersburg [= Leipzig]19 Geschichte Raphaels de Aquillas in fünf Büchern. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg [= Leipzig]20 Reisen vor der Sündfluth. Bagdad [= Riga]21 Der Faust der Morgenländer, oder Wanderungen Ben Hafis, Erzählers der Reisen vor der Sündfluth. Bagdad [= Riga]22
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J.J. Spalding: Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen. 1748 (13. Aufl. 1794 unter dem Titel: Die Bestimmung des Menschen). Vorrede (Anm. 28), S. 7. Die Entwicklung des Projekts hat z.B. Hering 1966 (Anm. 3) nachgezeichnet. Zitiert als Faust nach dem Text der 2. verbesserten und vermehrten Ausgabe 1794 (3. Fassung 1815 = Bd. III der Gesammelten Werke): Klingers Werke in zwei Bänden. Hg. von H.J. Geerdts. 3. Aufl. Berlin, Weimar 1970. Bd. II, S. 11–220. Zitiert als Giafar: F.M. Klingers sämmtliche philosophische Romane. [12 Bde.] Bd. III und IV, o.O. 1810. Zitiert als Raphael: Sämmtliche philosophische Romane (Anm. 19), Bd. V, o.O. 1810. Zitiert als Reisen: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. VI. Stuttgart, Tübingen 1842.
Friedrich Maximilian Klingers Romane 1798
1798 1798 1803
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Sahir, Eva’s Erstgeborener im Paradiese. Ein Beytrag zur Geschichte der Europäischen Kultur und Humanität. Tiflis [= Riga]23 (Die erste Fassung erschien außerhalb des Romanzyklus 1785 unter dem Titel: Die Geschichte vom Goldnen Hahn. Ein Beytrag zur Kirchen=Historie).24 Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit. Leipzig25 Der Weltmann und der Dichter. Leipzig26 Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit27
Korrelierte Texte: 1798
1803–1805
Nachricht an das Publikum über die philosophischen Romane von Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt bis zum +++. In: Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung. Nr. 8928 Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur. Nebst Bruchstücken aus einer Handschrift.29
Von den Romanen in ihren Erstausgaben ist nur der Weltmann nicht anonym erschienen,30 zudem war meist der Druckort fingiert: beides freilich mit gutem Grund. Der angestrebte Zykluscharakter wird nicht erst durch die späte Nachricht an das Publikum bzw. Vorrede von 1798, sondern schon durch einen Brief Klingers vom 24. März 1791 belegt.31 Auch werden bereits die ersten Romane durch einen Untertitel (so Giafar und Raphael) oder durch den Haupttitel (so die Wanderungen) mit dem Faust verknüpft; der Untertitel der Wanderungen seinerseits korreliert diese mit den Reisen. Nur die drei Romane von 179832 and das Fragment von 1803 sind weder untereinander noch mit ihren Vorgängern verbunden: Hier übernimmt dann schon die Vorrede die Verknüpfungsfunktion.
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Zitiert als Wanderungen: Sämmtliche philosophische Romane (Anm. 19), Bd. VIII, o.O. 1810. Zitiert als Sahir 2: Werke. Bd. X. Königsberg 1816, S. 1–220. Zitiert als Sahir 1: o. O. 1785. Zitiert als Teutscher: Klingers Werke in zwei Bänden (Anm. 18), S. 221–474. Zitiert als Weltmann: Werke. Bd. IX. Königsberg 1809. Romanfragment, erschienen in Bd. I der Betrachtungen, zitiert als Genius: Werke. Bd. X. Königsberg 1816, S. 221–302. Zugleich im selben Jahr als »Vorrede« zum Teutschen. Zitiert als Vorrede in der Variante von 1815: zweite erweiterte Fassung als »Vorrede« zu den Romanen vor dem Faust in Bd. III der Gesammelten Werke 1815 (Anm. 18), S. 7–10. 3 Bde., Bd. I und II Köln 1803, Bd. III St. Petersburg 1805. Zweite Fassung 1809, als Bd. XI und XII der Gesammelten Werke, zitiert als Betrachtungen in der Fassung von 1809: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. XI und XII. Stuttgart, Tübingen 1842. Hering 1966 (Anm. 3), S. 332. Ebd., S. 258. Im Text selbst nimmt aber der Teutsche explizit Bezug auf Faust und Giafar (siehe S. 307).
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Diskurse der Aufklärung
Strukturell gehören die meisten dieser Romane dem dominanten Erzähltyp der Goethezeit an, den ich als ›Initiationsroman‹ zu benennen vorschlage;33 zu diesem Typ würden als Teilklassen auch die ›Geisterseher- und Geheimbundromane‹ ebenso wie die ›Bildungsromane‹ gehören; den letzteren hat schon Morgenstern, als er diesen Begriff, freilich als allzu umfassende und unscharf abgegrenzte Klasse, einführte, die Romane des Freundes und Kollegen Klinger, ebenfalls zu pauschal, zugeordnet.34 Soweit bei Klingers Helden von einem Bildungsprozeß im Sinne des Agathon oder des Wilhelm Meister die Rede sein kann, geht es im wesentlichen nur um die intellektuelle und moralische Dimension der Person, kaum um ihre ästhetische, affektiv-emotionale, erotische ›Bildung‹: Die Struktur der dargestellten Welt im Werk Klingers ist in der Tat ungeeignet für die Praktizierung eines Konzepts ›allseitiger und harmonischer Ausbildung der Kräfte‹. Noch in anderer Hinsicht nehmen Klingers Romane einen interessanten literarhistorischen Platz ein: Zum größten Teil (ausgenommen nur Raphael, Teutscher, Weltmann, d.h. die Texte, in denen am unmittelbarsten identifizierbare politische Positionen von aktueller Relevanz vertreten werden) gehören sie auch zum goethezeitlichen Prozeß der Genese einer fantastischen Literatur.35 Diese Genese vollzieht sich, scheint mir, in vier, chronologisch partiell koexistierenden, Stufen: (Rezeption und Produktion von) ›Märchen‹,36 spätaufklärerischer Thesenroman (sofern in ihm, wie bei Klinger, nichtmenschliche Entitäten auftreten),37 Geisterseherroman (seit Schillers namensgebendem Fragment), fantastische Literatur im engeren Sinne. Wie die beiden ersteren keinen Glauben an die von ihnen dargestellten jenseitigen Wesenheiten verlangen, sondern sich ihrer zu anderen Zwecken bedienen, spielt der Geisterseherroman anhand der Hauptfigur mit der Möglichkeit okkulter Erscheinungen, um sie aber schließlich, in einem ganz wörtlichen Akt der Aufklärung, am Ende als Irrtum und Betrug zu entlarven, während erst in der nächsten Stufe eine solche Möglichkeit tatsächlich unentschieden gelassen oder sogar bejaht wird. Ein dritter Aspekt der Erzählstruktur sei ebenfalls nur am Rande erwähnt: Klinger macht gern von der, wiederum von der Aufklärung entwickelten Erzählmöglichkeit der ›pseudodramatischen Dialogisierung‹ Gebrauch, bei der sich der
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Siehe Vf.: Die ›Bildungs-‹/Initationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche (2002), in diesem Band S. 223– 287. Karl Morgenstern: Über das Wesen des Bildungsromans. In: Inländisches Museum. Hg. von C.E. Raupach. Dorpat 1820. Bd. I, Heft 2, S. 46–61 und Heft 3, S. 13–27; ders.: Zur Geschichte des Bildungsromans. In: Neues Museum der teutschen Provinzen Rußlands. Hg. von C.E. Raupach. Dorpat 1824. Bd. I, S. 1–46 Zum Begriff: Marianne Wünsch: Die fantastische Literatur der frühen Moderne (1890– 1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen. 2. Aufl. München 1998, Kap. I. Etwa bei Wieland oder Musäus. So z.B. Ludwig Tieck: Abdallah (1795), oder Christian Heinrich Spieß: Der alte Überall und Nirgends (1792/93); ders.: Das Petermännchen (1795).
Friedrich Maximilian Klingers Romane
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Erzähltext – partiell oder, wie im Weltmann total – als eine Abfolge von nur durch Sprecherangabe eingeführter direkter Reden der Figuren präsentiert. Doch nun zur Ethnographie der Klingerschen Romanwelten. Die in den Texten dargestellte Welt kann in sehr verschiedenen Räumen und Zeiten situiert sein. Im Europa der Gegenwart spielen nur drei der Romane, der Weltmann in Deutschland, der Teutsche primär in Deutschland, partiell in Frankreich, der Genius in Frankreich. Im Europa der Vergangenheit, in Spätmittelalter bzw. Renaissance, sind zwei Texte angesiedelt: Raphael primär in Spanien, partiell in Italien, Faust in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die vier weiteren Romane sind im asiatischen Raum situiert: der Sahir in einem ziemlich fiktiven »Circassien«, in seiner zweiten Fassung deutlich in der Gegenwart; Reisen und Wanderungen spielen in ihrer gemeinsamen Rahmenhandlung in einer nicht spezifizierten Phase des Kalifats von Bagdad, in ihren erzählten Binnenhandlungen in arabischpersisch-indischen Räumen derselben Phase (Wanderungen) oder in nichtspezifizierten asiatischen Räumen einer mythischen Vergangenheit »vor der Sündfluth« (Reisen). Giafar schließlich ist im wesentlichen im Bagdader Kalifat Harun al Raschids, zur Zeit Karls des Großen, angesiedelt. Die räumliche und zeitliche Streuung der dargestellten Welten signalisiert schon den universell-anthropologischen Anspruch der Texte, den sie freilich selbst begrenzen. Denn zum einen handelt es sich im wesentlichen um fiktive oder reale Hochkulturen, die sich, wie Klinger sie darstellt, insbesondere durch ihre Glaubenssysteme, weniger durch ihre politischen Strukturen unterscheiden; in der Binnenerzählung der Reisen freilich lernt der Held, Mahal, auf seinem Lebensweg eine Serie verschiedenartig organisierter Staatssysteme kennen, deren Differenzen aber dadurch neutralisiert werden, daß alle diese Systeme gleichermaßen negative Erscheinungsformen des Politischen sind. Nicht den Formen einfacher Kulturen oder gar einem ›Naturzustand‹, wie ihn die Geschichtsphilosophie der Aufklärung immer wieder konstruiert hat, gilt Klingers Interesse. Vom fast noch idyllischen, aber schon politisch organisierten, ›naturnahen‹ Zustand der Circassier erzählen die Sahir-Fassungen nur insoweit, als er jeweils dem historischen Kulturprozeß zum Opfer fällt, im witzig-blasphemischen, massiv antichristlichen Sahir 1 durch die Einführung der sexuellen Untreue eines »Hahnenprinz« genannten Genius, auf dessen Wirken denn auch die Geburt Christi zurückgeführt wird, im Sahir 2 durch die Einführung der Aufklärung durch deren Genius, den Titelhelden Sahir, was freilich ebenfalls vom Moralverfall im sexuellen Bereich abgeleitet wird; von der archaisch-vorsintflutlichen Hirtenwelt des alttestamentarischen Noah wird in der Binnenerzählung der Reisen nur insoweit berichtet, als Noahs Schwager Mahal sie verläßt, um die Welt der benachbarten Hochkulturen kennen zu lernen. Nun hat die Aufklärung bekanntlich immer wieder versucht, den hypothetischen Urzustand des Menschen in seiner kollektiven Geschichte, insbesondere den Frühzustand der individuellen Geschichte, die Kindheit also, aber auch den Zustand einer (ländlichen) Unterschicht, der denn wider besseres Wissen, literarisch gern
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auch als idyllisch-patriarchalisch stilisiert wird, zu vergleichen oder gar gleich zu setzen,38 ob der Akzent nun eher auf die tugendhafte Unschuld oder die Unmündigkeit des Subjekts in diesen drei Zuständen gelegt wurde. Beide Äquivalente verlorener paradiesischer Urzustände spielen denn auch konsequenterweise in Klingers Welt am Rande eine Rolle: nur als alternative Gegenprogramme, die, wie die Kindheit, notwendig verloren oder, wie die soziale Randexistenz in bukolischländlicher Idylle, bewußt verschmäht werden. Idyllische Kindheiten/Jugenden sind allenfalls, so in Raphael oder Giafar, auch im Teutschen, Ausgangszustände des Helden, relevant für seine Entwicklung, aber notwendig befristet. Selbst in den ohnedies märchenhaft-ironischen Sahir-Versionen muß der kindlich-jugendliche Liebhaber am Ende in die Welt politisch-historischen Handelns eintreten. Der erwachsene Held schließlich verbringt allenfalls kurzfristig Existenzphasen in idyllisch-außersozialen Räumen: Von ihm gewollt oder nicht gewollt, holt ihn regelmäßig die Wirklichkeit des geschichtlich-politischen Raumes ein. Wenn der Held des Teutschen sich am Textende auf seinen Landbesitz zurückzieht, dann nur als ein politisch, sozial, privat Gescheiterter und Ausgestoßener. Einzig der Protagonist der Binnenerzählung der Wanderungen, Abdallah, auch er ein politisch Gescheiterter, geht von sich aus, erfolgreich und definitiv, in eine ländlichidyllische Existenz zurück, während gerade eben sein Erzähler, Ben Hafi, der Held der Rahmenhandlung, an den Hof des Herrschers zurückgekehrt ist. Eine bukolische Existenz fern dem politischen Raum darf, relativ ungestört, nur der Dichter führen, dem allerdings der politisch handelnde Weltmann konfrontiert wird. Aber auch dem Dichter wird eine Initiation in den Raum des Politischen zumindest insoweit zuteil, als er sich praktisch auf den Repräsentanten des Politischen angewiesen findet und theoretisch mit diesem in einen Dialog eintritt (Weltmann). Um den Menschen geht es also, aber nur um den Menschen, der, als ein Handelnder, schon in den historisch-politischen Raum eingetreten ist oder noch eintreten wird. Dementsprechend sind die Handlungsträger aller Texte im wesentlichen dem Milieu sozialer Oberschichten entnommen, die Zugang zum politisch-sozialen Zentrum der Machtausübung und zur Übernahme formeller oder informeller politischer Funktionen haben. Die Helden sind allerdings nie selbst Inhaber der höchsten Macht, die in der Regel von einem absoluten Herrscher ausgeübt wird. Raphael und seine Familie entstammen dem spanischen Adel, wie Ernst von Falkenberg, der Held des Teutschen, dem deutschen Adel; Giafar gehört zum früheren Herrschergeschlecht der Barmeciden; Ben Hafi, der Rahmenerzähler der Reisen und der Wanderungen, erweist sich am Ende als der bis dahin unerkannte Bruder des Kalifen; den »Weltmann« hat sein sozialer Aufstieg an den Hof, zur Verleihung des Adels, in das Ministeramt geführt. Wichtig ist nicht primär die soziale Herkunft der Figuren aus einer Oberschicht: Wichtig ist vielmehr, daß sie Zugang zum Zentrum politischen Handelns finden, was in den dargestellten, immer ständisch
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Um nur exemplarisch zwei deutsche Beispiele zu nennen: Herder 1774, revoziert in Herder 1784, und Lessing 1780 (Anm. 6).
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organisierten Gesellschaften in der Regel Herkunft aus der oder Aufnahme in die Oberschicht voraussetzt. Deutlicher wird das noch an den scheinbaren Ausnahmen Faust und Mahal: Fausts Magie kompensiert seine niedere Abstammung und ermöglicht ihm den Zugang zu den Herrschaftszentren; Mahal wird, aus wechselnden Gründen, ebenfalls in den Staatswesen, die seine Reise berührt, in den Umkreis der Macht aufgenommen. Diese Beispiele zeigen auch schon, daß der historisch-politisch handelnde Mensch, entsprechend der Konzeption der Geschlechterrollen im späten 18. Jahrhundert39 im allgemeinen und ihrer eher noch verschärften Variante bei Klinger selbst, immer männlich ist. In Klingers Welten sind Frauengestalten stets nur sekundär, nur als Partnerinnen des handelnden Mannes, in dessen Privatleben, außerhalb seiner politischen Sphäre, von Bedeutung. Der intellektuelle, gebildete, politisch beobachtende und/oder handelnde, männliche Mensch im Umkreis des Machtzentrums einer in die Geschichte eingetretenen Hochkultur ist also die typische Hauptfigur in Klingers dargestellter Welt. Auf die politisch-sozialen Strukturen dieser dargestellten Welt und die sich in diesem Rahmen vollziehenden Handlungsabläufe kann ich wiederum nur am Rande eingehen;40 auch die Frage muß offen bleiben, welche Positionen Klingers Romane gegenüber der vorgefundenen politischen Philosophie der Aufklärung einnehmen. Die Ebene des politisch-historischen Handelns hat in den Romanen einen doppelten Status: 1. Sie ist einerseits eine selbständig lesbare Textebene, auf der recht massive politische und soziale Kritik geübt und implizit eine (rekonstruierbare) politische Theorie angeboten wird. 2. Sie erfüllt andererseits eine Trägerfunktion für die weiteren Klassen philosophischer Probleme, die der Zyklus behandelt – anhand ihrer werden exemplifiziert und diskutiert die Probleme der a) Geschichtsphilosophie b) Moralphilosophie c) Religionsphilosophie d) Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie e) Anthropologie. Die Existenz der in die Geschichte eingetretenen Menschheit wird bei Klinger von den Folgen politischen Handelns bestimmt: Dessen Relevanz manifestiert sich im
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Vgl. z.B. Karin Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. In: Heidi Rosenbaum (Hg.): Familie und Gesellschaftsstruktur. Frankfurt a.M. 1978, S. 161–191; Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 60. Geb. Stuttgart 1983, S. 80–97. Vgl. auch dazu Harro Segeberg: Friedrich Maximilian Klingers Romandichtung. Untersuchungen zum Roman der Spätaufklärung. Heidelberg 1974.
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Leben der Helden regelmäßig in der Zerstörung eines der höchsten Werte der Aufklärung:41 des privaten Raums der Familie. Politische Verhältnisse lassen enge und engste Verwandtschaftsbeziehungen in Feindschaften umschlagen (so Reisen, Wanderungen, Teutscher) oder berauben den Helden seiner erotischen Partnerin(nen) (so Faust, Giafar, Raphael, Teutscher, Weltmann). Politisches Fehlverhalten bedroht also den höchsten irdischen Wert, und der Raum des Privaten kann nicht als Reservat gesicherter Ordnung ausgegrenzt und vor dem Eingriff des Politischen geschützt werden. Da dieser politisch-historische Raum sich in allen Romanen merkwürdig ähnlich darstellt, in welcher Zeit und an welchem Ort sie auch spielen, scheint die so verschiedene raumzeitliche Situierung ähnlicher Handlungsrahmen eine ambivalente Doppelfunktion zu erfüllen. Zum einen zeigen die exotischen Räume und Zeiten deutlich die Tendenz, nichts anderes als verschleierte Darstellungen der politisch-sozialen Strukturen der eigenen Realitätserfahrung von Autor und Publikum zu sein: Beispiele also jener bekannten Aufklärungsstrategie der ›Verschiebung‹, mittels derer (insbesondere religiöse und politische) Probleme der eigenen Kultur wohlweislich entweder aus der Perspektive anderer Kulturen und deren Wahrnehmung Europas (wie schon in Montesquieus Lettres persanes 1721) oder anhand fremder Kulturen überhaupt (wie Voltaires Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète 1741) abgehandelt werden; schon die deutsche Frühaufklärung beherrscht diese Strategie.42 Klingers Romane stellen denn auch gern deutliche Be-
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Zur Entstehung der Neukonzeption und Neubewertung von Liebe und Familie im 18. Jahrhundert: Philippe Ariès: L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime. Paris 1960. Literarhistorisch demonstriert etwa die Aufklärungsdramatik die Relevanz des Wertes ›Familie‹: In der Tragödie der deutschen Frühaufklärung werden politische Konflikte gern privatisiert und familiarisiert; innerhalb der Familie finden die Auseinandersetzungen statt, z.B. bei Johann Elias Schlegel: Herrmann, Canut; Krüger: Mahomed der IV.; Johann Christoph Gottsched: Die parisische Bluthochzeit. Die Tendenz verstärkt sich in den sechziger Jahren bei Christian Felix Weiße, wo alle Scheußlichkeiten familienintern stattfinden. Vgl. etwa: Richard der dritte, Rosemunde, Crispus, Atreus und Thyest, Mustapha und Zeangir. Schon im frühen bürgerlichen Trauerspiel manifestieren sich die Folgen des Lasters immer als Zerstörung der Familienordnung, so z.B. in Lessings Miß Sara Sampson oder in Pfeils Lucie Woodvil. Durch Lessings Emilia Galotti erhält die Zerstörung der Familie durch das Laster wohl erstmals eine politische Dimension. So hat etwa Gottsched eine antichristlich-deistische Argumentation einem heidnischen Philosophen in den Mund gelegt: Gottsched 1743: Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüßte, zufrieden stellen könnte (Gottsched 1762: Anm. 7, S. 560–568). So greift die Gottschedin 1736 in der Pietisterey im Fischbein=Rocke zwar scheinbar nur die Pietisten und zwar vom Standpunkt der lutherischen Orthodoxie aus an, doch läßt sich etwa an den Szenen IV,6 (Attacke auf den Wolff-Gegner J. Lange) und IV,7 zeigen, daß einerseits die Antipietismus-Argumente mindestens partiell auch auf die Orthodoxie angewandt werden können und daß andererseits der scheinbare Repräsentant der Orthodoxie, Wackermann, alle christlichspezifischen Glaubensartikel vergessen hat, also faktisch bei einem Deismus angekommen ist.
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ziehungen zwischen der dargestellten fremden und der eigenen Kultur her, so im »Epilogus« des Faust, in dem Bezug auf die Gegner der Aufklärung und Kants und auf antirevolutionäre politische Mentalitäten und Positionen der Gegenwart genommen wird, so im Giafar, wo die Teufel sowohl auf die spätere Geschichte des sich gleichzeitig zur Romanhandlung in Mitteleuropa ausbreitenden Christentums als auch auf die spätere Aufklärung im allgemeinen und Kants Moralphilosophie im besonderen Bezug nehmen;43 so im Sahir 2, wo Französische Revolution und Kants kategorischer Imperativ auch in der exotischen Romanwelt handlungsrelevant werden. Am explizitesten wird eine Vergleichbarkeit von europäischer Gegenwart und dargestellter Handlung in den Reisen signalisiert: Der Herausgeber habe fünf Kapitel weglassen müssen, weil die Begebenheiten, die sie enthalten, einigen Vorfällen unsrer neuen Zeit so ähnlich sind, daß man sagen sollte, Mahal habe seine Reisen im achtzehnten Jahrhundert und zwar nicht in Asien, sondern in dem christlichen aufgeklärten Europa gemacht,44
womit nun natürlich erst recht die Aufmerksamkeit auf die nicht zu übersehenden Entsprechungen zwischen dargestellten Welten und Gegenwart gelenkt ist. Zum anderen aber wird von diesem Romankorpus eine kulturübergreifende Invarianz der Erscheinungsformen des Politischen postuliert, der gegenüber die kulturspezifischen historischen Situationen nur als bloß modifizierende Randbedingungen erscheinen. Der Raum des Politischen stellt sich bei Klinger praktisch immer als eine nicht-vernünftige und nicht-moralische Ordnung dar, der Herrschaft eines Einzelnen unterworfen, der, wo er nicht schon selbst böse ist, doch zumindest als moralisch labil oder als schwach und manipulierbar erscheint und der seinerseits von sozial dominanten Individuen oder Gruppen beherrscht wird, deren – immer eigensüchtige – Interessen sich letztlich durchsetzen, wie sehr der Held auch an einer Weltverbesserung arbeiten mag. Eine anthropologische Generalisierung wird also zwar vorgenommen, aber keine uneingeschränkte: Hier ist der Ort der impliziten Geschichtsphilosophie. Denn diese kultur-übergreifende Basisstruktur ist zwar invariant, aber nur für eine bestimmte, geschichtsphilosophisch angenommene, Phase der Menschheitsentwicklung, die mit dem Eintritt der Hochkulturen in die Geschichte beginnt und bis in die Gegenwart des Autors fortdauert. Denn einerseits gibt es die erwähnten Bezugnahmen auf vor-geschichtliche Zustände, die nicht durch diese Struktur charakterisiert sind; andererseits stellt die politische Ordnung der geschichtlichen Phase nicht notwendig den definitiven Endzustand der Menschheit dar. Hier hat das Revolutionsthema wiederum seinen systematischen Platz bei Klinger. Die Französische Revolution erscheint als der Versuch einer Transformation dieser Ordnung des Politischen, dessen Scheitern zwar konstatiert werden muß, aber seinerseits als nicht notwendig definitiv erscheint, auch wenn die moralisch positiven Figuren, wie die Titelhelden des Teutschen und des Genius, sich in der Phase der ›Terreur‹ von diesem Versuche, den
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Faust, S. 218ff.; Giafar, Bd. II, S. 171ff. Reisen, S. 260.
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sie zunächst mit Sympathie begleitet haben, abwenden müssen. Im Fragment Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit z.B. erscheint die Revolution anfänglich als Weg zu einer künftigen, als sinnvoll erfahrbaren Ordnung: vor der Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« erzittern hier die Teufel in der Hölle, und sie ist es, die den gefesselten (im Bilde des Prometheus gedachten) Genius der Menschheit erweckt und befreit, freilich eben »zu früh«,45 da dieser eine politische Ordnung nicht akzeptieren kann, die das Gute durch das Böse anstrebt und das Böse zumindest als zeitweilig historisch notwendiges Mittel legitimiert.46 Die Präjudizierung des Erwachens dieses Genius als »zu früh« impliziert aber schon sprachlich, daß es ein späteres und rechtzeitiges Erwachen, d.h. einen gelingenden Übergang zu einer dritten menschheitsgeschichtlichen Phase mit vernünftig-moralischer Ordnung in Zunkunft geben könnte, wenngleich eine solche Hoffnung durch keine Daten in Klingers dargestellten Welten bestätigt wird. Die Generalisierung der von Klingers Welten abstrahierbaren politischen Struktur – und damit der Tätigkeitsraum seiner Helden – ist also an eine der textbzw. korpusimmanent unterscheidbaren geschichtsphilosophischen Phasen gebunden: Das Geschehen ist situiert am Übergang aus vorhistorischen Zuständen in die geschichtlich-politische Ordnung der Hochkulturen (Sahir, partiell: Reisen), in dieser Ordnung selbst (Faust, Giafar, Raphael, Reisen, Wanderungen, Weltmann), am (noch) scheiternden Versuch des Übergangs aus dieser Ordnung zu einem neuen und besseren Zustand (Teutscher, Genius). Schon die Verteilung der Romane auf die theoretisch denkbaren Fälle demonstriert die Dominanz der Bewährung des Helden in der gegebenen Ordnung: Und wie im Korpus die vorgeschichtliche Ordnung als grundsätzlich untragisch erscheint (wie es wohl auch die noch nicht erreichte, potentiell-zukünftige, neue Ordnung wäre), so ist die politische Ordnung der historischen Phase strukturell tragisch und grundsätzlich auf den Untergang dessen angelegt, der in ihr im politischen Bereich moralisch handeln will. Das Ende der meisten Helden exemplifiziert diese Struktur. Überleben kann als politisch Handelnder nur, wer, wie der »Weltmann«, die Ansprüche der Moral durch einen relativierenden Pragmatismus temperiert und reduziert: wer sich nach dem Prinzip des unter den gegebenen Rahmenbedingungen Machbaren, nicht aber nach dem Prinzip des moralisch Wünschenswerten verhält.47 Soweit Klingers Romane darüber Aufschluß gewähren, beginnt der historische Kulturprozeß des Austritts der Menschheit aus dem Urzustand und des Eintritts in die historische Phase mit einem Erkenntnisstreben: mit einer Frage. Er beginnt, wenn der Mensch den gegebenen Zustand, in dem er sich vorfindet, nicht mehr
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In einem Brief vom 10. Juni 1798 hat Klinger im übrigen sogar angemerkt: »Von frühem Erscheinen kann hier gar nicht die Rede seyn...« (zit. nach Hering 1966: Anm. 3, S. 342). Vgl. die Rede des Präsidenten: Genius, S. 255ff. Weltmann, S. 115: »[…] es gibt etwas, das man das möglichst Gute, das wahrscheinlichst Beste nennt.«
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fraglos hinnimmt: wenn er, zumindest intellektuell, den (semantischen) Raum48 des gegebenen Zustandes durch die Frage überschreitet, weil der Sinn dieses Zustandes für ihn nicht mehr selbstverständlich in diesem selbst liegt. Er überschreitet diesen Raum durch die kausale (und moralische) Frage nach Sinn und Zweck dieses Zustandes. Die Relevanz dieser Fragen im Romanzyklus belegt am besten der Genius der Menschheit im gleichnamigen Fragment in einer der eindrucksvollsten Szenen in Klingers Werk. Schockiert von den Greueln der Menschheitsgeschichte, in Sonderheit denen der Französischen Revolution, auf die er hoffte, fliegt dieser Genius durch das All zu dem von düsteren Wolken verhüllten Throne der unsichtbaren Gottheit. Als Repräsentant der ganzen Gattung stellt er stellvertretend diese Fragen: »Nach tausend und tausend Jahren trete ich zum ersten Mal vor deinen verhüllten Thron und wage zu fragen: Warum? Wozu? Wofür? Wohin? Herr, laß mich Klagenden deine Stimme vernehmen – das ganze Menschengeschlecht – seine Edelsten und Weisen schreyen durch mich zu dir auf! – Brich dein Schweigen, laß nicht immer deinen mit glänzenden Gestirnen geschmückten Himmel über mir und den Sterblichen hängen, wie ein erhabenes, ehernes, undurchdringliches Gewölke, durch das keine Klage, kein Jammergeschrey deiner leidenden Geschöpfe dringt!« Aber es herrschte ein tiefes, schaudervolles, zermalmendes Schweigen – ein Schweigen, wie zur Zeit – da der Ewige über der Tiefe allein schwebte und die künftigen Welten dachte.49
Die Bedeutung der Szene liegt auf der Hand: Klinger hat sie zudem dadurch hervorgehoben, daß er sie nicht nur durch den Helden des Teutschen (verkürzt) referieren läßt, sondern auch in der Vorrede explizit auf sie Bezug nimmt.50 Der Eintritt in die erzählte, kollektive oder individuelle Geschichte spielt sich im wesentlichen immer auf dieselbe Weise ab: Der Mensch im Plural oder im Singular stellt die Frage, ob es einen übergreifenden (semantischen) Raum gibt, in den der Raum des Gegebenen eingebettet ist und von dem er die Legitimation und den Sinn erhält, die er verliert, sobald nach ihnen gefragt wird. Am Anfang der kollektiven wie der individuellen Geschichte steht also die faktische oder die intellektuelle Grenzüberschreitung. Wie auch sonst in der Goethezeit sind hier das bloß Gedachte und das Faktische tendenziell äquivalent,51 was im Giafar dort deutlich
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Gemeint ist das Konzept des ›semantischen Raums‹ im Sinn von Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, Kap. 8, logisch präzisiert durch: Karl N. Renner: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München 1983 (= Münchner Germanistische Beiträge, 31), Kap. II. Genius, S. 301 – zum Anfang des Zitats vgl. Schiller, Resignation, Strophe IV, V. 17 (Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. I, 8. Aufl. München 1987, S. 130). Vorrede, S. 9; Teutscher, S. 412f. Vgl. Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die systemimmanente Relation der Kategorien »Literatur« und »Realität«: Probleme und Lösungen. Stuttgart
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wird, wo der Teufel dem Helden einen von dessen möglichen Lebensläufen vorspiegelt und Held wie Leser erst im nachhinein erfahren, daß es sich nicht um eine Realität handelte. Praktisch alle Protagonisten Klingers sind denn auch, wenn schon nicht notwendig faktische, so doch potentielle Rebellen: Mehr oder weniger deutlich lehnen sie sich gegen göttliche oder weltliche (politische oder theologische) Autoritäten auf, die sie in Frage stellen, indem sie Fragen stellen. Die NichtAntwort nehmen sie nicht einmal von der Gottheit selbst hin, der Titelheld des Faust so wenig wie Mahal in der Binnenerzählung der Reisen. An deren Ende stellt er dem alttestamentarischen Gott die Sinnfrage, aber die Antwort befriedigt ihn nicht: Mahal betete an, aber sein Herz blieb verstockt; er wollte forschen und wissen und wollte nicht anerkennen das nothwendige Gesetz der Entsagung in den Willen Gottes, wodurch wir tragen und erdulden, was er uns zugetheilt hat. Ohne diese Entsagung gibt es, wie du, Herr der Gläubigen, am besten weißt, keinen wahren Glauben an Gott, und dieses hat uns der Prophet gelehrt,52
wie Ben Hafi dem Kalifen erzählt. Wenn nun aber die historische Phase der Menschheit mit dem Willen zum Wissen und dem Verlangen nach rationaler Rechtfertigung alles Gegebenen beginnt, dann ist der mit ihr einsetzende historische Vorgang zugleich einem Prozeß der Aufklärung äquivalent: Denn genau durch diesen Willen und dieses Verlangen hat sich ja die (Spät-)Aufklärung selbst definiert.53 Im Sahir 2 erscheint der Geschichtsprozeß ausdrücklich als ein Prozeß der Aufklärung; der Titelheld ist deren Genius: »der über euch wachende, euch leitende Geist der Aufklärung und Erleuchtung, Kultur und Humanität«.54 Die (Spät-)Aufklärung hat sich selbst ja nicht als Zustand, sondern als Prozeß interpretiert:55 Insofern kann sie, als die ihrer selbst bewußt gewordene Endphase des (bisherigen) historischen Prozesses, denn auch ein Modell dieses Prozesses selbst abgeben. Sahir aber ist »Eva’s Erstgeborener im Paradiese«, zunächst eine rein geistige Entität, die sich mit dem Sündenfall konkretisiert und tätig wird. Nicht nur im Sahir beginnen Aufklärung und somit Geschichte mit dem biblischen Sünden-
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1975, insbesondere Teil I; vgl. auch Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit. Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntisprozessen (1984), in diesem Band S. 173–193. Reisen, S. 337. Am deutlichsten natürlich Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784; Werke in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt a.M. 1964, S. 51– 61). Sahir 2, S. 198. Z.B. Kant 1784 (Anm. 53), S. 59: »Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.« Insofern Aufklärung sich mindestens implizit immer als Negation eines bislang gegebenen Zustandes versteht, hat sie notwendig eine prozessuale Komponente, die ja auch in Kants berühmter Definition (ebd., S. 53) deutlich wird: Aufklärung ist das Verlassen eines Zustandes, bei Kant als »Ausgang«.
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fall: Dasselbe Modell steht auch hinter dem Faust und Giafar, wo jeweils die Teufel beanspruchen, Urheber der Philosophie und Wissenschaften zu sein, und wo am Textende beide Male auf die kommende Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwiesen wird: In den Reisen führt Mahals Weg auch durch (im Sinne des 18. Jahrhunderts) aufgeklärte Staaten, deren Existenz als Folge des Sündenfalls erscheint, der wiederum mit dem ›Trieb des Wissens‹ korreliert wird. Im mythischen Modell des Sündenfalls erscheinen Aufklärung und Geschichte aber zunächst als Verlust eines paradiesischen Urzustandes: ›Aufklärung‹ wäre demnach moralisch ambivalent. Wenn sie Modell der Gesamtgeschichte wird, umfaßt sie notwendig auch moralisch negative Phänomene, wie im Sahir 2 illustriert wird. Die christlichen Europäer sind es, die die Circassier sittlich verderben und sie zudem anstiften, das unschuldig-jugendliche Liebespaar zu verbrennen. Es ist aber wiederum Sahir, der Genius der Aufklärung selbst, der verhütend eingreift: Zu solchen Thaten, Ihr Circassier, seyd ihr durch diese da noch nicht erleuchtet genug; Ihr fangt mit dem Ende an. Erst den Gebrauch, und dann den Mißbrauch; so habe ich es wenigstens die Jahrtausende her gesehen.56
Was bei Klinger als Aufklärungskritik erscheinen kann, ist also einerseits nur Kritik am Mißbrauch der Vernunft, nicht an deren autonomem Gebrauch; wie es der Teufel Leviathan am Ende des Giafar deutlich aussprechen darf: Verdammt sey die Vernunft des Menschen! Durch sie dachte ich diesen [= Giafar, M.T.] dem Ewigen zu entreißen, und brachte ihn ihm näher. Drey Mahl verdammt – meine Verwünschung erschalle durch die ganze Hölle – sey die kalte, starke Vernunft! Groß ist die moralische Kraft des Menschen, wenn sie ihn leitet, und nur durch sie steht er da, ein Bild des Ewigen! An keinen will ich mich mehr machen, der sich bloß von ihr leiten läßt, der das Gute um des Guten willen thut, ohne Hoffnung auf Lohn, der die Tugend zu seiner Natur und Bestimmung; macht! Macht euch, ihr Teufel, an die, welche sich vom Glauben leiten lassen, die vor Strafe zittern, und nach dem Lohne schnappen, der so lockend für sie ist, weil er, wie sie meinen, alle Genüsse übertrifft, die sie in Schwelgerey ihrer Sinne gekostet haben.57
Scheinbare Aufklärungskritik, wie sie in Mahals Reisen anhand des von zwei Brüdern (wodurch hier auch ideologische Verwandtschaft ausgedrückt wird) regierten absoluten Reiches der Sultane Schönling und Denkling geübt wird, ist andererseits nur Kritik an einseitiger Aufklärung, die nur eine menschliche Fähigkeit entwickelt: Das Reich des einen ist eines des bloßen Ästhetizismus, das Reich des anderen eines des bloßen Rationalismus. Die Basis solcher Kritik wiederum ist das, ebenfalls von der Aufklärung entwickelte und sich etwa im Begriff der ›Bildung‹ manifestierende, Konzept einer integralen und integrativen Anthropologie, die alle Komponenten des Menschen umgreift. Wenn umfassende ›Bildung‹ freilich den Helden von Klingers Romanen nicht beschieden zu sein scheint, wenn solche ›Bildung‹ in Klingers Welt eine schöne Utopie bleibt (freilich haben auch
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Sahir 2, S. 195. Giafar, Bd. II, S. 171f.
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Agathon und Wilhelm Meister am Ende eine unverkennbar resignative Komponente), dann deshalb, weil die Strukturen der dargestellten Welt den Subjekten solche umfassende ›Bildung aller Kräfte‹ unmöglich machen; nicht, weil es zu viel, sondern weil es zu wenig Aufklärung in der historischen Phase der Menschheit gibt. Der Erzähler des Sahir 2 kommentiert eindeutig die Situation moralischen Verfalls, in die die Circassier durch die beginnende Aufklärung geraten: Welche Gährung! welche Verwirrung im ganzen Lande! das Hofvolk, und – ach, wie schnell! – die Übrigen nahten sich nun von Tage zu Tage dem gefährlichsten Augenblick, in welchem sich ein Volk befinden kann. Ich rede von dem Zwischenstande von Unerfahrenheit, Beschränktheit, Unwissenheit, glücklicher Unschuld, und dem Streben nach Geistesaufklärung, nach andern Sitten und Gebräuchen, während dessen ein solches Volk das Alte mit Verachtung ansieht, bevor es noch des Neuen fähig ist, oder dessen Gefahr, Vortheil und Nachtheil begreift.58
Das drohende moralische Chaos ist also nicht die Folge von Aufklärung im allgemeinen, sondern nur der (noch) nicht erfolgreich abgeschlossenen Aufklärung; eben dessen, was der Erzähler als ›Zwischenzustand‹ beschreibt. Innerhalb der grundsätzlichen Aufklärungsposition, die die Romane vertreten, kann durchaus eine Auseinandersetzung mit einzelnen Theorien oder Autoren der Aufklärung stattfinden: Beispielshalber werden weder Rousseau noch Kant unkritisch und untransformiert übernommen. Mehr noch: In den Lebensläufen einiger Helden, so vor allem im Giafar und im Teutschen, wird partiell die Geschichte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts selbst, bis in die Gegenwart der Textpublikation hinein, abgebildet. Die Aufklärung rekapituliert sich selbst als historischen Prozeß. Giafar etwa ist in den idealen Normen und Theoremen der frühen Aufklärung erzogen worden, in der die Konzeption einer sinnvollen, vernünftigen und moralisch gerechten Weltordnung, die Théodicée also, als selbstverständlich und gesichert erschien. Wie die Aufklärung selbst hat er in der Folge Erfahrungen zu bewältigen, die diese optimistische Philosophie zu falsifizieren scheint. Giafar zieht eine der in diesem aufklärungsinternen Transformationsprozeß möglichen Konsequenzen: Er wird Kantianer vor Kant und zieht sich vor den Dilemmata der Théodicée auf die moralische Autonomie des menschlichen Subjekts zurück, das keiner Metaphysik zu bedürfen scheint und die Tragik der Weltstruktur aus eigener Kraft erträgt. Der Held des Teutschen hingegen ist im philosophischen System Rousseaus aufgewachsen und erzogen. Auch ihm begegnet in doppelter Gestalt, der des jakobinischen Terrors und der der konservativen deutschen Reaktion auf die Revolution, eine seine Ideale in Frage stellende Empirie, als er diese Philosophie im Umkreis der Französischen Revolution in einem deutschen Kleinstaat praktisch zu realisieren sucht. Innerhalb dieser beiden Texte wird also am Lebensweg des Helden abgebildet, was das Textkorpus als ganzes ebenfalls vollzieht: eine aufklärungsinterne Auseinandersetzung mit Geschichte und Theoremen der euro-
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Sahir 2, S. 102.
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päischen Aufklärung, die sich vor der empirischen Erfahrung des Helden wie des Autors und seines Publikums zu verantworten haben. Die historische Phase der Menschheit ist also als Aufklärung, der paradiesische Urzustand aber als Naturzustand konzipiert; beide werden denn auch im Sahir 2 als oppositionelle Kräfte, als Genius der Aufklärung und als Geist der Natur, personifiziert. Nach der für das spätere 18. Jahrhundert so charakteristischen Äquivalentsetzung von ›Vorgeschichte der Gattung‹ § ›Kindheit des Individuums‹ § ›Unterschicht‹ manifestiert sich dieser Naturzustand aber noch in der Kindheit, als ein von jedem Individuum erneut zu verlierender, und in den Unterschichten, als einer demnach außerhistorischen Gruppe. So unterliegen im Sahir 2 von allen Circassiern allein die kindlichen Liebenden nicht dem Einfluß Sahirs: Der Geist der Natur hat sie sich vorbehalten.59 Im Faust kann der Teufel dem Helden vorhalten, er habe die Natur des Menschen nicht kennen gelernt, da er den Kontakt mit den Unterschichten verschmäht habe: Hast du ihn [den Menschen, M.T.] in seinem natürlichen Zustand beobachtet, wo jede seiner unverstellten Äußerungen das Gepräge seiner innern Stimmung an sich trägt? Du hast die Maske der Gesellschaft für seine natürliche Bildung genommen und nur den Menschen kennengelernt, den seine Lage, sein Stand, sein Reichtum, seine Macht, seine Wissenschaften der Verderbnis geweiht haben, der seine Natur an eurem Götzen, dem Wahn, zerschlagen hat.60
Wenn nun aber der von der Menschheit verlorene Naturzustand in Kindheit und Unterschichten gleichwohl erhalten ist, so bedeutet das offenkundig, daß weder Kinder noch Unterschichten die Menschheit verkörpern: Den Menschen repräsentiert hier wie anderswo im 18. Jahrhundert das erwachsene, gebildete, männliche Mitglied der oberen Schichten. Geschichte bedeutet somit einen Prozeß der Entfernung vom Zustand des Kindes und der Unterschicht: Sie ist sowohl einem Prozeß des Erwachsenwerdens als auch einem sozialen Aufstieg des Menschen äquivalent. In ausdrücklicher Abgrenzung von Rousseau-Deutungen schon des 18. Jahrhunderts,61 wird betont, daß der Naturzustand nicht mit dem »wilden Zustande« der primitiven Kulturen identisch sei,62 was im übrigen schon aus der Möglichkeit der Erhaltung dieses Zustandes in Kindheit und Unterschicht folgt. Der Naturzustand ist also nicht ein bestimmter Kulturzustand: Er ist ein Mentalitätszustand.63 Doch ist die Beziehung von Naturzustand und Aufklärung bei Klinger noch komplexer: Nur in den genannten Fällen mißlingender Aufklärung (Mißbrauch bzw. Einseitigkeit) handelt es sich um eine einfache Opposition, um wechselseitige Ausschließung. Denn die charakteristischen Aufklärungsfragen
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Sahir 2, S. 195. Faust, S. 200. Vgl. z.B. Voltaires Brief vom 30. August 1755 an Rousseau über den Discours von 1755; Rousseau selbst hatte in dem Text von 1755 die »peuples sauvages« als schon weit vom »premier état de nature« entfernt interpretiert. Teutscher, S. 318. Ähnlich auch Hering 1966 (Anm. 3), S. 327.
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stellt, als Repräsentant der Gattung in ihrem positiven Aspekte, der »Genius der Menschheit« dem verborgenen und schweigenden Gott; und er stellt sie ausdrücklich auch im Namen der »Edelsten und Weisen« unter den Menschen. Deutlicher noch spricht die Biographie Sahirs. Schon vor dem Sündenfall ist er in der platonischen Zuwendung Adams und Evas gezeugt worden, wenn er sich auch erst mit dem Sündenfall materialisiert. Gefangengesetzt vom Geist der Natur, wird er schließlich, wenn auch unwillentlich und unwissentlich, vom kindlichunschuldigen Liebespaar befreit. Beidemale ist es also die Erotik, die die Aufklärung aus dem Naturzustand selbst heraus generiert. Das bedeutet zum einen, daß die Anlage zur Aufklärung schon der menschlichen Natur selbst angehört, ihr gemäß ist und der Eintritt in die Geschichte zwar den Verlust des Naturzustandes, aber keine Entfremdung von der Natur des Menschen darstellt: ›Naturzustand‹ und ›Natur des Menschen‹ sind offenkundig nicht gleichbedeutend in Klingers Werk. Es bedeutet zum anderen, daß Erkenntnisstreben und erotische Zuwendung korreliert werden, was in Klingers Welt, über die allgemein goethezeitliche Topik hinaus,64 darauf zu basieren scheint, daß beide als Überschreitung eines gegebenen und begrenzten (semantischen) Raumes konzipiert werden. Der denkgeschichtliche Ort der von Klingers Romanen implizierten Geschichtsphilosophie läßt sich im Vergleich mit Schillers Geschichtsphilosophie bestimmen. Klinger und Schiller erzwingen zunächst die Vereinbarkeit zweier, einander sich logisch ausschließender, geschichtsphilosophischer Modelle der Aufklärung: des etwa von Rousseau vertretenen, strukturell der christlichen Geschichtstheologie analogen Modells des Verlustes eines positiven Urzustandes zugunsten eines negativen Kulturzustandes, das beide denn auch mit Hilfe des Sündenfall-Mythos ausdrücken; und des von der Mehrheit vertretenen Modells der Geschichte als positiv bewerteten Forschritts, ob dieser nun im allgemeineren Konzept der ›Entwicklung‹ oder im spezifischeren Konzept der ›Bildung‹ interpretiert wird.65 Beide praktizieren dabei zwei charakteristische spätaufklärerische und goethezeitliche Strategien,66 deren sich schon Lessings Geschichtsphilosophie bedient hatte: der Strategie der Aufhebung des Widerspruchs konkurrierender und alternativer Wissensmengen und ihrer Integration in ein einheitliches System mit Hilfe der Strategie der Reinterpretation, die am deutlichsten im Umgang mit den Elementen christlicher Herkunft sichtbar wird, die, wie wiederum schon bei Lessing und Kant,67 auch bei Klinger und Schiller, bis zur Unkenntlichkeit neu interpretiert sind. Bei beiden aber erlaubt das mythische Modell des Sündenfalls nicht nur die, wenngleich nur scheinbare, Integration des christlichen Wissens: Bei beiden wird in der Verwendung des ungeglaubten Mythos zugleich eine zweite Funktion erfüllt, nämlich die Uneigentlichkeit des Naturzustandes ausgedrückt; bei
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Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band S. 173–193. Zu deren Relation: ebd., S. 177f. Zu diesen beiden Strategien: ebd., S. 176 u. S. 179f. Lessing 1780, Kant 1786 (Anm. 6).
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beiden ist der Naturzustand letztlich nicht mehr eine Behauptung über eine empirische Realität der Menschheitsgeschichte, sondern ein theoretisches, anthropologisch-moralisches Konstrukt, dessen heuristischer Nutzen in seinem Charakter als Vergleichspunkt liegt, von dem aus die Geschichte teleologisch geordnet und normativ bewertet werden kann. Sie vereinbaren die oppositionellen geschichtsphilosophischen Modelle nun, indem bei beiden der Naturzustand zwar als positiv und sein Verlassen somit als Verlust eines Wertes erscheint, bei beiden aber dieser Verlust die Entwicklung der ebenfalls positiven Werte menschlicher Moralität erst ermöglicht. Schiller kann denn auch den Sündenfall geradezu hymnisch als felix culpa feiern: »die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschheitsgeschichte«.68 Und bei Klinger wird eine Positivität des Eintritts in die historische Phase zumindest darin sichtbar, daß sein Interesse in der Regel jenen Figuren gilt, die, als gleichwohl positiv bewertete, in den Aufklärungsprozeß eingetreten sind. Sie üben in der Regel eben gerade nicht jene nicht-fragende Resignation in den Willen Gottes, wie sie Ben Hafi scheinbar, anhand des Islam aber stellvertretend (denn eben deshalb ist die Handlung in dem von ihnen geteilten alttestamentarischen Raum situiert) für alle drei geoffenbarten, monotheistischen Religionen, für alle wahren Gläubigen postuliert. In dieser Logik erweisen sich im übrigen die Helden zugleich als Nicht-Gläubige im Sinne geoffenbarter Religion. Doch die Geschichtsphilosophien Klingers und Schillers unterscheiden sich auch in wesentlichen Merkmalen. Bei Schiller wird der Geschichtsprozeß eindeutig im Modell der umfassenden ›Bildung‹, als »Bestimmung« des Menschen, »sich als Menschen auszubilden« und »alle Kräfte, die im Menschen liegen, zur Ausbildung zu bringen«,69 interpretiert. Bei Klinger bleibt im wesentlichen offen, ob der Geschichtsprozeß in diesem Sinne teleologisch durchstrukturiert ist, daß auch Umund Irrwege teleologisch sinnvoll sind, und ob in ihm die Totalität der menschlichen Fähigkeiten realisiert wird. Nur der (ungeglaubte) alttestamentarische Gott der Reisen interpretiert die Geschichte eindeutig als einen von ihm intendierten Erziehungsprozeß, allerdings ohne seinen Hörer Mahal zu überzeugen. Auch bleibt die Deutung schon insofern fragwürdig, als dieser Gott seinen ersten Erziehungsversuch mit der Sintflut beenden muß, wie denn auch Sahir selbstironisch auf die Sintflut als Resultat seiner Erziehungsversuche verweist. Bei Schiller erscheint dieser Geschichtsprozeß, im charakteristischen dreistufigen Modell, als ein Wiedergewinn des Verlorenen auf höherer Ebene: Unschuld und Glück des unbewußttierischen Ausgangszustands werden im Endzustand bewußt-menschlich wiedergewonnen. Klinger hingegen spielt zwar ebenfalls deutlich mit einem solchen dreistufigen Modell der Geschichte: Doch bleibt offen, ob es diese Zukunft der dritten Phase überhaupt geben und wie sie gegebenenfalls beschaffen sein wird.
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Friedrich Schiller: Etwas über die erste Menschengesellschaft (1790). In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. IV. München 31962, S. 769. Ders.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789). In: ebd., S. 750; ders.: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790). In: ebd., S. 815.
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Wo Schiller also ein anthropologisch-geschichtsphilosophisches Wissen über die ›Bestimmung‹ des Menschen postuliert, da bleibt bei Klinger genau diese ›Bestimmung‹ offen, höchstens Wunsch, aber nicht Gewißheit, wie die Vorrede anhand der Fragen des Genius der Menschheit rekapituliert: […] wir mußten […] unsre verwickelten Darstellungen endlich zu allerletzt auf die Fragen […] zurückführen: Warum? Wozu? Wofür? Wohin? Wir ließen sie den Genius der Menschheit selbst tun; er erhielt keine Antwort, vermutlich darum, weil eine zu klare Antwort dem diesem Genius untergeordneten Geschlechte doch zu nichts nützen würde, wenn es dasselbe nicht gar um alle Selbständigkeit und dadurch um allen Wert brächte.70
Auch Schiller thematisiert den empirisch nicht bestätigbaren (»durch tausend bestimmende Fakta bestätigt und durch ebenso viele andre widerlegt«71) Charakter der aus menschlicher Sinnprojektion hervorgehenden Geschichtsphilosophie: »er [der Historiker, M.T.] bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte«.72 Gleichwohl nimmt Schiller eine solche teleologische Sinngebung explizit, wenn auch anhand der Geschichte nur fragmentarisch ausgeführt, vor, während Klinger die Geschichtsphilosophie eben um die entscheidende dritte Phase beschneidet und sie sich bei ihm nicht einmal mehr zum Range desjenigen Postulats erhebt, das »dem Verstande die höhere Befriedigung und dem Herzen die größte Glückseligkeit anzubieten hat«.73 Und wo Schiller schließlich als Resultat des historischen Prozesses den höchstmöglichen Wert umfassender ›Bildung‹ postuliert, da fällt bei Klinger die Rechnung über Verlust und Gewinn entsprechend skeptischer aus, die er dem Genius der Aufklärung selbst in den Mund legt: […] denn es ist nun einmal so, und wahrlich nicht durch meine Schuld, daß ihr Menschen nur durch Elend, Jammer, Erbärmlichkeit, Schiefheit, Schlechtigkeit und noch viel schlimmere Dinge zu dem wenigen Guten gelangen könnt, das Euch zu erreichen vergönnt ist. […] Ihr Menschen seyd nun einmal so gebildet, daß Ihr nur durch Finsterniß zum Lichte gelangt, daß das Laster Euch der Tugend, und die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit zuführen; daß Ihr ohne Verlust nicht gewinnen könnt, und daß das Ganze sich immer gleich bleibt.74
Ohne Wissen und Gewißheit einer ›Bestimmung des Menschen‹ hat sich also das handelnde Subjekt bei Klinger in der gegebenen Welt zu bewähren: Und hier ist nun der Ort der korpusimmanenten Moralphilosophie. Wie in der Aufklärung allgemein scheint auch bei Klinger zu gelten, daß die tradierten europäischen Verhaltensnormen von der Anwendung des aufklärerischen Basispostulats ausgenommen und im wesentlichen als anthropologische Universalien gedacht werden. Jener, eher mentale als historische ›Naturzustand‹ des Menschen wird also durch
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Vorrede, S. 9. Schiller 1789 (Anm. 69), S. 764. Ebd. Ebd. Sahir 2, S. 202f.
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die Merkmale ›Unwissenheit‹, ›Glück‹ und ›Unschuld‹ charakterisiert, die untereinander korreliert sind: Mit dem Eintritt in die historische Phase gehen alle drei Merkmale zugleich verloren. Der Erkenntniswille hebt die ›Unwissenheit‹ auf und strebt aus dem gegebenen Zustand heraus, mit dem zufrieden zu sein zu der Implikation von ›Glück‹ gehört. Im Sündenfall-Modell führt er zur »Erkenntniß des Guten und Bösen«75 und hebt damit die ›Unschuld‹ auf. ›Unschuld‹ bedeutet hier die selbstverständliche Erfüllung der Moralnormen, die nicht von deren Kenntnis und nicht vom Wissen alternativer Verhaltensmöglichkeiten begleitet ist und also auf keiner bewußten Wahl basiert. Sie ist somit wesentlich bedeutungsverschieden von ›Tugend‹, die erst in der historischen Phase möglich wird, wenn die ›Unschuld‹ verloren ist. Denn ›Tugend‹ basiert bei Klinger immer auf einer bewußten Wahl: Sie setzt die Kenntnis der Normen und das Wissen der Möglichkeit alternativen Handelns voraus. Und wie ›Unschuld› und ›Glück‹ in Klingers Welt positiv korreliert sind, so schließen umgekehrt ›Tugend‹ und ›Glück‹ einander als oppositionelle Größen aus.76 Kein tugendhafter Held Klingers, der im historischpolitischen Raum seine Normen und Werte zu realisieren versucht, wird glücklich. Erst wo er, wie freilich nur Abdallah in den Wanderungen, in einem Akt der Resignation wieder aus diesem Raum austritt, ist ihm ›Glück‹ möglich, das jedoch mit dem Verzicht auf aktives Handeln erkauft werden muß. ›Glück‹ ist hier also ein Zustand der unbewußten oder bewußten Selbstbeschränkung auf eine Existenz im außerhistorischen Raum (des Naturzustandes, der Kindheit, der Unterschicht) und schließt jede Grenzüberschreitung im Denken oder im Handeln aus. Wo also die Aufklärung von ihren Anfängen bis zum spätaufklärerischen Ende ihrer optimistischen Phase postuliert hatte, daß erstens der Mensch von Gott schon im irdischen Leben zum Glück »bestimmt« sei77 und daß zweitens (wie, wenn auch unter beträchtlichen intellektuellen Verrenkungen, die theoretischen Texte zu deklarieren und die literarischen Texte zu exemplifizieren nicht müde wurden) »Tugend« ebenso notwendig von »Glück« wie «Laster« von »Unglück«78 begleitet sei: da gelten in der spätaufklärerischen Welt Klingers beide Postulate (in transformierter und reduzierter Form) allenfalls für den hypothetischen Naturzustand. Wo also das frühere aufklärerische Denken Lohn bzw. Strafe für norm(in)adäquates Verhalten schon im Diesseits selbst in Aussicht stellte, da hat sich bei Klinger (wie auch bei Schiller, und wie bei diesem auf Kant basierend) die ›Tugend‹ emanzipiert. Sie ist ein Wert um ihrer selbst willen, und sie liegt genau
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Reisen, S. 330. Mit eben diesen Gedanken spielt Schiller in Resignation, siehe hierzu Vf.: Schillers Lyrik und die Philosophie der Spätaufklärung (2008), in diesem Band S. 507–531. Z.B. Gottsched 1734 (Anm. 7), Bd. II, S. 104; Haller: Über den Ursprung des Übels (In: Die Alpen und andere Gedichten. Hg. von Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1965, S. 55); Wieland 1752 (Anm. 14), S. 38 oder S. 127f.; Gellert: Moralische Vorlesungen. 2 Bde. Wien 1776. Bd. I, S. 6; und viele andere mehr. Vgl. auch Schillers Resignation. Theoretisch schon bei Wolff 1720 (Anm. 7), S. 43; Gottsched 1734 (Anm. 7), Bd. II, S. 109.
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dann vor, wenn weder im Diesseits noch im Jenseits Lohn erwartet oder Strafe befürchtet wird. Für diesen Wert nehmen die tugendhaften Helden, etwa des Giafar, des Raphael, des Teutschen, Unglück und Untergang auf sich. Lohn hat die ›Tugend‹ bei Klinger jedenfalls nicht zu gewärtigen, allenfalls Verfolgung. Denn in der dargestellten Welt ist der Repräsentant der ›Tugend‹ die Ausnahme, nicht die Regel: Der politische Raum wird von den Nicht-Tugendhaften dominiert, die ihre Ziele durch Normverletzungen zu realisieren suchen oder zumindest Normverletzungen anderer akzeptieren und dulden. ›Tugend‹ ist demgemäß im politischen Raum dem ›großen Einzelnen‹, dem exzeptionellen Individuum vorbehalten, das Anpassung an die Verhaltensregularitäten der sozialen Umwelt verweigert und ihrer (Kompromißbereitschaft mit der) Normverletzung seinen Tugendheroismus entgegensetzt. Die Gegenposition zu solcher Unbedingtheit in der Vertretung der Norm, deren grundsätzliche Anerkennung, die aber in der Praxis den Kompromiß mit der Realität vollzieht, wird durch den »Weltmann« vertreten. Wenn aber in Klingers Welten ›Tugend‹ nurmehr vom exzeptionellen Individuum praktiziert wird, das dafür den Preis seiner (sozialen oder biologischen) Existenz zahlen muß, dann bedeutet das offenbar, daß es, illustriert am politischen Raum, die Struktur der Welt in der historischen Phase selbst ist, die ›Tugend‹ ausschließt, indem sie sie fast unmöglich macht. Wo in Theorie und Literatur der Frühaufklärung die ›Tugend‹ das im Grunde Selbstverständliche und Normale war, und die Abweichung als das letztlich Unverständliche und Erklärensbedürftige schien, da ist jetzt, in einer Serie von denk- und literaturgeschichtlichen Transformationen, die literarisch vielleicht am deutlichsten im Drama seit der Jahrhundertmitte (in den mythisierten großen Delinquenten, die reuelos selbst fundamentale Normen verletzen79) sichtbar zu werden beginnt, die ›Tugend‹ zum Abnormen geworden: zur im Rahmen des Gegebenen kaum realisierbaren Utopie. Ihre Nicht-Realisierung wird nicht anthropologisch begründet: Zur ›Natur des Menschen‹ gehörten auch bei Klinger noch »seine Anlagen, gut und edel zu sein«.80 Ermöglichung der ›Tugend‹ ist also an eine Veränderung der Weltstruktur gebunden: an neue politisch-soziale Verhältnisse, d.h. an den Eintritt einer neuen geschichtsphilosophischen Phase, deren Eintritt in Klingers Romanen ungewiß bleibt. Die Revolution, von der einige Klingersche Helden ihn erwarten, ist in dieser Hinsicht gescheitert. Der denkgeschichtliche Prozeß, in dem die Realisierbarkeit von ›Tugend‹ in der Welt zum Problem geworden ist, hängt aber mit zwei Transformationen zusammen: zum ersten mit der im Verlauf der Aufklärung vollzogenen Aufhebung der
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So die bekannten Beispiele der Marwood in Miß Sara Sampson, der Betty in Pfeils Lucie Woodvil, des Henley in Brawes Der Freigeist, Marinellis in Emilia Galotti usw. Teutscher, S. 317. Rousseau selbst hat in der, gegen einen Rezensenten des Discours von 1755 gerichteten, Lettre de J.-J. Rousseau à M. Philopolis (1755) ebenfalls daran festgehalten, »que l’homme est naturellement bon«; so auch im Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1755): »cependant l’homme est naturellement bon, je crois l’avoir démontré«; so auch in Emile, ou de l’Education (1762), wo zu den Erziehungszielen gehört: »qu’il sache que l’homme est naturellement bon«.
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anfänglichen Ausgrenzung des Politischen, zum zweiten mit einer Umstrukturierung des Tugendbegriffs selbst. Denn ›Tugend‹ ist eben bei Klinger nicht mehr die passive Normerfüllung durch die bloße Nicht-Verletzung von Normen, zu der der aufklärerische Tugendbegriff in eben dem Ausmaß und eben solange neigt, wie der Raum des Handelns ein nur privater ist, und die politisch-sozialen Rahmenbedingungen zumindest scheinbar als selbstverständlich gegeben erscheinen. Die bemerkenswerte Häufigkeit weiblicher Heldinnen, deren Tugend im wesentlichen in bloßer Enthaltung, allenfalls durch private Wohltätigkeit ergänzt, besteht, belegt diese Tendenz am drastischsten in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Wenngleich auch Klingers Tugendhelden in der Regel die Sexualnormen nicht verletzen, polemisiert er doch beiläufig gegen eine solche Reduktion des Tugendbegriffs.81 ›Tugend‹ bedeutet bei ihm aktive Normerfüllung durch handelnde Umgestaltung der Welt, nicht bloße Nicht-Verschlechterung. Nun gelingt aber eine Veränderung der Weltstruktur in den Texten nicht und bleibt auch für die Zukunft ungewiß: Unter diesen Umständen ist aber der Moralpragmatizismus, die relative, kompromißbereite, den Umständen angepaßte Moralität des »Weltmanns« effizienter als die absolute, kompromißlose Tugend, deren Scheitern Giafar, Raphael, Teutscher vorführen. Und wo im Giafar im Untergang des Helden doch zumindest der zeitüberdauernde Ruf seiner Tugend eine normative Orientierungshilfe des Menschen für die Zukunft bleibt, da ist im Teutschen der Held zudem ein Verkannter, verfemt auch bei denen, deren Wohl er beförderte. Aber erfolgreiche ›relative Tugend‹ und scheiternde ›absolute Tugend‹ scheinen bei Klinger nirgends eindeutig korreliert oder hierarchisiert zu werden: Beide bestehen, in verschiedenen Texten, nebeneinander. Beschränkung auf das pragmatisch Mögliche bleibt freilich in Klingers Welt ebenso ein resignativer Akt wie der Rückzug des Subjekts aus dem politischen Raum; die ›unbedingte Tugend‹ hingegen ist ein Wert, der stets implizit die gegebene Weltstruktur negiert. Die tradierte aufklärerische Tugendforderung präsupponiert stillschweigend die Kompatibilität von Weltstruktur und Moralität; diese Basis wird ihr bei Klinger entzogen. Der deutschen Frühaufklärung schien ›Tugend‹ demgemäß das vernunftadäquate Verhalten, da jedes vernunftbegabte Subjekt erstens zur Erkenntnis der Normen und zweitens zur Einsicht in die Richtigkeit und Verbindlichkeit des normadäquaten Verhaltens kommen müsse.82 Wie schon die Gleichsetzung von ›Tugend‹ und ›Glück‹ wird auch diese Äquivalenz von ›Tugend‹ und ›Vernunft‹ bei Klinger aufgehoben. Der Held der Binnenerzählung der Wanderungen, Abdallah, beschwört einen Geist, der die reine Rationalität ohne jede emotional-affektive Regung verkörpert, weder begehrt noch haßt, weder Glück noch Leid kennt, nichts als kalte Vernunft ist:
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Wanderungen, S. 199. So etwa in Wolff 1720 (Anm. 7), Gottsched 1734 (Anm. 7), Gellert 1770 (Anm. 10) belegt.
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Vor meinem kalten Athem, meinem trockenen Blicke verschwindet alle euch blendende Täuschung. Ich sehe die Dinge, wie sie wirklich sind, blicke durch das Fleisch, welches verhüllt, was ihr in euerm trugvollen Innern denkt und fühlt.83
Für diesen Geist der absoluten Rationalität gibt es zwar keine Täuschung, aber auch ebensowenig Handlungsantriebe wie Moralität, keinen Unterschied des Wünschenswerten und des Nicht-Wünschenswerten, des Guten und des Bösen. An ihm wird also illustriert, daß aus der bloßen Vernunft keine Werte und Normen abgeleitet werden können, eine Folgerung, die in der Spätaufklärung sonst wohl nur der Marquis de Sade mit der ihm eigenen Konsequenz gezogen hat. Wenn aber die rationalistische Normlegitimation verworfen wird, bleibt, unter den verfügbaren Aufklärungstheorien, nur die Wahl der emotional-affektiven Normlegitimation der moral sense-Theorien, wie sie aus der englischen Frühaufklärung seit Hutcheson über Hume und Rousseau an die Spätaufklärung weitergereicht und in Deutschland seit der Jahrhundertmitte zunehmend bedeutsam werden.84 In dieser Konzeption bedarf es keiner rationalen Erkenntnis der Normen: Sie sind in der emotional-affektiven Komponente der ›menschlichen Natur‹ angelegt und werden so schon vor aller Erkenntnis als Handlungsmotiv wirksam. Das ›Herz‹, als metonymisch-metaphorischer Sitz der nicht-rationalen Komponente des Menschen und der von den moral sense-Theorien postulierten wohlwollenden Empfindungen gegenüber der Umwelt, wird denn auch bei Klingers Helden immer relevant. Zur ›Tugend‹ gehört, wie nicht nur Abdallahs Scheitern am Geiste reiner Rationalität und nicht nur der rousseauistische Held des Teutschen, sondern auch der kantianische des Giafar belegen, eine positive affektive Besetzung der Umwelt. Hierauf basiert die ambivalente Bewertung von Kants kategorischem Imperativ, der sowohl im Sahir 2 wie in den Reisen ironisiert, im Giafar aber exemplarisch vorgelebt wird. Abgelehnt wird er, der im Sahir personifiziert als […] menschliche Figur ohne Sehnen, Nerven, Fibern, Galle, Leber, Drüsen, Herz, Blut, Zellgewebe, Zwerchfell, Nieren und Schamtheile […], so leer von allem sinnlichen, irdischen, thierischen, leidenschaftlichen Ausdrucke, daß auch nicht die geringste Spur von Lust, Unlust, Furcht oder Hoffnung auf demselben zu sehen war,85
auftritt, insofern Kant die Freiheit des moralischen Handelns von allem affektiven Antriebe fordert:86 Diese aber würde in Klingers Anthropologie moralisches Handeln unmöglich machen. So bemerkt er in den Reisen:
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Wanderungen, S. 66. Francis Hutcheson: An Essay on The Nature and Conduct of Passion and Affections With Illustrations on the Moral Sense (1728); David Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751). Sahir 2, S. 141. Vgl. z.B. Kant: Critik der practischen Vernunft (1788), das Kapitel »Von den Triebfedern der reinen practischen Vernunft«: In: Werke (Anm. 53), Bd. VII, S. 191ff.
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Dieses erhabene Princip der Moral steht wahrlich nicht hier, um verspottet zu werden. – Nimm es in Rücksicht, wie die Menschen handeln sollen, so ist es das Erhabenste, was die erleuchtete Vernunft aufgestellt hat; hältst du es gegen die Erfahrung, so ist es freilich die giftigste Satyre gegen die Menschen, […].87
Bei Klinger scheint die Moralität jedenfalls in der vorhistorischen Phase primär auf dem ›Herzen‹, in der historischen Phase auf einer Kombination von ›Herz‹ und ›Verstand‹ zu beruhen, wobei es den emotional-affektiven Impuls zum Guten in eine rational eingesehene Verpflichtung zu transformieren gilt. Mit Kant geteilt wird das Postulat der moralischen Autonomie des menschlichen Subjekts, das Giafar auf die Formel bringt, »sich selbst Gesetz zu seyn«,88 wobei die Möglichkeit individualistischer Normsetzung durch die kantische Einschränkung ausgeschlossen wird, »daß der Beweggrund meines Handelns Gesetz für alle seyn mag«;89 daß Giafars Formel auch massive politisch-revolutionäre Implikationen hat, wird im übrigen in Sahir 2 thematisiert.90 Mit diesem Autonomieanspruch steht freilich zugleich auch das bekannte Problem von Freiheit und Notwendigkeit91 an, das wie bei Kant und Schiller gelöst wird. Das Notwendige, womit bei Klinger nur die metaphysisch-ontologischen, nicht aber die politisch-historischen Rahmenstrukturen gemeint sind, wird vom Subjekt in seinen Willen aufgenommen. Mit dem Problem des Notwendigen, jener Kausalität der Weltstruktur, die die Frühaufklärung auf die Formel vom »Zusammenhang der Dinge«92 brachte, in welchem, aufgrund der Verkettung aller Ereignisse, jede Tat Folgen ad infinitum hat und somit die Zukunft der ganzen Welt mitbestimmt, ist noch ein weiteres moralisches Problem verknüpft. Wie schon im Faust hält auch im Giafar der Teufel dem Helden vor, durch sein Handeln unübersehbare negative Folgen ausgelöst (und somit zu verantworten) zu haben,93 das Theorem würde offenkundig ein nicht-konservatives, politisch-moralisches Handeln weitgehend als nicht empfehlenswert erscheinen lassen. Giafar lehnt solche Verantwortung durch den Verweis auf die menschlichen Erkenntnisgrenzen ab. Die Moralität des Handelns bestimmt sich durch den »reinen Willen«,94 nicht durch die Positivität der Folgen: Menschliches Handeln ist nur insoweit zu verantworten, als menschliche Erkenntnis die Folgen übersehen kann.
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Reisen, S. 272. Giafar, Bd. II, S. 158. Ebd., S. 147. Sahir 2, S. 145f. Vgl. Hering 1966 (Anm. 3), S. 265. Z.B. Wolff 1719 (Anm. 7), S. 350ff.; siehe auch: Friedrich Schiller: Die Sendung Moses, 1790. In: Sämtliche Werke. Bd. IV (Anm. 68), S. 790. Literarisch durchgespielt wird dieses Modell etwa in C. H. Spieß: Der alte Ueberall und Nirgends (1792/93). Giafar, Bd. II, S. 147.
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Sowohl Geschichtsphilosophie als auch Moralphilosophie der Aufklärung sind nun aber letztlich auf die (in der Regel deistische) Religionsphilosophie angewiesen. Das 18. Jahrhundert kann bekanntlich keine rationalen Strukturen ohne personalisierten, vernunftbegabten Urheber denken; so wird ja die scheinbare Vernünftigkeit der Welt immer wieder zum Argument in den deistischen Gottesbeweisen, und nicht zuletzt aus diesem Grunde sind (in der politischen Theorie) bezüglich der Französischen Revolution die Verschwörungstheoreme und (in der literarischen Praxis) die Geheimbundromane so erfolgreich. Nur ein göttlicher Urheber der Welt kann etwa den Moralnormen den ontologischen Status nicht-kulturrelativer, immer und überall verbindlicher Universalien verleihen und garantieren, daß sie (aufgrund der ›menschlichen Natur‹) entweder jedermann rational erkennbar oder jedermann in seiner Anlage mitgegeben sind. In eben dem Ausmaß, in dem die Moraltheorie auf diese Instanz verzichtet und sie nicht, ausgesprochen oder unausgesprochen, für die Rechtfertigung der Moral bemüht, gerät dieser ontologische Anspruch der Normen in eine Legitimationskrise: Die Normen laufen Gefahr, auf bloß kulturrelative Spielregeln reduziert zu werden. Noch deutlicher liegt der Fall der Geschichtsphilosophie: Die beanspruchte teleologische Ordnung zeitlicher Prozesse in der Welt bedarf in diesem System eines Urhebers wie auch das Théodicéepostulat einer vernünftigen und gerechten Weltordnung: Der Atheist d’Holbach verzichtet denn auch korrekterweise auf beides.95 Hier also wäre der Ort der Klingerschen Religionsphilosophie und der Frage nach der Bedeutung der Mythologie, die das Romankorpus aufbaut.
III Die nicht-menschlichen Entitäten, aus denen Klingers Mythologie besteht, sind nun zum einen von vornherein fiktiv gesetzte Personifikationen, für die kein Anspruch auf eine äußere Realität erhoben wird: so der Genius der Menschheit (Faust, Genius), der der Aufklärung und der der Natur (Sahir 2), der der reinen Rationalität (Wanderungen).96 Zum anderen handelt es sich um Entitäten des christlichen Bereiches: die wiederholt auftretenden Teufel (Faust, Giafar, Genius), einmal auch der alttestamentarische Gott (Reisen). Nun ist die vom Textkorpus vertretene Religionsphilosophie aber eindeutig nicht-christlich: Gegenüber einer provokanten Sympathie für die islamische Welt sind die Repräsentanten des Christentums die moralisch unerfreulichsten Figuren der dargestellten Welt (Faust, Raphael, Sahir 2). Es handelt sich zwar immer um Vertreter des Katholizismus, doch liegt hier eindeutig wieder nur die Verschiebungsstrategie vor, da ihnen
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D’Holbach: Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral (1770; vgl. in der deutschen Ausgabe: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt a.M. 1978, S. 79, 428, 455). Vgl. wiederum Schillers Resignation und meine Ausführungen dazu, in diesem Band S. 507–531.
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nirgends, auch dort nicht, wo es historisch möglich wäre (Faust, Sahir 2), etwa positive Vertreter des Protestantismus konfrontiert werden. Damit kommt für den Zyklus, unter den im 18. Jahrhundert verfügbaren Positionen, allenfalls noch die deistische in Betracht. Diese wiederum kennt aber weder Teufel noch alttestamentarischen Gott, sodaß auch diese Größen in den Texten keinen anderen Realitätsstatus als die offenkundigen Personifikationen haben können. Die mythischen Größen werden schon durch ihre partielle Austauschbarkeit relativiert: Derselbe geschichtsphilosophische Aufklärungsprozeß kann wahlweise dem Genius der Aufklärung, dem Teufel, dem alttestamentarischen Gott, zugeschrieben werden. Für keine der mythischen Wesenheiten wird also ein Glaube an ihre Realität vom Leser erwartet: daß sie auftreten, erweist sie schon als Fiktionen; der ernstlich diskutierte (allenfalls deistische) Gott manifestiert sich in der dargestellten Welt umgekehrt nirgends wahrnehmbar, wie selbst der Genius der Menschheit erfahren muß. Struktur und Funktion der Mythologie können wiederum nicht näher interpretiert werden. In den Betrachtungen, in denen Klinger als guter Aufklärer auch gegen den zeitgenössischen Okkultismus polemisiert,97 hat er auch die Position vertreten, Teufel und ihre Äquivalente seien Projektionen des Menschen, mittels derer er das Böse in sich nach außen verlagere und verkörpere: Zu seiner Entlastung warf er den Ursprung dieses Wesens außer sich, um eins zu haben, dem er etwas aufladen konnte, wenn es zur Sprache kam.98
In den Romanwelten erscheinen diese Wesenheiten dem Menschen denn auch nur, wenn er selbst durch sein Tun oder Denken ihre Erscheinung auslöst. Insoweit sie Projektionen sind, stellen die Dialoge zwischen Mensch und Nicht-Mensch folglich eine Psychomachie dar, bei der das Subjekt anhand einer personalisierenden Projektion einer Potentialität seiner selbst sich eben dieser Potentialität bewußt wird. Den Teufel besiegen (Giafar), heißt dann insoweit auch, über etwas in sich Herr werden; ihm unterliegen hingegen, eben diese Autonomie dessen, der sich selbst das Gesetz gibt und es erfüllt, nicht erlangt zu haben (Faust). Doch gehen die nicht-menschlichen Entitäten offenkundig nicht in dieser Funktion projektiver Personifikationen von Aspekten des Menschen auf; sie repräsentieren zugleich auch abstrakte Prinzipien und nicht-materielle Strukturen der Welt. Als solche werden sie durch ihre die Grenzen des Menschen überschreitenden Fähigkeiten erkennbar. Freilich sind bei Klinger solche Personalisierungen als bewußte Personifikationen kenntlich, ähnlich wie etwa beim Atheisten d’Holbach, der die so beliebte verbale Personifikation der ›Natur‹ als eines die Gottheit ersetzenden
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Betrachtungen, Bd. Xl. S. 81, 147; Bd. XII, S. 20, 60, 157, 164, 210, 222, 229, 258. Betrachtungen, Bd. XI, S. 109. In Betrachtungen, Bd. XII, S. 206 wird das Modell auch auf Gott ausgeweitet: »Durch die moralische Bekanntschaft mit sich selbst hat der Mensch den Begriff von Gott und Satan, oder einem guten und bösen Wesen, aus sich selbst entwickelt, und so die Grundzüge zu seinem eignen Gemälde in aller Naivität entworfen.«
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anthropomorphen Handlungsträgers sich zwar zu eigen macht, aber zugleich als bloß rhetorische Personifikation thematisiert.99 Wenden wir uns der Frage zu, wie der Gottesbegriff beschaffen ist, der im Romankorpus noch ernstlich zur Diskussion steht. Eine solche Gottheit bleibt in der dargestellten Welt abwesend: Sie existiert nur in der Rede von Figuren über sie. Im Gegensatz zur tradierten deistischen Position der ›natürlichen Religion‹, damit auch im Gegensatz zum für Klinger sonst so relevanten Rousseau, kann Gott hier weder logisch-theoretisch deduziert (wie in der Metaphysik seit Wolff und Gottsched) noch induktiv-empirisch aus der wahrnehmbaren Welt gefolgert werden (wie in der Physikotheologie seit Derham). Wie bei Hume100 oder Kant wird hier eine Erkenntnisgrenze gezogen, die nicht nur die geoffenbarten Religionen, sondern auch die ›natürliche Religion‹ des Deismus ausschließt. Nichts verbürgt in Klingers Welt die Existenz der Gottheit: und somit läßt sich auch nichts über ihre Prädikate aussagen. Sprachlich erscheint sie als der »Unbegreifliche«, der »Unnennbare«, der »unbegreiflich Verhüllte«, der »Verhüllte«, der »Unaussprechliche« usw.101 Wo in den deistischen Gottesbeweisen des 18. Jahrhunderts Gott zwar als Inbegriff absoluter Vollkommenheit, aber doch nur als hyperbolische, wenn auch quantitativ ins Unendliche gesteigerte Vervollkommnung der Merkmale auftrat, die sich der Mensch als mögliche Positiva zuschrieb, wird hier, wie in den Argumentationen Humes und Kants, der ontologische Abstand zwischen Mensch und Gott erhöht. Wenn Gott existiert, dann ist er potentiell das ganz Andere und Fremde ohne qualitative Gleichheit mit dem Menschen, das höchstens im Denken der Menschen (und der mythischen Entitäten) anthropomorphisiert wird. Demgemäß entsprechen die religiösen Konzeptionen der Figuren ihren geschichtsphilosophischen Entwicklungs-zuständen. Die geoffenbarten montheistischen Religionen werden in den Texten nur von den ›unaufgeklärten‹ Mitgliedern historischer Kulturen vertreten, seien es nun Christen oder Mohamedaner. Die dem (ersten, vorhistorischen) Naturzustand nahen (und solange auch moralischen) Circassier des Sahir 2 kommen mit Feen und Genien, aber ohne Gottesvorstellung aus. Interessanter und im 18. Jahrhundert um vieles provokanter ist ein vergleichbarer Fall in den Reisen. Hier existiert ein Reich, in dem eine Art zweiter, nachhistorischer Naturzustand eingetreten ist: Sie wissen nichts mehr von Gott, haben ihn ganz vergessen, sie pflanzen, säen, ernten, jagen, fischen, essen und trinken, schlafen bei ihren Weibern, wissen nicht, woher sie kommen, wohin sie einst gehen werden, und fragen auch nicht einmal darnach. Es ist ein dummes, gesundes, glückliches, starkes Volk, das selbst den Tod nicht fürchtet.102
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D’Holbach 1770 (Anm. 95), S. 24f. David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion (1779). Hier wird postuliert, daß sich aus der Realität nichts über Gottes Attribute folgern läßt: Demgemäß wird die Théodicée in Frage gestellt. Giafar, Bd. I, S. 43f., 50; Giafar, Bd. II, S. 9; Genius, S. 267 und 294. Reisen, S. 277.
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Wo die Aufklärung von Anfang an, mit wenigen Ausnahmen, immer wieder den Atheismus tabuisiert hatte, da er zur Aufhebung jeder Tugend führe,103 wird hier, ähnlich wie bei dem Atheisten d’Holbach, die Kompatibilität von Atheismus und Moralität postuliert. Im ersten wie im zweiten Naturzustand bedarf die Moralität also keiner Gotteskonzeption; umgekehrt sind die Repräsentanten des geoffenbarten Monotheismus bestenfalls tugendhaft. Der Gottesglaube ist der verlorenen ›Unschuld‹ zugeordnet, und je mehr die ursprüngliche Moralität als bewußte Tugend wiedergewonnen wird, desto absenter wird Gott. Bei Klingers Tugendhelden der historischen Phase ist er allenfalls, im Sinne Kants, ein ›Postulat der praktischen Vernunft‹: Dem Helden des Raphael erscheint er als »der Erhabene, den ich vielleicht nur denken kann und soll«.104 Mit dem Grad der moralischen Autonomie vollzieht sich eine Abkehr von religionsphilosophischen Fragen. Vom Helden des Giafar heißt es, er übe die Tugend »gleichgültig gegen sich selbst« und »kalt gegen den Ewigen«,105 und der Held des Raphael formuliert: Mein Gott ist die Kraft meines Herzens, die mich zur Veredelung meines Geistes belebte, mich weitere, höhere, edlere Entwicklungen ahnden läßt.106
In den Figurenpositionen, die in Klingers Korpus als die ›Aufgeklärtesten‹ erscheinen, bleibt also der systematische Ort in der Denkstruktur erhalten, an dem in der älteren Aufklärungstheorie ›Gott‹ stand. Er erscheint aber allenfalls als menschliche Denkgröße, deren Entsprechung in der Realität zumindest ungewiß ist; er ist eine semantisch entleerte Größe, der keine Merkmale zugeordnet werden können; er ist eine bloß funktionale Entität, die den Anspruch auf eine vernünftige und moralische Ordnung der Welt repräsentiert, d.h. das, was seit Leibniz ›Théodicée‹ genannt wird. Er repräsentiert das Postulat eines Sinns, das in der dargestellten Welt freilich nicht erfüllt wird; die Sinnfrage des Genius der Menschheit bleibt unbeantwortet. Alle Konstrukte, mit deren Hilfe die Aufklärung einen Sinn garantieren wollte, werden denn auch bei Klinger zurückgenommen. Die klassische weltimmanente
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Über die Verwerflichkeit und Nicht-Tolerierbarkeit der Atheisten etwa: John Locke: Epistola de Tolerantia (1689); Albrecht von Haller: Ueber die praktischen Folgen des Unglaubens (1750); Gellert 1770 (Anm. 77), Bd. II, S. 640. Eher ambig äußern sich Justus Möser: Über die allgemeine Toleranz, 1787ff. und Voltaire: Dictionaire philosophique portatif (1764), Art. »Athée«, wo er zumindest verbal Bayles Behauptung, ein Atheist könne tugendhaft sein, angreift. Johann Gottfried Seume: Über Atheismus im Verhältnis zu Religion, Tugend und Staat (1796) verteidigt den Atheismus gegen den Vorwurf notwendiger Amoralität: Dabei wird aber sichtbar, daß die Tugendnormen für den Atheisten einen anderen ontologischen Status, den bloßer pragmatischer Zweckmäßigkeit, erhalten. Wolff und Gottsched, die die rationalistische Moralbegründung vertreten, postulieren konsequenterweise, daß auch der Atheist, bei Vernunftgebrauch, notwendig die Tugendnormen einsehen müsse. Raphael, S. 292 Giafar, Bd. I, S. 165. Raphael, S. 291f.
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Théodicée (ab Wolff und Gottsched, noch nicht bei Leibniz) erscheint in dieser vom Bösen dominierten Welt unmöglich. An der Théodicéefrage war schon der Held des Faust gescheitert,107 und wenn die Théodicéethese im Giafar dem Helden vom Teufel (!) suggeriert wird, dann als Bestandteil seiner Verführungsstrategie, die zurecht auf die empirische Falsifikation der These und zu Unrecht auf die daraus resultierende Verzweiflung hofft. Die Vorrede des Romans verabschiedet sich denn auch, unter Verweis auf Kant,108 von den »Träumen von Théodicéen«. Eine um die Transzendenz erweiterte Théodicée, bei der die weltimmanent fehlende Gerechtigkeit und Moralität kompensatorisch im Jenseits hergestellt wird, entfällt bei Klinger ebenfalls: Wo schon die Existenz des Gottes ungewiß ist, da ist es die eines jenseitigen Lebens a fortiori. Und schließlich entfällt die teleologischaposteriorische Théodicée der Geschichtsphilosophien, die den Sinn (die Vernunft und Moralität) von einem zukünftigen Endziel her rechtfertigt. Wo die Existenz der Gottheit ungewiß ist, da ist es auch die Existenz des nachträglich sinngebenden geschichtsphilosophischen Endzustandes; bei Klinger fehlt eben die dritte bzw. letzte entscheidende Phase. Die Aufklärung hat ihre Erkenntnisprozesse von Anfang an mit Erkenntnistheorie begleitet:109 Und deren Entwicklung bis zu Hume und Kant wird in Klingers Skeptizismus gegenüber einer metaphysischen Erkenntnis offenkundig aufgewertet. Schon am Faust wurde vorgeführt, wie metaphysischer Erkenntniswille notwendig an den Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeit scheitert und zugleich auch zu moralischem Fehlverhalten führt. Die positiven Helden des Giafar, Raphael, des Teutschen (lernen) verzichten auf solche Erkenntnis; und mit diesem Verzicht wiederum hängt es zusammen, daß sie die moralische Autonomie bewußter Tugend erlangen. Ich hebe hier nur zwei Punkte der vom Zyklus implizierten Erkenntnistheorie hervor. Zum einen postuliert Klinger die anthropologische Notwendigkeit der »Täuschung« des Menschen; so läßt er den Geist der Natur sprechen und den Erzähler kommentieren: »Ich liebe meine Kinder, und habe ihnen die Täuschung zur Gefährtin gegeben. Ohne sie erstarrte Euer Geist, und der Frost des Todes beschlich Euer Herz.« […] Ach wohl ist
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Vgl. Hering 1966 (Anm. 3), S. 275. Gemeint ist natürlich Kant 1791 (Anm. 10). Also etwa: John Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690); George Berkeley: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710); Condillac: Essai sur l’origine des Connoissances humaines (1746); David Hume: Philosophical Essays Concerning Human Understanding (1748); Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1765); Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über, die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (1764); Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781) usw.
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alles Täuschung unter der Sonne! Doch ist ein schöner Traum, der um den Schleyer der Wahrheit schwärmt, und zu Zeiten hindurchblickt angenehmer.110
Quelle der »Täuschung« ist offenbar das »Herz«: Denn eben der Genius der reinen Rationalität kennt keine Täuschung und auch weder Tugend noch Laster; ihn aber erträgt der menschliche Held nicht, der zudem auch die affektiv-emotionale Komponente besitzt. Am Ende der Aufklärung ist deren Erkenntnis die ihrer eigenen Grenze: nicht nur als epistomologische Grenze des Ertragbaren. Bei Klinger sichert die Erkenntnis am Ende nicht mehr den Sinn, sondern sie stellt ihn in Frage, indem sie die sinngebenden Fiktionen zu zerstören droht, deren der Mensch bei Klinger bedarf, um leben zu können. Mein zweiter Punkt betrifft Klingers implizite Sprachphilosophie. Wiederholt beschwert sich Mahal in den Reisen, er habe auf seine Fragen statt Antworten immer nur »Worte« erhalten, so am Textende gegenüber dem alttestamentarischen Gott: […] alles, was ich darüber erfahren habe, was ich gelernt habe, sind Worte, womit ich die Triebe zum Guten und Bösen benennen kann; doch es sind nur Worte.111
Die Worte, die man ihm geliefert hat, waren die Klassifikationen der Aufklärungspsychologie/-anthropologie: ihre lexikalische Zerlegung des Menschen in verschiedene, unterscheidbare psychische Kräfte und Antriebe. Der Genius der reinen Rationalität, dem auch Tugend und Laster bloße Worte sind, vergreift sich sogar, im selben Sinne, an dem für das 18. Jahrhundert wichtigen Begriff der ›Natur‹: Entzückt über die bunten und mannigfachen Gegenstände, sitzest du hier, die ein Ding, dich zu täuschen, um dich herausgebreitet hat, das du Natur nennest, ohne zu wissen, was du unter diesem nichts und viel sagenden Worte denkest oder denken sollst.112
Eben dieser Genius koppelt ausdrücklich Erkenntnis und Sprache voneinander ab: Was daraus entsteht, sage ich dir voraus – du selbst gibst dem Entstandenen Nahmen und Bedeutung.113
Nun basieren die Argumentationen des 18. Jahrhunderts von der Frühaufklärung bis tief in die Goethezeit hinein auf der Unterstellung der Selbstverständlichkeit der Sprachstrukturen,114 auf dem in der Regel unausgesprochenen Theorem vom Abbildcharakter der Sprache gegenüber der Realität. Nur auf dieser Basis konnten etwa Wolff und Gottsched scheinbar aus dem Nichts Gott, die Welt, den Menschen, die Moral deduzieren. Bei Klinger wird also erstmals in der deutschen Aufklärung ernstlich die stillschweigende Prämisse der Selbstverständlichkeit
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Sahir 2, S. 212f.; Sahir 1, S. 172; vgl. Schillers Resignation. Reisen, S. 331. Wanderungen, S. 220. Ebd., S. 118. Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, S. 181ff.
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sprachlicher Realitätsklassifikationen in Frage gestellt.115 Wenn der Akt des sprachlichen Benennens ein Akt des Deutens ist, dann wird die Folgerung möglich, daß die vorsprachliche Realität sinnfrei/-los ist und Sinn nur durch die menschliche Klassifikation im Redeakt erhält. Wenn sprachlich unterschiedene Entitäten bloße Fiktionen sein können, dann sind alle sprachlichen Klassifikationen, mit denen das 18. Jahrhundert selbstverständlich umging, potentiell bloße Täuschungen: Produkte des Menschen ohne Referenz in der Realität. Dann wird der Mensch einzig und allein die sinngebende Instanz gegenüber einer sinnleeren Realität: Denn alle anderen sinngebenden Instanzen (Gott einbegriffen) sind dann vielleicht ebenso bloße sprachliche Fiktionen wie die nicht-menschlichen Entitäten in Klingers Romanzyklus selbst. Wo alle tradierten Sinngebungen problematisch geworden sind, da sie Zielvorgaben an den Menschen durch eine Instanz außerhalb seiner waren, deren Realität unerweisbar geworden ist, wo die Deutungsmodelle der Aufklärung auf »Fragen ohne Antwort«116 reduziert sind, da sieht sich der Mensch (wie Klingers positive Helden) auf sich selbst verwiesen. Empirische Anthropologie ist denn auch die integrative und irreduzible Ebene, auf die bei Klinger die tradierten Teilphilosophien zurückgeführt werden. Gottes Existenz, sahen wir, ist für Klinger unentscheidbar:117 Es geht also nurmehr um die Frage, welche Funktion und Relevanz diese unerkennbare Entität für den Menschen haben kann. Wenn sie nun aber nur eine funktionale Denkgröße ist, die umso entbehrlicher scheint, je mehr der Mensch die moralische Autonomie erlangt: dann ist Gott anthropologisch nur ein Konstrukt, mittels dessen der Mensch ein Ideal seiner selbst, als etwas außerhalb seiner selbst, denkt, dem er sich anzunähern sucht und das er entbehren kann, sobald es ihm gelingt. In der gegen innere wie äußere Widerstände errungenen bewußten Tugend erscheint denn auch der Mensch als ein »Bild des Ewigen«.118 In Klingers Anthropologie ist ›Gott‹ ein (erforderlicher und insofern sinnvoller) Umweg des Menschen auf dem Weg zu sich selbst: zur bewußten Autonomie des Einzelnen wie der Gattung. Ob dieser Denkund Sprachgröße ›Gott‹ auch eine Realität entspricht, wird in dieser Sicht für den Menschen tatsächlich bedeutungslos: eine Diskussion, die überhaupt nur auf einem bestimmten geschichtsphilosophisch-anthropologischen Zwischenzustand relevant erscheint, aber bewußtseinsgeschichtlich überholbar ist. Aus diesem Prozeß folgt eine bei Klinger ausgesparte Frage: Wer setzt und entscheidet, was die Normen der
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Vgl. d’Holbach 1770 (Anm. 95), S. 595. Jörg Schönert: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezels Belphegor, Klingers Faust und die Nachtwachen. Von Bonaventura. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 14 (1970), S. 183– 229. So heißt es in den Betrachtungen, »daß es eben so verwegen ist, das Daseyn Gottes zu leugnen, als es unmöglich ist, es darzuthun« (Bd. XI, S. 192). Vgl. auch Vorrede, S. 8: »die Tugend […], das einzige wahre Bild der Gottheit, durch welches sie sich uns allein offenbarte«.
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›Tugend‹, der einzigen bei Klinger nicht infragegestellten tradierbaren Denkgrößen,119 sind? Die Normen müssen notwendig ihren alten, nicht-sozialen, ontologischen Status verlieren und zum bloß menschlich-sozialen Produkt werden, wenn ihnen der jenseitige Urheber entzogen wird: Genau diese Folgerung aber wird bei Klinger nicht gezogen; und vielleicht bleibt gerade deshalb das Denkpostulat ›Gott‹ erhalten, wie sehr es auch semantisch und funktional entleert sein mag, damit die Normen ihren ontologischen Status weiterführen können. Der geschichtsphilosophische Prozeß, in dem die Größe ›Gott‹ eine vom menschlichen Entwicklungsstand abhängige und entsprechend variierende Rolle spielt, geht seinerseits aus der ›menschlichen Natur‹ hervor. ›Mensch‹ definiert sich bei Klinger nur negativ als Potentialität; in den Worten des Genius der reinen Rationalität: er ist alles das nicht, was er gern seyn wollte, und wäre er alles dieß, so wollte er wieder seyn, was er vorher gewesen ist. Streben und Wünschen ist sein Erbtheil […],120
woraus sich im übrigen ein dreigliedriger Geschichtsprozeß des Schillerschen Typs ergäbe. Der Mensch definiert sich also durch den Willen zur permanenten Grenzüberschreitung aus dem je gegebenen Raum hinaus. Klingers exzeptionelle Individuen, die immer den vorgefundenen Raum in Frage stellen, repräsentieren somit exemplarisch die Menschheit. Eine räumliche Terminologie für Zustandsbeschreibungen ergibt sich im übrigen aus den Texten selbst: ›Leben‹ wird als ›Weg‹ interpretiert wie auch sonst in der Goethezeit und im Initiations- bzw. Bildungsroman im besonderen, und wie auch in diesen Erzähltypen wird der Weg ›narrativ‹ durch die Reisen des Helden abgebildet. Der notwendig gewordene Verzicht auf die Gewißheit einer sinnstiftenden Instanz und einer (diesseitigen und/oder jenseitigen) teleologischen Zielvorgabe wird dementsprechend, wie auch sonst in Erzähltexten der Spätaufklärung, so in Schillers Geisterseher oder in der Endfassung von Wielands Agathon, als Weg unbekannter Herkunft und unbekannten Ziels ausgedrückt: Noch weiß ich nicht, woher ich komme, wohin ich gehe.121
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Vgl. Betrachtungen, Bd. XI, S. 194: »Bisher hat noch kein Sterblicher die Tugend geläugnet, wenigstens ihren Werth nicht, selbst kein erklärter Gottesläugner […].« Wanderungen, S. 64. Giafar, Bd. II, S. 162. Vgl. Wieland: Agathon, 3. Fassung, 16. Buch, 2. Kap.: »Den undurchdringlichen Schleier, der auf dem Geheimnisse der Natur liegt, aufdecken zu wollen, wäre ebenso vergeblich als vermessen. Ich soll nicht wissen, weder woher ich kam noch wohin ich gehe...« (Sämmtliche Werke. Bd. VI. Leipzig 1853, S. 293). Ähnlich Schiller im Geisterseher, 2. Buch, 4. Brief: »Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. […] Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein – er hat nichts als sein Botenlohn dabei zu verdienen.« (Sämtliche Werke, Bd. V: Anm. 49, S. 126.)
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Klingers Romanwerk demonstriert, wie das Aufklärungsdenken, als Produkt eines langfristigen aufklärungsinternen Transformationsprozesses, in seiner Spätphase die von der Aufklärung selbst produzierten Theoriebildungen zurücknimmt und aufhebt: Nur als unbeantwortbare Fragen bleiben sie erhalten. Die anfänglichen Relationen typischer Elemente des Aufklärungsdenkens sind bis zur Umkehrung der Ausgangspositionen umstrukturiert. Wo in der Frühaufklärung ›Gott‹ (und die Religionsphilosophie) stillschweigend Zentrum und Bezugspunkt der Theoriebildungen war, da ist es jetzt der ›Mensch‹ (und die Anthropologie). Wie der Mensch hat sich die Anthropologie aus den theoretischen Kontexten, in die sie eingebettet war, gelöst und ist autonom und dominant geworden: Sie ist das integrative System, von dem her allein sich die verbliebenen Reduktionsformen und Schwundstufen, in denen die anderen Teilphilosophien einzig noch existieren, legitimieren. Gott, die Teleologie von Entwicklungsprozessen, die Bestimmung des Menschen sind nurmehr anthropologisch motivierte, funktionale Denkgrößen. Alle Sinngarantien sind zurückgenommen; eine vernünftige und gerechte Weltordnung, in der Vernunft, Tugend, Glück zusammenfielen, ist nicht mehr erkennbar. Der Optimismus ist durch Pessimismus und Skepsis ersetzt; selbst der Erkenntniswille erhält eine anthropologische Grenze durch das Bedürfnis des Menschen nach sinngebenden Fiktionen. Die rationale Erkenntnis bedroht am Ende ihren Urheber selbst. Erhalten bleiben die Forderungen der Moral, die freilich noch vom exzeptionellen Individuum uneingeschränkt erfüllbar sind, das im Tugendheroismus seiner moralischen Autonomie eine immer tragische Selbstbewährung vor dem Publikum des eigenen Ich als richtender Instanz vollzieht. Diese inhaltlichen Transformationen der älteren Aufklärungsphilosophie basieren auf fundamentalen Transformationen der ursprünglichen Denkstruktur von Aufklärung. Von dieser Denkstruktur bleiben bei Klinger nur das Basispostulat und die Empirieprämisse erhalten: Im Verein mit den im Prozeß der Aufklärung selbst gewonnenen oder ihr von außen aufgezwungenen, neuen empirischen Daten, darunter die (bei Klinger nicht zuletzt relevante) Erfahrung der Französischen Revolution, haben diese beiden Denkregeln von Aufklärung zur partiellen oder totalen Infragestellung bzw. Aufgabe der theologischen, ontologischen, erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen Prämissen und des Ökonomieprinzips geführt. In dieser Transformation wird insbesondere die Relation von Theorie und Empirie gegenüber der Frühaufklärung umgekehrt: Ein ›ideologischer‹ Umgang mit Empirie, der Daten nur insoweit zuläßt, als sie die Theorie bestätigen, wird durch einen ›wissenschaftlichen‹ Umgang mit Empirie ersetzt, bei dem die Daten dominant sind und die Theorie widerlegen können. Die Welt ist zu einer komplexen Struktur geworden, die nicht mehr aus der Vernunft allein deduziert werden kann, sondern der empirischen Untersuchung bedarf; die Vorrede hat es ausdrücklich vorgegeben: Daher nur der bloß scheinbare Widerspruch dieser Werke [= der Romane des Zyklus, M.T.] unter- und gegeneinander, welcher manchen Leser irreleiten könnte; und darum scheint oft das folgende Werk niederzureißen, was das vorhergehende so sorgfältig
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aufgebaut hat. Beides ist hier Zweck; und da uns die moralische Welt in der Wirklichkeit so viele verschiedne, oft bis zur Empörung widersprechende Seiten zeigt, so mußte eine jede, weil jede in der gegebenen Lage die wahre ist, so und nicht anders aufgefaßt werden. Hier muß nun die Erfahrung und nicht die Theorie das Urteil sprechen; denn die Widersprüche selbst zu vereinigen oder das Rätsel selbst zu lösen, geht über unsere Kräfte und mußte über unsere Kräfte gehen. Auch dieses sollte hervorspringen.122
Wo aber mit unauflösbaren ›Widersprüchen‹ gerechnet wird, da ist auch keine umfassende Gesamttheorie mehr möglich: keine jener enzyklopädisch-integrativen philosophischen Summen, zu denen schon die Frühaufklärung und noch die Goethezeit bis in die idealistische Philosophie hinein neigt.123 Wo Klinger sich selbst theoretisch äußert, hat er denn auch in den Betrachtungen nicht zufällig die aphoristische Form gewählt. Damit ist zugleich implizit festgelegt, in welcher Form Aufklärung auf der Basis des bei Klinger erreichten Bewußtseinsstandes einzig und allein noch legitim fortleben kann: als Auflösung in empirisch fundierte und spezialisierte Einzelforschung (mehr oder weniger philosophischen oder wissenschaftlichen Typs), und das ist ja auch die Form, in der sie tatsächlich das Jahrhundertende überlebt. Im Rahmen dierser theoretischen Transformationen läßt sich wohl auch, zumindest hypothetisch, die Frage beantworten, welche Funktion(en) es hat, daß Klinger philosophische Probleme nicht in Form einer theoretischen Abhandlung, sondern in Form eines Romanzyklus darstellt. Diese Form erlaubt es nicht nur, ›Fragen ohne Antworten‹ aufzuwerfen, sie ermöglicht die implizite Relativierung philosophischer Positionen durch Bindung an spezifische, biographisch bedingte Figurenperspektiven und bindet die philosophischen Probleme von vornherein an ›empirische‹ Gegebenheiten, die im Zyklus dargestellten Welten. Freilich hat diese Form zweifellos auch die Rezeption von Klingers theoretischem Denken behindert, da dieses Denken erst durch Interpretation des Zyklus rekonstruiert werden kann. Das Ausmaß systematischer Selbstaufhebung der Aufklärungsphilosophie bei Klinger scheint mir in der deutschen Spätaufklärung allein zu stehen. Daß es sich aber nicht um eine private Konsequenz, sondern um eine aus der Logik des Aufklärungsprozesses resultierende Denkmöglichkeit der Spätaufklärung handelt, ließe sich an vielen Indizien der Theorien belegen, wo scheinbar ungebrochen die bekannten Aufklärungstheoreme fortgesetzt werden. Auch Schiller hat in Texten wie dem Gedicht Resignation gezeigt, daß ihm verwandte Gedankengänge durchaus vertraut waren;124 nur daß Schiller, und das ist sein Heroismus, der Bedrohung des Sinnverlustes durch die Skepsis dennoch (und im Bewußtsein ihrer Problematik) das Sinnpostulat der Geschichtsphilosophie entgegensetzt. Die Aufklärung scheint sich dann einerseits stillschweigend in jene Einzelforschung aufzulösen, von der oben die Rede war. Andererseits wird sie in der Philosophie des Idealismus einer
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Vorrede, S. 7f. Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, S. 173–193. Vgl. Vf.: Schillers Lyrik und die Philosophie der Spätaufklärung, in diesem Band, S. 507–531.
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Transformation unterworfen, die mir nichts anderes als der Versuch scheint, noch ein letztes Mal, mit Gewalt, unter Aufgabe der Form der Aufklärungsphilosophie die Inhalte der Aufklärungsphilosophie, gegen deren systeminterne Selbstkritik auf der Basis der Empirie, in einem schon anachronistischen Unternehmen zu retten.
Literaturverzeichnis 1. Literarische Texte 1721
MONTESQUIEU, Charles-Louis de Secondat, baron de: Lettres persanes
1736
ANONYM [Gottsched, Louise Adelgunde Victorie]: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau. In einem Lust-Spiele vorgestellet
1741
VOLTAIRE, [= François Marie Arouet]: Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète
1743
SCHLEGEL, Johann Elias: Herrmann, ein Trauerspiel
1744
KRÜGER, Benjamin Ephraim: Mahomed der IV. ein Trauerspiel
1745
GOTTSCHED, Johann Christoph: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra, ein Trauerspiel
1746
SCHLEGEL, Johann Elias: Canut, Ein Trauerspiel
1755
LESSING, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen PFEIL, Johann Gottlob Benjamin: Lucie Woodvil. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Handlungen
1758
BRAWE, Joachim Wilhelm von: Der Freygeist, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1759
WEIßE, Christian Felix: Richard der Dritte, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1763
ders.: Mustapha und Zeangir, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen ders.: Rosemunde ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1764
ders.: Crispus ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1766
ders.: Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1766/67
WIELAND, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Aus einer alten griechischen Handschrift. 2 Bde. (2. Fassung 1773, 3. Fassung 1794)
1772
LESSING, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
Friedrich Maximilian Klingers Romane
167
1776
WEZEL, Johann Karl: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne
1785
KLINGER, Friedrich Maximilian: Die Geschichte vom Goldnen Hahn. Ein Beytrag zur Kirchen-Historie
1786
SCHILLER, Friedrich: Resignation
1789
ders.: Der Geisterseher. Eine Geschichte aus den Memoires des Grafen von O**
1791
KLINGER, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt in fünf Büchern SPIEß, Christian Heinrich: Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem dreizehnten Jahrhunderte. 2 Bde.
1792/93
ders.: Der alte Ueberall und Nirgends. Geistergeschichte. 2 Bde.
1792–1794
KLINGER, Friedrich Maximilian: Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. 2 Bde.
1793
ders.: Geschichte Raphaels de Aquillas. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt
1795
ders.: Reisen vor der Sündfluth TIECK, Ludwig: Abdallah. Eine Erzählung
1795/96
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. 4 Bde.
1797
KLINGER, Friedrich Maximilian: Der Faust der Morgenländer, oder Wanderungen Ben Hafis, Erzählers der Reisen vor der Sündfluth
1798
ders.: Der Weltmann und der Dichter ders.: Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit ders: Sahir, Eva’s Erstgeborener im Paradiese. Ein Beytrag zur Geschichte der Europäischen Kultur und Humanität ders: Nachrichten an das Publikum über die philosophischen Romane von Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt bis zum +++. In: Allgemeine Literaturzeitung (89). Jena
1804
ANONYM [KLINGEMANN, Ernst August Friedrich]: Nachtwachen. Von Bonaventura
2. Theoretische Texte: 1689
LOCKE, John: Epistola de Tolerantia […]
1690
LOCKE, John: An Essay Concerning Human Understanding
Diskurse der Aufklärung
168 1705
SHAFTESBURY, Anthony Ashley-Cooper, Earl of: The Sociable Enthusiast (2. Aufl. 1709 u.d.T.: The Moralists)
1710
BERKELEY, George: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge LEIBNIZ, Gottfried Wilhelm: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’origine du Mal
1713
DERHAM, William: Physico-Theology or, A Demonstration of the Being and Attributes of God, from His Works of Creation
1719
WOLFF, Christian v.: Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt
1720
ders.: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen
1721
ders.: Vernünftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen, und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlecht
1728
HUTCHESON, Francis: An Essay on The Nature and Conduct of Passion and Affections With Illustrations on the Moral Sense
1733/34
GOTTSCHED, Johann Christoph: Erste Anfangsgründe der Gesammten Weltweisheit. Theoretischer Theil; Andrer Practischer Theil
1734
ders.: Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüßte, zufrieden stellen könnte. In: ders.: Erste Anfangsgründe […]. Theil II
1734
HALLER, Albrecht von: Über den Ursprung des Uebels POPE, Alexander: An Essay on Man
1741
SÜßMILCH, Johann Peter: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen. Nebst einer Vorrede Herrn Christian Wolffens
1746
CONDILLAC, Étienne Bonnot de: Essai sur l’origine des Connoissances humaines
1748
HUME, David: Philosophical Essays Concerning Human Understanding SPALDING, Johann Joachim: Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen (13. Aufl. 1794 u.d.T.: Die Bestimmung des Menschen)
1750
HALLER, Albrecht von: Ueber die praktischen Folgen des Unglaubens
[ca. 1750
LINNÉ, Carl von: Nemesis Divina. [Ms.; Erstdruck 1968]
–1775] 1751
HUME, David: An Enquiry Concerning the Principles of Morals ROUSSEAU, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts
Friedrich Maximilian Klingers Romane
169
1752
WIELAND, Christoph Martin: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt
1755
ROUSSEAU, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes ders.: Lettre de J.-J. Rousseau à M. Philopolis
1762
ders.: Emile ou de l'Education
1764
LAMBERT, Johann Heinrich: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein VOLTAIRE [= François Marie Arouet]: Dictionnaire philosophiqueportatif
1765
LEIBNIZ, Gottfried Wilhelm: Nouveaux Essais sur l’entendement humain
1767
FERGUSON, Adam: An Essay on the History of the Civil Society
1770
GELLERT, Christian Fürchtegott: Moralische Vorlesungen HOLBACH, Paul Thiry d’: Système de la nature, ou des lois du monde physique & du monde moral. 2 Bde.
1771
MILLAR, John: Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society
1774
HERDER, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
1779
HUME, David: Dialogues Concerning Natural Religion
1780
LESSING, Gotthold Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts
1781
KANT, Immanuel: Critik der reinen Vernunft
1784
ders.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
1784–1791
HERDER, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 4 Teile.
1786
KANT, Immanuel: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
ders.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
VILLAUME, Peter: Von dem Ursprung und den Absichten des Uebels 1787
MÖSER, Justus: Über die allgemeine Toleranz. Briefe aus Virginien, an Herrn Geh. Justizrath Möser
1788
KANT, Immanuel: Critik der practischen Vernunft
1789
SCHILLER, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
1790
ders.: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon ders.: Die Sendung Moses
170
Diskurse der Aufklärung ders.: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde
1791
KANT, Immanuel: Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee
1795
CONDORCET, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat, Marquis de: Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain
1796
SEUME. Johann Gottfried: Über Atheismus im Verhältnis zu Religion, Tugend und Staat
1800
FICHTE, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen
1803
KLINGER, Friedrich Maximilian: Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit. In: ders.: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur. Nebst Bruchstücken aus einer Handschrift. Bd. I
1808
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Theorie der Geister-Kunde, in einer NaturVernunft- und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müßte
1820
MORGENSTERN, Karl: Über das Wesen des Bildungsromans
1821
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts
1824
MORGENSTERN, Karl: Zur Geschichte des Bildungsromans. Vortrag gehalten den 12. Dec. 1820
III DAS MODELL DER ›INITIATIONSGESCHICHTE‹
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen
›Wissen‹ sei hier in der weiten Bedeutung verwendet, die auch den jüngeren denkund wissensgeschichtlichen (z.B. Foucault) oder wissenssoziologischen (z.B. Berger/Luckmann) Arbeiten zugrunde liegt: Zum ›Wissen‹ gehört also jede von mindestens einer, im Extremfall von allen Gruppen dieser Epoche für wahr gehaltene Proposition, d.h. sowohl das Alltagswissen als auch jene spezialisierten, theoretischen Wissensmengen, die die Epoche als ›Theologie‹, ›Philosophie‹, ›Wissenschaft‹ klassifiziert. ›Sprache‹ ist in der doppelten Bedeutung von Sprachsystem (langue) und konkreter Äußerung (parole) gemeint. 1. Nun kann natürlich das allgemeine oder gruppenspezifische kulturelle Wissen der Epoche nur aus den von ihr hervorgebrachten – literarischen oder theoretischen – Texten selbst interpretatorisch abstrahiert werden. Diese spezifische textanalytische Operation setze ich hier voraus und frage umgekehrt, wie diese Texte mit diesem (aus ihnen rekonstruierbaren) Wissen umgehen. Nicht um detaillierte Wissensgeschichte, d.h. um Rekonstruktion der in jedem Zeitpunkt der Epoche für wahr gehaltenen Theoreme und der Transformationen dieser Menge, soll es hier gehen, sondern um einige abstrakte Invarianten, die die Texte dieses Zeitraums im Umgang mit den von ihnen jeweils vorgefundenen, variablen Wissensmengen aufweisen, gleich welcher Art im übrigen die Wissensteilmenge jeweils auch sei, die für einen gegebenen Text überhaupt relevant wird, gleich also, ob es sich um ästhetisches, geschichts-, religions-, naturphilosophisches, anthropologisches, medizinisch-biologisches, okkultistisches usw. Wissen handelt. 2. Einzelne Beispiele müssen zur Demonstration ausreichen, wobei ich die Beispiele zudem aus jeweils einem Typ der theoretischen wie der literarischen Texte wähle. Bei den theoretischen Texten sollen die Theoriebildungen aus dem Umkreis des Idealismus im weitesten Sinne im Vordergrund stehen, deren Systematisierungsversuche sich nach einer tentativen Anfangsphase der Epoche deutlich durchsetzen und heute, wohl zu recht, als die charakteristischen Theoriebildungen der Epoche gelten. Freilich existieren daneben ältere (›aufklärerische‹ usw.) Formen der Theoriebildung fort, doch ließe sich zeigen, daß sie in der Tat in eine sekundäre Rolle geraten, was sich in ihrem nur mehr reaktiven Verhalten gegenüber der neuen Theorieform manifestiert. Im übrigen läßt sich selbst dort, wo die Epoche zu auch
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
heute noch als wissenschaftlich akzeptablen Ergebnissen kommt, oftmals zeigen, daß diese Ergebnisse auf der Basis von Denkstrukturen gewonnen wurden, die ihrerseits außerwissenschaftlich-ideologische Postulate umgreifen, d.h. solche, die auf der Basis des goethezeitlich vorhandenen Wissens nicht legitim gefolgert werden können, aber gleichwohl mehr oder minder allgemein als selbstverständlich akzeptierte Basisannahmen dieser Kultur fungieren. So basiert z.B. sicher Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens auf dem (rein ideologischen) Postulat der universalen Analogizität und Symmetrie der Natur; so ist Bopps Konstruktion des Indogermanischen sicher nicht zuletzt vom epochalen Theorem des monogenetischen Ursprungs der Sprache (und auch des Menschen) und somit der Existenz einer allgemeinen Ursprache motiviert, das sie freilich zugleich durch ihren Erfolg aufhebt: Denn es erweist sich eben in diesem Erfolg, daß nicht alle Sprachen auf einen solchen gemeinsamen Ursprung reduziert werden können. In beiden Fällen liegen also einer wirklichen Entdeckung Annahmen zugrunde, die sich vom faktischen Wissen der Zeit her überhaupt nicht rechtfertigen lassen, sondern grundlose, also ideologische, Postulate darstellen. An den idealistischen Theoriebildungen lassen sich jedenfalls bestimmte epochenspezifische Tendenzen der Goethezeit (GZ) am deutlichsten zeigen, wenngleich sie sicher auch, nur mühsamer, an den reaktiven Transformationen der älteren Theorietypen nachgewiesen werden könnten. Im Bereich der Literatur hebe ich insbesondere einen narrativen Typ hervor, der sowohl qualitativ als auch quantitativ als eine repräsentative Erzählform der Epoche gelten kann und den ich Initiationsroman nennen will, weil er sowohl im narrativen Ablauf als ganzem deutliche Entsprechungen zu den bekannten ethnologischen Modellen der Initiationen und Übergangsriten aufweist, als sich auch zudem in einzelnen Handlungsmustern und sprachlichen Deutungsschemata charakteristischer Elemente dieser Modelle bedient. Formal ist er unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß die Darstellung auf eine jugendliche, in der Regel männliche Hauptfigur fokalisiert ist und daß die erzählte Geschichte eine dreiphasige Organisation aufweist: Der Held tritt aus einer etablierten sozialen Ordnung in den außersozialen Raum aus, wobei diese Transitionsphase durch eine Reise markiert wird, um am Ende in eine neue, mit der ersten nicht identische soziale Ordnung einzutreten, womit zugleich die als definitiv gesetzte Entscheidung über seine berufliche und sexuelle Lebensform stattfindet und das Jugendalter abgeschlossen wird. Dem Typ gehören alle Varianten des Bildungsromans und der Geisterseherund Geheimbundromane in dieser Epoche an. Die literarischen und theoretischen Texte der Epoche stimmen im übrigen darin überein, daß Wissen in ihnen nicht nur insofern eine zentrale Rolle spielt, als die Texte jeweils bestimmte Wissensmengen voraussetzen oder selbst formulieren, sondern zudem darin, daß Wissen selbst, seine Möglichkeit und seine Bedingungen, immer wieder explizit thematisiert wird. Denn in den Initiationsromanen findet immer ein Wissenszugewinn des Helden über sich und die Umwelt statt, in dessen Verlauf falsches Wissen ihm vorgetäuscht und später entlarvt oder wahres Wissen über bislang unbekannte Sachverhalte erworben wird: Die Informationsstruktur ist eine zentrale Größe der
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit
175
dargestellten Welt, und der narrative Ablauf ist immer einem Prozeß der ›Aufklärung‹ äquivalent. In den Theorien werden Erkenntnisbedingungen und Erkenntnistypen (z.B. synthetisch vs. analytisch, a priori vs. a posteriori), Erkenntnisgrenzen, Wissensmodi (z.B. wissen vs. glauben) thematisiert. Die Möglichkeit eines bestimmten Wissens kann z.B. explizit umstritten sein: Sowohl in literarischen als auch in theoretischen Texten wird etwa die Möglichkeit okkulten Wissens diskutiert. 3. Meine grundsätzliche Behauptung ist nun, daß der Umgang der Texte mit dem jeweils vorgefundenen Wissen sich nach fundamentalen Denkstrukturen und Denkkategorien regelt, die den Texten selbst immer schon vorausliegen und vorgegeben sind, auch wenn sie in ihnen, wenigstens partiell, explizit thematisiert werden können, und die den literarischen und den theoretischen Texten gemeinsam sind und sich auch in anderen Problemkomplexen als dem des Wissens manifestieren. So scheint es eine zentrale Tendenz der Epoche zu geben, die sich ungefähr durch die folgende Regel ausdrücken läßt: R 1: Keine Größe, die vorhanden und relevant (gewesen) ist, darf verloren gehen und aus der dargestellten, literarischen bzw. gedachten, theoretischen Welt einfach eliminiert werden. So verschwindet etwa aus der Welt der Initiationsromane, im Unterschied z.B. zu den pikarischen Romanen, tendenziell keine Figur, die für den Helden einmal relevant war: Er wird sie wieder treffen. So sind die charakteristischen Theoriebildungen der Epoche nicht selten seltsame Kombinationen ältester und neuester Wissenselemente, bei denen – scheinbar theoretisch längst überwundene – Wissensmengen wiederkehren können. Nach Möglichkeit wird generell kein Wissen fallengelassen und als falsch eliminiert, wobei es keine Rolle spielt, ob es empirisch gut bestätigt ist oder nicht: Es muß nur relevantes Wissen einer relevanten Gruppe (gewesen) sein. So werden Wissensmengen in die neuen Theorien einbezogen, die selbst oder deren Vorfahren bis in die Renaissance oder gar in die Antike zurückreichen: Die Theorien der Altersstufen oder der vier Temperamente, die Physiognomik, die Theorie der vier Elemente, die Annahme von Abbildbeziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos usw. werden in die anthropologischen bzw. naturphilosophischen Kontexte integriert. So kehren – wie die Geister der Verstorbenen in manchem Erzähltext der Epoche – die verschiedensten okkultistischen Theorien wieder und hinterlassen ihre Spuren auch deutlich in der nicht okkultistischen Literatur und Theorie. Ein zweites Relevanzkriterium ist offenbar die Zugehörigkeit einer Wissensmenge zu dem, was ich die intellektuelle Synchronie der Epoche nennen will; diese Synchronie ist nicht mit dem koextensiv, was in der Epoche selbst produziert wurde, sondern kann auch vergangene, ältere Theorien bzw. Wissensmengen umfassen. Grob gesagt: Unter ›intellektueller Synchronie‹ einer Epoche sei die Gesamtmenge der noch als relevant geltenden, d.h. mindestens von Teilgruppen
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
der ›Gebildeten‹ noch geglaubten oder noch diskutierten Theoreme/Propositionen, wie alt sie auch seien, verstanden. Schwierig wird der Fall, wenn zu einem Sachverhalt konkurrierende Wissensmengen existieren, die zugleich auch der intellektuellen Synchronie angehören, so z.B. im religiösen Bereich, wo kirchlich-orthodoxe, deistische usw. Positionen koexistieren. Sie können offenbar nicht gleichzeitig auf dieselbe Weise in den akzeptierten Wissensbestand aufgenommen werden, ohne den expliziten Selbstwiderspruch zu riskieren, obwohl sie die Relevanzbildung erfüllen. Denn im Prinzip gilt auch in dieser Epoche in Literatur wie Theorie R 2: Zugleich behauptete Wissensmengen müssen untereinander kompatibel sein bzw. zumindest so formuliert werden, daß sie untereinander kompatibel scheinen, was im übrigen in sich widersprüchliche, d.h. logisch unmögliche Wissenselemente wie z.B. die für die Epoche so wichtigen Paradoxien keineswegs ausschließt. So scheint es also auf den ersten Blick, als könne unter dieser Bedingung R 1 nicht erfüllt werden – aber anders denkt die Goethezeit. Zunächst: Warum muß eigentlich jede relevante Wissensmenge in den je akzeptierten Wissensbestand einbezogen werden? Eine relevante Wissensmenge nicht einzubeziehen, hieße offenbar entweder, als richtig akzeptiertes Wissen beiseite zu lassen, oder aber, das Wissen als falsch zu setzen. Beides aber scheint der GZ gleich inakzeptabel zu sein. Denn zum einen existiert offenbar die Tendenz, die von R 3: Alles, was relevant ist, untereinander zu korrelieren, ungefähr umschrieben wird. So gilt etwa in den Initiationsromanen der Epoche, dass, wenn z.B. drei relevante Figuren A, B, C existieren und zwischen A und B, B und C jeweils eine Beziehung besteht, unter normalen Bedingungen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in der Folge eine Beziehung zwischen A und C entweder neu hergestellt oder als längst existente, aber unbekannte, aufgedeckt werden wird. Denselben Erzähltyp charakterisiert auch eine ausgeprägte Tendenz, alle bisher relevanten Personen am Textende auch räumlich zusammenzuführen. Im Bereich des Wissens werden nicht nur in diesen Romanen gern am Textende integrative Wissenssummen hergestellt, die Beziehungen zwischen verschiedenen, bislang unverknüpften oder lückenhaften Wissensteilmengen des Helden aufbauen: Auch in der Theorie gilt die Tendenz, daß enzyklopädisch-integrative Wissenssummen zu produzieren sind, und zwar nicht in einer additiv-lexikalischen Form, sondern in der Form eines Systems, das das Wissen über heterogene Realitätsbereiche in Beziehung setzt. Einer der frühesten umfassenden Versuche wären Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784ff.), die Astronomie, Geowissenschaften, Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Theologie zu korrelieren versuchen. Auch wo dies nicht in einem Werke geschieht, ist die Ten-
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit
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denz unverkennbar: Kant, Fichte, Schelling, Hegel z.B. haben nicht zufällig nicht nur jeweils über fast alle in ihrer Kultur relevanten Realitätsbereiche geschrieben, sondern diese Arbeiten offenkundig untereinander mehr oder weniger deutlich zu korrelieren versucht. Diese integrativ-summative Tendenz kann mit verschiedenen Strategien realisiert werden; ich nenne nur drei Beispiele. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, die verschiedenen Realitätsbereiche nach denselben Denkprinzipien und im selben theoretischen Vokabular zu behandeln, was etwa Fichte wiederholt für sich in Anspruch genommen hat; es gibt denn auch in der Epoche eine begrenzte Menge universeller theoretischer Begriffe, die, auf verschiedenste Sachverhalte anwendbar, bei verschiedensten Autoren wiederkehren. Zweitens kann eine Theorie den von ihr behandelten Sachverhalt explizit in einen anderen, von ihr als umfassender oder übergeordnet gesetzten Sachverhalt einbetten, also etwa die Logik von vornherein als Bestandteil einer Ontologie (z.B. Hegels Wissenschaft der Logik, 1812ff.) oder einer Psychologie/Anthropologie (z.B. Umbreits System der Logik, 1833) behandeln. Drittens schließlich kann die Theorie verschiedene Realitätsbereiche aufeinander projizieren, d.h. als Abbildungen voneinander auffassen, so daß jeder der als relevant gesetzten Kategorien eines Bereichs (möglichst: genau) eine des anderen entspricht. Das praktizieren z.B. die Ästhetiken des Idealismus, wenn sie Formen der Bedeutungskonstitution wie ›Allegorie‹ und ›Symbol‹ verschiedenen, geschichtsphilosophisch unterschiedenen, historischen Phasen zuordnen; das praktizieren in größtem Umfang auch die Naturphilosophien der Oken, Ritter, Schubert usw., die geradezu systematisch zwischen heterogenen Realitätsbereichen solche Korrelationen postulieren. Im übrigen lassen sich die genannten Strategien natürlich auch kombinieren, wozu nicht wenige Texte tendieren. Zum anderen aber scheint zu gelten: R 4: Nichts, was relevant (gewesen) ist, kann/sollte ein nutzloser Irrweg (gewesen) sein. Wie im Falle des gelungenen Bildungswegs der Helden von Initiationsromanen kein Umweg als bloß nutzlos-unfruchtbare Episode erscheint, die nicht dennoch zum Ergebnis eben dieser Bildung beigetragen hätte, so ist es offenbar ebenso unvorstellbar, daß ein irgendwann und irgendwo in der Geschichte der Menschheit relevantes Wissen zur Gänze bloßer Irrtum gewesen sein sollte. In dieser Annahme unterscheidet sich die Epoche in ihren idealistischen Tendenzen mindestens graduell vom aufklärerischen Denken, von dem sie ansonsten in immer noch unterschätztem Ausmaß zehrt. Die Aufklärung konnte durchaus denken, daß ein einmal relevantes Wissen sich später als völlig falsch herausstellte, wenngleich mit einer wesentlichen Einschränkung, die sie mit dem Idealismus verbindet. Denn in eben dem Ausmaße, in dem sie die Geschichtsphilosophie allmählichen, aber, aufs Ganze gesehen, in etwa kontinuierlichen Fortschreitens annahm, konnte sie zwar ein Wissen W1 zu einem Zeitpunkt t1, wo zu einem gegebenen Bereich erstmals überhaupt ein Wissen
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
auftauchte, als völlig falsch denken, aber nicht mehr jedes spätere Wissen Wi>1 zu ti>1, das logischerweise nicht mehr völlig falsch sein konnte, ohne daß zugleich die Geschichtsphilosophie für mindestens einen Teilbereich der Realität falsifiziert würde. Nun wird aber in der Goethezeit dieser Begriff der ›positiv fortschreitenden Entwicklung der Menschheit‹ durch einen spezifischeren Begriff, d.h. einen mit erheblich restriktiveren Bedingungen, den der ›Bildung der Menschheit‹ ersetzt, der einerseits zwar nur bestimmte virtuelle Implikationen der älteren Geschichtsphilosophie expliziert, andererseits aber zweifellos auch neue Implikationen hinzufügt. Das Konzept der ›Bildung‹ im goethezeitlichen Sinne läßt sich kaum präzise datieren, und es läßt sich sicher keiner seiner literarischen oder theoretischen Entwicklungsformen eine genetische Priorität zuschreiben: Es liegt weder ein ›Einfluß‹ der Theorie auf die Literatur noch der Literatur auf die Theorie vor – der Begriff ist eher das Ergebnis einer allmählichen Mentalitätsveränderung, die sich sukzessiv immer systematischer in den – sei es literarischen, sei es theoretischen – Texten manifestiert. Das Konzept der ›Bildung‹ (ohne den Begriff) wird bekanntlich in Wielands Agathon (1766–1767) erstmals realisiert, und kein geringerer als Lessing, der das Konzept (ohne den Begriff) erstmals auf die Geschichte der Menschheit anwendet (Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780), hat ihm diese Neuheit ja bescheinigt. Weder aber ist bei ihnen schon das vollständige System der Implikationen des Terms nachweisbar, noch setzen sie diese neue Konzeption auch schon durch. Der Durchsetzung geht, wie man weiß, die (erste?) explizite und theoretische Verwendung anhand eines anderen Realitätsbereiches voran, deren Durchsetzung in ihrem Bereich wiederum die Durchsetzung im narrativen und geschichtsphilosophischen Bereich begünstigt: Blumenbachs Über den Bildungstrieb und über das Zeugungsgeschäft (1781). Das Konzept, das aus dieser vortheoretisch fundierten Veränderung im literarischen, geschichtsphilosophischen, biologisch-naturphilosophischen Bereich entsteht, spezifiziert also den vorgängigen ›Entwicklungs‹-Begriff wie folgt: ›Bildung‹ (1) liefert ein einheitliches Beschreibungsmodell von ›Entwicklungen‹ einerseits im Bereich der ›Natur‹ (Morphogenese von Pflanzen und Tieren), andererseits im Bereich der ›Kultur‹, wobei sie wiederum die ›Entwicklung‹ einerseits jedes einzelnen Individuums (›Bildungsroman‹), andererseits der Gattung (Geschichtsphilosophie = ›Bildungsroman‹ der Menschheit) erfaßt. Sie ist also ein Denkmodell, das R 3 optimal erfüllt – jede ›Entwicklung‹ in jedem Bereich kann in demselben Modell gedacht werden; (2) umfaßt als Prozeß (vgl. ›Knospe‹, ›Blüte‹, ›Frucht‹) eine begrenzte Anzahl distinkter Phasen (während die ältere geschichtsphilosophische Konzeption keine solche Festlegung kannte): im Regelfall sowohl im Initiationsroman wie in der Geschichtsphilosophie drei Phasen; (3) beansprucht für die Abfolge dieser Phasen einen (natur-)gesetzmäßigen Charakter: Jede Phase ist notwendig, und keine kann übersprungen werden; jede spätere Phase ist zwar der früheren überlegen, aber jede Phase hat zugleich einen Eigenwert. Kurz: Jede Phase ist teleologisch sinnvoll;
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit
179
(4) nimmt die goethezeitliche Bedeutung von ›Entwicklung‹ wörtlich: Es entfaltet sich Angelegt-Vorgegebenes; (5) impliziert im Prinzip einen definitiven Endzustand, in dem dieser Entfaltungsprozeß abgeschlossen ist, d.h. ein Ende sowohl der individuellen wie historischen Geschichte, was z.B. ein Aufklärer wie Condorcet noch nicht kannte; (6) besteht in diesem Endzustand in der vollständig-optimalen Realisation aller angelegt-vorgegebenen Entwicklungsmöglichkeiten und deren harmonischem Gleichgewicht. Das Konzept kann hier auch mit dem theologischen Wissen verknüpft werden, indem geradezu die Notwendigkeit eines Jenseits als Ort, um irdisch unabgeschlossene Bildungsprozesse fortzusetzen, postuliert wird (vgl. etwa Fichtes Die Bestimmung des Menschen, 1800). Das Konzept erfüllt also selbst sehr gut R 3 und unterlegt zugleich R 1 und R 4 eine ideologische Bedeutung: In keiner Phase kann nur Falsches gedacht worden sein; denn das hieße, daß sie im teleologischen Ablauf keinen Sinn gehabt hätte. Umgekehrt erlaubt es dieses Konzept, bestimmte Wissensmengen ohne Diskussion von vornherein als nicht relevant auszuschließen: In den Geschichtsphilosophien dieses Typs wird nur eine sehr begrenzte Menge von Kulturen überhaupt relevant und selbst innerhalb der eigenen Kultur nur die Gruppe der ›Gebildeten‹. Die metaphorische Anwendung der Altersstufentheorie im Rahmen des Bildungsmodells eliminiert die Wissensmenge anderer Gruppen und Kulturen als überwundene Bildungsstufe, indem sie das ›Volk‹ und die ›Wilden‹ ›Kindern‹ gleichsetzt. Auf diesem theoretischen Hintergrund muß – und kann – nun also das Kunststück vollzogen werden, konkurrierende Wissensmengen zugleich zu integrieren, wozu vor allem zwei Strategien wichtig sind: Temporalisierung und Reinterpretation. Mit Temporalisierung ist das Verfahren gemeint, synchrone Koexistenz in diachrones Nacheinander aufzulösen, indem von zwei konkurrierenden Wissensmengen Wa und Wb etwa Wa der Phase Pi, Wb hingegen der Phase Pj(>i) zugeordnet wird: Die Wissensmengen können somit als verschiedenen Bildungsstufen entsprechende und angemessene aufgefaßt werden, womit einerseits zugleich jede ihre Berechtigung behält, andererseits aber zugleich ihre Konkurrenz beseitigt wird. Implizit verfahren so z.B. alle idealistischen Theorien mit den zu ihnen selbst in Konkurrenz stehenden gleichzeitigen Theorien des älteren Typs: Sie fassen sie einfach als für eine bestimmte Bildungsstufe angemessene und für diese ›richtige‹ Theorie auf und setzen sich selbst als einer späteren Bildungsstufe zugehörig. Auch die schon genannte Ausschließung der unteren Schichten und der fremden Kulturen bedient sich der Temporalisierung. Die Strategie der Temporalisierung macht zugleich deutlich, daß die Geschichtsphilosophien einen doppelten Status haben. Denn einerseits ist Geschichte selbst ein zu lösendes Problem, und das Wissen von ihr muß in das Wissenssystem integriert werden. Andererseits aber funktioniert Geschichte, als Mittel der Temporalisierung, zugleich selbst als Problemlösung. Mit Reinterpretation ist das Verfahren gemeint, eine Menge vorgegebener Elemente zwar – mehr oder minder selektiv – beizubehalten, ihnen aber durch aposte-
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
riorische Umdeutung andere Bedeutungen und Funktionen zu unterstellen, als sie in ihrem ursprünglichen Kontext hatten. Mit Hilfe beider Verfahren kann nun also das Problem konkurrierender Wissensmengen, etwa im religiösen Bereich, gelöst werden, ohne daß auf die Einbeziehung einer von ihnen verzichtet werden müßte. Eine erste Lösung hat schon Lessings Geschichtsphilosophie von 1780 geliefert: Im Prozeß der Erziehung des Menschen durch Gott erhält der Mensch je nach erreichter Bildungsstufe verschiedene Offenbarungen, die seinem jeweiligen Verständnis angemessen sind und ihn auf die nächste Stufe vorbereiten. Damit ist das Kunststück vollbracht, sowohl die Orthodoxie zu rechtfertigen als auch die Abweichung von ihr. Noch kühner können dann die Reinterpretationen des christlichen Wissens bei Kant, Fichte, Schelling, Hegel anmuten. Wenn dezidiert-extreme Theorien konkurrieren, dann gilt die Sympathie offenkundig keiner von beiden, sondern einem Wissen, das sie mittels solcher Strategien vereinigt. So können etwa in der Naturphilosophie der Oken, Ritter, Schubert Elemente der neuen Chemie seit Lavoisier und Priestley mit solchen der Theorie der vier Elemente friedlich koexistieren. Das Gelingen der Vereinigung konkurrierender Wissensmengen kann geradezu als Wahrheitsbeweis der eigenen Theorie betrachtet werden: Nachdem Oken (Die Zeugung, 1805) die konkurrierenden Zeugungstheorien skizziert und seine eigene vorgestellt hat, darf er sich freuen: Vergleichen wir hier unsre Theorie mit den übrigen, so wird nicht nur ihr Eingreifen in sie alle deutlich, sondern sie beweist sich auch zugleich, was ihr größter Triumph der Wahrheit ist, als das innige Zusammenschmelzen aller, aus welcher Vermischung sie als Stamm hervorgewachsen.1
Wo also in der Epoche das – sei es logisch, sei es historisch gemeinte – Nacheinander von ›These – ›Antithese‹ – ›Synthese‹, die ›Dialektik‹, verwendet wird, da hat man somit nichts anderes vor sich als die Erhebung eines ideologischen Bedürfnisses der Epoche zum Denkprinzip und/oder Geschichtsgesetz. Die Beseitigung der Konkurrenz von Wissensmengen durch ein synthetisierendes Wissen ist aber nicht nur die Anwendung von R 1; ihr liegt auch zugrunde R 5: Es darf keine Konkurrenz/Rivalität gleichwertiger und gleichberechtigter Größen geben. In den Initiationsromanen wird die Regel mit sehr großer Konsequenz gehandhabt. Bei zwei erotischen Rivalen z.B. zieht sich entweder einer von sich aus zurück oder nur einer von beiden hat, im Rahmen der Normen des jeweiligen Textes, einen berechtigten Anspruch auf den umworbenen Partner. Auch die anthropologischen Teiltheorien der Epoche, z.B. die Konzeption der Geschlechterrollen oder die Theorie der Altersstufen, tragen das ihre zur Einschränkung der Möglichkeit
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Lorenz Oken: Die Zeugung. Bamberg, Würzburg 1805, S. 107.
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von Konkurrenzsituationen gleich legitimierter Rivalen bei, indem sie die Geschlechter oder Altersstufen so charakterisieren, daß sie kaum irgendwo untereinander gleichberechtigt konkurrieren können: Einer der Terme ist immer der privilegierte Anwärter. Nun müssen freilich diese Theorien ebenso wie die Konzeption der Bildung von Natur, Individuum und Geschichte immer mit Anomalien, mit Verstößen gegen die von ihnen gesetzten Regularitäten, rechnen. Für die epochal charakteristischen Theoriebildungen gilt aber mehr oder weniger deutlich eine Tendenz, die ich ausdrücke durch R 6: Das Wissenssystem ist möglichst gegen jedes Risiko empirischer Falsifizierung zu immunisieren. Auch dazu steht eine Menge von Strategien bereit; eine Möglichkeit praktizieren die eben genannten Theorien, indem sie eher normativen als deskriptiven Anspruch erheben: Indem sie vorschreiben, was nach dem Willen einer höheren Instanz (›Gott‹, ›Natur‹) sein soll, ist eine empirische Abweichung gegenüber der Theorie nicht eine Falsifikation, sondern allenfalls eine Schuld – nicht zufällig wird etwa ›Wahnsinn‹ so oft als Folge schuldhaften Verhaltens konzipiert. Alle fundamentalen Klassifikationen sucht man allerdings der Geschichte zu entziehen und konstant zu halten. 4. Damit nun wäre mein zweiter Komplex erreicht, der an sich zwei Aspekte hat: die Beziehung von Sprache und Wissen, die im Denksystem dieser Kultur angenommen wird, und die Beziehung von Wissen und Sprache, mittels derer sich ihre charakteristischen Theorien artikulieren; ich gehe hier primär auf den ersten Aspekt ein, obwohl diese Theorien zweifellos um so deutlicher zu einer unverkennbar eigentümlichen Sprache tendieren, je vollständiger sie die angedeuteten Tendenzen des Wissensumgangs realisieren, zumal die angestrebte integrative Korrelation der vorgefundenen Wissensmenge eine Reformulierung jeder Teilmenge erforderlich macht. Im Rahmen der bisher formulierten Regeln kann es nicht erstaunen, daß die Epoche dazu neigt, auch die folgende Regel zu erfüllen: R 7: Das sprachlich Formulierbare und das überhaupt über die Realität mögliche Wissen werden als koextensiv gedacht. Was sagbar ist, ist auch denkbar (und umgekehrt): Nicht zufällig entwickelt in dieser Epoche Humboldt seine bekannte Korrelation von Sprache und Denken. Was aber denkbar ist, existiert auch: »Ist irgendwo eine Vorstellung, so muß es wohl auch ein derselben entsprechendes Seyn geben [...].«2
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Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800). In: Fichtes Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Repr. der Ausgaben 1834/35 (Johann Gottlieb Fichtes
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Einen schönen Beleg liefert die Dialektik: Sie ist gleichzeitig Form des Denkens/Sprechens als auch Form der Realität. Charakteristisch ist z.B. auch die Psychologie der Epoche: Allen sprachlich unterschiedenen Benennungen psychischer Gegebenheiten schreibt sie auch reale Existenz zu, und sie unterscheidet umgekehrt keine psychischen Größen, die nicht auch schon sprachlich unterschieden wären. Wissen ist im Extremfall nichts als Sprachexegese, was in Kants Anthropologie (1798) exemplarisch deutlich wird: Sie liefert etwa in der Darstellung der psychischen Abweichungen des psychiatrischen Bereichs fast nichts als ein Wörterbuch des Deutschen der GZ. Es wird aber nicht nur, was Metapher war, wörtlich genommen, sondern auch, was wörtlich war, metaphorisiert: so etwa, wenn ältere Wissens- und Sprachmengen durch Reinterpretation integriert werden wie das christliche Vokabular bei Kant und Fichte. Die Sprache dieser reformulierenden Wissenssummen selbst scheint in ihren extremen Varianten deutlich dazu zu tendieren, den Unterschied metaphorisch/wörtlich für sich aufzuheben. Diese Unterscheidung dürfte etwa auf Hegels Naturphilosophie kaum mehr anwendbar sein – geschaffen wird im Extrem eine tendenziell selbstreferentielle Sprache, die über alles oder nichts spricht und ein primär ästhetisches Phänomen ist. Wie nun die komplexen Probleme, die aus dieser epochentypischen Tendenz von R 7 resultieren, gelöst werden, kann hier schon deshalb nicht behandelt werden, weil vermutlich in der Zeit weitere – noch zu rekonstruierende – Regularitäten im Umgang mit Sprache (und eventuell mit semiotischen Systemen überhaupt?) existieren, die zugleich den Rahmen abgeben dürften, innerhalb dessen – in dieser Epoche – die Sprach- und Vorstellungskomplexe funktionieren, die Jürgen Link als Kollektivsymbolik benannt hat. Daß die durch R 7 angedeutete Relation zwischen den drei Größen der mentalen, bloß gedachten Vorstellung, der faktisch-außerpsychischen Realität, der semiotischen Abbildung einer solchen Vorstellung bzw. einer solchen Realität auch zu epochentypischen literarischen Strukturen führt, sei durch ein einfaches Beispiel angedeutet. In der GZ-Literatur kann unter bestimmten Bedingungen z.B. eine – vom Text als real existent, aber absent gesetzte – menschliche Figur so durch die bloße Vorstellung oder die semiotische Abbildung ersetzt werden, daß die Vorstellung bzw. Abbildung in der Logik des Textsystems als Äquivalent einer realen Präsenz dieser Figur fungiert. Denn erstens wird z.B. die mentale Vergegenwärtigung einer absenten Geliebten durch ein Subjekt gern so beschrieben, daß ihr ›Bild‹ nicht als bloß innere ›Vorstellung‹, sondern als eine außerhalb des Subjekts wahrgenommene Größe erscheint.3 Was das Subjekt nur gedacht hat, erscheint also in seiner Wahrnehmung
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nachgelassene Werke. 3 Bde.) und 1845/46 (Johann Gottlieb Fichtes Werke. 8 Bde.). Berlin 1971, Bd. II, S. 187. So schon in Goethes Jägers Nachtlied: »Da schwebt so licht dein liebes Bild / Dein süßes Bild mir vor.«. (Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1988. Bd. I, S. 121); so auch z.B. in Tiecks Sternbald: »Immer sehe ich sie vor meinen Augen schweben [...].« (Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hg. von Alf-
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit
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praktisch wie ein real Vorhandenes: Die Grenze zum pathologischen Fall der in Literatur und Theorie der Epoche so beliebten ›Geisterseher‹ und ›Wahnsinnigen‹, die die intensive ›Vorstellung‹ nicht von der ›Realität‹ unterscheiden können, beruht also nur auf dem Bewußtsein von der (Nicht-)Realität des wahrgenommenen ›Bildes‹. Besonderes Interesse verdienen dabei die Varianten des Pygmalion-Problems. Zum einen häufen sich in der Literatur der Zeit die Fälle, in denen semiotische – und zwar nicht sprachliche, sondern ikonische, speziell dreidimensionale (Wachsfiguren, Automaten, Statuen) – Abbildungen bzw. Substitutionen menschlicher Figuren als deren geradezu bedrohliche Äquivalente erfahren werden: so z.B. in E.T.A. Hoffmanns Die Automate oder Der Sandmann, Eichendorffs Das Marmorbild, Launs Das Wachsfigurenkabinett. Zum zweiten wiederholt sich erstaunlich oft in der Literatur der Zeit der Fall, daß zunächst eine semiotische – in der Regel ikonische – Abbildung einer Figur eingeführt wird, bevor diese selbst auftritt. Auffälliger Beliebtheit erfreut sich insbesondere der Fall, wo sich ein männlicher Held in das Gemälde einer Frau (oder deren Statue: vgl. Eichendorffs Marmorbild) verliebt und in der Folge sich aufmacht, »um diejenige wirklich aufzufinden, von der ich bis jetzt nur das Gemälde besitze«.4 Das Problem dieser Erotik liegt auf der Hand und wird in Tiecks Sternbald thematisiert. So wird dem Helden entgegengehalten: Wenn nun das Original dieses Bildes auf der ganzen weiten Erde nicht zu finden ist! und wie leicht kann es bloß die Imagination eines Malers sein, die dieses zierliche Köpfchen hervorgebracht hat! oder sie kann gelebt haben und ist nun schon gestorben, oder sie ist die Gattin eines anderen und nun schon alt und voll Runzeln, so daß du sie gar nicht einmal wiederkennst. Glaubst du, daß sich dir zu Gefallen das Wunder des Pygmalion erneuern wird?5
Die Pointe aller dieser Fälle des Sich-Verliebens in ein ›Bild‹ ist nun freilich, daß ein Original, eine junge, weibliche Figur, immer auch existiert und aufgefunden wird: Dem ›Bild‹ entspricht in jedem Falle eine Realität. 5. Diese wenigen Bemerkungen zu den vielfältigen und komplexen Relationen zwischen Sprache und Wissen in der GZ seien durch ein Beispiel abgeschlossen, das sich weder auf das von der Epoche unterstellte ontologische Verhältnis von Sprache und Realität im allgemeinen noch auf die Formulierungsstrategien im
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red Anger. Stuttgart 1966, S. 329); in Arnims Gräfin Dolores: »... ihr Bild schwebte ihm noch deutlich vor [...].« (In: Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Hg. von Walther Migge. München 1962. Bd. I, S. 97); in Hoffmanns Der Sandmann: »Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch [...].« (E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Hg. von Manfred Wacker. Stuttgart 1969, S. 30) usw. Hier wie im folgenden belege ich Sachverhalte immer an derselben begrenzten Menge von Texten, da im gegebenen Rahmen Beispiele ohnedies nur illustrierenden, nicht aber demonstrierenden Wert haben können. Tieck 1966 (Anm. 3), S. 148. Ebd.
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besonderen bezieht, die dem Ausdruck und der Integration konkreter Wissensmengen dienen; skizziert sei der lexikalisch-semantische Komplex, mittels dessen die Epoche vorzugsweise Prozesse der Erkenntnis und des Wissenserwerbs ausdrückt, d.h. ein Teilsystem ihrer Kollektivsymbolik (Jürgen Link), das zugleich auch dienen soll, einige der im vorigen angedeuteten Regularitäten am Beispiel zu illustrieren und einige Folgerungen zur Konzeption von Wissen und Erkenntnis in der GZ zu erlauben. In der Darstellung sowohl des Gewinns als auch der Verhinderung von Erkenntnis und Wissen dominiert in der GZ eindeutig ein Kode der optischen Wahrnehmung; dieser sei zunächst bezüglich des Umgangs mit sinnlicher Wahrnehmung überhaupt in der Epoche grob situiert. Die sinnliche Wahrnehmung literarischer Figuren ist in auffälligem Ausmaß praktisch auf optische und akustische Wahrnehmungen beschränkt, d.h. auf Wahrnehmungen der Sinnesorgane, die auch den zeitgenössischen anthropologischen Theoretikern als die »edelsten« galten. Eine willkürliche Auswahl solcher Redewendungen zum Ausdruck von Erkenntnisprozessen mag das Genannte verdeutlichen: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
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Wenn wir dich hinlänglich geprüft haben werden ..., dann wird deinen Augen die Hülle entsinken ... Wie eine Decke fiel es mir von den Augen ... Nun war es wieder wie ein Vorhang niedergefallen ... ... die ihm plötzlich in die Augen fielen ... etwas aus den Augen verlieren ... ... daß ich rings umher alles mit anderem Auge ansah, als lernte ich jetzt erst zu sehen ... was ich ... übersehen hatte. Der Mensch steht aufgerichtet in der Welt, daß er sich umschaue mit offenen Augen; oft will er sich begnügen mit seinem Kreise, aber die Not treibt ihn gewaltsam auf die Höhen, die seinen Blick erst beschränkten; da strahlt ihm das Licht der Welt ... Was ohne Vorhang vor ihm saß und dozierte, sah er auch nicht ... ... wo er dem Fürsten moralische Augenleder und Augengläser zugleich anlegte und den Blick desselben sowohl lenkte als schärfte; aber er war selber blind, obwohl nur physisch ... Er ging vor nichts Kleinem blind vorbei, worüber der Welt- und Geschäftsmann verschmähend schreitet ... So zog sich blutig und schmerzhaft wie ein Augenfell die Decke von ihnen [seinen Augen, M.T.] herab... Und zog so rein der Vergangenheit alle Schleier ab ... ... wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher. Wie oft werden wir nicht von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt ... Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet! Es soll Euch vergönnt sein, einen Blick in ein dunkles Reich zu tun ... Bald enthüllt sich nun das Verborgene ...
Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (18) (19)
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Das erste Erfordernis fehlt dir dazu ...; nämlich ein Auge, das wirklich schaut. 6 Schon war ich alt genug geworden, um einzusehen ...
Nicht nur die Menge vergleichbarer Belege weist diesen lexikalisch-semantischen Komplex in der Epoche als relevant aus. Ein etymologisch-semantisches Sprachbewußtsein charakterisiert überhaupt, bis ins Wortspielerische hinein, die Texte der Epoche. Für den Komplex von Augen und Sehen liefert E. T. A. Hoffmanns Sandmann die schönsten Beispiele. Die Inszenierung sprachlicher Zusammenhänge, d.h. die Erzählung von Handlungen in der histoire der Texte, deren Elemente zugleich durch etymologisch-semantische Zusammenhänge des lexikalischen Materials verknüpft sind, dessen sich der discours der Texte bedient, ist zwar bei bestimmten Texten der ›Romantik‹, etwa eben dem Sandmann oder den anonymen Nachtwachen, am deutlichsten, aber dennoch ein typisches Merkmal der Epoche, das sich etwa auch am Wilhelm Meister belegen ließe, wo es nur impliziter und unauffälliger gehandhabt wird. So ist z.B. der Zusammenhang von ›Bild‹, das seinerseits als Lexem sowohl das Produkt einer Wahrnehmung, d.h. eine optisch wahrgenommene Realität, als auch das Produkt eines mentalen Vorstellungsprozesses als auch das Produkt eines Prozesses semiotischer Abbildung unter sich subsumiert (vgl. auch Punkt 4) und damit im Sprachbewußtsein der Epoche zugleich auch untereinander korreliert, und ›Bildung‹, diesem zentralen Thema der Literatur und Anthropologie der Epoche, ebenso bewußt als auch funktionalisiert. Diese Verknüpfung von ›Bildung‹, d.h. in der GZ: einem Prozeß der ›Person‹werdung und ›Selbstfindung‹, mit dem Bereich des optischen Kodes zeigt sich z.B. auch in der Rolle, die auf der histoire-Ebene ›Bilder‹ im dreifachen Sinne für den ›Bildungs‹prozeß spielen. So kann z.B. Schleiermacher in seiner Ästhetik Welterkenntnis und Weltveränderung durch das Subjekt sprachlich korrelieren, indem er sie als »die Welt sich einbilden« und »der Welt sich einbilden« benennt.7
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Die Zitate stammen aus: (1) Grosse, Carl: Der Genius. Repr. der Erstausg. Halle 1791–1795. Frankfurt a.M. 1982, S. 137; (2)–(4) Tieck: Sternbald: Tieck 1966 (Anm. 3), S. 186, 248, 360; (5)–(7) Arnim: Dolores: Arnim 1962 (Anm. 3), S. 202, 236, 510; (8)–(12) Jean Paul: Die unsichtbare Loge. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. München, Wien 1960. Bd. I, S. 182; Jean Paul: Hesperus. In: ebd., Bd. I, S. 493, 623, 1204, 1227; (13)–(15) Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach den Texten der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes. Hg. von Peter Boerner u.a. München 1961–1963. Bd. XIII. München 1963, S. 166f., 197; (16)–(19) E. T. A. Hoffmann: Späte Werke. Nach dem Text der Erstdrucke, unter Hinzuziehung der Ausgaben von Carl Georg von Maassen, Georg Ellinger und Hans Müller, mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel und Anmerkungen von Wulf Segebrecht. München 1965, S. 381 (Der Elementargeist), S. 480 (Die Doppeltgänger), S. 600 (Des Vetters Eckfenster); Hoffmann 1969 (Anm. 3), S. 5 (Der Sandmann). Friedrich Schleiermacher: Ästhetik. Hg. von Rudolf Odebrecht. Berlin, Leipzig 1931, S. 26f.
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Zunächst seien nun einige Grundrisse des Systems der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen rekonstruiert. Als Instrument der Erkenntnis fungiert also in diesem Kode das menschliche Auge, und (Nicht-)Erkennen wird als Prozeß des (Nicht-)Sehens ausgedrückt. Dieser mit dem Auge verknüpfte Erkenntnisprozeß hat in der Literatur wie in der Theorie von vornherein einen doppelten Aspekt: Das Auge gilt als das Medium, durch das das Subjekt erkennt, und als das Medium, durch das das Subjekt erkannt wird. Denn dem Ausdruck des Auges schreiben Literatur wie Theorie (vgl. z.B. Sihlers Symbolik des Antlitzes, 1829) gleichermaßen einen besonderen Wert als Indikator für die – invarianten oder situationellen – Merkmale der Psyche des Subjekts zu, was sich z.B. wiederum an E.T.A. Hoffmanns Sandmann hervorragend belegen ließe. Das Auge jedenfalls erscheint im GZ-System ebenso als die Grenze wie als die vermittelnde Größe zwischen der als Raum8 konzipierten Psyche des ›Ich‹ und der ebenfalls als Raum wahrgenommenen Außenwelt des Nicht-Ich und als primäres Vermittlungs-instrument für Information zwischen beiden Teilräumen. Die Möglichkeit des Sehens ist nun an bestimmte materielle Bedingungen gebunden; und diese werden ihrerseits ebenfalls konsequent als Ausdruck von Erkenntnisbedingungen funktionalisiert. ›Sehen‹ verlangt zunächst Licht: Die alte, von der Aufklärung reaktivierte, aber auch von ihren Gegnern – nur mit anderer inhaltlicher Besetzung – übernommene Metaphorik von Licht/Tag vs. Dunkel/Nacht wird ebenfalls in diesen lexikalisch-semantischen Komplex integriert und ist für alle seine Teilkomplexe konstitutiv. Gemäß der doppelten Erkenntnisfunktion des Auges kann sie auch dem Augen- bzw. Seelenausdruck dienen9 oder auch Zustand der Psyche und des Erkenntnisvermögens zugleich charakterisieren: »[…] dann wirst du überzeugt sein, daß es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint, sondern daß ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat, den ich vielleicht nur sterbend zerreiße«,10 wobei daran erinnert sei, daß »blöde« im Lexikon der GZ (vgl. Adelung) sowohl die Schwäche der Augen als auch die des Geistes ausdrückt.
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Vgl. z.B. Jean Pauls Hesperus: »Viktor schauete tief in die Seele« (Jean Paul 1960: Anm. 6, S. 1013); oder Der Sandmann: »Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen.« (Hoffmann 1969: Anm. 3, S. 14f.). Z.B. im Sandmann: »stumm und finster schlichen sie umher, düsternschweigend«; »Claras heller Blick«; »Dunkle Ahnungen eines gräßlich mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl« (Hoffmann 1969: Anm. 3, S. 25, 21, 3) oder in Arnims Dolores: »Es war die Zeit des Zwielichtes, wo die Undeutlichkeit des Sehens sich leicht auch der inneren Empfindung mitteilen kann« (Arnim 1962: Anm. 3, S. 273). Hoffmann: Der Sandmann: Hoffmann 1969 (Anm. 3), S. 10.
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›Sehen‹ verlangt zum zweiten bestimmte Raumverhältnisse, wie sie etwa in Zitat (7) thematisiert werden: Jeder Horizont der Sichtbarkeit wird durch räumliche Hindernisse begrenzt. Eichendorffs Helden z.B. besteigen nicht zufällig so gern Hügel und Berge, die ihnen die Überwindung räumlicher Grenzen der Sichtbarkeit erlauben und ›Übersicht‹/›Überblick‹ gewähren; hier ist wohl auch der Ort, wo sich die Ballon-Symbolik, die Jürgen Link untersucht hat, in der GZ an den Komplex der optischen Kodierung von Erkenntnis anschließen ließe, da der aufsteigende Ballon, abhängig freilich von den oben thematisierten meteorologischen Bedingungen, den Horizont der Sichtbarkeit, den – goethezeitlich gesprochen – ›Gesichtskreis‹ erweitert. Das Lexem ›Kreis‹ gehört im übrigen nicht nur im optischen Kode zu den beliebten Elementen der GZ-Kollektivsymbolik:11 Sie kennt z.B. ebenso den Kreis der Familie, den Kreis der Pflichten usw., in dem sich ein Subjekt befindet. In jedem dieser Fälle – der optischen wie der (scheinbar) nichtoptischen Verwendung – liegt diesem Sprachgebrauch zumindest implizit das Modell einer um das Subjekt herum organisierten Welt zugrunde; doch können Implikationen und Probleme dieser Ego-Zentriertheit der Welt im GZ-System hier nicht diskutiert werden. Zwei solcher GZ-Fälle, wo räumliche Grenzen als Erkenntnisgrenzen fungieren, seien hier hervorgehoben: Beide Male befinden sich Subjekt und Objekt des Erkenntnisaktes in verschiedenen Räumen, von denen einer jeweils ein abgeschlossener Raum, d.h. ein Raum von erschwerter Zugänglichkeit, ist. Im ersten Falle ist es das Erkenntnisobjekt, das sich in einem solchen verschlossenen Raum befindet (vgl. Zitat Nr. 16), und das Subjekt »will das Verschlossene eröffnen und in den Raum hineinblicken«.12 Den Schlüssel zu etwas – einem Raum, einem Kode (z.B. bei Geheimschrift), einem Geheimnis – (nicht) zu haben, ist demgemäß Element der GZ-Kodierung von Erkenntnisprozessen, das wörtlich auf der histoire-Ebene (z.B. in der Kästchen-Symbolik von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren) oder metaphorisch auf der discours-Ebene verwendet werden kann, so etwa wenn Jean Paul von »schweren Geheimnissen, über die ich kein Recht und wenig Aufschluß [!] habe« spricht.13 Sehr beliebt in der Epoche – wiederum sowohl in wörtlicher als auch metaphorischer Verwendung – sind als optische Raumgrenzen ›Decke‹/›Vorhang‹/ ›Schleier‹/›Hülle‹ und ihre Äquivalente, die jedes Mal den Raum in zwei Teilräume, einen für das Subjekt sichtbaren, in dem es sich befindet, und einen für das Subjekt unsichtbaren, in dem sich das Erkenntnisobjekt befindet, zerlegen (vgl. z.B. die Zitate Nr. 1, 2, 3, 8, 12).14 In metaphorischer Verwendung
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Vgl. außer Zitat (7) und (13) etwa auch in Arnims Dolores (Arnim 1962: Anm. 3, S. 43, 87, 263, 513), Goethes Wahlverwandtschaften (Goethe 1963: Anm. 6, S. 13, 16, 84, 91, 152, 185) usw. Beide Zitate aus den Wahlverwandtschaften: Goethe 1963 (Anm. 6), S. 158 und 162. Jean Paul: Hesperus: Jean Paul 1960 (Anm. 6), S. 1115. Z.B. Tieck: Sternbald (Tieck 1966: Anm. 3, S. 269, 277, 388); Arnim: Gräfin Dolores (Arnim 1962: Anm. 3, S. 108, 121, 296, 378); Jean Paul: Die unsichtbare Loge (Jean Paul 1960: Anm. 6, S. 278, 318, 348); Hesperus (ebd., S. 480, 539, 603f., 715, 921, 939,
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findet sich dieser Teil der optischen Kodierung an ideologisch zentralen Stellen z.B. in Goethes Werther oder Schillers Geisterseher, wo die Metapher des ›Vorhangs‹ jeweils die Grenze zwischen dem sichtbaren menschlichen Leben und dem unsichtbaren Zustand vor (Schiller) bzw. nach (Schiller, Goethe) diesem Leben markiert. Erinnert sei z.B. auch an Goethes Zueignung, wo »der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit« zu nehmen ist: Im Gegensatz zu ›Vorhang‹/›Decke‹ usw. ›verhüllt‹ der ›Schleier‹ das Erkenntnisobjekt nur partiell und läßt es partiell sichtbar. Wörtlich realisiert, d.h. als histoire inszeniert, wird dieser Teilkomplex etwa im Stoff des verschleierten Bildes zu Sais, den Schiller und Novalis, dieser in mehreren Varianten, erzählt haben: Der Gegenstand der Erkenntnisbegierde befindet sich hier in der Tat hinter einer solchen, im Prinzip aufhebbaren Bedeckung. Metaphorisch oder wörtlich realisiert wird er auch im Modell des Theaters: Präsenz bzw. Absenz des ›Vorhangs‹ ›enthüllen‹ bzw. ›verhüllen‹ hier die ›Vorstellung‹ (vgl. Punkt 4!) sichtbarer ›Bilder‹. Wörtlich wird das Theatermodell etwa in jenen Initiationsromanen realisiert, wo der ›Bildungsweg‹ des Helden – wie etwa in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser oder Goethes Wilhelm Meister – von theatralischen Experimenten begleitet wird. Das Pendant solcher Sicht- bzw. Erkenntnisbegrenzung durch Vorhang/Decke/ Schleier/Hülle usw. ist dann logischerweise die Beschreibung des Erkenntnisvorgangs als eines Aufhebens dieser begrenzenden Textilien: als eines Sichtbarmachens durch ›Enthüllung‹ und ›Entdeckung‹ eines ›Verborgenen‹ im wörtlichen Sinne; und von diesem sprachlichen Erkenntnisäquivalent im Rahmen der optischen Erkenntniskodierung macht die Epoche in der Tat den größten Gebrauch (vgl. z.B. die Zitate Nr. 1, 2, 12, 17). Der längst konventionalisierte, ursprünglich metaphorische Term der ›Entdeckung‹, der z.B. die seit der Renaissance neu sichtbar gewordenen Realitätsbereiche der geographischen, der astronomischmakroskopischen und der biologisch-mikroskopischen Erkenntniszu-gewinne abdecken kann, wird hier etymologisch-wörtlich genommen. Der zweite Beispielfall abgeschlossener Räume sind jene typischen, stark rekurrenten Örtlichkeiten in GZ-Erzähltexten,15 die ich ›Höhlenräume‹ nennen will: natürlich-vorgefundene oder künstlich-geschaffene unterirdische Räume, deren Betreten als verboten-tabuisiert oder zumindest als gefährlich gesetzt wird; da ich diese Lokalitäten an anderer Stelle beschreiben werde, halte ich nur einige hier
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943, 958, 995, 1123, 1144, 1147, 1150, 1151, 1209, 1227, 1231); Goethe: Wahlverwandtschaften (Goethe 1963: Anm. 6, S. 63, 136, 146f., 194); E.T.A. Hoffmann: Der Elementargeist (Hoffmann 1965: Anm. 6, S. 390, 396, 399); Die Doppeltgänger (ebd., S. 444, 485); außerdem: Nachtwachen. Von Bonaventura. Hg. von Wolfgang Paulsen. Stuttgart 1964, S. 20, 85, 98, 123, 128 usw. Ich verweise hier nur auf einige besonders schöne Exemplare: Jung-Stillings Theobald oder die Schwärmer und Das Heimweh, Meyerns Dya-na-sore, Klingers Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit, Grosses Der Genius, Jean Pauls Die unsichtbare Loge, Tiecks Abdallah, Novalis’ Ofterdingen, Fouqués Alethes von Lindenstein, Klingers Geschichte Raphaels de Aquillas.
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relevante Merkmale fest. Höhlenräume sind allenfalls von außersozialen Wesen – Geheimbünden, Räubern, Einsiedlern, Gefangenen, jenseitigen Wesen – besiedelt. Im einen Extremfall wachsen in ihnen Kinder seit der Geburt auf (so in Jean Pauls Die unsichtbare Loge), die damit als ›noch nicht ganz geboren‹ gelten, im anderen Extremfall ziehen sich in sie weltmüde Greise zurück (so in Wielands Agathodämon), die damit als ›fast schon gestorben‹ gelten; im Regelfall betreten und verlassen sie ›Jünglinge‹ in der Transitionsphase, die damit, freiwillig oder unfreiwillig, aus eigenem Antrieb oder im Rahmen eines Geheimbundes, eine symbolische Initiation vollziehen, wobei Betreten und Verlassen dieser Räume als symbolische Äquivalente eines ›Todes‹ und einer ›(Wieder-)Geburt‹ fungieren. Natürlicherweise sind solche Räume gern durch Dunkelheit charakterisiert: Das Licht kehrt entweder schon durch Erhellung/Beleuchtung der Höhle oder durch ihr Verlassen wieder. Die symbolische Initiation mittels Durchgang durch den Höhlenraum ist wiederum einem – faktischen oder vorgetäuschten – Erkenntnis-gewinn äquivalent, wobei die Erkenntnis das ›Ich‹ oder das ›Nicht-Ich‹, im Idealfall beide, betrifft. Jean Paul kann denn auch die unterirdischen Räume, in denen der Held der Unsichtbaren Loge aufwächst, als »Platos Höhle« bezeichnen oder im Hesperus das Höhlenmodell als Erkenntnismetaphorik benutzen: »Jenner sah staunend ein Licht in eine dunkle Höhle gleiten und sah weit in die Höhle hinein.«16 Eine dritte Gruppe von Seh- und Erkenntnisbedingungen liegt nun im Instrument, den Augen selbst, deren Grenzen und ihre (Nicht-)Überwindbarkeit immer wieder thematisiert werden. Dabei geht es einerseits um Steigerung der normalen Sehfähigkeit – durch künstliche Zusatzinstrumente – bis in den Bereich des Mikroskopischen (Mikroskop) und Makroskopischen (Fernrohr) hinein; beide Klassen von Instrumenten haben die Entdeckungsgeschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaften begleitet und möglich gemacht (Astronomie, Biologie) und fungieren als deren symbolische Repräsentanten, auch wenn die in Literatur mittels ihrer angestrebte Erkenntnis, wie in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann oder Meister Floh keineswegs notwendig vom wissenschaftlichen Typus ist. Umgekehrt ist auch die absolute Reduktion, die Blindheit, wichtig (vgl. Zitat Nr. 9). Im gedanklichen oder tatsächlichen Experiment mit dem Modellfall des Blindgeborenen17 hat sich bekanntlich die Erkenntnistheorie der Aufklärung von Anfang an paradigmatisch mit der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis aufgrund der Begrenztheit des menschlichen Sinnesapparats auseinandergesetzt. Dem Blinden – Blindgeborenen oder Blindgewordenen – kann unter bestimmten Umständen die Medizin durch Operation helfen: Solche Operationen, literarisch etwa in den Nachtwachen oder Jean Pauls Hesperus benutzt, erscheinen z.B. in Jung-Stillings Autobiographie wörtlich als der Prozeß, jemandem zum ›Lichte‹, zur Erkenntnis, zu verhelfen, als dessen
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Jean Paul 1960 (Anm. 6), S. 1197. Das Thema wird in einer Reihe von Texten tradiert, die alle noch zur ›intellektuellen Synchronie‹ der GZ gehören, so z.B. Lockes Essay Concerning Human Understanding von 1690, Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines von 1746, Diderots Lettre sur les aveugles von 1749, Lamberts Novum Organum von 1764 usw.
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metaphorisches Äquivalent er seine Tätigkeit als christlicher Erbauungsschriftsteller beschreibt. Zur Initiation in Geheimbünde gehört in Literatur und Theorie der GZ gern die zeitweilige Beraubung der Augen durch die Versetzung in dunkle Höhlenräume (z.B. Grosse, Der Genius) oder durch das Anlegen einer Augenbinde. Die Rolle dauernder oder zeitweiliger Blindheit im Werk Jean Pauls ist bekannt, wobei, in der Erblindung jener sensiblen Geschöpfchen, die seine Helden gern erotisch finden, zugleich auch die zweite Erkenntnisfunktion des Auges, der Ausdruck der Psyche, relevant wird. Als interessanter Fall sei Wilhelm Meisters Einweihung/Initiation in die Geheimnisse der Turmgesellschaft genannt: Der Turm, den Wilhelm betritt, fungiert als bewußt inverses Korrelat einer Höhle, und Wilhelm gerät zunächst beim Betreten in einen durch einen Vorhang abgesperrten dunklen Vorraum, der ihn kurzfristig der Sehfähigkeit beraubt. Ein vierter Komplex sei genannt. Es handelt sich um die absoluten Grenzen menschlicher Seh- bzw. Erkenntnisfähigkeit: um die (Un-)Möglichkeit der Erkennbarkeit des grundsätzlich Nicht-Sichtbaren. Daß andersartige oder zusätzliche Sinnesorgane vielleicht die Erkenntnis anderer Welten ermöglichen würden, ist ebenso ein Aspekt des aufklärerischen Gedankenexperiments vom Blindgeborenen wie Thema der okkultistischen oder pseudowissenschaftlichen Theorien der Epoche, so etwa des Mesmerschen Magnetismus, wie ihn die GZ theoretisch und literarisch ausgebeutet hat. Die Überschreitbarkeit der Erkenntnisgrenze zum grundsätzlich Nicht-Sichtbaren, etwa im Falle des Sichtbarwerdens bzw. Sichtbarmachens von Geistern und jenseitigen Wesen, wird in der (anti-)fantastischen Literatur und der (anti-)okkultistischen Theorie diskutiert und verworfen oder behauptet. Seit Schillers Geisterseher häufen sich in der Literatur die Magiergestalten, die aufgrund geheimen Wissens die Fähigkeit für sich beanspruchen, das an sich Nicht-Sichtbare selbst sehen oder für andere sehen machen zu können; ihr historisch reales Äquivalent sind die Swedenborg und Cagliostro und viele andere Kleinere. Der hier skizzierte Komplex der optischen Kodierung von Erkenntnis ist zweifellos in der Literatur der Epoche stärker belegt als in ihrer Theorie, aber auch die anthropologischen, erkenntnistheoretischen, okkultistischen Texte kennen relevante Terme aus diesem Bereich wie etwa ›Anschauung‹ und ›Vorstellung‹. Die idealistischen Theoriebildungen der zweiten Hälfte der Epoche scheinen freilich von diesem Sprachkomplex in viel geringerem Maße Gebrauch zu machen als die spätaufklärerischen Theorien der ersten Hälfte, während seine Verwendung in der Literatur eher noch intensiviert wird: Hier scheint allmählich wieder eine Abkoppelung von Literatur und Theorie, die die Aufklärung verknüpft hatte, einzusetzen. Zwei der früher beschriebenen, epochentypischen Tendenzen im Umgang mit Wissen und Sprache bestätigen sich jedenfalls auch anhand des Komplexes der optischen Kodierung: Erstens integriert auch er eine Reihe vorgefundener älterer Teilsysteme, zweitens bildet er aus zunächst unabhängig voneinander existenten Teilsystemen ein neues, weitgehend kohärentes System. Beides wird sich auch im folgenden wiederfinden; zunächst aber soll die Wirksamkeit einer dritten Tendenz auch auf die optische Kodierung belegt werden. Denn – dies die Behauptung –
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dieser lexikalischsemantische Komplex erfüllt zugleich auch dieselbe Funktion wie die früher genannten universellen theoretischen Begriffe der Epoche: Er korreliert verschiedene Realitätsbereiche untereinander, indem er nicht nur dem Ausdruck von Erkenntnisprozessen, sondern auch der – wiederum sowohl wörtlichen als auch metaphorischen – Repräsentation von Phänomenen der sozialen Kontrolle und der Sexualität dient. Zu den Anwendungsbereichen des optischen Kodes, dank derer die drei Sachverhaltsklassen Erkenntnis, Kontrolle, Sexualität in ihm korreliert werden können, gehört ein Extremfall optischer Erkenntniskodierung, von dem noch nicht die Rede war und durch den auch theologisches – orthodox christliches wie abweichend-deistisches – Wissen seinen Platz in diesem Sprachsystem findet. Denn schon in der Sprache der biblischen Bücher wie auch in seiner ikonischen Repräsentation als Auge im oberen Bildteil der pictura frühneuzeitlicher Emblematiken und noch im theologischen und alltäglichen Wissen im 18. Jahrhundert und der GZ fungiert Gott einerseits als die Instanz, die alles sieht – und somit alles weiß. Dieses universelle göttliche Auge, dem nichts verborgen sein kann, stellt andererseits zugleich auch den Repräsentanten umfassender Kontrolle, aber auch umfassender Liebe gegenüber dem Irdischen dar. Die optische Verfügungsgewalt über die Welt – ›(nicht)sehen‹, ›(nicht)sehen lassen‹, ›(nicht)sehen machen‹ – fungiert jedenfalls in der GZ deutlich als Ausdruck kontrollierender Machtausübung (vgl. Zitate Nr. 1, 9, 16, 17), deren höchste, gottgleiche Form es ist, zu sehen, ohne gesehen zu werden. ›Sehen‹ heißt goethezeitlich ›erkennen‹, und Wissen ist nach einem neuzeitlichen Topos in der Tat Macht. Solche Macht als optische Verfügungsgewalt über die Sichtbarkeit beanspruchen in der GZ-Literatur alle Manipulatorengestalten, insbesondere die Magier und Geheimbünde, die versprechen, Verborgenes sichtbar zu machen, und verlangen, die totale optische Kontrolle über Initiierte und Initianden auszuüben. Charakteristisch für Magiergestalten, wie z.B. Schillers Armenier (vgl. den Textanfang des Geistersehers), ist es meist, zu ›erscheinen‹, ohne daß man sähe, wo sie herkommen, und zu ›verschwinden‹, ohne daß man sähe, wo sie hingehen, und unabhängig vom Willen anderer Subjekte diese immer sehen zu können, aber allein darüber zu entscheiden, ob und wann man sich sehen läßt: »Coppelius ließ sich nicht mehr sehen.«18 Hoffmanns Coppelius/Coppola übt in der Sicht des Helden Nathanael ganz unmittelbar die Kontrolle über die Augen anderer aus, insofern es, nach Nathanaels Kindheitserinnerung wie nach seinem bedrohlichen Poem, in Coppelius’ Macht steht, den anderen die Augen zu lassen oder sie ihnen zu nehmen; während Nathanael freilich eine wörtliche und reale ›Blendung‹ befürchtet, wird an ihm eine metaphorische ›Verblendung‹ vollzogen. Solchen und anderen Manipulatorengestalten bzw. generell Macht ausübenden oder zu Herrschaft berufenen Figuren wird denn gern auch von den Texten ein »stechender«, »durchbohrender« usw., kurz ein in den fremden Innenraum eindringender Blick zugeschrieben; im Sandmann weisen ihn etwa Coppelius/Coppola und Spalanzani auf. Auch
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Hoffmann 1969 (Anm. 3), S. 10.
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die optischen Instrumente können ähnliche Leistungen erbringen (vgl. Sandmann); am hübschesten vielleicht in E. T. A. Hoffmanns Meister Floh, wo einerseits das ins Auge eingesetzte Mikroskop die Macht verleiht, andere zu ›durchschauen‹ (!), andererseits das Fernrohr erstens von Leuwenhoek explizit als »optisches Marterinstrument« zur Quälung von Dörtje benutzt wird19 und zweitens als Waffe im Duell zwischen Swammerdamm und Leuwenhoek fungiert, die sich mit Blicken durch ihre Ferngläser, die sie »durch Aus- und Einschieben bald verlängerten bald verkürzten«, bekämpfen. 20 Ebenso deutlich ist aber die erotische Funktionalisierung des optischen Kodes in der GZ: Praktisch jedes seiner Elemente kann auch mit Sexualität korreliert werden. Schon traditionell sind die Augen Instrument erotischer Kontaktaufnahme und des Ausdrucks und der Mitteilung von Liebe. In der GZ-Literatur wird höchste – sei es nur emotionale, sei es direkt sexuelle – erotische Erregung gern als zeitweiliger Verlust des Sehvermögens beschrieben: Schon Lotte und Werther »verging die Welt«, eine Figur von Jean Pauls Hesperus sitzt »blind und liebestrunken« neben der Geliebten, und in Grosses Genius heißt es, des Helden »Augen erblindeten« im Liebesakt. Im Extremfall werden direkt die Augen mit den Sexualorganen korreliert: So drohen etwa die Onanie-Theoretiker der GZ dem unfolgsamen Jüngling mit der bevorstehenden Erblindung,21 und in Arnims Dolores wird einer Figur sogar ein zeugender Blick zugeschrieben, so daß also wechselseitiger Blickkontakt als Äquivalent eines Sexualaktes fungieren kann. Unverkennbar hat auch im Sandmann die Bedrohung durch eine Blendung unter anderem eine sexuelle Bedeutung, wie denn der Held in seiner Phantasie wie in der Realität mit den Augen einer Frau beworfen wird – ein Auge auf etwas werfen, heißt aber schon in der GZ, es begehren. Auch in seiner erotischen Implikation kann der Blick ›eindringend‹ sein: »…da traf, durchfuhr wie ein Blitzstrahl mein innerstes Wesen ein Blick –.«22 Selbstverständlich können auch die optischen Instrumente, insbesondere das – ausziehbare! – Fernglas, Sexualorgane direkt repräsentieren.23 Vermutlich hat bei
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Hoffmann 1965 (Anm. 6), S. 745. Ebd., S. 746 und 783. Johann Friedrich Oest: Höchstnöthige Belehrung und Warnung für Jünglinge und Knaben, die schon zu einigem Nachdenken gewöhnt sind. Wolfenbüttel 1787 »weiß unendlich viele Geschichten zu berichten, wo die Onanie zu erstorbenen Augen, völlig blind gewordenen Augen, Schwäche des Gesichts, trüben und erstorbenen Augen« usw. geführt habe (Reprint. Hg. von Johannes Merkel und Dieter Richter. München 1977, S. 29, 60, 64, 72, 75, 78, 137.). Christian Gotthilf Salzmann: Über die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig 31799, S. 6, vollzieht recht explizit die Äquivalentsetzung von Augen und Sexualorganen: »Wir machen sie mit der Verletzbarkeit der Augen [!] bekannt, warum lehren wir sie nicht auch die Verletzbarkeit anderer Glieder [!]?« E.T.A. Hoffmann: Der Elementargeist. In: Hoffmann 1965 (Anm. 6), S. 392. In Hoffmanns Sandmann hat das Fernrohr wohl deutlich auch eine sexuelle Implikation, vermutlich ließe sie sich auch bei den Fernrohren der Duellanten im Meister Floh zeigen. Am eindeutigsten wird sie in einem Trivialroman von Christian August Fischer: Hannchens Hin- und Her-Züge, vollzogen: Der Held, ein als Knabe verkleidetes Mäd-
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der Sexualisierung des Auges und Sehens auch das lutherdeutsche »erkennen« eine Rolle gespielt; diese Sexualisierung umfaßt aber auch andere Teilkomplexe des optischen Kodes. ›Enthüllen‹ und ›aufdecken‹ gehören z.B. zu den typischen Elementen der Beschreibung von Liebessituationen in der GZ: Auch hier ist einem Erkenntnisprozeß ein erotischer Prozeß äquivalent und umgekehrt. Auch die Höhlenräume weisen unzweideutig eine erotische Komponente auf, wie sie z.B. die Höhle in den Träumen des Helden und seines Vaters am Anfang von Novalis’ Ofterdingen belegt; als Orte von ›Tod‹ und ›(Wieder-)Geburt‹ sind diese Räume, oft auch explizit so benannt, ›Grab‹ und ›Schoß‹ zugleich. Dieser Sprachkomplex der optischen Kodierung und seiner Anwendungsbereiche – Erkenntnis, Kontrolle, Sexualität – wird natürlich von den einzelnen Texten der Epoche jeweils nur selektiv benutzt, wenngleich manche – wie eben etwa Der Sandmann – ihn in erstaunlichem Umfang ausschöpfen und funktionalisieren. Die Verknüpfung von Erkenntnis, Kontrolle, Sexualität in diesem Sprachkomplex postuliert natürlich zugleich auch Beziehungen zwischen diesen Bereichen, die sich auf der Handlungsebene der Texte in der Tat finden. Übrigens werden beide Klassen von Gegenständen – das Wissen wie die Erotik – sehr häufig in der Epoche als ›Geheimnis‹ und ihre Erlangung als ›Einweihung‹ (= Initiation) in dieses beschrieben.24
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chen, wird von einer jungen Frau in ihre Kammer geladen, um ihm/ihr ein entzückendes »Bild« zu zeigen; überrascht durch den Liebhaber der Frau, muß er sich unter dem Bett verstecken: »Ha! dacht ich, jetzt wird sie ihm wohl das Bildchen zeigen, das wie eine Himmelstreppe aussieht – und wirklich nahm er auch sein Perspektiv [!] heraus.« (Christian August Fischer: Hannchens Hin- und Her-Züge, nebst der Geschichte dreyer Hochzeitsnächte. Dresden 1800, Bd. I, S. 169f.). Das ›Geheimnis‹ findet sich explizit lexikalisch in praktisch allen Geisterseher- und Geheimbundromanen, zudem etwa in Arnims Dolores (Arnim 1962: Anm. 3, S. 254, 407); Jean Pauls Hesperus (Jean Paul 1960: Anm. 6, S. 482, 1115, 1215); Goethes Wahlverwandtschaften (Goethe 1963: Anm. 6, S. 78, 146); E. T. A. Hoffmanns Der Elementargeist (Hoffmann 1965: Anm. 6, S. 397); vgl. auch seine Erzählung Die Geheimnisse. Das Äquivalent ›Rätsel‹ findet sich z.B. in den Nachtwachen (Anm. 13, S. 42: »das Rätsel seines Lebens«), oder in den Wahlverwandtschaften (Goethe 1963: Anm. 6, S. 211: »das Leben war ihnen ein Rätsel«). Ebenso sind die erotischen Belege sehr verbreitet, so z.B. in der anonymen Schwester Monika. Leipzig 1815: »die letzten Hüllen verborgener Geheimnisse«, »in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht« (zitiert nach dem Neudruck München 1975, S. 35). Auch Sade – vgl. z.B. La Philosophie dans le boudoir ou les instituteurs immoraux – kennt die »initiation aux mystères de Venus« usw.
Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
Die Faszination durch Geheimbünde in Spätaufklärung und Goethezeit ist bekannt: Sie existieren in der Realität1 und provozieren sogar politische Reaktionen des Staates, für und wider sie äußern sich unzählige Traktate, die meisten deutschsprachigen Intellektuellen haben irgendwann einem oder mehreren von ihnen angehört, in vielen literarischen Texten sind sie ein konstitutives Element der dargestellten Welten, so eben auch in Gestalt der »Turmgesellschaft« in Goethes Lehrjahren. Geheimbünde – ihre Strukturen, Hierarchien, Rituale, Ideologien, Machtansprüche, Wirkungsweisen – sind zweifellos ein kollektives Phantasma der Epoche. Verglichen mit den Geheimbünden der Literatur sind freilich jene der Wirklichkeit nur kümmerliche Realisationen der epochalen Phantasie: Nur in der Literatur ist die optimale Entfaltung des semantischen Potentials dieses Phantasmas möglich und gelungen; nur in ihr wird die tatsächliche Bedeutung dieses Phantasmas für die implizite Anthropologie der Epoche deutlich. Eben deshalb sind es relativ selten reale Magiergestalten bzw. Geheimbünde,2 auf die die Literatur Bezug nimmt: Die Realität ist nur das unzulängliche Material, dessen quasimythisches Potential erst die Literatur verwirklicht. Am wenigsten sind es daher denn auch die klassischen ›Freimaurer‹, denen das literarische Interesse gilt. Literarisch relevant werden die Geheimbünde im 18. Jahrhundert erst, wenn – und insoweit – ihnen eine Abweichung von den konstitutiven Ideologemen der durchschnittlichen Aufklärung in anti- oder radikalaufklärerische Richtung zugeschrieben werden kann: insofern sie nämlich eine Verbindung eingehen mit zwei anderen – zwar minoritären, aber signifikanten – Phänomenen zur Zeit der Spätaufklärung, nämlich mit der neuen Neigung zum Okkultismus einerseits,3 wie sie sich etwa im europäischen Erfolg von Magierge-
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Siehe dazu die Beiträge in: Helmut Reinalter (Hg.): Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert. Frankfurt 1983. Wie z.B. in Goethes Groß-Cophta, Tiecks Die Wundersüchtigen oder Dumas’ Le collier de la reine. Vgl. zum Okkultismus der Spätaufklärung Vf.: Zu Jung-Stillings ›Theorie der Geisterkunde‹. Historischer Ort und Argumentationsstruktur (1979), in diesem Band S. 69–110.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
stalten wie Cagliostro manifestiert,4 und der ebenso neuen Neigung zu aufklärerischer und antiaufklärerischer Politisierung andererseits, die mit Angst- und Wunschphantasien der Machtausübung, der Kontrolle, der Manipulation anderer kombiniert ist,5 wie sie ebenso zur aufklärerischen Pädagogik gehören als sie die Selbstdarstellung bzw. Rezeption okkultistischer Magiergestalten kennzeichnen. Nicht Geheimbünde vom Typus der ursprünglichen Freimaurerlogen werden also vielfältig variierter literarischer Darstellungsgegenstand, sondern die neue Kombination ›Geheimbund – Okkultismus – Manipulation‹. Sicher können schon die ursprünglichen Freimaurer als mentalitätsgeschichtliches Indiz einer Defizienzerfahrung gegenüber der sozialen Realität gelten: Ohne solche kompensatorischen Funktionen läßt sich die Gründung von Gegengesellschaften in der Gesellschaft wohl kaum erklären. Diese von der offiziellen – im politologischen Sinne: ›bürgerlichen‹ – Gesellschaft nicht befriedigten Bedürfnisse werden wohl von vornherein ambivalent gewesen sein, teils vorwärts, teils rückwärts gerichtete Sehnsüchte: Ausdruck dessen, daß der Prozeß der Aufklärung zugleich Hoffnungen auf wie Ängste vor Veränderungen auslöst. Wie es einerseits – in lokal unterschiedlichem Ausmaße – Korrelationen von Freimaurertum und Aufklärung gibt (z.B. Tendenzen zu Deismus, zum Postulat der Gleichheit der Menschen), so gibt es andererseits in der Hierarchie von ›Lehrling – Geselle – Meister‹ den Anschluß an traditionelle, konservative soziale Produktionsmodelle (Handwerk) und Organisationsformen (Zunft),6 so gibt es ein wenig lächerlich-antiquierte Rituale, Symbolsysteme und Geheimnisse. Für die ideologisch-politische Harmlosigkeit des größten Teils des Freimaurertums spricht ja auch der hohe Anteil an Mitgliedern aus regierenden Fürstenhäusern in manchen deutschsprachigen Ländern. Diese scheinbare Gegengesellschaft war wohl weitgehend bloß kompensatorische Spielwiese großer Kinder: soziales Palliativ. Wenn sie später in Lessings Ernst und Falk (1778) oder Fichtes Vorlesungen über die Freimaurerei (1802) als politisch-soziales Instrument der Realisierung von Aufklärung und Humanität interpretiert wird, so wird damit schwerlich die Realität der Freimaurer beschrieben, sondern eine utopisch-normative Setzung und Refunktionalisierung vorgenommen, durch die sie zugleich von den neuen Hochgradorden differenziert werden. Wie wenig die Freimaurer jene Bedürfnisse zu befriedigen vermochten, aus denen sie entstanden, zeigt sich daran, wie leicht und in welchem Umfang seit den 1760er Jahren ihre Logen dem Andrang der sogenannten ›Schottischen Logen‹, der sogenannten ›strikten Observanz‹ erlagen und sich in Hochgradorden umstruktu-
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Vgl. Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991 (vgl. zu diesem Band auch meine Rezension in: Das achtzehnte Jahrhundert 17/1, 1993, S. 108–110). Für unseren ganzen Themenkomplex von größter Bedeutung ist Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1985. Vgl. Michael Stürmer (Hg.): Herbst des alten Handwerks. Quellen zur Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts. München 1979.
Strukturen und Rituale von Geheimbünden
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rierten, die weitere Grade der Hierarchie oberhalb des ›Meisters‹ vorsahen, im Extremfall bis zum Postulat der Existenz ›unbekannter Oberer‹ als ranghöchster Instanz (so daß die Vereinsmitglieder nicht einmal wissen, wer sie eigentlich leitet), verknüpft mit dem Postulat von ›Ordensgeheimnissen‹ (so daß die Vereinsmitglieder nicht einmal wissen, was sie eigentlich glauben), in die man sukzessive beim Aufstieg in der Hierarchie ›eingeweiht‹ werde bei entsprechendem Wohlverhalten, das heißt bei Gehorsam und Unterwerfung unter die je höheren Dienstgrade. In dieser neuen Struktur ist ein Potential totalitärer Machtausübung der ›Oberen‹ und Kontrolle der ›Unteren‹ angelegt, das sowohl für okkultistische als auch politische Zwecke funktionalisiert werden kann. So sollen z. B. in Strasbourg schon in den 1760ern die beiden ›zivilen Logen‹ offen für Okkultismus gewesen sein und in der Folge einerseits zu Saint-Martin, andererseits zu Lavater geneigt haben;7 wenn Cagliostro hier 1780 eintrifft, darf er ja durchaus Erfolge als Magier feiern. Für die neuen Hochgradorden seien hier die bekannten deutschen Beispiele genannt: Adam Weishaupts 1776 gegründete, 1784 in Bayern verbotene »Illuminaten«, denen eine potentiell revolutionäre Ausrichtung zumindest von ihren reaktionären Gegnern zugeschrieben wurde und die quasi-jesuitische Strukturen der Mitgliedüberwachung praktizierten; Bahrdts »Deutsche Union« mit deutlich aufklärerisch-republikanischer Ausrichtung; schließlich die »Rosenkreuzer« mit dezidiert okkultistischer und politisch-reaktionärer Programmatik, von denen freilich unklar scheint, inwieweit sie wirklich existierten oder nur in manipulativer Absicht fingiert wurden. Eine denk- bzw. mentalitätsgeschichtliche Anmerkung erscheint mir erforderlich, die die Erklärbarkeit der Relevanz von Okkultismus in der Spätaufklärung/Goethezeit betrifft: Dieser Okkultismus, der sich als Antipode zur Aufklärung konstituiert, ist erst durch sie ermöglicht. Denn die elitäre Minorität, die wir ›Aufklärer‹ nennen, hat einerseits in ihrer Kritik der christlichen Orthodoxien und ihrer Tendenz zur Substitution der vorderorientalischen Monotheismen durch den Deismus die Glaubbarkeit des Christentums geschwächt und damit den intellektuellen Freiraum für religiöse Abweichung geschaffen; sie hat andererseits in ihrer partiellen Kooperation mit dem Absolutismus, insofern dieser Modernisierungsprozesse durchführte und ihm Toleranz nicht-politischer Abweichungen plausibel gemacht werden konnte, die politische Macht der Kirchen geschwächt und damit den politischen Freiraum für religiöse Abweichungen geschaffen. Sie hat einerseits alte religiöse Bindungen aufgehoben, aber andererseits damit nicht das sozialisationsbedingte Bedürfnis nach Religiosität überhaupt aufgehoben. Sozialgeschichtlich und systemlogisch entsteht somit für eine kulturelle Teilgruppe ein Übergangszustand, wo ein Bedürfnis nach Religion affektiv noch existiert, das vom Christentum intellektuell nicht mehr befriedigt werden kann – diesen Platz besetzt der Okkultismus, der in seinen Postulaten von Mysterien die Spuren des alten Systems
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Wilfried Dotzauer: Freimaurergesellschaften im Rheingebiet. In: Reinalter 1983 (Anm. 1), S. 140–176, hier S. 145.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
des Christentums, in seinen Postulaten überlegener Erkenntnis die Merkmale des neuen Systems der Aufklärung trägt. Die ›Psychologie‹ dieses Übergangszustandes hat Schillers Der Geisterseher (1787ff.) anhand seines Protagonisten, des Prinzen, optimal verdeutlicht: Okkultismus war die Religion derer, die dem Christentum »mit der Kette entsprungen sind«.8 Durch eine »bigotte, knechtische Erziehung« zum Christentum erhält der Prinz die Disposition zum Glauben an »Wunder« (die die Spätaufklärung sonst – ratlos – als anthropologische Universalie des »Hangs zum Wunderbaren«9 diagnostiziert): »Mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen, war ehedem seine Lieblingsschwärmerei gewesen [...]«10 Durch Aufklärung überwindet er nun zwar das Christentum, nicht aber sein Religionsbedürfnis: ...er entlief ihm wie ein leibeigener Sklave seinem harten Herrn, der auch mitten in der Freiheit das Gefühl seiner Knechtschaft herumträgt. Eben darum, weil er dem Glauben seiner Jugend nicht mit ruhiger Wahl entsagt, weil er nicht gewartet hatte, bis seine reifere Vernunft sich gemächlich davon abgelöst hatte; weil er ihm als ein Flüchtling entsprungen war, auf den die Eigentumsrechte seines Herrn immer noch fortdauern – so mußte er auch, nach noch so großen Distraktionen, immer wieder zu ihm zurückkehren. Er war mit der Kette entsprungen, und eben darum mußte er der Raub eines jeden 11 Betrügers werden, der sie entdeckte und zu gebrauchen verstand.
Es sind nun dominant Erzähltexte (Romane, Erzählungen, Novellen), in deren Welten Geheimbünde bzw. geheimbundartige Strukturen eine Rolle spielen:12 Es sind vor allem die Geheimbund- und/oder Geisterseherromane/-erzählungen. Diese umfängliche Textgruppe ist nun in zweifacher Hinsicht mit jener Textmenge korreliert, die man traditionellerweise als Entwicklungs-/Bildungsgeschichten benennt. Zum einen weisen beide Textmengen einen gemeinsamen Durchschnitt auf: Es gibt Texte, die, wie schon Wielands Agathon (1766/67), aber eben auch Goethes Lehrjahre, beiden Mengen angehören. Das ist nun umso weniger erstaunlich, als zum anderen beide Textmengen nach einem gemeinsamen – mit Sicherheit: qualitativ, mit Wahrscheinlichkeit: quantitativ – dominanten Erzählmodell der Goethezeit funktionieren, das ich Initiationsgeschichte zu nennen vorgeschlagen habe;13 die Regularitäten dieses Erzählmodells können hier nicht im Detail vorgeführt werden;14 einige bedürfen aber auch hier der Erwähnung.
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Friedrich Schiller: Der Geisterseher. In: Schiller: Sämtliche Werke. Hgg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1989, Bd. V, S. 48–182, hier S. 106. Dazu Vf.: Zu Jung-Stillings ›Theorie der Geisterkunde‹, in diesem Band, S. 69–110. Schiller 1989 (Anm. 8), S. 59. Ebd., S. 106. Sonst auch im Drama – vgl. Goethes Groß-Cophta und Mozart/Schikaneders Zauberflöte. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band S. 173–193. Die Lehrjahre speziell wurden später auch als Initiationsgeschichte klassifiziert von Michael Neumann: Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehre. Frankfurt a.M. 1992. Siehe dazu Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit, und ders.: Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche (2002), in diesem Band S. 223–287.
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Erzählt wird ein Ausschnitt des Lebenslaufs eines (normalerweise) männlichen, jugendlichen Protagonisten, auf dem der Fokus des Erzählens liegt. Dieser Lebenslauf ist dreiphasig. Zu Textanfang wird – oder ist schon – die (vorgegebene) Herkunftsfamilie, in die der Protagonist, mit einem heteronomen Kindstatus, integriert war, verlassen, von der er sich loslösen muß. Es folgt die Transitionsphase der Jugend, der zentrale Erzählgegenstand, charakterisiert durch ziellose Reise, durch einen quasi außersozialen Zustand verantwortungsloser Nicht-Integriertheit, eine Phase experimenteller sozialer und erotischer Erfahrungen, in der dem Protagonisten bewußt oder nicht bewußt Selbstsuche aufgegeben ist. Am Textende wird ein als definitiv gesetzter Zustand erreicht: Wenn der Protagonist scheitert, kommt es zu Selbstverlust und Tod oder einem Todesäquivalent, wenn hingegen der Prozeß gelingt, zu Selbstfindung, zum Übergang in den Mannstatus, zu (begrenzter) Autonomie der Person, zu sozialer Reintegration durch definitive Berufs- und (normalerweise) Partnerwahl mit der Absicht der Gründung einer (diesmal selbstgewählten) Zielfamilie. Erzählt wird also die Initiation in den Status des erwachsenen Mannes. Diese Grundstruktur weisen alle Geisterseher-/Geheimbundromane und alle Entwicklungs/Bildungsgeschichten auf. Die dargestellten Welten der Initiationsgeschichten der Goethezeit können nun in variablem Umfang und mit variabler Relevanz Elemente des Geheimbundmodells aufweisen, dessen Merkmale im jeweiligen Text vollständig oder teilweise auftreten können und das dominant oder peripher sein mag. Wenngleich nun logisch die Auflistung der Merkmale des Geheimbundmodells Priorität hätte, behandle ich aus praktischen Gründen der Darstellung zunächst die quantitative und chronologische Distribution der einschlägigen Texte in der Literatur der Goethezeit. Dabei muß ich dem Leser einiges an Vertrauen abfordern: Der vorgegebene Umfang erlaubt nicht, detailliert zu begründen, welche Texte ich – und warum – dem Geheimbundmodell zuordne. Ich präsentiere hier also Ergebnisse ohne Begründung: a) In dem mir bekannten Korpus von Goethezeit-Erzähltexten weisen mehr als 10 % der Texte Geheimbundelemente vollständig oder partiell, dominant oder peripher auf. b) Textbeispiele finden sich bei fast jedem der bedeutenden Autoren und bei vielen zweit- oder drittklassigen.
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Die zeitliche Verteilung dieser Texte (siehe Textliste im Anhang des Aufsatzes) illustriert das folgende Schema: Zeitliche Verteilung von Geheimbünden und Höhlenräumen 45 40 35 30
Textmenge
Geheimbünde Höhlenräume
25 20 15 10 5 0 1770-79 1780-89 1790-99 1800-09 1810-19 1820-29 1830-40 Jahrzehnte Aus dieser Distribution folgt nun: c) Ca. 56 % der Texte liegen zwischen 1790 und 1800. d) Schon die frühen Texte – wie z.B. Schillers Geisterseher (1787ff.), Meyerns Dya-na-sore (1787), Tschinks Geschichte eines Geistersehers (1790), Grosses Der Genius (1791ff.), Zschokkes Die schwarzen Brüder (1791ff.) – weisen fast alle Merkmale des Geheimbundmodells auf; das heißt, die Genese dieses literarischen Modells – auch sie muß hier aus Raumgründen ausgespart bleiben – ist unabhängig von der Französischen Revolution – wie denn auch schon vor dieser klerikale und konservative Milieus gegenüber den realen Geheimbünden Verschwörungsphantasien und -ängste entwickelt haben.15 Andererseits aber fällt die Hauptmasse der Texte in das Jahrzehnt, in dem die Goethezeit die Erfahrung der Revolution (mehr schlecht als recht) intellektuell zu bewältigen versucht. Die These liegt somit nahe, daß im Geheimbundmodell zwar schon an sich relevante Aspekte der impliziten Anthropologie goethezeitlicher Literatur thematisiert sein müssen, daß aber die Verarbeitung der Revolution diese anthropologischen
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Dazu Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der freimaurerischen Verschwörung. In: Reinalter 1983 (Anm. 1), S. 85–114.
Strukturen und Rituale von Geheimbünden
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Implikationen mit gesteigerter Relevanz versehen und/oder durch weitere Implikationen ergänzt hat. Nun beweist bloße zeitliche Koinzidenz zweier Phänomene – hier: der Versuche der Revolutionsverarbeitung und der Häufung der Geheimbundromane – natürlich nicht eine logisch-semantische Korrelation dieser Phänomene. Auf den ersten Blick spräche sogar einiges gegen eine solche Korrelation. Denn es sind keineswegs sehr viele der fraglichen Texte, in denen die Manipulationen des Geheimbunds explizit politischen Zielen gelten (wie z.B. schon in den oben erwähnten frühen Texten von Schiller, Meyern, Tschink, Grosse und Zschokke). Mindestens ebenso häufig sind die Texte, in denen die Manipulation anderen kollektiven Zwecken, z.B. religiösen (vgl. etwa Wielands Peregrinus Proteus 1791 und Agathodämon 1799, Jung-Stillings Das Heimweh 1794ff.) oder anderen ideologischen (z.B. Tiecks Abdallah 1795) oder sogar privat-individuellen Zwecken dient, solchen der Rache (z.B. Tiecks Lovell 1795), solchen der Erotik (z.B. schon Wielands Agathon 1766/67, Arnims Gräfin Dolores 1810, Vulpius’ Lucindora 1810), solchen der Bereicherung (z.B. Spieß’ Egyptier 1798, Spindlers Jesuit 1829), solchen der Pädagogik (z.B. Anonym: Die Höhle 1800, Jean Pauls Unsichtbare Loge 1793, und natürlich die Lehrjahre). Und selbst wenn es um politische Ziele geht, sind sie keineswegs notwendig revolutionär. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Schillers Geisterseher (und seinen Fortsetzern Follenius 1796 und Morvell 1833) oder Tschinks Geschichte eines Geistersehers geht es um politischen Umsturz und Machtergreifung, nicht aber um Revolution; in Grosses Genius ist im ersten Band zwar die Rede von potentiellem Königsmord, aber ohne daß das Thema narrativ relevant würde; Meyerns Dya-na-sore ist, wenn auch nur in der ersten Fassung, dezidiert revolutionär und antimonarchisch, aber diese Fassung liegt noch vor der Revolution; Zschokkes Schwarze Brüder stellt zwar eine tatsächliche Revolution dar, deren – für ihn utopisches, aber eher konservatives, erstaunlich wenig an Transformation mit sich bringendes – Ergebnis im Band III 1795 dargestellt wird. In den Lehrjahren schließlich, wo der Bund zunächst pädagogischer Manipulation dient, wird er gar – in der Textwelt vorausschauend, vom Erscheinungsdatum her zurückschauend – zu einer wechselseitigen Assekuranz der Besitzverhältnisse gegen die Gefahr möglicher Revolution umdefiniert.16 In der Zeit nach 1800 nehmen in unseren Texten die privaten Zwecke überhand und es findet zugleich eine Trivialisierung des Modells statt, bei der geheimbundartige Strukturen (z.B. Cramers Zoar der Auserwählte 1799, Vulpius’ Lucindera 1810) erotischer Umgarnung eines Geliebten durch eine Frau dienen oder von tertiären Autoren mit albernen Schauergeschichten kombiniert werden. In der Endphase der Epoche haben wir schließlich bei den bedeutenden Autoren entweder eine Selbsthistorisierung, bei der das Geheimbund- und Geistersehermodell als Charakteristikum einer vergangenen Frühphase der eigenen Epoche erscheint, so
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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter, Bd. 5, hg. von Hans-Jürgen Schings. München 1988, S. 564. Diese Ausgabe wird im folgenden als ›WML‹ zitiert.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
z.B. in Arnims Metamorphosen der Gesellschaft (1826), wo okkultistischgeheimbündlerische Strukturen der Phase vor und während der Revolution zugeordnet werden, so in Tiecks Die Wundersüchtigen (1831), wo im Kampf der konkurrierenden Magier eindeutig Cagliostro und Schrepfer, beide längst verstorben und vorrevolutionär, abgebildet sind, deren fingierte Konkurrenz zugleich auf die von Schiller im Geisterseher inszenierte zwischen dem Sizilianer und dem Armenier referiert (wobei diese Episode auch im anonymen Text Bianca und Hieronymo [1800] aufgenommen wird). Solche historische Selbstreflexivität des Literatursystems ist ja früh schon ein Merkmal der Goethezeit, die ihre eigenen Transformationen reflektiert – nicht nur Goethe wurde sich selbst schon historisch. Oder aber – nunmehr entmythisierte – Geheimbünde werden in neuen politischen Kontexten refunktionalisiert: E.T.A. Hoffmanns Meister Floh (1822) oder Immermanns Die Epigonen (1836) parodieren den Geheimbund- und Verschwörungswahn der reaktionären »Demagogenverfolgung«. In Arnims Die Kronenwächter (1817) schließlich wird, gut goethezeitlich, die Geheimbund-phantasie noch einmal zum generalisierten Geschichtsmodell. Halten wir erstens fest: Die These der Korrelation von Häufungen der Geheimbundromane und von Revolutionserfahrung kann nicht direkt auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern nur indirekt bestätigt werden; ich komme darauf zurück. Und zweitens: Der Texttyp hat seine Meisterwerke, nicht nur im – geradezu modellbildenden – Geisterseher Schillers oder anderer prominenter Autoren, z.B. Tiecks Abdallah oder Lovell, sondern ebenso in Texten wie Meyerns Dya-nasore oder Grosses Der Genius. Letzteren haben der junge Tieck und der junge E.T.A. Hoffmann ja nicht zufällig mit Begeisterung verschlungen, in dieser Hinsicht in jedem Falle intelligenter als manche spätere Literaturwissenschaftler, die glaubten, Meyern und Grosse als trivial abtun zu können. Doch nun bleibt nachzutragen, was denn hier unter geheimbund(artigen) Strukturen verstanden werden soll, wobei bei der Auflistung von deren Merkmalen zugleich jeweils festzuhalten ist, wie sich Goethes Lehrjahre zu ihnen verhalten. Diese Strukturen sind – nach Vorspielen seit Wielands Agathon 1766/67 und anderen (vgl. Textliste im Anhang) – in den Texten Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre, in denen sich das Geheimbundmodell literarisch definitiv etabliert, vollständig – und ab da unverändert – gegeben, auch wenn sie im jeweiligen Einzeltext nicht notwendig vollständig realisiert werden. Ich konstruiere hier also ein theoretisches Modell als Abstraktion von einem Textkorpus: eine Art Idealmodell des literarischen Goethezeit-Geheimbunds, das im jeweiligen Text mehr oder weniger vollständig, mehr oder weniger gut, inszeniert wird. Als Textkorpus lege ich alle Texte zugrunde, die man als ›Bundesromane‹17 bezeichnet hat oder die – oft genug im Titel signalisiert – als ›Geisterseherromane‹ bezeichnet werden können (so, nach Schillers Geisterseher 1787ff, etwa Wielands Peregrinus Proteus
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So etwa Marianne Thalmann: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses »Genius« bis Tiecks »William Lovell«. München 1970.
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1791, Kahlerts Geisterbanner 1792, Hippels Kreuz- und Querzüge 1793, Beckers Geisterseher 1794, Seidels Geisterseherin 1795, Follenius’ Geisterseher 1796, Spieß’ Egyptier 1798, Bornscheins Graf von Portokar 1800, Gleichs Geisterseherin 1800, Brancaglios Stimme des Unsichtbaren 1822, Morvells Geisterseher 1833), wobei die erste und die zweite Gruppe sich ohnedies weitestgehend überschneiden. Ich rechne diesem Korpus – aus, wie ich hoffe, in der Folge leicht einsehbaren Gründen – auch noch – als Variation – die Texte zu, die von Teufelsbündnissen erzählen wie E.T.A. Hoffmanns Elixiere des Teufels oder Chamissos Schlemihl. Formulieren wir also einige der Regularitäten des Erzählmodells ›geheimbundartige Strukturen‹, das, wenn es auftritt, praktisch immer Teilstruktur des Modells ›Initiationsgeschichte‹ ist: (1) Es gibt einen – im Regelfalle männlichen – jugendlichen Protagonisten, in den Lehrjahren, also Wilhelm Meister, der sich in der Transitionsphase befindet (s. o.): Dieses Ego scheint das Zentrum der dargestellten Welt, und die Welt existiert nur insoweit, als sie Bezug auf Ego hat; alle anderen Figuren werden nur insoweit relevant, als sie für Ego entweder auf der Handlungsebene wichtig werden oder ihm ihre Geschichte erzählt wird (vgl. die »Bekenntnisse einer schönen Seele« = Buch VI der Lehrjahre). Diese Regel gilt für alle Initiations- und also auch für die Bildungsgeschichten. (2) Insoweit nun solche Texte dominant oder peripher in der dargestellten Welt geheimbundartige Strukturen aufweisen, gibt es neben Ego, dem manifesten, aber nur scheinbaren Zentrum der dargestellten Welt, ein latentes, verborgenes, reales Zentrum: eine Manipulatoreninstanz, die in Egos Leben ohne dessen Wissen und Willen eingreift. In den Lehrjahren ist dies die »Turmgesellschaft«. Das aber impliziert zweierlei: (2.1) eine epistemologische Komponente: Die Welt ist nicht, was sie Ego scheint. Hinter der von Ego wahrnehmbaren Oberfläche der Realität gibt es eine für Ego nicht wahrnehmbare Tiefenstruktur, und diese ist potentiell gefährlich für Ego, da sie über Manipulationsfähigkeiten gegenüber Ego verfügt. In Schillers Geisterseher, Grosses Genius, Tschinks Geisterseher usw. richten sich diese Fähigkeiten gegen Ego, und Ego erliegt (Schiller, Tschink) oder widersteht (Grosse). Ob dieser oder jener Ausgang eintritt, hängt einerseits von der psychischen Struktur Egos ab,18 andererseits davon, daß ein korrekter Erkenntnisprozeß dieser Tiefenstruktur stattfindet, das heißt ein Akt der Aufklärung Egos, in dem er hinter der manifesten Oberfläche die latente Tiefe erkennt. In allen Geisterseher-/Geheimbundromanen findet eine solche Aufklärung als narrativer Prozeß statt: Am Textende wissen Held – und Leser – alles; die Frage ist nur, ob der Protagonist rechtzeitig, das heißt vor eventuellem Selbstverlust, ›aufgeklärt‹ wird. Normalerweise versucht der Geheimbund solche Aufklärung zu verhindern, um
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Dazu Vf.: ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Ego manipulieren zu können; in den Lehrjahren hingegen gehört die rechtzeitige Aufklärung zu den ›Bildungszielen‹ des Bundes. (2.2) eine anthropologische Komponente (mit gravierenden Konsequenzen): Ego scheint nur Zentrum einer Welt, die um dieses Subjekt kreisen würde: eine aufklärerische Utopie von Wert und Rang des Individuums. Aber diese Utopie wird faktisch unterlaufen in einer Dezentrierung des Subjekts; Ego – und mit ihm der Leser – meint nur, daß Ego das Zentrum, das Subjekt sei; faktisch ist Ego Objekt einer Manipulatoreninstanz, die, mehr oder weniger stark in Egos Leben und Person einzugreifen versucht und in dem Ausmaß, in dem es ihr gelingt, sich als eigentliches Zentrum der dargestellten Welt erweist. In den Lehrjahren wird versucht, hier eine raffinierte Balance zu halten: Zwar gibt es, für Wilhelm zunächst unsichtbar, jenes eigentliche Zentrum der »Turmgesellschaft«, aber dieses versucht, sich seines Zentrumsstatus zu entäußern, indem es die Individualität Wilhelms, das scheinbare Zentrum also, zu ihrem Ziel macht und damit seine Zentralität bestätigt. Aber auch das wird wiederum unterlaufen: Denn Wilhelm ist nicht das einzige pädagogische Objekt des Bundes – und nur dann wäre er Zentrum der Welt. Worum es hier geht, ist also der Status des aufklärerischen Wertes ›Individualität‹, und die Lehrjahre vollziehen einen Kompromiß: Weder wird der Protagonist in dem radikalen Status des Subjekts und Individuums negiert, indem er auf ein Manipulationsobjekt reduziert würde und wie Schillers Prinz im Geisterseher absehbar in Selbstverlust endete, noch wird ihm der Status des unbedingten Weltzentrums, des absoluten Selbstwerts als Subjekt und Individuum bestätigt. (3) Die Perspektive der Texte mit geheimbundartigen Strukturen ist also die der Opfer, nicht der Täter. Der Protagonist – und mit ihm der Leser – ist in der Situation eines Nicht-Wissens der Ego geltenden Manipulation. Das theoretischoffizielle Programm der Aufklärung war das der selbstbestimmten, autonomen Individualität, und das heißt auch: einer Souveränität des Subjektes gegenüber einer durch Egos Rationalität überschaubaren Welt. Auch die Erzähltexte mit Geheimbundelementen vertreten dieses Programm als wünschbaren Wert: Nur haben sie wie die Lehrjahre ihm gegenüber eine mehr oder weniger deutlich spätaufklärerisch-resignative Komponente. Egos anzustrebender Status als souveränes und autonomes Subjekt, der in der Logik der Texte davon abhängt, daß das Ego als Subjekt sich über soziale Bindungen erheben, sich aus sozialen Bindungen – repräsentativ dafür die Befreiung von der Herkunftsfamilie – lösen kann, wird in je verschiedenem Ausmaß mit der Erfahrung heteronomer Objekthaftigkeit konfrontiert. Das gilt für alle goethezeitlichen Initiations-geschichten:19 Die Texte, in denen ein Geheimbund Ego zu manipulieren versucht, sind nur eine Verdeutlichung dieses Problems. Ego soll Autonomie der Person anstreben, wie es das bekannte Programm Kants vorgibt; die Existenz manipulativer geheimbundartiger Strukturen, die Ego ihren Zielen unterwerfen wollen, bedroht Ego aber mit Ver-
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Siehe Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit; sowie: ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte, im selbsne Band, S. 173–193 und S. 223–287.
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weigerung der Autonomie bzw. Entautonomisierung. Wenn der Protagonist in seiner jugendlichen Transitionsphase der manifesten, von ihm wahrgenommenen Gesellschaft sich zu entziehen, sich von ihr im Interesse der Selbstfindung und Selbstverwirklichung abzulösen vermag (oder zu vermögen scheint), wenn aber hinter dieser Gesellschaft die latente, verborgene Gegengesellschaft des Geheimbundes steht, deren Manipulationen er möglicherweise erliegt, dann bedeutet das, daß das Subjekt sich nur scheinbar der Gesellschaft zu entziehen vermag, daß die geheime Gegengesellschaft des Bundes nur Gesellschaft in anderer Form ist, daß immer und überall die Gesellschaft den Autonomieanspruch des aufgeklärten Individuums, auch wenn es diesem (zunächst) nicht bewußt ist, durch heteronome Zwänge einschränkt. Die paradoxe – und optimistische? – Problemlösung der Lehrjahre besteht nun darin, daß die Gegengesellschaft, die nichts anderes ist als eine utopische quasi bestmögliche Gesellschaft im Sinne der ThéodicéeKonstrukte der Aufklärung, immer noch – Individualität beschränkende! – Gesellschaft bleibt, aber eine solche, die ein Maximum an Autonomie, ein Maximum an Subjektstatus des Individuums zu befördern scheint: in den Grenzen ihrer Regeln der Sozialität. Während andere Texte mit geheimbundartigen Strukturen die Antwort auf die Frage, wie Autonomie und individuelle Subjekthaftigkeit gleichzeitig mit Heteronomie produzierender Sozialität koexistieren können, entweder radikal pessimistisch mit Selbstverlust Egos, dank dessen unvermeidbarer Objekthaftigkeit, und mit seiner Heteronomie antworten oder aber radikal optimistisch den Sieg des autonomen Subjekts über die Geheimgesellschaft, das heißt die sozialen Tiefenstrukturen, feiern, konstruieren die Lehrjahre eine ›Versöhnung‹ von Individuum und Gesellschaft auf der Basis eines mittleren Wertes, wo die Gesellschaft nur das Beste des Individuums und dessen Selbstentfaltung will, um den Preis freilich, daß es dabei akzeptieren muß, daß sein ›Bestes‹ eben nicht notwendig von ihm selbst bestimmt wird. Die Paradoxie des Textes ist auch die der aufklärerischen Pädagogik: Ein ›Unmündiger‹ soll zur ›Mündigkeit‹ gelangen – aber dahin helfen ihm Instanzen, die ihm überlegen sind: Wie kann eine entmündigende Instanz dem Entmündigten zur Mündigkeit verhelfen? (4) Bei Texten mit geheimbundartigen Strukturen sind nun also gegeben ein Protagonist in seiner Transitionsphase und mindestens eine weitere Figur, die ihm gegenüber eine Manipulatorenfunktion erfüllt. Diese Figur(en) mag der Protagonist (z.B. in Tiecks Lovell) kennen oder allmählich kennenlernen (z.B. Lehrjahre): Daß er von dieser Figur(engruppe) manipuliert wird, weiß er nicht. Die sozial uneingestandene, unbekannte, verborgene Manipulatorenfunktion kann in den Texten unterschiedlich besetzt sein: a) im einen Falle nur durch eine einzige Figur, etwa in der bei Wieland rekurrenten Relation männlicher oder weiblicher Priester(innen), die unter dem Vorwand esoterischer Initiation des Protagonisten sich seiner erotisch zu bemächtigen versuchen, wie sich ähnliches auch in Cramers Zoar der Auserwählte (1799), Arnims Gräfin Dolores (1810), Vulpius’ Lucindora 1810 findet. In Schillers Geisterseher liegt der Fall anhand des Sizilianers und des Armeniers nur scheinbar vor; offenkundig bedürfen beide zu ihren
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Manipulationen eines Apparats von Gehilfen. Zu dieser Variante gehören im übrigen auch die meisten Teufelsbundtexte. b) im anderen Falle wird diese Funktion durch einen Geheimbund besetzt. Beide Varianten sind in den Texten semantisch und funktional weitestgehend äquivalent und müssen daher beide der Klasse ›geheimbundartige Strukturen‹ subsumiert werden. Insbesondere sind Einzelmanipulator und Chef eines Geheimbundes deutlich äquivalent und tragen in variablem Umfang die Merkmale einer Magiergestalt, die im Extremfall wie etwa in Schillers Geisterseher geradezu mythische Qualitäten, z.B. übernatürliche Fähigkeiten, zugeschrieben erhält, die sie mehr oder minder gottähnlich erscheinen lassen. Eine Konstante unter ihren Merkmalen ist vor allem die Unbekanntheit ihrer Manipulatorenfunktion, gern gekoppelt mit unbekannter sozialer Identität. Im Extremfall können sie unter wechselnden Namen, in wechselnden Verkleidungen, in unterschiedlichsten sozialen Rollen auftreten: Ihre wahre soziale Identität – das heißt ihr Name, ihre Herkunft, ihre Familie – bleiben unbekannt. Wenn und insoweit man den Abbé in den Lehrjahren als Bundeschef auffassen darf, stellt er nur eine Schwundstufe solcher Magiergestalten dar, insofern er namenlos bleibt, über seine Familie und Herkunft keine Information gegeben wird (außer daß er einen Bruder hat) und von mythischen Qualitäten nur der priesterliche Beruf geblieben ist. (5) Wenn in diesen Texten die Manipulatorenfunktion durch einen Geheimbund besetzt ist, dann immer durch einen solchen vom Typ der Hochgradorden, das heißt mit komplexer Hierarchie der Ordensgrade und ›unbekannten Oberen‹, wobei von den je ›Unteren‹ strikter, blinder Gehorsam verlangt wird. Demgegenüber spielen die Lehrjahre nur auf die traditionellen Freimaurer-Grade Lehrling – Geselle – Meister an, wobei Wilhelm schon durch seinen Namen prädisponiert zum höchsten Grade ist – für ihn gilt ganz wörtlich das von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman (1774) anhand des Agathon formulierte Programm, zu »werden, was man ist«: »...deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat dich freigesprochen« (WML 499). Postuliert wird hier somit, daß nicht der Orden über Wilhelms Aufnahme in einen höheren Grad entscheidet, sondern die »Natur«, und das heißt notwendig, daß er in einem natürlichen, teleologischen Entwicklungsprozeß, somit unabhängig vom Wirken des Bundes, diesen Grad erreicht hat. Die Ordenshierarchie ist nicht nur flach, sie ist kaum ausgeprägt; die Ordensmitglieder sind eher gleichrangig und zudem ideologisch ausdifferenziert, es gibt keine Befehlshierarchie, der Abbé ist zwar älter als die anderen, aber eher primus inter pares und allen Bundesmitglieder bekannt: In diesen Gesinnungen bestärkte der Abbé eine junge Gesellschaft teils nach seinen Grundsätzen, teils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer
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Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im Verborgenen gewirkt haben mochte. (WML 550)20
Eher Autorität aus Alter und Erfahrung als eine formalisierte Machtstruktur geben ihm einen Sonderstatus in der Gruppe. Der Bund wird selbst schon historisiert: »[…] alles was Sie im Turm gesehen haben, sind eigentlich nur noch Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war, und über das nun alle gelegentlich nur lächeln« (WML 549),
worüber wiederum Wilhelm schockiert ist. Auch Goethes Bund ist eine Gesellschaft, die sich innerhalb der normalen Gesellschaft und gegen sie konstituiert und ihre Existenz geheimhält:21 Aber ihre Ziele sind, auch wenn sie in der impliziten Gleichheit der Stände eine sozial-utopische Komponente haben, im Gegensatz zum typischen literarischen Geheimbund sozial eingestehbar. Trotzdem bleibt auch die Bewertung des Bundes aus der Perspektive des Initianden ambivalent,22 wie dies in extremem Maße etwa in Grosses Genius der Fall ist. Ambivalenz wird hier – und anderswo in der Goethezeit – durch in der Sukzession wechselnde Bewertungen ausgedrückt, das heißt positiven Wertungen folgen negative oder umgekehrt. (6) Die sozialen Relationen innerhalb der Geheimbünde werden gern familialisiert: Gleichrangige sind Äquivalente von Brüdern, die Magiergestalten und Geheimbundchefs Äquivalente von Vätern. In Grosses Genius erweist sich der unbekannte »Obere« als Onkel des Protagonisten, also als Mitglied der Elterngeneration und Verwandter, und wird vom Protagonisten bei dessen Initiation, obwohl ihm noch unbekannt, tatsächlich als »mein Vater« tituliert.23 In Meyerns Dya-nasore (1787) gibt es einen Geheimbund hinter den Geheimbünden, und die Verschworenen, die tatsächlich Brüder sind, erfahren spät, daß dessen Chef ihr biologischer Vater ist, den sie aber nicht kennenlernen. Solche Familialisierung macht zugleich die Problematik einer Initiation in den Bund bewußt: Denn wenn erfolgreiche Selbstfindung und Autonomie im Initiationsroman die radikale Loslösung von der Herkunftsfamilie verlangt, dann muß die Aufnahme in den Bund, wenn er Familienäquivalent und Ersatzfamilie ist, problematisch – weil äquivalent mit Rückkehr in einen Status unmündiger Kindheit durch Unterwerfung unter eine Vaterinstanz – sein. In den Lehrjahren nun ist der Abbé zwar durch Alter abgehoben und in besonderer Weise mit Mitgliedern der Elterngeneration – dem toten Onkel, dem Marchese – korreliert, aber er wird nicht zum Vateräquivalent, wie
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Siehe dazu Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meister und das Erbe der Illuminaten. In: Schiller-Jahrbuch 43 (1999), S. 123–147, der plausibel macht, daß Goethe auf Modelle der »Illuminaten« referiert. Vgl. Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in »Wilhelm Meisters Lehrjahren«. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der Romantheorie im 18. Jahrhundert. Bonn 1975. Und Christiane Reibestein: Bibliotherapeutische Aspekte in ausgewählten Werken Goethes. Dortmund 1992, S. 180. So auch Walter Beller: Goethes »Wilhelm Meister«-Romane. Bildung für eine Moderne. Hannover 1995, S. 67. Carl Grosse: Der Genius. Frankfurt 1982, S. 113.
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denn generell auch biologisch-wörtliche Eltern im Text fast systematisch durch Tod getilgt sind. Auch in dieser Hinsicht ist Goethes Geheimbund harmlos geworden. Aber die Relevanz von realer oder metaphorischer ›Verwandtschaft‹ bleibt auch in den Lehrjahren erhalten: Nicht nur erweisen sich erstaunlich viele Figuren, die der Turmgesellschaft angehören oder ihr nahestehen, als miteinander verwandt, sondern es werden auch weitere gruppeninterne quasi-verwandtschaftliche Relationen durch erotische Beziehungen geschaffen (vgl. 7.3). (7) Ob ein Protagonist nun per Zufall oder vom Geheimbund beabsichtigt – durch dessen »Emissäre«24 – aufgesucht, mit dem Bund in Kontakt gerät: Immer gilt, daß ab diesem Moment der Protagonist für Zwecke der Manipulatoreninstanz, seien sie politische, religiöse, private (s. dazu oben), die zu diesem Zeitpunkt nicht seinem Willen entsprechen, funktionalisiert werden soll: Er soll sich gewissermaßen selbst entfremdet werden, vom Subjekt zum Instrument personfremder Ziele transformiert werden (Entautonomisierung und Selbstverlust: s. oben). Demgegenüber ist das paradoxe Ziel der Manipulation der »Turmgesellschaft« gerade Selbstfindung der von ihr betreuten Subjekte, also auch deren Autonomie. Einerseits also manipuliert der Bund Wilhelm gegen dessen Willen, andererseits muß diese Manipulation so eingeschränkt sein, daß er gleichwohl zum Ziele gelangt.25 Der schwierige Kompromiß bedingt, daß die sonst für geheimbundartige Strukturen geltenden Praktiken in den Lehrjahren wiederum nur in rudimentärer, in reduzierter Form vorkommen dürfen. Das Problem der paradoxen Manipulation zu Selbständigkeit bleibt gleichwohl bewußt und wird thematisiert: Wilhelm erfährt sich ja oft genug gegen Textende als durch den Bund fremdbestimmt: »Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und ihrer Führung« sagte Wilhelm; »es ist vergebens in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben.« (WML 595)
(7.1) Wenn die geheimbundartige Manipulatoreninstanz einmal mit dem Protagonisten in Kontakt ist, dann versucht sie, ihn an sich zu binden, ihn zur Bitte um Aufnahme zu bewegen. Dabei werden dem Protagonisten Werte in Aussicht gestellt, die ihm angeblich nur der Bund bieten könne. Es sind vor allem kognitive Werte: Der Bund behauptet, »Geheimnisse« zu haben, und verspricht dem Protagonisten somit auf andere Weise unerreichbare Erkenntnis, in die er sukzessiv, je nach erreichtem Grad, »eingeweiht« werde. So heißt es z.B. in Grosses Genius: »Nicht immer wirst du uns verstehen, Karlos, aber darum zweifle niemals und gehorche willig. Wenn wir dich hinlänglich geprüft haben werden [...], dann wird deinen Augen die Hülle entsinken, welche noch für dich manche unserer Operationen verstecken muß.«26
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So die Terminologie von Thalmann 1970 (Anm. 17). Siehe dazu auch: Wilfried Barner: Geheime Lenkung. Zur Turmgesellschaft in Goethes ›Wilhelm Meister‹. In: William J. Lillyman (Hg.): Goethe’s Narrative Fiction. Berlin 1983, S. 85–109. Und: Volker Zumbrink: Die verschwiegene Pädagogik des Turms in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. In: International Congress on the Enlightenment. Münster 1995, S. 482–486. Grosse 1982 (Anm. 23), S. 137.
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Auch Wilhelm wird versprochen, »daß es unbillig wäre, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einführen« (WML 494) – »Ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viele Geheimnisse dringt« (WML 498), redet Wilhelm den Abbé an. Aber diese »Geheimnisse« bestehen hier nur im Ziel der »Bildung« anderer und den dazu vorgenommenen Manipulationen, und die einzige Erkenntnis besteht in den gesammelten Biographien der Mitglieder, darunter seiner eigenen, so daß ihm eine Selbstbegegnung, eine Konfrontation mit der Wahrnehmung seiner eigenen Person durch sich selbst und durch andere ermöglicht wird: […] er fing nun an, seine eigene Geschichte durchzudenken, sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen so wenig zu seinem Vorteil, daß er mehr als Einmal von seinem Vorsatz abzustehen im Begriff war. Endlich entschloß er sich, die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turm von Jarno zu verlangen; und dieser sagte: es ist eben zu rechten Zeit, und Wilhelm erhielt sie (WML 506).
Die »rechte Zeit«, vom Bund die eigene Biographie zu erhalten, ist hier offenbar nicht einseitig durch die Willkür des Bundes, sondern durch die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdeinschätzung der Person bestimmt, worin wiederum der textspezifische Kompromiß von Autonomie und Heteronomie sich manifestiert. Während sonst bei Initiationen Wissen nur scheibchenweise versprochen wird (s. oben das Zitat aus Grosse), steht hier ab dem Moment der Aufnahme in den Bund alles Wissen zu Verfügung: »Es ist für Sie nunmehr in diesem Zimmer nichts verschlossen« (WML 498). Während sonst dem Initianden die eigentlichen Bundesintentionen vorenthalten bleiben (vgl. z.B. wiederum Grosse), werden sie ihm hier uneingeschränkt mitgeteilt. Der Wissensstand aller Mitglieder ist potentiell gleich und hängt nicht vom im Bund erreichten Grad ab. (7.2) Zu den typischen Merkmalen geheimbundartiger Manipulatorenfunktionen gehört die – behauptete oder tatsächliche – kontinuierliche Überwachung und Kontrolle ihres Opfers (das zum Initianden werden kann, aber nicht muß); so heißt es etwa in Grosses Genius: »Ein Genius wird dich allenthalben begleiten und du wirst sicher seyn, wenn du ihm folgst«.27 Solche unentwegte Überwachung wird in Metaphern der sinnlichen, insbesondere der optischen Wahrnehmung gedacht: Wie Gott sieht der Bund alles, wird aber selbst nur gesehen, wenn er sich in einem seiner Mitglieder sehen lassen will. Schillers Armenier z.B. verhält sich, als wüßte er immer, wo der Prinz sich aufhält, während er selbst diesem nur erscheint, wenn er will, und unauffindbar ist, wenn er gesucht wird. ›Sehen, ohne gesehen zu werden‹ ist die Formel der Macht in diesen Texten,28 wobei ›Sehen‹ zugleich auch Metapher für Erkenntnisprozesse und Wissen ist.29 Diese Geheimbünde sind ein sehr neuzeitliches Phantasma: das einer rational kontrollierbaren und beherrschbaren Welt, in der nach Francis Bacons Diktum tatsächlich Erkenntnis und Macht eins sind – eine Phantasie von Omnipotenz und
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Ebd., S. 132. Vgl. Foucault 1985 (Anm. 5). Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 173–193.
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Omnipräsenz. Dieses Kontrollsystem ist es denn auch, das dem Geheimbund angeblich jederzeit Eingriffe in das Leben des Protagonisten erlaubt, wie dies etwa Schillers oder Grosses Romane illustrieren. Ohne daß uns nun der Text erläuterte, wie hier ein solches Bespitzelungssystem funktioniert, muß es ein solches, zumindest rudimentär auch in den Lehrjahren geben: Denn anderenfalls wäre unerklärlich, wie die »Turmgesellschaft« Wilhelms Biographie schreiben und archivieren konnte und wie sie immer wieder durch »Emissäre« in sein Leben eingreifen konnte.30 Auch die Art dieser Eingriffe unterscheidet sich freilich vom typischen Geheimbundmodell der Goethezeitliteratur: Wo sonst der Lebensweg des Protagonisten durch Geschehnisse – man läßt ihm etwas zukommen oder nimmt ihm etwas – manipuliert wird, geschieht es hier im wesentlichen durch Interpretationsangebote, die ihm Figuren vermitteln, die ihm scheinbar zufällig begegnen (eine Ausnahme ist die ›Geistererscheinung‹ in der Hamlet-Aufführung). (7.3) Geheimbundartige Manipulatoreninstanzen der Goethezeitliteratur übernehmen dabei vor allem immer die Kontrolle über die Sexualität des Protagonisten, nicht nur in jenen schon genannten Fällen, wo ihr einziges Ziel der erotische Gebrauch des Protagonisten ist. Solche Sexualitätskontrolle findet sich im übrigen auch in Texten, die auf den ersten Blick dem Geheimbundmodell sehr fern scheinen, so z.B. in Eichendorffs Das Marmorbild oder E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann: Im ersten Falle tritt ein »Emissär« auf, dessen Funktion es ist, den Protagonisten in die erotische Gewalt der Venus zu bringen; im zweiten Falle ist es eine in zwei Figuren – Coppelius/Coppola und Spalanzani – aufgespaltene Vaterinstanz, die die Sexualität des ›Sohnes‹ auf Abwege lenkt. Ausgenommen nun die reine – vielleicht latent homosexuelle – Männergesellschaft in Meyern 1787, gilt, daß solche Geheimbünde dem Protagonisten schon vorhandene erotische Partnerinnen entziehen und dem Bund gehörende Frauen anbieten, freilich nur als Lohn für Wohlverhalten und Gehorsam (exemplarisch etwa: Schillers Geisterseher 1787ff., Grosses Genius 1791ff., Tiecks Abdallah 1795, Spieß’ Egyptier 1798 usw.). Man hat solche angebotenen Frauen »Bundestöchter« genannt31 – insofern kein schlechter Name, als die Aufnahme in den Bund eben einer Rückkehr in die Herkunftsfamilie und einer Unterwerfung unter eine Vaterinstanz äquivalent ist, eine Frau des Bundes somit der Familie angehört, ›Tochter‹ des Chefs und ›Schwester‹ des Initianden ist, also ein symbolischer Inzest stattfindet.32 Wilhelm hat nun zwei erotische Beziehungen, die nicht Mitglieder der »Turmgesellschaft« betreffen: Mariane, die stirbt, und Philine, die später durch ihre Beziehung zu Friedrich dem Verwandtschaftssystem des Bundes einverleibt wird. Alle anderen Frauen,33 mit denen er in nähere Relationen tritt (die Gräfin, Aurelie, Therese, Natalie), sind
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Die Irrelevanz der »Emissäre« in den Lehrjahren betont Haas 1992 (Anm. 21), S. 83. Vgl. Thalmann 1970 (Anm. 17). Dazu Vf.: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit (1991), in diesem Band S. 373–431. Zu den Frauenfiguren vgl. Ingrid Ladendorf: Zwischen Tradition und Revolution. Die Frauengestalten in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. Frankfurt 1990.
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entweder mit Bundesmitgliedern verwandt (die Gräfin, Natalie) oder waren selbst mit solchen liiert (Aurelie, Therese). Die Turmgesellschaft ist eine Frauentauschgesellschaft: Praktisch alle Frauen zirkulieren nur innerhalb dieser Gruppe. Lothario verläßt Lydia, die an Jarno weitergegeben wird; Wilhelm verliert Philine, die an Friedrich geht; Lothario muß Therese aufgeben, die von Wilhelm übernommen wird, der sie wiederum an Lothario abtreten muß; der Graf hat zwar die Gräfin, läuft aber Gefahr, sie an Wilhelm zu verlieren, bis dieser verzichtet. Wilhelms – des potentiellen Initianden – Partnerwahl wird zumindest partiell vom Bund bestimmt: Der mit Bundesmitgliedern verwandte Friedrich nimmt ihm Philine, Therese muß er an das Bundesmitglied Lothario abgeben, und daß er am Ende schließlich Natalie haben darf, wird ihm nicht von dieser, sondern von Friedrich mitgeteilt, und vom Abbé bestätigt. Auch hier bietet unser Text wiederum eine Schwundstufe des Geheimbundmodells. Grundsätzlich ist dem Geheimbundmodell auch eine Art ›Sexualkommunismus‹ nicht fremd: In Grosses Genius wird mit dem Gedanken gespielt, daß man im Bund auch legitime Zugriffsrechte auf die Frauen anderer Mitglieder habe, was, außerhalb des Geheimbundmodells, ja auch in der Inselutopie von Heinses Ardinghello praktiziert wird. (7.4) Je zentraler geheimbundartige Strukturen in diesen Erzähltexten sind, desto mehr entsteht also eine Welt, in der der Protatonist sich als von unbekannten Mächten verfolgt erfahren muß, da er vor und nach seiner Aufnahme in den Bund die Präsenz einer überwachenden und eingreifenden Instanz erfährt. Was er erlebt, scheint wie den Angstphantasien eines Paranoikers entsprungen: Aber nicht der Protagonist ist paranoid, sondern er findet sich in einer paranoiden Welt. E. T. A. Hoffmanns Sandmann macht das Konstruktionsprinzip deutlich: Nathanael erscheint von paranoiden Wahnideen geplagt, und seine Verlobte Clara, die die psychische und soziale Normalität repräsentiert, sucht sie ihm, scheinbar zu Recht, auszureden; aber Nathanael behält recht – er wird tatsächlich verfolgt. Der psychisch Gestörte (ein Fall von Schizophrenie und Paranoia) sieht die Welt richtiger als der Normale – falsch ist nur seine Reaktion auf seine Wahrnehmungen. Auch die Lehrjahre weisen eine solche paranoide Weltstruktur auf, wiederum aber mit einer entscheidenden Abschwächung: Wilhelm wird zwar überwacht und verfolgt, aber er bemerkt es nicht, da die Eingriffe der »Turmgesellschaft« eben ihrerseits abgeschwächt sind und diskret – nicht als solche erkennbar – bleiben. (8) In den Geheimbundromanen wird normalerweise dem Protagonisten irgendwann die Initiation in den Bund angeboten: Von »Einweihung« und »Eingeweihten« sprechen ganz explizit auch die Lehrjahre. Für solche Initiationen sind besondere Rituale und Lokalitäten vorgesehen. (8.1) Die Aufnahmerituale können selbstverständlich variieren, sie werden aber als markante Ereignisse inszeniert, die sich von sozialer Normalität radikal abheben. Das gilt auch für Wilhelms schließliche Initiation im »Turm«, wo ebenfalls der Macht- und Wissensanspruch des Bundes und der Übertritt des Initianden in einen neuen sozialen Status zelebriert wird. Wo aber zu Initiationsritualen sonst die Verpflichtung des Initianden auf Gehorsam und Verschwiegenheit gehört, entfällt in den Lehrjahren beides. Damit aber tilgen die Lehrjahre erneut die Komponente
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der Entautonomisierung und zugleich die Opposition gegen die Normalgesellschaft, in die der Initiand sonst gezwungen wird. Hier wird die Differenz von Gesellschaft und Geheimbund als Gegengesellschaft minimalisiert; der Geheimbund ist eher eine optimierte Gesellschaft als deren Negation.34 (8.2) Signifikanter noch ist die abweichende zeitliche und räumliche Situierung der Initiation in den Lehrjahren. Gemeinhin sind Initiationen in der Nacht situiert; hier hingegen »morgen früh vor Sonnenaufgang« (WML 494). ›Dunkelheit / Nacht | Unmöglichkeit des Sehens vs. Licht / Tag | Möglichkeit des Sehens‹ sind im 18. Jahrhundert ja immer auch Erkenntnismetaphern, wie schon der Term ›Aufklärung‹ selbst belegt.35 ›Einweihungen‹ in der Nacht versprechen lichtscheue Erkenntnisse, die der Verborgenheit bedürfen, weil sie z.B. mit erheblicher Verletzung sozialer Normen verbunden sind, oder Erkenntnisse, die in Opposition zum offiziellen kulturellen Wissen, zur Aufklärung, stehen, etwa weil sie okkultistischer Natur sind. Die Initiation bei Tagesbeginn hingegen negiert die beiden Komponenten der üblichen ›Bundesgeheimnisse‹: Das zu erwerbende Wissen ist ›tageslichttauglich‹, weder in Opposition zum kulturellen Normensystem noch zu Aufklärung. Die Aufnahmerituale spielen auch sonst mit solcher Erkenntnismetaphorik: Die Augen des Initianden werden zunächst verbunden oder er wird in einen zunächst dunklen Raum geführt, bevor es hell wird und er sehen darf – jedenfalls gelangt er aus Dunkelheit zum Licht, das signifikanterweise im Regelfalle eben nicht das natürliche, sondern ein künstliches ist. Auch die Lehrjahre rufen dieses Standardmodell ab. Eine Tür öffnet sich, und Wilhelm fand sich in einem dunkeln und engen Behältnisse, es war finster um ihn, und als er einen Schritt vorwärts gehen wollte, stieß er schon wieder. Eine nicht ganz unbekannte Stimme rief ihm zu: tritt herein! und nun bemerkte er erst, daß die Seiten des Raumes, in dem er sich befand, nur mit Teppichen behangen waren, durch welche ein schwaches Licht hindurchschimmerte. Tritt herein! rief es nochmals, er hob den Teppich auf, und trat hinein. (WML 495)
Auch geschlossene Türen, Vorhänge, die etwas verdecken, gehören zum Komplex der epochentypischen Erkenntnismetaphern: Sie repräsentieren verborgenes, dauerhaft oder zeitweilig unzugängliches Wissen,36 in den Wanderjahren hat Goethe ja anhand von Kästchen und Schlüssel mit diesem Zeichensystem – und seinen zusätzlichen sexuellen Bedeutungen – gespielt. Im Raum selbst, in den Wilhelm nun eintritt, ist ein Teil wiederum selbst durch einen Vorhang abgeteilt, der sich mehrfach öffnet und schließt und eine Reihe von Figuren freigibt, die in Wilhelms Leben eine Rolle gespielt haben und sich als Bundesmitglieder erweisen – zugleich auch eine Theaterinszenierung,37 bei der Wilhelm diesmal nicht Schauspieler, sondern Zuschauer ist und in der Episoden seines Lebens abgebildet werden.
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Vgl. Reibestein 1992 (Anm. 21), S. 180. Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 187ff. Vgl. ebd. Vgl. Haas 1992 (Anm. 21), S. 84.
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(8.3) Am weitestgehenden ist aber der Raum der Initiation bei Goethe transformiert. Literarische Initiationen in geheimbundartige Strukturen finden im Regelfalle in unterirdischen Räumen statt, die ich ›Höhlenräume‹ zu nennen vorgeschlagen habe;38 schöne Exemplare finden sich in ausgesprochenen Geheimbundromanen wie Meyerns Dya-na-sore (1787), Grosses Genius (1791ff.), Zschokkes Schwarzen Brüdern (1791ff.), Jean Pauls Unsichtbare Loge (1793), Rambachs Aylo und Dschadina 1793, Jung-Stillings Das Heimweh (1794ff), der anonymen Höhle des alten Kinderfressers (1800) usw., aber ebenso auch in vielen anderen Erzähltexten der Goethezeit, so etwa wiederholt in Wielands Romanen, in Klingers Geschichte Raphaels de Aquillas (1793), Tiecks Abdallah (1799), Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802), Tiecks Runenberg (1804) und Das alte Buch (1835), wo sie gerne auch wieder mit zumindest geheimbundartigen Strukturen und Formen der Initiation korreliert sind. Im Schema zur zeitlichen Distribution der Geheimbundromane habe ich auch die Verteilung der Höhlenräume im mir bekannten Korpus von Erzähltexten notiert. Ein typisches Beispiel der Kombination von Geheimbund und Initiation im Höhlenraum sei skizziert. In Grosses Genius findet sich der Protagonist nachts im Wald, über einen Gang zwischen Felsenwänden gelangt er in ein Tal, in dem sich ein Gebäude befindet, mit Treppen, die hinabführen: Ein langer Gang führte uns tiefer in das Gebäude; niederwärts gehende Stufen, 39 hinaufsteigende Treppen, enge Wege, geräumige Höhlen wechselten mannichfaltig.
Drei Merkmale sind für diese Höhlenräume konstitutiv: Ihre unterirdische Lage und folglich ihre Dunkelheit – ein enger Gang, den man passieren muß – schließlich ein weites Gewölbe, wo man – falls es sich um einen Geheimbundroman handelt – dessen Repräsentanten begegnet. Solche Höhlenräume können wie bei Grosse künstliche, von Menschen angelegte oder natürliche, vorgefundene sein. In Novalis’ Ofterdingen z.B. finden sich zu Textanfang in den beiden Träumen von Sohn und Vater Höhlen – in diesem Text wimmelt es nur so von dieser Klasse von Objekten. In Ofterdingens Traum gelangt der Protagonist in einen Wald, dann auf eine Bergwiese: Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öffnung erblickte, die der Anfang eines in den Felsen gehauenen Gangs zu seyn schien. Der Gang führte ihn 40 gemächlich eine Zeitlang eben fort bis zu einer großen Weitung,
diese wird dann beschrieben als »Gewölbe« mit einem »großen Becken«, in dem man schwimmen kann; die »Wände der Höhle« sind feucht. Den Protagonisten ergreift »unwiderstehliches Verlangen«, nackt steigt er ins »Becken«, empfindet
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Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band S. 188ff. Grosse 1982 (Anm. 23), S. 107. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. 2 Bde. Darmstadt 1978, Bd. I, S. 241.
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»innige Wollust«, die »Wellen« schmiegen sich »wie ein zarter Busen an ihn« und sie dünken ihm »reizende Mädchen«.41 Solche in der Goethezeit-Erzählliteratur reichlich vorhandenen Höhlenräume – ich habe etwa neunzig Belege gesammelt – sind nun, wie das Beispiel Novalis’ verdeutlicht, immer auch symbolische Repräsentationen weiblicher Genitalien, »Venusberge« im mythologischen wie im anatomischen Sinne, wie sie wörtlich etwa in Tiecks Eckart (1799) und Das alte Buch (1835) realisiert sind. So gern ich zu weiterer Demonstration der These erbötig wäre, beschränke ich mich aus Umfangsgründen auf den Verweis, daß im Sprachgebrauch der Goethezeit umgekehrt auch der weibliche Schoß gerne als ›Höhle‹ oder ›Grotte‹ metaphorisiert wird – so z.B. ebenso in erotischer Lyrik wie Scheffners Gedichte im Geschmacke des Grécourt (1773) oder im erotischen Roman wie Schillings Denkwürdigkeiten des Herrn von H. (1787). Neben dieser Bedeutung realer Höhlen haben wir freilich noch eine zweite: In Jean Pauls Unsichtbarer Loge (1793) z.B. wird die Höhle auch als ›Grab‹ und ihr Verlassen als ›Auferstehung‹ semantisiert; in Klingers Geschichte Raphaels de Aquillas (1793) ist die Höhle zugleich Ort der Geburt des Protagonisten und Ort des Grabes seiner Mutter; in Novalis’ Ofterdingen liegt in der Hohenzollern-Höhle sowohl die Frau des Ritters begraben, als er sich in sie – in den »Schooß [!] eines Berges«42 – zum Sterben zurückgezogen hat; dort auch findet Ofterdingen das Buch, das nicht nur seine bisherige, sondern auch seine zukünftige Biographie abbildet. Eine solche Höhle zu betreten, ist also einem Sexualakte, in ihr zu verweilen einem Tode, sie wieder zu verlassen einer Geburt – einem neuen Leben – äquivalent: Ein symbolischer Tod und eine symbolische Wiedergeburt sind im übrigen gern auch mit ethnologisch bekannten, realen Initiationsriten korreliert. Was, wie im Ofterdingen, durch Betreten und Verlassen solcher Höhlenräume vollzogen wird, ist praktisch eine symbolische Selbstzeugung;43 die Protagonisten aller Initiationsromane müssen ja auch die Herkunftsfamilie, die die Texte gerne auch durch Tod tilgen, verlassen, um zu Autonomie zu gelangen, und wo sie Manipulationsinstanzen – verfolgenden Vätern – erliegen, da enden sie in Selbstverlust. Die Selbstzeugung ist symbolische Repräsentation der angestrebten Autonomie. Dazu freilich muß der Protagonist die weibliche Höhle für sich allein haben, wie Ofterdingen, während dessen Vater in seinem Höhlentraum schon einen Mann dort vorfindet (und also nicht autonom werden wird). Wo nun in der Höhle aber eine Initiation in einen Geheimbund stattfindet, ist in der Höhle immer schon auch mindestens ein Repräsentant der Manipulatorenfunktion präsent: Die Selbsterschaffung ist in diesem Falle jedenfalls verweigert, was zugleich auch die Sexuali-
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Ebd., S. 242. Ebd., S. 310. Olga und Thomas Nesseler (Auf des Messers Schneide: Zur Funktionsbestimmung literarischer Kreativität bei Schiller und Goethe. Würzburg 1994, S. 276) sprechen von »verdeckter Selbsterschaffung« in den Wanderjahren.
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tätskontrolle durch den Bund zeichenhaft abbildet. Auffällig häufig sind solche Höhlen partiell oder total künstlich angelegte Gewölbe, nicht natürliche: Der weibliche Naturraum ist hier zum männlichen Kulturprodukt transformiert; in diesem Falle wagt man sich in die weibliche Höhle nur in einer domestizierten männlich kontrollierten Form. In den Lehrjahren nun ist der Ort der Initiation zwar auch ein abgeschlossener Raum, aber kein unterirdischer: keine Höhle, sondern ein Turm. Wenn die Höhle ein weiblicher Schoß ist, dann ist der Turm logisch notwendig ein männlicher Phallus. Durchaus drastische Formen von Sexualsymbolik sind in der Goethezeit nichts Ungewöhnliches: Ich erinnere nur an E. T. A. Hoffmanns Mohrrübenkönig Daucus Carota in Die Königsbraut. Ungewöhnlich ist eher das Gegenteil: die neurotisch-christliche Verleugnung der eigenen Sexualsymbolik, wie sie z.B. Jung–Stilling im Schlüssel zum Heimweh (1796) gegenüber dem eigenen Roman betreibt, wo die offenkundige Bedeutung seiner Höhlenräume durch sonderbare Allegoresen verschleiert wird. Auch in den Lehrjahren findet bei der Initiation trotz des phallischen Raumes unzweideutig symbolisch ein Tod und eine Wiedergeburt statt, wenn Wilhelm das »dunkle und enge Behältnis« – Sarg und Schoß – betreten muß und verlassen darf.44 Der rudimentäre Schoß wird aber durch den Phallus substituiert und ihm untergeordnet – die Selbstzeugung und Wiedergeburt bedarf quasi des Weiblichen nicht, eine Art von Selbstverteidigung des Männlichen, die ich im Moment nicht weiter zu interpretieren wüsste;45 auffällig ist jedenfalls auch, wie radikal Wilhelms erotische Hauptbeziehung zu Natalie entsexualisiert ist.46 (9) Einige weitere wichtige ideologisch-semantische Implikationen des Geheimbundmodells bleiben zu skizzieren und Goethes Roman diesbezüglich zu situieren. (9.1) Zu den zentralen Problemen des 18. Jahrhunderts gehört das der Théodicée: das Postulat einer göttlichen, gerechten, moralischen Weltordnung, das mit der Spätaufklärung in eine Krise geraten ist. Geheimbünde in der Literatur der Goethezeit leisten in dieser Hinsicht Zweifaches – und wiederum Ambivalentes. Denn sie können einerseits aus ihrer Sicht programmatisch die Tilgung der Defekte der Weltordnung anstreben und sie können andererseits für deren Störungen verantwortlich gemacht werden. So oder so spielen sie gottähnlich ›Vorsehung‹. Wiederum stellen die Lehrjahre eine Reduktionsform dar: Der Bund will nur befördern, was quasi in der ›Natur‹ schon angelegt wäre und was sich eigentlich in ›natürlicher Entwicklung‹ von selbst entfalten müßte. Ganz explizit wird ja eine Opposition der männlichen Pädagogik gegenüber Jünglingen durch die »Turmgesellschaft« und der weiblichen Pädagogik gegenüber Mädchen durch Natalie
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So auch Neumann 1992 (Anm. 13), S. 55. Wie komplex die implizite Sexualität etwa der Wanderjahre ist, zeigen O. und Th. Nesseler 1994 (Anm. 43). Ebd., S. 240.
216
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
aufgebaut; während erstere »jede Natur sich selbst ausbilden« (WML 529) lassen (wozu freilich sind sie dann nötig?), interveniert letztere, derzufolge es »besser [sei] nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt« (WML 529). Der Text entscheidet nicht, ob man sich der »Natur« anvertrauen und überlassen dürfe, aber er unterscheidet: Bei jungen Männern darf dieses Risiko offenbar eingegangen werden, bei jungen Frauen nicht. (9.2) Eng mit dem Théodicée-Thema ist die Frage nach dem metaphysischen Ursprung der Ereignisse verknüpft, die dem Subjekt begegnen und für seinen Lebenslauf folgenreich werden. Schon früh wird in den Lehrjahren die Opposition ›Zufall vs. Schicksal‹ diskutiert, die bei Wilhelms Initiation wieder aufgenommen wird, der denn auch reflektieren darf: »Sonderbar!« sagte er bei sich selbst, »sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein?« (WML 496)
Das scheint das letzte Wort des Textes zu diesem Problem zu sein: Die Frage bliebe somit unentschieden. Ideologisch ist sie insofern relevant, als es um die Frage der Sinnhaftigkeit des Weltverlaufs geht – im Falle ›Zufall‹ gäbe es keine Ordnung hinter den Ereignissen, im Falle ›Schicksal‹ wohl, wobei daraus ein neues Problem resultiert, insofern es für ein ›Schicksal‹, das von göttlicher ›Vorsehung‹ unterschieden wäre, ideologisch keinen Platz im Denken der Goethezeit geben kann. Wiederum ist das Geheimbundmodell nützlich: Was ›Zufall‹ scheint, kann ›Schicksal‹ sein, wenn und insoweit es Produkt der Bundesmanipulationen ist. (9.3) Die Manipulatorenfunktion der Geheimbünde gefährdet zwar das Ziel der Selbstfindung und Autonomie und den angestrebten Status des Subjekts als Zentrum der Welt, aber es sichert ihn paradoxerweise auch. Alles bezieht sich tatsächlich auf Ego, wenn ganze Geheimbünde sich mit ihm befassen. Die Welt kreist um Ego, und Ego darf sich wichtig fühlen. Alles vollzieht sich, als wäre Ego lieber verfolgt als bedeutungslos. Der reduzierte Geheimbund der Lehrjahre ist um die subjektgefährdenden Komponenten weitestgehend beschnitten: aber die Wichtigkeit des Subjekts garantieren seine Bemühungen. (9.4) Nun ist schließlich zur Korrelation zwischen der Häufung der Geheimbundromane im Zeitraum 1790–1800 und der Revolutionserfahrung und -bewältigung zurückzukommen. Sowohl die Anhänger als auch die Gegner der Revolution haben mit ihr ein Problem. Denn das 18. Jahrhundert kann nur Prozesse denken, die einen personalen, identifizierbaren, individuellen Urheber haben; nicht zuletzt deshalb bedarf man ja unbedingt eines ›Gottes‹, selbst wenn dieser wie bei Kant zum nur mehr formalen, inhaltsleeren Postulat verkommen ist. Die Revolution ist aber das Produkt anonymer und wechselnder Kollektive, dem kein Urheber in diesem Sinne zugeschrieben werden kann. Wie sehr das ein Problem ist, zeigt noch Schillers Wilhelm Tell (1804): Die (restaurative) Revolution wird hier vom Kollektiv vollzogen, und der Anteil des Individuums Tell ist minimal – gleichwohl wird er als Retter gefeiert. Die Phantasie der Verschwörung eines hierarchisierten Geheimbundes liefert nun offenkundig eine Kompensation des Defizits an Urheberschaft. Zwar sind die literarischen Geheimbünde selten revolutionär: Aber ihre
Strukturen und Rituale von Geheimbünden
217
Legitimation, als Geheimbund organisiert zu sein, beziehen sie daraus, daß sie auch da, wo sie nicht revolutionär sind, immer zumindest gegen bestimmte Aspekte einer gegebenen Weltordnung gerichtet sind, immer in irgendeiner Form die Überschreitung der Grenzen des Gegebenen anstreben. Die Revolution löst nun sicherlich die Erfahrung einer Verunsicherung bezüglich der rationalen Verstehbarkeit der Weltordnung aus – und die Geheimbundromane entwerfen eine Welt aus unerklärlichen Ereignissen, für die sie am Ende den Geheimbund als Erklärungsmodell anbieten können. In den Lehrjahren erscheint der Bund nun freilich selbst schon als historisch überholt47 und schafft sich selber ab bzw. interpretiert sich neu als Antidot gegen kommende Unordnung: »Aus unserem alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den anderen von seinen Besitztümern völlig vertriebe.« (WML 564)
Goethes »Turmgesellschaft« ist also ein Bund, der um all seine gefährdenden Aspekte beschnitten ist, der verharmlost ist, der sich selbst nicht mehr ernst nimmt, der sich schließlich selbst abschafft. Er ist in seinen Formen auf bloßes Spiel reduziert: auf ein Spiel mit Zeichen: »Also mit diesen würdigen Zeichen und Worten spielt man nur, rief Wilhelm aus« (WML 549). Wozu bedarf es seiner, wenn er dermaßen funktional entwertet und semantisch entleert ist? Wenn das Produkt aller seiner Inszenierungen und Manipulationen nichts ist als Wilhelms »bescheidne Liebenswürdigkeit«, wie es Friedrich Schlegel im Athenäum (1798)48 genannt hat? Wenn er nichts anderes mehr macht als Festakte wie Wilhelms Initiation oder Mignons Exequien zu inszenieren, die ereignishaften Wandel in die Konstanz sozialer Ordnung zu integrieren suchen? Ich denke, die Antwort wäre eine zweifache. Zum einen spielt nicht nur die »Turmgesellschaft« mit Zeichen: Der Text selbst verwendet das Geheimbundmodell nur mehr als Zeichensystem, anhand dessen er zentrale Aspekte der goethezeitlichen Anthropologie im allgemeinen und seiner eigenen im besonderen thematisieren kann – ich habe diese Aspekte anzudeuten versucht. Zum anderen leistet das Geheimbundmodell in den Lehrjahren dasselbe, was es in allen anderen Texten leistet, die der Gruppe der ›Initiationsgeschichten‹ angehören und die den Übergang, eben die Initiation des Jünglings in den Status des Mannes darstellen. Wenn und insoweit in diesen Initiationsgeschichten nun zudem Initiationen in Geheimbünde stattfinden, findet zugleich – in den Lehrjahren sehr
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48
So auch Neumann 1992 (Anm. 13), S. 111, und Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im ›Wilhelm Meister‹. Heidelberg 1989, S. 115. Friedrich Schlegel: Über Goethe’s Meister. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798. Repr. Darmstadt 1977, S. 323–354, hier S. 351.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
218
deutlich – eine Abbildung der Gesamtstruktur der erzählten Geschichte durch einen Teil der erzählten Geschichte statt, eine strukturelle Selbstreflexivität. Die Teilgeschichte ›reale Initiation in einen Geheimbund‹ verdeutlicht die Struktur der Gesamtgeschichte ›symbolische Initiation des Jünglings ins Mannsein‹.
Literaturverzeichnis 1766/67
WIELAND, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Aus einer alten griechischen Handschrift. 2 Bde. (2. Fassung 1773, 3. Fassung 1794)
1778–1780
LESSING, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer
1784/85
JUNG(-STILLING) Johann Heinrich: Theobald oder Die Schwärmer. 2 Bde.
1784
WEZEL, Johann Karl: Kakerlak, oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhundert
1786
NAUBERT, Christiane Benedicte: Walter von Montbarry, Großmeister des Tempelordens. 3 Bde.
1787
HEINSE, Wilhelm: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechzehnten Jahrhundert. 2 Bde. SCHILLING Friedrich Gustav: Denkwürdigkeiten des Herrn von H., eines teutschen Edelmanns. 2 Bde.
1787–1791
MEYERN, Wilhelm Friedrich von: Dya-na-sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt. 3. Tle.
1789
SCHILLER, Friedrich: Der Geisterseher aus den Memoiren des Grafen von O**
1790–1793
TSCHINK, Cajetan: Geschichte eines Geistersehers. Aus den Papieren des Mannes mit der eisernen Larve. 3 Bde.
1791
CURIO, Johann Karl Daniel: Der Harfner oder der Sohn zweier Väter SCHIKANEDER, Johann Emanuel: Die Zauberflöte. Eine große Oper in zwey Aufzügen WIELAND, Christoph Martin: Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus. 2 Bde.
1791–1795
GROSSE, Karl: Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G**. 4 Bde.
1791–1795
ZSCHOKKE, Johann Heinrich Daniel: Die schwarzen Brüder. Eine abentheuerliche Geschichte. 3 Bde.
Strukturen und Rituale von Geheimbünden
219
1792
GOETHE, Johann Wolfgang: Der Groß-Cophta. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen
1792
KAHLERT, Carl Friedrich: Der Geisterbanner. Eine Geschichte aus den Papieren eines Dänen RAMBACH, Friedrich Eberhard: Die eiserne Maske. Eine schottische Geschichte
1792–1794
KLINGER, Friedrich Maximilian: Geschichte Giafars des Barmeciden. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. 2 Bde.
1793
KLINGER, Friedrich Maximilian: Geschichte Raphaels de Aquillas. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt JEAN PAUL: Die unsichtbare Loge. Eine Biographie. 2 Bde. RAMBACH, Friedrich Eberhard: Aylo und Dschadina oder die Pyramiden. Eine ägyptische Geschichte. 3 Bde.
1793/94
HIPPEL, Theodor Gottlieb: Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z. 2 Bde.
1794
BECKER, Georg Ludwig: Der Geisterseher. Eine venetianische Geschichte wundervollen Inhalts
1794–1796
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Das Heimweh. 4 Bde.
1794–1797
MATTHIAS, Johann Christoph: Die Verschworenen. Aus dem Archive der Brüderschaft des heiligen Paulus. 2 Bde.
1795
BACZKO, Ludwig Adolf Franz Joseph von: Der Geist Erichs von Sickingen. Sein Herumwanken und seine Erlösung
BERNHARDI, August Ferdinand: Die Unsichtbaren. 2 Bde.
SCHULZE, Friedrich August: Die grauen Brüder oder der Bund der Schrecklichen TIECK, Ludwig: Abdallah. Eine Erzählung ZSCHOKKE, Johann Heinrich Daniel: Die Männer der Finsternis. Roman und kein Roman. Ein modernes Claireobscüre für Seher und Zeichendeuter 1795/96
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. 4 Bde. SEIDEL, Carl August Gottlieb: Die Geisterseherin oder Gräfin Seraphine von Hohnacker. Geschichte zu Anfang des vorlezten Jahrhunderts, aus einem Familienarchiv gezogen. 3 Bde. TIECK, Ludwig: Die Geschichte des Herrn William Lovell. 3 Bde. (Umarbeitung 1813)
1795–1799
ZSCHOKKE, Johann Heinrich Daniel: Kuno von Kyburg nahm die Silberlocke des Enthaupteten und ward Zerstörer des heimlichen Vehm-Gerichts. Ein Kunde der Väter erzählt vom Verfasser der Schwarzen Bücher. 2 Bde.
1796
FOLLENIUS: Emanuel Friedrich Wilhelm Ernst: Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***. Zweiter Theil
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
220
JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Der Schlüssel zum Heimweh 1798
CZAPEK, Joseph Maximilian: Die Ruinen von Palmira oder die Schauertaten der Verborgenen. Eine Wundergeschichte aus den Zeiten der Kreuzzüge VULPIUS, Christian August: Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unsers Jahrhunderts in drei Theilen oder neun Büchern.
1798/99
SPIEß, Christian Heinrich: Die Geheimnisse der alten Egyptier. Eine wahre Zauber- und Geistergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde.
1799
CRAMER, Carl Gottlob: Zoar der Auserwählte TIECK, Ludwig: Der getreue Eckart und der Tannhäuser. In zwei Abschnitten WIELAND, Christoph Martin: Agathodämon. In sieben Büchern. Aus einer alten Handschrift
1800
ANONYM: Bianca und Hieronymo. Ein interessantes Seitenstück zu Tschinks Geisterseher ANONYM: Die Höhle des alten Kinderfressers oder die rothen Brüder ANONYM: Hugo von Warnick, Zerstöhrer des grauen Bundes. Oder die Ruinen von Eißgibel. Eine Gespenstergeschichte des 14. Jahrhunderts nach den Annalen der Meißner Kronik GLEICH, Johann Alois: Die Geisterseherin oder die Zerstörung von Wolfsstein
1800/01
BORNSCHEIN, Johann Ernst Daniel: Moritz Graf von Portokar oder zwei Jahre aus dem Leben eines Geistersehers. 2 Bde.
1800–1803
JEAN PAUL: Titan. 4 Bde.
1802
ARNOLD, Ignaz Ferdinand: Mirakuloso, der Schreckensbund der Illuminaten. Ein fürstliches Familiengemählde aus dem Nachlaß eines Staatsverbrechers […] Ders.: Die Nachtwandlerin oder die Schrecklichen Bundesgenossen der Finsterniß
1802/03
FICHTE, Johann Gottlieb: Vorlesungen über die Freimaurerei NOVALIS [= Hardenberg, Friedrich Leopold Freiherr von]: Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman. 2 Tle.
1803
ARNOLD, Ignatz Ferdinand: Bohemann, Haupt der asiatischen Brüder. Ordensgeschichte neuester Zeiten KERNDÖRFFER, Heinrich August: Der mitternächtliche Meuchelmörder
1804
Ludwig TIECK: Der Runenberg. Eine Erzählung
1805
ARNOLD, Ignatz Ferdinand: Der schwarze Jonas, Kapuziner, Räuber und Mordbrenner. Ein Blutgemälde aus der furchtbaren Genossenschaft des berüchtigten Schinderhannes
Strukturen und Rituale von Geheimbünden
221
1807
KERNDÖRFFER, Heinrich August: Die Unsichtbaren oder die Abentheuer in den Ruinen von St. Elmo
1810
ARNIM, Achim von: Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein aufgeschrieben
1810
VULPIUS, Christian August: Lucindora die Zauberin. Eine Erzählung aus den letzten Zeiten der Mediceer
1812
FOUQUÉ, Friedrich Baron de la Motte: Der Zauberring. Ein Ritterroman 3 Bde.
1814
CHAMISSO Adalbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte
1815/16
HOFFMANN, Ernst Theodor Amadeus: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners. 2 Bde.
1817
ARNIM, Achim von: Die Kronenwächter FOUQUÉ, Friedrich de la Motte: Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein. Ein Roman. 2 Bde. HOFFMANN, Ernst Theodor Amadeus: Der Sandmann
1819
EICHENDORFF, Joseph von: Das Marmorbild. Eine Novelle
1821
HOFFMANN, Ernst Theodor Amadeus: Die Königsbraut
1820–1822
Ders.: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. 2 Bde.
1822
BRANCAGLIO, Johann Ernst: Die Stimme des Unsichtbaren oder Geschichte Franzesco’s, Enkel des unglücklichen Don Sebastian, Königs von Portugall HOFFMANN, Ernst Theodor Amadeus: Der Elementargeist Ders.: Meister Floh. Ein Mährchen in sieben Abentheuern zweier Freunde
1825
Ders.: Die Doppeltgänger. Erzählung
1826
ARNIM, Achim von: Metamorphosen der Gesellschaft
1829
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden SPINDLER, Carl: Der Jesuit. Charaktergemälde aus dem ersten Viertel des achzehnten Jahrhunderts. 3 Tle.
1830
TIECK, Ludwig: Die Wundersüchtigen
1833
MORVELL, C.: Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***. 3 Bde.
1835
TIECK, Ludwig: Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein. Eine Märchennovelle
222
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
1836
IMMERMANN, Karl: Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern. 3 Tle.
1838/39
Ders.: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken. 4 Tle.
Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche
Voraussetzungen und Fragestellungen Jede Kultur – und eine Epoche, hier die Goethezeit, sei als Kultur aufgefaßt – strukturiert die Lebenszeit ihrer Mitglieder, indem sie eine (begrenzte) Menge möglicher Modelle des Lebenslaufs entwirft: Sie unterscheidet sukzessive Phasen des Lebens, Altersklassen also, deren Einsatz und Ende als kollektiv-invariant oder als individuell-flexibel gedacht werden und die mit der Erwartung altersspezifischer Merkmale und Verhaltensweisen korreliert werden, wobei es für die Altersklasse Alternativen geben kann oder auch nicht, und sie unterscheidet mögliche soziale Zustände des Lebens, die an Altersklassen gebunden sind oder nicht, und deren Abfolge invariant geregelt ist oder die flexibel kombiniert werden können.1 Hier nun soll es um die Relationen zwischen literarischer und theoretischer Anthropologie der Goethezeit, zwischen Literatur und kulturellem Wissen der Epoche am Beispiel jener (expliziten oder impliziten) Modelle des Lebenslaufs und des Altersklassensystems gehen, die die Literatur in der Initiations-/ Bildungsgeschichte und die Theorie in ihrem anthropologischen – biologisch-medizinischen, juristischen, pädagogischen, philosophischen – Diskurs entworfen haben.2
——————— 1
2
Vgl. dazu vom Vf.: Zeiterfahrung und Lebenslaufmodelle als theoretischer und historischer Problemkomplex. In: Kodikas 19, Heft 3 (1996), S. 155–164. Als (sozial-, mentalitäts-, wissenschafts-)geschichtliche Arbeiten zu diesem Komplex vgl. etwa Phillippe Ariès: Histoire des populations francaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIe siecle. Paris 1971 (11948) und ders.: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Regime. Paris 1975 (11960); Peter Borscheid: Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert. Münster 1987; Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren. München 1981; Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977; Corinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993. Zur theoretischen Terminologie – (allgemeines und gruppenspezifisches) ›kulturelles Wissen‹ (von mir 1977 vorgeschlagener Begriff), ›Diskurs‹ und Verwandte – vgl. Vf.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur XCIX, Heft 1 (1989), S. 47–61 und ders.: Skizze einer integrativen Literaturge-
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
224
1.
Der ›Bildungsroman‹ und seine Verwandten
1.1
Das Erzählmodell ›Initiationsgeschichte‹ in der Goethezeit
Die Diskussion über den ›Bildungsroman‹ und seine Abarten, über »Wilhelm Meister und seine Brüder«,3 die mit Morgensterns bedeutenden Beiträgen schon in der Goethezeit selbst einsetzt4 und in der Gegenwart noch nicht abgeschlossen ist,5 kann hier nicht referiert werden.6 Was wir traditionell ›Bildungsroman‹ nennen und wofür Wielands Agathon der erste Vorläufer, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre der modellbildende Text wäre, auf den jeder der hochrangigen Autoren der Epoche – z.B. Arnim, Brentano, Chamisso, Eichendorff, Fouqué, Hoffmann, Jean Paul, Novalis, Tieck, der Autor der Nachtwachen usw. – mit modifizierenden und transformierenden Varianten des Modells reagiert, ist aber eindeutig nur eine Variante eines generelleren, in der goethezeitlichen Erzählliteratur dominanten
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6
schichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438. Siehe außerdem Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: dies. (Hgg.): Literatur und die Wissenschaften. Stuttgart 1997, S. 9–36. So im Titel des wichtigen Buchs von Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972. Morgenstern – dessen Relevanz Martini zurecht hervorgehoben hat, vgl. Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie. In: DVjs 35 (1961), S. 44–63 – hat den Begriff ›Bildungsroman‹ 1820 eingeführt und als das zentrale Erzählmodell der Goethezeit erkannt; leider beginnt bei ihm aber auch schon die Unterschiede verwischende Ausweitung auf andere Epochen (Karl Morgenstern: Zur Geschichte des Bildungsromans. In: Neues Museum der teutschen Provinzen Rußlands. Dorpat 1824. Bd. I, S. 1–46). Verwiesen sei nur auf einige voneinander unabhängige Versuche einer Neudefinition, die je unterschiedliche Aspekte akzentuieren: Hartmut Laufhütte: Entwicklungs- und Bildungsroman in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte einer fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 299–315; Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. I: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993; sowie Vf.: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (ca. 1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen (1984), in diesem Band S. 190. Einen – nicht mehr ganz taufrischen – Forschungsstand repräsentieren Dennis F. Mahoney: Der Roman der Goethezeit (1774–1829). Stuttgart 1988 und Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman. Stuttgart 21994. Jüngere Literaturgeschichten – z.B. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil I: 1789–1806. München 1983, Gisbert Lepper/Jürgen Steitz/Wolfgang Brenn: Einführung in die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Bd. I: Unter dem Absolutismus. Opladen 1983, Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Tübingen 1996 – sind, welche Verdienste sie sonst auch haben mögen, eher enttäuschend, was das Konzept ›Bildungsroman‹ oder gar dessen Verwandte betrifft.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
225
Erzählmodells, für das ich 1984 den Begriff der Initiationsgeschichte vorgeschlagen habe7 und das sich sowohl in der hochbewerteten wie in der trivialen Erzählliteratur der Goethezeit, sowohl in ›mimetischen‹ wie in ›phantastischen‹ Texten, sowohl in Romanen als auch in Erzählungen/›Novellen‹ findet und das zwar seinerseits ›Verwandte‹ sowohl vor als auch nach der Goethezeit hat, mit denen es durch (je verschiedene) Teilmengen seiner Merkmale verbunden ist, von denen es aber durch die Gesamtmenge dieser Merkmale eindeutig unterschieden werden kann; so ist ja auch der goethezeitliche ›Bildungsroman‹ (als Variante der ›Initiationsgeschichte‹) von seinen Transformationen im 19. Jahrhundert – z.B. bei Mörike, Keller, Raabe, Stifter – eindeutig unterscheidbar. Zur ›Initiationsgeschichte‹ der Goethezeit würden nun auch außer dem ›Bildungsroman‹ im engeren Sinne die ›Geisterseher‹- und ›Geheimbundromane‹,8 (mindestens) die (Mehrheit der) ›Familien‹-, ›Ritter‹-, ›Räuber‹-Romane usw. gehören; dazu würden Goethes Werther oder Heinses Ardinghello, Schillers Der Geisterseher, Grosses Der Genius, Meyerns Dya-na-sore, Wezels Hermann und Ulrike, Tiecks Abdallah oder William Lovell, Hoffmanns Die Elixiere des Teufels,
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8
Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 173–193. Der Vorschlag hat sich inzwischen in einer Reihe von Arbeiten als fruchtbar erwiesen, sei es zur Herausarbeitung der Individualität einzelner Autoren bzw. Werke (Klinger: Michael Müller: Philosophie und Anthropologie der Spätaufklärung. Der Romanzyklus Friedrich Maximilian Klingers. Passau 1992; Tieck: Lutz Hagestedt: Ähnlichkeit und Differenz. Aspekte der Realitätskonzeption in Ludwig Tiecks späten Romanen und Novellen. München 1997), sei es zur Beschreibung des intraepochalen (Edmund Brandl: Emanzipation gegen Anthromorphismus. Der literarisch bedingte Wandel der goethezeitlichen Bildungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1995) oder interepochalen (Hermann Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992) Wandels dieses goethezeitlichen Erzählmodells. So z.B. nach Schillers Geisterseher und dessen Fortsetzer (Emanuel Friedrich Ernst Follenius: Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***. Leipzig 1796 und C. Morvell: Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***. Leipzig 1833); daneben Cajetan Tschink: Geschichte eines Geistersehers. Aus den Papieren des Mannes mit der eisernen Larve. Wien 1790, Johann Heinrich Daniel Zschokke: Die schwarzen Brüder. Eine abentheuerliche Geschichte. Frankfurt 1791–1795, Christoph Martin Wieland: Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus. Leipzig 1791, Carl Friedrich Kahlert: Der Geisterbanner. Eine Geschichte aus den Papieren eines Dänen. Breslau 1792, Friedrich Eberhard Rambach: Die eiserne Maske. Eine schottische Geschichte. Frankfurt, Leipzig 1792, Christian Heinrich Spieß: Die Geheimnisse der alten Egyptier. Eine wahre Zauber- und Geistergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1798 sowie Anonym: Bianca und Hieronymo. Ein interessantes Seitenstück zu Tschinks Geisterseher. Wien, Prag 1800. Diese Literatur ist ausnehmend umfänglich: Zu erwähnen wären etwa auch Romane von Arnold, Becker, Bornschein, Brancaglio, Czapek, Gleich, Kerndörffer, Reinecke, Schulze, Spindler u.a. Besonderes Interesse verdiente Jung-Stillings Das Heimweh. Marburg 1794–1796, dem er 1796 einen Schlüssel zum Heimweh hinzugefügt hat: ein Geheimbundroman und seine christianisierende Allegorese.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
226
Jean Pauls Titan, Hölderlins Hyperion, Eichendorffs Der Taugenichts, usw. oder auch Klingers philosophische Romane der 90er Jahre9 gehören. Das Modell ›Initiationsgeschichte‹ ist nicht spezifisch für eine der literarischen Richtungen – besser: einen der Systemzustände, eines der Subsysteme – des Literatursystems ›Goethezeit‹, wie z.B. ›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹, ›Romantik‹, sondern es konstituiert sich ab dem Beginn der Goethezeit und wird in diesen Systemzuständen oder Subsystemen nur auf eine spezifische Weise variiert.10 1.2
Die ›Initiationsgeschichte‹ als epochenspezifische Regelmenge
Dieses in der Goethezeit dominante Erzählmodell ›Initiationsgeschichte‹ ist nun goethezeitspezifisch nur in der Gesamtheit seiner Merkmale; (je verschiedene) Teilmengen dieser Merkmale können sich auch in Erzähltexten anderer Epochen finden. Das Erzählmodell ›Initiationsgeschichte‹ ist definierbar als Menge der für die nach diesem Modell funktionierenden Texte geltenden Regularitäten: narrative Regularitäten der Modi des Erzählens wie anthropologische Regularitäten der erzählten Welt. Ich liste sie zusammenfassend, aber nicht erschöpfend, auf, wobei ich vom modellbildenden Text Wilhelm Meisters Lehrjahre ausgehe, obwohl das Modell sich schon in früheren Texten seit dem Agathon (siehe die Beispiele oben) konstituiert hat. Ein solches epochales Erzählmodell kann natürlich nur von einem quantitativ wie qualitativ repräsentativen Korpus11 abstrahiert werden. Die literatur- und denkgeschichtlichen Voraussetzungen der Möglichkeit dieses Modells – z.B. die aus der Aufklärung resultierenden neuen Werte ›Emanzipation‹, ›Autonomie‹, ›Individualität‹, ›Liebe‹, ›Entwicklung‹ – können hier nicht diskutiert werden: Das Erzählmodell selbst ist jedenfalls mit dem Denk- und Wissenssystem der Spätaufklärung korreliert, und die modellinternen sukzessiven Varianten oder Wandlungen sind zugleich Stellungnahmen zu den Problemen des Denksystems der (Spät-)Aufklärung. Aus der Menge der Regularitäten, durch die die ›Initiationsgeschichte‹ definiert ist, seien hier festgehalten:
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Vgl. dazu Vf.: Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung (1990), in diesem Band S. 129–170 und Müller 1992 (Anm. 7). Genese und Transformationen des Modells innerhalb der Goethezeit können hier natürlich nicht dargestellt werden, so nötig dies wäre, zumal auch für den ›Bildungsroman‹ i.e.S. dessen Genese noch zu rekonstruieren wäre: er fällt nicht mit Agathon und Lehrjahren vom Himmel. Um diese Prozesse zu beschreiben, müßten freilich auch ernstlich die niederrangig als trivial eingestuften Autoren einbezogen werden, bei denen in der Goethezeit häufig Strukturen entwickelt werden, die sich dann die hochbewerteten Initiationsgeschichten zu eigen machen. Am frühesten und vielleicht am intensivsten hat darauf hingewiesen: Marianne Thalmann: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Berlin 1925 und dies.: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses »Genius« bis Tiecks »William Lovell«. München 1970; vgl. auch Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bonn 1969. Es umfaßt in meinem Falle ca. 350 bis 400 Erzähltexte der Goethezeit (von denen das Literaturverzeichnis natürlich nur einige wenige ausweist).
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R 1: Was die Modalitäten des Erzählens anlangt, gilt: R 1.1: die auktoriale Erzählsituation, bei der in variablem Umfang eine kommentierende und evaluierende Erzählinstanz präsent ist: mehr z.B. im Agathon, weniger in den Lehrjahren; im Einzelfalle kann auch mit der IchErzählsituation experimentiert werden (z.B. Grosses Genius oder Eichendorffs Taugenichts); außer in der Form des (mono-/dialogischen) Briefromans (Werther, Lovell) wirft sie aber ein Problem auf, da sie normalerweise, als retrospektive, erinnernde Situation die Kenntnis des Ausgangs voraussetzt, während die Initiationsgeschichte die Unkenntnis des Ergebnisses, die ›Offenheit‹ der Entwicklung postuliert. R 1.2: die Fokalisierung auf einen Protagonisten, dessen Bewegungen im Raum die Erzählinstanz folgt und demgegenüber sie die Innenperspektive einnimmt, d.h. Informationen über seine psychische Situation geben kann, während sie Figuren gegenüber, auf denen nicht der Fokus liegt, die Außenperspektive einnimmt; gelegentlich-punktueller Fokuswechsel vom Protagonisten auf andere Figuren ist möglich.12 R 1.3: die Perspektive des Protagonisten: Der Text – und mit ihm der Leser –nimmt die Welt und alle anderen Figuren aus der Perspektive des Protagonisten wahr, ausgenommen die normalerweise seltenen Fälle, wo sich die Textperspektive, repräsentiert durch eine auktoriale Erzählinstanz, distanzierend von der Protagonistenperspektive abkoppelt. R 1.4: ein chronologisches Erzählen, d.h. der Text erzählt Ereignisse in der von ihm präsupponierten chronologischen Reihenfolge. Daten aus einer Vergangenheit können am jeweiligen Zeitpunkt der erzählten Geschichte nicht durch Eingriffe eines auktorialen Erzählers, sondern nur durch die Erzählung der Figuren selbst nachgetragen werden. So erzählt Wilhelm Meister Mariane Kindheitsgeschichten, so werden ihm Geschichten anderer Figuren von diesen selbst oder von Dritten erzählt. Ebenso wenig gibt es Vorgriffe der Erzählinstanz auf eine dem Protagonisten noch unbekannte Zukunft (weshalb eben eine Ich-Erzählsituation problematisch ist). R 1.5: eine protagonistenzentrierte Informationsvergabe: Informationen über die Umwelt gibt der Text genau dann, wenn der Protagonist sie erfährt; und sofern sich nicht eine auktoriale Erzählinstanz punktuell vom Protagonisten distanziert, sind Informationsstand des Protagonisten und des Lesers identisch. Der Leser befindet sich weitgehend in derselben Situation wie der Protagonist: Bezogen auf den in der erzählten Welt je erreichten Zeitpunkt ist die zukünftige Entwicklung offen, und der Leser vollzieht mit dem Protagonisten denselben Lernpro-
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Zum Begriff von ›Fokus‹ und ›Fokalisierung‹ s. Vf.: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hgg.): Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture. Bd. III. Berlin 2003, S. 3028–3103, hier 3072ff.
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zeß – wie schon Morgenstern zu Recht sagte, ist der ›Bildungsroman‹ ein Texttyp, in dem nicht nur die ›Bildung‹ des Protagonisten, sondern auch die des Lesers Ziel ist, insofern beider Perspektiven und Informationsstände fast identisch werden. So unterschiedlich nun die dargestellten Welten beschaffen sein mögen, gelten doch in ihnen ebenfalls Regularitäten: R 2: Für das Figurenensemble gilt: R 2.1: Es gibt einen – männlichen, jugendlichen – Protagonisten: z. B. Agathon, Werther, Wilhelm Meister, Schillers Prinz, Lovell und Sternbald, Murr und Ofterdingen. Mit Abweichungen von dieser Regel kann experimentiert werden: (a) Besetzung der Protagonistenrolle durch eine weibliche, jugendliche Figur: Das Experiment ist selten, da entweder das Lebenslaufmodell der Initiationsgeschichte massive Verletzungen der normativ erwarteten Frauenrolle zur Folge hat oder bei Einhaltung dieser Normen seinerseits erheblich transformiert werden muß.13 (b) Besetzung der Protagonistenrolle durch zwei – z.B. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart – oder mehr – z.B. Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen – männliche, jugendliche Figuren, wobei im Regelfalle, etwa über die Fokalisierung (= R 1.2), eine eindeutige Hierarchisierung in Haupt- und Nebenprotagonisten vorliegt.14 Solche Aufspaltung, interpretierbar als Symptom einer latenten oder manifesten Krise des Erzählmodells, ermöglicht es, wie etwa in Ahnung und Gegenwart, alternative Lebenslaufmodelle anzubieten. Interessante Abarten solcher Vervielfältigung der Protagonistenrolle bieten Fouqués Zauberring oder Hoffmanns Kater Murr; als spezielle Variante könnten hier vielleicht auch die Doppelgängerfälle aufgelistet werden. R 2.2: Die dargestellte Welt ist egozentriert: sie kreist um den Protagonisten, d.h. andere Figuren werden nur eingeführt, wenn sie dem Protagonisten begegnen oder diesem durch eine Figur von ihnen erzählt wird. Andere Figuren werden relevant nur in dem Ausmaß, in dem sie relevant für den Lebenslauf des Protagonisten sind. R 2.3: Figuren, die an einem Punkt des Lebenslaufs des Protagonisten für diesen relevant waren, kehren in der dargestellten Welt wieder: sei es durch persönliche Wiederbegegnung, sei es durch Informationen über sie, die der Protagonist von anderen erhält. So trifft Agathon ganz selbstverständlich sowohl Psyche als auch Danae wieder; so begegnet Wilhelm Meister schließlich seiner Amazone persönlich wieder, über Mariane erhält er Informationen durch die Alte; in Ahnung und Gegenwart trifft Friedrich in den unwahrscheinlichsten Situationen immer wieder auf Romana. Das ›unerwartete Zusammentreffen‹, etwa auch in Tiecks
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Beispiele wären etwa Heinses Hildegard von Hohenthal (1795), Wolzogens Agnes von Lilien (1798), Wentzels Angelika (1804). Solche Aufspaltungen beginnen wohl bei Jean Paul mit Siebenkäs (1796/97; wiederaufgenommen im Titan, 1800–1803) und Flegeljahren (1804/05).
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Sternbald massiv praktiziert, kann in den Texten als (oft unwahrscheinlicher) Zufall oder als (von anderen geplantes) Arrangement ausgegeben werden, letzteres vor allem gern in den Texten, in denen eine Manipulatorenfunktion besetzt ist, die eine solche Wiederbegegnung organisiert (so die Turmgesellschaft im Wilhelm Meister, der Geheimbund in Grosses Genius, der Armenier in Schillers Geisterseher, usw.). R 2.4: Nur in einer – für das Modell aber relevanten – Teilmenge der Texte, vor allem aber, wenn auch nicht nur (vgl. Wilhelm Meister) in den Geisterseherund Geheimbundromanen15 seit Schillers Geisterseher, Grosses Genius, Meyerns Dya-na-sore, gibt es eine Manipulatorenfunktion, die von einer oder mehreren Figuren besetzt sein kann: Magiergestalten oder Geheimbünde wie z.B. Goethes Turmgesellschaft usw. Für die Figur(enmcnge), durch die eine solche Manipulatorenfunktion besetzt ist, gilt: R 2.4.1: Die Figur(engruppe) verbirgt ihre Identität vor dem Protagonisten (und damit dem Leser), die erst gegen Textende ›enthüllt‹ wird. R 2.4.2: Die Figur(engruppe) beansprucht für sich gegenüber dem Protagonisten: (1) ein überlegenes – im Extremfall okkultes – Wissen über den Protagonisten und über die Welt, und aufgrund dessen (2) eine Macht der Überwachung/Kontrolle des Protagonisten, wie sie etwa in Schillers Geisterseher oder Grosses Genius exemplarisch vorgeführt wird. R 2.4.3: Die Figur(engruppe) greift manipulativ durch ihre Repräsentanten in den Lebenslauf des Protagonisten ein (mit positiver Absicht z.B. im Wilhelm Meister, mit negativer z.B. im Geisterseher oder Sandmann). Für den Lebenslauf des Protagonisten im dargestellten Zeitraum gilt nun: R 3: Die Initiations-/Bildungsgeschichte ist durch Dreiphasigkeit charakterisiert. Gegeben sind: R 3.1: ein Ausgangszustand (Zeitraum T1), der einem Kindstatus sozial äquivalent ist; der Held ist ortsgebunden, in eine Sozialordnung integriert, von der er sozial und ökonomisch abhängt und die durch Eltern(äquivalente) – tatsächliche (z.B. Wilhelm Meister) oder scheinbare (z.B. Sternbald) Eltern oder Vormünder usw. – repräsentiert ist; dieser Zustand kann altersmäßig bis in die Jugendphase hineinreichen (so z.B. Wilhelm Meister). Der Ausgangszustand kann entweder nur präsupponiert werden, oder eingangs erzählt werden, oder später durch eingebettete Erzählungen nachgetragen werden (so etwa Agathon). R 3.2: der eigentlich erzählte Zeitraum (T2), den ich Transitionsphase zu nennen vorgeschlagen habe.16 Daß die Erzählung oft mit oder nach dem Eintritt in T2 einsetzt, zeigt, daß sie die relevante Phase ist, um deren Darstellung es geht; in
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Was die zusätzlichen und typenspezifischen Regularitäten der Geisterseher- und Geheimbund-Romane anlangt, vgl. Vf.: Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (2000), in diesem Band S. 195–222. Siehe Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 173–193.
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Opposition sowohl zu T1, als auch zu T3, die in dieser Hinsicht eher als statisch und ereignislos gedacht werden, wird T2 als dynamische Phase der ›Entwicklung‹ im Leben des Individuums konzipiert. Diese Phase ist charakterisiert durch: R 3.2.1: Austritt des Protagonisten im Jünglingsstatus aus der Herkunftsordnung (soziale und familiäre Desintegration), markiert durch Verlassen des Herkunftsraums durch eine Reise, die entweder von vornherein nicht funktionalzielorientiert ist oder unterwegs solche Zielorientierung verliert. Im Agathon verändert der Seeräuber-Überfall das Reiseziel, in Wilhelm Meister wird die elterlich intendierte zielorientierte Reise unterwegs umfunktioniert. R 3.2.2: In der Transitionsphase geht der Protagonist keine festen Bindungen ein: weder an Räume, in denen er sich immer nur zeitweilig aufhält, noch an soziale Gruppen oder Individuen. Die Transitionsphase ist ein quasi-experimenteller Zeitraum, in dem der Protagonist mit unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebensformen konfrontiert wird und seinerseits Lebens- und Verhaltensmodelle unverbindlich ausprobieren darf. Wenn Wilhelm Meister sich als Schauspieler einer Wandertruppe betätigt, wird er nicht nur in unterschiedliche Milieus versetzt, sondern kann ganz wörtlich unterschiedliche Rollen für sich ausprobieren. Zu den konstitutiven Elementen der Transitionsphase gehört (mindestens) eine erotische Beziehung, die der Held eingeht und die in der ersten Hälfte der Epoche auch eine nicht-ehelicher Sexualität sein darf (z.B. Agathon, Wilhelm Meister, Genius, Sternbald, Ardinghello), während in der zweiten Hälfte solche sexuellen Experimente ausgeschlossen und bei Zuwiderhandeln sanktioniert werden (z.B. Ahnung und Gegenwart). R 3.3: Ein Endzustand (T3), dessen zwei mögliche Varianten funktional vom Verlauf der Transitionsphase abhängen. Es hängt von den Reaktionen des Protagonisten auf die Verhaltensangebote der in der Transitionsphase durchlaufenen Umwelten ab, ob sein Initiationsprozeß erfolgreich oder nicht abgeschlossen wird: R 3.3.1: Scheitern des Initiationsprozesses: in diesem Falle tritt ein ›Selbstverlust‹ ein, der durch einen realen oder symbolischen Tod (z.B. Verfallen in Wahnsinn, Eintritt ins Kloster: sofern, wie im Regelfälle, die Texte nicht christlich sind; bei Eichendorff wird Klostereintritt in bewußt konservativer Reaktion ins Positive umgedeutet: Ahnung und Gegenwart) markiert wird. Solche Fälle des Scheiterns bieten etwa Werther, Der Geisterseher, Tiecks Der Runenberg, E.T.A. Hoffmanns Elixiere oder Der Sandmann, usw. R 3.3.2: Gelingen des Initiationsprozesses: In diesem Falle tritt eine ›Selbstfindung‹ ein, charakterisiert durch eine neue Ortsbindung und Reintegration in die Gesellschaft, durch als definitiv gedachte Entscheidung über Berufs- und Partnerwahl (was auch einen Verzicht auf eine Partnerin bedeuten kann: so Agathon oder Friedrich in Ahnung und Gegenwart). Der Jüngling verläßt definitiv die experimentelle Phase und erlangt den Mannstatus. Dieses Lebenslaufsschema des Protagonisten läßt sich durch weitere Regularitäten noch konkretisieren, von denen hier aber nur einige benannt werden können. R 4: Was den Prozeß, den der Protagonist durchläuft, anlangt, gilt:
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R 4.1: Die Transitionsphase gilt der Selbsterfahrung: Der Protagonist soll ein ›Selbstbewußtsein‹ im goethezeitlichen Sinne erwerben, d.h. ein adäquates Bewußtsein seiner selbst. Wunderlich seltsam ist das Leben der Jugend, die sich selbst nicht kennt.17
Wie im Wilhelm Meister wird das Subjekt mit alternativen Lebensmöglichkeiten konfrontiert und hat herauszufinden, welche von diesen ihm ›personadäquat‹ sind. Der Protagonist muß eine Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich ziehen und darf nicht in sich eine Grenze aufweisen, d.h. er soll eine ›Einheit‹ als Person bilden. Dem entspricht umgekehrt, daß ›Selbstverlust‹ gern als ›Wahnsinn‹ erscheint, als psychotische, schizophrene Störung also, bei der entweder die Außengrenze der Person nicht gesichert ist oder in der Person selbst eine Spaltung verläuft. Beide Störungen erleidet etwa Nathanael im Sandmann. R 4.2: Der Initiationsprozeß ist somit immer auch einem Erkenntnisprozeß des Protagonisten – Erkenntnis seiner selbst in Funktion einer Erkenntnis der Umwelt – äquivalent, im positiven Falle einer zunehmend adäquateren Erkenntnis des Selbst und der Realität, im negativen Falle des Irrtums einer (Selbst-) Verführung zur ›Schwärmerei‹,18 die Wielands Agathon überwinden kann, der aber Schillers Prinz erliegt. R 4.3: Dieser Prozeß wird als ›Entwicklung‹ – im goethezeitlichen Wortsinne also als allmähliche Realisation eines im Subjekt angelegten Potentials19 – oder als ›Bildung‹20 gedacht; die Implikationen dieser Konzepte müssen hier nicht wiederholt werden. Eingebettet in die religionsphilosophischen Konzepte der ›Théodicée‹ und der ›Bestimmung‹ (des Individuums wie der Gattung), wäre der Prozeß optimaler ›Entfaltung‹ als (›gott‹- oder ›natur‹-gewollte) Teleologie zu denken: Ein negativer Ausgang, ein Scheitern, muß somit mindestens partiell
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Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte. Hg. von Alfred Anger. Stuttgart 1966, S. 130 (im Folgenden zitiert als: Sternbald). Zu diesem epochalen Konzept vgl. schon Leonhard Meister: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung. Bern 1775; siehe auch Vf.: Zu Jung-Stillings ›Theorie der Geisterkunde‹. Historischer Ort und Argumentationsstruktur (1979), in diesem Band S. 69–110. Vgl. Johann-Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Leipzig 1793, Bd. I, Sp. 1841. Das Lexem und seine Derivate finden sich vor Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) stark rekurrent schon in Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. (1774, Repr. Stuttgart 1965) und Carl Grosse: Der Genius (1791–1795). Bei Johann Daniel Salzmann: Über die Religion. In: ders.: Kurze Abhandlungen über einige wichtige Gegenstände aus der Religions- und Sittenlehre. Frankfurt a.M. 1776 (Repr. Stuttgart 1966, S. 123–152) ist (autonome) ›Entwicklung‹ ›Bestimmung‹ des Menschen, wobei schon ›Entwicklung‹ des Individuums und der Gattung parallelisiert werden (S. 128f.): Der anfängliche Mensch ist, »obschon erwachsen«, »dennoch in Ansehung seines Geistes als Kind gebildet worden« (S. 132); »Der Mensch ist ein Thier, welches nicht gleich das ist, was es werden kann« (S. 127).
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
selbst verschuldet sein, d.h. es darf nicht auf ›Verführung‹, etwa durch Manipulatorenfunktionen, reduzierbar sein, sondern muß auch auf vermeidbarer Normverletzung durch das Subjekt selbst basieren. In Blanckenburgs scheinbar paradoxer Formulierung: Es geht darum, »zu werden, was man ist«.21 R 4.4: Der Prozeß ist im positiven Falle einer Emanzipation zur Autonomie der Person äquivalent, im negativen Falle verfällt der Held einer Fremdsteuerung etwa durch Manipulatorenfiguren, also der Heteronomie. R 4.4.1: Dieser Ebene der explizit-manifesten Zielsetzung ist freilich eine Ebene der implizit-latenten Begrenzung von Selbstverwirklichung und Autonomie in den Texten konfrontiert:22 Diese latente Heteronomie garantiert, daß der scheinbar individuelle Prozeß der Transition nicht die Grenzen des normativ Wünschenswerten überschreitet und daß das Subjekt – nach der befristet-vorläufigen Legitimation zur Verletzung (wenn auch nur) der (Sexual-)Normen in der Transitionsphase als außersozialem Zustand – nach und mit seiner sozialen Reintegration auch in die normative Ordnung zurückkehrt. R 4.4.2: Uneingestanden geht es um den optimalen Kompromiß zwischen explizitem Autonomiestreben und dessen impliziter Begrenzung durch Heteronomie, wobei dieser ›Synthese‹-Versuch je nach Textideologie verschieden ausfallen kann. Heinses Ardinghello legitimiert noch nach Abschluß der Transitionsphase ein Ausmaß selbstbestimmter sexueller Normverletzung, das Tiecks William Lovell schon während der Transitionsphase sanktioniert (weil es – im Gegensatz zur selbstgewählten Normverletzung des Sternbald – fremdbestimmt ist). Die komplizierte Relation zwischen Selbstbestimmung durch allmähliche, autonome Zielfindung des Protagonisten auf der einen, durch Fremdsteuerung und Eingriffe des Geheimbundes der Turmgesellschaft auf der anderen Seite in den Lehrjahren illustriert eine leidlich gelungene Kompromißbildung von Autonomie und Heteronomie; aber auch in diesem Text ist die problematische Relation zwischen Utopie der Selbstfindung und Selbstbestimmung und den auf fremdbestimmten Begrenzungen basierenden resignativen Komponenten erfahrener Autonomiegrenzen am Textende bekanntlich unübersehbar. R 4.4.3: Innerhalb ein und desselben Modells der ›Initiationsgeschichte‹, deren Programm ein zunächst dominant ›aufklärerisches‹ – durch Erkenntnis zu Emanzipation und Autonomie – ist und in dem die Manipulatorenfiguren der Geisterseherund Geheimbundromane die Bedrohung dieses Programms durch die Umwelt repräsentieren, wenn sie nicht so zurückhaltend agieren wie Goethes Turmgesellschaft, finden sich in der zweiten Hälfte der Goethezeit bewußt konservative Gegenprogramme, die die gewünschte Autonomie des Protagonisten auf selbstge-
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Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Lignitz 1774. Repr. Stuttgart 1965, S. X. Die aus diesen einander widerstrebenden Faktoren resultierende Dynamik und ihre Folgen im systeminternen Wandel für das Erzählmodell hat wohl erstmals – intensiv und bis ins Detail der Formulierung hinein – Brandl 1995 (Anm. 323) rekonstruiert anhand der Lehrjahre, der Nachtwachen, der Prinzessin Brambilla und des Schlemihl.
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wählte Unterwerfung unter Heteronomie reduzieren, so etwa im Falle Eichendorffs (Das Marmorbild, Ahnung und Gegenwart, Dichter und ihre Gesellen) in der bewußten Unterwerfung unter einen christlichen ›Vatergott‹, die am Ende des Marmorbilds als die wahre Autonomie ausgegeben wird. R 5: Damit nun freilich die normativ vorgegebene positive Variante der Beendigung der Transitionsphase möglich wird, müssen bestimmte Bedingungen in der dargestellten Welt erfüllt sein: R 5.1: Optimale ›Entwicklung‹/›Bildung‹ ist – und darin sind die Texte sich ihrer utopischen, nicht für alle Individuen generalisierbaren Voraussetzungen bewußt – an Freiheit von ökonomischen Abhängigkeiten gebunden. Agathon wird zwar Sklave, aber als intellektuelles Versuchsobjekt seines Herrn (der sich damit als Manipulatorenfunktion erweist) von Arbeit freigesetzt; Wilhelm schauspielert bei ökonomischem Bedarf ein wenig; Sternbald findet sofort einen Klienten, dem er ein Bild malen darf, usw. Verpflichtung zu bürgerlicher Tätigkeit erscheint demnach als Hindernis für den Prozeß der Personwerdung: Sternbald lehnt empört mehrfach ökonomisch günstige Integrationsangebote ab. Texte wie Moritz’ Anton Reiser oder Jungs Henrich Stillings Jugend stellen die Negativfolie zum utopischen Initiationsmodell dar, indem sie die Ver- oder Behinderung personaler Entwicklungen bei ökonomischer Bedürftigkeit vorführen. R 5.2: Fast noch wichtiger aber ist in den dargestellten Welten die Bedingung der radikalen Ablösung von der Herkunftsfamilie bei Eintritt in die Transitionsphase. Ob der Protagonist nun eine eindeutig identifizierbare Herkunftsfamilie hat (Lehrjahre), ob sich die Herkunftsfamilie als nur scheinbare erweist (Sternbald), ob eine Herkunftsfamilie zunächst überhaupt unbekannt ist (Agathon), ob die Herkunftsfamilie bei Erzähleinsatz noch lebt oder schon tot ist (Ahnung und Gegenwart): in jedem Falle muß der Protagonist sie räumlich wie emotional definitiv verlassen, wenn er in die Transition eintritt. Die Herkunftsfamilie repräsentiert die Heteronomie des nicht frei gewählten sozialen Kind-Zustandes: Sich von ihr ablösen, ist Bedingung für die Prozesse der Selbstfindung und Autonomisierung (auch in diesem Punkte natürlich eine utopische Komponente). Die Gefährlichkeit der Familie für die Entwicklung des Protagonisten wird in den Texten an Negativbeispielen illustriert: R 5.2.1: Bei unzulänglicher räumlicher und/oder emotionaler Ablösung von der Herkunftsfamilie kommt es zu den ungemein häufigen inzestuösen Situationen (vgl. z.B. Agathon, Lehrjahre) in dieser Erzählliteratur oder zu ihrem – seltenerem – negativen Korrelat, dem Verwandtenmord. Wiederum lassen sich Regeln dafür formulieren,23 unter welchen Bedingungen es zu inzestuösen Situationen kommt und wovon es abhängt, ob der Vollzug vermieden werden kann, der mit Selbstverlust sanktioniert wird. Ein relevanter Faktor der Genese solcher Situatio-
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Siehe Vf.: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen. Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit (1991), in diesem Band S. 373–431.
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nen ist aber immer eine Normverletzung in der Elterngeneration, was nochmals deren Gefährlichkeit für die Kindergeneration betont. R 5.2.2: Je deutlicher in den Texten eine Manipulatorenfunktion gegeben und – im Gegensatz zum harmlos-pädagogischen Geheimbund der Lehrjahre – von ihr Macht und Verführung gegenüber dem Protagonisten ausgeübt wird, desto deutlicher wird die metaphorische Familialisierung der Funktionsträger. Ist es nur einer, wird dieser selbst, sind es mehrere, wird deren Oberhaupt deutlich zum Vateräquivalent. Das gilt nicht nur in der Geheimbundvariante, wo die Ranggleichen gern als ›Brüder‹, die ›Oberen‹ gern als ›Väter‹ metaphorisiert werden. Im Genius ist der zeitweilige Geheimbundchef zugleich Onkel des Protagonisten, in E. T. A. Hoffmanns Elixieren tritt ein spukender Urahn manipulativ auf, in seinem Sandmann sind Coppelius/Coppola und Spalanzani eindeutig Vateräquivalente. In Dya-na-sore erweist sich schließlich der scheinbar autonome Aufbruch der jugendlichen Protagonisten als ein von einem unbekannten Vater ferngesteuerter Prozeß.24 Wo immer Protagonisten dieser Literatur von Manipulatorenfunktionen verfolgt, überwacht, gesteuert werden, sind es Vateräquivalente. Und wo sie sich wie in Eichendorffs Marmorbild am Textende selbstgewählter Heteronomie unterwerfen, ist es eine solche des christlichen (?) Gottes als eines expliziten Vateräquivalents.25 R 5.3: Zu den konstitutiven Bedingungen eines erfolgreichen Initiationsprozesses gehört in der Goethezeit die Begegnung mit Liebe im emphatischen Sinne, der emotionalisierten und individualisierten Beziehung zu einem als unaustauschbar gedachten, andersgeschlechtlichen Partner, wie sie von der Aufklärung erfunden und zur offiziellen Norm der Partnerwahl gemacht worden ist. Für die erotischen Begegnungen und die Partnerwahl in den Initiationsgeschichten ließe sich wiederum eine Menge von Regularitäten formulieren, von denen hier nur einige beispielshalber angedeutet seien:
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Wilhelm Friedrich Meyern: Dya–na–sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt. Wien, Leipzig 1787, S. 921: »[I]ch sehe meinen Vater nicht wieder, aber ich weiß, ich gehe den Weg, dem er mich eignete, seit er in jener feierlichen Nacht am Altar der Gottheit mir erschien [...]. Terglud, du wirst deinen – unsern Vater einst sehen – wo der heilige See sich um die Erde des Bundes schlingt; dort fällt einst der Schleier [...].« Die Verfolgerrolle kann in Texten, die extrem mit (sich als christlich gerierender) Sexualabwehr operieren, auch durch eine mythisierte und dämonisierte Frau, eine Quasi›Zauberin‹ (vgl. dazu Ursula Frieß: Buhlerin und Zauberin. Eine Untersuchung zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. München 1970) besetzt werden (so u.a. in Friedrich de la Motte Fouqué: Der Zauberring. Ein Ritterroman. 1813 und ders.: Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein. 1817; Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman. 1815): »Ich glaubte, ihr jetzt entkommen zu seyn, aber Du hörtest ja, was sie sagte: immer verfolgen will sie mich [...]. Verbannt bin ich durch diese schlimme Zauberin [...].« (Friedrich de la Motte Fouqué: Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein. Leipzig 1817, S. 180).
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R 5.3.1: Für T1 sind normalerweise keine erotischen Beziehungen des Protagonisten vorgesehen, da sie mit seinem Kindstatus kollidieren. R 5.3.2: Wenn in T1 dennoch Sexualkontakte des Protagonisten vorkommen, werden die Partnerinnen entweder getilgt (Lehrjahre) oder in T3 geheiratet (Wezels Hermann und Ulrike, Schulz' Moriz). R 5.3.3: In T2 hat der Protagonist, ausgenommen bei einer christlichkonservativen Autorenminorität in der zweiten Hälfte der Epoche, das Recht auf nicht-legalisierte Sexualbeziehungen (Agathon, Lehrjahre, Sternbald, Genius usw.). Auch ein ideologisch konservativer Autor wie Fouqué kann das seinem Protagonisten ermöglichen, indem er den Sexualakt zu einer ersten, in der Folge getilgten, weil irrigen Ehe, die, insofern sie ein Irrtum war, noch T2 angehört, führen läßt (Alethes von Lindenstein). R 5.3.4: Die Partnerin, mit der der Protagonist in T2 Sexualkontakte hat, ist praktisch nie identisch mit der Partnerin, die er in T2 lieben lernt und in T3 heiratet (vgl. etwa Lehrjahre; eine Ausnahme bildet der Ardinghello, aber auch Schlegels Lucinde, wo beide Male die offizielle Sexualnorm mehr oder minder drastisch durchbrochen wird). Liebe in sexueller oder nichtsexueller Form ist konstitutiv für den Prozeß der Personwerdung: Immer wieder wird die geliebte/begehrte Frau, fast wie in mittelalterlicher Allegorie, zum Äquivalent der Welt: ... er hat die Welt auf immer verlassen, weil er unglücklich geliebt hat. [...]. In seiner Geliebten ist ihm die ganze Welt abgestorben. (Sternbald, S. 288)
An der Liebe zur Frau kann also repräsentativ die Relation von Ich und Welt eingeübt werden: Wilhelms teils selbstgewähltes, teils fremdbestimmtes Schwanken zwischen Therese und Natalie in den Lehrjahren exemplifiziert zugleich die problematische Relation von Autonomie und Heteronomie. Da Liebe zudem als Tendenz zu Grenzaufhebung und Verschmelzung in einer neuen Einheit semantisiert ist, illustriert sie zweitens auch das Problem des angemessenen Kompromisses von Grenzziehung des Ich zum Nicht-Ich und Offenheit des Ich zur Welt. Signifikant ist die meist implizite, manchmal explizite Opposition von (›Liebe‹ | ›Jugend‹) vs. (›Ehe‹ | ›Mannesalter‹): Wo in der Liebe die Relation von Ich und Welt noch geregelt werden muß, wäre sie in der Ehe definitiv geregelt, in der folgerichtig emphatische Liebe nicht vorgesehen ist. R 6: Für den Durchgang des Protagonisten durch das dreigliedrige Raumzeitsystem der dargestellten Welt gilt: R 6.1: Der Lebenslauf des Protagonisten ist ganz wörtlich ein ›Lebensweg‹; die materiell-realen Wege, die zurückgelegt werden, repräsentieren zugleich zeichenhaft die metaphorischen – ideologisch-psychischen – Wege; die Texte – z.B. die Lehrjahre – bedienen sich denn gern auch einer Weg-Ziel-Metaphorik:
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Gib nur Acht, welchen Weg dich die Schöne noch führen wird, die dich auf so gewaltsame Weise angezogen hat und festhält. Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege, versetzte Friedrich, auf dem Wege zur Heiligkeit. Es ist freilich ein Umweg [...].26 Ist denn das Leben bloß wie eine Rennbahn, wo man sogleich schnell wieder umkehren muß, wenn man das äußerste Ende erreicht hat? Uns steht das Gute, das Vortreffliche nur wie ein festes unverrücktes Ziel da, von dem man sich ebenso schnell mit raschen Pferden wieder entfernen muß. als man es erreicht zu haben glaubt [...].27
R 6.1.1: Der Lebensweg ist charakterisiert durch die Verschiebung der Zieldefinition: Was beim Eintritt in die Transitionsphase (vorläufiges) Ziel des Protagonisten sein mochte, ist nicht identisch mit dem beim Austritt tatsächlich erreichten (definitiven) Ziel; der Weg zum anfänglichen Ziel führt zur Veränderung des Ziels ›unterwegs‹. Die Lehrjahre formulieren diese Regel: […] du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.28
Wilhelm ersetzt das Ziel der Schauspielerei durch das der Bildung; Sternbald, der Maler werden will, wird Dichter werden. R 6.1.2: Das bedeutet, daß das definitive Ziel im Falle des Gelingens des Initiationsprozesses nie ›direkt‹ erreicht wird, sondern immer nur über den (wörtlichen oder metaphorischen) ›Umweg‹, der aber nicht, wie im Falle des Scheiterns, ein ›Irrweg‹ ist (wie dies z.B. in Tiecks Runenberg oder Hoffmanns Sandmann der Fall ist). Auch jene Frauen, mit denen der Held in T2 sexuelle Abenteuer hat und die er also nicht heiraten wird, sind Umwege im Sinne dieser Regel. Räumlich wie metaphorisch gelangen die Figuren häufig nicht dorthin, wohin sie ursprünglich wollen: Agathon wird von Seeräubern entführt und als Sklave verkauft; zur typischen Situation gehört es, daß man sich z.B. im Walde verirrt (z.B. Genius, Sternbald), woraufhin mit Sicherheit eine unerwartete Begegnung oder Wiederbegegnung eintritt. Wilhelm Meisters falsche Wegwahl, die zum Überfall der Schauspielertruppe durch die Räuber führt, ermöglicht zugleich die Begegnung mit der ›Zielfrau‹ Natalie, zu deren Besitz er dann erst wiederum auf erotischen Umwegen (z.B. Therese) gelangen wird. In der Logik dieses Erzählmodells darf – wie in der aufklärerisch-idealistischen Geschichtsphilosophie – der ›Umweg‹ nicht unfunktional sein:29 er muß also entweder als lebensaltersbedingte Notwendigkeit erscheinen (z.B. Florios Anfälligkeit für die Versuchung durch die Venus-Welt in Eichendorffs Marmorbild oder Agathons ›Schwärmerei‹) oder aber zu den Voraussetzungen der Erkenntnis bzw. Erreichung des definitiven Ziels gehören, da an-
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Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter. Bd. V. Hg. von Hans-Jürgen Schings. München 1988, S. 566. Ebd., S. 569f. Ebd., S. 610. Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit. in diesem Band, S. 177.
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dernfalls die Postulate der Teleologie des Entwicklungsprozesses und einer Weltordnung im Sinne der Théodicée bedroht sind – genau damit spielt natürlich ein Text wie die Nachtwachen. Erst vom Ausgang her – Selbstfindung oder Selbstverlust – entscheidet sich in diesem Erzählmodell, ob ein ›Weg‹ ›Umweg‹ oder ›Irrweg‹ war: Die definitive Interpretation eines Segments dieses Lebenswegs ist also erst a posteriori, vom Ende, von der Zukunft her, möglich, was bedeutet, daß nicht selten Reinterpretationen stattfinden müssen, in denen im nachhinein die ursprüngliche Interpretation korrigiert wird. R 6.2: Die Lebenswege der Protagonisten (und die Textstrukturen) sind in variablem Umfang durch Linearität oder Zirkularität charakterisiert, wobei erstere dem Konzept von ›Fortschritt‹ (als linearer ›Entwicklung‹) und von ›Emanzipation zur Autonomie‹, letzere einer ›Rückkehr‹ und (latenter oder manifester) ›Heteronomie‹ äquivalent ist. Die oben zitierte Rennbahn-Metaphorik belegt, daß z.B. Wilhelm Meister Zirkularität als frustrierend – und somit Linearität als wünschenswert – empfindet. In Agathon und Lehrjahren dominiert zweifellos die Linearität (wenngleich es auch in diesen Texten Elemente zirkulärer Rückkehr gibt, etwa wenn Agathon den verlorenen Vater zeitweilig wiederfindet), während zumal in manchen Texten der Romantik Zirkularität dominiert (oder eine komplexe ›Synthese‹ aus Linearität und Zirkularität versucht wird): Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause.30
In Sternbald (bzw. den Plänen zur Fortsetzung) würde der Held am Textende räumlich an den Ausgangspunkt zurückkehren, er würde seine (unbekannte) Herkunftsfamilie (Bruder und Vater) finden, er erhält schließlich jene Frau, seine zeitweilig verlorene, zeitweilig wiedergefundene Kindergeliebte; auch die Situierung der dargestellten Welt in einer Vergangenheit – der Renaissance – ist eine ›Rückkehr‹, so wie die Renaissance ihrerseits schon eine solche – zur Antike – ist. Wo aber z.B. bei Eichendorff am Ende der Transitionsphase eine ideologische Rückkehr in die Heteronomie des Christentums stattfindet (z.B. Marmorbild, Ahnung und Gegenwart), ist der Sternbald, in den ausgeführten Teilen eher auf lineare Progression – Entfernung von anfänglicher ›empfindsamer Christlichkeit‹ – angelegt. In Hoffmanns Murr spielt dann der Protagonist Kreisler selbst mit seinem Namen: jemand, dem Linearität versagt ist. Zirkularität kann mit Linearität vereinbart werden, indem der dritte definitive Zustand den ersten anfänglichen nicht einfach wiederholt, sondern – wie in Schillers oder Klingers Geschichtsphilosophie – nur transformiert und auf ›höherem‹ Niveau rekonstituiert. R 7: Dargestellte Welten (und somit auch Lebensläufe der Protagonisten) sind durch eine Struktur charakterisiert, die ›geheime Ordnung der Welt‹ genannt werden kann und zu der auch die erwähnte implizite Teleologie und Théodicée dieser Textwelten gehört, ebenso wie die Egozentriertheit der dargestellten Welt
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Friedrich von Hardenberg: Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman von Novalis. Berlin 1802, S. 373.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
(R 2.2), bei der alle Figuren um den Protagonisten ›kreisen‹ (= Zirkularität, R 6.2); auch die Funktionalität der ›Umwege‹ sei nochmals erwähnt. Am Textende erweist sich regelmäßig geradezu ein unwahrscheinliches Übermaß an Ordnung in der dargestellten Welt, das sich z.B. eben auch darin manifestiert, daß keine dem Protagonisten relevante Figur ›verlorengeht‹; er begegnet ihr wieder oder erhält Informationen über sie (R 2.3). Einige solcher Strukturen seien hier zusätzlich aufgelistet: R 7.1: Welche Klassen von Figuren und welche (positiven oder negativen) Werte (z.B. Liebe) dem Helden begegnen und wann – an welcher Stelle des Textes bzw. des Lebensweges – sie ihm begegnen, ist, sofern diese Begegnung für den Protagonisten relevant ist, nicht ›zufällig‹. R 7.1.1: Wenn der Protagonist eine Größe X (eine Figur, einen Wert) ›sucht‹, dann wird er sie nicht ›finden‹; wenn der Protagonist eine Größe X ›findet‹, dann hat er sie nicht ›gesucht‹ (vgl. oben das Zitat aus dem Schluß der Lehrjahre: Das Gesuchte und das Gefundene sind nicht identisch). Was man findet, begegnet immer ›unerwartet‹, wenn man nicht damit rechnet, so etwa verlorene Geliebte (wie Agathon Psyche, wie Wilhelm Natalie; Sternbald findet Marie erst wieder, wenn er sie tot glaubt). Besonders die Manipulatorenfunktion illustriert dieses Prinzip: Magiergestalten (der Armenier im Geisterseher), Geheimbünde (wie im Genius) sind unauffindbar für die Protagonisten, sobald sie sie suchen: Nur unerwartet manifestieren sie sich. Die Weltordnung gehorcht einem Plan, der nicht mit dem bewußten Willen des Protagonisten identisch ist: Sie ist für ihn nicht beherrschbar; Wilhelm Meister liefert bekanntlich die resignativen Kommentare dazu. R 7.1.2: Die Texte spielen mit einer Korrelation von realem Außenraum und psychischem Innenraum des Protagonisten: Eine Größe X begegnet dem Helden in der Außenwelt, wenn er in seinem psychischen Entwicklungsprozeß dafür ›reif‹ ist: wenn er im positiven oder negativen Sinne dafür ›anfällig‹ ist, wenn der realen Größe X eine psychische Größe X' entspricht. Besonders deutlich wird das in den phantastischen Initiationsgeschichten: Als Wunderbares außerhalb seiner begegnet dem Helden nur, was einem Psychischen innerhalb seiner entspricht (vgl. Tiecks Runenberg, Hoffmanns Bergwerke zu Falun, Eichendorffs Marmorbild). Alles, was dem Protagonisten ›zu früh‹ begegnet, wird ihm, von der geheimen Weltordnung oder, wenn vorhanden, von einer Manipulatorenfunktion, zunächst wieder entzogen. Wenn er z.B. in der Transitionsphase vor Abschluß seiner ›Entwicklung‹ die definitive Geliebte ›gefunden‹ hat, wird er sie zunächst wieder verlieren (Lehrjahre, Sternbald, Ofterdingen). R 7.2: Im narrativen Ablauf der Initiationsgeschichten vollzieht sich ein Prozeß zunehmender Identifizierung und Korrelierung von Elementen, der zwei Komponenten hat. R 7.2.1: Im narrativen Ablauf wird die Beziehungsdichte zwischen den Elementen der Welt gesteigert: Aus einem Minimum an Relationen zu Textanfang ist am Textende ein Maximum geworden. So werden gewissermaßen möglichst viele – anfangs nicht korrelierte – Figuren in freundschaftliche (oder auch feindselige),
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
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erotische, usw. Beziehungen gesetzt; in Lehrjahren wie Sternbald vergrößert sich unaufhaltsam das Netz der Beziehungen der Figuren untereinander. R 7.2.2: Im narrativen Ablauf findet eine Aufdeckung verborgener Ordnung statt: Ursprünglich unbekannte Identitäten von Figuren und ursprünglich unbekannte Relationen von Figuren (z.B. unbekannte familiäre Beziehungen) werden entdeckt. Wilhelm Meister etwa lernt sukzessiv Friedrich, Lothario, die Gräfin, Natalie, unabhängig voneinander, kennen und erfährt erst im Verlauf ihre Verwandtschaft; in verschiedenen Situationen präsentieren sich ihm einzelne Mitglieder der Turmgesellschaft, deren Bund er erst spät erfährt. Scheinbar ›Ungeordnetes‹ erweist sich bloß als zunächst noch unerkannte Ordnung. R 7.3: Die dargestellte Welt präsentiert sich also in variablem Umfang als ›Rätsel‹, das zu lösen, bzw. als ›Geheimnis‹, das aufzuklären ist. Die ›Wahrheit‹ ist immer schon ›da‹, aber eben verborgen: Dem entspricht die epochentypische optische Erkenntnismetaphorik des ›Aufdeckens‹ und ›Enthüllens‹, des ›Aufklärens‹ durch Er- und Beleuchtung, des ›Aufschließens‹ verborgener Räume.31 R 7.4: Zur verborgenen Ordnung der Welt gehört die merkwürdige Korrelation von mentaler und/oder semiotischer Repräsentation einer Größe X und der Realexistenz dieser Größe X. Dieser Punkt sei hier nur anhand von Beispielen angedeutet. Vorgestelltes oder ikonisch Repräsentiertes wird sich auch in der Realität finden: In einer Binnenerzählung des Sternbald verliebt sich deren Held in das Gemälde einer unbekannten Frau, der er selbstverständlich binnen kurzem in der Realität begegnet. Zur Realität gibt es ihre semiotische Repräsentation: Wilhelm Meister findet im Archiv der Turmgesellschaft seine Biographie. Oder die Realität vollzieht die semiotische Repräsentation nach: Ofterdingen findet das Buch, in dem sein Leben ›vorgebildet‹ ist.32 Auch das rekurrente fast etymologische Wörtlichnehmen des sprachlichen Ausdrucks gehört hierher: Wilhelm Meister, der sich ganz als ›Person‹ ausbilden will, muß das Schauspielertum (persona = die Maske des Schauspielers) durchlaufen; im Sandmann werden unentwegt sprachliche Redensarten wörtlich auf der Handlungsebene realisiert (z.B.: ›ein Auge auf jemanden werfen‹). Zu vielen weiteren Strukturen dieses Erzählmodells – z.B. zu den Konzeptionen der Person, ihrer Identität, ihrer Psyche, zu den Entwicklungsprozessen des Protagonisten, zum Verlauf erotischer Beziehungen – ließen sich Regularitäten formulieren. (Weitere Regularitäten werden in 3.1 und 3.2 skizziert.) Zu zeigen wäre ferner, wie sich das Modell allmählich konstituiert und in der Serie der sukzessiven Texte mit unterschiedlichen Besetzungen des Modells experimentiert und mit Abweichungen und Regeldurchbrechungen gespielt wird, und welche Unterschiede es zur Folge hat, ob die dargestellte Welt sich eher als ›mimetisch‹ oder anti›mimetisch‹, also märchenhaft oder phantastisch, präsentiert. Angemerkt sei nur erstens, daß die dargestellte Welt, je mehr sie geheime Ordnung aufweist, desto
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Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 187ff. Damit spielen etwa auch die Nachtwachen.
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mehr zum Märchen und Mythos tendiert, so daß die phantastische Literatur in gewissem Sinne nur eine Konkretisierung dieser Tendenz – quasi systemlogisch – darstellt, wie auch der ›Anthropomorphismus‹33 einer Welt, die funktioniert, als läge ihr der unbekannte Plan einer vernunftbegabten Instanz zugrunde, nur eine Konkretisierung erfährt, falls eine Manipulatorenfunktion im Text besetzt ist. Angemerkt sei zweitens, daß diese geheime Ordnung immer mehr oder weniger instabil und bedroht bleibt, bis hin zu ihrer weitgehenden Negation in einem Text wie den Nachtwachen: Die Egozentriertheit der Welt beispielsweise ist immer von Dezentrierung bedroht, was sichtbar wird, wenn eine Manipulatorenfunktion das eigentliche Zentrum bildet oder wenn die Aufspaltung der Protagonistenfunktion in Haupt- oder Nebenprotagonisten – und mit ihr eine Ausdifferenzierung in Hauptund Nebenzentren – einsetzt. 1.3
Zur Begründung der Terminologie: ›Initiationsgeschichte‹ und ›Transitionsphase‹
1.3.1 Das ethnologische Modell: ›Übergangsriten‹ und ›Initiationsprozesse‹ Der Begriff der ›Initiation‹ ist natürlich der Ethnologie entlehnt, die ›Übergangsriten‹ (›rites de passage‹) beschrieben hat, mittels derer ein Individuum einer Kultur von einer sozialen und/oder biologischen Klasse in eine andere übergeht;34 eine spezielle Teilklasse davon wären die ›Initiationsriten‹, mit Hilfe derer das Individuum Mitglied einer geschlossenen Gruppe (z.B. Geheimgesellschaft) wird, in die – im Gegensatz etwa zur Aufnahme in die Gruppe ›erwachsene Männer‹ oder ›Mitglieder der christlichen Gemeinde‹ (durch ›Kommunion‹ bzw. ›Konfirmation‹) – nicht jedes Individuum mit gleichem Ausgangsstatus aufgenommen wird (z.B. frühere Promotionsrituale, Rituale des Klostereintritts) und bei denen der ›Übergang‹ gern mit dem Zugang zu neuem Wissen korreliert ist. Solche Übergangsoder Initiationsrituale hat etwa Leach35 – sinngemäß – so schematisiert:
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Dazu Brandl 1995 (Anm. 7). Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten [Les Rites de passage 1909]. Aus dem Französischen von Klaus Schomburg u. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M. u.a. 1999. Zur Unterscheidung von Initiations- und Übergangsriten: Michel Panoff/Michel Perrin (Hgg.): Dictionnaire de Ethnologie. Paris 1979, S. 143 und 207. Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a.M. 1978, S. 100.
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Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
Normaler (sozial integrierter) Anfangszustand
Nicht-normaler Zustand: Initiand außerhalb der Gesellschaft und der Zeit
Separationsriten (Desintegration) § Symbolisches Äquivalent eines Todes
Normaler (sozial integrierter) Endzustand
Aggregationsriten (Reintegration) § Symbolisches Äquivalent einer Wiedergeburt
Schema 1: Übergangs-/Initiationsriten
Solche Initiations-/Übergangsprozesse sind der Goethezeit einerseits aus dem breiten ethnohistorischen Wissen der Spätaufklärung (z.B. Wissen über antike Mysterienkulte, das ethnologische Material der Reiseberichte seit der frühen Neuzeit), andererseits natürlich aus eigener kultureller Praxis (z.B. Aufnahmeriten des Klosters oder der Geheimbünde) gut bekannt. Gemeinsamkeiten (Dreiphasigkeit, außersozialer Zustand der Transitionsphase mit Legitimation von – hier: sexuellen – Normverletzungen) wie Unterschiede (kollektiv organisierte und geregelte vs. individuell-ungeregelt zu vollziehende Übergänge) zwischen dem ethnologischen Modell und dem Erzählmodell liegen gleichermaßen auf der Hand. Inwiefern ich den Begriff ›Initiationsgeschichte‹ vorschlage, bedarf somit zusätzlicher Begründung: (1) Der Aufbruch des Helden durch die Reise markiert tatsächlich eine massive Diskontinuität: Die totale Ablösung von der Herkunftsfamilie und dem sozialen Ausgangssystem ist konstitutiv für das Gelingen des Prozesses. Dem individuellen Austritt aus T1 korreliert der kollektiv begleitete Eintritt in T3: Die Operation der sozialen Reintegration wird praktisch immer begleitet durch eine Zusammenführung von Figuren, die für den Lebensweg des Protagonisten wichtig waren. Wilhelm Meisters Reintegration z.B. vollzieht sich in mehreren Schritten: Aufnahme in die Turmgesellschaft, Zuerkennung der Geliebten im familienäquivalenten Kreis. (2) Die Jugend-/Transitionsphase dient offenkundig einer Einführung des Subjektes in sich selbst und somit in die Gesellschaft: Ein Prozeß der Emanzipation zum Zwecke autonomen Akzeptierens von Heteronomie: Diese Kämpfe [des Jünglings] nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.36
(3) Einem Initiationsprozeß äquivalent ist die Transitionsphase insofern, als der Protagonist sich in ihr bewähren, in ihr sich der ›Aufnahme‹ in die nächsthöhere Existenzstufe des sozial integrierten Mannseins als würdig erweisen muß; dementsprechend ist die Phase gefährlich für das Subjekt: Ob ihm Selbstfindung gelingt, ob er im Selbstverlust scheitert, hängt von dieser Bewährung ab. (4) Einer Initiation im ethnologischen Sinne entspricht der Erzählprozeß der Transition nun aber auch schon insofern, als der Protagonist ihm bislang vorenthaltene – tatsächliche oder vermeintliche – Wissensbestände erwirbt, die er entweder aus eigener Kraft erlangt oder die ihm eine soziale Umwelt unter bestimmten Bedingungen zugesteht; im Gegensatz zum Kriminalroman (›du weißt zuviel, also mußt du sterben‹) gilt in der Initiationsgeschichte: Ihr wißt zuviel, Kreisler, um nicht alles erfahren zu müssen.37
Worüber nun Wissen an den Protagonisten vergeben wird, das sind verborgene Strukturen der Realität: In den Texten lexikalisiert als ›Rätsel‹ oder ›Geheimnis‹ – ein Wissen, in das man ›eingeweiht‹ werden muß. (5) ›Einweihung‹ – das goethezeitliche Pendant zu ›Initiation‹ – gehört zu den stark rekurrenten Lexemen der Erzählliteratur der Epoche: Man wird ›eingeweiht‹ in bislang vorenthaltenes Wissen, in bislang verborgene soziale, familiäre, erotische Beziehungen zwischen Figuren, in die Liebe/Sexualität, schließlich in Geheimbünde, d.h. in soziale Organisationen, deren Aufnahmezeremonien tatsächlich Initiationsriten sind. Agathon wird vom homosexuellen Priester eine solche Einweihung in göttliche Mysterien versprochen, Wilhelm Meister wird in die Geheimnisse der Turmgesellschaft als neues Mitglied eingeweiht, ganz zu schweigen von der Textgruppe der Geisterseher-/Geheimbundromane. (6) Auch die symbolischen Todes- und Wiedergeburtsäquivalente fehlen in dieser Erzählliteratur nicht. Initiationen in Mysterien, Geheimbünde usw. finden z.B. gern in natürlichen oder künstlichen unterirdischen ›Höhlenräumen‹ statt und beginnen gern in Dunkelheit (| ›Unwissenheit‹ | ›Nacht‹ | ›Tod‹), um zu Helligkeit (| ›Aufklärung‹ | ›Erleuchtung‹ | ›Wiedergeburt‹) zu führen.38 Vor dem Wilhelm Meister bediente sich der Agathon zur ›Einweihung‹ des Helden schon einer Höhle, in Dya-na-sore und im Genius gehören Höhlenräume zum selbstverständlichen Inventar; am massivsten, auf verschiedenen Ebenen: als im Traum, im
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe […]. Bd. X Vorlesungen über die Aesthetik. Hg. von H.G. Hotho. Berlin 1835, I, S. 568 (Hervorh. M.T.). E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. In: ders.: Die Elixiere des Teufels. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Hg. von Walter Müller-Seidel. München 1961, S. 656. Ein Modell, das in Novalis’ Hymnen an die Nacht und vergleichbaren Texten nur mit umgekehrter Wertung besetzt wird.
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erzählten Märchen, in gesungenen Liedern und in der realen Handlung – sind Höhlenräume, geradezu schon penetrant, im Ofterdingen anwesend, wo ihre Semantik auch deutlich wird.39 Solche Höhlenräume sind zugleich symbolische Äquivalente der weiblichen Genitalien: Die Träume von Sohn und Vater am Anfang von Novalis’ Ofterdingen führen dies aufs schönste vor:40 Die engen Gänge, die man betritt, sind Äquivalente einer Vagina, die Gewölbe, zu denen diese Gänge führen, sind Äquivalente eines Uterus. Wilhelm Meister transformiert diese Semantisierung: Statt weiblicher Höhle männlich-phallischer Turm, den zu betreten gleichwohl erst einmal durch Dunkelheit zu Licht führt. Solche in der Literatur der Goethezeit ungemein verbreiteten Höhlenräume sind einerseits durchaus reale Räume der dargestellten Welt, zugleich andererseits symbolische Sexualorte, ob sie nun, wie im Genius, korreliert mit Geheimbünden oder, wie im Ofterdingen, unabhängig von solchen auftreten. Was sie zu betreten und (nicht) zu verlassen bedeutet, macht der Anfang des Ofterdingen klar: Im Traum des Sohnes betritt und verläßt der Protagonist aus eigener Kraft diesen unzweideutig sexualisierten Raum – Äquivalent eines Todes und einer Wiedergeburt, wobei das Subjekt sich selbst zeugt und gebärt – ein Mythos der Selbsterschaffung; im Traum des Vaters hingegen befindet sich im Sexualort schon ein Mann (Vateräquivalent) und ein anderer führt ihn aus der Höhle heraus, woraufhin der Vater noch den kommenden Geburtsakt des Protagonisten symbolisch imaginiert, der zugleich über ihn hinauswachsen würde. Das aber heißt: Wo der Vater heteronom – und Mittel zum Zweck (der Erzeugung des Protagonisten) – blieb, da wird der Sohn autonom und ist Selbstzweck. Wenn also auch auf den ersten Blick diese goethezeitliche Textgruppe strukturell nur partiell die Merkmale von Übergangs-/Initiationsmodellen aufweist, zeigt sich doch, denke ich, daß der Texttyp eine merkwürdige Affinität zur narrativen Darstellung von Initiationen, zu ihrer lexikalischen Konnotierung (›Einweihung‹ usw.), zu ihren symbolischen Äquivalenten (›Tod‹ ›Wiedergeburt‹) aufweist. Schon die aufklärerisch-rationalistischen, nicht erst die phantastischen Initiationsgeschichten, also z.B. Agathon, Wilhelm Meister, Genius, William Lovell usw., spielen mit Initiationsäquivalenten – und soweit tatsächlich in ihnen im engeren Sinne Initiationen dargestellt werden, sind diese gewissermaßen zugleich auch quasi-metatextuelle Abbildungen der Textstruktur selbst. In eben dem Ausmaß, in dem nun das mythisch-mystische Modell ›Initiation‹ bewußt gemacht wird, wird es auch der unausgesprochene Konflikt zwischen manifestem Autonomiestreben und latenter Heteronomieerhaltung.
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Zur Semantik der Höhlenräume in der Goethezeit vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band S. 188f. Vgl. auch Tiecks Abdallah (1795), Tannenhäuser (1799), Runenberg (1804), Fouqués Alethes von Lindenstein (1817), Hoffmanns Bergwerke (1819) und viele andere mehr.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
1.3.2 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von (sozialer) ›Transitionsphase‹ und (biologischem) ›Jugendalter‹: Prolongierte und sekundäre Transitionsphasen Die Benennung des Zeitraums zwischen anfänglichem ›Kind‹- und schließlichem ›Mann‹-Status als ›Transitionsphase‹ trägt dem Faktum Rechnung, daß es in ihr um einen Übergang (= passage !) geht: eben um jene Operationen, die den Protagonisten aus dem Zustand zu Tl in den von T3 bringen. Die ›Transitionsphase‹ ist zwar mit ›Jugend‹ korreliert, aber nicht mit ihr identisch. Während jene einen sozialen (eigentlich: außersozialen) Status des Protagonisten benennt, benennt diese eine als biologisch gedachte Altersklasse. In der Mehrheit der Initiationsgeschichten fällt beides zwar weitgehend zusammen, aber es gibt doch signifikante Abweichungen, die die terminologische Unterscheidung notwendig machen. Wenn wir etwa Wilhelm Meister kennenlernen, befindet er sich sozial zwar noch im abhängigen familiären Kindstatus, biologisch aber zweifelsfrei – seine Affaire mit Mariane belegt es – schon im ›Jünglingsalter‹, das sonach mit seiner dann einsetzenden Transitionsphase nicht vollständig deckungsgleich ist. Einen interessanten Grenzfall bietet der Prinz in Schillers Geisterseher, der bei Einsetzen seiner Transitionsphase schon 35 Jahre alt, somit längst im ›Mannesalter‹ ist, wenn er auch seine Jugend noch nicht gelebt hat, wie die Absenz von Erotik in seiner bisherigen Existenz belegt. Gegenüber solcher Verspätung einer in der Jugend kulturell erwarteten Transition kennt die Literatur der Goethezeit auch Bestrebungen zur Verlängerung einer zum Selbstwert werdenden Transition, d.h. einer Verweigerung bzw. Verzögerung des Eintritts in den Zielzustand des Erwachsenen- bzw. Mannstatus. Der Protagonist und Ich-Erzähler in Grosses Genius geht schon früh eine erste Ehe ein, wodurch an sich die Transitionsphase beendet würde, obwohl er sich unzweideutig noch in der ›Jugend‹ befindet. Vor dem frühzeitigen Übergang in den – sozialen – Erwachsenenstatus bewahrt ihn der Text, der die junge Gattin durch den Geheimbund entführen und als tot gelten läßt, was dem Helden die Legitimation weiterer erotischer Abenteuer und Normverletzungen beschert; kurz nach der Wiedervereinigung des Ehepaares müssen Gattin und Kind sterben, damit der Protagonist erneut aufbrechen kann; eine zweite Ehe wird eingegangen, durch ›Untreue‹ der Gattin unterbrochen und diese durch das zeitweilige, symbolische Todesäquivalent eines Klosteraufenthalts aus dem Verkehr gezogen; erst nach nochmaliger – nunmehr dritter Wiederaufnahme der Transition kommt es am Textende in der Wiedervereinigung der Gatten zum Stillstand der definitiven sozialen Reintegration. Nicht zufällig hat dieser Text Autoren wie Tieck und Hoffmann fasziniert: Denn das (intraepochal neue) Konzept der ›Sehnsucht‹ in der Romantik tendiert unzweideutig zur Ausweitung der Transitionsphase. Die erste Initiationsgeschichte, deren jugendliche Figuren durch dieses Konzept charakterisiert sind, Tiecks Sternbald, verdeutlicht, was ›Sehnsucht‹ bedeutet: nämlich, wie
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bekannt, das ›Ungenügen an der Normalität‹ sozial integrierten Lebens,41 und zwar nicht nur an dem des Ausgangszustandes des Protagonisten, sondern auch an dem jedes beliebigen Endzustandes, ein Streben also, dessen Ziel immer im räumlichen, sozialen, erotischen ›Anderswo‹ liegt, demgegenüber jeder potentiell definitive Zustand der sozialen Reintegration – der räumlichen, beruflichen, erotischen Bindung – erneut als ungenügend erschiene: Der Mensch weiß nicht, was er will, wenn er Sehnsucht nach der Fremde fühlt, und wenn er dort ist, hat er nichts. (Sternbald, S. 310)
Solche Verweigerung des definitiven Ziels des Erwachsenenstatus ist einer Verweigerung der Beendigung der Transitionsphase äquivalent. In Sternbald wird das Problem unter anderem an Roderigo vorgeführt, der in Gräfin Adelheid seine – wie heutige Bekanntschaftsanzeigen in der Presse formulieren würden, als später Nachklang der Goethezeit – ›Traumfrau‹ gefunden hätte: Ich fand sie meinen Wünschen geneigt, ich war auf dem höchsten Gipfel meiner Seligkeit. Wie arm kam mir mein Leben bis dahin vor, wie entsagte ich allen meinen Schwärmereien. Der Tag unserer Hochzeit war festgelegt. Oh meine Freunde, ich kann euch nicht beschreiben, ich kann sie selber nicht begreifen, die wunderbare Veränderung, die mit mir vorging! Ich sah ein bestimmtes Glück vor mir hegen, aber ich war an diesem Glücke festgeschmiedet [...]. »Oh süße Reiselust!« sagte ich zu mir selber, »geheimnisreiche Ferne, ich werde nun von euch Abschied nehmen müssen und eine Heimat dafür besitzen! [...]. Bei keinem fremden liebreizenden Gesicht darf mir nunmehr einfallen: Wir werden bekannter miteinander werden, dieser Busen wird vielleicht an meinigem ruhen, diese Lippen werden mit meinen Küssen vertraut sein«. (Sternbald, S. 297f.)
Folglich brennt Roderigo zunächst einmal ohne Verabschiedung der angehenden Gattin durch: Selbstverständlich wird er in der Folge Adelheid wieder treffen... ›Sehnsucht‹ wäre also mit dem Ende der Transitionsphase abzulegen: Doch fürchtete er sich wieder, so seinen Lebenslauf zu bestimmen und sich selber Grenzen zu setzen; die Sehnsucht rief ihn wieder in die Ferne hinein [...]. Wie ist es mit dem Leben? dachte er bei sich selber; irgendeinmal ist dieser Taumel der Jugend doch verflogen, endlich einmal nimmt mich doch jenes Leben in Empfang, dem ich jetzt so sehr aus dem Wege trete (Sternbald, S. 182f.).
Der potentiellen Generalisierung der Transitionsphase zum allgemeinen Lebensmodell wird hier deren Bindung an eine biologische Jugend konfrontiert, deren naturhaftes Ende die einzige Begrenzung der Transition bietet; die Fortsetzung des sozialen Status der Transition kollidiert irgendwann mit der als biologisch gedachten Entwicklung. Eichendorffs bekanntes Gedicht Frühlingsfahrt (1818) führt resignativ die Alternative vor: rechtzeitige soziale Integration in sattes Bürgertum
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Dazu Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a.M. 1979.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
vs. unabgeschlossene Transition, die mit dem biologischen Prozeß unvereinbar ist: »Da war er müde und alt«. Interessant ist auch der Ofterdingen: Im Teil I – Die Erwartung – reist der Protagonist zwar, aber zielorientiert und in Begleitung der Mutter, d.h. nicht in die Transitionsphase eintretend; und er wird am Ende von I, von Liebe befallen, verheiratet werden; er hätte demnach den bürgerlichen Lebensweg von T1 zu T3, ohne den ›Umweg‹ über T2, die Transitionsphase also, gewählt. Doch der Text läßt die junge Gattin sterben: und Ofterdingen kann sich, in Teil II: Die Erfüllung, von Herkunfts- und Zielfamilie befreit, auf die nicht-zielorientierte, nicht-funktionale Reise der Transitionsphase begeben. Noch aus einem weiteren Grunde müssen sozial definierte Transitionsphase und biologisch definierte Jugend unterschieden werden. Denn während das Erzählmodell ›Initiationsgeschichte‹ zunächst den Abschluß personaler Entwicklung beim Eintritt in den sozialen Mann-Status und/oder in das biologische Mannesalter vorsieht, weist die zweite Hälfte der Goethezeit Texte auf, in denen erneut die Grenze des als Abschluß von ›Transition‹ und ›Jugend‹ gewählten Erwachsenenzustandes überschritten wird. Zum einen häufen sich plötzlich Ehebruchsgeschichten (z.B. Klingers Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit, Goethes Wahlverwandtschaften, Arnims Gräfin Dolores), in denen die Normverletzung gegenüber der bis dahin als Abschluß der Transition und Eintritt in einen statischen Zustand des Erwachsenenseins geltenden Ehe potentiell eine neue Transitions- bzw. Entwicklungsphase eröffnet. Zum anderen kennt diese Teilphase Texte, die sekundäre Initiationsprozesse erzählen, bei denen der Protagonist, nach primärer Initiation und abgeschlossener Jugend, nach erfolgreicher sozialer Reintegration, nach Berufs- und Partnerwahl, ein zweites Mal, erneut, aufbricht (Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Tiecks Der junge Tischlermeister): Texte also, die zumindest, auch wo sie ihre Helden zirkulär zurückkehren lassen, grundsätzlich mit der Möglichkeit einer erneuten Entwicklung im Erwachsenenalter spielen, die prinzipiell auch zu neuen Zielen führen könnte: Ein Modell, bei dem die Begrenzung der ›Entwicklung‹ auf das ›Jugendalter‹ aufgehoben wird, und das erst im literarischen System der Frühen Moderne tatsächlich als generalisierbares praktiziert werden wird. Zwar nehmen die Initiationsgeschichten der Goethezeit faktisch eine Normierung vor, derzufolge, im Idealfalle, Transitionsphase und Jugend weitestgehend identisch wären; theoretisch aber spielen sie mit der Möglichkeit, daß der soziale und der biologische Zustand unabhängig voneinander auftreten können, wäre es auch nur als unerwünschte Anomalie.
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2.
Das System der Altersklassen in normativen und anthropologischen Diskursen der Goethezeit
2.1
Altersklassen in der Gesetzgebung: Straffähigkeit – Mündigkeit – Heiratsalter
Die Gliederung des menschlichen Lebens in Altersklassen spielt in den Gesetzestexten der Epoche nur insoweit eine Rolle, als der Gesetzgeber Rechte oder Pflichten an ein bestimmtes Lebensjahr geknüpft hat: Manche Regelungen gehören im Geltungsbereich des jeweiligen Gesetzes fast notwendig zum allgemeinen kulturellen Wissen; denn es geht dabei um Daten, die im Leben jedes Individuums praktisch relevant werden können. Meine Materialbasis bilden die folgenden Gesetze: 1794: 1803: 1804: 1810: 1811: 1813:
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. 3 Bde. Berlin [= ALR] Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen. Wien [= GBV] Code Civil. Paris [= CC] Code Penal. Paris [= CP] Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie. Wien [= ABGB] Strafgesezbuch für das Königreich Baiern. München [= StGB]42
Juristische Altersklassenbildungen betreffen in diesem Korpus nun im wesentlichen vier Klassen von Sachverhalten: – das Alter der Volljährigkeit, d.h. der Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte, soweit diese nicht nach Ständen differenziert sind (so vor allem noch im ALR) – den Zeitpunkt des Erlöschens der elterlichen – im Regelfalle durch den Vater ausgeübten – Gewalt, d.h. des Endes der Beschränkung der Rechtsfähigkeit des Kindes durch elterliche Bevormundung (= Emanzipation) – das Alter einer möglichen Eheschließung der Kinder und altersspezifischer Beschränkungen dieses Rechtes – die Festlegung des Alters der Straffähigkeit und altersabhängiger Strafmilderungsgründe.
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Die beiden französischen Gesetzbücher werden benutzt nach der Übersetzung von 1830: Die fünf franzosischen Gesetzbücher in deutscher Sprache. Frankfurt a.M., Leipzig.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Hier zunächst nun im Überblick die Regelungen zu den ersten drei Punkten: ALR ABGB CC Kind bis 7a) 7b) – Unmündig bis 14a) 14b) – Minderjährig bis 24c) 24b) 21d) bzw. volljährig ab 21g) Ende der väterli- männlich Bei Betreiben 24f) (= mit Volljäh- (= mit Volljährigchen Gewalt bei eines eigenen rigkeit) keit) Volljährigen Gewerbes6) h) Kindern 24f ) 21g) weiblich a) bei Heirat b) durch aus(= mit Volljährig- (= mit Volljährigdrückliche Er- keit) keit) klärung Frühest mögliche männlich Ab 20:i) a) durch Heirat a) ab 20 bei a) durch ausEmanzipation Duldung eigedrückliche Erminderjähriger ner Haushalklärung Kinder tung b) durch Duldung b) durch ausder Betreibung drückliche Ereines eigenen klärungj) Gewerbes weiblich durch Heiratl) a) durch ausb) ab 15 durch drückliche Erausdrückliche klärungj) Erklärungk) b) durch Heiratm) Frühest mögliches männlich 18n) 14ol) 18p) Heiratsalter weiblich 14n) 14o) 15q) r) Einwilligung des männlich bis zur Beendi- bis 24 bis 25s) Vaters zur Ehegungq) der väterlichen Gewalt schließung erforderlich weiblich bis 24 bis 24r) bis 21s) Ansuchen der männlich bis 24r) väterlichen immer *t) immer **u) Einwilligung weiblich erforderlich * Bei Volljährigen ist die Ehe zwar auch ohne die Einwilligung des Vaters gültig, aber der Vater kann das Kind dann »bis auf die Hälfte des Pflichtteils« enterben.v) Die Einwilligung muß lt. ALR auch bei einer 2. Ehe eingeholt werden. w) ** Bei Verweigerung der Einwilligung gilt bei männlichen Kindern bis 30 weiblichen Kindern ab 25 die Anfrage muß zweimal wiederholt werden männlichen Kindern ab 30 weiblichen Kindern ab 25 einmalige Anfrage reicht. Bei Erfüllung dieser Bedingungen hat das Fehlen der Einwilligung keine weiteren juristischen Konsequenzen (im Gegensatz zum ALR!)u) Gliederung der Altersstufen
Schema 2: Volljährigkeit und Heiratsalter43
——————— 43
a: ALR, Theil I, 1. Titel, § 25; b: ABGB § 21; c: ALR, ebd., § 26; d: CC Art. 388; e: ALR, Th. II, 2. Tit., §§ 210–213; f: ABGB § 172; g: CC Art. 488; h: ALR, ebd., §§ 228–
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
249
In keinem der drei Gesetze fallen also die drei Klassen von Daten zusammen. Das Alter der Volljährigkeit ist mitnichten zugleich auch das Alter der vollständigen juristisch-personalen Autonomie. Denn wie einerseits mit Zustimmung der Eltern dem Kinde Rechte schon vorzeitig zugestanden werden, indem es vor seiner Volljährigkeit etwa heiraten darf oder aus der väterlichen Gewalt entlassen werden kann, so bleiben umgekehrt den Eltern Rechte auch über das volljährige Kind vorbehalten. So muß etwa laut ALR und CC auch das volljährige Kind bei den Eltern um Eheerlaubnis ansuchen, wobei das ALR die Mißachtung eines väterlichen Vetos sogar mit der Drohung partieller Enterbung sanktioniert und Pflicht wie Drohung selbst noch auf eine zweite Eheschließung – nach Verwitwung bzw. Scheidung – ausdehnt. Das ABGB kennt zwar keine diesbezügliche Regelung, doch ist auch hier mit der juristischen Mündigkeit keineswegs generelle Autonomie erreicht. Denn auch dann kann das Kind die Berufswahl, die der Vater für es »angemessen« fand und gewählt hat, nicht einfach korrigieren, sondern muß noch immer mit seinem »Verlangen nach einer anderen, seiner Neigung und seinen Fähigkeiten mehr angemessenen Berufsart« beim Vater vorstellig werden, nach dessen Ablehnung des Änderungswunsches das Gericht angerufen werden kann (§ 148): Selbst der Volljährige kann also die Berufsentscheidung des Vaters nicht ohne weiteres rückgängig machen. (Das ALR hatte demgegenüber festgelegt, daß der Wunsch des Kindes nach einer anderen als der ihm vom Vater bestimmten »Lebensart« schon nach dem 14. Lebensjahr dem Vormundschaftsgericht vorgetragen werden könne; das CC enthält keine diesbezüglichen Regelungen). Mindestens ALR und CC überlagern der juristischen Ebene eine moralischsoziale, indem sie, wenn auch nur als folgenloses Postulat, eine abgeschwächte Fortsetzung der elterlichen Autorität kennen, die letztlich erst mit dem Tode der Eltern endet: Auch nach aufgehobener väterlicher Gewalt sind die Kinder den Eltern kindliche Ehrerbietung schuldig. (ALR, II. Theil, 2. Titel, § 249) Das Kind, zu welchem Alter es auch gelangt sein mag, ist seinen Eltern Ehre und Achtung schuldig. (CC, I. Buch, 9. Titel, § 371)
Ausgeschlossen werden somit nicht nur neutrale oder negative Relationen zu den Eltern, sondern auch die meisten Varianten positiver Relationen. Denn während unsere heutige Kultur ein befriedigendes Verhältnis zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern wohl am ehesten als freundschaftliches konzipiert, ist die von den Gesetzen implizierte Relation vielmehr die zwischen sozial tiefer und sozial höher stehenden Individuen: Die Eltern-Kind-Relation wird als Unterschied der
——————— 230; i: ALR, ebd., §§ 214–227; j: ABGB § 174; k: CC Art. 476 und 477; 1: ALR, ebd., §§ 228–229; m: ABGB § 175; n: ALR, Th. II, 1. Tit., § 37; o: Folgerung aus ABGB §§ 21, 48, 49; p: CC Art. 144; q: Folgerung aus ALR, Th. II, 1. Tit., §§ 45–46 und 997; r: ABGB § 49; s: CC Art. 148; t: ALR, Th. II, 2. Tit., § 250: u: CC Art. 151–153; v: ALR, Th. II, 1. Tit., §§ 997–998; w: ALR, ebd., § 46.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
sozialen Hierarchie interpretiert; es handelt sich um das umgekehrte Pendant dessen, was für das Militär gilt. Denn selbst ein volljähriger Offizier gilt nur dann als von der väterlichen Gewalt emanzipiert, wenn »er der väterlichen Hilfe zu seinem Unterhalte nicht bedarf«, d.h. mindestens »zum Rittmeister oder Capitain ernannt wird« (ALR, Th. II, 2. Titel, Zusatz zu § 212.b). Auch die Eheschließung des Militärs ist besonderen Bedingungen unterworfen: ALR und CC verlangen bei Offizieren zudem die Einwilligung des Königs bzw. des Kriegsministers, bei Soldaten und Unteroffizieren die der Vorgesetzten; ABGB verweist pauschal auf die Militärgesetze. Für »Militärpersonen« gibt es also eine Obrigkeit, die einem zweiten Vater äquivalent ist und in die Familie der Untergebenen eingreift: Der hierarchische Unterschied wird im Vater-Kind-Modell interpretiert. Zum zweiten ist festzuhalten, daß in allen Gesetzen, am deutlichsten im ALR, geschlechtsspezifische Unterschiede ausgeprägt sind. Die Emanzipation durch Eheschließung überführt in allen drei Gesetzen das weibliche Kind, selbst wenn es volljährig ist, nur aus der Gewalt des Vaters in die des Gatten. Zum dritten wird der Termin der Volljährigkeit und die Grenze, die er markiert, weitgehend entwertet, da bestimmte Rechte dem Kinde schon vor der Volljährigkeit eingeräumt werden können, bestimmte Rechte umgekehrt auch nach dieser noch vorenthalten bleiben; mit dem Datum der Volljährigkeit ist offenbar kaum etwas automatisch verbunden, was nicht partiell schon vorher zugestanden, partiell noch nachher verweigert werden könnte. So hat denn die Volljährigkeit im ALR für das weibliche Kind praktisch keine, für das männliche Kind nur sehr abgeschwächte Bedeutung. Dem fixierten Zeitpunkt der Volljährigkeit überlagert sich ein Zeitraum mit bestimmtem Anfang und mehr oder weniger unbestimmtem Ende, in dem der Übergang von der elterlichen Abhängigkeit zur Selbständigkeit auf verschiedene Weise, strukturiert nur durch den Willen des Vaters, vollzogen werden kann. Der diskontinuierlichen Grenze zwischen zwei Zuständen überlagert sich ein potentielles Kontinuum allmählicher Transformationen. Straffähig sind in diesen Gesetzen nun auch Altersklassen, denen Mündigkeit nicht eingeräumt wird. Nach dem ALR können Kinder und Unmündige, d.h. Personen bis zum 14. Lebensjahr, nicht bestraft, sondern nur »gezüchtigt« werden. Ohne diesen Zeitraum zu untergliedern, findet das GBV ein Alter bis 20 strafmildernd, aber nicht strafbefreiend (§ 39). Das CP erklärt Minderjährige »ohne Unterscheidungskraft« bis 16 für straffrei; bei »Unterscheidungskraft« wird dieses Alter doch immerhin als strafmildernd behandelt (Art. 66/67). Im STGB bleiben nur Kinder unter 8 Jahren straffrei (Art. 120). Da nun alle Gesetze den Zustand der »Rasenden«, »Wahnsinnigen«, »Blödsinnigen« als strafbefreiend (ALR, CP, STGB) oder strafmildernden (GBV) Umstand anerkennen, konstruieren die Gesetze unter dem Aspekt begrenzter Selbstverantwortlichkeit die Äquivalenz ›Kindheit‹ § ›Raserei‹ / ›Wahnsinn‹ / ›Blödsinn‹, die das ALR explizit ausspricht, indem es die Rasenden und Wahnsinnigen den Kindern, die Blödsinnigen den Unmündigen (im Sinne des Gesetzes) gleichstellt; das ABGB behandelt beide Gruppen im selben Paragraphen (§ 21), das CC setzt diese Geisteskrankheiten generell der
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
251
Minderjährigkeit gleich. Hervorgehoben sei, daß umgekehrt das CC das Alter ab 70 als strafmildernd behandelt (Art. 70); während im STGB »hohes Alter mit Verstandesschwäche« als strafbefreiend gilt (Art. 120): Beide Gesetze tendieren also zu einer Äquivalenz ›Kindesalter‹ | ›Greisenalter‹. 2.2
Exkurs: Die Familialisierung sozialer Differenz in der Goethezeit
Die in den Gesetzen angelegte Äquivalenz zwischen sozialen Hierarchien und Generationenfolge bestätigt sich in der Epoche im übrigen auch in außerjuristischen Kontexten, wo soziale Differenz vorzugsweise in der Metaphorik von Eltern-Kind-Beziehungen umschrieben wird. Die Relationen zwischen Dienstherren und Gesinde werden ebenso familialisiert – allein was hindert uns, das Gesinde selbst zu erziehen, sie als Kinder anzunehmen, sie dann lebenslang, wie die Mitglieder unserer Familie, bei uns zu behalten […].44 Vergesset dabei die wichtigen Pflichten gegen eure Lehrbursche, Dienstleute und Untergebnen nicht. Denn auch hier könnet ihr als wahre Menschenfreunde viel Gutes stiften, und Glückseligkeit befördern. [...] 2. Wenn ihr euch als Vater betrachtet, und als solcher für ihre Glückseligkeit sorget.45 –
wie die Relation zwischen Staatsbürger und ›Obrigkeit‹: So wie ein gutes Kind seinen Vater ehren, und wenigstens äußerlich ihn nicht beschimpfen, verachten, verspotten, sondern mit Zeichen der Achtung begegnen wird, wenn auch dieser Vater, für seine Person, ein höchst schwacher oder fehlerhafter Mensch wäre, so wird auch ein guter Bürger gegen seine Stadtobrigkeit handeln.46
Der jeweilige ›Landesherr‹ erscheint in der Epoche auch unentwegt als ›Landesvater‹ (welche Terminologie peinlicherweise selbst eine demokratische Presse heute noch auf Ministerpräsidenten überträgt), wie ›Gott‹ auch da, wo etwa statt des christlichen Modells der Götterfamilie aus Vater und Sohn, ein deistisches oder pantheistisches praktiziert wird (z.B. Goethes Ganymed), selbstverständlich ein ›Vater‹ ist. Biologischer Vater, Landesvater, Gottvater sind letztlich äquivalent, und die Auflehnung gegen einen von ihnen ist somit der Auflehnung gegen die beiden anderen äquivalent (vgl. z.B. Schillers Die Räuber). Wenn in einem der interessantesten Sozialmodelle der Epoche, den in Realität wie Literatur gleichermaßen beliebten Geheimbünden, gern ranghöhere ›Obere‹ als ›Vater‹, Ranggleiche hingegen als ›Brüder‹ tituliert werden, wird sicher nicht nur das Modell der Mönchsorden abgerufen, sondern dieses zugleich im Rahmen der neuen Familienideologie des 18. Jahrhunderts refunktionalisiert.
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45
46
Adolph von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover 1788. Repr. München 1975, S. 218. Karl Friedrich Bahrdt: Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen 1789. Repr. Frankfurt a.M. 1972, S. 213. Ebd., S. 193.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
252
2.3
Die Lebensalter im anthropologischen Diskurs der Epoche
2.3.1 Altersklassen und Merkmalszuordnungen Im ›anthropologischen‹ Diskurs der Epoche, vor allem in jenen Texten zumal der zweiten Hälfte des Zeitraums, die sich selbst ›Anthropologie‹ nennen, gehören die Altersklassen – neben Geschlecht, Temperament und fakultativ Nation und Rasse – zu den invarianten und fundamentalen Denkkategorien. So gibt etwa Humboldt in seinem Plan einer vergleichenden Anthropologie dieser als Aufgabe vor: Sie muß die bleibenden Charaktere der Geschlechter, Alter, Temperamente, Nationen usw. ebenso sorgfältig aufsuchen, als der Naturforscher bemüht ist, die Racen und Varietäten der Tierwelt zu bestimmen.47
Schon Humboldts Vergleich macht deutlich, daß es um dasselbe taxonomischklassifikatorische Interesse geht, das Botanik und Zoologie seit Linné beseelte. Evident ist ebenfalls, daß diese Kategorien nicht als kulturbedingte, sondern als naturhafte gedacht werden. Außer Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise (Leipzig 1772) und Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Königsberg 1798), die auch sonst vom Standardtyp der GoethezeitAnthropologie abweichen, spielen denn die Altersklassen in allen Texten meines Korpus eine Rolle; nur angemerkt sei, daß auch Antike und Frühe Neuzeit über Altersklassifikationen verfügten und daß Nachfahren der GoethezeitKlassifikationen sich – nach Ausweis von Konversationslexika48 – bis ins späte 19. Jahrhundert gehalten haben. (Einen Überblick über die Systeme der Altersklassifikation, unter Angabe der Lebensjahre, soweit sich die Autoren diesbezüglich festgelegt haben, bietet weiter u. Schema 3). Auf den ersten Blick weisen diese Klassifikationen extreme Divergenzen auf: – Die Klassifikation kann eine eindimensionale (mit nur einer Klassifikationsebene) sein49 oder eine mehrdimensionale mit mehreren hierarchischen
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Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. 1795. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie und Bildungslehre. Frankfurt a.M. u.a. 1984, S. 32–59, hier 43. Z.B. Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Aufl. 16 Bde. Leipzig 1874–1884, Pierers KonversationsLexikon. 7. Aufl. 12 Bde. Berlin, Stuttgart 1888–1893. Z.B. Carl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Dritte vermehrte und verbesserte Aufl. Frankfurt, Leipzig 1778. Repr. Frankfurt a.M. 1972, Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntnis des Menschen. 2 Bde. Leipzig 1784/85, Christian Gottfried Grüner: Physiologische und pathologische Zeichenlehre zum Gebrauche akademischer Vorlesungen. Jena 1794, Georg Wilhelm Consbruch: Diätetisches Taschenbuch für Ärzte und Nichtärzte. Leipzig 1803, Heinrich Steffens: Antropologie. 2 Bde. Breslau 1822, J. E. von Berger: Grundzüge der Anthropologie und Psychologie. Altona 1824, Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim 1846 und ders.: Symbolik der menschlichen Gestalt. Leipzig 1853.
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253
Ebenen.50 Bei letzteren handelt es sich immer um Texte, die dem Denken der idealistischen Naturphilosophie nahestehen; in ihnen finden sich besonders gern binäre oder ternäre Aufgliederungen einer jeweiligen Oberklasse. – Die Klassifikation kann eine sehr unterschiedliche Anzahl von Endtaxa (den jeweils kleinteiligsten Untergliederungen) aufweisen: Jede (vollständige) Klassifikation weist mindestens vier Endtaxa auf, vor allem aber bei der mehrdimensionalen Kategorisierung hingegen bis zu sieben (Grüner: Zeichenlehre; Butte: Grundlinien; Burdach: Anthropologie) oder sogar elf (Burdach: Zeitrechnung). (Autoren, die sich aus psychologischem oder pädagogischem Interesse besonders für Entwicklungen der Kindheit interessieren, untergliedern diese in höherem Umfang als die anderen Texte – darauf gehe ich hier nicht ein.) – Die Datierungen der jeweiligen Altersklassen können erstaunlich variieren: Man vergleiche etwa die von fast allen Texten angesetzte Altersklasse ›Jugend‹. Aus solchen Divergenzen folgt nun zunächst zweierlei: – Diese Klassifikationen haben, auch wo sie den Anspruch auf – etwa medizinische – Wissenschaftlichkeit erheben, offenkundig nur einen sehr geringen Grad an Empirizität: Sie sind nicht Produkt empirischer Forschung, sondern bloßer Spekulation. Demgemäß setzt sich auch keine von ihnen im Untersuchungszeitraum durch. – Diese Klassifikationen haben in den Merkmalen, in denen sie divergieren, sicher nur geringe Konsensfähigkeit gehabt: Sie waren – insoweit – sicher nicht Teil des kulturellen Wissens, weder des allgemeinen noch auch nur des gruppenspezifischen der ›Gebildeten‹. Auf den zweiten Blick aber zeichnen sich deutlich charakteristische Invarianten ab: und nur in dem, was sie teilen, können diese Theorien Teil des kulturellen Wissens gewesen sein. Solche Invarianten, von denen angenommen werden darf, daß sie Elemente des (mindestens eines gruppenspezifischen, wo nicht gar des allgemeinen) kulturellen Wissens sind, wären nun: (1) Ein- wie mehrdimensionale Systeme weisen mit wenigen Ausnahmen eine Klassifikationsebene auf, bei der das Gesamtleben in vier Altersklassen zerlegt ist: ›Kindheit‹ – ›Jugend‹ – ›Mannesalter‹ – ›Greisenalter‹.
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Z.B. Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Lehrbuch der Pädagogik und Didaktik. Heidelberg 1805, Wilhelm Butte: Grundriß der Arithmetik des menschlichen Lebens. Landshut 1811, Karl Friedrich Burdach: Die Zeitrechnung des menschlichen Lebens. Leipzig 1829, W. Sihler: Die Symbolik des Antlitzes. Berlin 1829, Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Anthropologie. 2., vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1831, Karl Friedrich Burdach: Anthropologie für das gebildete Publicum. Stuttgart 1837, 2., vermehrte Aufl. Stuttgart 1847.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
Schema 3: Das System der Altersstufen
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Eine wirkliche Ausnahme bildet nur Butte: Grundlinien (1811); bei Grüner: Zeichenlehre (1794), Berger: Grundzüge (1824), Carus: Symbolik (1853) ist eine solche Viergliedrigkeit unverkennbar angelegt. Nach Ausweis der Konversationslexika (Brockhaus 1833ff., Meyer 1874ff., Pierer 1888ff.) ist diese viergliedrige Klassifikation im nachgoethezeitlichen 19. Jahrhundert deutlich Element des allgemeinen Wissens; so notiert Brockhaus zu den ›Lebensaltern‹: Man nimmt meist vier an: 1) Die Kindheit [...]. 2) Das Jünglings- und Jungfrauenalter, oder das Alter der Mannbarkeit (Pubertät) [...]. 3) Das Lebensalter der Erwachsenen, oder das sogenannte Mannesalter [...]. 4) Das Alter (im engeren Sinne) [...].51
Solche Viergliedrigkeit darf insbesondere in der Phase des Idealismus bei dessen bekannter Präferenz für binäre und vor allem ternäre Klassenbildungen erstaunen: Fast alle Texte, die sich zu den Altersklassen näher äußern, unterlegen der viergliedrigen Taxonomie der Phasen noch eine dreigliedrige der Entwicklung: ›Zunahme‹ – ›Stillstand‹ – ›Abnahme‹ der physischen und psychischen Fähigkeiten. Wenn die Phasengliederung dennoch vierteilig bleibt, werden wir vermuten dürfen, daß dies deshalb der Fall ist, weil diese Theorien eine solche viergliedrige Klassifikation schon vorgefunden haben. Mit anderen Worten: diese Theorien geben nichts anderes als eine scheinwissenschaftliche Theoretisierung eines vortheoretischen und vorwissenschaftlichen kulturellen Alltagswissens: und aus diesem allein beziehen sie ihren Plausibilitätsanspruch. Daß die Viergliedrigkeit eine Trivialität des Alltagswissens gewesen ist, belegen die frühen Texte von Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes (1778) und Wezel: Versuch über die Kenntnis des Menschen (1784/85), die für ihre Klassifikation noch keinen spezifischmedizinischen Wahrheitsanspruch erheben. (2) Die jeweils unterschiedenen Phasen werden um so genauer datiert, je höher bezüglich ihrer der explizite Wissenschaftlichkeitsanspruch ist: Burdachs früher Text (Die Zeitrechnung des menschlichen Lebens, 1829) setzt die Grenzen nicht nur auf Jahre, sondern auf Wochen und Tage genau an, was er im späteren Text (Anthropologie für das gebildete Publicum, 1837) implizit widerruft. Solche – offenkundig durch keine Empirie gestützte – Genauigkeitsfiktion illustriert zweierlei invariante Implikationen dieser Theorien:
——————— 51
Brockhaus: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations=Lexikon). 8. Aufl. 12 Bde. Leipzig 1833–1837, hier Bd. I, S. 215.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
257
(a) Die Periodisierung des Lebens wird als primär ›naturhaft‹ und ›naturgewollt‹, nicht als durch soziokulturelle Variable bedingt, gedacht: Nur dann kann es solche eindeutig fixierbaren Grenzdaten der Phasen geben. Dem ethnologischen Wissen versuchen die Autoren dabei durchaus gerecht zu werden: Ihre Datierungen sollen gelten für ›mittleres Klima‹ und ›europäischen Kulturzustand‹, und sie berechnen gegebenenfalls auch genau, um wieviel früher im tropischen Klima, um wieviel später im arktischen Klima nach ihrem System z.B. die Pubertät eintritt. Solche genaue Datierbarkeit liegt auch dem – wiederum aus älterem außerwissenschaftlichen Wissen stammende – Konzept der ›Stufenjahre‹ zugrunde: Stufenjahre: jedes siebente Jahr des menschlichen Lebens, weil in demselben allemal eine merkliche Veränderung in den Körpern vorgehen soll, daher eine solche Zahl von sieben Jahren auch eine Stufe genannt wird.52 Stufenjahre heißen diejenigen Jahre, welche von den Alten [= Antike] und auch noch gegenwärtig für gefährlich gehalten werden, weil mit ihnen sich eine völlige Veränderung in der körperlichen Beschaffenheit des Menschen zutragen soll. Man nimmt für das Leben des Mannes jedes 9., für das Leben des Weibes jedes 7. Jahr als ein Stufenjahr an; das 49. und 63. aber als große Stufenjahre. Die Furcht vor den Stufenjahren ist jedoch nach Ausweis der Sterbelisten ohne Grund.53
Die Tilgung dieses Konzepts aus dem kulturellen Wissen läßt sich wiederum aus den Konversationslexika des späten 19. Jahrhunderts ablesen: Klimakterische Jahre (Stufenjahre): diejenigen Lebensjahre, in welchen der menschliche Organismus scharf ausgeprägten, gewissermaßen stoßweise auftretenden Veränderungen unterworfen sein soll. Solche stoßweise Veränderungen kommen jedoch genaugenommen nicht vor, alle Umwandlungen und Entwicklungsvorgänge am Organismus geschehen vielmehr allmählich.54
(b) Daß nun diese Datierungen Zeitpunkte (und nicht Zeiträume) angeben, daß sie sowohl lückenlos aneinandergrenzen als auch sich nie überschneiden, ist seinerseits Indiz einer – auffälligen – von diesen Theorien implizierten Behauptung: Die Phasen werden im Grunde – wider alle Empirie, aber unzweideutig – als disjunkte Klassen, als in sich synchron-zustandshaft, nicht als diachron-prozessual gedacht: als würde an der Grenze zweier solcher Klassen das menschliche Leben durch ein punktuelles Ereignis von einer ›Stufe‹ auf die andere gehoben, als fände nicht ein mehr oder weniger (dis)kontinuierlicher Prozeß statt. Dem dreigliedrigen Entwicklungsmodell der Epoche entspräche in einem Koordinatensystem eine Kurve; dem Phasenmodell entspricht eine ›Treppe‹:
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53 54
Johann-Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Leipzig 1793, Bd. IV, Sp. 470. Brockhaus (Anm. 51), Bd. X, S. 755f. Meyers Konversationslexikon (Anm. 48), Bd. X, S. 43.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
258 Entwicklungsmodell
Altersklassenmodell
Zustand
Zustand
Jahre
Jahre
Schema 4: Entwicklungs- vs. Stufenmodell
Das Stufenmodell der Altersklassen wird gewissermaßen wider besseres eigenes Wissen praktiziert: […] aber die Grenzen des Anfangs und Endes [des Mannesalters] kann man unmöglich mit Gewißheit bestimmen; weil das männliche Alter bei einigen Menschen früher, bei anderen später anfängt; und ebenso ist es auch mit dem Ende beschaffen.55 Nur darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Natur nicht scharf abgrenzt, sondern durch Übergänge eines in das andere hinüberfließen läßt, […].56 Wenn der Eine in den 60er oder 70er Jahren noch eine große Frischheit des Lebens [...] sich erhalten hat, so ist der Andere vielleicht schon in den 50er Jahren völlig als Greis bezeichnet [...].57
(3) Entgegen dem Wissen der phaseninternen Dynamik wird also eine phaseninterne Konstanz postuliert: und das wiederum ist Voraussetzung dafür, eine Korrelation dieser als biologisch gedachten Klassen mit psychosozialen Merkmalen zu postulieren. Jeder Altersklasse ist eindeutig ein psychosozialer Zustand – wiederum ›naturhaft‹ – zugeordnet. Am relativ besten gelingt den Theorien eine solche Korrelation, wenn die Zahl der Endtaxa vier nicht überschreitet:
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57
Flögel 1778 (Anm. 49), S. 138. Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Lehrbuch der Pädagogik und Didaktik. Heidelberg 1805. Nachdr. der 3. Aufl. 1835 Paderborn 1968, S. 57. Carl Gustav Carus: Symbolik der menschlichen Gestalt. Leipzig 1853. Nachdr. der 2. Aufl. 1858 Darmstadt 1962, S. 394.
259
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte KINDHEIT
JUGEND
ZUNAHME ALLER KRÄFTE
REIFES ALTER
GREISENALTER
GLEICHGEWICHT HÖHEPUNKT STILLSTAND
ABNAHME ALLER KRÄFTE
(=Ausbildung: allgemein)
(= Ausbildung: speziell)
»Sinnlichkeit« Gedächtnis Anschauung
Einbildungskraft/ Phantasie
Verstand Vernunft Urteilskraft
[Weisheit] [Erinnerung]
[nicht sexuell (= vorsexuell)]
Pubertät Leidenschaft Liebe
Geschlechtsreife Zeugungskraft Liebesgenuß
[nicht sexuell (= nachsexuell)]
Plan [Selbstfindung]
Tat/Erwerb [Selbstbesitz]
Besitz/Festhalten
[Zukunftsbezogen]
[Gegenwartsbezogen]
[Vergangenheitsbezogen]
[Zeitlos]
[Empfänglichkeit (Rezeptivität)] [Selbsttätigkeit [Berufsausbildung] Kinderstatus
(Produktivität)] [Berufsausübung] Elternstatus (= Familiengründung)
Großelternstatus
Schema 5: die Merkmale der Altersstufen58
Ich hebe einige zentrale Aspekte und ihre wechselseitigen Korrelationen hervor. Die Kindheit wäre demnach durch das Vorherrschen der ›Sinnlichkeit‹ im goethezeitlichen Wortsinne, d.h. der Fähigkeiten und Erfahrungen, die unmittelbar auf den Sinnesorganen basieren, charakterisiert: insbesondere also durch die reproduktiven Fähigkeiten Wahrnehmung und Gedächtnis. Der Unmittelbarkeit der Erfahrung entspricht die (relative) Zeitlosigkeit der Existenz. Die Kindheit gilt als vorsexueller Zustand: Wenn nicht von außen – d.h. ›gewaltsam‹ und ›widernatürlich‹ – erweckt, kennt sie keine Sinnlichkeit im sexuellen Sinne, worin die Anthropologen auch mit allen Pädagogen, und besonders den Onanietheoretikern,59 übereinstimmen; eine geschlechtsspezifische Entwicklung des Kindes lassen vor allem die Pädagogen gleichwohl gern sehr früh einsetzen. Der Jugend entspricht in diesem System eine noch an die ›Sinnlichkeit‹ gebundene Kreativität, die sich im Vorherrschen der Phantasie/Einbildungskraft manifestiert. In dieser Fähigkeit wird zugleich die zeitlose Gegenwärtigkeit der
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59
Merkmale in »[...]« sind fakultativ: Sie treten nur in einigen Theorien auf. Von den Untergliederungen der Kindheit sehe ich wiederum ab. Vgl. etwa Johann Fridrich Oest: Höchstnöthige Belehrung und Warnung für Jünglinge und Knaben, die schon zu einigem Nachdenken gewöhnt sind. Wolfenbüttel 1787; siehe auch das informative Nachwort im Repr. München 1977 von Donata Elschenbroich sowie Wernz 1993 (Anm. 1).
260
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Kindheit überwunden und es wird im gedachten Entwurf eine erhoffte Zukunft vorweggenommen: eine Zeit also auch des Planens. Sie ist zugleich eine Zeit der besonderen emotionalen Intensität: der Leidenschaft im allgemeinen und der Liebe im besonderen, die aber ihrerseits noch realisiert werden kann bzw. darf. Diesem Zustand der Erwartung entspricht die Erfüllung im Mannesalter, das durch die Realisierung der Pläne und Wünsche der Jugend im Rahmen des jeweils Möglichen, durch Tätigkeit im Beruf und durch Liebesgenuß in der Ehe charakterisiert wird. Wie in diesem Alter die leidenschaftslos abstrahierenden und die Realität nicht, wie die Phantasie, ergänzenden, verbessernden, ersetzenden intellektuellen Fähigkeiten als vorherrschend gedacht werden, so ist z.B. leidenschaftliche Liebe für dieses Alter nicht vorgesehen, und die eheliche Liebe wird somit in Opposition zur jugendlichen Liebe gesetzt. Der Zustand des Mannesalters wird als der eines Gleichgewichts der Kräfte beschrieben, jede Leidenschaft somit umgekehrt als eine Einseitigkeit konzipiert, die nur im Zustand des Ungleichgewichts in der jugendlichen Transformations- und Bildungsphase zulässig ist. Der Zustand des Alters schließlich wird faktisch nur negativ konzipiert: durch Abnahme und Verlust in jedem Bereich. Das Alter wird etwa durch Verlust der Zeugungskraft, durch Beschränkung der kulinarischen Freuden, durch emotionale Verarmung und Erstarrung, durch Abnahme aller intellektuellen Fähigkeiten, durch physische Schwäche, Gebrechen und Krankheiten charakterisiert. Dem Alter bleibt also faktisch kein ihm spezifisches psychisches Merkmal reserviert: Es ist durch Negation definiert. Positiv wird allenfalls und nur vereinzelt die ›Weisheit‹ genannt; aber es bleibt unspezifiziert, worin denn dieses Merkmal bestehe und worin sein Wert liege. Somit bleibt im Alter in diesem System nur das Festhalten an erworbenem Besitz, sei er nun materiell oder intellektuell, weshalb ihm denn auch gelegentlich Geiz und rigoroser Konservativismus zugeschrieben wird. In temporaler Hinsicht ist also die Gegenwart unerfreulich und die (diesseitige) Zukunft hoffnungslos: Je nach ideologischer Position schreiben daher die Autoren dem Alter entweder die Orientierung auf eine (diesseitige) Vergangenheit durch vorherrschende Erinnerung oder die Orientierung auf eine (jenseitige) Zukunft in metaphysischer Hoffnung zu. Man sieht: Es sind vor allem die Jugend und das Alter, deren Konzeption sich am meisten in unserer Kultur verändert haben. Der Mediziner Hartmann resümiert die wichtigsten Merkmale der Altersstufen, wobei nochmals deutlich wird, daß man an das Greisenalter keine spezifischen Merkmale zu vergeben hat; Hartmann erklärt: […] daß man das kindliche Alter das Alter der spielenden Sinnlichkeit, das Jünglingsalter das Alter der üppigen Phantasie, das männliche Alter das Alter der ernsten Vernunft nennen kann. Im hohen Greisenalter neigt sich der lichte Tag [...] wieder zur Dämmerung hin.60
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Philipp Carl Hartmann: Der Geist des Menschen in seinen Verhältnissen zum physischen Leben oder Grundzüge zu einer Physiologie des Denkens. 2. vermehrte Aufl. Wien 1832, S. 53.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
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2.3.2 Pubertät und Sexualität: pseudomedizinische Normierungen Einen zentralen Faktor dieser Altersklassen bildet nun die Sexualität. Die Theoretiker definieren ›Jugend‹ generell als Phase der Pubertät, in der sich die Sexualität entwickle, wobei viele Autoren keine näheren Datierungen der Pubertät vornehmen (so Flögel, Wezel, Grüner, Schwarz, Steffens, Berger, Heinroth, Carus): Diese Lücke kann aber durch andere – wiederum vorwiegend medizinische – Texte geschlossen werden. Die meisten Autoren betonen dabei, daß ›Reife‹ für den Sexualakt nicht mit dem Eintreten der Pubertät zusammenfalle; manche datieren zudem das Ende der männlichen bzw. weiblichen Fruchtbarkeit. (Einen Überblick bietet u. Schema 6) Trotz der medizinischen Herkunft der meisten Autoren divergieren die Daten wiederum in erstaunlichem Ausmaß: wieder Indikator dafür, daß es sich um nicht empirisch fundierte Setzungen handelt. Das Alter des Eintritts in die Pubertät wird im allgemeinen höher angesetzt als das minimale Heiratsalter der Gesetzgebungen (vgl. Schema 3); da nun zudem postuliert wird, die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr sei mit dem Eintritt der Pubertät noch keineswegs erlangt, wobei das Erlangen dieser Fähigkeit auffallend mit dem von den deutschen Gesetzen angenommenen Alter der Volljährigkeit korreliert, wird man annehmen dürfen, daß es in diesen Theorien dominant um repressive Normierung von Sexualität geht. Burdach formuliert, daß »mit dem Erwachen der Zeugungskraft noch nicht die Zeugungsreife gegeben« sei,61 und noch Meyers Konversationslexikon erklärt 1874 zum Jugendalter: In ihm wird das Zeugungsvermögen nur vorbereitet, um im folgenden Zeitraum erst eigentlich hervorzutreten, und daher beginnt auch die wirkliche Reife erst am Ende derselben.62
——————— 61 62
Anthropologie für das gebildete Publicum. Stuttgart 21847, S. 567. Meyers Konversationslexikon (Anm. 48), Bd. I, S. 463.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
262 Eintritt der Pubertät
m = männlich w = weiblich
m
KANT 1786
16-17
LODER 1793
18/19
w
Abschluss der Pubertät Ende der Fruchtbarkeit bzw. Reife zum Geschlechtsverkehr m
w
m
w
60 oder später
45
Natur: 16-17 Kultur: 26-27 15
FORMEY 1796
15-17
HUFELAND 1797
gegen 50 nicht vor 20
nicht vor 18
Minimales Heiratsalter:
RAMBACH 1801
nicht vor 24
nicht vor 18
25
18
14
CONSBRUCH 1803
14/15
etwas früher
OKEN 1805
10-17
JEAN PAUL 1807
46-50 60 oder später
gegen 50
63
49
mit Eintritt der Pubertät
13/14
WERTHEIM 1810
12-14 oft noch früher
BUTTE 1811
18
ANONYMUS 1816
15
14
mit Eintritt der Pubertät 20-24
18-22
Verkehr nicht zu empfehlen: gegen 50
MARX 1824
nach 16
CASPER 1825 16
14
oft noch früher
12-17/18
16
14
15-20 a) 17 b)
12-15 14
BURDACH 1837
MEYER 1876 PIERER 1888
gegen 40 nach 40
um 15
BURDACH 1829 ALBRECHT
oft schon mit 14
a) b)
15-16
13-15
24
21
23
20
21-25
18-22
46
ab 50 Schwächung
45-50
50 oder später
43 oder Mitte 40 45-50
Schema 6: Lebensalter und Sexualität63
——————— 63
Die Angabe von Ortsnamen bedeutet, daß es sich um eine der ›medizinischen Topographien‹ der Epoche handelt. In diesen Fällen beanspruchen die Daten Gültigkeit nur für den genannten Ort.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
263
Während also die Heiratsaltersregelungen der Gesetze offenkundig eher von sozialer Praxis und Praktikabilität bestimmt sind, setzen diese pseudowissenschaftlichen anthropologischen Diskurse Normen des ideologisch Wünschenswerten, die als naturgewollt ausgegeben werden. ›Medizin‹ dient pseudowissenschaftlicher Legitimation kultureller Sexualnormen und tritt in die früheren Funktionen der Theologie ein. So hat man sich denn in der Jugend generell der sexuellen Betätigung zu enthalten, wobei nur Oken und Butte signifikante Ausnahmen darstellen. Das Alter frühestzulässiger Sexualität wird somit soweit als möglich hinausgeschoben. Da der medizinisch-sexologische Diskurs im Regelfalle nicht nur die Onanie, sondern alle nicht-eheliche Sexualität für gesundheitsschädigend erklärt, wird also Beginn von Sexualität mit Eheschließung gleichgesetzt: Diese aber wiederum erscheint selbstverständlich an die Bedingung ökonomischer Selbständigkeit gebunden, so daß kein Recht auf Sexualität hat, wer nicht eine Familie ernähren kann. Was der anthropologische Diskurs im Regelfalle verschleiert, wird bei Kant ausgesprochen: Die Epoche der Mündigkeit, d.i. des Triebes sowohl, als Vermögens, seine Art zu erzeugen, hat die Natur auf das Alter von etwa 16 bis 17 Jahren festgesetzt: ein Alter, in welchem der Jüngling im rohen Naturzustande buchstäblich ein Mann wird; denn er hat alsdann das Vermögen, sich selbst zu erhalten, seine Art zu erzeugen, und auch diese samt seinem Weibe, zu erhalten. [...]. Im kultivierten Zustande hingegen gehören zum letzteren viele Erwerbsmittel, sowohl an Geschicklichkeit, als auch an günstigen äußeren Umständen, so daß diese Epoche, bürgerlich, wenigstens im Durchschnitte um 10 Jahre weiter hinausgerückt wird. [...]. Hieraus entspringt nun dem Naturzwecke durch die Sitten, und diesen durch jenen, ein unvermeidlicher Abbruch. Denn der Naturmensch ist in einem gewissen Alter schon Mann, wenn der bürgerliche Mensch (der doch nicht aufhört, Naturmensch zu sein) nur Jüngling, ja wohl gar nur Kind ist; denn so kann man denjenigen wohl nennen, der seiner Jahre wegen (im bürgerlichen Zustande) sich nicht einmal selbst, viel weniger seine Art erhalten kann, ob er gleich den Trieb und das Vermögen, mithin den Ruf der Natur für sich hat, sie zu erzeugen.64
Hier ist auch ausgesprochen, daß das entworfene Lebenslaufmodell, das zur allgemeinen Norm gemacht wird, letztlich gruppenspezifisch ist: Es ist offenkundig ein Modell bürgerlicher Schichten mit langer Ausbildungsphase des männlichen Jugendlichen; die pseudomedizinischen Argumente gegen frühe Sexualität erlauben dann seine Ausweitung auf tiefere wie höhere soziale Schichten. Nur das ›Mannesalter‹ ist also der Lebensabschnitt legitim praktizierter Sexualität. Aber auch für diese Phase wird die Sexualität mit medizinischen Geboten umstellt, die Frequenz wie Praktiken pseudowissenschaftlich zu normieren suchen und dringlichste Mäßigkeitsempfehlungen aussprechen.65 Auch für den Mann
——————— 64
65
Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). In: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt a.M. 1964, S. 82–102, hier S. 94. So z.B. Gottfried Wilhelm Beckers Der Rathgeber vor, bey und nach dem Beyschlafe oder faßliche Anweisung, den Beischlaf so auszuüben, daß der Gesundheit kein Nachtheil zugefügt [...].1804.
264
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
erscheint Sexualität als gefährlicher Kräfteverbrauch: nicht als etwas, was guttut, sondern was schwächt – »Schwächung« ist denn auch eine der rekurrenten Metaphern für Schwängerung, wie denn Onanie als »Selbst-schwächung«66 beschrieben wird. Alle Akte der Sexualität erscheinen als Störung einer Homöostase des biologischen Systems, wo der ›Output‹ gefährlich den ›Input‹ überwiegt. Der medizinische Diskurs definiert in der Tat infolge seiner normlegitimierenden Absichten ›Sexualität als Krankheit‹67 Wo also schon der ›Reife‹ des ›Mannesalters‹ unendliche Vorsicht empfohlen wird, kann das ›(Greisen-)Alter‹ somit nur, wie die Kindheit, als asexuell konzipiert werden; Sexualität sollte folglich vor dem biologischen Erlöschen der Zeugungskraft bzw. Fruchtbarkeit aufgegeben werden – der Anonymus von 1816 empfiehlt die Einstellung des Betriebs für den Mann um 50, für die Frau um 40. Das ›(Greisen-)Alter‹ wird denn auch – so schon Flögel in seiner Geschichte des menschlichen Verstandes (1778) und noch Heinroth im Lehrbuch der Anthropologie (1831) – als ›andere‹, ›zweite Kindheit‹ – mit Jean Pauls Worten: deren »böser Nachdruck« (1807, S. 813) – metaphorisiert: Das höchste Alter kehrt zur Kindheit zurück.68
Gemäß solcher metaphorischer Äquivalenz – deren Verwendung so sehr durch präsupponierte Selbstverständlichkeit charakterisiert ist, daß wir wiederum ein vorgängiges Substrat im vortheoretischen Wissen annehmen dürfen – postuliert Butte, dem dabei freilich selbst bange wird, ein Erlöschen der Volljährigkeit, das er mit dem Erlöschen der Zeugungskraft (plus einem Zuschlag von 9 Jahren) korreliert. Der Umgang mit Sexualität erscheint geradezu als entscheidende Variable, von der die Lebensdauer abhängt: Die eleganteste Theorie, die die ideologischen Bedürfnisse der Epoche strukturell und funktional korreliert, hat vielleicht Christoph Wilhelm Hufeland in der Makrobiotik 1796 formuliert. Ihm zufolge gäbe es eine mystisch-vage Kategorie der ›Lebenskraft‹ (vis vitalis), die für jedes Individuum begrenzt sei, woraus – im Konsens auch mit den anderen Theoretikern – ein maximales Lebensalter folgt, das bei ihm eine naturgegebene Größe ist, deren (Nicht-)Ausschöpfung aber der Autonomie des Individuums anheim gegeben ist. Für diese begrenzte Menge an ›Lebenskraft‹ würde gelten: Bei jeder Äußerung derselben geschieht eine Entziehung von Kraft und wenn diese Äußerungen zu stark oder zu anhaltend fortgesetzt werden, so kann völlige Erschöpfung die Folge sein.69
——————— 66
67
68
Z.B. Oest 1787 (Anm. 34), S. 21, 24, 57, 94 usw. Bei Oest ist Onanie sogar dem Selbstmord äquivalent (S. 54) und er beschreibt beide folgerichtig in derselben Metaphorik: »Hand an sich selbst zu legen« (S. 97). So Wernz 1993 (Anm. 1), die die Normierungen der Sexualtheoretiker und ihre biologisch-psychologischen Konstrukte rekonstruiert und interpretiert hat. Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Anthropologie. 2. vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1831, S. 164.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
265
Das von ihm explizit postulierte Gesetz der umgekehrten Proportionalität von Intensität und Extension des Lebens scheint in Medizin und Moral der Epoche überall implizit zugrunde zu liegen: Die Energie des Lebens wird also mit seiner Dauer im umgekehrten Verhältnis stehen, oder je mehr ein Wesen intensiv lebt, desto mehr wird sein Leben an Extension verlieren.70
Jeder Genuß von ›Sinnlichkeit‹ im goethezeitlichen Wortsinne, insbesondere der der Sexualität, reduziert also die Menge verfügbarer Lebenskraft und verkürzt das Leben: und somit wäre die ideologische Norm pseudomedizinisch begründet. Asexuelle ›Kindheit‹ bzw. sexuell enthaltsame ›Jugend‹ sind in diesen Theorien nicht nur Recht, sondern geradezu Pflicht und dürfen nicht verkürzt werden. Man macht sich daher gern Buffons Theorem einer Proportionalität von Entwicklungsund Lebensdauer zu eigen, das bestens mit Hufeland kompatibel ist: Doch eben dieser stufenweise langsame Gang führet ihn zum langen Leben; denn es ist gewiß, daß die Dauer eines Geschöpfes desto länger ist, je langsamer seine Entwicklungen geschehen.71
Auch dieses Theorem scheint aber ein vorgängiges Substrat im kulturellen Alltagswissen gehabt zu haben, wie Flögels sprichworthafte Generalisierung vielleicht verrät: »...was zeitig wächst, ist nicht von langer Dauer«.72 Laut Hufeland gilt im Tierreich, daß der Zeitraum bis zur Pubertät den fünften Teil der gesamten Lebensdauer ausmache.73 Sofern man auf der Basis der gesamten Entwicklungszeit rechnet, ergibt sich freilich sofort ein neues Problem, da diese geschlechtsspezifisch angesetzt wird; Schwarz erklärt demnach: Die Jugend des männlichen [Kindes] nimmt ein Dritteil des Menschenlebens ein (25 Jahre), während der weiblichen etwa nur ein Vierteil der Lebenszeit (18 Jahre) gestattet ist,74
womit sich ein maximales Alter von etwa 72 bis 75 ergäbe. Das Konzept des maximalen Lebensalters ist jedenfalls mehrfach fundiert; die deutschen Systeme haben daher keinen Platz für Überlegungen, wie sie Condorcet 1795 angestellt hat, als er darauf hinwies, man wisse nicht, ob es eine obere Grenze des Lebens gäbe und wo sie läge.75 Die Frage bleibt nun freilich, warum denn ein hohes Alter an-
——————— 69
70 71
72 73 74 75
Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik, oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Jena 1796. Nachdr. der 5. Aufl. 1823 Leipzig o.J., S. 51. Ebd., S. 55. Gottfried Immanuel Wenzel: Unterhaltungen über die auffallendsten Geistererscheinungen, Träume und Ahndungen. o.O. 1800, S. 102. Flögel 1778 (Anm. 49), S. 127. Hufeland o.J. [1823] (Anm. 69), S. 76. Schwarz 1805 (Anm. 56), S. 58. Jean-Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain. 1795). Frankfurt a.M. 1976, S. 220.
266
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
strebenswert sein soll, wenn mit ihm Verfall – ›zweite Kindheit‹ – korreliert ist: Nur mehr simple Todesfurcht – ein Indiz des Verlustes religiöser Gewißheit – könnte den Wunsch nach extensivem Leben erklären. Eine Teilmenge der Theorien versucht sich denn notgedrungen an einer Aufwertung des Greisenalters (z.B. Christian Friedrich Sintensis: Elpizon oder über meine Fortdauer im Tode. Danzig 1795–1804; Burdach: Anthropologie; Hufeland: Makrobiotik): In diesen Varianten wird angenommen, daß die ›zweite Kindheit‹ aus früherer Nicht-Einhaltung der Normen der Mäßigkeit und Enthaltsamkeit resultiere, während Normerfüllung, bei allem physischen Niedergang, einen positiven ideologischen Wert – klugerweise unspezifiziert bleibende ›Weisheit‹ – hervorbrächte. In der bloßen Verfallskonzeption des hohen Alters würde der menschliche Lebenslauf einem zirkulären Modell gehorchen, in der Weisheitsvariante fände zumindest eine Annäherung an das lineare Modell statt, das die Entwicklungs- und Fortschrittskonzeptionen von Aufklärung und Idealismus beherrscht. 2.3.3 ›Jugend‹ als Phase der ›Entwicklung‹ und der ›Gefährdung‹ In Hinblick auf die Erzählliteratur der Goethezeit ist zweifellos ›Jugend‹ die relevanteste Altersklasse, weshalb ich auf diese näher eingehe. Es sind in den Texten zwei Eigenschaften, die als dominante Merkmale von ›Jugend‹ erscheinen: ›Jugend‹ wäre charakterisiert durch die Prävalenz der Phantasie (›Einbildungskraft‹) und der Liebesbereitschaft. Die nicht hinreichend rational kontrollierte Neigung zur Phantasietätigkeit mache Jugend »leichtgläubig«76 und »zur Schwärmerei geneigt«77 – noch der Meyer von 1878 weiß von der »sehr häufigen Neigung zur Schwermut und zur Schwärmerei« zu berichten.78 ›Schwärmerei‹ ist in goethezeitlicher Anthropologie eine der zentralen Bedrohungen des Menschen, ob ihr Gegenstand nun ein erotischer, politischer, religiöser bzw. okkultistischer ist: Sie droht immer, in ›Wahnsinn‹,79 also Selbstverlust, überzugehen: Die Periode der Phantasie ist deshalb ganz besonders die Periode des Irrtums, und oft entspringen auf dieser Stufe Irrungen, welche der ganzen späteren Entwicklung eine besondere Färbung, eine gestörte Richtung mitgeben.80
Aber auch die Liebesneigung erweist sich als nicht zuletzt gefährlich: In diesem Alter blüht die Liebe, die Quelle der seligsten Gefühle und der bittersten Pein, die Triebfeder der edelsten Handlungen und der schrecklichsten Verirrungen.81
——————— 76 77 78 79 80 81
Flögel 1778 (Anm. 49), S. 145. Burdach 1847 (Anm. 50), S. 566. Meyers Konversationslexikon (Anm. 48), Bd. XIII, Art. »Pubertät«, S. 325. Hierzu auch Vf.: Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde, in diesem Band, S. 69–110. Carl Gustav Carus: Psyche. Pforzheim 1846, S. 180. Brockhaus 1833 (Anm. 51), Bd. I, S. 217.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
267
Das Jugendalter erscheint als Phase der Neigung zur Normverletzung: Das scheint recht das Alter der Sünde zu sein und wird von allen Pietisten als das sündlichste Alter angesehen. Freilich ist dies ein gefährliches Alter, und es gehen viele darin verloren, – wie es denn überhaupt eine Entwicklungsperiode ist [...].82
›Jugend‹ erscheint als Gefahr für sich und andere, und diese Gefährlichkeit korreliert die Kultur deutlich mit der sich manifestierenden Sexualität und dem sozial verordneten Befriedigungsverzicht, weshalb sie denn mit der vom Mannesalter fast normativ erwarteten Eheschließung endet: ›(Jüngling | Ehelosigkeit | Gefahr)‹ vs. ›(Mann | Ehe | Nicht-Gefahr)‹ Diese Korrelation hat ganz offenkundig politische Aspekte. Früh schon beschwert man sich über politische Unruhe durch Jünglinge – aber man kennt auch das Heilmittel: An dem Altar des Hymens legten sich auf einmal der Aufruhr in ihren Sinnen und zugleich in dem Staate.83 Was ist der Mann, solange er ehelos bleibt? Ein einsames egoistisches Wesen, das an niemand und an dem niemand hängt. [...]. Der Mann verheiratet sich, und sein Charakter wird ruhiger und bestimmter, der Egoismus seines Herzens ist gemildert und seine Familie knüpft ihn näher an den Staat.84 Glückliche Ehen sind die wichtigsten Grundfesten des Staats und der öffentlichen Ruhe und Glückseligkeit. Ein Unverehelichter bleibt immer mehr Egoist, unabhängig, unstet, von selbstsüchtigen Launen und Leidenschaften beherrscht, weniger für Menschheil, für Vaterland und Staat, als für sich selbst interessiert: das falsche Gefühl der Freiheit hat sich seiner bemächtigt [...]. Was kann wohl mehr zu Neuerungen disponieren, als die Zunahme der ehelosen Staatsbürger? Die in der Ehe notwendige Abhängigkeit von der anderen Hälfte gewöhnt unaufhörlich auch an die Abhängigkeit vom Gesetz, die Sorgen für Frau und Kind binden an Arbeitsamkeit und Ordnung im Leben; durch seine Kinder ist der Mann an den Staat festgeknüpft |...].85
Die unbefriedigte Sexualität der Jugend bedroht also nicht nur das moralische Normensystem, sondern gar die politische Ordnung: Ehelosigkeit prädisponiert zu Revolution. Offenbar kollidieren in diesem Denk- und Wissenssystem unvereinbare Bedürfnisse: ein Bedürfnis politischer Domestizierung, dem frühe Eheschließung ratsam schiene, und ein Bedürfnis sexueller Domestizierung, das maximale Einschränkung und Verschiebung der Triebbefriedigung verlangt. Wenn eine solche Art als gefährlich gedachte ›Jugend‹ dennoch maximal ausgeweitet wird und nicht verkürzbare Pflichtübung ist, dann dominiert sichtlich das soziale Bedürfnis der Triebkontrolle.
——————— 82 83 84
85
Ernst Moritz Arndt: Geist der Zeit. 4 Bde. Berlin 1806–1818. Bd. IV, S. 509f. Leonhard Meister: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung. Bern 1775, Bd. I, S. 16. Christian August Fischer: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. Zweyter Theil. Enthaltend: Über den Umgang der Weiber mit Männern. Leipzig 1800, S. 109f. Hufeland o.J. [1823] (Anm. 69), S. 280.
268
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Während nun das Kind ein unter Fremdkontrolle stehendes Potential darstellt, vom Manne hingegen rationale Selbstkontrolle und normierte Selbstdomestizierung erwartet wird, damit zugleich eine – definitive! – Festlegung des Charakters und somit ein verläßlich-konstantes, sozial berechenbares Verhalten, ist Jugend hier die Phase, wo die Fremdkontrolle aussetzt und die Selbstkontrolle noch nicht eingesetzt hat, wo das Personpotential experimentell erprobt wird und die Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten noch nicht abgeschlossen ist; es ist also die Phase von Entscheidungen des Subjektes, für dessen Mannesalter keine weitere ›Entwicklung‹ vorgesehen ist. ›Jugend‹ ist demnach, wie einige Autoren auch explizit erklären, die »Entwicklungsperiode« schlechthin.86 Ohne hier das goethezeitliche Konzept der ›Entwicklung‹ und das – spezifiziertere – der ›Bildung‹ erneut zu diskutieren, sei doch erinnert, daß es sich bei beiden (bei ›Entwicklung‹ schon lexikalisch vorgegeben: Johann-Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Leipzig 1793, Bd. I, Sp. 1841; bei ›Bildung‹ durch Blumenbachs biologische Theorie des Bildungstriebs 1781 bzw. 1791 eingeführt) darum handelt, daß ein latentes, nicht wahrnehmbares Potential in eine manifeste, wahrnehmbare Realisation transformiert wird. Wie ›Einbildung‹ goethezeitlich bedeutet, daß das Subjekt etwas in sich hineinnimmt, bedeutete ›Ausbildung‹ in dieser Epoche einen Prozeß von innen nach außen: von der Latenz zur Manifestation. Dieser Prozeß – am deutlichsten bei Blumenbachs biologischem ›Bildungstrieb‹ – ist ein im System, hier also der Person, selbst schon angelegter, teleologisch-finaler Prozeß, der aber gleichwohl die doppelte Alternative der Nicht-Entwicklung und der Fehlentwicklung eines Potentials zuläßt, insbesondere natürlich aufgrund von äußeren Umständen, im menschlichen Bereich wiederum nicht zuletzt der sozialen Bedingungen, wobei Fehlentwicklungen speziell vorzugsweise als ›(Selbst-)Verführung‹ interpretiert werden. Das Konzept der ›Bestimmung‹ des Menschen, um die Jahrhundert-Mitte noch theologisch interpretiert, also als personexterne Zielvorgabe von außen, jetzt eher natur- bzw. geschichtsphilosophisch interpretiert, als quasi personinterne Zielvorgabe, drückt diese – störbare – Teleologie des Prozesses aus. Im Gegensatz zur späteren Freudschen, die Relevanz des Unbewußten akzentuierenden Psychologie, für die die fundamentale Entwicklung in der Kindheit stattfindet, legt die goethezeitliche Psychologie die entscheidende Entwicklung in die Jugend und betont die Relevanz von Bewußtwerdung und ›Selbstbewußtsein‹, d.h. hier noch: Bewußtsein seiner selbst: ›Jugend‹ ist folgerichtig die Phase der ›Selbstfindung‹, die Phase »jener Entzückung des Erwachens zum hellen Selbstbewußtsein«.87 Der Pädagoge Schwarz faßt, unter Aufgebot der signifikanten epochalen Metaphoriken bzw. Kollektivsymboliken, den Prozeß der Jugend zusammen: Mit Beendigung der Jugend findet sich der Mensch selbst, indem er die Idee erfaßt von dem, was er sein und werden soll, also seine Bestimmung erkennt und diese zur freien Selbstbestimmung macht. [...] seinen Charakter kann und soll er jetzt wissen. Die Einheit
——————— 86 87
Arndt 1818 (Anm. 82), Bd. IV, S. 510. Wilhelm Sihler: Die Symbolik des Antlitzes. Berlin 1829, S. 115.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
269
im Selbstbewußtsein wird hierdurch zur Sachkenntnis, das Ich findet sich als dasselbe, das es in der Kindheit war, nur ist die Knospe jetzt entfaltet, und was dem Bewußtsein verhüllt gewesen, hat sich ihm nun enthüllt. Was die Natur im Stillen der Seele in der Kindheit einbildete, und was die Seele in sich von Anfang gebildet hat, aus dem Dunkel hervordämmernd zur hellen Freitätigkeit; das bildet nun der erwachsene junge Mensch in sich mit Freiheit und vollem Bewußtsein aus.88
Wir müssen wohl folgern, daß der goethezeitlichen Entwicklungspsychologie die Akzeptabilität der sozialen Normen und Strukturen durch ihre Einübung in der kindlichen Sozialisation offenbar als nicht gesichert gilt, wenn sie in diesem Umfang in der Jugend einerseits gefährdet scheint und andererseits vom Subjekt jetzt bewußter Zustimmung bedarf; die gewünschte soziale Normierung wird selbst im Begriff der ›Bestimmung‹ versteckt und kann damit wiederum als biologischnaturhaft, somit als außerhistorisch-invariant, gedacht werden. 2.3.4 Metaphorische Projektionen: Äquivalente der Altersstufen und deren Konstruktionsprinzipien In einer ersten Äquivalenzserie dienen Lebensalter und ihre Normierungen der ideologischen Zuordnung soziokultureller Differenz und Fremdheit. Was sich synchron abweichend zum normativen Standard verhält, wird zum Äquivalent von Kindheit: 1. 2. 3. 4. 5.
›Greise‹ | ›Kinder‹. ›Wahnsinnige‹ | ›Kinder‹ ›Unterschichten‹ | ›Kinder‹ ›Wilde‹ | ›Kinder‹; was zur Folge hat: ›Greise‹ | ›Wahnsinnige‹ | ›Unterschichten‹ | ›Wilde‹ | ›Kinder‹
Wilde und Kinder werden etwa korreliert bei Meister,89 Wezel,90 Heinroth,91 Wahnsinnige und Kinder bei Leß92 und Bernhardi,93 Unterschichten (= ›Volk‹) und Kinder bei Wezel94 und Heinroth.95 Die synchrone Abweichung wird als Defizienz
——————— 88 89 90 91
92 93
94 95
Schwarz 1805 (Anm. 56), S. 92 (Hervorh. M.T.). Meister 1775 (Anm. 83), Bd. II, S. 4. Johann K. Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen. Bd. II. Leipzig 1785, S. 197. Johann C. A. Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörung und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Bd. I. Leipzig 1818, S. 4. Gottfried Leß: Vom Selbstmorde. Göttingen 1776, S. 17. Ernst Winter [= August Ferdinand Bernhardi]: Die Unsichtbaren. Bd. I. Halle 1794, S. 69. Wezel 1785 (Anm. 90), S. 197. Heinroth 1818 (Anm. 91), Bd. I, S. 4
270
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
gegenüber dem eigenen Status erfahren, dessen normative Verbindlichkeit dadurch gesichert wird: Den abweichenden Gruppen wird zugleich Unmündigkeit zugeschrieben, woraus das Recht zu ihrer Bevormundung folgt (was politisch unter anderem antidemokratisch-autoritäre Strukturen im Inneren, imperialistischen Kolonialismus im Außen theoretisch legitimiert). Ein Problem der Differenz und Fremdheit – teils ethnologisch-synchron, teils historisch-diachron – hat aber auch die aufklärerische und die idealistische Geschichtsphilosophie zu bewältigen, in deren Konstrukten weltgeschichtlicher Entwicklung ebenfalls im Regelfalle das eigene System als vorläufig-optimaler Zustand gesetzt wird. Der naheliegenden zweiten Äquivalenzserie zwischen Geschichtsphasen und Lebensaltern liegt das verbreitete aufklärerische Theorem des gemeinsamen Entwicklungsgesetzes von Gattung und Individuum zugrunde: Dieser Fortschritt [des menschlichen Geistes] untersteht denselben allgemeinen Gesetzen, die sich an der Entwicklung der Fähigkeiten bei den Individuen beobachten lassen [...].96 Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben.97
Diese Äquivalenz von ›Entwicklung‹/›Bildung‹ der Gattung | ›Entwicklung‹/›Bildung‹ des Individuums, die sich unter anderem ebenso in den Geschichtsphilosophien Schillers, Fichtes, Hegels findet, bietet sich also förmlich zur Projektion der Altersklassen auf die Geschichtsphasen an, die etwa Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts ebenso explizit vollzieht (AT | Offenbarung für Kindheit, NT | Offenbarung für Jugend, woraus die Notwendigkeit einer dritten Offenbarung für das Mannesalter folgt), wie sie in Schillers Etwas über die erste Menschengesellschaft angelegt ist (Zustand des Paradieses als solcher der Kindheit, somit der Unmündigkeit). So oft solche Metaphorik punktuell auch auftritt: eine systematische Anwendung scheint sie fast nur in Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) gefunden zu haben. Morgenländische und ägyptische Kultur erscheinen als Knabenalter, die griechische Antike als Jünglingsalter, die römische als Mannesalter der Menschheit98 – dann freilich wird die Serie klugerweise abgebrochen: Denn entweder müßte mit dem Erscheinen des Christentums das Greisenalter oder eine neue Kindheit eintreten – beides ideologisch problematisch ... So widerruft Herder denn auch in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit diese Metaphorik: […] doch war es mir nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten: Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen,
——————— 96 97
98
Condorcet 1976 [1795] (Anm. 75), S. 31. Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780. In: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. VIII. Hg. von Helmut Göbel. München 1979, S. 509 (= § 93). Sämmtliche Werke zur Philosophie und Geschichte. Bd. III. Stuttgart, Tübingen 1827, S. 45, 53, 59.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
271
auf der man auch nur die Geschichte der Kultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuße ausmessen könnte.99
In der Folge scheint sie nie systematisch angewandt worden zu sein: Der unvermeidliche Abstieg des Greisenalters kollidiert mit der Vorstellung von Entwicklung zum optimalen Menschheitszustand, der zugleich Einlösung der Théodicée wäre, die man seit dem Geniestreich von Wielands Die Natur der Dinge (1752) klugerweise ans Ende der Geschichte verlagert hat. Während diese beiden Äquivalenzserien psychische, soziale, ethnologische, historische Differenz integrierbar machen, indem sie sie als Entwicklungsphasen naturalisieren, ordnet die dritte Äquivalenzserie unmittelbar den menschlichen Lebenslauf seinerseits in Naturprozesse ein. Vollzogen wird eine doppelte Äquivalentsetzung: ›Lebensalter‹ | ›Tageszeiten‹ | ›Jahreszeiten‹ – wiederum scheint es sich um schon vorgefundenes kulturelles Wissen zu handeln.100 So erklärt Flögel etwa: Die Jahreszeiten haben mit unserem Körper und daher auch mit unserer Seele große Ähnlichkeit.101
und korreliert Kindheit und Frühling, Jüngling und Sommer, Mannesalter und Herbst, Greisenalter und Winter. Berger betont den metaphorischen Charakter der Korrelation: Das menschliche Leben aber hat, aus der Nacht zu seiner Mittagshöhe emporsteigend und von dieser in eine zweite Nacht zurücksinkend, wie jedes andere in der Natur, seine Perioden oder Alter, die man entweder als die der Zunahme, des Stillstands und der Wiederabnahme, oder nach der Analogie der vier Tages- und Jahreszeiten bestimmen kann, welche letztere uns hier leiten mag [...].102
Von den systematischen Varianten seien hier nur zwei vorgestellt:
——————— 99
100
101 102
Sämmtliche Werke zur Philosophie und Geschichte. Abt.: Zur Philosophie und Geschichte. Bd. IV. Stuttgart, Tübingen 1827, S. VI. Die Korrelation von Tages- bzw. Jahreszeiten mit Lebensaltern ist schon in der Antike gut belegt. Zum Beispiel Catull, Carmina 5: »soles occidere et redire possunt: / nobis, cum semel occidit brevis lux / nox est perpetua una dormienda.« – Oder Horaz, Oden IV 7: »immortalia ne speres, monet annus et almum / quae rapit hora diem«. – In der Renaissance zitiert etwa Tassos Aminta (1581) Catulls carmen 5: »Amiam, che’l Sol si muore e poi rinasce: / a noi sua breve luce /s’asconde, e’l sonno eterna notte adduce«. – Im Barock belegt etwa Gryphius’ Trauerspiel Cardenio und Celinde (1657) eine viergliedrige Altersklassenbildung und deren Homologisierung mit den Jahreszeiten, wenn im Reyen zwischen Akt III und IV als Personifikationen auftreten: »Die Zeit / der Mensch / die Vier Theil deß Jahres / in Gestalt der Vier Zeiten Menschlichen Alters«. Auch der SonettZyklus Morgen Sonnet, Mittag, Abend, Mitternacht in Gryphius’ Teutsche Reim-Gedichte (1650) belegt dieselbe Korrelation. Flögel 1778 (Anm. 49), S. 141. J. E. von Berger: Grundzüge der Anthropologie und Psychologie. Altona 1824, S. 211.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
272 Heinroth 1831
Berger 1824
Sommer Mittag Blüte Jugend
Frühling Morgen Knospe Kindheit [Frühe Frühling Kindheit] Morgen Knabenalter
[Jugend]103 Sommer Mittag Reifes Alter
Herbst Abend Reife Alter
Winter Nacht Fruchtsame Greisenalter
Herbst Abend Hohes Alter
Winter Nacht Hohes Alter
Schema 7: Lebensalter und Tages-/Jahreszeiten
Das logische Problem der Zuordnungen liegt auf der Hand: Bei Flögel und Heinroth wird, was Lebenshöhe sein sollte, das Mannesalter, mit den problematischen Zeiten Herbst und Abend, solchen eines Absteigens, verknüpft, was Berger zwar vermeidet, aber eben um den Preis, daß die Symmetrie der Entsprechungen gestört wird. Ähnlich wie die Zuordnung von Geschichtsphasen und Lebensaltern wirft die von Lebensaltern und Tages- bzw. Jahreszeiten Probleme auf, wenn sie systematisch durchgeführt werden soll: Sie wird daher wohl in Theorie (wie auch Literatur) der Epoche zwar sehr oft, aber vorzugsweise nur selektiv praktiziert. Ein hübsches Beispiel bietet Goethes Lyrik: In der frühen Lyrik der ›Sturm und Drang‹-Phase werden unentwegt ›Jugend‹ des Sprechers und die Tages- bzw. Jahreszeiten ›Morgen‹ und ›Frühjahr‹ korreliert (vgl. z.B. Maifest von 1775); in der späten Lyrik entsprechen sich ›Alter‹ des Textsprechers und ›Nacht‹ (vgl. z.B. Um Mitternacht oder Der Bräutigam).
3.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede: zur Relation literarischer und theoretischer Modellierungen der Altersklassen
3.1 Vortheoretische und literarische Herkunft theoretisierter Wissensmengen (1) Am Startpunkt der goethezeitlichen Altersklassensysteme und Merkmalszuordnungen in Literatur und Theorie steht zweifellos ein vortheoretisches Alltagswissen, das in Literatur wie in Theorie systematisiert, ergänzt, transformiert wird. Die unübersehbaren Gemeinsamkeiten – z.B. die Tendenz zur Viergliedrigkeit der Altersklassifikation, zur kollektivsymbolischen Repräsentation durch Tages- und Jahreszeiten, zur Zuordnung von ›Liebe‹, ›Phantasie‹, ›Entwicklung‹ an die ›Jugend‹ – lassen sich kaum anders erklären: Denn sie sind schon in der Konstituierungsphase der Initiationsgeschichte und in den früh-goethezeitlichen, noch wenig systemhaften anthropologischen Äußerungen gegeben, deren Wissensmengen die Literatur sicher nicht präsupponiert hat, soweit sie nicht ohnedies dem kulturellen Wissen angehörten.
——————— 103
»[…]« = ohne Entsprechung im System der Tages-/Jahreszeiten.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
273
Diesen gemeinsamen vortheoretischen Wissensmengen versucht der theoretische Diskurs in der Folge einen pseudophilosophischen oder pseudowissenschaftlichen Anspruch zu verleihen: Die chronologische Sukzession der anthropologischen Texte belegt deutlich, wie z.B. aus der einfachen anfänglichen Viergliedrigkeit komplexe mehrstufige Taxonomien entstehen, analog zur Transformation der Philosophie von ihrem spätaufklärerischen Zustand zu dem des Idealismus. Ein vergleichbarer Prozeß der Transformation vortheoretischen Wissens in pseudowissenschaftliche Systeme ließe sich für den Prozeß der Systematisierung und Theoretisierung der kulturellen Annahmen zu den Geschlechterrollen belegen. (2) Aber nicht nur gehen die literarischen und theoretischen Konzeptionen offenbar auf gemeinsames vortheoretisches Wissen zurück: Es scheint zudem zu gelten, daß nicht die Literatur auf theoretisch artikuliertes Wissen zurückgreift, sondern daß der theoretische Diskurs, wenn auch selektiv, Elemente des literarischen Modells übernimmt, jedenfalls, was die Konzeption der ›Jugend‹ als Phase der ›Entwicklung‹ und ›Bildung‹ betrifft: Denn während das Modell ›Initiationsgeschichte‹ spätestens um 1800 in vollständiger und komplexer Form vorliegt, gehören die bezüglich der epochalen Merkmale vollständigen, am weitestgehenden systematisierten theoretischen Modelle eindeutig der zweiten Hälfte der Goethezeit an. (3) Die auffälligen Differenzen zwischen juristischen und nicht-juristischen Diskursen und die ebenso auffälligen Differenzen innerhalb jeder dieser beiden Diskursklassen belegen drastisch den nicht-empirischen normativen Charakter der Festlegung von Altersklassen. Der explizit normative juristische Diskurs ist unmittelbar praktisch relevant, da die Einhaltung seiner Normen durch die Sanktionsdrohung erzwungen wird: Aufgrund aber eben dieser Praxisrelevanz berücksichtigt er vermutlich auch stärker die Bedürfnisse der tatsächlichen sozialen Praxis. Der implizit normative nicht-juristische Diskurs geriert sich zwar mehr oder minder als empirisch gestützt und wissenschaftlich, läuft aber unverkennbar auf eine ideologisch relevante theoretische Normierung hinaus, die z.B. bezüglich der Ausübung von Sexualität, die sie maximal zu verzögern sucht, restriktiver als die Gesetzgebung ist. Der sozialen Normsetzung des Rechts konfrontiert dieser Diskurs eine als biologisch-natürlich gedachte Norm. (4) Literarische Initiationsgeschichten und theoretische Diskurse teilen das Merkmal, daß sie zwar eigentlich unvereinbare Denkmodelle einander überlagern: Das Modell der ›Entwicklungskurve‹ als Zeichen eines graduell-quantitativ verlaufenden, mehr oder minder kontinuierlichen Prozesses und das ›Stufenmodell‹ als Zeichen eines in qualitativen ›Sprüngen‹ verlaufenden, diskontinuierlichen Prozesses. Ein und derselbe Entwicklungsprozeß wird einerseits, dominant und manifest, als Abfolge qualitativ-disjunkter Klassen, andererseits, nicht-dominant und latent, als Verschiebung auf einer quantitativen Skala dargestellt. Für die Theorie habe ich diese Doppelperspektive schon dargestellt; für die Literatur sei sie hier nachgetragen. Die Initiationsgeschichte markiert im Regelfalle sehr deutlich die Grenzen der Transitionsphase; allenfalls können Desintegration und Reintegration in (wiederum
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
deutlich qualitative) ›Schritte‹ zerlegt werden, so etwa in den Lehrjahren Aufnahme in die Turmgesellschaft und Aufnahme in die Familie. Wenn und insoweit aber in der Transitionsphase ein Prozeß der ›Entwicklung/Bildung‹ sich abspielt, muß er auf einer allmählichen, graduellen, somit im Prinzip quantitativen Verschiebung basieren (die sich naturgemäß qualitativ, in mehr oder weniger relevanten Ereignissen, präsentiert). Die Erzähltexte ›synthetisieren‹ qualitativ-diskontinuierliche und quantitativ-kontinuierliche Konzeptionen des Entwicklungsprozesses in einer Emergenzregel: R 8: Innerhalb der durch qualitativ-disjunkte Grenzen markierten Transitionsphase findet eine allmähliche Addition von Erfahrungen statt, die zunächst in der Latenz bleibend, einen Kulminationspunkt erreichen, in dem sie, ›plötzlich‹, als qualitativer Einschnitt, manifeste Wirkung zeigen. (Die Idee eines ›Umschlagens‹ von ›Quantität‹ in ›Qualität‹ bei Marx dürfte aus dem Goethezeit-Denksystem stammen). Nur ein Beispiel: Nach langen und vielfältigen Versuchen addieren sich Victors Erfahrungen latent in Dichter und ihre Gesellen zur manifesten diskontinuierlichen Emergenz einer dezisiven Entscheidung für den Übergang nach T3: ›plötzlich‹ steht er in Mönchskleidung da. (5) Mit dieser Überlagerung eines quantitativen und eines qualitativen Entwicklungsmodelles (die sich ebenso in der spätaufklärerischen (z.B. Schiller) oder idealistischen Geschichtsschreibung (z.B. Hegel) nachweisen ließe) ist ein denkgeschichtlicher Prozeß korreliert, dessen konstitutive Relevanz J. Link 1987 gezeigt hat. Insoweit (explizit) der theoretische Diskurs (und implizit die Literatur) qualitativ-disjunkte Grenzziehungen vornimmt, praktiziert er eindeutig, wenn auch uneingestanden, eine Normsetzung. Insoweit sie aber diese verleugnet und als empirisch fundierte, d.h. auf hinreichend breitem quantitativem Material basierende, ausgibt, behauptet sie, eine naturbedingte oder sozialbedingte ›Normalität‹ zu rekonstruieren, die aus statistischen Normalverteilungen abgeleitet wäre. 3.2 Die Spezifizität der Initiationsgeschichte gegenüber dem Wissen der theoretischen Diskurse (1) Die anthropologische Theorie dieser Kultur nimmt die vier Altersklassen aus der Perspektive des Erwachsenen/Mannesalters, als Höhepunkt und Ziel des Lebens wahr, die Initiationsgeschichte hingegen legt nicht nur den Fokus der Darstellung auf die Jugend- bzw. Transitionsphase, sondern identifiziert sich weitgehend, von Distanzierungen bei Fehlverhalten des Protagonisten abgesehen, mit der Perspektive dieses Lebensabschnitts. (2) Das ›Erwachsenenalter‹ ist zwar wünschenswerter oder unvermeidlicher Zielzustand, aber die Transitionsphase erscheint als durchaus eigenständiger Wert und, nicht nur im Falle ihrer Prolongierung wie in manchen Texten der Romantik, als ›eigentliches‹, ›intensives‹ Leben, als (unausgesprochen oder ausgesprochen) die vergleichsweise begehrenswerteste Lebensphase. Die Fälle bewußter Selbstin-
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fantilisierung und somit eines Beharrens im vorsexuellen Zustand wie im Teil I des Sternbald – »ich will immer ein Kind bleiben«104 – sind ebenso selten wie ein vorzeitiger Drang zum Übergang ins ›Mannesalters‹. Obwohl als Übergangs-/Transitionsphase dargestellt, erhält ›Jugend‹ eine eigene Berechtigung: Sie nicht zu verkürzen, sondern auszuleben, ist eine unausgesprochene Norm der Texte. (3) Dem Protagonisten mögen ›Kinder‹, ›Erwachsene‹, ›Greise‹ begegnen: im Unterschied zum theoretischen Diskurs sind Merkmale und Probleme dieser Altersklassen im Regelfälle nicht Thema der Texte; diese anderen Altersklassen und ihre Merkmalszuordnungen fungieren als mehr oder minder ›selbstverständlich‹ und stehen nicht zur Diskussion. (4) In den theoretischen Diskursen ist jedermanns ›Jugend‹ eine ›Entwicklungsphase‹; in der Initiationsgeschichte wird unterschieden. Die Texte interessieren sich nicht für die ›normalen Entwicklungen‹ unter ›sozial normalen Bedingungen‹: sondern nur für die exzeptionellen Entwicklungen privilegierter Individuen (die weitestgehend von sozioökonomischen Hemmnissen ihrer Entwicklung freigesetzt sind). Nicht die durchschnittliche Normalität des in der gegebenen bzw. dargestellten Gesellschaft Möglichen interessiert: sondern nur der utopische Fall, tendenziell also die Art ›Person‹, die die (geschichtsphilosophisch bzw. anthropologisch begründete) ›Bestimmung des Menschengeschlechts‹105 repräsentiert, was nicht hindert, daß, wie etwa in den Lehrjahren, durchaus umweltbedingte Begrenzungen der Entwicklung des Protagonisten resignativ thematisiert werden können – es geht um die unter den jeweiligen, immer beschränkenden, sozialen Bedingungen relativ optimale Variante. (5) Während die anthropologische Theorie (mit der Ausnahme der in 2.3.2 zitierten Kant-Stelle) dazu tendiert, keinen Unterschied zwischen einem naturgegebenen und einem gesellschaftsbedingten Zustand ›Jugend‹ zu machen und den sozialbedingten gegenwärtigen Zustand oder den – wiederum sozialbedingt – ideologisch gewünschten Zustand ›Jugend‹ schlechterdings mit einem biologischen ›Jugend‹-Zustand identifiziert, macht die Initiationsgeschichte implizit eine Unterscheidung zwischen dem sozialen Zustand ›Transition‹ und dem biologischen Zustand ›Jugend‹ (vgl. 1.3.2). Dieser impliziten Unterscheidung der Literatur ist korreliert, daß sie – da es ihr um den sozialen Zustand geht – meist keine genaueren Altersangaben zum Leben des Protagonisten macht, während die Theorie Anfang und Ende der Jugend zunehmend genau datiert. (6) Wo die anthropologische Theorie der ›Jugend‹ keine für sie spezifischen Freiräume einräumt, von ihr die Einhaltung der Sexualnormen einfordert, ihr somit Sexualität verweigert, gesteht die Literatur der Transitionsphase einen Freiraum, der Verletzung von Sexualnormen inkludiert, zumindest in der ersten Hälfte der
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Sternbald, S. 19. Von Spaldings Bestseller Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen (1748) bis zu Fichtes Die Bestimmung des Menschen (1800) und darüber hinaus wird eine solche – gott- oder naturgewollte – ›Bestimmung‹ angenommen.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Epoche zu; nicht mit, sondern erst inmitten der Romantik wird diese Implikation außer Kraft gesetzt, was natürlich, gemessen an den Normen der sozialen Realität bedeutet, daß die spätere Romantik ›realistischer‹ ist als die frühere (aufklärerische, klassische, partiell frühromantische – Novalis ausgenommen) Literatur es ist. (7) Indem die Theorie den legitimen Beginn von Sexualität möglichst spät, deren Ende möglichst früh ansetzt, vermeidet sie unausgesprochen, was in der Literatur zum Thema werden kann: generationsübergreifende sexuelle Konkurrenz. Abgesehen davon, daß das Denk- und Literatursystem der Goethezeit generell, sozial wie ökonomisch, insofern ›vormodern‹, ›vorkapitalistisch‹ bleibt, daß in ihm ›Konkurrenz‹ und ›Rivalität‹ nicht legitimiert sind, es in jedem Falle einen primärberechtigten Aspiranten gibt, demgegenüber erst im zweiten Schritt hinzukommende Rivalen/Konkurrenten im Falle moralischer Positivität resignativ zurückzutreten hätten (= R 9.1),106 was auch für erotische Rivalität gilt, abgesehen davon also gilt speziell, daß nie zwei Generationen um denselben erotischen Partner rivalisieren dürfen; andernfalls – Schillers Don Karlos belegt es107 – kann es zur Katastrophe inzestuöser Situationen und Verwandtenmorde kommen. Angewandt auf den erotischen Fall lautet die Regel der Konkurrenzvermeidung etwa so: R 9.2: Sexualität der Elterngeneration ist nur so lange legitim, als das älteste ihrer Kinder noch nicht in das (kulturell oder textuell als solches geltende) sexualfähige Alter eingetreten ist.108 (8) Aus der Literatur dieser Kultur läßt sich eine Implikation ableiten, die in den theoretischen Diskursen nicht oder kaum belegt zu sein scheint. In der Literatur der Goethezeit wimmelt es von Frauen, Jungfrauen oder jungen Frauen, die, aus variablem Anlaß freiwillig oder unfreiwillig in einer bestimmten Situation sich als Mann verkleiden. Während Wilhelm Meisters ›Amazone‹ (= Natalie) dabei noch unzweideutig als Frau zu erkennen ist, sind hier die Fälle interessant, wo die Frau tatsächlich für einen Mann, genauer für einen Jüngling, gehalten wird. Agathons Schwester Psyche versucht in männlicher Verkleidung sich erotischer Nachstellung zu entziehen – und wird gerade dadurch Lustobjekt eines homosexuellen Seeräubers. Friedrich in Ahnung und Gegenwart befindet sich im selben Kahn mit der geliebten Rosa und der liebenden Romana – und hält die beiden als Mann verkleideten Frauen für ›Jünglinge‹. Im Sternbald kann sich Ludoviko ebenso erfolgreich als Frau verkleiden (wobei dieser umgekehrte Fall freilich exzeptionell
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Dazu Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 180f. Siehe zu Don Karlos den wichtigen Aufsatz von Christine Maillard: Constellation familiale et conscience historique. Les motifs de l'inceste et de la fraternité dans Don Carlos. In: dies. (Hg.): Friedrich Schiller: »Don Carlos«. Théâtre, psychologie et politique. Strasbourg 1997, S. 173–186. Eine Illustration der Regel bieten die Lehrjahre anhand der Eltern des Harfners: »Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in späteren Jahren nochmals überwältigt, in welchen das Recht der Ehegatten schon verloschen zu sein scheint; über einen ähnlichen Fall hatte man sich kurz vorher in der Gegend lustig gemacht [...].« (Goethe 1988 [Anm. 26], S. 582).
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
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ist). Solche Verwechselbarkeit der Geschlechter bei Kleidertausch bedeutet nun offenkundig zweierlei: R 10: In der sozialen Semiotik der dargestellten Welt gilt, daß ›Kleidung‹ für die soziale und sexuelle Identifikation das relevantere Zeichen ist als ›Gesicht‹ und ›Gestalt‹. Soziale Zeichen dominieren in der Wahrnehmung über biologische Zeichen. R 11: ›Jüngling‹ und ›(junge) Frau‹ sind äquivalent und nur aufgrund soziokultureller Zeichen (wie Kleidung) zu unterscheiden: was bedeutet, daß der ›Jüngling‹ noch als ausgeprägt ›feminin‹ gelten und die junge Frau als eher knabenhaftschlank gedacht sein muß.109 Solche Verkleidung der Frau als Mann macht sie gern moralisch problematisch […] schlug Peter vor, daß Johanna die Reise, als Mann gekleidet, mitmachen sollte. Sie wird, fügte er hinzu, in dieser Kleidung freier zu denken, freier zu leben gewohnt werden; denn oft weicht weibliche Sittsamkeit mit dem Kleide!110 Indes entging es mir nicht, daß Angelina anfing, mit der Mädchentracht nach und nach auch ihr voriges, mädchenhaftes, bei aller Liebe verschämtes Wesen abzulegen, sie wurde in Worten und Gebärden kecker, und ihre sonst so schüchternen Augen schweiften lüstern rechts und links111 –
weshalb denn gilt: R 5.3.5: Frauen, die sich freiwillig als Mann verkleiden, werden vom Protagonisten nicht geheiratet werden. So wird sich Friedrich weder mit Rosa noch mit Romana verbinden, während im Marmorbild Bianka von Florio geheiratet werden kann, da sie die Männerkleidung auf Geheiß ihres Oheims angelegt hat. (9) Sowohl der theoretische Diskurs als auch die Literatur kennen Gefährdungen des jugendlichen Entwicklungsprozesses, wobei freilich die Literatur signifikante Differenzen zur Theorie aufweist. R 12: Ein positiver Abschluß der Entwicklung durch Selbstfindung und Autonomie wird in den Initiationsgeschichten durch eine begrenzte Menge von Faktoren verhindert, die zu Entautonomisierung führen: R 12.1: Unzureichende Trennung und Ablösung von der Familie führt zum Scheitern des Initiationsprozesses. Während der theoretische Diskurs unzweideutig die positive Besetzung der Eltern durch die Kinder fordert, ist diese Relation in der Literatur implizit ambivalcnt: Bindung an die Herkunftsfamilie stellt in der Transitionsphase eine Gefähr-
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Eine Äquivalenz ›Jüngling | Frau‹ wird von Schopenhauer 1851 in Über die Weiber umspielt; diese seien »eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne« (Arthur Schopenhauer: Über die Weiber. In: Parerga und Paralipomena 1851. Repr. Zürich 1977, S. 668). Christian Heinrich Spieß: Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem dreizehnten Jahrhunderte. Frankfurt, Leipzig 1795. Repr. Frankfurt a.M. 1971, Bd. II, S. 64. Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman. Nürnberg 1815. In: Werke. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München 21959, S. 802.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
dung der Entwicklung dar (vgl. auch R 5.2.2). Demgegenüber kennt der theoretische Diskurs vor allem zwei Gefährdungen der Jugend, die auf eben den für Jugend charakteristischen Merkmalen basieren würden: der Bereitschaft zu Liebe (bzw. Sexualität) und der Bereitschaft zu Phantasietätigkeit, beide zu (Selbst-)Verführung und daraus resultierender Normverletzung geneigt machend. Nur partiell stimmt hier die Theorie mit der Literatur überein. Denn zwar gilt: R 12.2: Repräsentanten der Manipulatorenfunktion machen Protagonisten in der Transitionsphase anfällig für Fremdbestimmung durch Einwirkung auf die Phantasiebereitschaft, z.B. durch Vorspiegelung ›wunderbarer‹ (okkulter) Ereignisse, und/oder auf die Liebesbereitschaft, z.B. durch Frauenangebote, die zu Verfügung gestellt oder entzogen werden (beides z.B. in William Lovell, Genius, Geisterseher). Aber es ist nicht nur in der Literatur ›Liebe‹ eine für Selbstfindung notwendige Erfahrung (= R 5.3), sondern die Literatur, ausgenommen die in dieser Hinsicht sehr konservativen Texte, erlaubt dem Protagonisten die Normverletzung nichtehelicher Sexualität in der – und nur in der – Transitionsphase, die die Theorie der Jugend zu verbieten sucht. Die Theorie kennt keine solche – wenn auch begrenzte – Lizenz zur Normverletzung in der Jugend. R 12.3: Sexualität in der Transitionsphase erscheint als Gefährdung des Entwicklungsprozesses (nur) in dem Umfang, in dem sie (a) zur Abhängigkeit vom Lustobjekt führt, also die Autonomie bedroht, und/ oder (b) zum Wert um ihrer selbst willen wird, also vom Entwicklungsziel wegführt (vgl. etwa Lovells ›Wüstlingsexistenz‹). Von solcher Hingabe an ein ›Lustprinzip‹ zu unterscheiden ist der Verlust des ›Realitätsprinzips‹, worunter auch die erotische, politische, religiöse usw. ›Schwärmerei‹ in der Goethezeit fiele, von der schon Agathon geheilt werden muß. R 12.4: Affektive Besetzung von erotischen, ideologischen, religiösen Objekten erscheint als Gefährdung des Entwicklungsprozesses, wenn (a) das Objekt ›ungeeignet‹ ist (aber nicht als ›ungeeignet‹ erkannt wird oder die Bindung an das Objekt dennoch nicht aufgegeben wird), z.B. Liebe zu einer Frau, die nicht als definitive (d.h. Ehe-)Partnerin in T3 in Betracht kommt, weil sie entweder schon vergeben ist oder die Liebe nicht erwidert oder selbst (Sexual-)Normen verletzt. Hierher gehören etwa Eichendorffs ›gefährliche‹ Frauen vom Venus-Typ, die durch normverletzende Sexualität charakterisiert sind, oder vom Diana-Typ, die Sexualität, selbst legitime, generell verweigern. Ein Extremfall ist der Automat Olimpia als Liebespartner im Sandmann: die Liebe zur Frau, die es nicht gibt. ›Ungeeignet‹ sind etwa auch die Objekte des ›Hangs zum Wunderbaren‹, sofern die Texte die Existenz von bzw. den Zugang zu okkulten Welten bestreiten. (b) das Objekt ›überschätzt‹ wird, d.h. die vom Text gesetzte Ordnung der materiellen und immateriellen Werte durch die affektive Besetzung des Objekts in Frage gestellt wird.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
279
R 12.5: Wenn der Protagonist einer Gefährdung erliegt, gilt in der Logik des Erzählmodells, daß er, sei er auch manipuliert worden, selbst ebenfalls eine Verfehlung begehen muß: Jede Verführung ist auch eine Selbstverführung, jede Entautonomisierung basiert auch auf einer autonomen Entscheidung. (10) Wo im anthropologischen Diskurs von der ›Gattung‹ die Rede ist, da ist in der Literatur vom ›Individuum‹ die Rede. Und wo der gattungsbezogenen Betrachtung der Prozeß des Übergangs von Jugend zum Mannesalter als ebenso sozialer wie biologischer Determinismus abläuft, da steht – zumindest scheinbar – das Individuum in der Literatur vor einer Serie sukzessiver Entscheidungen zwischen Alternativen und verfügt somit über Freiheit garantierende Wahlmöglichkeiten. Wo somit die Theorie eine fremdbestimmte (biologische und/oder soziale) Heteronomie des Prozesses betont, setzt dem die Literatur die Fiktion selbstbestimmter Autonomie des Individuums entgegen, die sie freilich selbst, teils explizit, etwa bei Besetzung der Manipulatorenfunktion, teils implizit, unterläuft. Gegenüber den Gesetzespostulaten der Theorie, in denen individuelle Entscheidungen im Entwicklungsprozeß nur eine Fiktion des Selbstbewußtseins sind, postuliert die Literatur – quasi als trotziges ›dennoch‹ – genau diese Möglichkeit, wenngleich die individuellen Entscheidungen im Falle des Gelingens der Selbstfindung auch nur auf eine soziale Heteronomie hinauslaufen (von den Abweichungen wie Ardinghello, Lucinde, Nachtwachen abgesehen) und die individuelle Autonomie sich darauf reduziert, ›freiwillig‹ das Sozialsystem und seine Normen zu akzeptieren. Nur die Literatur ermöglicht die (z.B. Schillersche) Fiktion der ›Synthese‹ von ›Freiheit‹ und ›Notwendigkeit‹: Nur in den spezifischen Merkmalen der narrativen Struktur der Initiationsgeschichte, die scheinbar ergebnisoffen das Subjekt vor individuelle Entscheidungen stellt, um es schließlich in ein Sozialsystem zu reintegrieren, kann eine solche ›Synthese‹ – eine pädagogische Fiktion ersten Ranges – glaubwürdig demonstriert werden. Der Erzählakt wertet die Anerkennung von sozialem Zwang und Unterwerfung ab, die er gleichwohl vollzieht. Strukturell haben die Texte eine Nähe zu aufklärerischer Pädagogik: die Fiktion einer Freiheit erzeugend, um mittels ihrer die (Re-)Integration zu sichern. Und mindestens solange die Texte eindeutig auf das Denksystem der Aufklärung positiv bezogen bleiben, machen sie diese Fiktion durch den temporären Freiraum vom Normensystem, das für alle anderen Altersklassen gilt, für den Leser glaubwürdig, der in die Perspektive des Protagonisten versetzt wird. (11) Eine letzte Differenz zwischen Literatur und Theorie sei benannt: Die Theorie kennt nicht die strukturelle Homologie zwischen der Entwicklung vom Kind zum Mann und einem Initiationsprozeß, die die Literatur aufweist und in wechselndem Umfang selbst thematisieren kann, sei es durch lexikalische Besetzungen (›Einweihung‹ usw.), sei es durch Selbstabbildungen der Struktur (tatsächliche Initiationen, z.B. in Geheimbünde in der Initiationsgeschichte und/oder symbolische Äquivalente, wie durch den Besuch von Höhlenräumen). Im Gegensatz zur Theorie neigt die Literatur somit, im offenkundigen Bewußtsein der Abweichung der dargestellten Welt vom kulturellen Wissen über die Strukturen der sozialen Realität, zur ›Mythisierung‹. In eben dem Ausmaß, in dem in der zweiten
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280
Hälfte der Goethezeit eine ›Empirisierung‹ der dargestellten Welten einsetzt, diese also zeitlich, räumlich, sozial so spezifiziert und konkretisiert werden, daß der Umfang des gemeinsamen Durchschnitts zwischen dargestellter Welt und kulturellem Wissen über die eigene soziale Realität zunimmt, werden folglich auch die Grenzen einer Entwicklung des männlichen, jugendlichen Protagonisten zur autonomen und selbstbewußten Person deutlicher markiert: und die anfängliche Differenz zwischen anthropologischer Theorie und literarischer Anthropologie wird allmählich wieder getilgt.
Literaturverzeichnis112 1. Primärtexte 1.1 Theoretische Texte113 1748 1752
SPALDING, Johann Joachim: Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen WIELAND, Christoph Martin: Die Natur der Dinge in sechs Büchern ders.: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt
1762
ROUSSEAU, Jean-Jacques: Emile ou de l'Education
1765
FLÖGEL, Carl Friedrich: Geschichte des menschlichen Verstandes
1772
PLATNER, Ernst: Anthropologie für Ärzte und Weltweise
1774
HERDER, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit BLANCKENBURG, Friedrich von: Versuch über den Roman
1775
MEISTER, Leonhard: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung. 2 Bde.
1776
SALZMANN, Johann Daniel: Über die Religion LEß, Gottfried: Vom Selbstmorde
1780
LESSING, Gotthold Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts
1784/85
WEZEL, Johann Karl: Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2 Tle.
1784–1791
HERDER, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
——————— 112
113
Sofern aus den Texten zitiert wird, werden die verwendeten Ausgaben jeweils in den Anmerkungen angegeben. Soweit literarische Texte nur im Theorieteil – Kap. 2 – genannt sind, sind sie unter 1.1 aufgenommen.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
281
1786
KANT, Immanuel: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
1787
OEST, Johann Fridrich: Höchstnöthige Belehrung und Warnung für Jünglinge und Knaben, die schon zu einigem Nachdenken gewöhnt sind
1788
KNIGGE, Adolph von: Über den Umgang mit Menschen. 2 Tle.
1789
BAHRDT, Karl Friedrich: Handbuch der Moral für den Bürgerstand BLUMENBACH, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb (Neubearbeitung von: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, 1781)
1791
LODER, Justus Christian von: Anfangsgründe der medicinischen Anthropologie und der Staats-Arzneykunde
1793–1801
ADELUNG, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […]. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. 4 Bde.
1794
Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten (ALR). 3 Bde.
1794
GRÜNER, Christian Gottfried: Physiologische und pathologische Zeichenlehre zum Gebrauche akademischer Vorlesungen WINTER, Ernst [= Bernhardi, August Ferdinand]: Die Unsichtbaren
1795
CONDORCET, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat, marquis de: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain
[1795–1797] HUMBOLDT, Wilhelm von: Plan einer vergleichenden Anthropologie [Ms.] 1795–1806
SINTENIS, Christian Friedrich: Elpizon, oder Ueber meine Fortdauer im Tode. 3 Theile
1796
FORMEY, Ludwig: Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin
1797
HUFELAND, Christoph Wilhelm: Makrobiotik, oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern
1798
KANT, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
1800
FICHTE, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen WENZEL, Gottfried Immanuel: Unterhaltungen über die auffallendsten neueren Geistererscheinungen, Träume und Ahndungen; nebst Darstellung anderer sonderbarer Beobachtungen am Menschen FISCHER, Christian August: Über den Umgang der Weiber mit Männern. Ein nothwendiger Anhang zu der bekannten Schrift: Elisa, oder das Weib, wie es sein sollte
1800/01
JENISCH, Daniel: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. 3 Bde. und ein Nachtrag
1801
RAMBACH, Johann Jakob: Versuch einer physisch-medicinischen Beschreibung von Hamburg
1803
Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen (GBV). 3 Bde.
1803
CONSBRUCH, Georg Wilhelm: Diätetisches Taschenbuch für Ärzte und Nichtärzte
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
282 1804
Code Civil (CC). [Dt. Übers. 1830: Die fünf französischen Gesetzbücher in deutscher Sprache nach den besten Übersetzungen] BECKER Gottfried Wilhelm: Der Rathgeber vor, bey und nach dem Beischlafe oder faßliche Anweisung, den Beischlaf so auszuüben, daß der Gesundheit kein Nachtheil zugefügt, und die Vermehrung des Geschlechts durch schöne, gesunde und starke Kinder befördert wird
1805
SCHWARZ, Friedrich Heinrich Christian: Lehrbuch der Pädagogik und Didaktik OKEN, Lorenz: Die Zeugung
1806–1818
ARNDT, Ernst Moritz: Geist der Zeit. 4 Bde.
1807
NOLDE, Adolph Friedrich: Medicinische und anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner. 2 Bde. JEAN PAUL: Levana oder Erziehungslehre: In zwei Bändchen
1810
Code pénal (CP). [Dt. Übs. 1830: Die fünf französischen Gesetzbücher in deutscher Sprache nach den besten Übersetzungen]
1811
BUTTE, Wilhelm: Grundlinien der Arithmetik des menschlichen Lebens
WERTHEIM, Zacharias: Versuch einer medizinischen Topographie von Wien Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie. 3 Bde. (ABGB) 1813
Strafgesezbuch für das Königreich Baiern. 3 Bde. (STGB)
1818
HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörung und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen
1820
MORGENSTERN, Karl: Über das Wesen des Bildungsromans
1822
STEFFENS, Heinrich: Anthropologie. 2 Bde. HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Anthropologie. Zum Behuf academischer Vorträge, und zum Privatstudium. Nebst einem Anhang erläuternder und beweisführender Aufsätze
1824
MORGENSTERN, Karl: Zur Geschichte des Bildungsromans BERGER, Johann Erich von: Grundzuege der Anthropologie und Psychologie mit besonderer Ruecksicht auf die Erkenntniß- und Denklehre Marx, Karl F.H.: Göttingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht geschildert. Versuch einer Topographie von Göttingen
1825 1829
CASPER, Johann Ludwig: Beiträge zur medicinischen Statistik und Staatsarzneykunde BURDACH, Karl Friedrich: Die Zeitrechnung des menschlichen Lebens SIHLER, Wilhlem: Die Symbolik des Antlitzes
1832
HARTMANN, Philipp Carl: Der Geist des Menschen in seinen Verhältnissen zum physischen Leben oder Grundzüge zu einer Physiologie des Denkens. 2. vermehrte Aufl.
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
283
1833–1837
[Brockhaus:] Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände 12 Bde. 8.Aufl.
1835
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik
1837
BURDACH, Karl Friedrich: Anthropologie für das gebildete Publicum. Der Mensch nach den verschiedenen Seiten seiner Natur. Stuttgart
1846
CARUS, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim
1851
SCHOPENHAUER, Arthur: Über die Weiber. In: Parerga und Paralipomena. Bd. II, Berlin ALBRECHT, Johann Friedrich Ernst: Heimlichkeiten der Frauenzimmer oder Die Geheimnisse der Natur hinsichtlich der Fortpflanzung des Menschen; über Befruchtung, Beischlaf und Empfängnis und eheliche Geheimnisse zur Erzeugung gesunder Kinder und Erhaltung der Kräfte und Gesundheit. Sechste, mit den neuesten Erfahrungen verbesserte Aufl. (11810; 131890)
1853
CARUS, Carl Gustav: Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntniß
1874–1884
Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 3., gänzlich umgearbeitete Aufl. 15 Bde., Ergänzungen u. Register
1888–1893
PIERERS Konversations-Lexikon. 7. Aufl. 12 Bde.
1.2 Literarische Texte 1766/67
WIELAND, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Aus einer alten griechischen Handschrift. 2 Bde.
1774
GOETHE, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers
1777
JUNG, Johann Heinrich: Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte
1780
WEZEL, Johann Karl: Hermann und Ulrike. Ein komischer Roman
1784/85
JUNG(-STILLING) , Johann Heinrich: Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte. 2. Bde.
1785–1790
MORITZ, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. 4 Tle.
1787
HEINSE, Wilhelm: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. 2 Bde.
1787–1791
MEYERN, Wilhelm Friedrich: Dya-na-sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt. 3 Tle.
1789
SCHILLER, Friedrich: Der Geisterseher. Eine Geschichte aus den Memoiren des Grafen von O***
1790–1793
TSCHINK, Cajetan: Geschichte eines Geistersehers. Aus den Papieren des Mannes mit der eisernen Larve. 3 Bde.
1791
SPIEß, Christian Heinrich: Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem dreizehnten Jahrhunderte. 2 Bde. WIELAND, Christoph Martin: Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus. 2 Bde.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
284 1791–1795
GROSSE, Carl: Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G**. 4 Bde.
1791–1795
ZSCHOKKE, Johann Heinrich Daniel: Die schwarzen Brüder. Eine abentheuerliche Geschichte. 3 Bde.
1792
KAHLERT, Carl Friedrich: Der Geisterbanner. Eine Geschichte aus den Papieren eines Dänen
1793
JEAN PAUL: Die unsichtbare Loge. Eine Biographie. 2 Bde.
1793/94
RAMBACH, Friedrich Eberhard: Aylo und Dschadina oder die Pyramiden. Eine ägyptische Geschichte. 3. Thle.
1794–1796
JUNG(-STILLING), Johann Heinrich: Das Heimweh. 4 Bde.
1795
TIECK, Ludwig: Abdallah. Eine Erzählung
1795/96
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman HEINSE, Wilhelm: Hildegard von Hohenthal. 3 Tle. TIECK, Ludwig: Geschichte des Herrn William Lovell. 3 Bde.
1796
JUNG(-STILING), Johann Heinrich: Der Schlüssel zum Heimweh FOLLENIUS, Emanuel Friedrich Wilhelm Ernst: Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***. Zweiter Theil
1796/97
JEAN PAUL: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. 3 Bde.
1797–1799
HÖLDERLIN, Friedrich: Hyperion oder der Eremit in Griechenland
1798
KLINGER, Friedrich Maximilian: Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit TIECK, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte WOLZOGEN, Karoline: Agnes von Lilien
1798/99
SPIEß, Johann Heinrich: Die Geheimnisse der alten Egyptier. Eine wahre Zauber- und Geistergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde.
1799
SCHLEGEL, Friedrich: Lucinde. Ein Roman ANONYM: Bianca und Hieronymo. Ein interessantes Seitenstück zu Tschinks Geisterseher TIECK Ludwig: Der getreue Eckart und der Tannenhäuser. In zwei Abschnitten.
1800–1803
JEAN PAUL: Titan. 4. Bde.
1801
SCHULZ, Friedrich: Moriz, ein kleiner Roman SCHLEGEL, Dorothea: Florentin
1801/02
BRENTANO, Clemens: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. 2 Bde.
1802
NOVALIS [Hardenberg, Friedrich von:] Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman von Novalis. 2. Tle.
1804
TIECK, Ludwig: Der Runenberg. Eine Erzählung [KLINGEMANN, Ernst August Friedrich]: Nachtwachen. Von Bonaventura
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
285
1804/05
JEAN Paul: Flegeljahre. Eine Biographie
1809
GOETHE, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. 2 Theile
1810
ARNIM, Achim von: Armuth, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein aufgeschrieben
1812
TIECK, Ludwig: Liebeszauber
WENTZEL, Friedrich August: Angelika oder der weibliche Agathon
FOUQUÉ, Friedrich Baron de la Motte: Der Zauberring. Ein Ritterroman. 3 Bde. 1814
CHAMISSO, Adalbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte
1815
EICHENDORFF, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman
1815/16
HOFFMANN, E.T.A.: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners. 2 Bde.
1816
ders.: Der Sandmann
1817
FOUQUÉ, Friedrich, Baron de la Motte: Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein. 2 Bde.
1819
HOFFMANN, E.T.A.: Die Bergwerke zu Falun
1820–1822
ders.: Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. 2 Bde.
1821
GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Ein Roman. Erster Theil. (2. Fassung 1829)
1826
EICHENDORFF, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts
1833
MORVELL, C. [= Vollmer, W.F.Q.]: Der Geisterseher. Aus den Papieren des Grafen von O***. Zweiter Theil
1834
EICHENDORFF, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Novelle
1836
TIECK, Ludwig: Der junge Tischlermeister. Novelle in sieben Abschnitten. 2 Bde.
2. Wissenschaftliche Literatur ARIES, Philippe: Histoire des populations francaises et de leurs attitudes devant la vie de– puis le XVIIP siecle. Paris 1971 (11948) –: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Regime. Paris 1975 (11960) BEAUJEAN, Marion: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bonn 1969 BORSCHEID, Peter: Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert. München 1989 BRANDL, Edmund: Emanzipation gegen Anthromorphismus. Der literarisch bedingte Wandel der goethezeitlichen Bildungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1995 BRENNER, Peter J: Neue deutsche Literaturgeschichte. Tübingen 1996
286
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
ENGEL, Manfred: Der Roman der Goethezeit. Bd. I: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993 FRIESS, Ursula: Buhlerin und Zauberin. Eine Untersuchung zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. München 1970 GENNEP, Arnold van: Les Rites de passage. Übergangsriten. [11909] Aus dem Französischen von Klaus Schomburg u. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M. u.a. 1999. HAGESTEDT, Lutz: Ähnlichkeit und Differenz. Aspekte der Realitätskonzeption in Ludwig Tiecks späten Romanen und Novellen. München 1997 IMHOF, Arthur E.: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren. München 1981 JACOBS, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972 LAUFHÜTTE, Hartmut: Entwicklungs– und Bildungsroman in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte einer fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf. In: Titzmann 1991, S. 299–315 LEACH, Edmund: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt/M. 1978 LEPPER, Gisbert/STEITZ, Jürgen/BRENN, Wolfgang: Einführung in die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Bd. I: Unter dem Absolutismus. Opladen 1983 LINK, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997 MAHONEY, Dennis F.: Der Roman der Goethezeit (1774–1829). Stuttgart 1988 MAILLARD, Christine: Constellation familiale et conscience historique. Les motifs de l'inceste et de la fraternite dans Don Carlos. In: dies. (Hg.): Friedrich Schiller: Don Carlos. Théâtre, psychologie et politique. Strasbourg 1997, S. 173–186 MARTINI, Fritz: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie. In: DVjs 35 (1961), S. 44–63 MEYER–KNEES, Anke: Verführung und sexuelle Gewalt. Untersuchungen zum medizinischen und juristischen Diskurs im 18. Jahrhundert. Tübingen 1992 MÜLLER, Michael: Philosophie und Anthropologie der Spätaufklärung. Der Romanzyklus Friedrich Maximilian Klingers. Passau 1992 PANOFF, Michel/PERRIN, Michel: Dictionnaire de l’ethnologie. Paris 1973 PIKULIK, Lothar: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a.M. 1979 REINALTER, Helmut (Hg.): Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Frankfurt a.M. 1983 RICHTER, Karl/SCHÖNERT, Jörg/TITZMANN, Michael: Literatur Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: dies. (Hgg.): Literatur und die Wissenschaften. Stuttgart 1997, S. 9–36 SCHULZ, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil I: 1789–1806. München 1983 SELBMANN, Rolf: Der deutsche Bildungsroman. Stuttgart 21994 SHORTER, Edward: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977 SOTTONG, Hermann: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992
Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte
287
THALMANN, Marianne: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Berlin 1925 –: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses »Genius« bis Tiecks »William Lovell«. München 1970 TITZMANN, Michael: Zu Jung–Stillings »Theorie der Geisterkunde«. Historischer Ort und Argumentationsstruktur. In: Johann Heinrich Jung–Stilling: »Theorie der Geisterkunde«. Hg. von Ernst Weber. Hildesheim 1979, S. 381–417 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 69–110) –: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen. In: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hgg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Stuttgart 1984, S. 100–120 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 173–193) –: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur XCIX, Heft 1 (1989), S. 47–61 –: Klingers Romane und die Philosophie der Spätaufklärung. In: H. Zimmermann (Hg.): Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Heidelberg 1990, S. 242–284 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 129–170) –: »Empfindung« und »Leidenschaft«: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Emotionalität/Affektivität in der deutschen Literatur der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: K.P. Hansen (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau 1990, S. 137–166 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 333–371) –: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihre Funktion im Denksystem der Epoche. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Tübingen 1991, S. 229–281 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 373–431) – (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991 –: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438 –: Zeiterfahrung und Lebenslaufmodelle als theoretischer und historischer Problemkomplex. In: Kodikas 19, Heft 3 (1996), S. 155–164 –: Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. In: Christine Maillard (Hg.): Jeux et fêtes dans l’œuvre de Goethe. Strasbourg 2000, S. 197–224 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 195–222) WERNZ, Corinna: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993
Semiotische Textanalyse und historische Anthropologie. Am Beispiel von Eichendorffs Das Marmorbild
Die folgenden Ausführungen basieren auf semiotischer Theorie und strukturaler Methodologie; beide kann ich hier natürlich nicht explizit vorstellen.1 Insofern der Untersuchungsgegenstand ein Erzähltext ist, werden nicht zuletzt die Konzepte der strukturalen Narratologie relevant.2 Insofern dieser Text zudem zur fantastischen Literatur gehört, setze ich auch die strukturalen Theorien des Fantastischen voraus.3 Zielsetzung der Analyse ist eine Interpretation von Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild (1819), die den Text zugleich in seinen literarischen Kontext, in das Literatursystem4 ›Goethezeit‹ (ca. 1770 bis ca. 1820/30), einbettet und in ihren
——————— 1
2
3
4
Vgl. dazu Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 31993 und ders.: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hgg.): Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Bd. III. Berlin, New York 2003, S. 3028–3103. Ich benutze hier – weil interpretatorisch besonders ergiebig – Lotmans Modellierung narrativer Strukturen: vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972 und die Darstellungen bzw. Fortentwicklungen von Lotman in Karl N. Renner: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München 1983 (Münchner Germanistische Beiträge, 32) und Titzmann 2003 (Anm. 1), dort Kap. 5.2. Zur Erinnerung in Kurzfassung: Laut Lotman hat ein Text eine narrative Struktur, wenn in der dargestellten Welt (mindestens) eine Grenze zwischen zwei oppositionellen semantischen Räumen von einer Figur aktiv oder passiv überschritten wird; semantische Räume sind Komplexe untereinander korrelierter semantischer Merkmale, die an topographische Teilräume der dargestellten Welt gebunden sein können, aber nicht müssen: semantischideologische Systeme der dargestellten Welt also, die auch als Menge von Propositionen – Quasi-Gesetzmäßigkeiten eines Teilsystems der dargestellten Welt – beschrieben werden können (dazu Renner 1983). Vgl. dazu Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970; wesentlich präzisiert und verbessert in Marianne Wünsch: Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen. München 2 1998. Zum Begriff vgl. Vf.: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438. Vgl. ebenfalls Vf.: »Epoche« und »Litera-
290
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Fragestellungen insbesondere an Mentalitäts-, Emotions-, Denkgeschichte, also an historischer Anthropologie, orientiert ist. Die Ergebnisse eines solchen struktural-semiotischen Ansatzes werden natürlich bei anderen Texten bzw. Epochen anders aussehen, als sie dies in meinem Beispiel tun. Im hier gewählten theoretisch-methodologischen Rahmen ist jedenfalls jeder Text interpretierbar, der überhaupt interpretierbar ist, und jede Fragestellung behandelbar, die überhaupt literaturwissenschaftlich sinnvoll ist; in diesem Rahmen sind, behaupte ich nach wie vor, intersubjektive interpretatorische Aussagen über Texte und Literatursysteme möglich. Und insofern ich in der Analyse des Textes Fehler gemacht haben sollte, sind es folglich meine – nicht solche des Verfahrens. Warum nun gerade Eichendorff? Einerseits handelt es sich um einen ausnehmend spannenden Text der späten Goethezeit, andererseits ist er ein schönes Beispiel dafür, daß gut lesbare, scheinbar einfache Texte eine höchst komplexe semantische Ordnung transportieren können. Wie so mancher andere Autor ist auch Eichendorff im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte in die Hände geistig schlichter konservativer Leser gefallen, die der Komplexität seiner Werke weder gerecht werden wollten noch konnten; meine Interpretation möge denn auch ein wenig zu seiner Ehrenrettung beitragen, um die sich in den letzten Jahrzehnten eine veränderte Germanistik bemüht hat.5
———————
5
tursystem«. Ein terminologisch-methodologischer Vorschlag. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. 49 (2002), Heft 3, S. 294–308, und Titzmann 2003 (Anm. 1). Dankbar konsultiert habe ich: Yvonne-Patricia Alefeld: Die verführerische Fremde. Klassische Mythologie und christliche Romantisierung in Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. In: Walter Engel/Norbert Honsza (Hgg.): Kulturraum Schlesien. Wrocáaw 2001, S. 93–108; Dieter Breuer: Marmorbilder. Zum Venus-Motiv bei Eichendorff und Heine. In: Aurora 41 (1981), S. 183–194; Hans Eichner: Zur Auffassung der Sexualität in Eichendorffs erzählender Prosa. In: Michael Keßler/Helmut Koopmann (Hgg.): Eichendorffs Modernität. Tübingen 1989 S. 37– 52; Waltrud Wiethölter: Die Schule der Venus. Ein diskursanalytischer Versuch zu Eichendorffs Marmorbild. In: ebda, S. 171–202; Winfried Woesler: Eichendorff und die antike Mythologie. In: ebda, S. 203–222; ders.: Frau Venus und das schöne Mädchen mit dem Blumenkranze. Zu Eichendorffs Marmorbild. In: Aurora 45 (1985), S. 33–48; Winfried Freund: Venerischer Spuk – Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild (1819). In: ders.: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart 1990, S. 99–110; Ulrich Gaier: »Wir alle sind, was wir gelesen...«: Eichendorffs Marmorbild. In: Clifford A. Bernd/Ingeborg Henderson/Winder McConnell (Hgg.): Romanticism and Beyond. New York u.a. 1996, S. 165–196; Klaus Köhnke: Mythisierung des Eros: Zu Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. In: Acta Germanica 12 (1980), S. 115–142; Hartmut Marhold: Motiv und Struktur des Kreises in Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. In: Aurora 47 (1987), S. 101–125; James McGlathery: Magic and Desire in Eichendorff’s Das Marmorbild. In: German Life and Letters 42/3 (1989), S. 257–268; Lothar Pikulik: Die Mythisierung des Sexualtriebs in Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild. In: ders.: Signatur einer Zeitenwende. Göttingen 2001, S. 166–176; Carsten Strathausen: Eichendorff’s Das Marmorbild and the Demise of Romanticism. In: Martha B. Helfer (Hg.): Rereading Romanticism. Amsterdam 1999, S. 367–388.
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
291
»Es war ein schöner Sommerabend, als Florio, ein junger Edelmann, langsam auf die Tore von Lucca zuritt [...]« (MB 31),6 beginnt unser Text. Die erzählte Geschichte ist sehr einfach und sei hier kurz rekapituliert. Der jugendliche Protagonist hat seinen Herkunftsraum und die Familie – erwähnt wird einmal ein Vater, nie eine Mutter – verlassen und sich auf eine Reise ohne festgelegten Zweck und festgelegtes Ziel begeben; aus dieser wird die zentrale Station, der ca. zehntägige Aufenthalt in Lucca, erzählt, und wie der Text mit Florios Ankunft einsetzt, endet er mit Florios Abreise. Am Ankunftstag lernt er – in dieser Reihenfolge – den berühmten »Sänger« Fortunato, dann bei einem Fest vor Lucca zuerst die hübsche Bianka und mit ihr erste Liebesregungen kennen und wird von einem »Ritter« Donati, der ihn zu kennen behauptet, angesprochen. Nachts verläßt er die Herberge in Lucca und entdeckt außerhalb der Stadt an einem Teich »ein marmornes Venusbild«, das erotische Antriebe bei ihm auslöst. Am nächsten Mittag verirrt er sich, gelangt in einen parkartigen Garten mit Schloß, wo er eine schöne Frau wahrnimmt, die er als lebendig gewordene Venusstatue identifiziert; anschließend trifft er auf Donati, der ihm sozialen Kontakt mit der Dame verspricht. Am übernächsten Abend folgt er der durch Fortunato übermittelten Einladung des ihm unbekannten Pietro, Biankas Onkel, zu einem Fest in Pietros Villa außerhalb der Stadt. Dort nimmt er eine maskierte Dame in griechischer Tracht wahr, die er freilich gleich verdoppelt sieht; eine wird sich als Bianka, die andere als Venus herausstellen. Florios erotisches Interesse an Bianka scheint erloschen: er wendet sich ganz Venus zu. Danach vergehen »mehrere Tage«, die im Text Nullposition bleiben, bis sich Florio als Gast in Donatis Landhaus findet, der ihn gegen Abend zum Palast der Venus geleitet. Fast schon der Versuchung erlegen, retten ihn ein frommes Lied, das draußen von Fortunato gesungen wird, und eigenes Gebet. Venus scheint sich in eine Statue zurückzuverwandeln, andere Statuen und Bilder werden lebendig und bedrängen Florio, der entflieht. Nach einem Tag, verbracht in depressivmelancholischem »Brüten«, verläßt er am Morgen Lucca und begegnet unterwegs drei Reitern: Fortunato, Pietro und einem Knaben, denen er sich anschließt, um »das schöne Italien zu durchschweifen« (MB 75). Man kommt an Ruinen vorbei, die Fortunato als früheren Venustempel identifiziert; er liefert zugleich das ideologische Modell, in dem sich erklären läßt, was Florio widerfahren ist. Dieser singt, sich befreit fühlend, ein Lied christlicher Tendenz und erkennt im Knaben die verkleidete Bianka, der er nun seine Liebe wieder zuwendet. »Und so zogen die Glücklichen fröhlich [...] in das blühende Mailand hinunter« (MB 82), endet der Text. Was hier erzählt wird und wie hier erzählt wird, folgt offenkundig (mit gewissen signifikanten Abweichungen) den Regeln des in der Goethezeit dominanten Er-
——————— 6
Ich zitiere den Text nach: Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. In: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Helmut Koopmann. Bd. V/1. Hg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1998, S. 29–82; nachfolgend abgekürzt MB.
292
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
zählmodells der ›Initiationsgeschichte‹.7 (Zu diesem Modell gehören unter anderem die sogenannten ›Bildungsromane‹, die Wielands Agathon, 1766/67, präludierte und für die Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96, modellbildend geworden ist.) Dieses Erzählmodell läßt sich als eine umfängliche Menge an Regularitäten beschreiben, die teils die Art des Erzählens, teils die Strukturen des Erzählten betreffen. Eichendorffs Text diesem Modell zuzuordnen, ist nicht eine interpretatorisch für die Bedeutung des Textes folgenlose Klassifikation (wie es etwa seine Zuordnung zu einer bestimmten ›Gattung‹, etwa der ›Novelle‹, wäre): Unser Text setzt vielmehr die Bekanntheit dieses Modells, also ein kulturelles Wissen des Lesers, voraus, und dieses Wissen hat interpretatorische Folgen, insofern Eichendorffs bewußte Abweichungen von diesem Modell semantisch relevant werden, wie ich in der Folge zu zeigen hoffe. Dieses Erzählmodell kann hier aus Umfangsgründen nicht dargestellt werden; ich halte nur, in äußerster Vereinfachung, einige wesentliche Merkmale fest.8 Eine (im Regelfalle anonyme) Erzählinstanz erzählt die ›Jugend‹ des (im Regelfalle männlichen) Protagonisten: den Prozeß, der vom ›Kindstatus‹ am Herkunftsort und in der Herkunftsfamilie zum ›Erwachsenenstatus‹ des Protagonisten führt. Erzählt wird dabei so, daß der Text der (fiktiven) Chronologie der Geschehnisse folgt und daß der Fokus auf dem Protagonisten liegt, den der Text bei seinen Bewegungen im Raum begleitet. Der Protagonist verläßt das Ausgangssystem, indem er sich auf eine Reise begibt, die entweder von vornherein keinen Zweck und kein Ziel hat oder beide unterwegs verliert. Die Reise impliziert eine definitive Ablösung von der Herkunftsfamilie; sie bringt den Protagonisten in fremde soziale Kontexte und in die Begegnung mit der Liebe, in Zustände der Versuchung und Gefährdung, die im negativen Falle mit ›Selbstverlust‹ (z.B. Wahnsinn oder Tod oder Eintritt ins Kloster) oder mit ›Selbstfindung‹ (definitive erotische Wahl und definitive Wahl von Beruf und Lebensweise) enden: seiner ›Initiation‹ in den Zustand ›Mann‹. ›Selbstfindung‹ impliziert dabei ›Selbsterkenntnis‹, ›Personwerdung‹, ›Autonomie des Subjekts‹; die Person erkennt, was sie ist und was sie nicht ist; sie hat ihre Möglichkeiten und Grenzen in einem Prozeß der ›Entwicklung‹ erfahren; sie entscheidet sich für die – ihr angemessenen – Werte, Normen, Ideologeme. Im positiven Falle wird also ein Prozeß der ›Emanzipation‹ erzählt: eine Utopie der
——————— 7
8
Die Regularitäten dieses Erzählmodells habe ich zu rekonstruieren versucht in: Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche (2002), in diesem Band S. 223–287. Vgl. auch vom Vf. in diesem Band: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen (1984), in diesem Band S. 173–193; Literarische Strukturen und kulturelles Wissen. Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche (1991), in diesem Band S. 373–431; Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformationen in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (2000), in diesem Band S. 195–222.
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
293
Aufklärung, bei der das Subjekt sich mehr oder minder vollständig vom familiären, sozialen, ideologischen Ausgangssystem zu lösen vermag. Wenn im übrigen die Ablösung des Protagonisten von der Herkunftsfamilie nicht gelingt, drohen Inzest (zu viel an emotionaler Bindung an die Familie) oder Verwandtenmord (zu wenig an emotionaler Bindung an die Familie), und beide laufen auf Selbstverlust hinaus: Die Familienbeziehungen, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts so sehr emotionalisiert worden sind, bedrohen die Möglichkeit der Emanzipation zur autonomen Person. Die drei Phasen dieses Modells stellen zugleich drei ›semantische Räume‹ im Sinne Lotmans dar: Das erste Ereignis Ei tritt – da konstitutiv für das Modell – notwendig ein; das letzte Ereignis Ef hat zwei alternative Varianten; welche davon eintritt, hängt von den Ereignissen E1, …, En ab, die sich innerhalb des zweiten semantischen Raums, also in der Transitionsphase, abspielen. Schematisch läßt sich das Modell so zusammenfassen:
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
294
Soziale Desintegration Ablösung von der Familie Ausgangszustand (sR 1.1)
Soziale Reintegration Endzustand (sR 1.3)
»T r a n s i t i o n s p h a s e « (sR 1.2)
Positive Variante: Ei »Kind«-Status Sozial integriert
Ef’
Selbstfindung (sR3a)
»Jüngling«
»Mann«-Status
Außersozialer Zustand
Sozial integriert
Ortsgebundenheit
Reise
Herkunftsraum Herkunftsfamilie
Neue Räume und soziale Umwelten
Zielraum Zielfamilie: definitive Partnerwahl
Nicht selbstgewählte Ordnung
Selbst- und Fremderfahrung: nicht zuletzt durch Liebe
Selbstgewählte Ordnung
Heteronomie
Nicht-Kenntnis des eigenen Selbst: Nicht-Abgrenzung der Person
Ortsgebundenheit
Emanzipationsprozeß: Unterstützung durch »Helfer«, Gefährdung durch »Gegner«
Autonomie der Person
Selbsterfahrung
Kenntnis des eigenen Selbst: Grenze der Person nach außen Ef’’
Negative Variante: Selbstverlust (sR 3b) (z.B. Wahnsinn, Kloster, Tod) Heteronomie Nicht-Kenntnis des eigenen Selbst
Schema 1: Das Erzählmodell »Initiationsgeschichte« in der Goethezeit
Da die Texte, die nach diesem Modell funktionieren, primär die Transitionsphase darstellen, können Ausgangs- und Endzustand extrem verkürzt dargestellt werden. In Eichendorffs Das Marmorbild setzt der Text chronologisch da ein, wo sich der Protagonist schon in der Transitionsphase, vor den für sein Leben entscheidenden Ereignissen, befindet. Die Kindheitsphase wird nur durch wenige Bemerkungen Florios selbst nachgetragen und repräsentiert; den Endzustand – die absehbare Eheschließung von Florio und Bianka – muß der Leser selbst folgern. Die entscheidende Transitionsphase ihrerseits wird extrem verkürzt, indem sie auf circa zehn Tage reduziert wird.
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
295
Schema 2: System der semantischen Räume: Rahmenstruktur 1. Semantische Räume sR 1.1: Herkunftsraum § Kindstatus sR 1.2: Raum der Transitionsphase § Jünglingstatus § Lucca und Umgebung sR 1.3 Zielraum § Mannstatus [Merkmale der drei Räume in Schema 1] 2. Ereignisse/Grenzüberschreitungen sR 1.2 Ei: Florio: sR 1.1 sR 1.3 Ef’: Florio: sR 1.2 (Florio geht aus dem erstgenannten in den zweiten sR über). 3. Die Räume 1.1 und 1.3 und die Ereignisse Ei und Ef’ werden im wesentlichen nur präsupponiert. Erzählt werden dieEreignisse E1, ..., En in sR 1.2. 4. Ei: Voraussetzung von E1, ..., En Ef’: Folge der Ereignisse von E1, ..., En 5. Ei und Ef’ sind ranghohe Ereignisse, da irreversibel: Aus sR 1.2 kann nicht nach 1.1, aus 1.3 nicht nach 1.2 zurückgekehrt werden.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die räumlichen und zeitlichen Strukturen der dargestellten Welt. Der Raum der Transitionsphase des Florio (sR 1.2) gliedert sich offenkundig in zwei Teilräume: den Raum der Stadt Lucca (sR 2.1) und den Raum der Umgebung von Lucca (sR 2.2), also einen städtischen Kulturraum und einen Naturraum, freilich keine wilde Natur, sondern schon eine kulturell domestizierte, die aus Gärten, Weinbergen, Villen besteht. Diese beiden Teilräume sind nun auch semantisiert durch die Ereignisse, die innerhalb ihrer stattfinden, und durch die Figuren, die in ihnen auftreten. Nur Fortunato und Florio, aber auch Donati betreten den Stadtraum; aber während Donatis Villa außerhalb desselben liegt, wohnen Fortunato und Florio auch in Lucca. Venus, aber auch Pietro und Bianka, halten sich nur im Raume außerhalb Luccas auf. Donati freilich hat Schwierigkeiten, den Stadtraum zu betreten bzw. in ihm zu verweilen. Als er Fortunato und Florio nach
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Lucca geleiten will, scheut sein Roß vor der Stadt; als er Florio in Lucca besucht, ist es Sonntagmorgen, und er muß vor dem christlichen Glockenläuten aus der Stadt weichen. Für ihn besteht also eine, wenn auch schwache Grenze zwischen den beiden Teilräumen. Außerhalb der Stadt finden sowohl die beiden Feste als auch Florios erotische Begegnungen mit Bianka und Venus bzw. deren Bilder statt. Die scheinbaren Wohnräume von Donati und Venus außerhalb der Stadt ihrerseits werden nur von einem Menschen, Florio, betreten. Diese Räume haben aber einen Sonderstatus: Sie existieren nicht wirklich. Wenn Florio am Morgen die Villa Donatis, in der er gegen Abend zu Gast war, aufsuchen will, findet er an der Stelle, wo sie sich befinden müßte, statt dessen die Hütte eines Bauern vor. Und wo er sich mittags bzw. abends/nachts im Garten bzw. Palast der Venus aufzuhalten glaubte, zeigt sich am Morgen nur eine Ruine (eines ehemaligen Venus-Tempels) in einer »üppig blühenden Wildnis« (MB 76), also im einzigen Teil eines Naturraums, der in diesem Text nicht domestiziert ist; diese Wildnis ist ein realer Teilraum des Naturraums (sR 2.2), aber ein Extremraum (sR 2.2'), der nur von Fortunato betreten wird – Florio glaubt sich ja, wenn er in sR 2.2' ist, in einem anderen Raum, der sich nur eben als nicht-real herausstellen wird. Zu unterscheiden ist somit zwischen realen Räumen (sR 3.1) und fantastischen, nur imaginierten Räumen (sR 3.2) – doch dazu später. Es zeigt sich jedenfalls, daß Raum- und Zeitstrukturen korreliert sind. Funktionalisiert werden hier die Jahres- und Tageszeiten. Handlungszeitraum ist der Sommer. Die Erscheinungen der Venus werden explizit an die Jahreszeit Frühling gebunden: sowohl durch ihre Selbstaussage in dem Sonett, das sie singt, wie durch die Deutung der Geschehnisse, die der ›Chefideologe‹ Fortunato am Textende in poetischer, liedhafter wie auch in prosaischer Form liefert: Was weckst du, Frühling, mich von neuem wieder? Daß all die alten Wünsche auferstehen [...]. (MB 51) Auch sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling wieder in die grüne Einsamkeit ihres verfallenen Hauses heraufsteigen [...]. (MB 79)
Venus ist also eigentlich tot, aber hat in jedem Frühjahr eine Auferstehung, eine Wiederbelebung. Ihr temporäres, zyklisches Wiedererscheinen geht dann logisch jeweils mit dem Spätherbst zu Ende. Ihre Auftritte im Text sind aber zudem an Tageszeiten gebunden: Sie selbst oder ihr Bild begegnen Florio nur abends/nachts oder mittags (zur Stunde des Pan); nur in dieser Episode ist es im Text Mittag. Unser Text setzt an einem Sommerabend ein und er endet an einem frühen Morgen. Nacht und Morgen werden explizit semantisiert; der letzte Morgen des Textes wird durch Florios Lied mit seiner Rückwendung zum christlichen Vatergott korreliert (MB 80); der oben erwähnte Bauer darf in seinem Lied die Zuordnung (Nacht § teuflischer Zauber) vs. (Morgen § christlicher Gott)
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
explizit vollziehen (MB 74). Wenn Florio am Abend kommt, geht er der Versuchung entgegen; wenn er am Morgen abreist, hat er die Versuchung überwunden. Nicht nur seine Begegnungen mit Venus finden mit einer Ausnahme abends bzw. nachts statt, sondern auch die beiden ersten Begegnungen mit Bianka, die also zunächst, trotz ihrer positiven Merkmale, ihrer ›Tugend‹, einem Raum des Gefährdenden zugeordnet ist; wenn Florio sie am Textende, nun zu definitiver, ideologisch akzeptabler Liebe wiederfindet, ist es folgerichtig Morgen. Die Semantik der Tages- und Jahreszeiten kompliziert sich noch dadurch, daß in der Goethezeit auch eine Zuordnung der vier Jahres- bzw. Tageszeiten zu den vier Lebensaltern, die die Epoche unterscheidet,9 massiv rekurrent belegt ist. Demgemäß ist die metaphorische Korrelation von Frühling oder Sommer und Jugend jedem zeitgenössischen Leser aus dem kulturellen Wissen bekannt. Eben diese Korrelation wird vom Text bestätigt, wenn Fortunato ausführt, daß Venus nach ihrer Auferstehung im Frühjahr »die alte Verführung übe an jungen sorglosen Gemütern« (MB 79). Nur männliche junge Menschen sind davon betroffen: Und so ist denn auch Florio die einzige Figur, die Venus sieht und ihr begegnet. In wiederum längst konventionalisierter Metaphorik wird in der Goethezeit ›Frühling‹ und ›Jugend‹ mit Liebe bzw. Liebesbereitschaft korreliert, was nochmals die Wahl der Jahreszeiten motiviert. Doch weist der Text noch eine weitere wichtige räumliche Strukturierung auf. Wenn von den christlichen Gottheiten die Rede ist, werden sie in einem Raum oberhalb der menschlichen Welt angesiedelt (sR 5.1): so der Vatergott im Himmel, Maria mit dem Kind auf einem Regenbogen (MB 40 bzw. 78f.). Dem entspricht umgekehrt ein Raum unterhalb der menschlichen Welt, in dem sich die toten heidnischen Götter befinden, das »Göttergrab« (MB 8 bzw. 79), aus dem Venus im Frühjahr aufersteht. Generell ist in unserem Text eine Opposition zwischen Oberfläche des Lebens / normale Realität
vs.
Tiefe unter der Oberfläche / Abweichung
extrem rekurrent, wobei die ›Tiefe‹ insbesondere durch die Verben ›versinken/untergehen‹ bzw. deren Partizip Perfekt ›versunken/untergegangen‹ repräsentiert wird. Die Welt der Venus erscheint generell als »versunkene Welt« bzw. »versunkenes Reich« (MB 68 und 78). So nimmt Florio denn auch den Raum der Venus wahr: denn es war ihm, als sei das lange versunken, und über ihn ginge der Strom der Tage mit leichten klaren Wellen, und unten läge nur der Garten gebunden und verzaubert und träumte von dem vergangenen Leben. (MB 50) Ihr Palast sowie der Garten, den er in jener Mittagsstunde zufällig gefunden, war wie versunken […]. (MB 56)
——————— 9
Vgl. dazu Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
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Dieser ungemein gut belegte lexikalische Komplex wird immer wieder mit Wassertiefe korreliert. So träumt Florio denn auch nach der ersten Begegnung mit Bianka und vor dem Auffinden der Venusstatue von einem Schiffbruch (MB 43), zu dem der Gesang von Sirenen führt; und anhand der Venusstatue wird auch der Mythos ihrer Geburt aus dem Meere abgerufen: »als wäre die Göttin soeben erst aus den Wellen aufgetaucht« (MB 45). Es sind nun gänzlich verschiedene Größen, die als versunken oder versinkend gedacht werden können: die Welt der Antike und der Venus, die Augen der Venus, die Sonne, Landschaften, Städte (MB 40, 43, 50, 51, 56. 71, 73, 75, 77, 78, 82). Den Abwärtsbewegungen stehen aber auch Aufwärtsbewegungen gegenüber: Was sich in der ›Tiefe‹ befindet, kann z.B. ›heraufsteigen‹, ›heraufblühen‹, ›auftauchen‹ und damit in die normale Realität eintreten. Auch die Bewegung in den christlichen Himmel ist als Aufwärtsbewegung gedacht, wenn Fortunato singt: »Der Himmel ist offen, / Nimm, Vater, mich auf!« – nur handelt es sich hier nicht um eine Bewegung aus der Tiefe zur Oberfläche, sondern von der Oberfläche in einen – ganz wörtlich – überirdischen Raum. Für diesen semantischen Raum ›Unten‹ (sR 5.2) lassen sich aus dem Text mindestens die folgenden Merkmale abstrahieren: Oberfläche
vs.
T i e f e (korreliert mit Wasser) (= sR 5.2)
Aktuelle Realität
Nicht-aktuelle Realität: aber potentiell wieder aktualisierbar
Lebend
Real oder metaphorisch tot: aber potentiell wiederbelebbar
Manifest gegeben
Latent: scheinbar überwunden, aber noch präsent
Sichtbar
Nicht sichtbar
Bewußt
Nicht bewusst: vergessen oder verdrängt
Gegenwart
Vergangenheit individuell: Kindheit kollektiv: frühere Kultur
Sozial kompatibel
Sozial nicht kompatibel
Potentiell unbedrohlich: - Zulässige Erotik: Bianka - Zulässige Religion: Christentum
Potentiell bedrohlich: - Unzulässige Erotik: Venus-Welt - Unzulässige Religion: Antikes Heidentum
Offen/zugänglich
Abgeschlossen/unzugänglich
Schema 3: »Oberfläche« vs. »Tiefe«
Neben dieser ›Tiefe‹ außerhalb des Subjektes gibt es aber auch eine ›Tiefe‹ in der Psyche des Subjektes, und Fortunato korreliert beide explizit:
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild Da will sich’s unten rühren Im stillen Göttergrab Der Mensch kann’s schaudernd spüren Tief in die Brust hinab. (MB 77)
In der psychischen ›Tiefe‹ befindet sich offenbar, was das Subjekt vergessen oder verdrängt hat; dort befindet sich auch, was es in der Gegenwart am stärksten emotional bewegt: So kann man »wie aus tiefster geklemmter Brust« reden, »aus Herzensgrunde« weinen, »aus tiefstem Grunde der Seele« beten (MB 55, 66, 72). Wenn aus dieser psychischen Tiefe etwas ›aufsteigt‹ und sich semiotisch artikuliert, dann handelt es sich um den Versuch, psychisch Bedrohliches abzuwehren. Umgekehrt gibt es im Text oft auch die gegenteilige Bewegung eines ›psychischen Versinkens‹: »in tiefe Gedanken«, »in Nachdenken«, »in Schauen«, »in unseliges Brüten«, »in tiefe Schwermut«, »in sich« (MB 32 und 72, 75, 67, 75, 81, 53). Die Beispiele (und ihre Kontexte) belegen deutlich, daß solches psychisches Versinken immer problematisch und schlimmstenfalls psychopathisch ist. Es impliziert immer eine Ausschließung der Umwelt und eine soziale Nicht-Präsenz des Subjektes; es impliziert eine Reduktion der Psyche auf eine nur partielle Präsenz, das Subjekt verliert die Herrschaft über sich und die Verfügung über seine Fähigkeiten. In der Logik des Textes ist die totale Abgeschlossenheit der Psyche nach außen, wie sie in solchem Versinken eintritt, ebenso gefährlich (wenn sie dauert) wie die totale Offenheit nach außen: Wie auch in sonstigen Initiationsgeschichten geht es darum, die richtige Form der Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich zu finden, bei der das Subjekt weder zu offen für alle Versuchungen der Umwelt noch zu abgeschlossen gegen alle Mahnungen der Umwelt ist. Am Textende reitet Florio zunächst, noch von seinen Venus-Erlebnissen schockiert, verschlossen, nichtkommunikativ, kaum wahrnehmend, neben seinen Begleitern; erst wenn er geheilt bzw. erlöst ist, nimmt er seine Umwelt wieder wahr, erkennt jetzt erst Bianka und kommuniziert wieder (MB 81f.). In diesem Kontext sei auch erwähnt, daß Florio vorher schon immer, wenn er nach außen offen war, auch das Fenster seines Zimmers geöffnet ließ, und wenn er sich nach außen abschloß, auch das Fenster bzw. die Tür schloß (MB 43, 65, 66, 75). Eingangs, bei ihrer ersten Begegnung, erklärt nun Florio dem Dichter Fortunato: Ich habe jetzt das Reisen erwählt und befinde mich wie aus einem Gefängnis erlöst, alle alten Wünsche und Freuden sind nun auf einmal in Freiheit gesetzt. (MB 32)
Der Text scheint also zunächst den Regeln der Initiationsgeschichte zu genügen: Kindstatus § Unfreiheit (Heteronomie)
vs.
Jüngling (§ Transitionsphase) § Freiheit (potentielle Autonomie)
Fortunato warnt den Protagonisten, daß die neue Freiheit auch einer Gefährdung äquivalent sei:
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
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Habt Ihr wohl jemals [...] von dem wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hineinverlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch! (MB 32)
Jener Zauberberg ist natürlich der Venusberg der Sage, den Tieck bekanntlich literarisiert hatte.10 Die Gefährdung des Subjekts in der Transitionsphase besteht also in der Versuchung durch eine bestimmte Form von Erotik, die zu definitiver Heteronomie (und also Selbstverlust) führt. Alle Gefährdungen, denen der ›Jüngling‹ in den goethezeitlichen Initiationsgeschichten sonst ausgesetzt sein mag, werden hier auf eine einzige reduziert: falsche Erotik mit der falschen Frau, repräsentiert durch die antike, heidnische Gottheit Venus. Vermittelt wird diese Versuchung aber durch einen »Spielmann«, also durch literarisch-musikalische Kunstausübung. Mit einem »zauberischen Spielmann« hatte nun eben Florio zuvor die Erfahrung des »Frühlings« in seiner Kindheit verglichen. »Zauber« auf jemanden ausüben, heißt, ihn entautonomisieren; und diese zaubernde Kunstausübung wird hier dem »Frühling«, also dem Naturbereich, zugeschrieben. Mit dem Versprechen »von großer unermeßlicher Lust« (MB 32) verführen kann also sowohl der literarische Sänger als der Frühling, sowohl die Kunst als die Natur. Am Ende des Textes wird nun die ursprüngliche ›Erlösung‹, die Florio am Textanfang empfindet, durch eine andere ›Erlösung‹ substituiert, die eindeutig christlicher Natur ist. Nach seiner Aufklärung über die Venus-Welt durch Fortunato addressiert Florio sein letztes Lied an den christlichen Gott, der als »Herr« und »Vater« tituliert wird und dem er sich unterwirft, was zugleich als neue und wahre Freiheit klassifiziert wird: »Nun bin ich frei!« (MB 81) Mit Hilfe des Modells der Initiationsgeschichte wird im Marmorbild also den ideologischen Implikationen der Initiationsgeschichte widersprochen: Mit den Mitteln des literarischen Systems der Goethezeit wird das ideologische System der Goethezeit, soweit es auf einer nicht-christlichen Aufklärung beruhte, liquidiert. Die Autonomie jedes Subjektes auch gegenüber dem Christentum wird durch heterodoxe Unterwerfung unter das Christentum substituiert: Die wahre Autonomie im Sinne unseres Textes ist die freiwillige Heteronomie. (Was nun freilich bei Eichendorff ›Christentum‹ bedeutet, ist, wie sich zeigen wird, weit weniger orthodox, als man vermuten würde.) Freiheitsbegriff des Textanfangs § »Freiheit« 1 im Sinne der goethezeitlichen Initiationsgeschichte: Autonomie als Emanzipation auch von tradierten Ideologien
vs.
Freiheitsbegriff des Textendes § »Freiheit« 2 im Sinne von Eichendorffs Text: Autonomie als freiwillige Heteronomie: selbstgewählte Unterwerfung unter tradierte Ideologien
Schema 4: »Freiheit«
——————— 10
Vgl. Ludwig Tieck: Der getreue Eckart und der Tannenhäuser (1799), Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein (1835).
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
301
Anhand der Geschichte Florios erzählt der Text also die Geschichte eines ideologischen Wandels, der von Spätaufklärung und früher Goethezeit, Sturm und Drang, Klassik, Frühromantik zu den ideologischen Tendenzen zumindest eines Teils der späten Romantik führt. Dem entspricht eine weitere Transformation, die zwar nicht erst in Eichendorffs Texten, aber eben auch in diesen, darunter auch im Marmorbild, auftritt. Wo in der ersten Hälfte der Goethezeit auch einem positiv bewerteten Protagonisten in der Transitionsphase die Verletzung des normativen Verbots vorehelicher Sexualität zugestanden wurde,11 da ist eine solche jetzt ausgeschlossen: Fortunato beschreibt gegen Textende, welche furchtbaren Folgen es hätte, der Verführung der Venus-Welt zu erliegen. Unser Text postuliert also ein ideologisches Programm, das auf Revision und Transformation früherer ideologischer Positionen der Goethezeit hinausläuft. Auch die räumliche und zeitliche Situierung der erzählten Geschichte ist in diesem Kontext relevant. Daß die Wahl des Handlungsortes ›(Ober-)Italien‹ funktional ist, liegt auf der Hand: Italien wird im letzten Lied des Fortunato als Raum beschrieben, wo sich eine neue Kultur auf der Basis der vergangenen Antike etabliert hatte, die, metaphorisch als ›Tod‹ (»im stillen Göttergrab«) klassifiziert, unter bestimmten Bedingungen wiederbelebt wird (MB 77f.): Sowohl in Fortunatos Lied wie im Sonett der Venus ist gar von »Auferstehung« (MB 51 und 77f.) die Rede. Nun wird nicht nur Donati wiederholt als »Ritter« (MB 40–42, 52) bezeichnet, sondern auch auf den Wandteppichen im Palast der Venus sind »Ritter« dargestellt, wie auch auf Bildern, die Florio in der Kindheit gesehen haben will. Von einer sozialen Gruppe »Ritter« kann nun in der Goethezeit normalerweise nicht mehr gesprochen werden, wohl aber im Mittelalter und früher Neuzeit. Da nun aber Venus ein Sonett singt, befinden wir uns eindeutig nach dem kulturellen Wissen der Goethezeit in einer Phase nach Petrarca. Fortunato verfügt über ein nicht geringes Wissen über antike Mythologie; andererseits vermag – der doch als gebildet anzunehmende – Pietro noch nicht jene Ruinen, bei bzw. in denen die Venus-Handlung situiert wird, als Venus-Tempel zu identifizieren und bedarf der Hilfe des Spezialisten Fortunato (MB 76). Es spricht also einiges dafür, die erzählte Geschichte in der Renaissance zu situieren, wozu denn auch der Schauplatz Oberitalien aufs beste paßt.
——————— 11
Vgl. z.B. Wielands Agathon (1766/67), Wezels Hermann und Ulrike (1780), Heinses Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787), Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), Tiecks Die Geschichte des Herrn William Lovell (1795/96) oder Franz Sternbalds Wanderungen (1798), Klingers Geschichte Giafars des Barmeciden (1792–1794) oder Geschichte Raphaels de Aquillas (1793), Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800/01), Brentanos Godwi oder das steinerne Bild der Mutter (1801) usw. Die an solcher nicht-ehelichen Sexualität beteiligten Frauen werden freilich nie vom Protagonisten geheiratet: vgl. Vf.: Die ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287.
302
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Eine ›Wiederbelebung‹ der Antike – ihrer Ideologeme und Werte – hat nun aber nicht nur in der italienischen Renaissance, sondern erneut in der deutschen Goethezeit stattgefunden, wo ja, um nur einige wenige zu nennen, bei Autoren wie Wieland, Goethe, Schiller, Hölderlin die positive Bewertung der Antike mit einer eindeutigen Abkehr vom Christentum korreliert ist. Wenn hier im Marmorbild also die ›Wiederbelebung‹ der Antike als extreme Bedrohung des menschlichen Subjektes erscheint, dann muß das logisch mit einer Ablehnung der antikisierenden, quasi-heidnischen, nicht-christlichen Tendenzen nicht nur der Renaissance, sondern auch der Goethezeit, und in dieser vor allem der Klassik, äquivalent sein. Unser Text ist somit ein Metatext, der Transformationen innerhalb seiner eigenen Epoche thematisiert und programmatisch fordert, die eine Reduktion des aufklärerischen Autonomieanspruchs implizieren und ihn innerhalb der Grenzen traditioneller Werte und Ideologeme einschränken. Genau jene hier verworfene Emanzipation des Subjektes gehörte aber zu den ursprünglichen Merkmalen der Initiationsgeschichte der Goethezeit, die hier somit konsequent transformiert wird. Aber sehen wir uns nun endlich die erzählte Geschichte näher an. Der Protagonist – ein ›Jüngling‹, für den gemäß goethezeitlicher Anthropologie Liebesstreben altersgemäß ist – wird mit zwei unterschiedlichen Erotikangeboten, repräsentiert durch zwei verschiedene weibliche Personen, Bianka und Venus, konfrontiert. Hinzu kommt eine dritte Frauenfigur, die im Gegensatz zu den beiden anderen nicht in der dargestellten Welt selbst auftritt, sondern nur im letzten Liede Fortunatos genannt wird: Maria, als Mutter einer der christlichen Gottheiten wie Venus selbst auch hier eine nicht-menschliche Gestalt. Maria erscheint als Mutter; Venus charakterisiert sich in ihrem Sonett in einer Zeitumkehrung als »schöne Mutter […], die, wieder jung, im Brautkranz süß zu sehen« (MB 51). Während nun im kulturellen Wissen der Venus eindeutig Sexualität zugeordnet ist, gilt Maria, zumindest in der katholischen Variante, die gemäß kulturellem Wissen für den Handlungsraum Italien anzunehmen ist, zwar als Mutter, aber als jungfräuliche. Beide erscheinen als erwachsene Frauen, während Bianka extrem jung ist: Die Arme war mitten in ihren sorglosen Kinderspielen von der Gewalt der ersten Liebe überrascht worden. (MB 81)
Bei ihr findet somit gerade eben der Übergang zwischen den beiden Altersklassen ›Kind‹ und ›Jungfrau‹ statt. Die drei weiblichen Figuren bilden also ein paradigmatisches System oppositioneller Alternativen:
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild Maria
vs.
Bianka
vs.
Venus
Übermenschlich
Menschlich
Übermenschlich
Erwachsene Frau (Mutter)
Kindfrau (Kind ĺ Jungfrau)
Erwachsene Frau (Mutter, Braut)
Repräsentation von Asexualität:
Prozeß der Erotisierung:
Repräsentation von Sexualität
unzugänglich Sexuell
unerfahren
zugänglich Sexuell
Sexuell zugänglich unerfahren
Christliche Quasi-Gottheit
Christlich
Heidnisch-antike Gottheit
Nur erwähnt: nicht in der dargestellten Welt auftretend
Dargestellt: in der erzählten Welt auftretend
Dargestellt: in der erzählten Welt auftretend
Lebend?
Lebend
Tot/Wiederbelebt
»Tugend«
(Gefährdete?) »Tugend«
»Laster«
Schema 5: Frauentypen
Venus und Maria teilen einige Merkmale; vor diesen Gemeinsamkeiten hebt sich die hier relevante Opposition zwischen ihnen deutlich ab – es geht um ›christlichasexuell‹ vs.. ›heidnisch-sexuell‹. Die einzige menschliche Frau, Bianka, teilt aber offenkundig mit jeder der beiden übernatürlichen Frauen Merkmale; sie repräsentiert also einen Zwischenzustand zwischen den beiden Extremen. In diesem Kontext läßt sich problemlos interpretieren, was Florio auf dem Feste bei Pietro widerfährt. Zunächst begegnet ihm ein maskiertes »zierliches Mädchen [...] in griechischem Gewande« (MB 57), das ihm eine Rose überreicht (= Griechin1); er findet sie wieder und tanzt mit ihr (= Griechin2), erblickt aber zur gleichen Zeit im Festsaal eine zweite Frau im selben Outfit (= Griechin3); im Garten belauscht er später an einem Springbrunnen eine singende »Griechin« (= Griechin4), die eine Rose bei sich hat und offenbar verliebt ist; noch später tritt er ebenfalls im Garten in persönlichen Kontakt mit einer »Griechin«, die für Florio zunächst unverstehbare Aussagen – »rätselhafte Worte« – macht (= Griechin5): Da kam es ihm auch vor, als sei sie nun größer und schlanker und edler als vorhin beim Tanze und am Springbrunnen. (MB 62)
Diese nun entschleiert sich, als sie sich von ihm verabschiedet, und stellt sich als die früher in ihrem Garten von ihm belauschte Venus heraus. Griechin3 und Griechin5 sind also ebenso unzweideutig Venus, wie sich hinter Griechin1, Griechin2, Griechin4 Bianka verbirgt. Während nun für Venus das griechische Gewand als kulturell angemessen gelten kann, ist es für Bianka eine Verkleidung – im übrigen
304
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
ein weiterer Indikator dafür, daß der Handlungszeitraum wohl die Renaissance sein muß. Daß die beiden potentiellen Rivalinnen als Doppelgängerinnen auftreten, kann nun nur bedeuten, daß die menschliche Frau in ihren Merkmalen an den Merkmalen der Venus-Welt partizipiert. Erzählt wird uns zwar nur, daß sie sich Florio als Ehemann erträumt hat und daß sie es ist, die beim Fest Florio erotische Avancen macht (Überreichung der Rose); was sie mit der Venus-Welt teilt, muß wohl eine – wenn auch nur potentielle – Sinnlichkeit sein. Da die Venus-Welt aber vom Text negativ gewertet wird, muß Bianka für die Venus-Anteile in ihr gestraft werden: und sie wird es. Im Anschluß an die Festszene wechselt zum ersten und praktisch einzigen Male der Fokus von Florio auf Bianka (MB 66): Allein auf der Terrasse, beweint sie, daß Florio »so zerstreut, so kalt und fremd« (MB 66) zu ihr gewesen sei; die Erzählinstanz präzisiert später, daß Bianka anschließend »in eine tiefe Schwermut« »versunken« (MB 81) sei. Wenn Florio sie am Textende wiedertreffen – und wieder lieben – wird, trägt sie auf Anordnung des Onkels »Knabentracht«: angeblich, »um ungehinderter reisen zu können« (MB 81). In Texten der Goethezeit gilt nun aber normalerweise, daß als Knabe oder Jüngling verkleidete Frauen moralisch bedenklich sind und zum sexuellen Normverstoß neigen:12 Diese semantische Implikation wird hier durch die Anordnung der Kleiderwahl durch den Onkel neutralisiert. Wie sie für ihre Erotisierung – und Annäherung an die Venus-Welt – mit depressiven Zuständen gestraft worden ist, wird sie hier wieder entsexualisiert, indem ihr die Zeichen ihres Geschlechts genommen werden: Und jetzt ist sie reif für eine glückliche Dauerbeziehung und christliche Ehe mit Florio. Zu fragen bleibt, welche Funktion es hat, daß Bianka so auffällig jung – erst an der Grenze zwischen ›Kind‹ und ›Jungfrau‹ – ist. (Das gilt im übrigen für alle Frauen im Erzählwerk Eichendorffs, die am Textende von den männlichen Protagonisten geheiratet werden, während die ›gefährlichen Frauen‹ vom Venus- bzw. Diana-Typ, die der Held verschmäht und die sterben müssen, immer erwachsene Frauen sind.)13 Die Antwort ergibt sich logisch aus den bisherigen Interpretationsergebnissen: Die moralisch bzw. psychisch akzeptable Frau ist die am wenigsten erotische Frau, die Frau, die bis dahin nicht nur noch keine sexuellen Erfahrungen hat, sondern noch gar keine erotischen Wünsche kennt, für die Bianka ja erst einmal gestraft werden muß. So reitet sie denn auch am Textende neben Florio, nicht nur »überrascht von dem unverhofften Glück«, was verständlich wäre, sondern gar »in freudiger Demut, als verdiene sie solche Gnade nicht« (MB 82) – der ›Gnade‹ bedarf bekanntlich nur der ›Sünder‹, zumal der christliche. Man(n) kann die Frau nicht früh genug einfangen, bevor ihre Sexualität normgefährdend und für den Mann bedrohlich wird, scheint es...
——————— 12 13
Vgl. Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287. Vgl. z.B. Ahnung und Gegenwart, Dichter und ihre Gesellen, Die Entführung, Eine Meerfahrt. Auch sonst in romantischer fantastischer Literatur sind die gefährlichen Frauen immer erwachsen: vgl. z.B. Tiecks Der Runenberg (1804), E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (1815/16) oder Die Bergwerke zu Falun (1819).
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Wenn es schließlich aber doch zur Liebe zwischen Florio und Bianka kommt und die zukünftige Eheschließung absehbar ist, wenn also, freilich nur unter sehr restriktiven Bedingungen, aber doch immerhin, Erotik zulässig ist, in einer ›christlichen Ehe‹ und mit einer kulturell dominierten Frau, dann also fragt sich, was denn so schrecklich an der Erotik der Venus-Welt sei. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, müssen die Stationen der Annäherung Florios an die Venus-Welt ein wenig interpretiert werden. In der ersten Begegnung mit Bianka, beim Fest vor der Stadt Lucca, hat sich eine Liebesgeschichte zwischen Florio und Bianka schon angebahnt. (Halten wir fest, daß gleich anschließend der unheimliche Ritter Donati, der der Venus-Welt angehört, mit Florio einen ersten Kontakt aufnehmen wird.) Es hat eine Erotisierung Florios (und, wie wir später erfahren, eben auch Biankas) stattgefunden. Ich meine damit: Bis dahin latente erotische Wünsche und Bedürfnisse haben sich anhand einer potentiellen Partnerin aktualisiert und sind manifest geworden. Das zeigt sich in der anschließenden Nacht, in der Florio zunächst von dem »schönen Mädchen«, also Bianka, träumt. Er verläßt die Stadt, und bricht in den Naturraum auf, er singt ein Lied, und: Er mußte über sich selber lachen, da er am Ende nicht wußte, wem er das Ständchen brachte. Denn die reizende Kleine mit dem Blumenkranze [= Bianka] war es lange nicht mehr, die er eigentlich meinte. Die Musik bei den Zelten, der Traum auf seinem Zimmer und sein die Klänge und den Traum und die zierliche Erscheinung des Mädchens nachträumendes Herz hatten ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, größeres und herrlicheres, wie er es noch nirgend gesehen. (MB 45)
Das mögliche Objekt einer ersten Liebe führt also zu einer Erotisierung, die ihren Anlaß transzendiert. Das gekannte, potentiell zugängliche und verfügbare, reale Liebesobjekt wird sofort durch ein nicht-reales, unbekanntes, aktuell nicht verfügbares substituiert. Was wir hier haben, ist jene romantische ›Sehnsucht‹, wie sie sich zuerst in Ludwigs Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, 1798, manifestiert hat: Diese ›Sehnsucht‹ besteht darin, daß sich das Begehren nie mit dem aktuell Gegebenen, Verfügbaren, Erreichbaren – so positiv bewertet es auch sei – zufrieden gibt, sondern immer nach dem ganz anderen strebt, das als noch positiver, noch begehrenswerter erscheint und sich – falls es überhaupt existiert – immer anderswo befindet als in jenem Raum, in dem sich das Subjekt gerade aufhält.14 Florio substituiert denn auch das ›Bild‹ der realen Frau durch das einer imaginierten Frau, die deren Überbietung wäre: das relativ Gute durch das absolut Beste. Zu erinnern ist, daß das Lexem ›Bild‹ in der Sprache der Goethezeit sowohl (wie im obigen Zitat) die intrapsychische visuelle Vorstellung einer extrapsychischen Entität als auch die semiotische, ikonische Abbildung einer – existenten oder nichtexistenten – Entität in Gemälde oder Statue bedeutet (eben z.B. auch das »Mar-
——————— 14
Vgl. dazu Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a.M. 1979.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
morbild«).15 Kaum hat nun Florio das intrapsychische Bild eines optimalen Liebesobjektes konzipiert, begegnet ihm auch schon das extrapsychische »marmorne Venusbild« (MB 45), das die Göttin repräsentiert, die optimal Schönheit und Liebe verkörpert: also in der Logik des Textes die maximal anziehende und begehrenswerte Frau, mit der nicht nur Bianka, sondern auch keine sonstige irdisch-reale Frau konkurrieren kann; in der Doppelgänger-Szene der beiden »Griechinnen« wird ihm denn eben auch die Gestalt der Venus als »größer, schlanker und edler« erscheinen. Unter seinem Blick scheint die Statue sich zu beleben; er muß denn auch »die Augen lange geschlossen vor Blendung« (MB 46) halten. ›Geblendet sein‹, ›die Augen schließen‹, heißt ›Nicht-Sehen‹; und wenn sich Florio schließlich Bianka wieder zuwendet, lesen wir: Eine seltsame Verblendung hatte bisher seine Augen wie mit einem Zaubernebel umfangen. (MB 82)
Solche optischen Akte des ›Sehens‹ bzw. ›Nicht-Sehens‹ fungieren in der Goethezeit erstens als Ausdruck von ›Erkenntnis‹ bzw. ›Nicht-Erkenntnis‹:16 Die Begegnungen mit Bild und Person der Venus bedeuten also auch da, wo Florio etwas ›gesehen‹ zu haben meint, eine Beschränkung bzw. Verhinderung seines Erkenntnisvermögens; die Begegnungen mit der Venus-Welt sind also mit einem Verkennen der Realität korreliert. Freilich: »Als er wieder aufblickte, schien auf einmal alles wie verwandelt« (MB 46) – die Statue erscheint kalt und tot, und mit »steinernen Augenhöhlen«. Bei seiner letzten Begegnung mit der Person der Venus wird sie sich in seiner Wahrnehmung ebenfalls wieder verwandeln: denn es war ihm, als stände die Dame starr, mit geschlossenen Augen und ganz weißem Antlitze […]. (MB 72) worin endlich auch die lieblich spielenden Augensterne unterzugehen schienen […]. (MB 73)
Der lexikalische Komplex von ›Augen‹/›Sehen‹ (und deren Negationen) fungiert zweitens in der Goethezeit als Ausdruck der Seele – so kann es denn von Bianka heißen: »die ganze klare Seele lag in dem Blick« (MB 82), den sie Florio zuwendet, und dieser selbst verfügt denn auch über »seelenvolle Augen« (MB 47). Es sind drittens die Augen und die Akte des Sehens, über die in der Goethezeit Liebe entsteht bzw. vermittelt wird. Wenn zweimal Venus Augen und Sehfähigkeit vom Text bzw. von der Wahrnehmung Florios entzogen werden, dann bedeutet das auch, daß ihr ›Seele‹ und somit ›Liebesfähigkeit‹ abgesprochen werden. Der zweimalige Übergang – erst der Statue, später der Person – in den Zustand der Bleichheit und der Erstarrung stellt natürlich ein Todesäquivalent dar: Die Wiederbelebte fällt in den Tod zurück. Am nächsten Mittag nun begegnet Florio im Garten der Venus der Person Venus selbst statt bloß ihrer Statue (MB 51). Noch findet kein Kontakt statt; im
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Vgl. Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287. Vgl. Vf.: Wissen und Sprache in der Goethezeit, in diesem Band, S. 173–193.
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Garten liegt aber – »er sah fast wie ein Toter aus« (MB 52) – der schlafende Donati, der Florio die Vermittlung der Bekanntschaft mit Venus verspricht. Bei Pietros Fest nimmt Florio dann persönlichen Kontakt mit Venus auf, die ihm ein Treffen bei ihr in Aussicht stellt, das Donati vermitteln werde, wie es sich dann tatsächlich erfüllt. Florios Annäherung an die Venus-Welt vollzieht sich also in einer Serie sukzessiver Schritte. Deren erster ist aber der Auftritt Donatis beim Feste vor Lucca; Donati gehört einerseits der Venus-Welt an, erscheint andererseits aber als realer Mensch, der nicht nur von Florio, sondern auch von Bianka, Fortunato, den sonstigen Festgästen wahrgenommen wird, während nur Florio Venus wahrnimmt, selbst wenn diese auf Pietros Fest erscheint – auch Bianka sieht offenbar ihre Doppelgängerin nicht. Mit Ausnahme Florios reagieren alle Festgäste mit Aversion auf Donati. Donati erscheint nun aber erst nach der ersten erotischen Annäherung zwischen Bianka und Florio. Erst wenn die Erotisierung Florios eingesetzt hat, kann sich ihm die Venus-Welt über Donati manifestieren. Diese Manifestation vollzieht sich als zunehmende Annährung der Venus-Welt an Florio: Erst nach dem Vermittler und Mediator Donati begegnet er der Statue der Venus, erst danach, noch ohne persönlichen Kontakt, der Person selbst; dann wird wiederum Donati dazwischengeschaltet, sich nun explizit als Mediator präsentierend; sodann tritt Venus bei Pietros Fest in vorläufigen Kontakt mit Florio; schließlich findet mit Hilfe Donatis das Treffen im vorgeblichen Palast der Venus statt. Florio selbst kann diesen allmählichen Annäherungsprozeß praktisch nicht beeinflussen: Die Venus-Welt und ihre Repräsentanten begegnen ihm scheinbar immer nur zufällig oder treten von sich aus an ihn heran; wenn er sie bewußt aufsuchen will, wie erst die Statue, dann den Garten der Venus, findet er sie nicht: Vergeblich schweifte er den ganzen folgenden Tag in der Gegend umher, um nähere Auskunft über seine unbekannte Geliebte zu erhalten oder sie womöglich gar wiederzusehen. Der Palast sowie der Garten, den er in jener Mittagsstunde zufällig gefunden, war wie versunken, auch Donati ließ sich nicht erblicken. (MB 56)
Wann und wo dem Protagonisten die Repräsentanten der Venus-Welt erscheinen, scheint also auf den ersten Blick vollständig der Kontrolle Florios entzogen zu sein; es scheinen allein die Figuren der Venus-Welt zu sein, die die Kontrolle über ihre Begegnungen mit Florio ausüben.17 Insofern haben wir hier die in den Initiationsromanen der Goethezeit sehr beliebte paranoide Weltstruktur: Der Protagonist wird ohne sein Wissen quasi verfolgt und überwacht, und man – Donati oder
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Sie verhalten sich darin wie die Manipulatorengestalten der goethezeitlichen Geisterseher- und Geheimbundromane; entworfen wird eine quasi-paranoide Weltstruktur, in der das Subjekt ›verfolgt‹ wird – sehr schöne Exemplare dieses Typs sind neben Schillers Der Geisterseher (und seinen Fortsetzungen bei Follenius und Morvell) etwa auch Meyerns Dya-na-sore oder Grosses Der Genius; diese Strukturen finden sich auch im ›Bildungsroman‹ im engeren Sinne. Dazu: Vf.: Geheimbünde, in diesem Band, S. 195– 222, und Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287.
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Venus – nimmt mit ihm Kontakt auf, wann es einem beliebt, während der Protagonist diese Möglichkeit nicht hat. Der allmählichen, graduell gesteigerten Annäherung der Venus-Welt an Florio entspricht aber auch zugleich eine allmähliche Annäherung Florios an die VenusWelt: Sie tritt ihm jeweils in dem Ausmaße näher, in dem er dafür ›reif‹ ist. Donati begegnet ihm nach seiner ersten Erotisierung durch die Begegnung mit Bianka, die Venus-Statue erst dann, wenn ihm Bianka schon wieder als Liebesobjekt ungenügend scheint, die Person Venus erst dann, wenn er schon durch ihre Statue fasziniert war, usw. Mit anderen Worten: Dem Protagonisten begegnet in der Realität außerhalb seiner nur, was in seiner Psyche schon vorbereitet ist; es gibt also eine eindeutige Korrelation zwischen dem jeweiligen intrapsychischen Zustand des Subjektes und dem, was ihm in der extrapsychischen Welt begegnet. Diese Korrelation bestätigt sich ein letztes Mal im Text, wenn Florio nach seiner Abkehr von der Venus-Welt prompt Bianka – scheinbar zufällig – wiedertrifft: Jetzt ist er ›reif‹ für die Liebe mit ihr. Die graduelle und wechselseitige Annäherung Florios und der Venus-Welt könnte sich nun freilich gut vollziehen ohne die Figur Donatis. Bleibt also zu interpretieren, wozu es der Rolle eines solchen Vermittlers bedarf: welche Funktion er erfüllt. Wenn in vergleichbaren fantastischen Erzähltexten der Romantik eine solche Größe auftritt, ist es wie hier immer eine männliche Gestalt, die altersmäßig der Elterngeneration angehört.18 In Tiecks Runenberg erscheint der ältere Fremde, der den Protagonisten in den Raum der Bergfrau verführt, dem Protagonisten »bald ein alter Bekannter«; in Hoffmanns Bergwerken wird Torbern als »eine bekannte Gestalt« wahrgenommen. Die kulturell akzeptable und harmlose Erotik findet der Protagonist von sich aus, die gefährliche Erotik hingegen wird ihm von einem älteren unbekannten Mann vermittelt, auch wenn sie in Florios Psyche schon angelegt ist. Donati werden Merkmale zugeschrieben, die ihn als psychisch abweichend und sozial befremdend erscheinen lassen: Sein Blick aus tiefen Augenhöhlen war irre flammend, das Gesicht schön, aber blaß und wüst. (MB 40) Donati schlug langsam die Augen auf, und sein erster Blick war so fremd, stier und wild, daß sich Florio ordentlich vor ihm entsetzte. (MB 52)
Ich stelle die Frage, was Donati semantisch repräsentiert, aber einstweilen zurück, und nehme die Frage wieder auf, was Venus repräsentiert und warum die mit ihr korrelierte Erotik als so gefährlich behandelt wird. Venus ist nun zunächst die antike, heidnische Gottheit: Die von ihr verkörperte Erotik steht somit in Opposition zu der im Christentum zulässigen Erotik; daß die Sexualnormen der Antike und des Christentums differieren, ist natürlich Element
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Vgl. Tiecks Der Runenberg; E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun oder Der Sandmann; auch in den Geheimbundromanen der Goethezeit werden die gefährlichen Frauen dem Protagonisten durch ältere Männer vermittelt: sehr schön in Grosses Der Genius oder Schillers Der Geisterseher.
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des kulturellen Wissens der Goethezeit. Auffällig ist zunächst, daß Venus dem Florio rekurrent als bekannte Person erscheint: denn ihm kam jenes Bild [= die Statue] wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. (MB 45) es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung des Lebens wieder vergessen und verloren […]. (MB 51) denn es wurde ihm nur immer deutlicher […], daß er die Dame schon einmal in früherer Jugend irgendwo gesehen, doch konnte er sich durchaus nicht klar besinnen. (MB 52f.) es war, als rührte sie erinnernd an alles Liebe, Schöne und Fröhliche, was er im Leben erfahren. (MB 61)
Venus selbst bestätigt ihm diesen Eindruck: ein jeder glaubt, mich schon einmal gesehen zu haben, denn mein Bild dämmert und blüht wohl in allen Jugendträumen mit herauf. (MB 71)
Das bedeutet nun erstens, daß ihm die extrapsychische Figur Venus bekannt erscheinen kann, weil er schon ein intrapsychisches Bild von ihr in sich trägt, bevor er sie kennenlernt (was die oben behauptete Korrelation zwischen psychischem Innenraum und realem Außenraum bestätigt). Daß dieses Bild in den »Jugendträumen« »dämmert« und »blüht«, ist keine zufällige Metaphorik: ›Morgen‹ und ›Frühling‹ werden hier abgerufen, die, wie gesagt, mit ›Jugend‹ korreliert sind. Es bedeutet zweitens, daß Venus ein Begehren repräsentiert, das nicht individuell, nicht spezifisch für ein Individuum ist: daß Venus also ein kollektives, wenn auch zunächst nur imaginiertes Liebesobjekt aller Jünglinge darstellt, ein phantasiertes weibliches Wunschbild. Auf den Tapetenbildern im Palast der Venus erkennt Florio in allen Frauen Venus, während die jugendlichen Ritter unterschiedliche Jünglinge sind, wodurch diese Implikation, Venus sei das Wunschbild aller Jünglinge, nochmals bestätigt wird. Wenn schließlich in Florios Wahrnehmungen diese Bilder lebendig werden und auf ihn eindringen, dann heißt es: »alle Ritter auf den Wandtapeten sahen auf einmal aus wie er« (MB 73). Florio repräsentiert somit seine ganze Altersklasse: Alle Jünglinge – und nur alle Jünglinge – sind für die Venus-Erotik anfällig. Im Text führt die Venus-Erotik eindeutig zum Selbstverlust des männlichen Subjektes, wenn er ihr erliegt: Dank Fortunatos Gesängen erfährt Florio sich im Venus-Palast als »so fremd und wie aus sich selber verirrt« (MB 72). Und Fortunato generalisiert: Die Jünglinge, die der Verführung erliegen, werden dann vom Leben abgeschieden und doch nicht aufgenommen in den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren. (MB 79)
Gefährlich ist also die »wilde Lust«, die naturhafte, kulturell nicht domestizierte. Wenn »schreckliche Reue« resultiert, muß die heidnische Erotik der Venus-Welt aus christlicher Perspektive normverletzend sein. Wo normalerweise die Opposition ›Leben‹ vs. ›Tod‹ disjunkte Klassen ohne Alternative und ohne
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Zwischenraum bezeichnet, wird hier eine Klasse derer konstruiert, die weder lebendig noch tot, sondern beides zugleich sind: Eichendorff erfindet hier also eine Art von ›Zombies‹. Das kann nun offenbar Zweifaches bedeuten. Entweder wird hier tatsächlich eine fantastische Klasse von Wesenheiten eingeführt, deren Existenzform nicht eindeutig dem Bereich ›Leben‹ bzw. dem Bereich ›Tod‹ zugeordnet werden kann, oder ›Leben‹ bzw. ›Tod‹ müssen hier metaphorisch verwendet sein: Es ginge dann um eine Klasse von Menschen, die metaphorisch ›tot‹ sind, nicht aber biologisch: eine Klasse von Menschen somit, die kein befriedigendes, menschenwürdiges Leben führen. Diese Wesen sind jedenfalls »an Leib und Seele verloren«. Das muß bedeuten, daß »Leib und Seele« eine irreversible Beschädigung erlitten haben, was, auf den Körper angewandt, etwas im semantischen Umkreis von ›Niedergang‹, ›Schwächung‹, ›Verfall‹, ›Krankheit‹ heißen muß und, angewandt auf die Seele, ambig ist. Denn es kann sowohl – irdisch – eine definitive psychische Störung als auch – jenseitig – den Verlust des Seelenheils bedeuten, und man darf annehmen, daß beides gemeint ist. Von diesen Wesen gilt ferner, daß sie einer »entsetzlichen Täuschung« ausgesetzt sind, daß somit, was sie zu erleben meinen, jeder Realität entbehrt. In dieser Täuschung »verzehren« sie sich selbst: Das heißt, die Person zerstört sich (wobei im goethezeitlichen Sprachsystem durch dieses Verb zugleich die Krankheiten der »Auszehrung« und der »Schwindsucht« abgerufen werden)19, was in Tod oder einem Todesäquivalent enden muß. Damit sind nun aber die Folgen der Venus-Erotik beschrieben, noch nicht aber diese selbst, von der wir bislang nur wissen, daß sie ungeregelt und undomestiziert sowie normverletzend ist. Als normverletzend im christlichen System gilt nun aber jede Form von Sexualität, die erstens nicht innerhalb einer christlich legitimierten Ehe stattfindet und die zweitens nicht potentiell der Fortpflanzung dient – alle solchen Sexualpraktiken hat das 18. Jahrhundert unter dem Oberbegriff der ›Sodomie‹ zusammengefaßt.20 Indem Eichendorffs Text nicht präzisiert, um welche Art der Abweichung es hier geht, dürfen wir schließen, daß die im Text tabuisierte Sexualität im Prinzip alle Formen nicht-ehelicher, heterosexueller Erotik umfaßt, inklusive derer, die nur der Lust, nicht der Vermehrung dienen. In der Abwehr nicht normativ kontrollierter Lust artikuliert sich natürlich auch eine Aversion gegen Teile zumindest der französischen Aufklärung (und der deutschen literarischen Texte)21, in denen erotische Lust explizit aufgewertet und legitimiert wur-
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Vgl. Johann-Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Leipzig ²1793, Bd. IV, Sp. 1186. Vgl. dazu Vf.: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung, in diesem Band, S. 433–483. Was die deutsche Literatur anlangt, sei hier nur auf Texte wie Wielands Agathon, Heinses Ardinghello, Schlegels Lucinde oder Scheffners Gedichte im Geschmacke des Grécourt verwiesen, in Goethes Lyrik findet sich ja auch das eine oder andere Unterhaltsame; die französische Aufklärung wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts von einer philosophisch-
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de.22 Und für den Fall, daß die Drohung mit den Folgen solcher Lust nicht ausreicht, wird vorsorglich gleich noch deren Möglichkeit, deren Realität, bestritten: Sie ist nur »Täuschung«. Zwei Formen solcher verbotener Sexualität werden aber durch vom Text selbst erzeugte Konnotationsmöglichkeiten gewissermaßen privilegiert. Wenn die Erotik der Venus-Welt nur eine »Täuschung« ist, dann ist sie nur scheinbar eine Beziehung zwischen zwei Personen, dann ist sie ein Äquivalent der Onanie, also jener Form von Sexualität, die Heerscharen von Medizinern und Pädagogen seit Mitte des 18. Jahrhunderts, wohl seit Tissot, als schreckliche Gefahr mit fürchterlichen Folgen ausgemalt haben.23 Einer dieser Theoretiker, Johann Friedrich Oest, verkündet beispielsweise, daß jeder, der dieser Praktik erliege, »zeitlich und ewig unglücklich« sei,24 was offenbar den Bedeutungen von Eichendorffs »an Leib und Seele verloren« in etwa äquivalent ist. Auch bedrohen diese Theoretiker den Jüngling mit schlimmsten physischen Folgen: mit Erblinden – vgl. Florios »seltsame Verblendung« (MB 82) – und mit Auszehrung bzw. Schwindsucht – vgl. hier das »sich selber verzehren«. Der Text baut noch eine zweite Konnotation auf. Daß Venus dem Florio in solcher Rekurrenz als bekannt vorkommt, wird vom Text einerseits dadurch erklärt, daß sie eine für alle Jünglinge typische erotische Wunschfantasie verkörpert. Die einschlägigen Textstellen legen aber noch eine wichtige andere Konnotation nahe. Wenn Venus für Florio eine Person ist, die mit ›früher‹ oder gar ›frühester Jugend‹ korreliert ist und die er damals »gesehen« und »längst gekannt und nur wieder vergessen« zu haben meint: Dann kommt in der Rolle einer solchen Frau vor allem die eigene Mutter in Betracht. Zwei weitere Textdaten ergeben im Kontext dieser Konnotation einen Sinn. Zum einen sagt Venus von sich selbst aus, sie sei Mutter gewesen und jetzt wieder Braut – die Mutterrolle der Venus macht sie zwar mit Maria vergleichbar, gehört aber nicht eben zu ihren zentralen mythologischen
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pornographischen Romanliteratur begleitet, die das Komplement zu den asexuellen Romanen der ›Empfindsamkeit‹ ist: von den anonymen Texte Dom B*, portier des Chartreux und Thérèse philosophe über die Crébillon, Diderot, Mirabeau, Nerciat zugeschriebenen Romane bis hin zu den Werken des Marquis de Sade. Da natürlich jeder Gebildete französisch lesen kann, wird diese Literatur auch im deutschsprachigen Gebiet rezipiert. Aufwertungen der Lust lieferten z.B. Julien Offray de la Mettrie in La Volupté (1748) oder Denis Diderot in der Encyclopédie (ab 1751 erschienen) unter dem Stichwort Jouissance oder auch in seinem Supplément au Voyage de Bougainville (1772 geschrieben, 1796 erschienen). Samuel Tissot: Tentamen de morbis ex manustupratione. Lausanne 1758; Johann Friedrich Oest: Höchstnöthige Belehrung und Warnung für Jünglinge und Knaben. Wolfenbüttel 1787; vgl. zu den pseudowissenschaftlichen Darstellungen der Sexualität in Medizin, Anthropologie, Pädagogik der Aufklärung im deutschsprachigen Raum Corinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993. Oest 1787 (Anm. 23), S. 108.
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Merkmalen und ist vor allem für die Handlung unseres Textes scheinbar völlig funktionslos. Zum anderen wird zwar ein einziges Mal von Florio sein Vater erwähnt, nie aber seine Mutter: Da er denn doch eine solche gehabt haben muß und ein denkbarer frühzeitiger Verlust nicht thematisiert wird, ist es eine auffällige Nullposition/Leerstelle im Text, daß eine Mutter auch im Kontext von Kindheitsund Jugenderinnerungen Florios nie eine Rolle spielt. Meine Behauptung: Diese Nullposition der Mutter wird im Text von Venus besetzt. Wenn Venus »lange bekannt und nur wieder vergessen« ist, dann wäre das somit jenem psychischen Akt äquivalent, den später die Psychoanalyse Freuds als ›Verdrängung‹ benennen wird. Die Begegnung mit Venus entspräche somit einer ›Wiederkehr des Verdrängten‹: der Reaktivierung einer infantilen inzestuösen Mutterbindung in der Phase pubertärer bzw. postpubertärer jugendlicher Sexualisierung. Auch die – damit nicht außer Kraft gesetzte, sondern ebenfalls zutreffende – Lesart, daß Venus als von Jünglingen imaginiertes weibliches Wunschbild erscheint – gibt in diesem Kontext einen zusätzlichen Sinn: Eine angestrebte Partnersuche nach dem Vorbild der eigenen Mutter muß hier substituiert werden durch die tatsächliche Wahl einer möglichst jungen – also maximal der Mutter fernen – Frau.25 Inzestuöse Erotik, bei der die Konstellation Mutter-Sohn der höchstrangige und am meisten tabuisierte Fall ist, tritt in der Tat in einer Vielzahl goethezeitlicher Texte auf: Ihr zu erliegen, wird mit Entautonomisierung und Selbstverlust gestraft.26 Der Protagonist der Initiationsgeschichten hat sich definitiv, räumlich wie psychisch, von der Herkunftsfamilie loszulösen, um ›autonome Person‹ zu werden. Kehren wir kurzfristig zur Figur des Donati zurück. Aufgrund seiner oben schon erwähnten abweichenden Merkmale wird er eindeutig der Menge jener angenähert, die der Venus-Erotik verfallen sind; hierher gehört auch, daß er durch sein Verhalten am Sonntag als nicht-christlich klassifiziert wird. Somit folgt, daß er selbst ein Verführter ist: Und der Verführte wird zum Verführer, was wiederum in der Literatur der Epoche nicht selten ist. Donati besetzt also eine Rolle, die der goethezeitliche Leser aus der Literatur seiner Zeit kennt: der erwachsene, männliche Manipulator, der eben jene Autonomie bedroht, die der jugendliche Protagonist anzustreben hat.27
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Das bedeutet natürlich nicht, daß unser Text die Psychoanalyse ›vorwegnähme‹. Aber es bedeutet sehr wohl, daß die Texte der Goethezeit zur Vorgeschichte der Psychoanalyse gehören, insofern sich spätestens hier – belegbar an der Literatur – bestimmte psychische Strukturen herausgebildet haben, die Freud dann zu theoretisieren versuchen wird. Was noch weitgehend in der Goethezeit – wo wir eher Figuren mit paranoiden oder schizophrenen Merkmalen finden – fehlt, sind die neurotischen Charaktere: Sie werden sich in der Literatur ab Mitte des 19. Jahrhunderts konstituieren. Vgl. Vf.: Inzestuöse Situationen, in diesem Band, S. 373–431. Auch in Tiecks Runenberg oder E.T.A. Hoffmanns Bergwerken zu Falun sind die übernatürlichen und gefährlichen Frauen unverkennbar Substitute der absenten Mütter der Protagonisten und fungieren als Mutteräquivalente. So etwa in Grosses Der Genius, Schillers Der Geisterseher, Tiecks Runenberg, William Lovell, Der getreue Eckart, E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann usw. Diese Männer sind
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Nicht selten ist dieser Manipulator eindeutig als ein Vateräquivalent erkennbar; aber auch sonst besetzt er im Text die Stelle eines Vaters. Wenn Donati eine dem Florio nicht bewußte Bekanntschaft mit diesem behauptet, dann muß es eine Bekanntschaft sein, die wiederum in die Kindheit zurückreicht. Unser Text führt solche möglichen Implikationen freilich nicht aus. Und ebenfalls nicht selten sind es solche Männer, die den Protagonisten zur falschen Erotik mit der falschen Frau führen oder verführen und damit seine Selbstfindung gefährden.28 Es ist dann also ein Vateräquivalent, das wünschenswerte Erotik des Sohnes verhindert, also jene Liebeserfahrung in der Transitionsphase, die zum Prozeß der Selbstfindung in den Initiationsgeschichten gehört. Dem negativen Vateräquivalent Donati steht im Text im übrigen ein positives oppositionell gegenüber: in Gestalt des Sängers Fortunato, der – nicht manipulativ, nur katalysatorisch – die Selbstfindung des Protagonisten fördert. Zurück zu Venus. Von ihr wissen wir schon, daß sie zwar tot ist, aber jedes Frühjahr quasi aufersteht. Das Frühjahr ist nun die Zeit der Hervorbringung neuen Lebens – und dementsprechend häuft sich im Text auch eine Metaphorik des ›Blühens‹. Wie Venus mit Liebe als deren metonymische Ursache korreliert ist, ist es der Frühling metaphorisch im System der goethezeitlichen ›Kollektivsymbolik‹.29 Venus ist also mit der Schaffens- und Zeugungspotenz der Natur korreliert.30 Wenn Venus quasi Folge oder Zeichen dieser Produktivkraft der Natur ist, dann ist die von ihr repräsentierte Form der Erotik eine natürliche. Sie gehört somit der kulturell nicht domestizierten, »wilden« Natur an: Wie ihre Lust eine »wilde« ist, so stehen die Ruinen ihres Tempels in einer »blühenden Wildnis«. Solche ›wilde Natur‹ kann sich außerhalb wie innerhalb des Menschen (vgl. die psychische Entsprechung der Venus-Welt im Jüngling und die Venus-Nähe Biankas!) befinden und ist in beiden Fällen zu domestizieren bzw. zu überwinden. Da nun die Venus-Erotik normverletzend ist, resultiert daraus ein ideologisches Problem. Denn christlich gesehen, ist die ›Natur‹ ein Produkt göttlicher Schöpfung und müßte somit moralisch positiv sein. In Eichendorffs Text ist sie aber im besten Falle ambivalent: gefährlich als ›wilde Natur‹, zulässig als ›gezähmte Natur‹.31 Die Natur muß demnach mindestens partiell ebenfalls einen ›Sündenfall‹ durchge-
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nicht selten zudem auch ältere Verwandte (etwa im Genius oder im Lovell), was ihre Rolle als Vateräquivalente unterstreicht. Vgl. Vf.: Geheimbünde, in diesem Band, S. 195– 222 und Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287. Zur Gefahr des Selbstverlustes durch falsche Erotik oder falsche Partnerinnen vgl. wiederum Vf.: Inzestuöse Situationen, und Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band, S. 223–287. Ich übernehme den Begriff von Jürgen Link (mein Versuch einer Präzisierung in Titzmann 2003 [Anm. 1]). Goethezeitlich bezeichnet ›Natur‹ sowohl die Ursache, die wirkende Kraft, als auch die Wirkung, das sichtbare Produkt; beide Bedeutungen stehen in einer metonymischen Relation. Vgl. Adelung 1793 (Anm. 19), Bd. III, Sp. 441–444. Die Bedrohlichkeit der ›wilden Natur‹ ist bei Eichendorff etwa ja auch in Ahnung und Gegenwart oder in Das Schloß Dürande belegt.
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macht haben, wenn sie nicht eindeutig und ausschließlich göttlich und positiv ist. Auch hier verabschiedet sich der Text wiederum von Denkkategorien des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit: Ich muß nicht belegen, in wie vielen Texten dieses Zeitraums die ›Natur‹ eindeutig positiv gewertet wird und als normativer Maßstab erscheint, an dem der Mensch sich psychisch wie sozial zu orientieren habe. Hier hingegen muß ursprüngliche Naturhaftigkeit innerhalb und außerhalb des Subjektes überwunden werden. Das wird im späteren 19. Jahrhundert dann eindeutig die dominante ideologische Position des Literatursystems ›Realismus‹ im deutschen Sprachgebiet sein.32 Das Verbot nicht durch Ehe legitimierter Erotik im Marmorbild richtet sich im übrigen wiederum gegen die früheren Formen der Initiationsgeschichte in der Goethezeit, wo solche Erotik in der Transitionsphase bei so vielen Autoren, darunter Wieland, Goethe, Heinse, auch noch in der Frühromantik bei Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, zulässig war.33 Der Venus-Welt wird im Text rekurrent ›Zauber‹ zugeschrieben, insbesondere durch Fortunato in Prosa wie im Gedicht, und durch den Landmann (MB 32, 37, 74, 77, 79): Wer Objekt eines Zaubers ist, verliert seine Autonomie. In der Goethezeit kann im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne von Liebe als ›Zauber‹, von ›Liebeszauber‹ die Rede sein, und die geliebte und begehrte Frau im doppelten Sinne als ›Zauberin‹, als ›bezaubernd‹ klassifiziert werden.34 Wörtliche Zauberkraft der Frau ist negativ und wird sanktioniert;35 metaphorisch ist sie zulässig. Die normativ abgelehnte Venus-Welt ist jedenfalls nicht durch die Häßlichkeit des Bösen,36 sondern im Gegenteil durch hohe Attraktivität charakterisiert. Ich halte die Merkmale der Erotik der Venus-Welt und die daraus resultierenden Merkmale der Bianka-Welt schematisch fest:
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Zu den frühesten Beispielen dafür gehören natürlich die Erzählungen Stifters, z.B.: Die Mappe meines Urgroßvaters, Der Hochwald, Die Narrenburg usw. Siehe dazu die in Anm. 11 genannten Texte. Vgl. z.B: Tiecks Liebeszauber, Fouqués Der Zauberring (auf den vielleicht das Lexem ›Zauberring‹, MB 37, Bezug nimmt), Vulpius’ Lucindora die Zauberin usw. So explizit in Tiecks Liebeszauber oder Fouqués Zauberring. Vgl. dazu Eugenio Spedicato (Hg.): Das Böse. Fragmente aus einem Archiv der Kulturgeschichte. Bielefeld 1997, und ders.: La strana creatura del caos. Idee e figure del male nel pensiero della modernità. Roma 2001.
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild Zulässige Erotik
vs.
Verbotene Erotik
Christlich
Nicht-christlich/heidnisch
Sexuell unerfahrenes Mädchen (Bianka)
Sexuell erfahrene Frau (Venus)
Normale Frau: real möglich
Superfrau: nur imaginiert
Resignative Selbstbeschränkung
Unbedingte Erfüllung des Wunschtraums
Unterdrückte Sinnlichkeit: Lustbegrenzung
Ausgelebte Sinnlichkeit: unbegrenzte Lust
Individualisierte Beziehung
Nicht-individualisierte Beziehung
Kulturell domestiziert
Naturhaft-wild
Legalisiert (Ehe)
Nicht-legalisiert
Monogamie
Promiskuität
Ausschließung sexueller Abweichungen
Einschließung sexueller Abweichungen Konnotiert unter anderem: – Inzest – Onanie/Narzißmus
Realitätserkenntnis: reale Welt
Realitätsverkennung: imaginierte Welt
Physische und psychische Selbsterhaltung
Physische und psychische Selbstzerstörung (im Diesseits wie im Jenseits)
Leben
Weder Sowohl
Selbstfindung
Selbstverlust
Möglichkeit von Autonomie in möglicher Heteronomie: Entautonomisierung des Subjekts durch sich selbst
Unmöglichkeit von Autonomie durch unfreiwillige Heteronomie: Entautonomisierung des Subjekts durch andere
Leben
noch als auch
Tod
Schema 6: Die oppositionellen Erotik-Konzeptionen
Da nun im Text sowohl die Opposition ›christlich‹ vs. ›heidnisch‹ als auch die Opposition ›Normeinhaltung‹ vs. ›Normverletzung‹ (wobei es nur um die Sexualnormen geht) konstitutiv ist, wie die fürchterlichen Folgen eventueller Normverletzung zeigen, ist es notwendig, in der semantischen Organisation unseres Textes zwei weitere semantische Räume zu unterscheiden, die ich als ›Normeinhaltung‹ (sR 4.1) und ›Normverletzung‹ (sR 4.2) benenne. Denn erstens ist ›christlich‹ im Text mit ›Normeinhaltung‹, ›heidnisch‹ mit ›Normverletzung‹ äquivalent, und
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
zweitens dominiert im Text das Thema der erotischen Wahl über das Thema der religiösen Wahl. Denn die Christlichkeit Florios steht in keinem Augenblick in Frage: Sie ist es ja auch, die ihn vor der falschen Partnerwahl bewahrt, die mit dieser Christlichkeit unvereinbar wäre. Innerirdisch (soweit es also nicht um jenseitige Heilserwartungen geht) scheint das Christentum hier fast nur mehr als Barriere gegen die Versuchungen nicht normierter Erotik zu fungieren. Zu präzisieren bleibt, welche religiöse Position Eichendorffs Marmorbild aufbaut. Christliche Gottheiten – Gottvater, Maria mit dem Kind – treten im Text nur auf der Ebene der Figurenrede, nicht als Person in der dargestellten Welt auf; heidnisch-antike Gottheiten werden ebenfalls einerseits in der Figurenrede von Fortunato, sowohl in Prosa wie in Poesie, erwähnt, aber nur Venus tritt andererseits tatsächlich in der Welt des Textes auf. Sowohl im christlichen Glauben wie im kulturellen Wissen der Epoche haben die von der Antike geglaubten Götter niemals existiert: Der Text hingegen schreibt ihnen eine reale Existenz zu. Sie haben gelebt, wenn sie jetzt auch tot sind, und nur Venus feiert jedes Jahr eine temporäre Auferstehung. Die eigentlich tote Gottheit ist immer noch eine wirkende Macht. In den beiden ideologisch zentralen Liedern des Fortunato (MB 36ff. und 76ff.), die die Handlung einrahmen (und ihrerseits von zwei kurzen Liedern Florios eingerahmt werden, MB 35 und 80f., die ihnen vorausgehen bzw. folgen), wird die Substitution der antiken Götter durch die christlichen Entitäten in einem gewissermaßen geschichtsphilosophischen Modell beschrieben. In Fortunatos erstem Lied ist es die Erscheinung eines Jünglings, die das antike System durch das christliche ersetzt. Diese vermittelnde Größe ist aber der personifizierte Tod, nicht in seiner spezifisch christlichen Gestalt, wie er spätestens der Frühen Neuzeit bekannt ist, also als Skelett mit Pfeil und Bogen oder Speer oder aber mit Sichel oder Sense, sondern als die antike Personifikation des Thanatos, wie er spätestens seit Lessing gedacht wird.37 Der Tod erscheint hier nicht als Bedrohung, sondern geradezu als erotische Verlockung: als »schöner Jüngling« vom Himmel; »sein Mund schwillt zum Küssen« (MB 39). Der Tod erscheint als begehrenswert, als Versprechen, als Angebot für den Menschen (»Wo ist einer, frägt er/Dem heimwärts verlangt?«), und der Sprecher des Liedes nimmt das Angebot an (»Mit dir will ich gehen«). Der Tod ist hier also positiv: Er vermittelt dem Menschen den Weg in eine ›Heimat‹ und diese ist der ›Himmel‹, wo der christliche ›Vater‹ ist, zu dem der Sprecher strebt. Die durchaus als schön gekennzeichnete irdische Welt wird der noch schöneren jenseitigen konfrontiert: Wiederum wird damit bewußt eine Opposition zu jenem Teil der Goethezeit-Literatur aufgebaut, in dem der Verlust der ›schönen Welt‹ der Antike betrauert wird.38
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Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet. Berlin 1769. Vgl. z.B. natürlich Goethes Römische Elegien oder Schillers Die Götter Griechenlands (erste Fassung) oder eben Wielands Romane, vor allem aber Heinses Ardinghello.
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
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Der diesseitigen heidnischen Welt entspricht das Leben, das durch den Tod abgelöst wird. Die gestorbenen Götter führen danach nur mehr ein Scheinleben, das gemäß Fortunatos zweitem Lied durch das Erscheinen Marias mit dem Kinde – »auf dem Regenbogen«, also dem Zeichen eines neuen Bundes der Gottheit mit den Menschen – beendet wird. Nur solche antiken Gottheiten werden nun im Text genannt, die eindeutig Naturelementen zugeordnet werden können: Bacchus mit Wein korreliert, Venus mit Liebe, Diana mit dem Wald, Neptun mit dem Meer, die Najaden und Sirenen mit dem Wasser (MB 37, 43, 51, 77ff.). Die antike Mythologie wird also als eine Personifikation von Naturkräften im Diesseits interpretiert; ihre Ablösung durch das Christentum impliziert somit eine Trennung von der Natur zugunsten einer Orientierung am übernatürlichen Jenseits. Die antiken Götter werden aber nicht nur naturalisiert; sie werden auch psychologisiert, wenn dem, was Venus repräsentiert, etwas in der menschlichen Seele, jedenfalls des Jünglings, entspricht. Insofern sie aber sprachlich als tot, somit als früher lebend und existierend, behandelt werden, ihnen also eine, wenn auch vergangene Realität zugeschrieben wird, wird hier Religion potentiell auch historisiert. Denn die heidnischen Entitäten waren demnach einst genauso real gewesen, wie es später die christlichen waren. Was hier im Text potentiell angelegt ist, hätte ideologische Sprengkraft: Der Text lädt implizit förmlich zu einer Historisierung auch des Christentums ein, dessen Gottheiten ebenfalls sterben könnten – eine Implikation, die ihm freilich fremd ist. Von den erwähnten christlichen Entitäten ist nun für den Protagonisten selbst eigentlich nur der Vatergott relevant: Nur diesem wendet er sich in Bitte und Lied zu; an ihn adressiert sich Fortunato am Ende seines ersten Liedes und Florio am Ende seines letzten. Der – fast irrelevante – irdische, biologische Vater, von Florio nur einmal erwähnt, wird durch den – sehr relevanten – jenseitigen, göttlichen Vater substituiert. Nicht der Herkunftsraum der Familie ist laut Fortunato die eigentliche ›Heimat‹ des Subjektes, sondern der christliche Himmel. Fortunato führt aus: Ich sang ein altes, frommes Lied, eines von jenen ursprünglichen Liedern, die wie Erinnerungen und Nachklänge aus einer heimatlichen Welt durch das Paradiesgärtlein unserer Kindheit ziehen [...]. (MB 80)
Diese Heimat liegt also der Kindheit, das heißt dem menschlichen Leben, zeitlich voraus. Wenn es gilt, dieser verlassenen Heimat, dem christlichen Himmel, wieder zuzustreben, dann impliziert das eine zirkuläre Bewegung, eine Rückkehr an den Ausgangsort39 und steht damit in bewußter Opposition zur eher linearen Bewegung, die in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung den Menschen im Prozeß des ›Fortschritts‹ vom Ausgangspunkt immer weiter entfernt, wie zum Lebensweg der Protagonisten der nicht-romantischen Initiationsgeschichten, die den Familienraum definitiv verlassen und eine Entwicklung im Sinne eines positiven Fortschrei-
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So erstmals explizit in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (»Wohin gehen wir? Immer nach Haus«), implizit auf der Ebene der Bewegung der Figuren im Raum auch schon in Tiecks Sternbald.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
tens nehmen, sofern ihr Initiationsprozeß erfolgreich ist.40 Dem steht hier also ein zirkulärer Prozeß entgegen: In einem regressiven Akt unterwirft sich das Subjekt einer Vaterinstanz, von der es angeblich ausgegangen ist, aber eben nicht einer irdischen. Doch Fortunatos Ausführungen haben noch weitere relevante Implikationen. Wenn die Kindheit ein »Paradiesgärtlein« ist, dann ist sie einerseits ein Naturzustand, freilich einer mit einer schon kulturell domestizierten Natur (»Gärtlein«), und sie ist andererseits ein innerirdisches ›Paradies‹. Nun gibt es christlich bekanntlich das ›Paradies‹ als irdisches nur im Anfangszustand der Menschheit vor dem Sündenfall, danach nur mehr als jenseitiges, in das man allenfalls nach dem Tode aufgenommen wird. Wenn die Lebensphase ›Kindheit‹ ein irdischer Paradieszustand ist, wird somit implizit der ›Sündenfall‹ und die mit ihm verknüpfte ›Erbsünde‹ negiert; folgerichtig ist auch an Hand von Marias Kind nicht von ›Erlösung‹, sondern von ›Erbarmen‹ die Rede. Das irdische Paradies ist dann nicht ein für alle Mal durch ein eigenes Verschulden in der Vorgeschichte der Menschheit, durch die Schuld von Vorfahren, verlorengegangen, sondern es existiert in jedem Kind aufs neue und kann somit nur durch individuelle Schuld verloren werden. Laut Fortunatos Ausführungen ist es aber offenbar möglich, etwas von diesem Paradies über die Kindheit hinaus zu bewahren, wie im Paradies der Kindheit selbst Spuren aus der eigentlichen ›Heimat‹, dem jenseitigen Raum des christlichen Gottes, bewahrt sind, die sich in ›alten, frommen Liedern‹ manifestieren. Es mag beim Katholiken Eichendorff überraschen: Aber sein Text setzt zwar das Christentum als wahr, doch handelt es sich um ein durchaus heterodoxes Christentum, bei dem für das Christentum traditionell zentrale Komponenten implizit getilgt sind. Es ist ein Christentum nach der Aufklärung – und von dieser geprägt, auch wenn der Text sie in bestimmten Komponenten (Vorstellung von Emanzipation und Autonomie, Sexualnormen, [Ir-]Religiosität) nachdrücklich bekämpft. Analoges läßt sich auch für den im orthodoxen Christentum unentbehrlichen Teufel konstatieren (den im Denken der europäischen Aufklärung ohnedies schon er selbst geholt hatte …). Zwar singt der Landmann von dem ›Bösen‹, also einer Periphrase für ›Teufel‹, aber sein naiver Glaube ist nicht die Position des Textes bzw. Fortunatos. Zwar spricht Fortunato vom »teuflischen Blendwerk« (MB 79) der Venus, aber nur als Metapher für ein christlich nicht wünschenswertes Wirken. Die antiken Gottheiten werden nirgends mit den christlichen Teufeln identifiziert (wie dies z.B. im Frühchristentum gelegentlich geschah). Die mit ihnen verbundenen Lebensformen behalten im Text den Charakter des ästhetisch Schönen; wenn von »wilden Erdengeistern« oder »dunklen Mächten« (MB 80f.) die Rede ist, bezieht sich das auf innerirdisch-naturhafte, nicht aber teuflische Kräfte: auf Größen, die abgelehnt werden, weil sie unmittelbare, nicht christlich überformte und transformierte Natur sind.
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Vgl. Vf.: Inzestuöse Situationen, in diesem Band S. 373–431, und Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band S. 223–287.
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Wenn Florio am Textende von sich sagen kann, er sei »wie neugeboren« (MB 82), spielt der Text wiederum mit einer Ambiguität und überlagert zwei Bedeutungen, die beide gemeint sind. Solche Wiedergeburt ist einerseits christliche Metaphorik schon des Neuen Testaments; diese Wiedergeburt besteht in der Unterwerfung unter das Christentum. Solche Wiedergeburt gehört andererseits zu den Zeichen, von denen die Initiationsgeschichten Gebrauch machen, um das Produkt der Entwicklungen des Protagonisten als metaphorisches ›neues Leben‹ zu kennzeichnen; es ist im übrigen ein Modell, das im kulturellen Wissen der Goethezeit auch als solches antiker Mysterienkulte und Initiationsriten bekannt ist.41 Im Modell der Wiedergeburt tilgt die Initiationsgeschichte der Goethezeit, wo sie sich seiner bedient, die Zeugung und Geburt des Protagonisten durch seine biologischen Eltern: Der Protagonist schafft sich selbst, zumindest metaphorisch, in einem Akt der Selbstzeugung und Selbstgebärung, der ohne Eltern auskommt, von denen man sich emanzipiert. Im Marmorbild werden die biologischen Eltern zwar irrelevant, aber der Vater wird durch Gottvater substituiert. Doch auch hier vollzieht sich die Wiedergeburt zwar mit der katalysatorischen Hilfe des Vateräquivalentes Fortunato (durch dessen Lieder) und des metaphorischen Vatergottes (durch Gebet an ihn). Der Akt der Zeugung und Geburt seiner selbst wird aber letztlich vom Protagonisten selbst und allein vollzogen. Wie schon in einer Vielzahl von Initiationsgeschichten seit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Tiecks Sternbald finden sich auch im Marmorbild nicht wenige Lyrik-Einlagen, wobei alle Gedichte den Figuren in den Mund gelegt und von ihnen gesungen werden. So wird denn auch der – einzige professionelle – Dichter, Fortunato, als ›Sänger‹ eingeführt. Florio selbst ist eine Art potentieller Dichter: Ich habe mich wohl zuweilen in der fröhlichen Sangeskunst versucht, aber wenn ich dann wieder die alten großen Meister las, wie da alles wirklich da ist und leibt und lebt, was ich mir manchmal heimlich nur wünschte und ahnte, da komme ich mir vor wie ein schwaches vom Winde verwehtes Lerchenstimmlein unter dem unermeßlichen Himmelsdom. (MB 31)
Aber auch Figuren ohne dichterische Ambitionen singen hier Gedichte (Venus, Bianka), bei denen wir annehmen müssen, daß sie Text und Musik selbst geschaffen haben: Gesungene Lyrik erscheint hier also als eine quasi-natürliche Ausdrucksform des Menschen. Mit einer einzigen Ausnahme bedienen sich die Gedichte denn auch eher ›einfacher Formen‹, wie sie die Goethezeit dem ›Lied‹ bzw. dem ›Volkslied‹ zuschreibt, selbst wenn die Texte wie bei Fortunato komplexe ideologische Modelle transportieren. Texte, die nicht an eine spezifische Sprechsituation, nicht an ein konkretes Erleben eines Individuums gebundene ideologische Modelle, Sinngebungssysteme, anbieten, sind dem Berufsdichter vorbehalten, der in der Tat als Chefideologe und Deuter der Welt fungiert. Alle anderen Lyrikproduzenten – Florio, Venus, Bianka – singen Gedichte, die im Text als spontane,
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Vgl. Vf.: ›Bildungs-‹/Initiationsgeschichte, in diesem Band S. 223–287.
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
improvisierte, erlebnishafte, individuelle Selbstaussage fungieren, in denen das Subjekt scheinbar unmittelbar ausdrückt, was in eben jener Situation, in der es singt, in seiner Psyche vorgeht;42 solcher Selbstausdruck im spontan gedichteten Lied kann ebenso in Gesellschaft (Florios erstes Lied) wie in Einsamkeit (Florios zweites Lied und die Lieder von Venus und Bianka) stattfinden. Während Fortunato sowohl solche Lieder singt, deren Autor er selbst ist, als auch solche, die – als angeblich alte Lieder – von anderen Autoren stammen und tradiert sind, äußern sich die anderen Figuren nur in Liedern, die sie offenbar selbst spontan hervorbringen. Solche Gesänge erheben weder Anspruch auf Rezeption durch Publika noch auf mündliche oder schriftliche Tradierung: im Gegensatz zu den Dichtungen der ›alten Meister‹, die Florio las, zu den ›alten Liedern‹, über die Fortunato verfügt, zu den Sinngebungstexten, die Fortunato bei Bedarf produziert. Zwei abweichende Fälle seien erläutert. Es mag überraschen, daß auch der Bauer ein Lied singt: Seinem Inhalt nach fällt es aber offenbar in die Klasse der ›alten frommen Lieder‹; das heißt, es handelt sich in der Logik des Textes um einen schon vorgefundenen, nicht selbst generierten Text. Interessanter ist der Gesang der Venus: Als einzige bedient sie sich nicht einer liedhaften Form, sondern des Sonetts,43 womit sie im Gegensatz zur scheinbaren ›Naturdichtung‹ der anderen Figuren eindeutig ›Kunstdichtung‹ hervorbringt. Unser Text führt schon eingangs eine Klasse ›Poet‹ ein (der Florio von Fortunato zugeordnet wird); gegen Textende spricht Fortunato von der Menschenklasse der ›Poetischen‹. Die Opposition dazu bleibt unbenannt: Es müssen in der Logik des Goethezeitsystems die ›Prosaischen‹ sein. ›Poet(isch)‹ ist man nicht, weil man dichtet, schon gar nicht, weil man Berufsdichter ist. ›Poetisch‹ bedeutet hier eine Einstellung zur Welt, aus der dann auch Dichtung resultieren kann, aber nicht muß. Denn Fortunato folgert, daß Florio ›Poet‹ sei, weil er ohne Zweck und Ziel reise. Für die ›prosaischen‹ Menschen wäre demnach eine Orientierung an Zielen und Zwecken, eine immer funktionale Verhaltensweise charakteristisch; ›poetisch‹ zu sein ist folglich Privileg der ökonomisch saturierten Schichten, die sich um Lebensunterhalt nicht zu sorgen haben. (Signifikant ist auch, wie der Text das Dienstpersonal behandelt; daß ein ›treuer Diener‹ Florios existiert, erfahren wir nur beiläufig, während seine Person sonst auch in Situationen, wo er notwendig präsent ist, vollständig ignoriert wird.) Für die ›Poetischen‹ gilt, daß sie, vermittelt durch ›alte fromme Lieder‹, durch ›ursprüngliche Lieder‹, eine Art Wissen von der metaphysischen ›Heimat‹, also dem Jenseits als eigentlichem Herkunftsort, bewahrt haben und sich, da ein solches Wissen der Kindheit zugeordnet wird, somit etwas Kindliches behalten haben. Der (positive) Berufsdichter gehört dieser Grup-
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Es handelt sich also um Lyrik, die durch das ›Erlebnispostulat‹ charakterisiert ist, das sich beim frühen Goethe etabliert hat; dazu Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes.Die systemimmanente Relation der Kategorien ›Literatur‹ und ›Realität‹: Probleme und Lösungen. Stuttgart 1975. Wie es durch Goethe und die Romantik wieder relevant geworden ist; auffällig natürlich, daß es sich nicht um eine ›klassische‹ antike Form handelt.
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
pe an, hebt sich aber von den nicht-professionellen Dichtern dennoch eindeutig ab. Beim Fest vor Lucca werden im gesellschaftlichen Spiel Männer und Frauen zu Paaren geordnet: »Nur Fortunato allein gehörte allen oder keiner an« (MB 36). Der Dichter selbst, der der Gesellschaft die Weltdeutung, hier eine Art von Geschichtsund Naturphilosophie und eine religiös fundierte Anthropologie und Poetik, liefert, ist nicht wirklich in diese Gesellschaft integriert: Weder ist Fortunato, der doch schon im Mannesalter ist, ortsgebunden, noch hält ihn eine familiäre oder erotische Bindung. Für seinen Verzicht entschädigt ihn die Rolle des Chefideologen mit überlegenem Wissen und eine fast magische Macht seiner Dichtung. Sehen wir uns nun noch die Organisation der dargestellten Welt in semantische Räume und die daraus erfolgende Ereignisstruktur an. Ich habe bisher eine Reihe von semantischen Räumen unterschieden (vgl. Schemata 2 und 8), die in komplexen Relationen zueinander stehen (vgl. im folgenden Schema 8). Die Rahmenstruktur bilden die drei Phasen der Initiationsgeschichte (sR 1.1, 1.2, 1.3); die Rahmenereignisse (Ei, Ef) sind die Grenzüberschreitungen zwischen diesen Räumen. Die eigentlich erzählten Ereignisse E1,..., En finden innerhalb von sR 1.2 statt (dessen interne Strukturierung in semantische Räume Schema 8 abzubilden versucht); Ei ist Voraussetzung, daß E1, …, En sich ereignen können, Ef ist Folge von E1, …, En. Zu begründen ist zunächst, warum so zentrale Oppositionen innerhalb der dargestellten Welt wie Nicht-Liebe Nicht-Wissen Freiheit 1 (vgl. Schema 4)
vs.
Liebe Wissen Freiheit 2 (vgl. Schema 4)
Schema 7: Oppositionelle Zustände der Protagonisten
nicht eigene semantische Räume bilden. Der ›falsche‹ Freiheitsbegriff 1 (vgl. Schema 4) ist im Text mit dem Raum der Transitionsphase sR 1.2 äquivalent, also nur ein Merkmal dieses Raumes; mit Florios Übertritt nach sR 1.3 ist zugleich der ›wahre‹ Freiheitsbegriff korreliert, so daß dieser ein Merkmal von sR 1.3 ist. ›Nicht-Liebe‹ ist im Text Merkmal des Ausgangsraumes sR 1.1; mit dem Eintritt Florios in den Raum der Transitionsphase (sR 1.2) kommt er sofort in den Zustand der ›Liebe‹, so daß ›Liebe‹ hier ein Merkmal des sR 1.2 ist. Innerhalb des sR 1.2 gibt es dann freilich die Opposition von richtiger, zulässiger bzw. falscher, verbotener Erotik (Schema 6). Solange sich Florio in sR 1.2 aufhält, erkennt er zwar, daß die beiden Frauen bzw. Erotikangebote verschieden sind, aber er erkennt nicht, welche weiteren semantischen Merkmale mit ihnen verbunden sind und welchen vom Text unterschiedenen semantischen Räumen die beiden Alternativen zugeordnet sind. Der Raum sR 1.2 ist also insgesamt mit Nicht-Wissen/NichtErkenntnis korreliert, mit der Gefahr der ›Verblendung‹; erst im Übergang zu sR 1.3 erhält Florio durch Fortunato das, was im Text als adäquate Realitätserkenntnis gilt. Das Ereignis Ef, mittels dessen Florio aus sR 1.2 in sR 1.3 übergeht,
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
ist die definitive Weltdeutung durch Fortunato. Wie so oft in den Initiationsgeschichten findet auch hier ein Prozeß statt, in dem dem Protagonisten Wissen über die Strukturen der Welt und über die Figuren, die ihm begegnet sind, vermittelt wird: ein Prozeß der ›Aufklärung‹ im wörtlichen Sinne. In unserem Text wird er freilich gegen jenes Denksystem gewendet, das sich als ›Aufklärung‹ verstanden und benannt hat – eine anti-aufklärerische Aufklärung. Wenn der Zustand ›Liebe‹ quasi automatisch – und das ist im Grunde nur eine Verdeutlichung der Regeln der Initiationsgeschichte – mit dem Eintritt in sR 1.2 erfolgt, ist er kein eigenständiges Ereignis. Wenn Venus in jenem Frühjahr auftaucht und Jünglingen als – zugleich in ihnen selbst verankertes – erotisches Wunschbild erscheint, dann handelt es sich bei den Grenzüberschreitungen von sR 5.2 (= unter der Oberfläche: ›Tiefe‹ der Realität wie der Psyche) in den Naturraum sR 2.2 ebenfalls nicht um ein Ereignis, sondern um eine Gesetzmäßigkeit der dargestellten Welt. Sobald Florios Erotisierung stattgefunden hat, die mit dem Übertritt in die Transitionsphase als deren selbstverständliche Implikation korreliert ist, gerät er wiederum quasi automatisch in die Sehnsucht nach bzw. die Versuchung durch die Venus-Erotik, von der er eben noch nicht weiß, daß sie verboten und gefährlich ist. Der ›Jüngling‹ – oder zumindest der ›poetische Jüngling‹ – bleibt dabei noch im Raum der Normeinhaltung (da er die Venus-Erotik noch nicht praktiziert), ist aber schon in den irrealen fantastischen Raum eingetreten. Dieser Durchschnittsraum, in dem sich Normeinhaltung und Irrealität überschneiden (= sR 3.2 sR 4.1), ist der Raum der Versuchung. Hier erst wird der Protagonist vor eine Alternative gestellt: ob er der Versuchung erliegt und damit in den Raum der Normverletzung übergeht (= sR 4.2) oder ob er der Versuchung widersteht, d.h. im Raum der Normeinhaltung (= sR 4.1) verbleibt und in den realen Raum (= sR 3.1) zurückkehrt. Der Eintritt in den Raum der Versuchung wird vom Text also als normal gesetzt: als Folgeereignis, das sich logisch aus der Transitionsphase ergibt. Ereignishaft ist hingegen, welche Entscheidungen der Protagonist im Raume der Versuchung trifft: ob er sich für Irrealität und Normverletzung (= sR 3.2 + sR 4.2) oder für Realität und Normeinhaltung (= sR 3.1 + sR 4.1) entscheidet, wobei wiederum als logische Folge im ersten Falle Selbstverlust, im zweiten Selbstfindung resultiert. Entscheiden aber muß er sich. Im Versuchungsraum kann er nicht bleiben: Denn sein Weg innerhalb des Versuchungsraums mündet wiederum automatisch in den Extremraum (= sR 2.2‘), in dem ein dauernder Aufenthalt nicht möglich ist. Der hierarchische Rang dieser Entscheidung des Protagonisten wird dadurch deutlich gemacht, daß es sich im Falle des negativen Ereignisses (= Eneg) um eine irreversible Grenzüberschreitung handeln würde: Der Übergang nach sR 4.2 könnte nicht rückgängig gemacht werden und führt also zu einem definitiven Zustand. Denn mit der Entscheidung für die Venus-Erotik träte eben auch der irreversible Übergang in den Raum ›weder/sowohl Leben noch/als auch Tod‹ (= sR 6.2) ein. Dieses Ereignis ist aber wiederum logische Folge der Entscheidung für die VenusWelt und somit kein eigenständiges Ereignis, sondern Teilereignis des Übergangs nach sR 4.2. ›Leben‹ (= sR 6.1) und ›Tod‹ (= sR 6.3) sind in Eichendorffs Text
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
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relevante semantische Räume, da zwischen ihnen Grenzüberschreitungen stattfinden. Wenn Venus eigentlich tot ist, hat sie die Grenze zwischen sR 6.1 und sR 6.3 passiert: kulturell normalerweise in doppelter Hinsicht ein hochrangiges Ereignis, da es als irreversibel gilt und da Götter an und für sich als unsterblich gelten. Dieses Ereignis liegt aber der erzählten Geschichte zeitlich voraus. Hingegen ist in ihr von einem – da kulturell als unmöglich, somit als fantastisch geltend – noch höherrangigen Ereignis die Rede: Jedes Frühjahr findet die Auferstehung der Venus statt. Aber dieses Ereignis wird wiederum als Regularität der dargestellten Welt gesetzt: Die regelhafte Grenzüberschreitung ist nicht ereignishaft, und so ruft sie denn auch keinerlei Erstaunen bei Fortunatos Publikum hervor. Während nun der Raum des Todes immer ›unten‹ situiert wird, da Venus aus ihrem Grab emporsteigt, ist er (Teil-)Raum von sR 5.2. ›Leben‹ findet an der Oberfläche statt; da ›Scheinleben‹ Folge der Normverletzung ist, ist es also mit dem Raum 4.2 äquivalent; ›Leben‹ seinerseits gehörte dann zu den Merkmalen von sR 4.1. Daß Florio das normativ wünschenswerte Ereignis Epos. wählt (statt Eneg.), wird durch ein – scheinbar zufälliges – katalysatorisches Ereignis von außen (Fortunatos Gesang), dem wiederum ein intrapsychisches Ereignis (Florios Besinnung auf Religiöses) entspricht, bewirkt. Nachdem Florio Epos gewählt hat, gerät er in einen Zustand der Desillusioniertheit und der Depression, aus dem er wiederum durch katalysatorische Ereignisse, Eingriffe von außen, herausgeholt wird: vor allem durch die von Fortunato vermittelte ›Aufklärung‹, die – wiederum scheinbar zufällig – im rechten Moment erfolgt, womit dann das definitive Ereignis Ef stattfindet. Es bedarf also zweimal im Text eines katalysatorischen Eingriffs von außen, damit Epos bzw. Ef stattfinden kann, und dieses katalysatorische Ereignis ist zumindest scheinbar zufällig. Dem moralisch wie religiös positiven Protagonisten kommt also zu Hilfe, was aus seiner Perspektive ›zufällig‹ geschieht. Der Text läßt offen, ob diese im rechten Moment eintretenden Zufälle Merkmal einer Weltordnung sind, in der der positiven Figur Hilfe von außen genau dann garantiert wäre, wenn sie ihrer bedarf. Wenn solcher Zufall im Plan der Weltordnung vorgesehen wäre, dann hätten wir eine Welt im Sinne jener Théodicée, die 18. Jahrhundert und Goethezeit so oft explizit oder implizit, in Theorie wie in Literatur, postuliert – und immer wieder auch in Frage gestellt – haben. Beide Male wirken nun aber die katalysatorischen Ereignisse sofort auf den Protagonisten: Einmal mehr funktioniert der Text also, als gäbe es eine ›prästabilierte Harmonie‹ zwischen dem psychischen Innenraum des Subjektes und seiner außerpsychischen Umwelt: als würde im ›Außen‹ sich nur genau das ereignen, wofür das Subjekt im ›Inneren‹ ›reif‹ ist. Ich fasse die semantische Ordnung des Transitionsraumes schematisch zusammen:
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Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
Schema 8: System der semantischen Räume 2: Weltstrukturen der Transitionsphase (= sR 1.2)
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
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[Fortsetzung zu Schema 2:] 6. Semantische Räume: sR 2.1: Kulturraum | Stadt Lucca | christlich sR 2.2: Raum der domestizierten Natur | Umgebung von Lucca | ambivalent: christlich oder heidnisch. In sR 2.2 der Extremraum sR 2.2c | wilde Natur | heidnisch. [sR 2.2c ist aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht in Schema 8 aufgenommen.] sR 3.1: [gemäß kulturellem Wissen der Goethezeit potentiell] ›Reale Welt‹. Frauentyp: Bianka (= Schema 5). sR 3.2: [gemäß kulturellem Wissen der Goethezeit] ›Nicht-reale/Fantastische Welt‹. Frauentyp: Venus (= Schema 5). sR 4.1: Raum der Normeinhaltung: zulässige Erotik (= Schema 6) + ›christlich‹. sR 4.2: Raum der Normverletzung: ›verbotene Erotik‹ (= Schema 6) + ›heidnisch‹/›nicht-christlich‹. sR 5.1: Nicht-irdischer/›Jenseitiger‹ Raum oberhalb des irdischen Raumes: christliche Entitäten. sR 5.2: Nicht-irdischer Raum unterhalb der irdischen Welt: Das ›Tote‹: nicht-christliche Entitäten und Kräfte + Vergangenheit + Normverletzungspotential (= Schema 3). Die subjektexterne ›Tiefe‹ ist korreliert mit ihrem Äquivalent in der Psyche (subjektinterne ›Tiefe‹). sR 5.3: Irdische Welt. sR 6.1: Raum des Lebens. sR 6.2: Raum des Todes/des Toten. 7. Relationen der semantischen Räume Zeichenerklärung: X Y:= x ist Teilklasse von y. X Y:= gemeinsamer Durchschnitt der Klassen x und y. X Y:= Vereinigungsmenge aus den Klassen x und y. Es gilt in der dargestellten Welt: sR 2.1 sR 3.1 sR 2.1 sR 4.1 sR 3.1 sR 4.1 sR 5.2 sR 4.2 sR 5.2 sR 3.2 sR 5.3 = (sR 2.1 sR 2.2):= irdische Welt. sR 3.2 sR 4.1: = Raum der Versuchung: Durchschnittsklasse aus fantastischem Raum und Raum der Normeinhaltung. In diesem Raum befindet sich das Subjekt, wenn es schon den fantastischen Entitäten begegnet ist, aber noch keine Norm verletzt hat. (sR 6.1 sR 6.2) | (sR 6.1 sR 6.2): = Zustand des Subjekts nach Übertritt von sR 4.1 nach sR 4.2: ›weder Leben noch Tod‹ oder ›sowohl Leben als auch Tod‹.
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
326 8. Ereignisstruktur Zeichenerklärung: F: sR x sR y: x o y:
= die Figur F überschreitet die Grenze zwischen den semantischen Räumen x und y. = Wenn x, dann y.
Als möglich gesetzte, aber nicht erzählte Grenzüberschreitungen: Keine Grenzüberschreitung von sR 5.1 nach sR 5.3 bzw. von sR 5.3 nach sR 5.1. Keine Grenzüberschreitung von sR 6.1 nach sR 6.2 bzw. von sR 6.1 nach sR 6.3. Als selbstverständlich oder regelhaft bzw. gesetzmäßig gedachte – somit nicht ereignishafte – Grenzüberschreitungen: Venus: Venus: Florio: Florio:
sR 5.2 sR 3.2. sR 6.2 sR 3.2 / sR 2.2. (sR 1.1 sR 1.2) o (Nicht-Freiheit1 Freiheit1) o (Nicht-Liebe Liebe). (sR 2.1 sR 2.2) o (sR 3.1 sR 3.2) o (sR 2.1 [sR 3.2 sR 4.1]) o (Liebe (Bianka) Liebe (Venus)).
Tatsächlich ereignishafte Grenzüberschreitungen: Florio: (sR 3.2 sR 4.1) (sR 3.1 sR 4.1): Florio erliegt der Versuchung nicht und kehrt in die Normalität zurück; das alternative Ereignis wäre gewesen: Florio: (sR 3.2 sR 4.1) (sR 4.2 [sR 6.1 sR 6.2]) | ›Selbstverlust‹ = irreversibles Ereignis = E. Florio: (sR 1.2 sR 1.3) o (Nicht-Wissen Wissen) | (Liebe (Venus) Liebe (Bianka)) | (Freiheit1 Freiheit2) | ›Selbstfindung‹ = E. Florio geht in den Erwachsenenstatus über; die Alternative wäre der Verbleib in sR 1.2 gewesen.
Nun ist Eichendorffs Text nicht nur eine Initiationsgeschichte, sondern zudem eben eine fantastische. Fantastisch ist Literatur wiederum, wenn in der dargestellten Welt Figuren, Geschehnisse, Räume auftreten, die im kulturellen Wissen der Zeitgenossen als unmöglich in dem gelten, was diese Epoche bzw. Kultur für ›Realität‹ hält.44 Auffällig ist nun in unserem Text, daß die fantastischen Phänomene keinerlei Verwunderung bei den Figuren auslösen; sobald Fortunatos ideologische Erläuterung sie als solche kenntlich gemacht und erklärt hat, werden sie als selbstverständlich hingenommen. Was also ein extrem ranghohes Ereignis sein müßte, das Auftreten kulturell als unmöglich geltender Größen, ist intratextuell kein Ereignis, während extratextuell für den goethezeitlichen Leser der fantastische, somit ereignishafte Charakter dieser Phänomene unverkennbar ist. Wenn nun aber in einer dargestellten Welt fantastische Größen auftreten, an deren Möglichkeit man nicht glaubt, hier also etwa die antike Gottheit Venus, dann wird der Leser gezwungen, diese Größen als sekundäre Zeichen aufzufassen, als Träger einer Bedeutung, die mit der wörtlichen Bedeutung nicht identisch ist.
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Vgl. dazu Wünsch 1998 (Anm. 3).
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Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild
Innerhalb der dargestellten Welt, auf der Ebene des Erzählten (also dessen, was der französische Strukturalismus histoire genannt hat), repräsentiert die VenusWelt nun bestimmte Formen ›naturhafter‹, abgelehnter Sexualität, die mit dem Christentum inkompatibel sind. Um diese Bedeutung abzubilden, bedürfte es aber keineswegs der fantastischen Elemente, die, wie gesagt, zudem von den Figuren gar nicht als solche wahrgenommen werden, sondern nur für den Leser, also auf der Ebene des Erzählens (also des discours), relevant werden. Die Frage ist somit noch offen, worin die semantische Funktion der fantastischen Elemente besteht. Ich versuche, zu belegen, daß es dabei um die Ablösung einer Kunstkonzeption durch eine andere geht, wobei sich beide nur partiell ästhetisch, aber fundamental ideologisch unterscheiden. Nicht die ›Schönheit‹ vergangener Kunst wird dabei in Frage gestellt, sondern ihre ›Wahrheit‹: In der Logik unseres Textes bleibt im historischen Wandlungsprozeß die erstere erhalten, während die letztere verloren ging. Der Text, behaupte ich, stellt eine Homologie her, bei der dem zentralen Ereignis auf der histoire-Ebene eines auf der discours-Ebene entspricht bzw. entsprechen soll: histoire Florio :
erotische Versuchung
vs. Über: windung
::
discours literarische Leser : Versuchung :
[Überwindung]
Schema 9
Wie Florio durch heidnisch-antike Erotik in Versuchung geführt und aus ihr ›gerettet‹ wird, so wird der Leser durch nicht christliche, antikisierende Kunstkonzeptionen (die Kunst der Antike, der Renaissance, der Goethezeit, insbesondere in ihren spätaufklärerischen bzw. klassischen Varianten) in Versuchung geführt, aus der er ›gerettet‹ werden soll. Die Venus-Welt wird durch Fortunatos Referenz auf den zauberischen Spielmann und den Venusberg, also durch Referenz auf Literatur, vorangekündigt; sie aktualisiert sich für Florio anhand der Venus-Statue, also anhand bildender Kunst. Die gefährdende und verworfene Kunst kann also sprachliche oder nicht-sprachliche sein: Ihr wird die sprachliche Kunst der Lyrik Fortunatos auf der histoire-Ebene, der Erzählung Eichendorffs selbst auf der discoursEbene konfrontiert, die beide die empfohlene Kunstkonzeption repräsentieren. Für den Leser des Textes ist nun von vornherein erkennbar, daß die Venus-Welt eine fantastische ist (da für ihn die antiken Götter nicht glaubbar sind). Das bedeutet, daß ihm nicht nur wie Florio die Venus-Welt als ideologisch inakzeptabel und ihre Liebeskonzeption als unrealisierbar (weil inkompatibel mit Selbsterhaltung und Selbstfindung), sondern zudem eine Kunst, die solche Werte und Ideologeme vermittelt, als nicht-mimetisch präsentiert wird. Denn der Welt, die solche Kunst vermittelt, entspricht dann also keine mögliche Realität: Was sie verspricht, ist
328
Das Modell der ›Initiationsgeschichte‹
nicht nur ideologisch falsch – es existiert nicht und kann nicht existieren; es hat allenfalls früher einmal existiert, da Venus ja ein früheres reales Leben zugeschrieben wird. Eine solche Kunst mag folglich einmal eine mögliche Realität abgebildet haben: sie tut es nicht mehr. Wie die Ruinen des Venus-Tempels ist solche Kunst also nur mehr Monument einer vergangenen Kultur: nur scheinhaft wiederbelebbar. Jener Teil der Goethezeitliteratur, der Werte und Ideologien, wie sie hier mit der Venus-Welt verknüpft sind, und eine Kunstkonzeption, die im Sinne des Textes ›heidnisch‹ bzw. ›antikisierend‹ wäre, vertritt, ist also der Versuchungsraum, in den der Leser im Marmorbild geführt wird und aus dem ihn dieses erretten will. Wie im Text Florio desillusioniert wird und sich schließlich mit dem zufriedenzugeben hat, was der Text ihm als ideologisch akzeptabel und real verwirklichbar zugesteht, so soll sich der Leser in desillusionierter Abkehr von früheren literarischen Subsystemen der Goethezeit mit einer Literatur zufriedengeben, die zu – wie auch immer modifizierten – christlichen Ideologemen zurückkehrt. Der zyklischen Wiederkehr der toten Venus entspräche dann die periodische Wiederkehr einer Literatur, die sich ideologisch wie ästhetisch als außerchristlich und nicht-religiös versteht. Wenn eine solche Kunstkonzeption vom Text negiert wird, dann wird zugleich das Denken jener europäischen Aufklärung, aus der sie hervorgegangen ist, negiert. Als ›fantastisch‹ wird die abgelehnte Kunst und ihre Welt nicht zuletzt dadurch erwiesen, daß Fortunato bezüglich der Auftrittsorte der Venus explizit von »einem dem Auge vorgestellten erdichteten Garten und Palast« (MB 80) spricht: Ihm entspricht also keine Realität, er ist nur das Produkt dichterischer Phantasie. Auch häufen sich, wenn die Wahrnehmung bzw. die Gefühle Florios in den Begegnungen mit der Venus-Welt beschrieben werden, signifikant die Formulierungen vom Typ ›als (ob) + Konditional‹:45 Signale der ›Unwirklichkeit‹ des Erlebten. Auf der discours-Ebene haben wir also zwei weitere semantische Räume zu unterscheiden:
——————— 45
Ich liste die Belege hier nicht auf: In der Interpretation sind hinreichend Beispiele zitiert worden.
329
Joseph v. Eichendorffs Das Marmorbild (Präsupponierte) Kunstrezeption einer Vergangenheit
vs.
(Realisierte) Kunstkonzeption des gegenwärtigen Textes
(Antike, Renaissance, Goethezeit) (sR 7.1)
(sR 7.2)
Abkehr vom Christentum Orientierung an nicht-christlichen Werten
Rückkehr zum Christentum Orientierung an christlichen Werten
Nicht-realisierbare Werte
Realisierbare Werte
Unmöglichkeit der Wiederherstellung
Möglichkeit der Wiederherstellung
Nicht-Existenz der ideologischen Bezugsgröße
Existenz der ideologischen Bezugsgröße
Gefährdung des Subjekts: Versuchung/Verführung
Sicherheit des Subjekts Überwindung der Versuchung
Nicht-mimetische, quasi-fantastische Literatur
Mimetische, quasi-realistische Literatur
»Schönheit« minus »Tugend«
»Schönheit« plus »Wahrheit«
Schema 10
Beide Kunstkonzeptionen sind gleichermaßen utopisch: Sie setzen der ›Realität‹ etwas anderes entgegen, aber die Utopie des sR 7.1 erscheint als nicht realisierbar, der Utopie des sR 7.2 wird zumindest potentielle Realisierbarkeit zugeschrieben. Angestrebt wird das extratextuelle Ereignis des Übergangs von sR 7.1 nach sR 7.2, das der Text in sich intratextuell vollzieht. Eichendorffs Text erzählt also nicht nur eine Geschichte von Versuchung – und Überwindung der Versuchung – durch eine heidnisch-erotische Welt: Er ist zugleich Programm einer Überwindung der ebenso ideologischen wie ästhetischen Versuchung durch das Literatursystem jener Epoche, der er selbst angehört und von der er geprägt ist, was er selbst durch die bewußte und quasi-explizite Referenz auf das Modell der Initiationsgeschichte unterstreicht. Unser Text ist somit zugleich Selbstüberwindung: Er vollzieht selbst, was er auf der histoire-Ebene seinem Protagonisten und auf der discours-Ebene seinem Leser empfiehlt.
IV ZUR DISKURSGESCHICHTE DER ›GEFÜHLE‹
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts
0.
Theoretische und historische Prämissen1
Die epochenspezifischen Strukturen der Affektivität/Emotionalität sind das Produkt einer kulturellen Normierung und Kodierung. Epochenspezifische affektivemotionale Strukturen und ihre Transformationen sind nicht ›irrational‹: Sie resultieren aus dem kulturellen Denksystem (DS), das festlegt, welche benennbaren (also auch lexikalisierbaren) Gefühle im Spektrum der affektiv-emotionalen Möglichkeiten des Menschen überhaupt unterschieden werden, und regelt, unter welchen Bedingungen, in welcher Form, welche Gefühle als gefordert, zulässig, verboten gelten. Dieses Denksystem ist im Falle meines Gegenstandes das der Aufklärung (A). Das DS ›A‹ ist kein statisches System, sondern ein sich aufgrund seiner eigenen Bedingungen (im Kontakt mit seiner Umwelt) transformierendes System, dessen Wandel als Versuch systeminterner Lösungen von im System entstandenen Problemen interpretiert werden kann. In seinen verschiedenen sukzessiven Systemzuständen ist dieses DS mit verschiedenen, teils sukzessiven, teils simultanen Literatursystemen (LS), die auf ihm basieren, korreliert; bekanntlich gehört die Aufklärung noch zu den Prämissen der Frühromantik (die nicht mehr zum Gegenstandsbereich dieses Beitrags gehören soll). Für meinen Zweck seien unterschieden zwei sukzessive Literatur(sub)systeme vor der Goethezeit (GZ: worunter ich den Zeitraum ca. 1770 bis ca. 1830 verstehe), nämlich das LS zur Zeit der frühen A (um ca. 1730 einsetzend) und das LS zur Zeit der mittleren A (ca. um die Jahrhundertmitte einsetzend: Es sei hier als Empfindsamkeit (E) benannt), beide als Applikation, Illustration, Einübung des jeweiligen Zustandes des DS ›A‹ fungierend, und zwei sukzessive Subsysteme des LS ›GZ‹, nämlich das LS zur Zeit des Sturm und Drang (SuD: in den 1770er Jahren einsetzend) und das LS zur Zeit
——————— 1
Vgl. dazu vom Vf.: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung (1983), in diesem Band S. 31–65. Ders.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. Ders.: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1990, S. 395–438.
334
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
der Klassik (nicht mehr mein Thema),2 wobei das LS ›GZ‹ (und somit auch jedes seiner Subsysteme bzw. Systemzustände) zum einen durch Invarianten der von ihm implizierten Anthropologie, zum anderen durch eine neue Funktion des LS im Kultursystem charakterisiert ist: Sein (wiederum aus dem DS ›A‹ resultierendes) Konzept der Autonomie der Literatur impliziert eine Restrukturierung der Relation des LS zum DS, wobei die Literatur nicht mehr applikative, sondern eher komplementäre Funktionen gegenüber dem DS übernimmt.3 Logisch sukzessive Zustände des DS bzw. des LS können chronologisch simultan koexistieren. Logisch sukzessiv sind zwei Zustände, wenn der neue (z.B. SuD) den alten (z B. E) als Voraussetzung seiner Entstehung präsupponiert; simultan existieren beide, wenn etwa ein Teil der Autoren die Weiterentwicklung zum neuen Zustand verweigert; so bleibt etwa ›E‹ auch noch zur Zeit des ›SuD‹ neben diesem erhalten. Für die Transformationen des DS ›A‹ sind solche Phänomene charakteristisch: Wenn dieses System aufgrund seiner immanenten Logik in eine neue Phase eintritt, vollzieht jeweils ein Teil der Autoren diesen Übergang nicht mit; daher kommt es denn auch in der Spätphase der A zu einer aufklärungsinternen Diskussion über Umfang und Grenzen wünschenswerter und legitimer ›Aufklärung‹, wobei die Repräsentanten logisch früherer Systemzustände zu Beschränkung, die logisch späterer hingegen zu Erweiterung neigen. Hier soll nun nicht von ›Gefühl‹ im tatsächlichen Verhalten realer Personen, sondern im fingierten Verhalten literarischer Figuren die Rede sein; der Umgang der sukzessiven Literatursysteme mit ›Gefühl‹ ist gleichwohl für die faktische soziale Praxis relevant gewesen, insofern das jeweilige LS dieser Praxis affektivemotionale Verhaltensmodelle zur Identifikation angeboten und eine Rolle für die Entstehung neuer normativer Verhaltenserwartungen im DS gespielt hat. Zwei quantitativ und qualitativ verschiedene, logisch sukzessive Ausprägungen von ›Gefühl‹ im 18. Jahrhundert benenne ich metasprachlich als Empfindung (charakteristisch für das LS zur Zeit der mittleren A, also das LS ›E‹) bzw. als Leidenschaft (charakteristisch für das LS zur Zeit des SuD), unabhängig davon wie der jeweilige Einzeltext eines LS objektsprachlich, falls überhaupt, die jeweilige Gefühlsvariante benannt hat. Zu rekonstruieren ist nun die systemimmanente Logik dieser Kodierung des affektiv-emotionalen Bereichs und ihrer Transformationen. Diese Logik sei primär am Beispiel der erotischen Beziehungen in den von dieser Literatur dargestellten Welten illustriert, da sie in diesen Transformationen die Funktion eines modellbildenden Paradigmas für Emotionalität – aus wiederum systeminternen Gründen – gewinnen. Da diese Transformation sich im Rahmen
——————— 2
3
»...zur Zeit der...«, weil ›Klassik‹ einerseits ein minoritäres Phänomen bleibt, andererseits die nicht-›klassischen‹ Texte aber dieselben Probleme wie die ›Klassik‹ zu lösen versuchen. Ein Beispiel solcher Funktionalität in Vf.: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche (1991), in diesem Band S. 373–431.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
335
des DS ›A‹ vollzieht, müssen zunächst dessen bekannte Grundstrukturen in Erinnerung gerufen werden, soweit sie mir für den Kontext relevant scheinen.
1.
Grundstrukturen des Denksystems ›Aufklärung‹
Das in allen Wandlungen dieses DS konstante Basispostulat von ›A‹ ist die Setzung des menschlichen Verstandes als letzter und einziger Instanz der Entscheidung über die Wahrheit von Aussagen.4 In seinem Selbstbewußtsein als menschliches Abbild des göttlichen Verstandes glaubt der menschliche, die Welt aus sich deduzieren zu können und läßt Empirie als Wahrheitskriterium eben deshalb zu, weil er sich gar nicht denken kann, daß sie ihn falsifizieren könne. Wie sehr ihr auch mentalitätsgeschichtliche Veränderungen und Verschiebungen schon vorausliegen und sie überhaupt erst ermöglichen, beginnt Aufklärung doch erst mit der expliziten oder impliziten Emanzipation von der Dominanz des theologischen Diskurses, der noch dem barocken Rationalismus die Grenzen des legitim Denkbaren vorgegeben hatte. Demgemäß setzt sie denn auch im deutschen Sprachgebiet bei Wolff und Gottsched nicht zuletzt mit Religionsphilosophie ein, die, wenn sie es zunächst auch leugnet, implizit in Konkurrenz mit der Theologie tritt. Der religionsphilosophische Diskurs ist in der frühen A der dominante Teildiskurs der A, von dem alle anderen Teildiskurse abhängen: Von Gott und der Religionsphilosophie her wird die Welt gedacht. Die Welt wird so konstruiert, daß sie dem Bilde des scheinbar aus dem Verstand deduzierten deistischen Gottes entspricht, dessen Akzent sich vom strafenden zum gütigen Gott verschoben hat; sein Produkt kann nur die bestmögliche aller Welten der Théodicéen5 sein, in der das aufgewertete Diesseits nicht bloß dem Jenseits subordinierter Durchgangsraum, sondern ein selbständiges und eigenwertiges Teilsystem der Welt ist, und da Gott das Beste seiner Geschöpfe will, folgt daraus ein gottgewollter Glücksanspruch schon für das Diesseits: und nicht erst für das Jenseits. Daß dieser Aufklärungsdiskurs so erfolgreich ist, demonstriert schon, daß er nicht zuletzt Rationalisierung und Verbalisierung von vorausgegangenen latenten Transformationen im spätbarocken DS sein muß. Aber der Übergang von zunächst eher gelebten als gedachten mentalitätsgeschichtlichen Verschiebungen zu Verbalisierung und Bewußtheit ist dennoch ein entscheidender in doppelter Hinsicht. Denn zum einen erhebt die Einstellungsveränderung, indem sie nun auch bewußt zugestanden und gesagt werden darf, damit einen Legitimitätsanspruch: Von im Privatraum vollzogener Abweichung vom theologischen Diskurs wird sie zu institutionalisierter Öffentlichkeit, zu einem Diskurs, der, obgleich A natürlich ein minoritäres und elitäres Phänomen bleibt, Überlegenheit und Mehrheitsfähigkeit beansprucht und zu dem man sich bekennen
——————— 4
5
Vgl. zu den Grundpostulaten des DS ›A‹ Vf.: Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung (1990), in diesem Band S. 129–170. Zu den Théodicéen vgl. ebd.
336
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
kann und darf. Zum anderen gewinnt die A damit erst die Voraussetzung ihres systemlogisch bedingten Wandels, der Geschwindigkeit einerseits ihrer Ausweitung auf die verschiedensten Diskurse der Kultur, andererseits ihrer Radikalisierung zu immer konsequenteren Positionen und immer weitergehender Elimination tradierter Denkelemente: Die Bewußtwerdung beschleunigt beide systemlogisch angelegten Prozesse. Aus eigener Logik kann also die Frühaufklärung nicht bleiben, was sie ist. Mit der Radikalisierung aber kommt es zugleich zur Ausdifferenzierung konkurrierender Subsysteme bzw. Systemzustände, da das DS ›A‹ in seiner eigenen Logik im Rahmen des Basispostulats schließlich zur Infragestellung seiner eigenen, anfangs selbstverständlich-unbefragten, ideologischen Prämissen, z. B. Deismus und der Théodicée, führen muß, wobei sich an jeder Prozeßstelle, an der zentrale Propositionen der Frühaufklärung in Frage gestellt oder aufgegeben werden, eine Teilgruppe aus dem weiteren Wandel ausschaltet und, ohne sie mehr rechtfertigen zu können, die ältere Position beibehält. Aus der Ausdifferenzierung einerseits, die logisch zur Frage führt, was denn ›A‹ sei, und ob sie Grenzen haben könne oder müsse, und aus dem Basispostulat andererseits, das, wenn es potentiell alles rationaler Reflexion aussetzt, auch zur Selbstreflexion führen muß, ergibt sich ein zweiter Schritt der Bewußtwerdung: ein Metadiskurs von ›A‹ über sich selbst – die »Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?« (Kant 1783), bei der sich das System der ›A‹ zu Recht als Prozeß von ›A‹ interpretiert. Eine systemimmanente Grenze der Anwendung des Basispostulats hat sich aber die A selbst gesetzt und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in ihrem öffentlichen Diskurs eingehalten: Ich meine den Versuch der Konstanthaltung der tradierten Moralnormen,6 obwohl sonst überall das Neue denkbar sein mag – ein Indiz tief liegender Systembedürfnisse. Damit hat sich die A aber umgekehrt dem Zwang ausgesetzt, diese Normen ebenfalls (pseudo-)rational rechtfertigen und begründen zu müssen – und das versucht sie bis in Spätaufklärung und Idealismus hinein, wobei neben die rationalistischen Normenlegitimationen, die deren Ableitbarkeit aus dem menschlichen Verstand vorgibt, schon in der Frühphase die eher emotionalistische Normenlegitimation der moral-sense-Theorien tritt, die diese Normen als in der ›Natur des Menschen‹, im ›Gefühl‹ verankert zu erweisen suchen, so daß immer und überall der kultureller Deformation nicht unterliegende Mensch ›von Natur aus‹ moralisch empfände. Aufgewertet und emanzipiert – im Rahmen dieser Grenze der Normkonstanz – wird also zunächst der Mensch als Gattung. Die Autonomisierungstendenz der A – Autonomisierung von Diskursen, von Gattungen, von Texten, von Individuen – führt nicht nur aus systeminterner Konsequenz auch zur Autonomisierung der Kunst, d.h. unter anderem der relativen Autonomie des LS gegenüber dem DS seit dem SuD, sondern eben auch zur Ausdifferenzierungstendenz, die aus dem ›Selbstdenken‹ resultiert, und damit auch zur Legitimation von Individualität als Wert, sei es die Individualität von Texten oder von Subjekten. ›Individualität‹ aber, indem
——————— 6
Vgl. Vf.: Inzestuöse Situationen, in diesem Band S. 373–431.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
337
sie Differenz fordert, tendiert zur Abweichung, womit wiederum implizit der Rahmen der Normenkonstanz in Frage gestellt ist. Die Logik des DS führt nicht nur zu Ausdifferenzierung und Selbstreflexion, sondern auch zur Krise des DS ›A‹, aus dessen eigenen Prämissen und dessen eigener Prozessualität in ihm nicht mehr lösbare Widersprüche resultieren werden.
2.
›Gefühl‹ als ›Sympathie‹: das minimalisierte Gefühl im LS ›frühe A‹
Im LS zur Zeit der frühen A definiert sich das neue Subjekt noch allein über seine Rationalität (im Sinne dieser A), die mit (deistischer) Religiosität und mit ›Tugendhaftigkeit‹, also Einhaltung der tradierten Normen, ganz selbstverständlich äquivalent gesetzt wird: Falscher Glaube oder Normverstoß erscheinen somit als schlicht ›unvernünftig‹. Daraus resultiert eine Dichotomisierung der Weltstruktur, in der es nur zwei mögliche Zustände des Subjektes gibt: 1.
Positiver Zustand ›Rationalität‹ ( Dominanz der ›Vernunft‹)
vs.
Negativer Zustand Nicht-›Rationalität‹
(Richtige) ›Religiosität‹ ( Deismus)
Falsche oder keine ›Religiosität‹
›Tugendhaftigkeit‹ ( Normerfüllung)
Nicht-›Tugend‹ ( ›Fehler‹ oder ›Laster‹)
Die als allen Menschen gemeinsam gedachte Vernunft wird als selbstverständlich dominante psychische Instanz gesetzt; ihr zuwider laufende, somit nicht tugendhafte, etwa affektive Regungen treten nur bei Schwächung dieser Instanz auf und sind ebenso selbstverständlich zu unterdrücken. Intensive Affektivität kann nur negative Infragestellung der Rationalität bedeuten. Im Negativraum werden zwei Klassen von Normverletzungen unterschieden: die reversiblen und verzeihbaren Normverstöße, ›Fehler‹, die auf ›Irrtum‹ basieren, der durch ›Belehrung‹ und ›Einsicht‹ aufhebbar ist, so daß die ›Besserung‹ die Rückkehr in den positiven Zustand erlaubt, und die irreversiblen und unverzeihbaren Normverstöße, ›Laster‹. Unter die ersteren scheinen faktisch vollzogene Verletzungen marginaler (›bloß sozialer‹) und die intendierte, aber nicht vollzogene Verletzung zentraler (›moralischer‹) Normen, unter die letzteren die faktischen Verletzungen zentraler Normen zu fallen, die z.B. Besitz, Leben, Sexualität betreffen oder auch die politischen Strukturen, die vor der Ausweitung des DS ›A‹ in seiner mittleren Phase auf den politischen Bereich als gegeben hingenommen werden. ›Liebe‹ wird noch traditionell konzipiert; es gelten als 2. Regeln für die Liebesbeziehungen im LS ›frühe A‹: 2.1 Soziale Voraussetzungen der Wählbarkeit eines Partners:
338
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
2.1.1 Beide Partner sind verschiedenen Geschlechts (Vermeidung von Homosexualität). 2.1.2 Beide Partner sind nicht-verwandt (Vermeidung von Inzest). Während 2.1.1 und 2.1.2 – als scheinbar selbstverständlich – in diesem LS nicht thematisiert werden, wird hingegen sehr wohl thematisiert: 2.1.3 Beide Partner müssen ungebunden sein; es gilt eine generelle Regel der Rivalitätsvermeidung; alle emotional besetzten Personen, auch wenn sie weder verheiratet noch verlobt sind, auf die schon eine Person legitimen Anspruch erhebt, kommen weder als Subjekt noch als Objekt der Partnerwahl infrage; der bloße Versuch führt schon zur Negativwertung der Person. 2.2 Soziale Kriterien der Partnerwahl: Ein Partner ist wählbar, wenn er die folgenden Bedingungen erfüllt: 2.2.1 Theoretisch wie praktisch in den Texten obligatorisch: Zugehörigkeit zum Positivraum (Vernunft, Religiosität, Tugend - s.u.1.). 2.2.2 Praktisch obligatorisch: Zugehörigkeit zur selben Schicht (Vermeidung von Mesalliance)7 2.2.3 Fakultativ: Schönheit oder/und Besitz; aber sowohl eine dominant sinnlich als auch eine – vermutlich im Gegensatz zur sozialen Praxis – dominant ökonomisch motivierte Partnerwahl ordnet die Person dem Negativraum zu. 2.3 Psychische Bedingungen der Partnerwahl: Gefordert wird eine minimale positive emotionale Zuwendung, die wir als ›freundschaftliches Wohlwollen‹ und ›Sympathie‹ benennen würden. 2.4 Soziale Bedingungen für die Realisierung der Beziehung: 2.4.1 Abhängigkeit der Partnerwahl von der Elterngeneration (bzw. eines Elternäquivalents: Onkel bzw. Tante, älterer Bruder der Frau, usw.), d.h. Partnerwahl für die Kinder durch die Eltern oder Zustimmung der Eltern zur Partnerwahl durch die Kinder. Dabei gilt erstens, daß dem Kind kein Partner aufgezwungen werden darf, der nicht die Bedingungen 2.1, 2.2, 2.3 erfüllt, zweitens, daß eine Wahl des Kindes selbst, die diese Bedingungen erfüllt, zustimmungsbedürftig durch die Eltern ist und bei Nicht-Erhalt der Zustimmung auf sie verzichtet werden muß, drittens, daß ein Konflikt ›Eltern(-äquivalent) vs. Kind‹ nur eintreten kann, wenn sich ein Elternteil oder das Kind ›unvernünftig‹ verhält. 2.4.2 Erotik ist erst nach Legalisierung der Beziehung in einer Ehe möglich – das gilt sogar für Schiffbrüchige auf einsamen Inseln.8 2.5 Normen für die legalisierte Beziehung:
——————— 7
8
So z.B. plädiert Luise Adelgunde Viktorie Gottsched in ihrer Komödie Die ungleiche Heirath (in J.C. Gottsched: Die deutsche Schaubühne. Bd. IV. 1743) noch eindeutig gegen die Mesalliance, während Krügers Komödien Die Geistlichen auf dem Lande (1743) und Die Candidaten (1748) sie schon ebenso legitimieren, wie in Frankreich Voltaires Nanine ou le Préjugé vaincu (1749) oder Destouches’ Le Glorieux (1732). Exemplarisch in Schnabels bekanntem Roman Insel Felsenburg (1731–1743)
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
339
2.5.1 Nicht-Beendbarkeit der Beziehung und Konstanz der emotional positiven Einstellung zum Partner auch dann, wenn der Partner beim Zustandekommen oder im Verlauf der Beziehung wesentliche Normen verletzt.9 2.5.2 Funktionalisierung von Sexualität für Fruchtbarkeit und normative Begrenzung der zulässigen Sexualpraktiken (diese Regel wird selbstverständlich und unthematisiert praktiziert und als solche erst durch historisch spätere Verletzungen erkennbar - s.u). 2.6 Da die Partnerwahlkriterien soziale und nicht personale sind und die Kriterien 2.1, 2.2, 2.3 somit nicht nur von einer Person erfüllt werden, gilt in diesem System die grundsätzliche Äquivalenz – somit Austauschbarkeit – möglicher Partner: ihre Nicht-Individualisierung. ›Gefühl‹ wird generell in diesem LS als solches nicht thematisiert, sofern es, wie bei erotischen, familiären, freundschaftlichen und sonstigen sozialen Beziehungen – die somit emotional nicht ausdifferenziert werden – gleichermaßen normativ erwartet und in seiner minimalisierten Reduktion auf eine sozial standardisierte positive Zuwendung des Wohlwollens und der Sympathie praktiziert wird. Da die potentielle (wenn auch noch nicht faktisch gegebene) Universalität von Vernunft gefordert wird, da alle Vernunft zu ein und demselben Ergebnis ohne denkbare Alternativen zu führen scheint, da eine Aus-differenzierung der Subjekte über das Gefühl nicht vorgesehen ist, erscheint Individualität als bloße Oberflächendifferenz in begrenztem und standardisiertem Rahmen: Soziale Unterschiede sind relevanter als individuelle.
3.
›Gefühl‹ als ›Empfindung‹: das Literatursystem ›Empfindsamkeit‹ zur Zeit der mittleren Aufklärung
Um die Jahrhundertmitte tritt nun also eine universelle Emotionalisierung von Beziehungen und eine Thematisierung von Emotionalität im DS ›A‹ und im LS ›E‹ ein, die wiederum sowohl erotische als auch familiäre, freundschaftliche, sonstige soziale Beziehungen umfaßt. Die denk- und sozialgeschichtliche Motiviertheit dieser Entdeckung von Gefühl als Thema ist nicht mein Gegenstand; einige der beteiligten Faktorenklassen seien hier erinnert: a) Der Universalitätsanspruch der A im Postulat einer rational geordneten und rational durchschaubaren Welt erzwingt die Einbeziehung aller relevanten und beobachtbaren Phänomene: Da es nun aber wahrnehmbar Affektivität im Subjekt gibt, muß sie in die Anthropologie einbezogen und ihre Relation zur Rationalität bestimmt werden.
——————— 9
Ein schönes Beispiel: Estrithe in J. E. Schlegels Canut, deren Gatte Ulfo sie nur mittels Betrug geheiratet und damit um ihren eigentlichen Liebespartner gebracht hat und nirgends ihre Interessen berücksichtigt, für den sie aber gleichwohl bis zu seinem Ende die Pflichten der perfekten Gattin erfüllt.
340
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
b) Sowohl im Bereich der Moralphilosophie (moral-sense-Theorien) als auch im Bereich der Erkenntnistheorie (Rolle der ›Empfindungen‹ bei der Weltwahrnehmung) sind Teildiskurse der A schon auf die ›Empfindung‹ als Faktor gestoßen. c) Der neue innerirdische Glücksanspruch des Subjektes muß in einer sozial statischen und durchorganisierten – und als solche erfahrenen – Welt realisierbar sein, wenn die Weltordnung die gerechte und sinnvolle der Théodicée sein soll: Als Raum dafür kommt aber nur der Privatraum von Familie, Liebe und Freundschaft in Frage. Um ihn zum Raum der Glückserfüllung zu machen, muß er aufgewertet und zu einem Raum intensiven Erlebens werden; das aber leistet die Emotionalisierung. So wird denn früh schon Familie als ein zentraler Wert konzipiert, und schon die Komödien und Tragödien zur Zeit der frühen A weisen eine massive Tendenz zur Familialisierung der Weltstruktur auf, indem gern zumindest viele Figuren der dargestellten Welt durch familiäre und erotische Beziehungen verknüpft sind.10 Im neuen LS ›E‹, das sich sowohl im Roman (z.B. Gellerts Schwedische Gräfin 1747–48) als auch in Komödie (z.B. Gellerts Zärtliche Schwestern 1747) und Tragödie (z . B Schlegels Canut 1746 oder Lessings Miß Sara Sampson 1755) als auch in der Lyrik (z.B. Klopstock) manifestiert, konstituiert sich unter anderem ein eigenartiges neues Thema in der Lyrik, wo eine zwar noch unbekannte, aber für die Zukunft fest erwartete Geliebte besungen wird: Ausdruck der selbstverständlichen Erwartung von Glück durch Liebe in der besten der Welten.11 Mit der Emotionalisierung wird jedenfalls von der A ein denk- und sozialgeschichtlicher Transformationsprozeß12 eingeleitet, der sich bis in unsere Gegenwart fortsetzt und schon während der A selbst zur Kollision mit den Ideologemen der frühen A führt. Für die 3. neue Liebeskonzeption des LS ›E‹ gilt nun: 3.1 die Konstanthaltung aller Regeln für erotische Beziehungen aus dem LS ›frühe A‹ mit Ausnahme der Substitution von 2.3. durch: 3.2 die Emotionalisierung der Beziehung; verlangt wird jetzt statt ›Sympathie‹ ›Empfindung‹; die neue Möglichkeit, die das Subjekt wählen könnte oder auch nicht, wird sofort zur neuen Norm, die das Subjekt wählen muß, wenn es dem
——————— 10
11
12
Bei den Tragödien, die J. C. Gottsched Die deutsche Schaubühne (6 Bde., 1741–1745) veröffentlicht, ist die dargestellte Welt in hohem Ausmaß durch familiäre Beziehungen strukturiert, so z.B. in F. G. Pitschels Darius (1741), J. E. Schlegels Herrmann (1743) und Dido (1744), Krügers Mahomed der IV. (1744), Gottscheds Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra (1745) und Agis, König zu Sparta (1745). So schon Klopstocks Elegie (1748) und die Serie von Gedichten der Autoren des Göttinger Hains zum Thema ›Die zukünftige Geliebte‹. Vgl. dazu die mentalitätsgeschichtliche Forschung der beiden letzten Jahrzehnte; Literaturangaben in Vf.: Inzestuöse Situationen, in diesem Band, S. 373–431. Literaturwissenschaftlich vgl. dazu die wichtigen Arbeiten von Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Stuttgart 1969; Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974; Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1976.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Positivraum angehören will; aus dieser entscheidenden Transformation resultieren die weiteren, die logisch schon in den Prämissen von LS ›E‹ angelegt sind, sich aber erst im Verlauf von LS ›E‹ – oder gar erst in ›SuD‹ – realisieren; die Prämisse dieses Systems führt nämlich zu 3.2.1 einer Intensivierung der Beziehung, 3.2.2 einer (potentiellen) Individualisierung des Selbst, insofern dieses sich durch seine Gefühlsstruktur, durch Art und Inhalte seiner Effekte gegenüber anderen Subjekten ausdifferenzieren kann, und einer (potentiellen) Individualisierung des Partners, da als Partner nun eben nicht mehr jedermann in Betracht kommt, der die sozialen Kriterien (2.1 bis 2.3) erfüllt, sondern nur, wer zudem das personale Kriterium erfüllt, beim Subjekt auch ›Gefühle‹ auszulösen (Tilgung von 2.6), 3.2.3 zu einer Entrationalisierung der Partnerwahl, da nicht begründbar ist, warum eine Person, die 2.1 bis 2.3 erfüllt, solche ›Empfindungen‹ auslöst oder nicht, 3.2.4 einer Reduktion der Menge möglicher Partner durch das zusätzliche Selektionskriterium, im Extremfall bis zur Unaustauschbarkeit und Unersetzlichkeit genau eines Partners, der das emotionale Optimum für das Selbst darstellt, und somit eine Erschwerung der Partnerfindung, 3.2.5 einer Ausdifferenzierung der positiven Empfindungen in freundschaftliche, familiäre, erotische. Das LS ›frühe A‹ konnte die Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit der emotionalen Einstellungen in diesen Fällen problemlos unterstellen, da die Beziehungstypen durch rationale und soziale Kriterien differenziert waren. Im LS ›frühe A‹ ist der Beziehungstyp vorgegeben und das Gefühl wird in Abhängigkeit von ihm (als erotisch, familiär, usw.) identifiziert; im LS ›E‹ ist der Gefühlstyp vorgegeben und der Beziehungstyp in Abhängigkeit von ihm zu wählen. Nur scheinbar waren die Beziehungstypen im LS ›frühe A‹ emotional verwechselbar: Im LS ›E‹ werden sie es wirklich, und dieses LS muß daher eine Differenzierung und Hierarchisierung der Gefühle vornehmen, wenn das emotionale und personale Kriterium zur Unterscheidung freundschaftlicher und erotischer, erotischer und familiärer Beziehungen ausreichen soll; die Gefühle müssen unterscheidbar werden, um die Beziehungstypen unterscheiden zu können, da diese sich jetzt über jene definieren, und zu 3.2.6 einer (potentiellen) Aufwertung des Ranges der Liebesbeziehung unter den anderen Werten (Freundschaft, Familie, usw.) fakultativ bis zum affektiv höchsten Wert überhaupt, der Glück und Sinn der Existenz garantiert. 3.3 Die Emotionalisierung, die Erfindung der ›Liebe‹ als Norm erotischer Beziehungen, stellt von Anfang an ein Potential der Normverletzung und Grenzüberschreitung dar, das in ›E‹ auch sofort als solches bewußt und thematisiert wird: Die Freisetzung und Legitimierung von Emotionalität kollidiert im System mit der Konstanthaltung der sonstigen erotischen Normen (2.1, 2.2, 2.4, 2.5), die scheinbar von der Vernunft diktiert sind. Das zentrale und systeminterne Problem des DS der mittleren A und somit des LS ›E‹ ist es somit, im anthropologischmoralischen System die neue Emotionalität so zu situieren und zu strukturieren, daß ihr potentieller Konflikt mit ›Vernunft‹ und ›Tugend‹ minimalisiert wird: Die
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Lösung wird in der spezifischen Konzeption von ›Gefühl‹ als ›Empfindung‹ versucht. Daß das neue Gefühl eine Tendenz zur Abweichung (und damit zur Ausdifferenzierung) impliziert, manifestiert sich aber nicht nur in den dargestellten Welten, sondern auch in der poetologischen Praxis wie Theorie. Mit ihm zusammen entstehen neue Texttypen wie das rührende Lustspiel und das bürgerliche Trauerspiel, die beide traditionelle Kategorisierungen in zwei disjunkte Klassen ›Lustspiel‹ und ›Trauerspiel‹ ebenso außer Kraft setzen, wie in den dargestellten Welten die Dichotomisierung der Weltstruktur tendenziell außer Kraft gesetzt wird. Schon ein so früher Text wie Gellerts Schwedische Gräfin führt nun, geradezu exemplarisch, das Normverletzungspotential der neuen Emotionalisierung an zentralen Beispielen vor und zwar, obwohl alle Beziehungstypen emotionalisiert werden, anhand der Liebesgefühle, die sich damit schon von den anderen Gefühlen abzuheben beginnen, als zwar die wichtigsten, aber auch die gefährlichsten. Die Ersetzung der dominant rationalen und sozialen durch die dominant emotionale und personale Partnerwahl führt also dazu, daß das Gefühl mit Normen kollidieren kann. Verletzt wird in Gellerts Roman die Regel der Rivalitätsvermeidung: Der selbst verheiratete Prinz, der »Sie auf das äußerste liebt«,13 begehrt die verheiratete Gräfin und versucht einen Justizmord am Grafen; Dormund liebt und begehrt die verheiratete Mariane und ermordet ihren Gatten Carlson. Beabsichtigter oder vollzogener Ehebruch und direkter oder indirekter Mord markieren also die Extremwerte der möglichen Folgen des neuen Gefühls, zu denen auch der Inzest14 gehört: Carlson und Mariane erweisen sich nach ihrer Eheschließung als Geschwister, und die Norm verlangt somit ihre Trennung: Die Religion hieß sie die Liebe der Ehe in Schwester- und Bruderliebe verwandeln und ihr Herz verlangte das Gegenteil. Sie hatten einander unbeschreiblich geliebt. (Gräfin, S. 46)
Wie familiäre Zuwendung und Liebe ausdifferenziert werden müssen, müssen es auch Freundschaft und Liebe, die ineinander übergehen können, aber unterscheidbar sein müssen: Erst hat sie nur Freundschaft und Erkenntlichkeit gegen Sie empfunden. Die Zeit und Ihr Wert hat diese Regungen in Liebe verwandelt. (Gräfin, S. 36)
Indikator der Neigung des Gefühls zur Grenzüberschreitung ist auch ab jetzt die gehäuft belegte Mesalliancebereitschaft; so ist der zweite Gatte der Gräfin, den sie wie den ersten liebt, bürgerlich, was zugleich auch rational legitimiert wird: »[...] was geht die Vernünftigen die Ungleichheit des Standes an?« (Gräfin, S. 36) Wo aber soziale Unmöglichkeit der Ehe entgegensteht, wie bei des Grafen früherer Beziehung, oder elterliche Zustimmung verweigert wird, wie bei Wid und seiner Geliebten, kommt es im Text zur nicht-legalisierten Beziehung mit uneheli-
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Christian Fürchtegott Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G***. Hg. von JörgUlrich Fechner. Stuttgart 1968, S. 153 (Im Folgenden zitiert als Gräfin). Dazu Vf.: Inzestuöse Situationen, in diesem Band, S. 373–431.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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chen Kindern. Am kompliziertesten ist der Fall der Gräfin selbst: Nachdem sie den Grafen infolge des Justizmords tot glauben muß, heiratet sie nach einigen Jahren einen bürgerlichen Freund des Grafen; als der Graf zurückkehrt, befindet sie sich in Bigamie. Mehreres wird zugleich an ihrem Falle illustriert. Noch ist der Partner nicht als radikal einmalig und unaustauschbar gedacht: Mehrere Figuren des Textes (Graf, Gräfin, Mariane, Steeley, Amalie) gehen zweite Beziehungen bzw. Ehen ein. An der unfreiwilligen Bigamie wird aber ein anderer Extremfall, der wiederum die Rivalitätsregel betrifft, deutlich, daß man die selben Gefühle für zwei verschiedene Partner zugleich haben kann: Einen Mann hatte ich wiedergefunden, den ich ausnehmend liebte, und einen sollte ich verlassen, den ich nicht weniger liebte. Ich wußte, daß ich sie beide nicht besitzen konnte; allein welcher Trieb hört die Vernunft weniger als die Liebe. (Gräfin, S. 63, 65)
Der Konflikt wird gelöst: Der zweite Gatte erkennt den ersten als bevorrechtigten, weil früheren, an, verzichtet und wandelt seine Liebe wieder zu Freundschaft. 4. Zweierlei läßt sich generalisieren: 4.1 Das Normverletzungspotential des Gefühls, von Anfang an im LS ›E‹ bekannt, stellt immer eine Bedrohung der Ordnung der Familie dar, also eines für A zentralen Wertes; so werden ja auch im bürgerlichen Trauerspiel, das fast ausnahmslos um erotische Normverletzungen kreist, dadurch Familien zerstört.15 4.2 Den Figuren, die dem Positivraum angehören, gelingt die Überwindung potentiell normverletzender Gefühle und ihre Substitution durch die normativ erwarteten; so hier der zweite Gatte der Gräfin und dann diese selbst. Die Problemlösungsstrategien zur Bewältigung des potentiellen Konfliktes zwischen Gefühl und Normensystem bestehen nun im LS ›E‹ zum einen in der Konzeption dieses Gefühls als ›Empfindung‹, zum anderen in den Mechanismen der Reaktion auf eventuelle Normverletzung. Die Literatur des LS ›E‹ bietet ihrem Publikum eine Einübung der neuen Strukturen empfindsamer Affektivität anhand der Vorführung eindeutig als positiv oder negativ bewerteter, immer aber exemplarischer Emotionalität. 5. Die Konzeption von ›Gefühl‹ als ›Empfindung‹ ist einer Domestizierung des Gefühles äquivalent, dessen gefährliches Potential zwar einbezogen, aber damit es kontrolliert und beherrschbar bleibt, in mehrfacher Hinsicht begrenzt wird, und zwar durch: 5.1 eine qualitative Normierung und Standardisierung des Gefühls: durch die ausschließliche Zulassung von Gefühlen positiver Zuwendung des Selbst zum Anderen; als zulässig und positiv bewertet erscheinen somit sowohl die freudvollen
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So z.B. Lessings Miß Sara Sampson und Emilia Galotti, Martinis Rhynsoli und Sapphira (1755), Pfeils Lucie Woodvil, später im SuD Schillers Kabale und Liebe und andere Transformationen des bürgerlichen Trauerspiels wie Wagners Die Kindermörderin (1777) und Die Reue nach der That (1775), Lenz’ Die Soldaten (1776) und Der Hofmeister (1774), Goethes Clavigo, Klingers Das leidende Weib (1775).
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Gefühle, Freundschaft, familiäre, elterliche, geschwisterliche Zuneigung, erotische Liebe, allgemeine Menschenliebe, also auch die schmerzlichen Gefühle, die das Komplement der ersteren sind und den Test für deren Echtheit darstellen. Die positiven Gefühle bewähren sich im Katastrophenfalle beim Verlust von Werten als (tätiges) Mitleid gegenüber dem Anderen oder als Trauer beim Selbst. Ausgeschlossen werden Antriebe, die zur negativen affektiven Besetzung des Anderen führen: Neid, Eifersucht, Konkurrenzstreben, Wut, Haß, Rache; das bürgerliche Trauerspiel z . B . führt deren Verwerflichkeit an seinen Schurkengestalten exemplarisch vor;16 ausgeschlossen – und zumindest uneingestehbar in den Texten – sind ebenso ambivalente Gefühle, die neben der positiven auch eine negative Komponente haben. Ausgeschlossen wird und an positiven Figuren unthematisiert bleibt aber auch das erotische Begehren: Die neuerfundene ›Liebe‹ wird in zwei Komponenten zerlegt; das zulässige erotische Gefühl (das als auch altruistisches Gefühl gilt) und das unzulässige sexuelle Begehren (das als dominant egoistisches Gefühl erscheint) – in Goethes Worten, »Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet.«17 Wenngleich Gellert seine schwedische Gräfin die nur ›sinnliche Liebe‹ wie die nur ›geistige Liebe‹ für nichtmenschlich erklären läßt, wird diese Aufspaltung im LS doch praktiziert, indem die empfindsame Literatur im engeren Sinne sich mit der psychischen Komponente praktisch ausschließlich befaßt, und die physische Komponente zum einen an einen seit Jahrhundertmitte einsetzenden medizinischen Diskurs über Sexualität, zum anderen im deutschen Sprachgebiet an die eher harmlose anakreontisch-bukolische Lyrik, im französischen an den anonymen erotischen oder pornographischen Roman18 delegiert, wobei zwischen Empfindsamkeit und Pornographie ein impliziter Dialog stattfindet; Sade z. B. wird jede Form von ›Liebe‹ als lustschädlich denunzieren. Die Abspaltung selbst ist funktional für die Domestizierung des Normverletzungspotentials, das der eher pornographische Roman drastisch vorführt: Sie reduziert die ja schon von Gellert vorgeführte Gefahr der Verletzung der sozialen Bedingungen für realisierte Liebe (2.4). Die Moralisierung des Gefühls als Voraussetzung seiner Positivität im LS ›E‹ manifestiert sich als Forderung zumindest virtueller Verzichtbereitschaft: Vom Subjekt wird implizit nicht nur das Ertragen von Wertverlusten (Besitz, Liebes-
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So die Marwood in Sara Sampson, Lucie in Lucie Woodvil, Marinelli in Emilia Galotti, Rhynsolt in Rhynsolt und Sapphira. Goethe: Dichtung und Wahrheit. III. Teil, 13. Buch. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter. Bd. 16. München 1985, S. 612. Vgl. auch Werther (1774): »Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart« (Sämtliche Werke. Bd. 1.2. München 1987, S. 226). Siehe Vf.: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung. Der philosophisch-pornographische Roman, in diesem Band S. 433–483.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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partner), sondern auch die Abtretung von Werten zugunsten des Anderen19 (Verzicht auf Besitz, Liebespartner usw.) verlangt; die Figuren mit negativ bewerteten Gefühlen sind wiederum zugleich die nicht-verzichtbereiten – die Schurken und Verführer in diesem LS. Daß das Subjekt aber bereit und fähig ist, solchen Wertverzicht zu leisten, ist konstitutiv für das LS, denn, wenn affektive Besetzung von Werten selbst zum Wert wird, dann wird der Verlust des Wertes umso schmerzlicher; damit aber stünde das Postulat der göttlichen, gerechten, gütigen Weltordnung der Théodicée in Frage; somit wird der Verzicht erträglich gehalten und die Verzichtbereitschaft nicht selten durch Besitz oder Liebe belohnt und also geradezu Voraussetzung der Erfüllung des Glücksanspruches, die als Prüfung der Glückswürdigkeit des Subjektes fungiert.20 Im Rahmen der Théodicée muß der neue Glücksanspruch jedenfalls durch die komplementäre Bereitschaft zum Glücksverzicht logisch kompensiert werden, damit die postulierte Weltordnung invariant gehalten werden kann. Das LS ›E‹ ist konsequent denn auch durch Dominanz der schmerzlichen Gefühle charakterisiert, insofern nicht nur Leid und Mitleid eine zentrale Rolle spielen, sondern auch die lustvollen Gefühle sich in ihrem Ausdruck nach den schmerzlichen modellieren: Die Tränenströme, die der leidvolle Fall abpreßt, vergießt man in diesem LS ebenso reichlich im lustvollen Falle; Glück macht hier ebenso weinerlich wie Unglück. Wenn Gellert schließlich in der Gräfin Amalie und Steeley verkuppelt, werden Ängste, Beunruhigung, Leiden angesichts möglicher bevorstehender Trennung und möglicher Nicht-Erwiderung der Gefühle seitenweise vorgeführt, aber nur in wenigen Sätzen das Glück gestanden, das als wechselseitige Liebe realisierbar scheint. Und umgekehrt wird selbst im eindeutig schmerzlichen Gefühl noch eine Lust gesucht und gefunden: Ich will meinen Schmerz über seinen Tod nicht beschreiben. Er war ein Beweis der zärtlichsten Liebe und bis zur Ausschweifung groß. Ich fand eine Wollust in meinen Tränen [...]. (Gräfin, S. 152)
Die geforderte Verzichtbereitschaft wird also zudem kompensiert, indem auch Leid partiell als Lust empfunden wird. Die Konzeption der Empfindung im LS ›E‹ ist nicht zuletzt Ergebnis und Ausdruck einer Defizienzerfahrung gegenüber der dargestellten Welt: Eine Welt, in der Leidgefühle dominieren, Lustgefühle deren Form annehmen, Leid als Lust uminterpretiert werden kann und muß, ist offenkundig eine Welt, die nicht auf Befriedigung der Glückserwartung des Subjektes angelegt ist; aber das erfahrene Ungenügen an der gegebenen Welt muß zugleich verleugnet werden, soll diese die beste der möglichen bleiben; die Konstanthaltung einer asketisch-lustfeindlichen Moral reduziert ebenfalls den Rang der möglichen Wertverluste. Die Konzeption der Empfindung als Selbstwert, die, wie sie auch sei,
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Z.B. Gellert: Die zärtlichen Schwestern; Cronegk: Der Mißtrauische; Lessing: Minna von Barnhelm. Lohn für Verzichtbereitschaft: z.B. Gellerts Schwedische Gräfin und Zärtliche Schwestern, oder Cronegks Mißtrauischer.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
genossen werden kann, setzt der Defizienz der Welt eine Kompensation entgegen, die das Subjekt in sich selbst findet: Im moralisierten Gefühl, das seine Tugend belegt, erlebt das Subjekt des LS ›E‹ unzweideutig einen Selbstgenuß des eigenen Wertes – eine Aufwertung des Subjekts, aber noch nicht eigentlich seine Individualisierung. Die Individualisierung des Subjektes beginnt aber nicht bei den positivtugendhaften, sondern bei den negativ-lasterhaften Figuren, die der kollektiven Normierung die individuelle Abweichung konfrontieren. Nicht zuletzt in der formalen Authentizitätsfiktion des Briefromans und mehr noch des Ich-Romans wird die Selbstpräsentation eines rein privaten Subjektes ohne öffentliches Interesse ebenso legitimiert wie im bürgerlichen Trauerspiel, bei dem ›bürgerlich‹ ja eine private, vor allem familiäre Handlung zwischen bürgerlichen oder adligen Subjekten ohne Beteiligung an politischer Herrschaft bedeutet, bei der solche Subjekte somit zugleich erstmals tragikfähig werden.21 Normiert ist nun nicht nur, welche Gefühle das Subjekt haben darf, sondern auch, in welchen Situationen und wem gegenüber es solche Gefühle haben muß. Die positiven, tugendhaften und empfindsamen Figuren ähneln einander notwendig bis zur Verwechselbarkeit, wenn man von den personexternen Variablen der Umstände und Ereignisse abstrahiert. Das Normverletzungspotential der neuen Emotionalität wird nun ferner reduziert durch 5.2 eine quantitative Normierung: eine Begrenzung der Intensität des Gefühls. Wenn Gellerts Gräfin ihrem Leiden nachsagt, es sei »bis zur Ausschweifung groß« gewesen, dann gibt es einen Grenzwert des zulässigen Grades der Emotion, der im Falle von ›Leidenschaft‹ überschritten wäre. ›Leidenschaft‹ wird im LS ›E‹ zum ausgesprochen negativen Prädikat, das besonders negative Schurkengestalten charakterisiert, wie etwa in Lessings Sara Sampson oder in Pfeils Lucie Woodvil (1756). Sprachlich präsentiert sich denn auch die ›Empfindung‹ und ihr metonymischer bzw. synekdochischer Sitz, das ›Herz‹, als ›warm‹, als wohltemperiertes Gefühl. Diese Intensitätsbegrenzung ist nun aber Voraussetzung für die dritte Strategie der Gefahrenreduktion: 5.3 eine Hierarchisierung der psychischen Instanzen: Die Regelung der Relation von Vernunft und Empfindung besteht in der Überordnung der Vernunft, die sich, als normenrepräsentierende Instanz, im Falle der Kollision von Gefühl und Normensystem bei allen positiven Figuren durchsetzt: vielleicht unter Kämpfen, die aber nur den Wert der Leistung des Sieges akzentuieren. Die qualitative und quantitative Begrenzung des Gefühls erlaubt es dem LS, es dem Subjekt als selbstverschuldeten, somit zurechenbaren Fehler zuzuschreiben, wenn sich sein Gefühl gegen Normensystem und Vernunft durchsetzt: Die grundsätzliche Forderung der Normenkonstanz und der Normeinhaltung kann somit problemlos erhoben werden. Zu diesem System der Gefühlsregulierung gehört schließlich
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Vgl. Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart 2006 (11972).
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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5.4 die Normierung des Gefühlsausdrucks. Im LS ›E‹ besteht ein scheinbarer Widerspruch zwischen (dem rhetorischen Topos) der Unaussprechlichkeit des Gefühls – »die Sprachen sind nie ärmer, als wenn man die gewaltsamen Leidenschaften [sic!] der Liebe und des Schmerzens ausdrücken will.« (Gräfin, S. 26) – und dem Bedürfnis nach Gefühlsausdruck. Es reicht nicht, Empfindung zu haben, man muß sie zeigen und sagen, wobei neben den non-verbalen Gefühlsausdruck, nicht zuletzt also den bekannten Tränenbächen, die Verbalisierung des Gefühls tritt. Das zunächst vorsprachliche und eventuell sogar vorbewußte Gefühl muß zum verbalisierten und bewußten, zum rational kontrollierbaren, zum nicht unmittelbar-spontanen, zum reflektierten Gefühl gemacht werden, wie die empfindsame Lyrik von Klopstock bis zum ›Göttinger Hain‹ ebenso wie Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761) belegt; es äußert sich sprachlich mit Hilfe normierter Techniken, nämlich dem Apparat der rhetorischen Figuren und Tropen, wenngleich unter dem neuen Postulat der ›Natürlichkeit‹; ein Vergleich von Rousseaus Héloïse und Goethes Werther zeigt den zukünftigen Wandel. Dieses reflektierte und rhetorisierte Gefühl ist zudem immer ein inszeniertes Gefühl: Es spricht sich nicht unmittelbar aus, sondern immer nur vermittelt durch den normierten zeichenhaften Ausdruck, dessen intensive Präsenz ihn immer als strukturierenden Filter bewußt macht, wenngleich die nicht zufällig beliebten Dramen und Ich- bzw. Briefromane solche Unmittelbarkeit vorzutäuschen versuchen. Das Subjekt präsentiert sich zwar im Gefühlsausdruck selbst, aber immer anderen, immer einem Publikum; Sprechsituationen in Ich-Form an einen Adressaten in Lyrik oder Roman (wobei in Gellerts Gräfin der Adressat übrigens fehlt), Briefe in Roman oder Drama, die dialogische Konfrontation der Figuren in Komödie und Tragödie sind formaler Ausdruck dieser Inszeniertheit des normativ Erwarteten. ›Empfindung‹ ist entgegen anderslautenden Fiktionen – »Dir nur, liebendes Herz, euch, meine vertraulichsten Thränen, / Sing’ ich traurig allein dieses wehmüthige Lied« (Klopstock, Elegie 1748, V.lf.);22 hier zumindest immer noch in Pseudodialogisierung) – ein sozialisiertes Gefühl, dem nur als inszeniertem, mitgeteiltem und vorgeführtem Interesse entgegengebracht wird. Denn dieses Gefühl ist zugleich die Schnittstelle zwischen dem Individuum und jener elitären Teilgesellschaft der richtig Empfindenden, die ein komplementäres und kompensatorisches Sozialsystem gegenüber dem sozialen Gesamtsystem23 darstellen: In diesem ist man in Gruppen und Schichten und konfligierende Interessen und Ideologeme gespalten; in jenem bildet man, zwar nur innerhalb der Gebildeten, aber doch (vgl. die Mesalliancebereitschaft) schichtübergreifend eine infor-
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Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden und Elegien. Darmstadt 1771. Repr. Stuttgart 1974, S. 70. Die informelle Gegengesellschaft der ›Empfindsamen‹ hat damit einen ähnlichen Status wie die für das 18. Jahrhundert so typischen Geheimbünde, primär also die Freimaurer, die sich ebenfalls als schichtübergreifend verstehen. Siehe hierzu Vf.: Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (2000), in diesem Band S. 195–222.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
melle und elitäre Gruppe (die man als ›Mittelstand‹ benennen wird), der jede(r) integriert wird, der/die ebenso empfindet: Die geäußerte Empfindung ist Erkennungszeichen und Zugehörigkeitsbeweis. Das Netz der freundschaftlichen Beziehungen, das die Mitglieder verbindet, hat, wie Gellerts Gräfin zeigt, auch konkret materielle Funktion: als soziales Netz, das das Subjekt im Unglücksfalle psychisch wie ökonomisch auffängt, indem es Trost und Hilfe bietet. Nicht zufällig häufen sich im Roman und Drama, nicht zuletzt im bürgerlichen Trauerspiel die weiblichen Hauptfiguren: Der passive Status des erleidenden Opfers, die Emotionalisierung, die Verzicht- und Aufopferungsbereitschaft, die das Subjekt des LS ›E‹ generell charakterisieren, gelten in der beginnenden ideologischen Systematisierung der Geschlechterrollen als dominant weibliche Merkmale. Wenn aber im LS ›E‹ die Frau den Menschen repräsentieren kann, dann ist das zugleich einer Femininisierung des Mannes, zumindest des nicht zu den politische Herrschaft Ausübenden gehörigen Mannes, äquivalent, so daß »nach einem vielleicht nicht zu kühnen Ausdrucke eines großen Mannes, unsere Männer, Weiber geworden sind«.24 Die Träger dieses LS – Autoren und Publikum – können offenkundig diese Konzeption des Menschen eben deshalb akzeptieren, weil sie sich selbst in der Rolle des Objektes in einer nicht beherrschbaren Weltstruktur empfinden: Demgemäß manifestiert sich ›Tugend‹ ja primär als Erleiden und Verzichtbereitschaft. Trotz aller skizzierten Mechanismen, die das neue Gefühl kontrollierbar und beherrschbar halten und sein Normverletzungspotential reduzieren sollen, kann es aber doch, wie die Texte reichlich belegen, zur emotional bedingten Normverletzung kommen; auf sie nun reagiert das System mit einer 6. Verzeihensbereitschaft gegenüber dem Normverletzer auch bei Schädigung des Selbst, die an feste Bedingungen und Regeln gebunden ist; für sie gilt 6.1 Verzeihensbereitschaft ist Merkmal aller und nur der Tugendhaften. 6.2 Verzeihbar sind alle durch prinzipiell zulässige Emotionen bedingte Normverstöße, und das heißt in der Praxis vor allem alle aus Liebe motivierten Normverstöße, also Verletzungen der Rivalitätsregel (2.1.3), der Mesiallanceregel (2.2.2) der Zustimmungsbedürftigkeitsregel (2.4.1), der Legalisierungsregel (2.4.2), das heißt der sozialen Erotikregeln, nicht der als ›biologisch‹ geltenden Erotikregeln (Nicht-Homosexualität: 2.1.1; Nicht-Inzest: 2.1.2). Da aber die Verletzung der Rivalitätsregel nur dann verzeihbar ist, wenn weder Objekt noch Subjekt der Liebe in einer legalisierten Beziehung stehen (z.B. Ehebruch) und da die Nicht-Beendbarkeitsregel (2.5.1) nicht verletzt werden darf (z.B. Untreue, Ehebruch), gilt offenbar eine weitere Bedingung: 6.3 Verzeihbar sind nur Normverletzungen, die nicht legalisierte Rechte anderer betreffen; zwar werden in den dargestellten Welten immer wieder auch
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Carl Friedrich Pockels: Über die Mischung und Verschiedenheit der Charactere. In: ders. (Hg.): Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntniß, besonders in Rücksicht unserer moralischen Natur. 1. Stück, Berlin 1788, zitiert nach Wolfgang Doktor/Gerhard Sauder (Hgg.): Empfindsamkeit. Theoretische und kritische Texte. Stuttgart 1976, S. 63.
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solche Rechte auf erotische Treue, auf Wahrung von Besitz, auf Sicherheit des Lebens, auf rechtmäßige Herrschaft verletzt und die Verletzungen dennoch in scheinbar übermenschlicher Tugendhaftigkeit verziehen, doch bleibt in solchen Fällen die Verzeihung wirkungslos. Sie stilisiert das Opfer, ohne dem Täter zu nutzen. Denn es gilt zwar: 6.4 Wirksame Verzeihung durch die Umwelt impliziert die soziale Reintegration des Täters, aber die Verzeihung wird erst unter bestimmten Bedingungen wirksam, wenngleich die Tugendhaften schon vor deren Erfüllung ihre Verzeihensbereitschaft manifestieren, wie dies der Vater von Lessings Sara Sampson schon in I,1 tut, bevor noch geklärt ist, ob die Tochter dieser Verzeihung wirklich würdig ist. Vgl. auch Gellerts Zärtliches Schwestern: »Ich habe sie Ihnen schon vergeben, ohne mich zu bekümmern, ob Sie diese Vergebung verdienen.«25 – einmal mehr also das reflektierte Gefühl: Man weiß genau, was man tut. 6.5 Wirksame Verzeihung verlangt die Selbstunterwerfung des Normverletzers, d.h. dieser muß erstens schuldbewußt sein und Reue über die Normverletzung bezeugen und zweitens die Verzeihung erbitten oder zumindest annehmen. Wichtiger noch als die Einhaltung der Norm ist die Anerkennung der Norm, und die Normverletzung ist dementsprechend unverzeihbar bei Negation der Norm, die demnach nur die größten Schurken aufweisen, so etwa Lessings Marwood. 6.6 Wirksame Normunterwerfung des Täters verlangt öffentliche Schuldanerkennung: das Geständnis vor Anderen. Es reicht nicht, wenn der Täter im stillen Kämmerlein bereut, er muß zumindest einer sozialen Teilgruppe ein Geständnis ablegen, sonst gilt die Schuld nicht als getilgt und der Täter nicht als rehabilitiert, und die Schuld führt zu neuer Schuld; so etwa in Pfeils Lucie Woodvil, wo Sohn und Tochter, die ihre Verwandtschaft nicht kennen, in inzestuöse Liebe verfallen, weil der Vater ihnen seine Schuld, eine uneheliche erotische Beziehung, die sie zu Geschwistern macht, nicht gestanden hat. 6.7 Eine Verzeihensoperation ist ein hochgradig emotionalisiertes soziales Ritual, in dem die Anerkennung der Verbindlichkeit der verletzten Norm zelebriert wird. Exemplarisch führt es etwa Lessings Miß Sara Sampson vor, wo die Implikationen dieses Rituals mit ungewöhnlicher Deutlichkeit ausgesprochen werden, was dadurch möglich wird, daß sie einem – scheinbar unbedarften – naiv-gutherzigen Diener in den Mund gelegt werden; beim Verzeihen muß er an die große unüberschwengliche Seligkeit Gottes [...] denken, dessen ganze Erhaltungen der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist. [...] Recht schmerzhafte Beleidigungen, recht tödliche Kränkungen zu vergeben [...], muß eine Wollust sein, in der die ganze Seele zerfließt. […] Ich weiß wohl, es gibt eine Art von Leuten, die nichts
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Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel von drei Aufzügen. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1965, S. 84.
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ungerner, als Vergebung annehmen […]. Es sind stolze, unbiegsame Leute, die durchaus nicht gestehen wollen, daß sie unrecht getan.26
Wer verzeiht, bezieht daraus also Lust und erlangt einen Status der Gottähnlichkeit: Er übt faktisch Macht über den Anderen aus; wem verziehen wird, der muß sich unterwerfen und demütigen, was zu verweigern als negativ gilt.27 Wenn Vater und Tochter in Sara Sampson offiziell in Großmut wetteifern, scheinbar der Vater die Tochter nicht beschämen, scheinbar die Tochter aus Demut die Verzeihung nicht annehmen kann, ist das faktisch einem vom Text uneingestandenen Machtkampf äquivalent. Die Verzeihbarkeit mildert also die möglichen Folgen des Normverletzungspotentials des Gefühls, indem sie die theoretische Verbindlichkeit der Norm auch bei ihrer faktischen Verletzung sichert. Da aber gleichwohl eine Norm ihren Rang verliert, wenn ihre Verletzung verziehen werden kann, bedarf es weiterer Strategien zur Sicherung des Normensystems; sie seien hier nur erinnert: a) Strategie der Deliktkombination: Ein verzeihbarer Verstoß gegen eine Sexualnorm – so Saras nicht legale Beziehung zu Mellefont – wird mit einem weiteren Normverstoß, der entweder ranghöher ist oder zumindest eine Schädigung eines Anderen impliziert – so Saras Verlassen ihres Vaters –, verknüpft. b) Strategie der Verkettung sich steigernder Delikte, d.h. das Postulat, daß ein erster verzeihbarer Normverstoß fast automatisch zu weiteren, ranghöheren, nichtverzeihbaren Delikten führt; exemplarisch in Pfeils Lucie Woodvil: Eine illegale erotische Beziehung des Vaters führt zu Kindern, die ihre Verwandtschaft nicht kennen; deren Normverstoß, die illegale erotische Beziehung, führt somit zum Inzest; der Inzest führt zum Vatermord und infolgedessen zu Selbstmord und Wahnsinn; und der Text folgert korrekt: Laß uns aus Karls und Luciens unglücklichem Beispiele lernen, daß demjenigen das größte Laster nicht weiter zu abscheulich ist, der sich nicht scheut, das allergeringste auszuüben.28
c) Strategie der Aufspaltung der normsanktionierenden Instanz: Delegierung des Verzeihens und des Strafens an (scheinbar) verschiedene Instanzen. So z.B. in Lessings Sara: Der irdische Vater kann verzeihen, weil der himmlische gleichwohl straft, indem er Saras Ermordung zuläßt; und natürlich sind beide letztlich nur
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Miß Sara Sampson (III, 3), in: G. E. Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. 8 Bde. München 1970–1979, Bd. II, S. 53. Die Selbstdemütigung der Verzeihensannahme ist die entchristianisierte Fortsetzung christlich-demütigen Sünderbewußtseins, ihre Verweigerung die Fortsetzung der Todsünde der ›superbia‹; erst im SuD ist die Dechristianisierung soweit fortgeschritten, daß dieses Verhaltensmodell auch in der vom christlichen Gehalt entleerten Form des LS ›E‹ nicht mehr akzeptiert wird. In: Fritz Brüggemann (Hg): Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934. Repr. Darmstadt 1974, S. 271.
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Aufspaltungen derselben Instanz; damit aber wäre jedenfalls die Théodicée gefährdet, somit muß Sara selbst ihren eigenen Tod als sinnvoll rechtfertigen: Die bewährte Tugend muß Gott der Welt lange zum Beispiele lassen, und nur die schwache Tugend, die allzu vielen Prüfungen vielleicht unterliegen würde, hebt er plötzlich aus den gefährlichen Schranken. (V, 10)29,
womit sie zugleich auf Strategie b) rekurriert. Ähnlich wird dem verzeihenden König in Schlegels Canut die Bestrafung des Täters durch den Täter selbst erspart. Lessings Text freilich, ein Beleg für Lessings Sensibilität für gefährliche Probleme im DS ›A‹, die, da sie nicht gelöst werden können, verleugnet werden müssen, macht die Krise des Normensystems, zumindest der Sexualnormen, schon in der mittleren A offenkundig. Wenn die Norm sich nur mehr durch das Schadensprinzip rechtfertigen läßt, dann ist selbst die radikalste Verletzung der erotischen Normen nicht nur theoretisch verzeihbar, sondern auch die Negation dieser Normen denkbar: Die Verzeihbarkeit der nicht-schädigenden Normverletzung eröffnet die Möglichkeit der Normnegation, wie sie die Marwood praktiziert. Sara ist grundsätzlich positiv und Marwood grundsätzlich negativ, weil die eine ihre uneheliche Sexualität bereut und Legalisierung anstrebt, während die andere nicht bereut und auf Legalisierung verzichtet. Gegenüber den Beschimpfungen als ›Buhlerin‹, die ihr perverserweise Mellefont zufügt, läßt Lessing die Marwood so berechtigte und rationale Argumente äußern (schon in II, 3 und II, 4; mehr noch in II, 7), daß er ihre Negativität nur mehr sichern kann, indem er ihr Verhalten einerseits als Verstellung charakterisiert und ihr andererseits die Bereitschaft zu ranghöheren, schädigenden Delikten (wie Mord) zuschreibt (die Strategien a) und b) verbinden sich). Damit aber wird die Rationalität ihrer Argumente keineswegs aufgehoben: Der Text vermeidet die Frage, wie eine solche Frau zu bewerten wäre, wenn sie zwar die Sexualnormen nicht nur verletzt, sondern zudem negiert, aber weder sich verstellt noch weitere Delikte begeht – dieser systemsprengende Fall wird einfach ausgeklammert, um die latente Normenkrise nicht manifest werden zu lassen. Jedenfalls führt das LS ›E‹ logischerweise zur Aufweichung der Dichotomisierung der Weltstruktur durch Ausdifferenzierung verschiedenartiger Fälle: Im Positivraum tritt neben die rational-tugendhafte die empfindsam-tugendhafte Gruppe, als elitär konzipiert; im Negativraum erweitert sich der Bereich verzeihbarer Delikte; die klare Grenze beider Räume wird unscharf, wenn einer negativnormverletzenden Figur wie Schlegels Ulfo im Canut zugleich auch positive Merkmale (Mut, Stärke, Ehre) zugeschrieben werden. Wo Figuren im LS ›frühe A‹ entweder positiv oder negativ waren, werden komplexere Figuren möglich – und damit ein Mehr an Individualisierung. Die postulierte Hierarchie und Kompatibilität von Vernunft und Empfindung führt nun zum Konzept der ›vernünftigen Liebe‹;30 und eine Liebe ist ›vernünftig‹, wenn der Partner ›liebenswürdig‹/›liebenswert‹ ist und somit die Liebe ›verdient‹:
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Miß Sara Sampson (Anm. 26), Bd. II, S. 98f. Die zärtlichen Schwestern (Anm. 25), S. 17 oder 25.
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Nein, ich verdiene Ihr Herz noch nicht; allein ich will mich zeitlebens bemühen. Sie zu überführen, daß Sie es keinem Unwürdigen geschenkt haben.31 Sie liebt ihn so sehr, als man nur lieben kann. Aber sie liebt ihn deswegen so sehr, weil sie ihn der Liebe wert hält. Sobald sie ihren Irrtum sehen wird: So wird sich die Vernunft, das Gefühl der Tugend und das Abscheuliche der Untreue wider ihre Liebe empören und sie verdringen.32
Die rationale Basis der Liebe besteht darin, daß der Partner ›Tugend‹ aufweist, d. h. die Normen des DS ›A‹ erfüllt und über dessen Werte verfügt; nur dann kann die emotionale Besetzung erfolgen: Man verliebt sich nur in Partner, die dieses Wert- und Normensystem erfüllen; und wenn sich das als Irrtum herausstellt, erlischt das Gefühl; die Kollision ›Vernunft/Norm vs. Liebe‹ ist theoretisch ausgeschlossen. Andererseits garantiert Tugendhaftigkeit des Anderen nicht, daß er geliebt wird – und das ist die irrationale Basis der Liebe im Gefühl: Ich habe mir Mühe genug gegeben, meine Hochachtung in Liebe zu verwandeln, [...] Das Herz nimmt keine Gründe an, und will in diesen, wie in anderen Stücken, seine Unabhängigkeit von dem Verstande behaupten.33
Die Koexistenz beider Komponenten führt zu einer Asymmetrie in der Partnerbeziehung: einer Perspektivierung der Liebeserfahrung; die eigene Liebe zum Anderen wird als dessen Verdienst, die Liebe des Anderen zum Selbst als Geschenk erfahren: »Darf ich wohl fragen, ob Sie mir ihre Liebe schenken […].« (Gräfin S. 9). Der Vernünftigkeit der Partnerwahl entspricht die Konzeption der allmählich entstehenden Liebe: des quantitativen Gefühlswachstums, das aus Freundschaft, in der man den Wert des Anderen kennengelernt hat, hervorgeht (Gräfin, S. 36), was der rationalen Basis von Liebe entspricht; aber daneben steht schon von Anfang an, bei Gellert im selben Text, die Konzeption der Liebe auf den ersten Blick: des qualitativen Gefühlssprungs, bei dem die Zwischenstufe freundschaftlichen Kennenlernens ausgelassen, somit der Wert des Anderen zwar präsupponiert, aber nicht mehr getestet wird, was der irrationalen Basis der Liebe entspricht;34 hier wird die Reihenfolge von rationaler Erkenntnis und emotionaler Besetzung des Anderen geradezu umgekehrt; das Risiko der Kollision ›Vernunft/Norm vs. Liebe‹ kann so lange problemlos eingegangen werden, wie gesichert ist, daß das Gefühl rational kontrollierbar bleibt. Gefühl zu haben, bedeutet nun eine neue (Selbst-)Exponierung des Subjekts: das Risiko der Verletzung als Person; im LS ›frühe A‹ konnte das rationale Subjekt als Rollenträger verletzt werden, seit dem LS ›E‹ kann das Subjekt als individuelle Person verletzt werden. Während die rationale Erkenntnis dem DS ›A‹ noch als außerzeitlich galt, wäre eine affektive Besetzung potentiell der Zeit unterworfen.
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 70. Lessing: Der Freigeist. In: Werke (Anm. 26), Bd. I, S. 545. Vgl. z.B. Gellert, Gräfin (Anm. 13), S. 8; Johann Friedrich von Cronegk: Der Mißtrauische. Hg. von Sabine Roth. Berlin 1969 (Reihe Komedia, 14), S. 26.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Dagegen schützt sich das LS ›E‹, indem es zum einen noch eine Entwicklungslosigkeit des Subjekts postuliert: Gefühle, die der Andere rational verdient, können demnach außerzeitlich konstant bleiben, solange der Andere konstant bleibt. Gefährlicher sind zwei Varianten desselben: die Selbsttäuschung über den Anderen und die Täuschung durch den Anderen; solche (Selbst-)Täuschung kann in der fälschlichen Zuschreibung von Tugend und/oder von Liebe an den Anderen bestehen. Solange ›Liebe‹ als Beziehung zwischen zwei gleichermaßen dominant rationalen Subjekten konzipiert wird, und die ›Empfindung‹ durch die ›Vernunft‹ domestiziert bleibt, bleibt die (Selbst-)Täuschung des Subjektes punktuell und temporär und kann, wie in Gellerts Zärtlichen Schwestern, relativ problemlos korrigiert werden; sobald hingegen entweder eine Beziehung zwischen zwei Subjekten von nicht gleichrangiger Dominanz des Rationalen stattfindet oder die Domestizierung des Gefühls durch die Vernunft bei einem Partner aufgegeben wird, entsteht ein Problem: Ich kann mich täuschen oder getäuscht werden und die (Selbst-)Täuschung gegebenenfalls erst dann bemerken, wenn sie schon zur Folge einer irreversiblen Grenzüberschreitung – einer Legalisierung des NichtWünschenswerten (z.B. in einer Ehe) oder einer nicht-wünschenswerten NichtLegalität (z.B. außereheliche Beziehung) – geführt hat. Zum LS ›E‹ gehört von Anfang an das Modell der Verführung, das wiederum das Normverletzungspotential von Liebe illustriert. ›Verführung‹ ist eine asymmetrische Relation zwischen einem Täter und einem Opfer, bei der ein überlegenes rationaleres Subjekt ein unterlegenes irrationaleres Objekt unter berechnender (somit rationaler) Ausnutzung der Emotionalität des Objektes zu Verhaltensweisen bringt, die kulturell als (Lust-)Gewinn des Täters und als Schaden für das Opfer bewertet werden. Erotisch findet sie im LS ›E‹ stets als Verführung einer Frau durch einen Mann zu nichtlegalisierter Sexualität statt,35 wenn auch die Verführbarkeit des Mannes durch die Frau im System schon angelegt ist (vgl. etwa Lessings Marwood). ›Verführung‹ ist die erste Form des Mißbrauchs aufklärerischer Rationalität zur Manipulation, der im DS ›A‹ einerseits als verwerflich erscheint, andererseits ein Faszinosum darstellt.36 Die Ambivalenz von Manipulation im DS manifestiert sich schon darin, daß sie auch ›guten Zwecken‹ dienen kann. Die vielen Gestalten von Diener(inne)n schon seit der Komödie des LS ›frühe A‹, die sich manipulativ in den Dienst berechtigter Liebesinteressen der Kinder stellen, belegen diese Ambivalenz: Die
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So Sara Sampson und Lucie Woodvil als vollzogene Verführungen; Die schwedische Gräfin bietet nur versuchte wie auch gelungene Verführungen; die Gefahr der Verführbarkeit wird in Emilia Galotti thematisiert; in Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim liegt ein Betrug, keine Verführung vor. In den SuD-Texten häufen sich dann die Verführungen: Goethes Faust und Clavigo, Lenz’ Soldaten und Hofmeister, Wagners Kindermörderin, Lenz’ Der neue Menoza, Klingers Das leidende Weib und – ausnahmsweise positiv besetzt – Simsone Grisaldo. Die Faszination an sich verwerflicher Manipulation erweisen insbesondere in der GZ die Geisterseher- und Geheimbundromane. Vgl. Vf.: Geheimbünde, in diesem Band, S. 195– 222.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Manipulation wird zugleich sowohl vorgenommen als sie auch den Hauptfiguren erspart bleibt, indem sie delegiert wird. Verführung versetzt das empfindsame Subjekt wiederum in den schon beschriebenen Objekt- und Opferstatus, und sie erfüllt eine moralische Entlastungsfunktion gegenüber der Normverletzung, insofern sie die Schuld des Opfers minimalisiert, allerdings um den Preis seiner intellektuellen Zurechnungsfähigkeit: der Unzulänglichkeit seiner Vernunft; soll das Opfer bezüglich dieses Zentralwertes nicht abgewertet werden, muß demnach der Betrug immer raffinierter und der Betrüger somit zum geradezu mythischen Bösewicht stilisiert (und implizit auch aufgewertet) werden.37 Generell droht also dem empfindsamen Subjekt von Anfang an (Selbst-)Betrug, der für das Subjekt umso gefährlicher wird, je mehr die Beziehungen emotionalisiert sind und je größer somit das Risiko einer Schädigung wird. Daß positive affektive Besetzung des Anderen dazu führt, dem Anderen moralische Positivität zuzuschreiben, und damit das emotionalisierte Subjekt betrugsanfälliger als das bloß rationale Subjekt macht, weiß man schon im frühen LS ›E‹, wie Gellerts Zärtliche Schwestern belegen. Damit aber entsteht wiederum ein Systemproblem. Denn die ›Humanität‹ des DS ›A‹ fordert eine positive Einstellung zu Anderen; die Unterstellung grundsätzlicher Positivität des Anderen und damit eine generalisierte Vertrauensbereitschaft. Schutz vor (Selbst-)Betrug und Opferstatus bietet nun aber Mißtrauen: Doch ist eine solche negative Einstellung zum Anderen unzulässig. Cronegks Mißtrauischer schließt ›Mißtrauen‹ als Problemlösung aus, indem er es am Extremfall eines paranoiden Wahns pathologisiert und illustriert und damit zugleich auch ein denkbares ›vernünftiges Mißtrauen‹ tabuisiert. Der Text belegt damit zugleich die Relevanz des Problems und seine Verleugnung. Bedingung des Betrugs ist die Verstellung, und das Problem kompliziert sich dadurch, daß zwar nicht die Verstellung bezüglich der Moralität, wohl aber die Verstellung bezüglich der Emotionalität nicht nur negativ, sondern auch positiv sein kann. Denn sie kann auch in pädagogischer Absicht, etwa um einen Anderen zur Erkenntnis seiner Gefühle zu bringen (vgl. Zärtliche Schwestern), oder in moralischer Absicht vorgenommen werden, so im Mißtrauischen, wo Climene Damon ihre Liebe verhehlt, weil sie den Normen der Geschlechterrolle genügen muß, und Damon Climene, weil er nicht mit seinem Freund Timant rivalisieren will, obgleich dieser keinen berechtigten Anspruch erheben kann. Extreme Tugendhaftigkeit kann also gar zu einer das Liebesgeständnis verhindernden Verstellung führen; im Extremfall bedarf es also eines (manipulativen) Dritten als Katalysator, damit das Gefühl entweder überhaupt bewußt oder doch verbalisiert – und damit das Glück des Paares möglich – wird. Cronegks Der Mißtrauische spielt dieses doppelte Problem durch: sich vor Betrug durch negative Verstellung zu schützen und positive Verstellung zu durchbrechen. Die Tendenz seiner Lösung ist zugleich die der Epoche: die einer Semiotik des Gefühls – und genau dieser bedarf dieses System. Am Selbst wie am
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So schon Lessings Marwood; später besonders schöne Exemplare in den Geheimbundromanen wie Schillers Geisterseher oder Tiecks William Lovell.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Anderen muß das Subjekt Zeichen noch nicht-bewußten oder nicht-verbalisierten und geleugneten oder verbalisierten und vorgetäuschten Gefühls erkennen und interpretieren können: Neulich kam ich ungefähr dazu, da er sich die Thränen abtrocknete. Ob das nun Liebe bedeutet, weiß ich nicht.38
Dem Subjekt werden also neue semiotische und psychologische Interpretationsleistungen gegenüber dem Anderen abverlangt, die zumindest partiellen Schutz vor dem Risiko bieten. Die empfindsame Liebe impliziert nun notwendig die freie Partnerwahl der Kinder, und die vernünftigen Eltern erkennen dieses Recht explizit an: Ich habe nie geglaubt, daß ein Vater der Tyrann über das Herz seines Kindes sein dürfe.39 Ich habe ihn lieb: aber ich würde aufhören ihn zu heben, wenn er die Neigungen eines Frauenzimmers durch die Gewalt der Eltern zu zwingen willens wäre.40
Die Neukonzeption der Familie bedeutet, daß sich die Eltern im Idealfalle bei der Partnerwahl der Kinder als ›Freund‹41 oder ›Geschwister‹ verstehen.42 Aber natürlich können traditionelles Partnerwahlmodell und empfindsame Liebe kollidieren, wenn die Eltern sich dem neuen Modell nicht angepaßt haben (vgl. z.B. die Figur des Geronte bei Cronegk). Und damit setzt eine wichtige Transformation ein: die Verschiebung der Fokalisierung von der Eltern- auf die Kindergeneration. Wo im LS ›frühe A‹ Elternteile Repräsentant des Wünschenswerten waren, werden dies zunehmend die Kinder, ein Prozeß, der in der GZ schon mit dem SuD abgeschlossen ist; charakteristisch für das LS ›E‹ ist die häufige Aufspaltung der die Textnorm repräsentierenden Instanz (wobei die Textnorm in Opposition zu einer früheren, vorgefundenen Norm stehen kann): Wie in Pfeils Lucie Woodvil oder Cronegks Der Mißtrauische vertritt je ein Teil der Kinder und der Eltern das Wünschenswerte und das Nicht-Wünschenswerte. Wo nun Eltern als Vertreter älterer Konzeptionen und Kinder als die der neueren konfrontiert werden, findet zugleich die bewußte Thematisierung historischen Wandels anhand einer Generationendifferenz statt. Der neuen Liebeskonzeption entspricht nicht zuletzt ein sprachlicher Wandel: In Gellerts Zärtlichen Schwestern sagt man in der Elterngeneration »Ich bin Ihnen gut«, in der Kindergeneration »Ich liebe Sie von Herzen«: »Daß die Welt die Sprache immer ändert, dafür kann ich nicht.«43 Mit den Transformationen der Bedeutung von ›Liebe‹ transformiert sich auch der Sprechakt des Liebesausdrucks. Im Rahmen des traditionellen Modells wird man dem Anderen seine ›Liebe erklären‹: Zwischen gleichrangigen Parteien wird ein öffentlich-rechtliches Vertragsan-
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Der Mißtrauische (Anm. 34), S. 15. J. G. B. Pfeil: Lucie Woodvil. In: Brüggemann 1974 (Anm. 28), S. 213. Der Mißtrauische (Anm. 34), S. 41. Vgl. Gräfin, S. 14. Vgl. Die zärtlichen Schwestern (Anm. 25), S. 30. Ebd., S. 32.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
gebot gemacht. Im empfindsamen Modell wird man seine »Liebe bekennen«.44 Der Adressat – der Liebespartner oder dessen Eltern – ist dem Sprecher übergeordnet; der Sprechakt des Liebesausdrucks steht zwischen (z.B. theologischem) Bekennen eines Glaubens und (z.B. juristisch-moralischem) Bekennen einer Schuld; dieser ambige und ambivalente Sprechakt bildet zugleich den Status des Partners als Wert und die Sanktionsdrohung ab, die einerseits auf dem Normverletzungspotential, andererseits auf dem Risiko der Abweisung, die erst durch die Emotionalisierung wirklich zu einem solchen wird, beruht. Noch innerhalb des LS ›E‹ setzt aber eine weitere Intensivierung des Liebesgefühls und damit eine weitere Aufwertung des Partners ein: dann wird man seine ›Liebe gestehen‹: damit nun hat ›Liebe‹ endgültig den Status des (juristisch-moralisch) Schuldhaften und des Pudendum gewonnen, für dessen Geständnis eine Sanktion befürchtet werden muß; nicht zufällig sind die Texte, in denen zuerst Liebe ›gestanden‹ wird, gern solche, wo sie tatsächlich mit einer Normverletzung, z.B. der Rivalitätsregel45 verknüpft ist, und in jedem Falle ist damit eine Steigerung des Gefühls verbunden, dank derer die mögliche Abweisung durch den Partner als Bestrafung erscheint und eine Steigerung der Asymmetrie zwischen Ich und Partner, bei dem der Partner zum nichtverdienten und nichtverdienbaren Wert wird. So z.B. zwei Liebespartner bei Cronegk: »Ich liebe Sie, ich bethe Sie an! [...] Verzeihen Sie mir, wenn Sie dieses Geständniß beleidiget. [...]« – »Ich bin so schwach, als Sie; ich liebe Sie, und ich schäme mich nicht, es zu gestehen. Die Tugend zu lieben, ist ja kein Verbrechen.«46
Hier muß nun gar schon explizit gemacht werden, daß das ›Gestandene‹ kein ›Verbrechen‹ sei. Mit dem Übergang zum ›Gestehen‹ gehen zwei weitere Veränderungen einher, und alle drei Größen, die zunächst auch getrennt – auf verschiedene Texte verteilt – auftreten können, werden bald in denselben Texten korreliert. Wo im LS ›E‹ normalerweise der positiven domestizierten und ›sanften‹ Empfindung die negative und undomestizierte, ›wilde‹ Leidenschaft konfrontiert wird (vgl. z.B. Marwood in Sara Sampson oder Lucie in Lucie Woodvil), da setzt eine Aufwertung von ›Leidenschaft‹ ein. Die Ambivalenz dieses Gefühls, das über ›Empfindung‹ hinaus zu ›Leidenschaft‹ gesteigert ist, manifestiert sich darin, daß, wo dieses Gefühl positiv sein soll, das paradoxe Postulat der ›vernünftigen Leidenschaft‹47 aufgestellt wird, während gleichzeitig die Tragödien Weißes, Krispus (1764), Rosemunde (1763), Atreus und Thyest (1766), das Wüten negativer, enthemmter Leidenschaft vorführen; Weißes Albißvinth in Rosemunde ist vielleicht die erste grundsätzlich positive Figur, der zugleich die negative Leidenschaft ihrer Rachsucht für die Ermordung des Vaters nicht angerechnet wird, unter der Bedingung freilich, daß sie auf die Ausführung dieser Rache selbst verzichtet. Indikator positiver Liebesleidenschaft wird jedenfalls die Überordnung von Liebe über das
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Z.B. Gräfin, S. 61. So in Cronegks Der Mißtrauische, Lessings Der Freigeist (V, 4). Der Mißtrauische (Anm. 34), S. 61. Ebd., S. 35.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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eigene Leben – »... ich liebe Sie mehr, als mein Leben.«48 – und die Bereitschaft zum (realen oder metaphorischen) Tod aus Liebe: Nur noch ein einziges Mal sehen Sie mich an, und ich gehe, vergnügt zu sterben, oder ein Leben zu führen, das den Tod an Schmerzen übertreffen wird.49
Damit wird Liebe potentiell tragisch, wenngleich – in Lessings Minna von Barnhelm (1767) und deutlicher noch in Cronegks Der Mißtrauische (1760) – solche Tragik im LS ›E‹ eben noch – fast schon gewaltsam – vermieden wird. Dieser Steigerung des Gefühls ist eine Steigerung des Rangs des Liebesobjektes und eine Steigerung der Rangdifferenz zwischen Liebessubjekt und Liebesobjekt äquivalent, die sich, wie bei Cronegk, durch die Steigerung von ›lieben‹ zu ›anbeten‹ manifestiert: Der Partner erhält somit den Status der Gottheit, der allein Anbetung zustünde, und es spricht einmal mehr für Lessings Intelligenz, wenn er in seinem Freigeist seinen Theisten sagen läßt, »er liebe die Partnerin« mehr als sich selbst, den ›Freigeist‹, d.h. Atheisten aber, er »bete sie an« (V, 5). Auch Lessing thematisiert den sprachlichen und ideologischen Wandel als Generationsdifferenz; eine Tochter hat ihrem Vater gestanden, ihr Liebhaber »bete sie an«; darauf dieser: Ein Frauenzimmer anbeten, wenn du es mir nicht übel nehmen willst, heißt die Narrheit selbst anbeten. Vor diesen hatte man für euch Geschöpfe nur kleine Achtungen; euch zu lieben, davon war man weit entfernt; aber euch gar anzubeten, das ist eine Raserei, die unseren jetzigen Zeiten vorbehalten ward [...].50
Dieser Wertsteigerung des Liebesobjektes zum gottgleich-einmalig-unersetzlichen Wert entspricht nun aber, wenn denn das Postulat der Théodicée gelten soll, notwendig das Postulat, die Partner seien – sozusagen von der Weltordnung – ›füreinander bestimmt›; z.B. ex negativo: »Glauben Sie mir, wir sind nicht füreinander gemacht.«51 Dann aber kann das Théodicéepostulat nur so lange aufrecht erhalten werden, wie sich solche Liebende denn auch kriegen: entweder Théodicée und glückliche Liebesleidenschaft oder unglückliche Liebesleidenschaft und Infragestellung der Théodicée. Diese Steigerung der ›Empfindung‹ zur ›Leidenschaft‹ wird nun zwar schon im LS ›E‹ punktuell erprobt, aber nur so, daß das positive Subjekt dem Normverletzungspotential widersteht und die potentielle Tragik ausgeschlossen bleibt oder daß es ein von vornherein negatives Subjekt ist und der böse Ausgang nicht Tragik, sondern Strafe darstellt. Die eigentlichen Systemgefährdungen durch positiv bewertete ›Leidenschaft‹, die im LS ›E‹ latent bleiben, werden aber im ›SuD‹ manifest.
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Ebd., S. 86. Ebd., S. 85. Dramenfragment Vor diesen! In: Werke (Anm. 26), Bd. II, S. 427. Der Mißtrauische (Anm. 34), S. 32.
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
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4.
›Gefühl‹ als ›Leidenschaft‹: das Literatur(sub)system ›Sturm und Drang‹ am Beginn der Spätaufklärung52
Anfang der 70er Jahre konstituiert sich nun das neue LS ›GZ‹; ich will mich nur mit dessen erster Phase, dem Subsystem ›SuD‹, befassen, das gemäß der Entwicklung des DS ›A‹ sich gegenüber dem LS ›E‹ als logisch konsequente Radikalisierung darstellt. Parallel zu ›SuD‹ werden weiterhin Texte produziert, die dem LS ›E‹ angehören; obwohl minoritär, erweist sich ›SuD‹ aber als dominant gegenüber ›E‹, wie sich daran zeigt, daß die späten Texte von ›E‹ sich reaktiv gegenüber SuD verhalten und partiell neue Elemente von SuD ebenfalls übernehmen und legitimieren, was umso leichter möglich ist, weil SuD eben ein (bislang unterdrücktes) latentes logisches Potential von ›E‹ zur manifesten Realisation bringt und beide auf dem sich transformierenden DS ›A‹ basieren. So wird schon in Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim (1771) Liebe als ›Leidenschaft‹ positiv bewertet; so stirbt man in Millers Siegwart (1776) ganz selbstverständlich an unerfüllter Liebe; so empfindet der Held von Nauberts Heerfort und Klärchen (1779), ohne seine Positivität zu verlieren, Haß und Wut gegenüber dem Entführer seiner Geliebten, und beinahe käme es gar zum schrecklichsten der Ereignisse zwischen Held und Heldin: der nichtlegalisierten Sexualität. Alles das sind Affekte oder Affektfolgen, die das LS ›E‹ zur Zeit seiner Dominanz nicht bei den positiven Figuren zugelassen hatte. Und umgekehrt ist ja nicht zu übersehen, wieviele Merkmale z.B. Goethes Werther (1774) noch mit dem LS ›E‹ teilt. Das LS ›SuD‹ stellt sich als (historisch erste) Auflehnung einer Jugendgeneration dar; die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Auflehnung folgen aus der Logik und den Transformationen des DS ›A‹: a) Das DS ›A‹ entwickelt eine neue Klassifikation der Altersstufen, in der ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ als eigenständige Phasen mit eigenen Merkmalen ausdifferenziert und legitimiert werden. Indem sie den seit Jahrhundertmitte literarisch als Fortschritt konzipierten historischen Wandel zunehmend auch als Generationenkonflikt, bei dem die ›Jugend‹ das Positiv-Neue vertritt, abbildet, wertet sie ›Jugend‹ auf; dementsprechend ist die Fokalisierung auf die Kindergeneration, die im LS ›E‹ beginnt, in ›SuD‹ – zugleich für die ganze GZ – abgeschlossen. Diese Neufokalisierung ist aber zugleich zeichenhafte Abbildung des Prozesses der A selbst, den sie mit Kant ja als ›Mündigwerden‹, d.h. als Emanzipation von Autorität, auch von elterlicher, beschreibt. Erst unter diesen Bedingungen kommt es zur kulturellen Akzeptabilität jugendlicher Abweichung, darunter auch literarischer.
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Vgl. dazu u.a. Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang. In: Rolf Grimminger (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (1680–1789) (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, III) München 1980, S. 327–340; Hans Gerhard Winter: Gesellschaft und Kultur von der Jahrhundertmitte bis zur Französischen Revolution. Wandlungen der Aufklärung. In: Viktor Žmegaþ (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd I/1: 1700–1848. Königstein 1979, S. 175–256.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Die SuD-Autoren sind ja auch nicht die einzige abweichende Jugendgruppe; neben und vor ihr betätigt sich die freilich konservativere Dichtergruppe des Göttinger Hains. b) Abweichung als solche wird durch wiederum aus dem DS ›A‹ stammende Konzepte überhaupt erst legitimiert: durch die neuen Wertvorstellungen ›Genie‹ und ›Originalität‹, die wiederum beide den Prozeß zunehmender Aufwertung von ›Individualität‹ präsupponieren und das neue elitäre Subjekt des SuD ermöglichen. Auch die Orientierungsnorm ›Natur‹ (wobei ›Natur‹ natürlich immer ein kulturabhängiges Konstrukt ist) in Opposition zu vorgefundener ›Kultur‹, die im SuD die Abweichung von gegebenen Strukturen legitimiert, ist bekanntlich Produkt des DS ›A‹. c) Der geschichtsphilosophische Diskurs der A seit Jahrhundertmitte denkt den historischen Prozeß als positive Evolution zum Optimalzustand: Er rettet damit zwar die Théodicée, erkennt dabei aber zugleich die Insuffizienz der Gegenwart an; der parallel entstehende politologische Diskurs eröffnet ebenso die Denkmöglichkeit alternativer und positiverer soziopolitischer Systeme: Als Produkt beider resultieren die ersten Utopien, die die Gegenwelt in zukünftiger Zeit, nicht in gleichzeitigem Raum, situieren.53 Die Möglichkeit einer Transformation von gegebener Realität wird legitimiert. Wo sich das LS ›E‹ mit der latenten Krise der sozialen Normen noch einrichten mußte, weil die Weltstruktur konstant schien, da bietet eine Welt unter dem Postulat des Wandels theoretisch die Möglichkeit auch neuer Normensysteme, weil neue Sozialsysteme denkbar scheinen. d) Die verschiedene Evolutionsgeschwindigkeit der denkgeschichtlichen Prozesse im DS ›A‹ und der faktischen sozialgeschichtlichen Prozesse führt zur Radikalisierung der Dissonanz zwischen theoretisch Denkbarem und Wünschenswertem und praktisch Gegebenem, die wiederum innerhalb des DS wahrgenommen wird. Aus der latenten Defizienz- und Frustrationserfahrung im LS ›E‹ wird im ›SuD‹ umso leichter eine manifeste, als die Vertreter des älteren Systems in den gegebenen sozialen Strukturen schon ihren Platz gefunden haben, die Vertreter des neuen ihn aber erst noch suchen und dabei die gegebene Sozialstruktur – Goethes Werther thematisiert es – als ihren Wertvorstellungen widerstrebend finden. Daß wir nun im SuD Regularitäten erkennen können, wo dessen Autoren die individuelle, originelle und geniale Abweichung propagieren, belegt, wie sehr noch der scheinbar individuelle Ausbruchsversuch von den Bedingungen des jeweiligen DS und LS gesteuert und begrenzt wird. Mehr noch als schon im LS ›frühe A‹ und im LS ›E‹ wird im ›SuD‹ das Drama zur zentralen Form: jetzt aber als besonders geeignet für die Konfrontation oppositioneller und unvereinbarer Positionen. Den poetologischen Regelverletzungen dieser Autoren durch ihre Dramen entsprechen die ideologischen Regelverletzungen der Held(inn)en in diesen Dramen. Sie sind charakterisiert durch eine
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Siehe Vf.: Wielands Staatromane im Kontext des utopischen Denkens der Frühen Neuzeit (1994), in diesem Band S. 111–128.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
7. invariante Rahmenstruktur der dargestellten Welt, die nicht nur im Drama und Roman (Goethes Werther 1774), sondern auch in der Lyrik gilt (dazu später). 7.1 Auf der einen Seite steht eine gegebene und vom Subjekt immer schon vorgefundene Weltordnung, charakterisiert durch machtgestützte Invarianz, durch eine feste Sozialstruktur mit kaum überschreitbaren Schichtgrenzen, durch das tradierte Normensystem: im wesentlichen noch dieselbe Welt, die dem empfindsamen Subjekt begegnet; aber 7.2 auf der anderen Seite steht ein neues Subjekt (als Held oder Heldin), das, mehr oder weniger explizit, den innerweltlich-diesseitigen Glücksanspruch der Théodicée – in eben diesen Jahren ja auch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) als natürliches und politisches Recht festgeschrieben – gegebenenfalls bei der Weltordnung einklagt, wie das Ich von Schillers Gedicht Resignation (1786), dem die »Natur« »Freude zugeschworen« habe und das seinen »Vollmachtbrief zum Glücke« als uneingelösten Rechtsanspruch der »Ewigkeit« präsentiert.54 Zu diesem Glücksanspruch gehört das Recht auf Selbstverwirklichung: In einer gerechten Weltordnung muß das Subjekt die Chance einer Realisierung seines Potentials haben, das ihm eben diese Weltordnung, ob sie nun als ›Gott‹ oder ›Natur‹ umschrieben wird, gegeben hat. Voraussetzung dafür ist, daß im Prozeß der Autonomisierung und Ausdifferenzierung Individualität ein Wert geworden ist, der als natur- bzw. gottgewollter Anspruch auf Verwirklichung hat: »Fühl’ ich mich nicht und weiß, wozu ich geschaffen bin?« (Klinger, Die Zwillinge, I, 3) Wenn die Weltordnung eine vernünftige sein soll, dann muß Individualität und ihr Potential eine realisierbare Funktion haben; es muß einen für sie vorgesehenen Platz geben, wo sie sich ausleben kann. 7.3 Die Texte setzen aber die grundsätzliche Inkompatibilität von gegebener Weltstruktur und neuem Subjekt, somit eine explizite Krise der Théodicée. Was im LS ›E‹ latent blieb, weil das Subjekt zu resignativem Verzicht bereit war, wird manifest, wenn es seinen Anspruch einklagt: die Defizienz- und Frustrationserfahrung gegenüber dem Gegebenen. Normverletzung gegenüber der gegebenen Ordnung wird zur logischen Implikation der Verwirklichung des Selbst und seines Glücksanspruches. Eingefordert wird der Anspruch auf ein auch emotional intensives Leben; was die Struktur der Realität aber zuläßt, erscheint erstmals explizit als ›Nicht-Leben‹.55 Die Frustration manifestiert sich als Verlangen nach ›Freiheit‹; in der Jugendgeneration des gleichzeitigen Göttinger Hains noch eine unspezifizierte Leerformel, die der SuD inhaltlich konkretisiert. Das Liebesglück, das ein Teil der
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Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. I. München 81987, S. 130–133. Hierzu auch Vf.: Schillers Lyrik im Kontext der Spätaufklärung. Freigeisterei der Leidenschaft und Resignation (2008), in diesem Band S. 507–531. So in Lenz’ Goethe-Rezension von 1774, wo dem sozial-normalen Leben ein ideales, emphatisches ›Leben‹ konfrontiert und der Normalität eben dieses ›Leben‹ bestritten wird. Vgl. Winter 1979 (Anm. 52), S. 203.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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frühen Lyrik Goethes feiert, ist möglich, weil bewußt sowohl die sozialen Rahmenstrukturen als auch die sexuelle Komponente ausgeblendet werden; in Schillers früher Lyrik, insbesondere den Laura-Gedichten innerhalb und außerhalb der Anthologie auf das Jahr 1782 werden beide mitthematisiert – und damit der Konflikt offenkundig (vgl. z.B. Freigeisterei der Leidenschaft oder Resignation). 7.4 Der Konflikt Individuum – Gesellschaft nimmt im SuD zwei Formen an, die teils auf verschiedene Texte distribuiert, teils in denselben Texten koexistent sind: 7.4.1 die Radikalisierung der Objekt- und Opferrolle aus dem LS ›E‹, dem gegenüber aber der Akzent von der Schuld des Opfers auf die Schuld der Umweltstrukturen verschoben wird und mithin eine durch das DS ›A‹ legitimierte soziale und/oder politische Kritik relevant wird;56 diese Rolle ist primär, aber nicht ausschließlich durch Frauen besetzt. 7.4.2 die Revolte des exzeptionellen Subjekts gegen die Ordnung;57 diese Rolle ist primär, aber nicht ausschließlich durch Männer besetzt; gegenüber der Femininisierung von Frau und Mann im LS ›E‹ setzt der SuD die Alternative einer Virilisierung von Mann und Frau (radikal: Klingers Die neue Arria). Die Revolte manifestiert sich als Wille zur ›Tat‹ und in der Rolle des ›Selbsthelfers‹, der die Kompensation der Defizite der Weltordnung in die eigene Hand nimmt und eben damit Autonomie und Mündigkeit beansprucht: »Am Anfang war die Tat« (Goethe, Faust I). Wo der Vater in Lessings Emilia Galotti noch die Tochter als potentielles Verführungsopfer und nicht den fürstlichen Verführer tötet, da will der Vater des faktischen Verführungsopfers (Verrina) in Schillers Fiesko den fürstlichen Verführer töten. Signifikant häufen sich im SuD auch die Bearbeitungen des FaustStoffes.58 Freilich ist die Irrealität der Möglichkeit der ›Tat‹ im System bewußt: Die Möglichkeit der Tat wird in den dargestellten Welten in eine andere Zeit und/oder einen anderen Raum verlegt.59 Im eigenen System wird sie – Schillers Räuber zeigen es – nur in einer außersozialen Exklave möglich. 7.5 Diese Auflehnung ist Revolte, nicht Revolution. Nicht ein System soll umgestürzt werden, gefordert wird das Privileg der Normabweichung für das exzeptionelle Individuum – und nur für dieses: Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist [!], wieviel Vorteile er mir selbst
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So Wagners Kindermörderin und Die Reue nach der That, Lenz’ Hofmeister und Soldaten, Goethes Clavigo, Schillers Kabale und Liebe, Klingers Das leidende Weib. So Goethes Prometheus, Götz, Egmont, Faust, Claudine von Villa Bella, Schillers Die Räuber und Fiesko, Lenz’ Der neue Menoza, Leisewitz’ Julius von Tarent, Klingers Die Zwillinge, Die neue Arria, Simsone Grisaldo, Sturm und Drang. Neben Goethes Faust die dramatischen Bearbeitungen von Maler Müller, Weidmann, Soden und der Roman von Klinger; Lessings frühes dramatisches Faust-Fragment belegt wiederum die Kontinuität des DS ›A‹. So z.B. Götz, Egmont, Claudine, Fiesko, Simsone Grisaldo, Julius von Tarent, Die Zwillinge, Sturm und Drang, die Faust-Bearbeitungen.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
verschafft [!]; nur soll er mir [!] nicht eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glück auf dieser Erde genießen könnte.60
Wenn eine politisch-soziale Ordnung überhaupt angegriffen wird, dann nicht zugunsten einer neuen, sondern einer früheren und älteren (so z.B. Goethes Götz, Schillers Fiesko). Charakteristisch sind die Dramen des Bruderzwistes (Klinger, Die Zwillinge; Leisewitz, Julius von Tarent; Schiller, Die Räuber), wo sich jeweils der jüngere Bruder gegen den älteren Bruder – dessen juristisch privilegierten Status in der Gesellschaft – auflehnt: Es geht um die Substitution des Rolleninhabers bei Erhaltung der privilegierten Rolle; nicht das Rollensystem wird bekämpft, sondern daß die Rolle, die das Ich beanspruchen zu können glaubt, schon besetzt ist. Aus dem DS ›A‹ resultiert also einerseits die egalitäre Tendenz der gleichen Rechte aller, andererseits die elitäre Tendenz privilegierter Rechte des exzeptionellen Subjekts, denn die Ausdifferenzierung und Aufwertung von Individualität führt zugleich zur Rangdifferenz von Individualitäten; der Konflikt beider Tendenzen wird in Schillers Fiesko illustriert. Wo das LS ›E‹ gegenüber dem LS ›frühe A‹ schon die elitäre Gruppe der ›Empfindsamen‹ eingeführt hatte, wird im LS ›SuD‹ daraus das elitäre Individuum, bedingt durch die logisch fortschreitende Autonomisierung und Ausdifferenzierung. Damit tritt (logisch) auch ein Relevanzverlust von (gleichgeschlechtlicher) Freundschaft ein: Im LS ›E‹ wirkte sie in der elitären Gruppe egalisierend und konkurrenzvermeidend: Je mehr aber das Individuum elitär wird, desto mehr wird es auch solitär; niemand kann ihm helfen, nur es selbst. 7.6 Wie im LS ›E‹ findet sich im LS ›SuD‹ tendenziell eine Repräsentation der Weltordnung durch die Familienordnung. Wo aber im LS ›E‹ eine Störung der Ordnung der Familie von außen, durch den Eingriff Dritter, etwa durch Verführung oder Verführungsabsichten dominierte (vgl. das bürgerliche Trauerspiel bis inklusive Emilia Galotti), also eine im Prinzip harmonisch funktionierende Ordnung existierte, da findet in SuD gern eine Störung der Familie von innen statt,61 d.h. die familiäre Ordnung als Abbild der Weltordnung ist von vornherein gestört, damit aber auch das Théodicée-Postulat infrage gestellt, das das LS ›E‹, wenn auch – vgl. Sara Sampson – mit Gewalt und fast schon wider besseres Wissen, aufrecht erhielt. Das 18. Jahrhundert denkt die Äquivalenz ›Familienvater‹ § ›Landesvater‹ § ›Gottvater‹, d.h. von familiärer, politischer, religiöser Autorität, und Auflehnung gegen einen dieser ›Väter‹ ist somit zugleich Auflehnung gegen die beiden anderen; wie umgekehrt ›Emanzipation‹ implizit immer die Loslösung von jedem der drei impliziert. In Goethes Gedicht ›Prometheus‹ und noch deutlicher in seinem Dramenfragment Prometheus, dem das Gedicht entstammt, ist Zeus der Vater in allen drei Bedeutungen, gegen den sich der Gottgleichheit beanspruchende Sohn Prometheus auflehnt, unterstützt im Drama von der Schwester Minerva, die die
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Werther (Anm. 17), S. 250. Leisewitz’ Julius von Tarent, Klingers Die Zwillinge, Schillers Die Räuber; radikal dann, auf dem Wege zur ›Klassik‹, Schillers Don Karlos.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Aufklärung repräsentiert. Im Werther setzt sich denn der Held mit Gottes Sohn, also mit Christus als einer Erscheinungsform der Gottheit selbst, gleich; wo Prometheus im Gedicht eine Welt schafft, ist er zugleich Künstler und Gott, also Rivale des ›Vaters‹; wenn Werther sich später Gott Vater unterwirft, wenn dem Gedicht ›Prometheus‹ ›Ganymed‹ konfrontiert wird, dann findet implizit zugleich eine Substitution eines traditionellen durch einen neuen Gott statt, der einer Legitimierung des exzeptionellen Subjektes dient;62 wiederum macht es Schiller in Freigeisterei der Leidenschaft explizit, wo eine den Bedürfnissen nicht entsprechende Gotteskonzeption schlicht verworfen wird: »O diesem Gott laßt unsere Tempel uns verschließen«. (V. 85)63 Die Auflehnung des jüngeren unterprivilegierten gegen den älteren privilegierten Bruder ist denn auch im ›SuD‹ einfach eine Verschleierung des dreifachen Konfliktes eines Sohnes mit dem Vater in jeder Bedeutung,64 denn der Vater ist der Repräsentant jener Ordnung, der der ältere Bruder seine Privilegien verdankt, deren der jüngere beraubt ist; der ältere Sohn ist aber immer zugleich Repräsentant der privilegierten sozialen Schicht, d.h. des Adels, der jüngere Repräsentant der unterprivilegierten Schichten, d.h. des Bürgertums; und es entspricht dann dem Bruderstatus ein Gleichheitspostulat. Gegenüber Leisewitz und Klinger nimmt Schiller eine relevante Transformation vor, indem er den jüngeren Bruder zum manipulativen Schurken macht, der den Vater zur Verstoßung des älteren Bruders bewegt, und diese Verschiebung wiederum erlaubt die Belastung des Vaters mit Schuld, die sich in der (wegen dieser Äquivalenzen) blasphemischen Umkehrung der Parabel vom verlorenen Sohn äußert, wenn der Vater zum verstoßenen Sohn sagt: »Ich hab gesündigt im Himmel und vor dir. Ich bin nicht wert, daß du mich Vater nennest.« (V, 2) Wenn aber hier nun zudem der jüngere Bruder Repräsentant einer radikalen, konsequent rationalen Aufklärung ist, die, wie so sonst nur bei de Sade, die Aufhebung des Wert- und Normensystems des DS ›A‹ aus dessen eigener Logik – weil es im DS ›A‹ nicht rational begründbar ist – praktiziert,65 der ältere Bruder hingegen Repräsentant des neuen SuD-Systems, in dem die vom DS ›A‹ erfundene Emotionalität die Defizite der reinen Rationalität kompensiert und das, was nicht rational begründet werden kann, seine Legitimation statt dessen daraus bezieht, daß es gleichwohl emotional empfunden wird: Dann hat Schiller den logischen Trick gefunden, mit Hilfe dessen das neue System als das ältere und legitimere ausgegeben werden kann und mit Hilfe dessen sich ›SuD‹ als Rettung des in die Krise geratenen Wert- und Normensystems des DS ›A‹ präsentieren
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63
64 65
Vgl. Vf.: Vom ›Sturm und Drang‹ zur ›Klassik‹. Grenzen der Menschheit und Das Göttliche – Lyrik als Schnittpunkt der Diskurse (1998), in diesem Band S. 487–506. Vgl. Vf.: Schillers Lyrik und die Philosophie der Spätaufklärung, in diesem Band, S. 507–531. Vgl. auch Winter 1979 (Anm. 50), S. 200. Vgl. dazu Schillers verschleiernde ›Vorrede‹ zu den Räubern und die Monologe von Franz in I, 1 und II, 1, wo dieser – aus ›A‹-Logik! – die Infragestellung von ›A‹Theoremen versucht.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
kann. Damit thematisiert er zugleich eine tatsächliche Struktur des SuD, obwohl, wenn Schiller zu schreiben beginnt, das System ›SuD‹ als kollektives schon beendet ist, so daß er ein schon vorgegebenes Scheitern auf einer Metaebene thematisieren kann. 7.7 Denn von Anfang an enthält das LS ›SuD‹ die Implikation und Thematisierung der Notwendigkeit seines eigenen Scheiterns und Endes. Wenn die revoltierenden exzeptionellen Individuen der SuD-Texte am Textende jeweils die Unterwerfung unter eine (familien-, landes-, gott-)väterliche Instanz und das tradierte Normensystem vollziehen, wird nicht nur die Aussichtslosigkeit der Revolte des Helden, sondern auch der ihrer Autoren anerkannt und damit immer schon die Vorprogrammiertheit des Endes von SuD gesetzt und das Ende vorweggenommen. Von der Autonomie des revoltierenden Subjektes bleibt nur mehr die Autonomie der Selbstunterwerfung unter das Normensystem, und damit ist zugleich der Problemlösungsversuch der paradoxen Selbstbegrenzung der Autonomie im LS ›Klassik‹ logisch angelegt. Die Texte vollziehen im Regelfall die Tilgung der abweichenden Subjekte: durch biologischen Tod (Götz), durch akzeptierte Ermordung durch eine Vaterinstanz (Julius von Tarent, Die Zwillinge), durch Suizid (Werther), durch verschleierten Suizid (Die Räuber); wo das Subjekt in der Opferrolle war, wird es ebenfalls vom Text ums Leben gebracht. Der SuD ist also ein intellektuelles Denkspiel mit der Revolte ohne Akzeptanz von deren Konsequenzen: Die tradierte Weltordnung wird in Frage gestellt, aber letztlich dennoch akzeptiert. ›SuD‹ ist das theoretische Experiment mit Abweichung und Grenzfall ohne praktische Folgen; literarisch-intellektuelles Probehandeln mit Angst vor den eigenen Konsequenzen; Ausdruck einer Ambivalenz, – Ausdruck der Noch-Nicht-Lebbarkeit des Doch-Schon-Denkbaren, wie sie Schiller wieder exemplarisch in Freigeisterei der Leidenschaft vorführt. In diesem Rahmen ist nun die typische SuD-Struktur der Emotionalität/Affektivität situiert. Wenn erstens gesteigertes Glücksverlangen gesteigerter Unmöglichkeitserfahrung gegenüber steht, wenn Erfahrung der Defizienz der Realität und der Frustration des Subjektes wachsen, wenn die theoretisch denkbare Abweichung noch nicht lebbar ist, wenn intensives Leben gewollt wird, für das die erfahrene Realität kaum Raum bietet, dann bleibt unter den Prämissen des gegebenen Systemzustandes nur die Intensivierung des schon legitimierten Gefühls: dessen Übergang von der ›Empfindung‹ zur ›Leidenschaft‹, wie er sich schon, noch ohne seine Konsequenzen zu realisieren, punktuell im LS ›E‹ vorbereitet hatte. Wenn zweitens ›Natur‹ als kulturell nicht präformierte und deformierte Ursprünglichkeit und als Wert gedacht wird, wird das scheinbar ungeregelte Gefühl, die ›Leidenschaft‹, legitimiert und die ›Empfindung‹ notwendig abgewertet. Auch das Gefühl erlangt Autonomie. Wenn drittens Individualisiertheit des Subjektes Wert wird, muß diese Individualität in der Psyche situiert werden. Da die Vernunft zwar quantitativ verschieden verteilt, aber qualitativ gleich strukturiert gedacht werden muß, wenn es ein einheitliches Denksystem und verbindliche Werte und Normen geben soll, kann diese Individualität nur im Gefühl gefunden werden:
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
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Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen – mein Herz habe ich allein.66
Im LS ›E‹ individualisiert sich das Subjekt nur durch das Gefühlsobjekt, im SuD kann es sich durch die Gefühlsstruktur individualisieren: Die Reduktion der affektiven Normierung impliziert die Vermehrung der kombinatorischen Varianten und damit die Vermehrung von Individualität, umso mehr als ›Empfindung‹ nicht einfach durch ›Leidenschaft‹ substituiert wird, sondern neben diese tritt. Im SuD bedeutet nun 8. ›Leidenschaft‹ das scheinbar undomestizierte und weder normierte noch standardisierte Gefühl; es impliziert eine 8.1 Reduktion der qualitativen Restriktionen: Es werden nicht nur dominant schmerzliche, sondern auch dominant lustvolle Gefühle zugelassen; es werden nicht nur Gefühle positiver Zuwendung zum anderen, sondern auch negative Gefühle gegenüber dem anderen (Wut, Rache, Verachtung, usw.) zugelassen, wobei freilich die Bedingung der moralischen Berechtigung erfüllt sein muß, was dann und nur dann der Fall ist, wenn der andere als schädigender Normverletzer erwiesen scheint oder wenn seine Individualität selbst keinen Wert darstellt, d.h. nicht die neuen Werte des LS ›SuD‹ repräsentiert und also einer älteren Phase des DS ›A‹ entspricht – erstmals im DS ›A‹ wird der Wert einer Person nicht mehr nur nach dem Grad ihrer Tugendhaftigkeit bemessen. Die negativen Gefühle des Räubers Karl Moor werden somit legitimiert, die von Franz Moor erscheinen als verwerflich. Ambivalente Gefühle werden nach wie vor so wenig zugelassen, wie negative Gefühle gegenüber jemandem, der sie nicht ›verdient‹. ›Leidenschaft‹ impliziert eine 8.2 Reduktion der quantitativen Restriktionen: Die Intensität des Gefühles ist von Beschränkung freigesetzt; sie kann beliebig gesteigert werden, was wiederum Individualisierungsmöglichkeiten eröffnet. Das neue Gefühl bzw. das Herz als sein Sitz ist nicht mehr ›warm‹, sondern ›glühend‹; ein »heilig glühend Herz« in Goethes Prometheus (1777; V. 34), ein »glühendes, tatenlechzendes Herz« in Schillers Gedicht Monument Moors des Räubers (1782; V. 50). Gefühlsintensität erscheint einerseits selbst als positiver Wert an einer Person, und reduzierten Gefühlen gilt eher Verachtung; sie erscheint andererseits als eine im Grenzfall pathologische Bedrohung: Wie schon während des LS ›E‹ in theoretischen Diskursen wie in literarischen Texten – vgl. während des SuD noch Wezels Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit (1782) – vor dem potentiell pathologischen Charakter der ›Empfindung‹ als ›Schwärmerei‹ gewarnt wurde, diskutiert etwa Werther die Relationen von ›Leidenschaft‹, ›Krankheit‹, ›Wahnsinn‹. Denn ›Leidenschaft‹ impliziert ferner die 8.3 Aufhebung der Hierarchisierung der psychischen Instanzen: Das quantitativ entgrenzte Gefühl kann nicht mehr ohne weiteres dem Verstande unterworfen
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Werther (Anm. 17), S. 259.
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und von ihm kontrolliert werden, sondern tritt, selbst autonom geworden, neben ihn, woraus eine Intensivierung des Konfliktpotentials zwischen Vernunft und Gefühl und eine Steigerung des Normverletzungspotentials resultiert. Die neue Gefühlsstruktur verlangt auch einen 8.4 neuen Gefühlsausdruck, da es sich als (zumindest scheinbar) unmittelbares, unreflektiertes, unkontrolliertes, undomestiziertes, kurz: als ›natürliches‹, präsentieren muß, was bedeutet, daß sich die neue Rhetorik des Gefühls der Wahrnehmung als eben dieser entziehen muß. Diese verschleierte Gefühlsrhetorik manifestiert sich im SuD bekanntlich als gezielte Verletzung pragmatischer und syntaktischer Sprachregeln und impliziert das Postulat, daß emotionaler Intensität verbale Intensität entsprechen müsse: Nicht nur der Gefühlsinhalt, sondern auch der Gefühlsausdruck tendiert also zur Verletzung sozialer Regeln. Aus der Radikalisierung von Individualität und Emotionalität folgt nun systemlogisch die 9. Liebeskonzeption des SuD, in der die meisten Regeln und Normen des LS ›E‹ konstant bleiben; hier seien primär die Unterschiede hervorgehoben. 9.1 Aus der Intensivierung der emotionalen Besetzung – Liebe als Leidenschaft – und der Individualisierung des Partners resultiert dessen Unersetzlichkeit und Unaustauschbarkeit: Werther weiß, daß ihm Lotte kulturell verboten ist, und gleichwohl kommt keine andere Partnerin für ihn in Frage. Im Grunde kann es somit im Leben des Subjekts nur genau eine Liebe geben; da ›Liebe‹ der ›Jugend‹ zugeordnet ist, muß sie in dieser stattfinden; da das Normensystem Experimentieren verbietet und Treue gebietet, müßte die erste zugleich die einzige Liebe sein, was Goethe mit der desillusionierten Erfahrung sukzessiver Lieben in Einklang zu bringen sucht: »Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren.«67 9.2 Der Partner wird zum höchsten Wert des Subjektes: ein summum bonum, das mit der Gottheit konkurriert oder sie substituiert: verlaß mich nicht, Gott im Himmel! Nein, du sollst mir meinen Karl nicht entreißen! Meine Seele hat nicht Raum für zwei Gottheiten […]! (Die Räuber. IV, 4)68 Und alle diese Bande, die ich zum Teil eh’r trug, ehe ich die Welt betrat, zerreiß’ ich um eines Weibes willen – um eines sterblichen Weibes willen – nein, nicht für ein sterbliches Weib, für dich, Blanca, du bist mir Vaterland, Vater und Mutter, Bruder und Freund! (Leisewitz, Julius von Tarent, IV, 1)69 Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anderes kenne, noch weiß, noch habe als sie. (Werther) 70
——————— 67 68 69
70
Dichtung und Wahrheit (Anm. 17), S. 612. Sämtliche Werke. Bd. I (Anm. 54), S. 582. Johann Anton von Leisewitz: Julius von Tarent. Ein Trauerspiel. Hg. von Werner Keller. Durchgesehene und bibliogr. ergänzte Ausg. Stuttgart 1977, S. 49. Werther (Anm. 16), S. 262.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
367
In Konkurrenz mit der ›Tat‹ – Schillers Fiesko illustriert die Kollisionen zwischen Liebeswillen und Machtwillen – wird ›Liebe‹ zur existentiellen Sinngebung des Subjektes: Getrennt von dir – warum bin ich geworden? Weil du bist, schuf mich Gott! (Schiller, Freigeisterei der Leidenschaft, V. 69f.)71
Wo Brüder um Werte rivalisieren, rivalisieren sie immer auch um eine Frau. 9.3 Wenn dem so ist und wenn die Théodicée gilt, dann gibt es notwendig für jedes Subjekt einen ihm von der Weltordnung bestimmten Partner: Ihn nicht zu erhalten, führt logisch zum Zweifel an der Théodicée. 9.4 Dieser Grad an Besetzung und Aufwertung des Partners impliziert die Nicht-Verzichtbereitschaft: Wo das Subjekt in ›E‹ resignierte und resignieren konnte, da kann es das Subjekt des ›SuD‹ nicht mehr; Liebe als Leidenschaft steigert also einerseits das Normverletzungspotential des Selbst, wie alle SuDDramen belegen, als auch die Akzeptanz der Normverletzung durch den Anderen – dessen Tugendhaftigkeit ist zwar noch Prämisse der Entstehung von (akzeptabler) Liebe, der Verlust der Tugendhaftigkeit aber nicht mehr notwendig Anlaß zur Beendigung der Liebe: »Mörder! Teufel! Ich kann dich Engel nicht lassen.« ruft Amalia aus, als sie ihren Karl als schuldbeladenen Räuber wiedertrifft;72 freilich wagt es selbst dieser Text nicht, das Paar in glücklicher Liebe leben zu lassen. Immer wieder wird im SuD damit gespielt, Liebe über alle Normen zu setzen, aber einmal mehr schreckt er vor seiner eigenen Logik zurück und erspart den Figuren entweder die radikale Normverletzung oder sanktioniert sie verschleiert doch. Die neue Radikalität kann schon gedacht, aber noch nicht gelebt werden. Exemplarisch in Schillers Freigeisterei der Leidenschaft (1786): Theoretisch lehnt sich das Ich gegen jene Normen auf, die ihm die sexuelle Vereinigung mit der geliebten Laura versagen, praktisch empfindet er sich selbst beim Versuch als ›Verbrecher‹ und scheitert: »Mir schauerte vor dem so nahen Glücke, und ich errang es nicht.« (V. 49f.)73 ›Tugend‹ und ›Glück‹, in ›E‹ äquivalent, sind in ›SuD‹ tendenziell oppositionell74 geworden: »Der einzge Lohn, der meine Tugend krönen sollte, ist meiner Tugend letzter Augenblick.« (V. 35f.)75 Nur wenige Experimente mit erotischer Normverletzung gehen im ›SuD‹ gut aus: so Lenz’ Der Hofmeister und Die Freunde machen den Philosophen, Klingers Simsone Grisaldo, Goethes Stella in ihrer ersten Fassung. Wie in ›E‹ sind in ›SuD‹ durch akzeptierte Affekte bedingte Normverletzungen verzeihbar und, dank der Aufwertung der Liebe, wie diese Beispiele zeigen, selbst in ›E‹ noch völlig inakzeptable Verletzungen, aber nur im vereinzelten Experiment und nur, wenn sie das
——————— 71 72 73 74 75
Sämtliche Werke (Anm. 54), S. 129. Ebd., S. 614. Ebd., S. 128. Vgl. Vf.: Friedrich Maximilian Klingers Romane, in diesem Band, S. 129–170. Schiller: Werke (Anm. 54), S. 128.
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Schadensprinzip nicht tangieren oder, zumindest wie in diesen Texten, der potentiell Geschädigte zustimmt. Alle Normierungen der Erotik bleiben im Prinzip konstant: Neu aber ist das Gedankenspiel mit der Grenzüberschreitung, deren Denkbarkeit, aber nicht Lebbarkeit. 9.5 Den Liebespartner nicht zu erhalten, wird im Gegensatz zum LS ›E‹ hier notwendig zur existentiellen Katastrophe: Wie das neue Individuum ›Liebe‹ zu seiner Selbstfindung und Selbstverwirklichung braucht, so bedeutet der Verlust der Liebe die Gefahr des Selbstverlustes bis hin zu Wahnsinn, Tod oder Suizid, wie Werther illustriert; ›Liebe‹ wird zum personalen Risiko, zur irreversiblen Grenzüberschreitung, deren eventuelle Folgen nicht wieder gutzumachen sind. Der Suizid, traditionell eine massive Normverletzung, wird zwar jetzt als Konsequenz der Autonomie des Subjektes akzeptiert: nicht aber die wirkliche Normnegation; in Werther wird er denn auch als die relativ moralischste der Alternativen angeführt: Eines von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – deinen Mann zu ermorden! – dich! – mich! – so sei es denn!76
Mit der ›Leidenschaft‹, nicht zuletzt als ›Liebe‹, wird also das Gefährdungspotential des Gefühls, dessen sich schon das LS ›E‹ bewußt war, potentiell freigesetzt. Der ›SuD‹ stellt ein Experimentieren mit den Konsequenzen solcher Radikalisierung dar, vor denen er selbst zurückschreckt und an denen er seine Helden scheitern läßt. Die theoretisch denkbar gewordene Substitution des Normensystems – unter deren Bedingungen allein die leidenschaftliche Liebe praktikabel wäre – wird nirgends wirklich praktiziert: Allenfalls wird im Ausnahmefall die Abweichung toleriert, was eine Variante des Verzeihensmodells darstellt. Das LS zur Zeit der Klassik wird denn auch eine Renormierung und, damit korreliert, eine Begrenzung zulässiger Individualität und Autonomie vornehmen, um das systemsprengende Potential bestimmter Konsequenzen des DS ›A‹ wieder der Kontrolle zu unterwerfen.
Literaturverzeichnis 1731–1743
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1732
DESTOUCHES, Philippe Néricault: Le Glorieux, comédie en 5 actes et en vers GOTTSCHED, Johann Christoph: Der sterbende Cato. Ein Trauerspiel
——————— 76
Werther (Anm. 17), S. 281.
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹
369
1736
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1741–1745
GOTTSCHED, Johann Christoph (Hg.): Die deutsche Schaubühne, […]. 6 Tle
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PITSCHEL, Friedrich Lebegott: Darius, Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
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SCHLEGEL, Johann Elias: Herrmann. Ein Trauerspiel GOTTSCHED, Louise Adelgunde Victorie: Die ungleiche Heirath. Ein Lustspiel KRÜGER, Johann Christian: Die Geistlichen auf dem Lande. Ein Lustspiel
1744
SCHLEGEL, Johann Elias: Dido. Ein Trauerspiel KRÜGER, Benjamin Ephraim: Mahomed der IV. Ein Trauerspiel
1745
GOTTSCHED, Johann Christoph: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra. Ein Trauerspiel ders.: Agis, König von Sparta. Ein Trauerspiel
1746
SCHLEGEL, Johann Elias: Canut. Ein Trauerspiel
1747
GELLERT, Christina Fürchtegott: Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel von drey Aufzügen
1747/48
ders.: Leben der schwedischen Gräfin von G***. 2 Tle
1748
KRÜGER, Johann Christian: Die Candidaten oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen. Ein Lustspiel in fünf Handlungen
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VOLTAIRE [= François-Marie Arouet]: Nanine ou le Préjugé vaincu. Comédie
1755
LESSING, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson: Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen ders.: Der Freygeist: Ein Lustspiel in fünf Aufzügen MARTINI, Christian Leberecht: Rhynsolt und Sapphira. Ein prosaisches Trauerspiel in dreyen Handlungen
1756
PFEIL, Johann Gottlob Benjamin: Lucie Woodvil. Ein bürgerliches Trauerspiel
1760
CRONEGK, Johann Friedrich von: Der Mißtrauische. Ein Lustspiel
1761
ROUSSEAU, Jean-Jacques: Julie, ou la Nouvelle Héloïse
1763
WEIßE, Christian Felix: Rosemunde. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1764
ders.: Krispus. Ein Trauerspiel
1766
ders.: Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
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LESSING, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen
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KLOPSTOCK, Friedrich Gottlieb: Oden und Elegien LA ROCHE, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Hg. von C. M. Wieland. 2 Bde.
1772
LESSING, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
370 1773
GOETHE, Johann Wolfgang: Götz von Berlichingen
1774
ders: Die Leiden des jungen Werthers ders: Clavigo. Ein Trauerspiel LENZ, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister oder die Vortheile der Privaterziehung. Eine Komödie ders: Der neue Menoza. Oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. Eine Komödie
1775
KLINGER, Friedrich Maximilian: Das leidende Weib. Ein Trauerspiel WAGNER, Heinrich Leopold: Die Reue nach der That. Ein Schauspiel WEIDMANN, Paul: Johann Faust. Ein allegorisches Drama
1776
MILLER, Johann Martin: Siegwart. Ein Klostergeschichte GOETHE, Johann Wolfgang: Claudine von Villa Bella. Ein Schauspiel mit Gesang ders.: Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten LENZ, Jakob Michael Reinhold: Die Freunde machen den Philosophen. Eine Komödie ders.: Die Soldaten. Eine Komödie WAGNER, Heinrich Leopold: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel KLINGER, Friedrich Maximilian: Die neue Arria. Ein Schauspiel ders.: Simsone Grisaldo. Ein Schauspiel in fünf Akten ders.: Sturm und Drang. Ein Schauspiel ders.: Die Zwillinge. Ein Trauerspiel in fünf Akten LEISEWITZ, Johann Anton: Julius von Tarent. Ein Trauerspiel
1778
(MAHLER) MÜLLER, Friedrich: Fausts Leben dramatisiert
1782
WEZEL, Johann Karl: Wilhelmine Arend oder die Gefahren der Empfindsamkeit SCHILLER, Friedrich: Anthologie auf das Jahr 1782 ders.: SCHILLER, Friedrich: Die Räuber. Ein Schauspiel
1783
ders.: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel
1784
ders.: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen
1785
GOETHE, Johann Wolfgang: Prometheus
1786
SCHILLER, Friedrich: Freigeisterei der Leidenschaft. Als Laura vermählt war im Jahre 1782 ders.: Resignation. Eine Phantasie
1787
ders.: Don Karlos Infant von Spanien
1788
GOETHE, Johann Wolfgang: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
1791
KLINGER, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt
›Empfindung‹ und ›Leidenschaft‹ 1797
SODEN, Julius von: Doktor Faust
1808
GOETHE, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie
1811–1818
ders.: Dichtung und Wahrheit
371
Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche1
1.
Erläuterungen und terminologische Festlegungen
Unter ›Goethezeit‹ (GZ) soll die Phase von ca. 1770 bis ca. 1830 verstanden werden, die ich als eine Epoche auffasse, innerhalb derer die teils simultan koexistierenden, teils sukzessiv aufeinanderfolgenden verschiedenen literarischen ›Richtungen‹ (Literatur der Spätaufklärung, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, der Klassik, der Romantik usw.) Varianten und Transformationen wären, die innerhalb einer gemeinsamen Rahmenstruktur des Denkens aufeinander bezogen sind. Das theoretische Denken der Epoche selbst wird dabei als Transformation der Aufklärung interpretiert: als Fortentwicklung von und Auseinandersetzung mit deren Denkmodellen. Wie schon in der vorgoethezeitlichen Literatur des 18. Jahrhunderts treten in der Literatur der GZ bemerkenswert viele inzestuöse Situationen auf, worin sie sich deutlich etwa von der nach-goethezeitlichen Literatur des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Solche inzestuösen Situationen sind in der Epoche nicht an die Erzählliteratur gebunden, anhand derer ich sie aber behandele, da ich, was die Erzählliteratur betrifft, von einem hinreichend umfänglichen Korpus von 487 Erzähltexten ausgehen kann; auf Fälle inzestuöser Situationen in der dramatischen Literatur der GZ und in der gleichzeitigen fremdsprachigen Literatur wird nur zu Beispielszwecken verwiesen. Ich lege zunächst die Verwendung der beiden zentralen Termini fest. I n z e s t : die (eheliche oder nicht-eheliche) sexuelle Beziehung zweier Personen derart, daß (1) die Personen entweder
——————— 1
Auf die ›QuelIen‹ dieser Untersuchung (die theoretischen – insbesondere juristischen – sowie literarischen Texte) wird im fortlaufenden Text mit Verfassername und Erscheinungsjahr verwiesen; die bibliographischen Angaben finden sich im chronologisch geordneten Literaturverzeichnis (a–c: Quellen).
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
374
(a)
(2)
aufgrund biologischer Merkmale (Abstammung von gemeinsamen Vorfahren) oder (b) aufgrund sozialer Merkmale (durch Allianz zwischen nichtblutsverwandten Familien mittels Eheschließung zwischen Mitgliedern aus beiden Familien oder durch funktionale Relationen zwischen Nicht-Blutsverwandten wie z.B. Adoptivbeziehungen, Vormundschaft usw.) im kulturellen Wissen der Epoche als miteinander in einem bestimmten Grade verwandt gelten, und daß kulturell für diesen Verwandtschaftsgrad ein Verbot sexueller Beziehungen gilt, das Bestandteil des kulturellen Wissens ist.
I n z e s t u ö s e S i t u a t i o n : die Beziehung zweier Personen derart, daß (1) diese Beziehung eindeutig als erotisch identifizierbar ist, und daß (2) es sich beim Vollzug eines Sexualaktes um einen Inzest im Sinne des kulturellen Wissens der Epoche handeln würde, wobei es (3) irrelevant ist, ob (a) die erotische Beziehung einseitig oder wechselseitig ist; (b) der Verwandtschaftsgrad von den Personen gewußt oder nicht gewußt wird; (c) eine von einer oder beiden der Personen angenommene Verwandtschaft oder Nicht-Verwandtschaft tatsächlich gegeben oder irrtümlich angenommen ist; (d) ein Sexualakt vollzogen oder nicht vollzogen wird; (e) ein vollzogener Sexualakt freiwillig (in beiderseitigem Konsens) oder nicht-freiwillig (gegen den Willen eines der beiden Partner) stattfindet; (f) die Beziehung eine eheliche oder nicht-eheliche ist. Die unter (3a) bis (3f) subsumierten und als irrelevant für den Begriff der ›inzestuösen Situation‹ gesetzten Merkmalspaare dienen nicht nur der Erläuterung dieses Begriffes: Sie stellen zugleich auch Kategorien dar, die zur Beschreibung der Struktur inzestuöser Situationen in der GZ-Literatur relevant sind; alle hier unterschiedenen Varianten treten auch in meinem Textkorpus auf; angemerkt sei, daß die Bestimmung (1) z.B. Kleists Marquise von O.... ausschließt (der Text behandelt die bekannte Vater-Tochter-Szene als nicht-inzestuös), aber Hebbels Barbier Zitterlein einschließt (dessen Umwelt die Vater-Tochter-Beziehung als erotisch rezipiert). ›Inzestuöse Situation‹ wird hier mittels ›Inzest‹ definiert – und dieser wiederum als eine vom ›kulturellen Wissen‹ abhängige Variable. Denn was jeweils als ein Verwandtschaftsgrad gilt, bei dem sexuelle Beziehungen untersagt sind, ist bekanntlich nicht nur bei den rein sozial definierten, sondern auch bei den Verwandtschaften auf biologischer Basis in hohem Maße eine kulturabhängige Variable: Was somit jeweils als Inzest gilt, kann nur durch Rekonstruktion des kulturellen Wissens der Epoche festgestellt werden.
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
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K u l t u r e l l e s W i s s e n (kW)2 soll jede von der Kultur während eines bestimmten Zeitraums für wahr gehaltene Aussage heißen, wobei ›Wissen‹ im weiten wissenssoziologischen Sinne verwendet wird; das kW soll sowohl das (vortheoretische) ›Alltagswissen‹ als auch spezialisierte Wissensmengen mit theoretischem Anspruch (etwa der Theologien, Philosophien, Wissenschaften), sowohl das allgemeine kW, also das von (fast) allen Kulturmitgliedern geteilte Wissen, als auch das gruppenspezifische kW umfassen, also das Wissen einer oder mehrerer der kulturellen Gruppen, sei(en) diese nun durch Schicht, Altersklasse, Geschlecht, Ausbildung, Beruf, Religionszugehörigkeit, usw. definiert. Was nun Inzest (bzw. inzestuöse Situation) betrifft, so wird im Rahmen meiner Fragestellung mindestens kW über die folgenden zwei Klassen von Sachverhalten relevant: (1) Welche Typen von (kulturell definierten) Verwandtschaftsbeziehungen (biologischer und sozialer Art) sind in der GZ mit einem Sexualitätsverbot verknüpft und wie wird eine Verletzung dieser Normen sanktioniert? (2) Wie werden in der Kultur der GZ die gegebenen Inzestverbote interpretiert, d.h. welche Motivation und welchen Status erhalten sie im denkgeschichtlichen Kontext der Epoche und mit welchen anderen Klassen epochal relevanter Theoreme werden sie korreliert? Zunächst zur ersten Frage. Damit die kulturellen Inzestverbote überhaupt in der Praxis für das Sexualverhalten der Kulturmitglieder relevant werden können, muß es erstens ein diesbezügliches Alltagswissen geben, das wir also – wenn auch als inhaltlich unbekannte Größe – annehmen dürfen und müssen. Zweitens aber gibt es zu dieser Frage zwei spezialisierte Wissensmengen in der GZ: die theologische und die juristische. Beide Wissensmengen beanspruchen in ihrem jeweiligen Geltungsbereich – dem der jeweiligen Konfession oder dem der jeweiligen Gesetzgebung – eine gruppenspezifische Verbindlichkeit für alle Kulturmitglieder und drohen bei Zuwiderhandlung gegen die von ihnen gesetzten Nonnen mit (verschiedenartigen) Sanktionen. Obwohl beide Wissensmengen gruppenspezifische sind, werden sie also gruppenunspezifisch praxisrelevant. Mindestens partiell und rudimentär müssen die theologischen und juristischen Wissensmengen zum Inzest also auch Bestandteil eines Alltagswissens und des allgemeinen kW (geworden) sein: Das Alltagswissen der sozialen Gruppen der GZ über den Inzest-Komplex mag divergieren, aber es muß demnach einen gruppenunspezifischen, gemeinsamen Kern dieses Wissens geben, dem zumindest auch die elementaren Normen theologischer bzw. juristischer Provenienz angehören: Jedes Subjekt muß ungefähr wissen, welche Partner ihm für (eheliche oder nicht-eheliche) Sexualität verboten sind. Da nun im Rahmen der institutionellen Gegebenheiten und der sozialen Strukturen der GZ das theologische und juristische kW zum Inzest notwendig Folgen für das diesbezügliche allgemeine und alltägliche Wissen haben und sie aufgrund ihrer
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Vgl. Vf.: Strukturale Textanalyse. München 1977, Kap. 3.2.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
reichlichen Dokumentation in Texten bequem rekonstruierbar sind, gehe ich von diesen spezialisierten und gruppenspezifischen Wissensmengen aus.
2.
Die Inzestverbote im kulturellen Wissen des 18. Jahrhunderts
2.1 Der Sonderstatus des juristischen Wissens gegenüber dem theologischen Wissen und das Normproblem im 18. Jahrhundert Nun divergieren aber in der GZ theologisches und juristisches Wissen zumindest partiell, was den Umfang der Inzestverbote betrifft, und erheblich, was deren Status und Begründung anlangt. Wenn ich mich hier primär am juristischen Wissen orientiere, dann nicht deshalb, weil ›Kriminalität‹ das Tagungsthema ist, sondern weil dieses Wissen in mehrfacher Hinsicht für die Literatur der GZ relevanter als das theologische ist. Denn (1) gehen die goethezeitlichen Gesetzeskodifikationen, in denen das juristische kW der Zeit seinen Niederschlag findet, aus demselben (spät-)aufklärerischen Denken hervor, auf dem auch die Literatur der GZ basiert und das zumindest partiell in Opposition zur tradierten (orthodoxen) Theologie steht; (2) sind aufgrund der institutionellen Trennung der theologischen und juristischen Instanzen und des Strafmonopols der staatlich-juristischen Institutionen die aus dem theologischen Wissen resultierenden Normen nur noch insofern legitim durchsetzungsfähig, als die orthodoxen Gläubigen sich diesen Normen freiwillig unterwerfen oder die nicht-orthodoxen Christen und die Nicht-Christen (Deisten, Pantheisten, usw.) durch eine entsprechende juristische Norm dazu gezwungen werden: Die gebildete und intellektuelle Elite, aus der sich die Produzenten von GZ-Literatur rekrutieren, besteht aber dominant aus solchen Abweichlern vom Konzept eines orthodoxen Christentums. In Rechtstheorie und Rechtskodifikation der GZ ist jedenfalls der aufklärerische Prozeß der Ablösung des juristischen Bereichs von den Vorgaben des theologischen Bereichs weit fortgeschritten. Nur einige Aspekte und Kontexte dieses Prozesses können hier angedeutet werden. Sie aber müssen sogar angedeutet werden, da sie zu den Bewußtseinsinhalten der GZ in ihrer spätaufklärerischen wie in ihrer – diese transformierenden – idealistischen Theoriebildung, also zum kW der intellektuellen Eliten der GZ, gehören. Bekanntlich wird das Denken des 18. Jahrhunderts und der GZ – vom Beginn der Aufklärung bis zum Ende des Idealismus – vom immer erneuten Versuch rationaler Normbegründung begleitet. Wie immer dieser Versuch nun geartet sein mag, ob er die eigenen kulturellen Normen aus der menschlichen ›Vernunft‹ – als jedermann einsehbare – oder ob er sie (wie die moral-sense-Theorien) aus dem menschlichen ›Herzen‹ – als jedermann empfindbare – zu deduzieren sucht, ob die Absicht des Versuchs die einer Unterstützung des christlichen Systems oder die seiner Ersetzung (z.B. durch ein deistisches oder atheistisches oder kantisches
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usw.) ist: in jedem Falle ist dieser Versuch, ob willentlich oder nicht, ob bewußt oder nicht, einem Prozeß der Ablösung der Normproblematik vom theologischen Kontext äquivalent. Denn auch da, wo solche Argumentationen sich als Unterstützung theologischer Normbegründungen verstehen, räumen sie durch ihre bloße Existenz implizit ein, daß diese theologischen Begründungen unterstützungsbedürftig sind: daß es Individuen oder Kulturen gibt, von denen man annimmt, sie seien eher durch menschliche Argumentation als durch göttliche Offenbarung zu überzeugen. Daß diese Abkoppelung einer – zumindest der Intention nach – rationalen von einer theologischen Normbegründung im Verlaufe der Zeitphase fortschreitet, ebenso deutlicher wie bewußter und gewollter wird, bedarf wohl kaum eines Beweises. Soweit nun dieser Kultur eine solche rationale Normbegründung gelungen scheint, sichert sie ihren Normen zugleich einen Universalitätsanspruch, der räumlich wie zeitlich weit über diese Kulturen hinausreicht, die die christliche Offenbarung anerkennen. Ein als gelungen erachteter Versuch löst für die Kultur also zugleich das Problem, das durch das gehäufte ethnologische und historische Wissen (ethnohistorisches kW) über fremde Kulturen mit anderen Normen entstanden ist bzw. im Verlaufe des 18. Jahrhunderts entsteht: Das Problem, daß Normen kulturrelativ sein könnten, wird gelöst, wenn man den eigenen Normen eine universal-anthropologische Begründung zuschreiben kann, so daß der Dissens von Kulturen auf den Fehlgriffen der ›Vernunft‹ oder des ›Herzens‹ der einen oder der anderen beruht.3 Die Relevanz ethnohistorischer Argumentation manifestiert sich früh schon theoretisch wie literarisch, und beides kann, wie in Montesquieus Lettres persanes (1721), kombiniert sein, wo die eigene Kultur aus der Perspektive der fremden wahrzunehmen versucht wird. Schon dieser Text zeigt, daß die Relevanz des interkulturellen Normdissenses auf der (Möglichkeit) eines intrakulturellen Dissenses basiert, gleich, ob dieser wiederum ein Dissens verschiedener kultureller Gruppen untereinander oder der von Individuen in sich selbst ist. Denn bei Montesquieu werden die der fremden Kultur unterstellten Werte und Normen zur Kritik derer der eigenen Kultur funktionalisiert – auch in der Folge wird ethnohistorisches kW immer wieder zu vergleichbaren Zwecken verwendet werden. Anders formuliert: Es ist allein schon signifikant, daß überhaupt ethnohistorisches kW über Normen anderer Kulturen zu einem zu lösenden Problem des Status kulturspezifischer Normen führt; solches Wissen existierte, wenn auch in geringerem Umfang, schon vor dem 18. Jahrhundert, ohne ein Problem auszulösen. Daß dieses kW jetzt überhaupt zu einem theoretischen Problem führt, ist Indikator, wo nicht gar einer potentiellen Krise der Normen, so doch zumindest einer latenten Krise der Normbegründungen und also Indikator einer Ablösung des Normproblems
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Die verbleibenden Restprobleme der Differenz verschiedener Normsysteme werden durch die Konstrukte einer Geschichtsphilosophie gelöst, vgl. vom Vf. in diesem Band: Friedrich Maximilian Klingers Romane und die Philosophie der (Spät-)Aufklärung (1990), S. 129–170; Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (17701830). Mit dem Beispiel der optischen Codierung von Erkenntnisprozessen (1984), S. 173–193. Siehe ferner Müller 1992.
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vom theologischen Bereich. Denn solange die theologische Argumentation zum Normenkomplex unproblematisierter Bestandteil des kW ist, kann keine solche Krise –weder eine solche der Normbegründungen noch gar der Normen selbst – auftreten. Insofern nun aber die Phase offenbar ein Bedürfnis nach einer Normbegründung hat, die im kulturellen System als rational akzeptiert werden kann, werden damit potentiell zugleich auch die Norminhalte zur Diskussion freigegeben; denn während im orthodoxen System theologischer Normbegründung eine Norm, die als gottgewollt erachtet wird, nicht ohne Häresie in Frage gestellt werden kann, kann hingegen im System eines rationalen Begründungszwanges die Norm implizit oder explizit einfach dadurch in Frage gestellt werden, daß ihre rationale Begründbarkeit bezweifelt bzw. ein solcher Begründungsversuch widerlegt wird. Die Verschiebung von der theologischen zur rationalen Ableitung von Normen legitimiert implizit also zugleich ein normkritisches Potential; von der Qualität der rationalen Begründungen, d.h. davon, inwieweit die Kulturmitglieder bereit sind, gegebene Begründungsversuche als ausreichend rational und rational ausreichend zu akzeptieren, hängt also nach dieser Verschiebung auch die Verteidigbarkeit dieser Normen selbst ab. In Deutschland reicht nun die Reihe der rationalen Normbegründungsversuche von der Frühaufklärung bis zum Idealismus: von Wolff und Gottsched über Kant und Fichte bis zu Hegel; selbstverständlich wird auch die französisch- oder englischsprachige Theorie (wie auch die Literatur) rezipiert, sei es im Original, sei es in Übersetzung – nach Ausweis etwa des Goedeke bleibt kaum ein französischer oder englischer, literarischer oder theoretischer Text von einiger Relevanz unübersetzt. An der auffälligen Vielfältigkeit der Versuche rationaler Normableitung ließen sich unschwer zwei zentrale Aspekte dieser Normproblematik demonstrieren, die ich hier nur nennen kann. Daß der Versuch rationaler Ableitung immer erneut unternommen wird, belegt zum einen nicht nur die Relevanz des Problems, sondern vor allem das implizite Eingeständnis der Ungelöstheit des Problems: des Fehlens einer wirklich zwingenden, d.h. kulturell befriedigenden Ableitung. Zum anderen zeigen diese Versuche trotz unterschiedlichster ideologischer Provenienz zumindest in bestimmten Bereichen, etwa dem hier relevanten der Normen des familiären und des sexuellen Verhaltens eine auffällige Identität der Normen, ob es sich nun um die eher deistische Argumentation Wolffs oder Gottscheds oder die eher christliche Gellerts, um den Skeptiker Hume oder den Atheisten d’Holbach handelt. Die Tendenz des Umgangs mit dem vorgefundenen Normensystem erscheint, grob gesprochen, als die einer Konstanterhaltung vorgefundener Normen – soweit diese nicht mit zentralen aufklärungsspezifischen Normen kollidieren, d.h. mit solchen Normen, die aus den fundamentalen Postulaten der Aufklärung bzw. ihres im jeweiligen Zeitpunkt erreichten Entwicklungsstandes (denn die Aufklärung ist von ihren eigenen Prämissen her notwendig ein dynamisches, sich wandelndes System) resultieren. Die elementaren Normen des familiären und sexuellen Bereichs werden jedenfalls weitgehend konstant erhalten; wie groß das Bedürfnis nach solcher Konstanz ist, demonstriert sich auch darin, daß die offenkundige Schwäche der rationalen Ableitung dieser Normen etwa seit
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der Jahrhundertmitte durch zusätzliche und andersartige Begründungsversuche aus dem Bereich der Medizin zu kompensieren versucht wird, die sich in den medizinischen ›Anthropologien‹ und ›Diätetiken‹ der GZ, spätaufklärerisch systematisiert, fortsetzen. Die Medizin tritt in Funktionen der Theologie ein, nur daß sie, wo diese mit dem Seelenheil argumentierte, mit dem physischen Heil argumentiert und die Sexualnormen der Phase nicht durch die Amoralität der Normverletzung, sondern durch deren Gesundheitsschädlichkeit zu verteidigen sucht. Soweit es in (philosophischer oder medizinischer) Theorie oder Literatur der Phase Abweichungen von dieser Regel als Konstanz der familiären und sexuellen Nonnen gibt, sind sie nur ein Beleg dafür, wie schlecht es mit der rationalen Begründbarkeit dieser Normen im Rahmen des Denksystems der Phase bestellt ist und wie leicht im Prinzip eine abweichende Regelung dieser Sachverhalte im Rahmen eben dieses Denksystems gedacht werden kann, und beides zusammen wiederum belegt, wie groß das Bedürfnis nach Konstanz dieser Normen sein muß, wenn sie dennoch aufrechterhalten werden. Solche Konstanterhaltung sozial elementarer Normen kann natürlich auch eine taktisch-strategische Funktion erfüllen: Diese philosophische Moral empfiehlt sich den staatlichen Instanzen, deren ihrerseits beginnende Emanzipation aus der theologischen Vormundschaft sich schon im ›Westfälischen Frieden‹ (1648) symbolisch manifestiert hatte, als ideologisch neutrale Moral mit Universalitätsanspruch, d.h. als Moral, die den Bedürfnissen eines tendenziell ideologisch pluralistischen, modernen Staates entgegenkommt, indem sie scheinbar allgemeinverbindliche Normrechtfertigungen bietet und zugleich die Normen konstant hält. Wolff 1720 versäumt denn auch nicht, anzumerken, daß seine Deduktion der Moral aus der menschlichen Vernunft auch für Atheisten zwingend sei. Doch kann die Tendenz zur Normkonstanz nicht auf eine solche intendierte Funktion reduziert werden, da diese Tendenz sich auch in solchen Texten und bei solchen Autoren zeigt, die sich in anderer Hinsicht, etwa im politischen oder im ökonomischen Bereich, durchaus mit den Positionen der staatlichen Macht anlegen. Wenn das 18. Jahrhundert in der Spätaufklärung – etwa bei Condorcet 1795 oder bei Jenisch 1800 – auf den Aufklärungsprozeß zurückblickt, hat es sich, nicht zuletzt und zu Recht, relevante Veränderungen in Rechtstheorie, Rechtskodifikation, Rechtspraxis als Leistung angerechnet; in den Transformationen des Jahrhunderts spielt in der Tat der juristische Komplex eine entscheidende Rolle. Aus den juristischen und/oder philosophischen Diskussionen über das Recht hebe ich einige zentrale Dimensionen hervor, deren einzelne Aspekte zwar vielfach zunächst unabhängig voneinander diskutiert werden, sich aber im Verlaufe der Phase allmählich zu einem kohärenten System auf der Basis gemeinsamer Denkprämissen konstituieren, das Rechtstheorie und Gesetzgebung der Spätaufklärung in konsistenter Form zu artikulieren versuchen. Es geht um (1) die Überprüfung der vorgefundenen juristischen Normen und gegebenenfalls deren Tilgung oder Ersetzung. Ein prominentes Beispiel liefert schon in der Vorphase der Aufklärung Thomasius, wenn er das Recht von zwei spezifisch theologischen Normkomplexen, den Delikten der Ketzerei und der Hexerei, zu befreien sucht (An Haeresis sit crimen, 1697; Theses de crimine magiae,
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1702) – ein Prozeß, der in der spätaufklärerischen Gesetzgebung abgeschlossen wird und seinerseits in den Prozeß der Ablösung auch des Rechts von der Theologie gehört. Korreliert mit dieser Normüberprüfung ist (2) die Neubegründung der für juristisch relevant erachteten Normen. Ich erinnere nur daran, daß auch im juristischen Bereich der Versuch einer Naturalisierung der Normen im Konzept des schon dem 17. Jahrhundert relevanten ›Naturrechts‹ von Bedeutung ist. Von der Art der rationalen Normbegründung hängt nun aber nicht nur ab, welche Verhaltensweisen als Normverletzungen klassifiziert werden, sondern auch, welcher Rang dem jeweiligen Vergehen zugeschrieben wird. Damit aber wiederum sind korreliert zwei auch untereinander korrelierte Komplexe, nämlich (3) die Festlegung von Strafzweck und Strafmaß. Da nun das alte Rechtsverfahren unter seinen Methoden der ›Wahrheitsfindung‹ auch solche aufzuweisen hat, die im neuen Denken schon selbst als Strafen erscheinen – z.B. etwa die noch in der österreichischen Gesetzgebung der Jahrhundertmitte selbstverständliche Folter – und da die veränderte Konzeption des Menschen und des Staatsbürgers zu neuen Ansprüchen des Bürgers gegenüber der Justiz führt, tangieren die Veränderungen notwendig auch (4) das Prozeß- und Verfahrensrecht im Zivil- wie im Kriminalprozeß. Alle genannten Transformationen hängen aber notwendig mit den Veränderungen zusammen, die (5) die neuen Konzeptionen des Staatsrechts bzw. der politischen Philosophie ausmachen und Funktionen und dementsprechend Aufgaben – Pflichten und Rechte – des Staates neu bestimmen und seine Relationen zu seinen Bürgern regeln. Diese Konzeptionen ihrerseits wandeln sich aber in Korrelation mit bzw. in Abhängigkeit von den anthropologischen Konzeptionen der Aufklärung überhaupt. Der Rechtskomplex hat also eine zentrale Position im Prozeß der Aufklärung, indem der Wandel des Rechts sowohl Mittel zur Durchsetzung als auch Indikator des Grades der Durchsetzung von ›Aufklärung‹ ist: das Denken der Aufklärung zentriert sich um eine neue Anthropologie, und von der Art der Anthropologie hängt wiederum die Art der Konzeption des Rechts ab. Alle diese Transformationen manifestieren sich nun in unterschiedlichem Grade der Konsequenz in den spätaufklärerischen Gesetzeskodifikationen, die seit den 90er Jahren in rascher Folge erscheinen: 1794: 1803: 1804:
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), Berlin Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey=Übertretungen (GBV), Wien Code Civil (CC), Paris
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Code Penal (CP), Paris4 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB), Wien Strafgesezbuch für das Königreich Baiern (StGB), München Anmerkungen zum Strafgesezbuch für das Königreich Baiern.5
Vor diesen umfassenden Neusystematisierungen des Rechts war im Bereich des Strafrechts weithin noch immer die peinlich gerichts ordnung (dt.: PGO; lat.: CCC) Karls V.von 1533 überregionaler Bezugs- und Orientierungspunkt, die denn auch noch in der GZ diskutiert wird.6 Die veränderten Rechtskonzeptionen manifestieren sich aber schon lange vor den Neukodifikationen, in denen nur ein langer Diskussionsprozeß seinen vorläufigen Abschluß findet, in einer veränderten Rechtspraxis (usus fori), die das geltende Recht zugunsten des Angeklagten uminterpretiert oder auf seine Anwendung verzichtet. Eben deshalb, weil sie nur schon vorgefundene Einstellungsveränderungen absegnen, können auch diese relativ späten Gesetzgebungen als Bezugspunkt für die Literatur der GZ verwendet werden. Eschenbach beschreibt etwa den Umgang der Juristen mit der PGO am Beispiel der (hier relevanten) Sexualdelikte: [1] Quod litteram legis derelinquant, nemo vitio vertet, qui methodum ac rationem, Constitutionem Criminalem Carolinam interpretandi, perspectam habet: iustum interim semper interpretationis restrictivae vel extensivae fundamentum adsit, necesse est, nec sanctiones, quae displicent, pro lubitu negligere fas est. In hoc fundamentum si ulterius inquiramus, ubique usus fori eam in rem allegatus reperitur. (1787, S. 4)7 (Daß sie den Wortlaut des Gesetzes verlassen, wird niemand vorwerfen, der Methode und Grundlegung der Interpretation der CCC erkannt hat: Indessen ist es doch immer notwendig, daß eine Grundlage restriktiver oder extensiver Interpretation gegeben sei, und es ist nicht Recht, Strafen, die mißfallen, nach Belieben zu vernachlässigen. Wenn wir diese Grundlage weiter untersuchen, so findet man überall in dieser Sache die Gerichtspraxis angeführt.)
Eine solche veränderte Rechtspraxis gegenüber der PGO vermerkt auch Grolman: [2] Verborgene Unzuchtssünden läßt man gern in ihrer Verborgenheit vergraben, um nicht durch Untersuchung selbst polizeylich nachtheilig zu wirken (1797, S. 423) […] [und] veranlaßt daher nur dann Official-Untersuchungen gegen Sodomiten an, wenn das erregte öffentliche Aufsehen dazu nöthigt (1797, S. 446).
Die Deliktgruppe, um die es dabei geht, ist in meinem Kontext von großem Interesse: die Gruppe jener Sexualdelikte, die das 18. Jahrhundert unter den Begriff der ›Sodomie‹ subsumiert und die die PGO als »vnkeusch [...] wider die natur«
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5 6 7
Die Einbeziehung der beiden Napoleonischen Gesetze legitimiert sich dadurch, daß sie in der GZ in den französisch besetzten westdeutschen Gebieten gegolten haben. Im Folgenden zitiert als Anm. Vgl. z.B. Eschenbach 1787; Grolman 1797, ²1805, ³1818. Hervorhebungen in Zitaten stammen, wenn nichts anderes angemerkt ist, von mir.
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(§ 116) kannte und mit der Todesstrafe durch Verbrennen sanktionierte, also ein traditionell sehr hochrangiges Delikt; noch 1772 hat sich der Marquis de Sade einem entsprechenden Urteil nur durch rechtzeitige Flucht entzogen. Ein abschließender Konsens über den Umfang der unter ›Sodomie‹ zu subsumierenden Delikte scheint sich im 18. Jahrhundert nicht gebildet zu haben; doch zeichnet sich bei Eschenbach oder Grolman deutlich eine Tendenz der Systematisierungsversuche ab: [3] Alle Fleischesverbrechen, durch welche der Geschlechtstrieb auf eine widernatürliche Weise befriedigt wird, bilden das Verbrechen der Sodomie. Darunter ist begriffen 1. der widernatürliche Beyschlaf mit einem Vieh (sodomia ratione generis), 2. der widernatürliche Beyschlaf einer Mannsperson mit einer Mannsperson (sodomia ratione sexus, paederastia. Knabenschänderey), 3. die Wollustbefriedigung mit einem Weibe auf widernatürliche Art (sodomia ratione ordinis naturae), 4. die verschiedenerley Arten der Selbstbefleckung (onania). (1797, S. 445, § 397)
Potentiell sind diesem Deliktkomplex noch weitere Sexualakte zuzuordnen: Eschenbach diskutiert etwa den von ihm ausgeschlossenen concubitus cum mortua (1787, S. 13); Eschenbach und Grolman diskutieren die weibliche Homosexualität, die Grolman eindeutig aus der Sodomie ausschließt und Eschenbach nur mit der Einschränkung gelten läßt, »siquidem casus dabilis habeatur« (1787, S. 14), was sich nur unter der Annahme erklärt, daß beiden der Einsatz des männlichen Gliedes als entscheidend gilt. Die Menge von Sexualpraktiken, die man um den unscharfen Begriff der Sodomie herum gruppiert und diesem teils subsumiert, teils an die Seite stellt, definiert sich also dadurch, daß der Sexualakt (1) kulturell als widernatürlich gilt, weil der angestrebte Samenerguß nicht in der Vagina als dem einzig kulturell als zulässig und ›natürlich‹ erachteten Organ stattfindet, und (2) grundsätzlich durch Nicht-Fruchtbarkeit charakterisiert ist, obwohl ein Samenerguß angestrebt wird. Somit aber handelt es sich um Verhaltensweisen, die höchstrangige ideologische Werte sowohl der theologischen als auch der philosophischen Moral in Frage stellen. Denn die orthodoxe Theologie hatte sowohl das Verbot als auch die (Todes-)Strafe solcher Sexualität, wenn auch unter einigen exegetischen Verrenkungen, aus dem mosaischen Recht abgeleitet und damit unmittelbar auf göttlichen Willen zurückgeführt. Was die Theologie betrifft, so merkt Eschenbach freilich an, daß einige (aufgeklärte) Juristen und Theologen die Verbindlichkeit der mosaischen Gesetze für die Gegenwart bestritten hätten: [4] Non dari leges positivas divinas universales, nec nos legibus Mosaicis amplius teneri, probatum dederunt plures, ex quibus Hannesen [...], Michaelis [...], nominandi sunt. (1787, S. 6)
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(Daß keine göttlichen positiven Gesetze universeller Verbindlichkeit gegeben und daß wir nicht mehr durch die mosaischen Gesetze gebunden seien, haben mehrere Autoren als bewiesen ausgegeben, unter denen Hannesen [...], Michaelis [...], zu nennen sind.)
Aber auch die Aufklärung arbeitet ja mit dem Konzept aus der ›Natur‹ ableitbarer Normen, verwirft solche Sexualpraktiken und legitimiert die Sexualität in der Ehe, d.h. der einzigen Form, in der sie sie offiziell zuläßt, durch den grundsätzlichen Willen zur Fruchtbarkeit; nur Condorcet scheint sich für empfängnisverhütende Praktiken ausgesprochen zu haben,8 und die Mediziner der Aufklärung wissen in den erstaunlichsten Theorien die Gefährlichkeit des Samenergusses außerhalb ehelich-fruchtbarer Absichten zu begründen.9 Nur eine einzige Textgruppe, die – trotz ihres Materialreichtums zu Einstellungen und Ideologien im Bereiche der Sexualität – von den neueren sozialgeschichtlichen Arbeiten zur Sexualität noch nicht ausgewertet worden zu sein scheint, zeigt hier massive Abweichungen; es handelt sich um eine Teilgruppe aus der umfänglichen erotischen Literatur des Jahrhunderts, die ich hier als ›philosophische Pornographie‹ benennen will;10 sie scheint ein im wesentlichen französisches, etwa seit der Jahrhundertmitte, z.B. mit der dem Marquis d’Argens zugeschriebenen Thérèse Philosphe (1748) einsetzendes und in den Werken des Marquis de Sade den Gipfel seiner Radikalität erreichendes Phänomen,11 das sich dadurch charakterisiert, daß kulturell extrem hochrangige Sexualnormen gehäuft verletzt und dementsprechend etwa Oral- oder Analverkehr, Homosexualität, Inzest, Empfängnisverhütung usw. nicht nur dargestellt, sondern zudem in theoretischen Diskursen gerechtfertigt werden, insofern ihre ›Widernatürlichkeit‹ bestritten und ihre Zulässigkeit behauptet wird. Diese Textgruppe macht zumindest deutlich, wie schwer in der Epoche eine rationale Begründung der Sexualnormen ist, die man gleichwohl aufrecht erhält. Schon Eschenbach und Grolman plädieren nun für eine extreme Reduktion des Strafmaßes für diese Delikte, und Grolman kommentiert: [5] Es ist nicht zu leugnen, daß der Gesichtspunkt, unter welchen man itzt allgemein die Fleischesverbrechen stellt, wenn man sie als bloße Polizeyverbrechen behandelt, keineswegs derjenige ist, aus welchem sie von den Verfassern unserer [...] Gesetze [PGO usw.] betrachtet wurden. (1797, S. 422)
Grolman läßt gleichwohl keinen Zweifel an seiner strikten moralischen Verurteilung solcher Verhaltensweisen und spricht daher von der
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Flandrin 1976, S. 220f. Um die Anmerkungen nicht mit der Aufzählung von Belegen zu belasten, verweise ich hier auf die medizinhistorische Dissertation von Wernz 1993. Siehe hierzu Vf.: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung: Der philosophisch-pornographische Roman, in diesem Band S. 433–483. Von den im Anhang genannten Texten gehören hierher: Anonym 1742, Mirabeau 1786, Sade 1791, Nerciat 1792, Sade 1795, Sade 1797, Restif 1798, nur bedingt auch Restif 1775.
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[6] größtentheils radicale[n] Verworfenheit, welche bey Subjecten, die sich zu solchen Handlungen bestimmen können, vorausgesetzt werden muß, oder nachfolgt [...]. (1797, S. 446)
Dennoch klassifiziert er selbst solche Akte als »bloße Polizeyverbrechen« und darunter versteht er [7] diejenigen Handlungen, w e l c h e a n s i c h e n t w e d e r g a r k e i n e , o d e r d o c h k e i n e s t r a f b a r e Verletzung der ursprünglichen, oder erworbenen Rechte der Einzelnen, des Publicums, oder des Staates enthalten, welche aber dennoch, s e y e s m i t p o l i z e y l i c h e r , o d e r m i t p e i n l i c h e r S t r a f e , darum bedroht worden sind, weil man die Unterdrückung derselben, ihres nachtheiligen Einflusses auf die bürgerliche Verbindung, und dadurch mittelbar auf die Erhaltung des Rechtszustandes wegen, selbst als eine nothwendige polizeyliche Einrichtung betrachtet hat. (1797, S. 411; Hervorh. i.O.)
Zu den »Polizeyverbrechen« zählt Grolman nicht nur die Sodomie, sondern auch den Inzest: Normen geradezu sakralen Charakters sind also, obwohl sie als moralische Normen weiterhin anerkannt werden, in der juristischen Perspektive zu Vergehen geworden, deren Deliktcharakter kaum rational gerechtfertigt werden kann. Ähnliches ist auch bei Eschenbach zu beobachten: wenn es etwa um die Frage des Strafmaßes für den Analverkehr (venus prae-postera) mit dem Manne oder mit der Frau geht, verweist er auf die unabgeschlossene Diskussion der Mediziner darüber, [8] num haec actio personae succubae sanitati innoxia sit. (1787, S. 14)
Was sich hier abzeichnet, ist die Ablösung des Rechtes nicht mehr nur von der Theologie, sondern auch von der Moral überhaupt. Das Recht versteht sich nicht mehr als Instanz des Vollzugs göttlichen Willens, es versteht sich nicht einmal mehr als Garant der Erzwingung von Moralität. Das Recht entzieht sich tendenziell den Problemen rationaler Normableitung, an denen das Jahrhundert laboriert, indem es die juristischen Normen auf dem Schadensprinzip begründet, so daß, im Prinzip, strafbar nur wäre, wodurch jemand geschädigt wird, was zugleich das neue Rechtsprinzip unterstellter Rechte des Menschen und Bürgers voraussetzt. Deutlicher ist schon früh das Schadensprinzip bei Hommel, dem Kommentator von Beccarias berühmten Dei delitti e delle pene (1764), formuliert; Eschenbach zitiert ihn: [9] Stuprum autem, quod volenti fit, sodomia, ebrietas, incestus, dardanariatus, fornicatio, lenocinium, concubitus cum Judaea, ambitus, simonia, concubinatus, onaniae peccatum, aut si vidua intra annum luctus nubat, turpitudincs sunt, non crimina, quia nemo his factis laeditur. Nempe quae pudor vetat, iniusta dici non debent, uti e contrario iusta quaedam sunt nec decora tamen. [...]. Eximamus turpia facta pariter atque theologica peccata criminum tabulis. (1787, S. 10) (Entehrung aber mit Zustimmung der Partnerin, Sodomie, Trunkenheit, Inzest, Kornwucher, Hurerei, Kuppelei, Beischlaf mit einer Jüdin, Amtserschieichung, Simonie, Konkubinat, die Sünde der Onanie, oder wenn eine Witwe innerhalb des Trauerjahres heiratet, sind Schändlichkeiten, nicht aber Verbrechen, weil niemand durch diese Taten verletzt wird. Was freilich die Scham verbietet, darf nicht schon rechtswidrig genannt werden, wie umgekehrt manches rechtmäßig, aber gleichwohl nicht eben eine Zierde ist.
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Nehmen wir schändliches Handeln also ebenso wie die theologischen Sünden aus der Liste der Verbrechen heraus.)
Nach Hommel, der darin konsequenter als Eschenbach und Grolman ist, wären somit aufgrund des Schadensprinzips alle Sexualdelikte aus dem Gesetz zu streichen, inklusive der Sodomie und des Inzests – ebenso wie die rein theologischen Vergehen. Hommels radikales Postulat erfährt in den 90er Jahren zwei bedeutende theoretische Systematisierungen, zum einen bei Wilhelm v. Humboldt 1792 in einer Schrift, die freilich ungedruckt bleibt und nur in Auszügen in der Berlinischen Monatsschrift erscheinen kann,12 weil Probleme mit der Zensur auftreten, zum anderen bei Feuerbach 1796. Feuerbach trennt explizit das positive Recht (das Recht der Gesetzeskodifikationen) sowohl vom Naturrecht – das er aus einem Katalog der Pflichten in einen Katalog der Rechte des Menschen uminterpretiert, wobei er sich, im Jahre 1796, d.h. nach der terreur, nicht scheut, positiv auf die Französische Revolution Bezug zu nehmen (vgl. etwa S. 4) – als auch von der Moral: [10] A u s d e m S i t t e n g e s e t z k a n n d a h e r w o h l d a s r e c h t e , aber nicht das R e c h t , abgeleitet werden [..]. (1796, S. 115; Hervorh. i.O.)
Indem er Rechte des Menschen voraussetzt und dem positiven Recht das Schadensprinzip zugrundelegt, gelangt er somit zu der Konsequenz: [11] Ich bemerke weiter, wenn ich über die Rechte reflektiere, daß diese rechtliche Freiheit nicht allein Rechte zu moralisch-möglichen, sondern auch zu moralischunmöglichen Handlungen befaßt. Mein Bewußtseyn sagt mir, daß ich zu allen dem ein Recht habe, wodurch ich die Rechte eines andern nicht verletze, daß ich mithin auch zu unmoralischen Handlungen ein Recht habe, sobald ich dadurch ein anderes vernünftiges Wesen nicht in seinen Rechten kränke. (1796, S. 87)
Die Funktion des Staates, von deren Interpretation die Rechtsauffassung abhängt, ist hier also eindeutig nicht die eines Wahrers ideologisch-moralischer Ansprüche gegen seine Bürger, die es zu kontrollieren gilt, sondern die eines Wahrers ihrer Rechte für seine Bürger. Wie sehr die neuen Rechtskonzeptionen mit einer radikalen Transformation der Anthropologie und – in Funktion dieser Veränderung – der Konzeption des Staates verknüpft sind, wird noch deutlicher in Humboldts liberalistischem Staatsprogramm, das schon im Titel die Absicht ausspricht, dem Staat zugunsten seiner Bürger »Grenzen« zu ziehen. Für Humboldt ergibt sich die Funktion des Staates erst sekundär aus dem, was 18. Jahrhundert und GZ die »Bestimmung des Menschen« nennen, d.h. aus einer anthropologischen Annahme: [12] Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und
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Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. (Erstdruck Breslau 1851. Teildruck unter dem Titel: Ueber die Sorgfalt des Staats für die Sicherheit gegen auswärtige Feinde. In: Berlinische Monatsschrift 1792, II, S. 346–354).
386
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus. (1967, S. 22)
Den allgemein-aufklärerischen, politisch und anthropologisch begründeten Forderungen nach Menschenrechten und staatlich unkontrollierten Handlungsfreiräumen gibt Humboldt also eine zusätzliche Begründung, indem er sie als Bedingung der Möglichkeit von ›Bildung‹ im goethezeitspezifischen Sinne interpretiert, wobei in dieser von ihm hergestellten Korrelation auch das Bildungskonzept (sonst zumindest nicht so deutlich erkennbare) politische Implikationen erhält. Das GZ-Konzept von ›Bildung‹, das den allgemein aufklärerischen Begriff der ›Entwicklung‹ spezifiziert, ist in der GZ sowohl auf den Bereich der Natur wie auf den der Geschichte, sowohl auf die individuelle wie auf die kollektive Geschichte des Menschen anwendbar. Für den Menschen setzt Bildung als Ziel die autonome Person in subjektspezifischer Selbstverwirklichung, d.h. also jene ›Mündigkeit‹, auf die hin die Spätaufklärung seit Kant 1784 ihren eigenen Entwicklungsprozeß hin interpretiert und die die Freiheit von staatlicher Überwachung sowohl möglich als auch notwendig macht. Im Gegensatz zur Frühaufklärung verlangt denn Humboldt auch immer wieder den staatsfreien Privatraum: die »Freiheit des Privatlebens« (z.B. 1967, S. 21). Explizit vollzieht er noch einmal die Abkoppelung von Theologie und Moral, wobei er sich implizit, wie Feuerbach explizit, auf die Moralitätskonzeption Kants stützt: [13] So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei der moralischen Vervollkommung sind, so wenig sind sie doch auf der andren Seite unzertrennlich damit verbunden. (1967, S. 80) [14] Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller und unverträglich mit befohlener und auf Autorität geglaubter Religion. (1967, S. 88)
Und ebenso deutlich ist bei ihm die Abkoppelung von Moral und Recht, die wiederum nicht zuletzt an den Sexualnormen exemplifiziert wird: [15] Hingegen Handlungen, welche sich allein auf den Handelnden beziehen oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen, zu bestrafen, verbieten eben die Grundsätze, welche dieselben nicht einmal einzuschränken erlauben; und es dürfte daher nicht nur keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Notzucht ausgenommen), sie möchten Ärgernis geben oder nicht, unternommener Selbstmord usf. bestraft werden, sondern sogar die Ermordung eines andren mit Bewilligung desselben müßte ungestraft bleiben, wenn nicht in diesem letzteren Falle die zu leichte Möglichkeit eines gefährlichen Mißbrauchs ein Strafgesetz notwendig machte. (1967, S. 154)
Potentiell und implizit legitimiert er sogar empfängnisverhütende Sexualpraktiken; unter bestimmten Bedingungen erhalte die Sexualität [16] unnatürliche Richtungen. Bei diesem letzteren Ausdruck kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf gewisse einseitige Beurteilungen noch zu bemerken, daß nicht unnatürlich heißen muß, was nicht gerade diesen oder jenen Zweck der Natur
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
387
erfüllt, sondern was den allgemeinen Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, daß sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde [...]. (1967, S. 111)
Die konsequenten Vorschläge der Rechtsableitung aus dem Schadensprinzip, wie sie etwa Hommel, Humboldt, Feuerbach gemacht haben, werden selbst in der spätaufklärerischen Gesetzgebung nur partiell realisiert: Das preußische ALR und das österreichische GBV behalten die Delikte um den Sodomiebegriff herum bei, wenngleich sie gegenüber der PGO das Strafmaß drastisch reduzieren (ALR, 2. Theil, 20. Titel, § 1070): »ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe« und Ortsverbannung; GBV, § 114: »Kerker zwischen sechs Monathen und einem Jahre«), so daß das Strafmaß sich im ALR in etwa im selben Spielraum wie das für Inzestfälle bewegt (vgl. 2.2.), im GBV (derselbe §!) sogar damit identisch ist und in beiden Fällen erheblich unter dem Strafmaß etwa für Vergewaltigung (»Nothzucht« je nach Umständen: im ALR, ebda., §§ 1048–1053: zwischen 3 und 10 Jahren Zuchthaus; im GBV, § 111: 5–20 Jahre »schwerer Kerker«) liegt. In ALR und GBV haben sich also mindestens partiell das Schadensprinzip und eine dementsprechende Desakralisierung der Deliktklassen ›Sodomie‹ und ›Inzest‹ durchgesetzt. Am konsequentesten verfährt das bayerische StGB, dessen 1801 gedruckter Entwurf (von G.A. Kleinschrod) ab 1804 Feuerbach zur Überarbeitung übergeben wurde (Anm. 1813, Bd. I, S. 9ff.): es behält zwar den Inzest bei, streicht aber die Sodomiedelikte mit expliziter Begründung: [17] Die älteren Geseze haben gar oft das Unmoralische mit dem Rechtswidrigen verwechselt, und die Immoralität der Handlungen zum Maßstab angenommen, wonach sie den Charakter der Handlung und ihre Strafe bestimmt haben. Niemand wird Hexerei, Sodomie, Unzucht, Unglauben, Ketzerei, Blasphemie u. dgl. billigen oder für etwas Erlaubtes ansehen; allein dergleichen Gegenstände liegen solange, als damit keine Verletzung der Rechte des Staats oder eines Privaten verbunden ist, außer der Sphäre eines Strafgesezbuches; soferne aber eine solche Handlung Rechte angreift, oder äußere Verbindlichkeiten verletzt, mußte sie auch eine Rolle im Strafkodex finden. (Anm. 1814, Bd. I, S. 25)
Wiederum finden wir die auffällige Korrelation von Sexualdelikten einerseits, theologischen Delikten andererseits. In den Anmerkungen zum Art. 186 des StGB (zu »Nothzucht«, Strafe: 4–16 Jahre Zuchthaus) wird nochmals betont: [18] Selbstbefleckung, Sodomie, Bestialität, der außereheliche freiwillige Beischlaf, sind schwere Überschreitungen der moralischen Gebote, aber zur Sphäre der äußeren Gesezgebung gehören sie nicht [...]. (Anm. 1813, Bd. II, S. 59)
Wie also in der Frühaufklärung die Dissoziation von theologisch begründeten Geboten und philosophischer Moral sich vollzieht, wird in der Spätaufklärung zumindest tendenziell die Dissoziation von Moral und Recht vollzogen (die das 19. Jahrhundert dann wohl partiell rückgängig macht). Dieser zweite Prozeß findet auch unter den ›Aufgeklärten‹ nicht nur Zustimmung. Wie ihn der Theologe Jenisch lobt –
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
388
[19] daß so genannte himmelschreyende Sünden der Unzucht nicht mehr mit dem Rechtsschwerdt bestraft werden, gehört auch zu den Vorzügen der neueren Criminalgesetzgebung: und die Sittlichkeit hat durch diese Gelindigkeit gewiß nichts verloren. Offenbar leitet sich die Grausamkeit gegen die Sünden der Fleischeslust nur aus der mosaischen Religion und aus mönchischen Dogmen ab (Jenisch 1800, Bd. I, S. 168)
– so beklagt ihn umgekehrt, insbesondere gegen Feuerbach und das StGB gerichtet, der Jurist Mittermaier: [20] Es kamen aber auch durch solche Versuche gewisse Modeansichten in die Jurisprudenz, indem man sich daran gewöhnte, solche Handlungen, z.B. Sodomie, Kuppelei als Polizeivergehen, d.h. als sehr geringfügige Übertreibungen zu betrachten, und so zuletzt ihre Straflosigkeit in den Strafgesetzbüchern bewirkte. [...]. Zu dieser Ansicht mußte man kommen, sobald man nur den Gesichtspunkt verletzter Rechte bei Verbrechen hervorhob. [...] Das Gesetz selbst demoralisiert die Nation und lehrt sie Handlungen für gleichgültig ansehen, indem es sie nicht für wichtig genug anerkennt, sie mit Strafe zu verpönen. (Mittermaier 1819, S. 125f.)
Aufgrund dieser – sicher schon vor der Aufklärung (spätestens im 17. Jahrhundert) einsetzenden, in ihr aber bewußt und explizit gewordenen und dadurch ebenso beschleunigten wie durchgesetzten – Differenzierungsprozesse müssen wir also für die GZ mit einem komplexen Normensystem rechnen, wobei dessen Teilsysteme zwar sicherlich in sehr großem Umfang gemeinsame Durchschnitte bilden, aber auch dort, wo sie Normen teilen, sich immer noch durch den jeweiligen hierarchischen Rang einer gegebenen Norm unterscheiden können. Sowohl von den praktischen Folgen wie vom ideologischen Rang her übernimmt das juristische Teilsystem dabei eine Leitfunktion; zumindest wird sie ihm von konservativen Autoren wie Mittermaier zugeschrieben. Dieses GZ-System wird sich etwa so schematisieren lassen: [21] Koexistierende Normensysteme in der GZ:
d a) Theoretisch-
c Orthodoxe(s) theologische(s) Normensystem(e) mit Anspruch auf biblische Ableitbarkeit
philosophische Moral(en) der ›Aufgeklärten‹ mit Anspruch auf rationale Ableitbarkeit
d b) (Gruppenspezifische) praktizierte Normensysteme der verschiedenen sozialen Gruppen.
e Juristische(s) Normensystem(e) des jeweiligen kodifizierten Rechts mit tendenziellen Anspruch auf Ableitbarkeit aus dem Schadensprinzip
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
389
2.2 Die rechtlichen Regelungen des Inzestkomplexes Zunächst muß nun zwischen verbotenen Ehen und strafbarer Sexualität unter kulturell als verwandt geltenden Personen unterschieden werden (und daher benötigen wir sowohl das Zivil- als auch das Kriminalrecht der GZ). Das kanonische Recht der Kirche hatte – nach ursprünglich weitergehenden Eheverboten – 1216 unter Innocenz III. die Eheverbote bis auf den vierten Grad der Verwandtschaft nach kanonischer Zählung eingeschränkt.13 Nach der kanonischen Zählung wird aber der Verwandtschaftsgrad zwischen X und Y ermittelt, indem alle Zeugungsakte zwischen X oder Y einerseits und dem ersten gemeinsamen Vorfahren andererseits gezählt werden, wobei die längere Abstammungsreihe zu wählen ist, d.h. etwa bei Nichte und Onkel von der Nichte auszugehen ist. Nach dieser Regelung ist also somit jede Ehe verboten, wenn beide Partner einen gemeinsamen Vorfahren haben, der für einen der Partner ein Ururgroßelternteil ist, d.h. das Eheverbot erstreckt sich auf Verwandtschaftsgrade, die wir nicht einmal mehr benennen können. Zu diesen Regelungen gehörte aber zugleich, als deren Abschwächung, die Möglichkeit einer Dispensation von Eheverboten; beides wird von der protestantischen Kirche übernommen, wobei sich die Dispensation im 18. Jahrhundert sogar auf den zweiten kanonischen Grad, d.h. auf Beziehungen vom Typ ›Onkel (Tante)/Nichte (Neffe)‹ oder ›Cousin/Cousine‹ erstrecken kann. Der Umfang der Eheverbote in den Gesetzeskodifikationen der GZ variiert erheblich und ist am ausgedehntesten im österreichischen ABGB; aber auch in diesem gehen die Eheverbote nicht über den zweiten Grad kanonischer Zählung hinaus, werden allerdings auch auf alle Verwandten des Partners symmetrisch ausgedehnt. Das preußische ALR tendiert am stärksten dazu, alle Ehen zuzulassen, bei denen im 18. Jahrhundert eine Dispensation von den kanonischen Verboten ausgesprochen werden konnte. Alle Gesetze weisen dabei einen invarianten Kern der Verbote auf; sie verbieten die Ehe (1) bei unmittelbarer biologischer Verwandtschaft zwischen (a) Eltern und Kindern bzw. Großeltern und Enkeln, (b) Geschwistern; (2) bei nicht-biologischer Beziehung, wenn einer der beiden Partner sozial die Rolle eines Elternäquivalents erfüllt, also bei Stiefeltern und Stiefkindern, wobei die Hinzufügung von Adoptiv- und Vormundschaftsbeziehungen im preußischen und bayerischen Recht nur konsequent ist.
——————— 13
Vgl. Schilling u. Sintenis 1834.
390
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Ich fasse die Eheverbote schematisch zusammen:14
[22] Gesetzliche Eheverbote für männliches Ego
——————— 14
Da im fraglichen Zeitraum in Bayern keine neue Zivilgesetzgebung entsteht, habe ich hier ersatzweise die Verbote des StGB eingesetzt.
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
391
Nicht in jedem Falle, wo die Ehe verboten ist, wird nun aber auch die sexuelle Aktivität gestraft; der Unterschied ist am deutlichsten in der österreichischen Gesetzgebung zu erkennen (vgl. ABGB und GBV). Nach dem Konsens aller Gesetze der GZ liegt eine strafbare Sexualität unter Verwandten im wesentlichen genau dann vor, wenn die Beziehung dem oben festgestellten invarianten Kern der Eheverbote angehört, so daß in den Gesetzen also implizit zwei qualitativ verschiedene Klassen von Inzestfällen unterschieden werden. [23] Strafmaßnahme für vollzogenen Inzest Gesetz
Inzesttyp
§
Strafmaß
ALR
(Groß-)Eltern + (Enkel-)Kinder
1039
(Groß-)Eltern: 3–5 Jahre Festung (Enkel-Kinder): ½–1 Jahr Zuchthaus (wenn über 18 Jahre, sonst straffrei) Stiefeltern: 2–4 Jahre Festung oder Zuchthaus Vormund: 1–2 Jahre Festung oder Zuchthaus 1–2 Jahre Festung oder Zuchthaus Maximal 6 Wochen Gefängnis
1040
Stiefeltern + Stiefkinder
1032
Vormund + Mündel
1037
Geschwister
1041
Uneheliche Verwandte generell
1042
GBV
›Blutschande‹ allgemein = (Groß-)Eltern + (Enkel-) Kinder Geschwister
114
½–1 Jahr Gefängnis
StGB
(Groß-)Eltern + (Enkel-)Kinder Stief-/ Pflege-Eltern + Stief-/ Pflegekinder Vormund + Mündel Geschwister (wenn ehelich)
206 207
2–6 Jahre Arbeitshaus Elternäquivalent: 1–4 Jahre Arbeitshaus
207
1–4 Jahre Arbeitshaus
CP
Inzest nicht als eigener Straftatbestand: abgedeckt nur durch »(Begünstigung von) Verführung«
334
Für Eltern und deren Äquivalente: 2–5 Jahre Gefängnis
Auch in der GZ-Literatur werden nun nur solche Beziehungen als inzestuös behandelt, die unter den invarianten Kern der Eheverbote fallen, wobei die Literatur zudem noch die weitere Einschränkung vornimmt, daß Großeltern–Enkel– Beziehungen nirgends relevant werden und damit der Inzest auf Beziehungen innerhalb der Kernfamilie (Eltern–Kinder, Geschwister) und die sozialen Rollenäquivalente vom Typ Stiefelter–Stiefkinder reduziert wird. Juristisch wie litera-
392
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
risch findet also eine enorme Reduktion der Extension von ›Inzest‹ statt; Grolman weist darauf hin, daß vor den neuen Kodifikationen im usus fori die Regeln des kanonischen Rechts galten, wobei das Strafmaß inzestuöser Sexualität davon abhing, ob »keine Dispensation« möglich war, ob sie »zwar möglicherweise« oder ob sie schließlich »unbedingt« erteilt worden wäre (1797, S. 443). Eine entsprechende Reduktion hat aber auch bei den Strafmaßen stattgefunden. Die PGO verwies auf andere – nicht spezifizierte (Grolman 1797, S. 442) – Gesetze (§ 117). Nach einer an sächsisches Recht anschließenden Interpretation des – wegen seiner Position zu den Hexenprozessen berüchtigten – Juristen Carpzov aus dem 17. Jahrhundert hätte gegolten: [24] bey der Blutschande in grader Linie die Strafe des Schwerts, sonst aber die Strafe der Fustigation [= Auspeitschung, M.T.], Relegation oder temporärer Freyheitsbeschränkung im Zuchthause oder bloßen Gefängnisse. (Grolman 1797, S. 442)
Als »allgemeine Ansichten« über das Strafmaß in der Gegenwart gibt Grolman für den Eltern–Kind–Inzest lebenslängliches Zuchthaus für den Vater, 4 bis 6 Jahre Zuchthaus für die Tochter, beim Geschwisterinzest 3 bis 4 Jahre Zuchthaus an (1797, S. 442f.). Man sieht also, daß dem gegenüber die GZ-Gesetze die Strafmaße nochmals erheblich reduzieren: Der Inzest wird also extensional eingeschränkt und hierarchisch abgestuft. Wie schon in der PGO (§§ 116f.) und bei Grolman 1797 (§§ 392ff., 397ff.), wo ›Sodomie‹ und ›Inzest‹ unmittelbar aufeinander folgen, sind beide auch im GBV korreliert und werden im selben Paragraphen mit demselben Strafmaß abgehandelt; im ALR erscheinen sie getrennt, wenn auch mit vergleichbaren Strafmaßen. Beide Deliktklassen erscheinen traditionell als Verletzung gleichartig – aus dem mosaischen Rechte als ›natürlich‹ – begründeter Normen. Das StGB läßt zwar die Sodomie ungestraft, nicht aber den Inzest. Ähnlich wie auch der CC konstruiert es gewaltsam den Inzest als Delikt nach dem Schadensprinzip (nach ebenwelchem Hommel konsequenterweise für seine Straffreiheit plädiert hatte, vgl. Zitat 9), indem es den generationsübergreifenden Inzest und seine sozialen Äquivalente grundsätzlich als Verführung der Kinder durch die Ranghöheren auffaßt und den Geschwisterinzest völlig willkürlich mit einer rein moralischen Argumentation hinzufügt: [25] Eltern und andere Adszendenten werden daher vom Geseze stets als Verführer betrachtet [...]. (Anm. 1813. II, S. 90) [26] Die nothwendige Rücksicht auf Reinigkeit der Sitten in den Familien foderte, die Unzucht unter leiblichen Geschwistern mit gleicher Strafe zu belegen [...]. (Anm. 1813, II, S. 92)
Der schon erwähnte Mittermaier hat – diesmal zu Recht – gegen diese gewaltsame Konstruktion protestiert (1819, S. 122ff.) und sie am Beispiel ad absurdum geführt: [27] Wenn nun [...] ein alter Mann ein junges, unerfahrenes, vielleicht im Kloster erzogenes Mädchen heiratet und der in den Künsten der Verführung gewandte liederliche Sohn dieses Mannes mit seiner jungen Stiefmutter, die er planmäßig verführte,
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
393
Blutschande treibt: wer ist von beiden strafbar? die Stiefmutter muß als Verführerin nach dem Gesetze präsumiert werden [...]. (1819, S. 124)
Doch ist die Willkür des StGB an dieser Stelle zumindest insofern signifikant, als sie den Rang des Inzesttabus in der GZ belegt: Leichter noch, scheint es, kann die Sodomie als der Inzest gestrichen werden.
3.
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit
3.1
Überblick über die statistischen Daten: Chronologische und typologische Verteilung der Fälle
Wenngleich inzestuöse Situationen (im Sinne der in Kapitel 1 gegebenen Definition) auch schon in der vorgoethezeitlichen (deutschen oder nichtdeutschen) Literatur des 18. Jahrhunderts nicht selten sind, erhalten sie doch in der goethezeitlichen Literatur quantitativ wie qualitativ einen neuen Status: quantitativ, insofern etwa 10% meines Korpus von GZ-Erzähltexten solche Situationen aufweisen (s. Literaturangaben – dazu kommen noch die Fälle aus der dramatischen Literatur); qualitativ, insofern dieser Situationstyp im Werke fast jedes prominenten Autors – z.B. bei Arnim, Brentano, Fouque, Goethe, E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Klinger, Lenz, Schiller, Tieck, Wieland – und bei vielen weniger bekannten Autoren auftritt (während es etwa für Sexualdelikte aus dem Umkreis der Sodomie kaum literarische Belege gibt). Die inzestuöse Situation kann in den Texten nun den Helden selbst, wie in Wielands Agathon, oder eine andere Figur betreffen, wie in Klingers Giafar; sie kann von einer Figur der dargestellten Welt selbst erlebt oder ihr nur in einer eingebetteten Erzählung mitgeteilt werden, wie in Tiecks Sternbald; sie kann, wie in Goethes Wilhelm Meister und den anderen bislang genannten Texten, nur eine Episode in der Gesamthandlung darstellen oder, wie in Müllners Incest, die Haupthandlung abgeben; sie kann, wie in der Regel, aus einem einzigen Falle bestehen oder aus einer ganzen Serie in mehreren Generationen, wie in Bornscheins Der Beichtstuhl, in E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels oder, außerhalb der Erzählliteratur, in Brentanos Romanzen vom Rosenkranz. Wie verschieden aber auch der jeweilige textinterne Status dieser Situation sein mag, so funktionieren doch alle diese Situationen nach einem gemeinsamen Modell, das sich von den Texten abstrahieren und als eine Menge von Regularitäten formulieren läßt, die die implizite Ordnung in Voraussetzungen, Verlauf, Folgen inzestuöser Situationen ausdrücken; die inzestuösen Situationen sind im übrigen nie statische Gegebenheiten der dargestellten Welt, sondern Element einer narrativen Sequenz, in deren Verlauf sie zustande kommen und wieder aufgelöst werden.
394
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Chronologisch verteilen sich die Texte mit (einer oder mehreren) inzestuösen Situationen nicht gleichmäßig über den Gesamtzeitraum der GZ, sondern sie nehmen in den 90er Jahren sprunghaft zu, um dann allmählich wieder abzunehmen. Die beiden folgenden Schaubilder versuchen das wiederzugeben:15 [28] Zeitliche Verteilung der inzestuösen Situationen
——————— 15
Von den im Anhang angegebenen Texten werden in der Statistik nur die mitgezählt, in denen inzestuöse Situationen nicht nur theoretisch thematisiert, sondern faktisch dargestellt werden. Um den ohnedies sehr umfänglichen Artikel zu entlasten, verzichte ich darauf, jeweils alle einschlägigen Beispiele aus meinen Texten in den Anmerkungen aufzuzählen. – Zu den Problemen meines Korpus unter dem Aspekt statistischer Repräsentativität – und dementsprechend zu den hier gegebenen Prozentangaben, die aber in jedem Fall die Größenordnungen der Varianten illustrieren können – vgl. Vf.: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung (1983), in diesem Band S. 31–65. Die den Markierungen auf der Zeitachse entsprechenden Punkte der Kurven in [28] fassen jeweils ein Jahrzehnt zusammen.
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
395
Typologisch handelt es sich bei den inzestuösen Situationen der GZ – soweit ich sehe: ausnahmslos – um solche innerhalb der Kernfamilie, also zwischen Eltern (und seltener: Elternäquivalenten) und Kindern oder zwischen Geschwistern: Nur diese Fälle werden von der Literatur als inzestuös behandelt. Dabei dominieren quantitativ mit Abstand die generationsinternen inzestuösen Situationen zwischen Bruder und Schwester (= 78% der Fälle) über die generationsübergreifenden Formen, wobei wiederum die Situation ›Vater(äquivalent) – Tochter‹ (= 15%) rund doppelt so häufig wie die Situation ›Mutter(äquivalent) – Sohn‹ (= 7%) auftritt. Von den im Definitionsversuch (vgl. Kapitel 1) unter (3a) bis (3f) aufgelisteten Merkmalsklassen werden für den Verlauf inzestuöser Beziehungen in der GZLiteratur insbesondere (3b) und (3d) relevant, d.h. die Fragen, ob bei Entstehung der inzestuösen Situation und vor dem eventuellen Vollzug des Inzests ein Wissen über die (tatsächlich gegebene oder irrtümlich angenommene) Verwandtschaft bei einer oder beiden der beteiligten Figuren vorliegt und ob der Inzest vollzogen wird. Die Verteilung stellt sich so dar: [29] Verteilung der inzestuösen Situationen nach »Verwandtschaftsgrad/ ›(Nicht-)Wissen‹/›(Nicht-)Vollzug‹ Typ der inzestuösen Situation
Verwandtschaft gewußt
Inzest
nicht gewußt
vollzogen
nichtvollzogen
Bruder + Schwester Vater + Tochter Mutter + Sohn
78% 15% 7%
12% 50% 0%
88% 50% 100%
38% 34% 0%
62% 66% 100%
Alle Fälle zusammen
100%
20%
80%
38%
62%
Da nun in diesem Literatursystem die Kategorien ›(Nicht-)Wissen‹ und ›(Nicht-) Vollzug‹ solche Relevanz für den Verlauf inzestuöser Situationen haben, halte ich zugleich deren statistische Korrelation fest: [30] Korrelation von ›(Nicht-)Wissen‹ und ›(Nicht-)Vollzug‹ Wissen (ti) Nicht-Wissen (ti) Vollzug (ti) Nicht-Vollzug (ti)
o Vollzug (ti+1): o Vollzug (ti+1): o Wissen (ti-1): o Wissen (ti-1):
50% 35% 26% 46%
(Wobei: o »Wenn …, dann …«; ti-1, t, ti+1 = Zeitpunkte, zu denen das Merkmal zutrifft.)
Nicht mitgezählt wurden die Fälle, wo einer oder beide der Partner sich in einer vorpubertären Lebensphase befinden, wie es, wenn auch selten, vorkommt; ein
396
Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
solches Problem wird bei Nicht-Wissen der Verwandtschaft durch Aufklärung über diese, bei Wissen der Verwandtschaft durch Trennung gelöst. Die auffällige Häufigkeitsverteilung der Typen inzestuöser Beziehungen (vgl. [29]) entspricht aber einer Hierarchisierung der Inzestfälle, die die Literatur implizit vornimmt. Der generationsinterne Fall erscheint in doppelter Hinsicht als der ›unschuldigste‹. Denn zum einen liegt in der Regel kein Wissen der Verwandtschaft vor (= 88%) und die erotische Zuwendung ist in der Beziehung mit wenigen Ausnahmen wechselseitig; zu diesen Ausnahmen gehören aber wiederum primär Fälle, wo die Verwandtschaft beiden bewußt ist (z.B. Klingers Giafar oder Brentanos Die drei Nüsse.) Nun gilt, soweit ich sehe, generell, im Gegensatz etwa zur französischen philosophischen Pornographie, daß ein Inzest nicht vollzogen wird, wenn die Verwandtschaft beiden Partnern bekannt ist: Dann sträubt sich zumindest einer, so heftig er kann (z. B. Apels Die Ruine von Paulinzell; Rambachs Aylo und Dschadina; Klingers Giafar); die einzige Ausnahme scheint die ja auch sonst hinreichend verbrecherische Familie der Borgia in Klingers Faust zu bilden. Wenn nur einem der Partner der inzestuöse Charakter der Beziehung bekannt ist und er den Inzest erstrebt, dann enthält er dem anderen Partner dieses Wissen vor (z.B. Apels Die Ruine von Paulinzell, Rambachs Die eiserne Maske). D.h. der bewußt und von vornherein von beiden Partnern gewollte Inzest scheint einen kaum denkbaren Grenzfall des Systems darzustellen; wenn also jemand von der Verwandtschaft weiß und dennoch die Beziehung anstrebt, erscheint er somit als Urheber einer hochrangigen Normverletzung. Nun gilt aber für den generationsübergreifenden Inzestfall, daß die Vater–Tochter–Variante bemerkenswert häufig mit Wissen der Verwandtschaft verknüpft ist (= 50%), wobei, falls nur einer der Partner dieses Wissen hat, es derjenige ist, der die Beziehung initiiert (in diesem Falle immer der Vater); zudem daß es dennoch kaum weniger häufig als im Bruder-Schwester-Falle (= 38%) zum Vollzuge des Inzests kommt (= 34%); wozu noch die Fälle des versuchten – vom Vater initiierten, aber am Widerstand der Tochter scheiternden – Inzest kämen, (z.B. Apels Ruine, Rambachs Aylo); schließlich, daß die erotische Zuwendung in den meisten Fällen einseitig und unerwidert ist, wobei diese in der Regel vom Vater ausgeht. Die Mutter-Sohn-Variante scheint nun auf den ersten Blick insofern ganz anders zu liegen, als zwar auch hier die erotische Zuwendung einseitig bleibt – es sei denn, es handle sich um den Fall, daß ein Sohn eine erotische Beziehung zu einer Frau unterhält, die seine Stiefmutter wird, indem der Vater sie ihm wegheiratet (vgl. Apels Ruine oder Schillers Don Carlos); bei der Entstehung einer erotischen Situation sind aber die Mutter-Sohn-Fälle durch Nicht-Wissen charakterisiert und führen nie zum Vollzug des Inzests. Diese Merkmale drücken nun aber nicht den geringen Rang dieses Falls in der Hierarchie der Inzesttypen, sondern ganz im Gegenteil den Grad seiner kulturellen Undenkbarkeit aus. Die Gesetze ordnen zwar beide Varianten des generationsübergreifenden Inzest als gleichrangig dem Geschwisterinzest über, sofern sie hier differenzieren (das GBV tut es nicht); aber selbst die französische philosophische Pornographie‹ unterscheidet hier implizit, insofern der Geschwisterinzest praktisch problemlos, der Vater-Tochter-Inzest
Inzestuöse Situationen in der Erzählliteratur
397
zumindest relativ häufig und als beidseitig gewollter vollzogen wird, während der Mutter-Sohn-Inzest entweder zur Stiefelternbeziehung abgeschwächt wird oder unfreiwillig stattfindet oder nur erwähnt wird. Wir können also eine erste Regularität für die GZ festhalten: R 1:
Die Typen inzestuöser Situationen sind in der GZ nach dem zunehmenden Grad an Normverletzung, der ihnen zugeschrieben wird, hierarchisiert: (Bruder + Schwester) < (Vater + Tochter) < (Mutter + Sohn) generationsinterne
generationsübergreifende
inzestuöse Beziehungen
3.2 Verlaufsstrukturen inzestuöser narrativer Sequenzen in der Erzählliteratur der Goethezeit Bei der Entstehung der erotischen Beziehung wird in der GZ-Erzählliteratur also die Verwandtschaft entweder gewußt oder nicht-gewußt, wobei Nicht-Wissen der mit Abstand dominante Fall ist (vgl. [29]: 80%) – darunter fallen z.B. Wielands Agathon, Goethes Wilhelm Meister, Tiecks Lebrecht. Damit nun dieser Fall überhaupt eintreten kann, muß mindestens einer der Partner kein Wissen seiner sozialen Identität haben und unter falschem Namen auftreten: so etwa im Wilhelm Meister, wo die Eltern ihre Tochter verleugnet haben und bei Fremden, als deren Pseudo-Eltern, aufwachsen ließen. Umgekehrt gilt in den bewußt inzestuösen Situationen, daß mindestens einer der Partner von der Verwandtschaft weiß. Für generationsinterne wie -übergreifende inzestuöse Situationen gilt also die Regel: R 2: Wenn eine Figur unwissend in eine inzestuöse Situation gerät, dann hat eine Vorenthaltung von Information über die Familienverhältnisse stattgefunden, aufgrund derer sie die eigene soziale Identität oder die des Partners nicht kennt. Die Verantwortung für diese Informationsvorenthaltung liegt immer in der Elterngeneration und im Regelfall bei den Eltern selbst. So verleugnet etwa der Vater des Harfners im Wilhelm Meister seine spät gezeugte Tochter: [31] Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in späteren Jahren nochmals überwältigt, in welchen das Recht der Ehegatten schon verloschen zu sein scheint; [...]. Unsere Mutter kam heimlich nieder, das Kind wurde aufs Land gebracht, und der alte Hausfreund, der nebst dem Beichtvater alleine um das Geheimnis wußte, ließ sich leicht bereden, sie für seine Tochter auszugeben. (1795, S. 582)
In Spindlers Der Bastard hat der Vater mehrere uneingestandene Kinder aus ehebrecherischen Beziehungen, was zum Geschwister-Inzest führt: [32] Die Unsittlichkeit des Vaters legte hier den Keim, der üppig fortwuchernd, zum krebsartigen Geschwür wurde. Da, wo des Hausvaters Sittenverderbnis den rechtmäßigen
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
Sohn verbannt, das Kind der Lust einführt unter das Dach, das der keuschen Zucht geweiht sein sollte, in fremde Geschlechter sich schamlos drängt, fremde Ehebetten mit seinem ansteckenden Gifte befleckt, [...] da wendet sich der Segen des Herrn ab von der verunreinigten Schwelle. (1826, III, S. 287)
In Duschs Ferdiner haben die Großeltern die geplante Ehe der Eltern nicht zugelassen, die daraufhin eine uneheliche Beziehung eingingen, aus der die Unkenntnis der Abstammung resultiert: [33] O! die grausamen Väter! O! der grausame Onkel! Liebende müssen ihre geliebtesten Kinder verbergen, damit die Schwester das Weib des Bruders werde! (1776, Bd. III, 2. Teilband, S. 493)
In diesem Fall verteilt sich die Schuld für die unwissentlich inzestuöse Situation sogar auf Eltern- und Großelterngeneration; ähnlich sind auch Agathons und Psyches Eltern eine uneheliche Beziehung eingegangen, weil die Zustimmung des Großvaters nicht zu erlangen war. Sehr selten sind es andere Instanzen der Elterngeneration als die (Groß-)Eltern selbst, die die Verantwortung für die Trennung der Familie und die Unkenntnis der Verwandtschaft tragen; so in Nicolais Nothanker die (vorrevolutionären) theologischen, in Lafontaines Saint Julien die (revolutionären) politischen Autoritäten; Autoritäten und insbesondere der Landesfürst, werden aber im 18. Jahrhundert und in der GZ immer gern im Bilde des ›Vaters‹ gedacht – wenn Kant den Aufklärungsprozeß der Loslösung von Autoritäten als ›Mündigwerden‹ metaphorisiert, präsupponiert er umgekehrt einen ursprünglichen Kindstatus des Menschen gegenüber diesen Autoritäten. Die extrem wenigen Fälle, wo die Störung der Familienordnung von außen, nicht von innen, in die Familie getragen wird, scheinen mir demnach eine bloße Verschiebung: Hier sind es eben nicht wörtliche, sondern metaphorische Eltern, die die Störung zu verantworten haben. Die wenigen Beispiele müssen genügen; wir können festhalten: R 3: Unwissentlich inzestuöse Situationen generationsinterner oder übergreifender Art sind immer ein generationsübergreifendes Phänomen: das Produkt einer mindestens zwei (Kinder–Eltern) und maximal drei (Kinder–Eltern–Großeltern) Generationen umfassenden Familiengeschichte. In der Familiengeschichte findet dabei regelmäßig ein Verstoß gegen eine kulturelle Norm des Sexualverhaltens statt: Es wird eine nicht-legitime Beziehung eingegangen oder eine legitime Beziehung verleugnet; ich zähle nicht alle möglichen Varianten auf. Im interessanten Falle des Wilhelm Meister etwa wird in der Eltern generation eine eheliche Beziehung verleugnet; im Falle des Agathon eine Beziehung gegen den Widerstand der Großeltern eingegangen. Das Fehlverhalten kann der Eltern- oder Großelterngeneration angelastet werden. Es führt in der Folge zur Zeugung illegitimer Kinder oder zur Verleugnung legitimer Kinder. Es gilt: R 4: Die Trennung der Familienmitglieder und Vorenthaltung der Information über die Familienverhältnisse basieren auf (einem oder mehreren) Vergehen gegen die Normen des Wertsystems ›Familie‹ in der (Groß-) Elterngeneration.
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Damit es nun freilich überhaupt zu einer nicht-gewußten inzestuösen Situation kommen kann, müssen ausgerechnet die einander unbekannten Verwandten sich begegnen und muß (mindestens) einer der beiden eine erotische Beziehung zum anderen entwickeln. Eher selten – und am ehesten bei generationsübergreifenden Situationen – kommt es, wie im Wilhelm Meister oder in Rambachs Aylo, im gemeinsamen Herkunftsraum der beiden zu dieser Situation: In der Regel begegnet man sich in einem mindestens einem der beiden Beteiligten fremden Raum, in den einer oder beide der Partner durch Reise gelangt sind: so z.B. im Agathon oder im Lebrecht. Es erfordert also einen normalerweise geradezu unwahrscheinlichen Zufall, damit gerade diese beiden Partner aufeinander treffen. Ich verweise hier nur stichwortartig auf die zugehörigen Komplexe goethezeitlicher Erzählliteratur:16 Deren dargestellte Welten sind durch die Modelle des unerwarteten Zusammentreffens und einer familiären Strukturierung der Welt charakterisiert: Immer wieder treffen dieselben Personen aufeinander, immer wieder stellen sich scheinbare Verwandte als nicht-verwandt, scheinbar Nicht-Verwandte als verwandt heraus. Die Schuld in der Elterngeneration droht nun aber genau dann zu einer ungewußten inzestuösen Situation in oder mit der Kindergeneration zu führen, wenn sie nicht bekannt wird: Würde die Elterngeneration die Kinder rechtzeitig aufklären, wäre zumindest der unbewußte Inzest vermeidbar. Schon in einem vorgoethezeitlichen Drama, Pfeils Lucie Woodvil (1755), das aber schon alle für die GZ charakteristischen Regularitäten erfüllt, wird deutlich genug hervorgehoben, daß der Vater durch ein rechtzeitiges Geständnis seiner Schuld (einer unehelichen fruchtbaren Beziehung) den Inzest der Kinder hätte vermeiden können; dasselbe gilt z.B. noch in Müllners 29. Februar. Ebenso wäre der Geschwisterinzest im Wilhelm Meister zu vermeiden, würden die Eltern den Kindern ihre Verwandtschaft mitteilen. Die Nicht-Anerkennung einer Schuld, deren Anerkennung in einem Geständnis bestünde, führt somit zu neuen Delikten. Es gilt also R 5: Ein Verstoß gegen die Normen des Wertsystems ›Famlie‹ darf nicht verborgen werden, sondern bedarf einer (zumindest intrafamiliären) Schuldanerkennung durch ein Geständnis an die Verwandten, darunter – bei nicht-legitimer Nachwuchsproduktion oder -verleugnung – an die eigenen Kinder, sollen daraus nicht neue Verstöße gegen die Ordnung der Familie resultieren. Während also die (einem oder beiden Partnern) unbewußte inzestuöse Situation auf fremder Schuld einer (Groß-)Elterngeneration basiert, beruht die (einem oder beiden Partnern) bewußte inzestuöse Situation auf eigener Schuld – sie ist selbst die Schuld:
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Vgl. Vf.: Die ›Bildungs‹-/Initiationsgeschichte der Goethezeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche (2002), in diesem Band S. 223– 287.
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Zur Diskursgeschichte der ›Gefühle‹
R 6:
Eine bewußt inzestuöse Situation wird der Figur, der sie bewußt ist, als Schuld angerechnet (ob der Inzest vollzogen wird oder nicht), wenn sie es ist, die die erotische Zuwendung zum anderen aufweist. Sehr deutlich wird das etwa in Klingers Giafar oder Rambachs Aylo, wo Bruder bzw. Vater eine inzestuöse Neigung zu Schwester bzw. Tochter hegen. Eine solche Neigung wird von den Texten nie entschuldigt, sondern als hochrangiges Delikt behandelt, was mittels verschiedener Strategien verdeutlicht wird. Denn es gilt erstens, daß keine positive Figur je für sich eine inzestuöse Beziehung akzeptiert: Sobald die Verwandtschaft aufgedeckt wird, gibt sie die erotische Zuwendung auf. Lessings Nathan macht das exemplarisch deutlich; es gilt, in verschiedenen Varianten, ebenso für den Agathon, Duschs Ferdiner, Kotzebues Luise, Nicolais Nothanker, Tiecks Lebrecht, usw. Zweitens gilt fast ausnahmslos, daß, wenn die Verwandtschaft beiden Partnern bekannt ist, nur einer von ihnen die inzestuöse Neigung entwickelt oder gar deren Vollzug anstrebt; das ist dann aber zugleich fast immer derjenige Partner, der – vgl. etwa eben Giafar oder Aylo – auch sonst gegen hochrangige Normen der GZ-Kultur verstößt; im extrem seltenen Falle beiderseitiger bewußt inzestuöser Neigungen (z.B. Klingers Faust) verstoßen beide Partner gegen solche Normen, was sich im übrigen in der französischen ›philosophischen Pornographie‹ bestätigt;17 in den deutschen Texten fungiert in der Regel der eine Partner als tugendhafter Kontrast, dessen Abscheu vor der Neigung des inzestuösen Teils die Scheußlichkeit des Inzests repräsentiert. Drittens gilt in den Texten, daß selbst oder gerade Schurken, die fundamentale kulturelle Normen verletzt haben, auffällig häufig vor sich selbst zurückschaudern, wenn sie erfahren, daß sie unbewußt einen Inzest vollzogen haben (so z.B. in Spindlers Bastard oder Spieß’ Petermännchen). Die Statistik zeigt nun aber (vgl. [29]), daß aus der inzestuösen Situation nicht notwendig der Vollzug des Inzests resultiert, der nur in einer Minderheit der Fälle eintritt (= 38%). Entweder weiß nun nur ein Teil von der Verwandtschaft und ist der nicht-inzestuöse Teil: Dann klärt er den anderen auf und verhütet den Inzest (z.B. in Arnims Angelika); oder einer oder beide wissen von der Verwandtschaft und einer von beiden ist bewußt inzestuös: Dann kann er entweder auf den Vollzug des Inzests verzichten (Klingers Giafar oder Brentanos Die drei Nüsse) oder ihn anstreben und dabei Erfolg (Rambachs Die eiserne Maske) oder Mißerfolg haben (Apels Die Ruine von Paulinzell). Deutlicher wird das Problem beim beiderseitig ungewußten Inzest: Wovon hängt es ab, ob es zum Inzest kommt oder nicht? Nun gilt in den Texten R 7: Bei (von einem oder beiden) nicht-gewußter (Nicht-)Verwandtschaft erfolgt im Verlauf der narrativen Sequenz durch eine (dritte) Figur eine Information über den Verwandtschaftsgrad. Die in den Texten auftretenden Varianten bilden ein recht komplexes System; doch scheinen insbesondere zwei Merkmalsklassen relevant: zum einen die Frage, ob
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Hierzu Vf.: Sexualität und Anthropologie, in diesem Band, S. 433–483.
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die erhaltene Information zutrifft oder nicht; zum anderen die Frage, ob die Information vor oder nach Vollzug des Inzests erfolgt. In der Regel wird irrtümlich eine Nicht-Verwandtschaft angenommen und vor (Wielands Agathon; Tiecks Lebrecht) oder nach (Goethes Wilhelm Meister; Tiecks Eckbert; Müllners Incest) dem Inzest erfolgt die Information. Wichtig scheint mir aber, daß es einige Fälle gibt, in denen irrtümlich eine Verwandtschaft angenommen wird, die sich als nicht-existent herausstellt (Goethes Die Geschwister; Brentanos Die drei Nüsse; Spindlers Der Schwärmer), oder in denen (korrekt) eine Nicht-Verwandtschaft angenommen und eine erotische Beziehung eingegangen wird, dann die irrtümliche Information einer Verwandtschaft erfolgt und die Beziehung aufgegeben wird, wodurch es erst zu einer neuen erotischen Beziehung kommt, die durch erneute und nunmehr zutreffende Information als faktisch inzestuös erwiesen wird. In dem anonymen Roman Es war gerade noch Zeit wird ein Sohn von einer Frau getrennt, die sich scheinbar als seine Schwester herausstellt; daraufhin geht er eine neue Beziehung ein, bei der sich die Partnerin – vgl. den Titel – noch rechtzeitig als seine tatsächliche Schwester erweist. In Müllners Incest trennt ein Onkel eine Beziehung seiner Nichte, weil er irrtümlich in ihrem Partner ihren Bruder vermutet, woraufhin sie eine Beziehung mit einem Partner eingeht (und in der Folge sogar vollzieht), der sich nun tatsächlich als ihr Bruder herausstellt. Die Trennung einer Beziehung aufgrund einer irrtümlichen Verwandtschaftsannahme kann also gerade und erst recht zur inzestuösen Situation führen; in allen mir bekannten Fällen dieser Art stammt die Fehlinformation aus der Elterngeneration – vielleicht ein Indikator der Gefährlichkeit elterlicher Einmischung in die Partnerwahl der Kinder (vgl. dazu 3.3.2.). Der entscheidende Faktor ist aber, ob die Information rechtzeitig eintrifft, d.h. vor dem Vollzug eines tatsächlichen Inzests. Dabei gilt R 8: Eine gewußte oder nicht-gewußte inzestuöse Situation führt zum Vollzug des Inzests nur genau dann, wenn die Figur zugleich (mindestens) eine weitere hochrangige Normverletzung begangen hat (= konkomitantes Delikt). D.h. ein(e) tugendhafte(r) Held(in) kann zwar durch fremde Schuld in eine inzestuöse Situation geraten, wird aber rechtzeitig vor Vollzug des Inzests korrekt informiert: Bewußt oder nicht bewußt vollzieht den Inzest nur, wer ohnedies auch sonst Delinquent ist und Schuld auf sich lädt. Diese konkomitanten Delikte können sehr unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Ranges sein. Im einen Extremfall, etwa Spieß’ Petermännchen, hat der Held vor dem unwissentlichen Inzest mit der Tochter eine Serie von Verführungen sowie Raub- und Mordtaten zu verantworten und ist einen Teufelsbund eingegangen (der im Text natürlich allegorisiert wird); auch in E.T.A. Hoffmanns Elixieren werden in ähnlicher Weise konkomitante Delikte gehäuft. Im anderen Extremfalle, etwa in Müllners Drama Der 29. Februar, besteht das Delikt nur in einer Eheschließung gegen den Willen des Vaters, der den Geschwistern ihre Verwandtschaft verheimlicht hat. Das Delikt des Harfners im Wilhelm Meister z.B. muß im Bruch des freiwillig eingegangenen Klostergelübdes bestehen; denn die bloße nicht-eheliche Sexualität kann es hier nicht sein, da sie sonst auch am Titel-
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helden gestraft werden müßte; in anderen Texten kann sie freilich diese Funktion übernehmen, so etwa in Pfeils Lucie Woodvil. Welcherart die konkomitanten Delikte sind, hängt also vom ideologischen System des jeweiligen Textes ab; z.B. also davon, ob er Ehe ohne Einwilligung der Eltern oder nichteheliche Sexualität als hochrangiges Delikt behandelt oder nicht; immer aber ist das konkomitante Delikt Verletzung einer Norm, die im jeweiligen Text als hochrangig behandelt wird. In den Texten aber, in denen die inzestuöse Figur nicht nur nach textspezifischem Normensystem, sondern nach dem allgemeinen kulturellen Wissen der GZ hochrangige Verbrechen begangen hat (wie etwa in Spieß’ Petermännchen), wird ein ambivalenter Status des vollzogenen Inzests besonders deutlich: Er fungiert zugleich als Strafe für andere Delikte wie als zu strafendes Delikt höchsten Ranges. So ist es denn, z.B. wie in Lewis’ The Monk der Teufel, in Spieß’ Petermännchen der böse Geist eines Vorfahren (!), der dem Helden seinen Inzest mit der Tochter in der Stunde entdeckt, wo sein Vertrag mit dem Teufel ausläuft: [34] Mit diesem Kinde, das in Sünde empfangen, in Sünde gebohren, in Unwissenheit erzogen wurde, lebt er nun in blutschänderischer Ehe, und häuft jeden Tag neue Verbrechen auf sein Haupt (1795, II, S. 165),
wobei diese neuen Verbrechen in nichts anderem als eben diesem ungewußt fortgesetzten Inzest bestehen. »Schreklich! schreklich! Aber unwissend!« ruft denn auch der solchermaßen aufgeklärte Held aus, während er alle anderen Sündenvorhaltungen kommentarlos angehört hat, und versucht sich, fruchtlos, auf sein NichtWissen zu berufen. Hier ist also der ungewußte Inzest mit der Tochter das gewissermaßen krönende Delikt, das die verbrecherische Laufbahn abschließt – danach holt ihn, ganz wörtlich, der Teufel. Der Rang des Delikts manifestiert sich etwa auch, wenn in der Binnengeschichte von Apels Ruine Vater und Sohn um dieselbe Frau werben, ohne zu wissen, daß sie ihre Tochter bzw. Schwester ist, wobei der Vater die Verwandtschaft erfährt und ab dann bewußt inzestuös wird, gleichwohl aber, als die Tochter ihre Neigung zum (unbekannten) Bruder gesteht, empört ausruft: [35] Wie, Unglückliche? Verbrecherin! Du liebst Deinen Bruder? (1818, S. 155)
Der hierarchische Rang des Inzests wird aber am deutlichsten durch die Inzestfolgen, die als Inzeststrafe fungieren. Zum einen gilt, daß die Texte – im Gegensatz zu den Gesetzen der GZ, die selbstverständlich nur den wissentlichen Inzest bestrafen – auch den ungewußten Inzest sanktionieren. Zum anderen gilt, daß die Texte, wo die Gesetze mit Strafen eher aus dem unteren Bereich ihrer Strafskala drohen, immer die Höchststrafe verhängen: R 9: Auf unwissentlich wie auf wissentlich vollzogenen Inzest folgt in den Texten der Verlust der ›Person‹ durch den Tod oder ein kulturelles Todes-Äquivalent (= Todesnähe, Wahnsinn, Kloster, usw.). Der Versuch wird dabei dem Vollzug gleichgesetzt; so sterben die inzestuösen Väter in Apels Ruine oder Rambachs Aylo beim Versuch durch die Hand der sich wehrenden Tochter. Die Strafe ist in der Regel der biologische Tod, d.h. das Ende der ›Person‹. Ihm vorangehen (z.B. Goethes Wilhelm Meister, Hoffmanns Elixiere)
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oder ihn ersetzen können in der GZ solche Inzestfolgen, die kulturell als metaphorische Todesäquivalente gelten, da sie ebenfalls ein Ende der ›Person‹ im goethezeitlichen Sinne bedeuten; dazu gehört der ›Wahnsinn‹ (der z.B. Goethes Harfner und Hoffmanns Medardus zeitweilig trifft), da ihn die GZ-Anthropologie als Verlust des Bewußtseins seiner selbst und damit der eigenen personalen Identität konzipiert; dazu gehört das ›Kloster‹, bei dem schon das Ablegen des alten und Annehmen eines neuen Namens den Verlust bzw. Wechsel der Identität anzeigt (so etwa in Bornscheins Der Beichtstuhl oder Apels Ruine). Das reduzierteste und seltenste Todesäquivalent besteht in zeitweiliger Todesnähe und Bewußtlosigkeit, wonach der Delinquent ein neues Leben beginnen darf (etwa Spindlers Bastard oder Müllners Incest). Daß nun aber dieses extrem hochrangige Strafmaß dem Inzest – und nicht etwa dem konkomitanten Delikt – gilt, erweist sich schon daraus, daß das konkomitante Delikt selbst eine Variable ist, die quantitativ wie qualitativ sehr verschiedenartig aufgefüllt sein kann: In einigen Fällen, z.B. Raub oder Mord, verdient es selbst schon den Tod; in anderen Fällen, z.B. Bruch eines Klostergelübdes (in einer dominant protestantischen Literatur!), nicht-ehelicher Sexualität, Ehe ohne Einwilligung der Eltern usw. ebenso eindeutig nicht – es muß also die einzige Konstante dieser heterogenen Deliktkombinationen, der Inzest selbst sein, woraus die invariante Sanktion resultiert, die nun ihrerseits niemals durch den Rekurs auf juristische Instanzen erfolgt: Das betroffene. Subjekt verhängt die Strafe über sich selbst oder wird von ihr auf natürlichem Wege oder durch menschlichen, selten allegorischmetaphysischen (Teufel usw.) Eingriff ereilt. Der Inzestfall wird nie zum öffentlichen Faktum gemacht, indem man an die juristischen Instanzen appellierte: Er bleibt ein nicht-öffentliches, intrafamiliäres Phänomen, das von der geheimen Ordnung der dargestellten Welt selbst – und automatisch – gestraft wird. NichtJuristisches ist es also offenbar, was anhand inzestuöser Situationen abgehandelt wird. Auf jeden Fall wird die Ordnung der Familie (vgl. 2.1.) als privater Raum auch hier dem staatlichen Zugriff entzogen. Die GZ-Texte nehmen jedenfalls eine eindeutige implizite Hierarchisierung der Typen inzestuöser Situationen vor: R 10:
ungewußt + nicht-vollzogen