Anthologie der realistischen Phänomenologie 9783110329414, 9783110329315

Der Ausdruck Phänomenologie ist heute höchst vieldeutig geworden. Husserl hat seit 1905 eine immer stärkere Wendung zum

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VOR- UND DANKWORT
EINFÜHRUNG
TEIL I - VORLÄUFER DER REALISTISCHEN PHÄNOMENOLOGIE
ARISTOTELES - ÜBER DIE SEELE
PLATON - DER STAAT
AURELIUS AUGUSTINUS1 - DER LEHRER
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE - AUSGEWÄHLTE FRAGMENTE
BERNARD BOLZANO - WISSENSCHAFTSLEHRE1
FRANZ BRENTANO - PSYCHOLOGIE VOM EMPIRISCHEN STANDPUNKT1
WLADIMIR SOLOWJEW - THEORETISCHE PHILOSOPHIE1
TEIL II - PRINZIPIEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN ERKENNTNIS
EDMUND HUSSERL - EDMUND HUSSERL
MAX SCHELER - VOMWESEN DER PHILOSOPHIE
MARTIN HEIDEGGER - SEIN UND ZEIT
DIETRICH VON HILDEBRAND - DER SINN PHILOSOPHISCHEN FRAGENS UND ERKENNENS1
DIETRICH VON HILDEBRAND - DAS COGITO UND DIE ERKENNTNIS DER REALEN WELT
TEIL III - PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLEGUNGEN VERSCHIEDENER TEILDIZIPLINEN DER PHILOSOPHIE
ALEXANDER PFÄNDER - LOGIK1
HEDWIG CONRAD-MARTIUS - ZUR ONTOLOGIE UND ERSCHEINUNGSLEHRE DER REALEN AUSSENWELT
JEAN HERING - BEMERKUNGEN ÜBER DAS WESEN, DIE WESENHEIT UND DIE IDEE1
DIETRICH VON HILDEBRAND - ETHIK1
MORITZ GEIGER - PHÄNOMENOLOGISCHE ÄSTHETIK1
TEIL IV - BESONDERHEITEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN METHODE
ROMAN INGARDEN - DIE FRAGE ÜBERHAUPT UND IHRE EIGENSCHAFTEN1
ADOLF REINACH1 - ÜBER PHÄNOMENOLOGIE2
MAX SCHELER - PHÄNOMENOLOGIE UND ERKENNTNISTHEORIE1
TEIL V - KRITIK VERSCHIEDENER FORMEN DES REDUKTIONISMUS
EDMUND HUSSERL - LOGISCHE UNTERSUCHUNGEN SIEBENTES KAPITEL
BALDUIN SCHWARZ - DER IRRTUM IN DER PHILOSOPHIE1
DIETRICH VON HILDEBRAND - ÄSTHETIK*
TEIL VI - PHENOMENOLOGISCHE FORSCHUNGEN
ALEXANDER PFÄNDER - MOTIVE UND MOTIVATION
ADOLF REINACH - ZUR THEORIE DES NEGATIVEN URTEILS
ADOLF REINACH - DIE APRIORISCHEN GRUNDLAGEN DES BÜRGERLICHEN RECHTES
ADOLF REINACH - DASWESEN DER BEWEGUNG
ALEXANDER KOYRÉ - BEMERKUNGEN ZU DEN ZENONISCHEN PARADOXEN
EDITH STEIN - ENDLICHES UND EWIGES SEIN
DIETRICH VON HILDEBRAND - DIE DREI GRUNDFORMEN MENSCHLICHER TEILHABE AN DEN WERTEN1
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Anthologie der realistischen Phänomenologie
 9783110329414, 9783110329315

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Josef Seifert, Cheikh Mbacké Gueye (Hrsg.) Anthologie der realistischen Phänomenologie

Realistische Phänomenologie: Philosophische Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/Realist Phenomenology: Philosophical Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago Band II/Volume II

EDITORS Professor Juan-Miguel Palacios With Professor John F. Crosby and Professor Czesáaw PorĊbski ASSISTANT EDITORS Dr. Cheikh Mbacké Gueye Dr. Matyas Szálay

EDITORIAL BOARD Professor Rocco Buttiglione, Rome, Italy Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary Professor Giovanni Reale, Milan, Italy Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile Professor Tadeusz StyczeĔ, Lublin, Poland

Josef Seifert Cheikh Mbacké Gueye (Hrsg.)

Anthologie der realistischen Phänomenologie

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¤2009 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-029-3

2009 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work

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INHALTSVERZEICHNIS

VOR- UND DANKWORT……………………………………………………11 EINFÜHRUNG ............................................................................................. 13

TEIL I: VORLÄUFER DER REALISTISCHEN PHÄNOMENOLOGIE 1. Aristoteles: Über die Seele (II, 1 412a) ................................................ 63 2. Platon, Der Staat (6.484 a-b; 485a-486b)……………………………...65 3. Aurelius Augustinus: Der Lehrer, Kap. II ............................................. 69 4. J. W. Von Goethe, Ausgewählte Fragmente.......................................... 73 5. Bernard, Bolzano, Wissenschaftslehre, § 19 ......................................... 77 6. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt .................. 83 7. Wladimir Solowjew, Theoretische Philosophie .................................. 109

TEIL II: PRINZIPIEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN ERKENNTNIS 8. Edmund, Husserl, Logische Untersuchungen. Prolegomena zu einer reinen Logik, §§ 1-11; §§ 14-16 .................... 117 9. Max Scheler, Vom Wesen der Philosophie .......................................... 149 10. Martin Heidegger, Sein und Zeit........................................................ 195 11. Dietrich von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens .......................................... 209 12. Dietrich von Hildebrand, Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt ................................................ 233

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INHALTSVERZEICHNIS TEIL III: PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLEGUNGEN VERSCHIEDENER TEILDIZIPLINEN DER PHILOSOPHIE

13. Alexander Pfänder, Logik .................................................................. 255 14. Conrad-Martius, Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt .................................................... 277 15. Jean Hering, Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit, und die Idee ......................................................................... 315 16. Dietrich von Hildebrand, Ethik .......................................................... 327 17. Moritz Geiger, Phänomenologische Ästhetik .................................... 381

TEIL IV: BESONDERHEITEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN METHODE 18. Roman Ingarden, Die Frage überhaupt und ihre Eigenschaften ....... 399 19. Adolf Reinach, Über Phänomenologie.............................................. 423 20. Max Scheler, Phänomenologie und Erkenntnistheorie ..................... 449

TEIL V: KRITIK VERSCHIEDENER FORMEN DES REDUKTIONISMUS 21. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (7 Kapitel) ................. 483 22. Balduin Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie .............................. 497 23. Dietrich von Hildebrand, Ästhetik ..................................................... 517

INHALTSVERZEICHNIS

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TEIL VI: PHÄNOMENOLOGISCHE FORSCHUNGEN 24. Alexander Pfänder, Motive und Motivation....................................... 529 25. Adolf Reinach, Zur Theorie des negativen Urteils ............................ 561 26. Adolf, Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes ..................................................................... 621 27. Adolf Reinach, Das Wesen der Bewegung ........................................ 691 28. Alexander Koyré, Bemerkungen zu den Zenonischen Paradoxen ..... 707 29. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein ............................................ 737 30. Dietrich von Hildebrand, Die drei Grundformen menschlicher Teilhabe an den Werten ............................ 753

VOR- UND DANKWORT Mit der vorliegenden Publikation dieser deutschsprachigen Anthologie, die mit einer einzigen Ausnahme eines im vorliegenden Band nur in Übersetzung abgedruckten Beitrags, dessen Originaltext englisch ist,1 hier in der Sprache der Originale abgedruckt sind, legen wir die erste deutschsprachige Anthologie dieser Art, eine relativ umfassende Originaltextsammlung aus realistischen phänomenologischen Arbeiten, vor und verwirklichen damit auch den zweiten Teil unseres ursprünglichen Plans einer deutsch-russischen zweibändigen Ausgabe, wenn auch, entgegen der ursprünglichen Absicht, die deutsche und die russische Veröffentlichung getrennt erscheinen. Obwohl wir für das Vorhaben einer doppelsprachigen Publikation bereits Verträge mit einem russischen Verlag hatten, deren uns zufallenden Teil der eingegangenen Verbindlichkeiten wir verwirklicht hatten, scheiterte diese Publikation an finanziellen Schwierigkeiten des Verlags, sodaß wir die Veröffentlichung einem anderen Verlag übertrugen (Ɇ., ɂɧɫɬɢɬɭɬ ɮɢɥɨɫɨɮɢɢ, ɬɟɨɥɨɝɢɢ ɢ ɢɫɬɨɪɢɢ ɫɜ. Ɏɨɦɵ), der aber wegen des Umfangs unserer Textsammlung dieselbe nicht zweisprachig, sondern nur in russischer Übersetzung übernehmen wollte und außerdem einige Teile unseres ambitiöseren Planes, der zu einer umfangreicheren Publikation geführt hätte, unrealisiert ließ. Dennoch erschienen fast alle ursprünglich auf zwei Bände verteilte Texte in einem einzigen russischen Band, der jetzt durch die Publikation der deutschen Originaltexte ergänzt wird.2 Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem russischen Verlag sowie meinen Mitarbeitern an diesem arbeitsaufwendigen Unternehmen einer Großen Anthologie realistischer Phänomenologie danken, insbesondere Dr. Dmitry Atlas, der mir jahrelang mit Rat und Tat bei diesem Projekt beigestanden ist und als Assistent der IAP die leitende Funktion an diesem 1

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Dietrich von Hildebrand, The Modes of Participation in Value, in: International Philosophical Quarterly. New York. Vol. I. Nr. 1. 1961. S. 58-84. John F. Crosby, Viktor Molchanov, Josef Seifert, Vitaly Kurennoj & Dmitry Atlas (Hrsg.), Anthologie realistischer Phänomenologie (Moscow, St Thomas Institute of Philosophy, Theology and History, 2006)./Ⱥɧɬɨɥɨɝɢɹ ɪɟɚɥɢɫɬɢɱɟɫɤɨɣ ɮɟɧɨɦɟɧɨɥɨɝɢɢ (Ɇ., ɂɧɫɬɢɬɭɬ ɮɢɥɨɫɨɮɢɢ, ɬɟɨɥɨɝɢɢ ɢ ɢɫɬɨɪɢɢ ɫɜ. Ɏɨɦɵ, 2006).

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VOR- UND DANKWORT

Publikationsvorhaben innehatte, Dr. Vitaly Kurrenoj, der den Löwenanteil der Übersetzungsarbeit und der Mühen der Herausgeberschaft der russischen Ausgabe übernommen hat und überdies eine eigene Arbeit über „Das Apriori Problem in der Münchener und realistischen Phänomenologie“ an seiner Moskauer Staatlichen Universität und an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein unternommen hat.3 Mein Dank gilt auch allen russischen Mitherausgebern unserer Reihe, den Professoren Viktor Molchanov, John F. Crosby und Valeri Anašvili. und Dr. Wladimir Blitznekov, der wesentliche Teile der Übersetzungsarbeit geleistet hat, sowie Mag. Valery Atlas, dessen Forschungen über Phänomenologie in Rußland ich viele wertvolle Anregungen verdanke. Herzlicher Dank gilt ferner Dr. Cheikh Mbacké Gueye, der in hervorragender Weise den editorischen Teil der deutschen Ausgabe betreut hat, sowie allen Mitarbeitern an der nunmehr vorliegenden deutschen Auflage, neben Dr. Cheikh Mbacké Gueye auch den Herausgebern der neuen Reihe im Ontos-Verlag. Josef Seifert, Ordentlicher Professor und Rektor Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile

3

Dr. Kurrenoj (Vitalij Kurennoj, Dr., Philosoph, Staatliche Universität-Wirtschaftshochschule (GU-VŠƠ) und Phänomenologisches Zentrum der RGGU, Moskau) hat nicht nur für den ersten Band unserer russischen Publikationsreihe, die russische Reinach-Ausgabe – Adolf Reinach, (hg. v. Josef Seifert und Viktor Molchanov, John F. Crosby und Valeri Anašvili, (Russian), Gesammelte Schriften, herausgegeben von seinen Schülern (Halle a.d.Saar: Max Niemeyer, 1921), ins Russische übersetzt von Vitaly Kurennoj, unter Mitarbeit von Dmitry Atlas, Ⱥɞɨɥɶɮ Ɋɚɣɧɚɯ. ɋɨɛɪɚɧɢɟ ɫɨɱɢɧɟɧɢɣ / ɉɟɪ. ɫ ɧɟɦ., ɫɨɫɬ., ɩɨɫɥɟɫɥ. ɢ ɤɨɦɦɟɧɬɚɪɢɣ ȼ. Ⱥ. Ʉɭɪɟɧɧɨɝɨ. Ɇ.: Ⱦɨɦ ɢɧɬɟɥɥɟɤɬɭɚɥɶɧɨɣ ɤɧɢɝɢ, 2001 – enorme Arbeit geleistet, sondern auch große Mühe und eminente Sachkompetenz auf die Herausgabe der russischen Ausgabe dieser Anthologie aufgewandt.

EINFÜHRUNG Josef Seifert Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein1 

I. RUßLAND UND DIE REALISTISCHE PHÄNOMENOLOGIE Es ist mir eine Freude, eine Einführung zu diesem ersten Band einer Anthologie von ausgewählten Texten von solchen Phänomenologen zu schreiben, die man der sogenannten „realistischen Phänomenologie“ zuordnen kann. Obwohl diese Richtung der Gegenwartsphilosophie noch keineswegs den Bekanntheitsgrad der analytischen Philosophie, der Existenzphilosophie oder auch der transzendentalen Phänomenologie des späteren Husserl oder der hermeneutischen Schule genießt, so gehört sie doch m.E. zu den bedeutendsten philosophischen Richtungen des 20. Jahrhunderts, ja der gesamten Philosophie überhaupt, weshalb ich hoffe, daß die nunmehr auch in deutscher Sprache vorliegende, ebenso wie die vorhergehende russische, Anthologie einen bescheidenen Beitrag dazu leisten wird, daß die realistische Phänomenologie sowohl im deutschsprachigen als auch im russischen und dem gesamten slawischen intellektuellen Raum mehr und mehr die dieser Schule der Philosophie gebührende Anerkennung finden und den ihr angemessenen Platz einnehmen wird. Gerade zur vorletzten Jahrhundertwende begründete Edmund Husserl durch sein monumentales Werk, die Logischen Untersuchungen (19001

Der Leser möge in Erinnerung behalten, daß diese Einführung weitgehend den für die deutsche Ausgabe nur leicht überarbeiteten Originaltext der von Vitaly Kurennoj übersetzten Einleitung der russischen Ausgabe wiedergibt und sich deshalb weniger auf die deutsche philosophische Situation bezieht als auf die russische, außer dadurch, daß die ganze Bewegung der realistischen Phänomenologie im 20. Jahrhundert sich in Österreich (vorwiegend in Wien und Graz), sowie zunehmend in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz sowie unter deutschsprachigen Osteuropäern und unter Emigranten in den USA entfaltete und die allgemeine Darstellung und Vermittlung dieser ursprünglich deustchösterreichisch-schweizerischen Schule deshalb ohnehin einen großen Teil dieser Anthologie und dieser Einleitung ausmacht.

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Anthologie der realistischen Phänomenologie

1901), eine der bedeutsamsten philosophischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die Phänomenologie. Die große Maxime Husserls, die für die Phänomenologie maßgebend wurde und diese jedem Reduktionismus entgegensetzte, war das Prinzip „Zurück zu den Sachen selbst.“ Und es weist gerade dieses Prinzip, das Husserl – wenn er es auch m.E. in einer Weise verstand, die mit einer fundamentalen Unklarheit behaftet ist – als das „Prinzip der Prinzipien“ bezeichnete, in der Tat auf den Kern und das Richtmaß dafür hin, inwieweit eine bestimmte Philosophie wahrhaftig phänomenologisch ist: nämlich genau in dem Maß, in dem sie uns dazu befähigt, zu den Sachen selbst zurückzukehren. Dieses Richtmaß und Urprinzip der Phänomenologie muß auch darüber entscheiden, ob die Philosophie des Gründers der phänomenologischen Bewegung in der Tat selber phänomenologisch war und geblieben ist; denn wir können dies nicht einfach annehmen, weil Husserl der Gründer dieser Richtung war. Diese Meinung setzt auch Hedwig Conrad-Martius voraus, wenn sie in ihrer Einleitung zu den Schriften Adolf Reinachs sagt, dieser sei „der Phänomenologe schlechthin und als solcher“ gewesen und ihn damit hinsichtlich der Reinheit seines phänomenologischen philosophischen Vorgehens über Husserl stellt.2 Nun hat Husserl von Anfang an viele Momente in den Begriff und in die von ihm dargelegte Methode der Phänomenologie hineingenommen, von denen man mit Fug und Recht zweifeln darf, ob sie diesem Prinzip der Prinzipien der Phänomenologie dienlich sind oder vielmehr von ihm wegführen, wovon ich überzeugt bin, und dies vornehmlich durch drei Momente seiner Philosophie: (a) einmal durch die transzendentale, subjektivistische Wende, die dazu geführt hat, daß Husserl das anschaulich Gegebene auf eine reine Sphäre intentionaler Bewußtseinsgegenstände eingeschränkt und damit seinen eigentlichen und ursprünglichen Begriff der Sachen selbst als objektiver Wesenheiten, welche Quelle apriorischer Wahrheiten und einer das Subjekt transzendierenden evidenten Erkenntnis zugänglich sind, aufgegeben hat; (b) zweitens dadurch, daß er die reale Existenz der Welt, anstatt in dieser einen entscheidenden Gegenstand jeder zu den Sachen selbst zurückkehrenden Philosophie zu erkennen, in seinem Verständnis der epoché als der Methode der Phänomenologie in einem 2

Vgl. die russische Ausgabe von: Adolf Reinach, Gesammelte Schriften.

EINFÜHRUNG

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‚reinen Essentialismus‘, in dem ihm auch solche realistischen Phänomenologen wie Adolf Reinach in gewissem Ausmaß gefolgt sind, radikal vernachlässigt hat. (c) Drittens dadurch, daß er ein viel zu enges Verständnis der phänomenologischen Methode entwickelt hat, welche Kernbereiche der Metaphysik (etwa das ganze Gebiet der philosophischen Seinslehre, der Gotteslehre) sowie der philosophischen Anthropologie (etwa der Lehre von der Seele) ausgeklammert bzw. für unmöglich gehalten hat, weil sie uns nicht in derselben direkten Weise wie etwa die sinnliche Wahrnehmung, sondern nur in indirekterer Weise gegeben sind. In engem Zusammenhang mit einer Überwindung der drei genannten wesentlichen Mängel der Husserlschen Auffassung der Phänomenologie muß auch der Personalismus der realistischen Phänomenologen hervorgehoben werden. Eine volle Zuwendung der Phänomenologie zum Wesen und Wert der realen, lebendigen Person anstatt einem abstrakten transzendentalen Ego wurde erst auf dem Boden der neu durchdachten phänomenologischen Methode der realistischen Phänomenologie möglich.3 In diesem Kontext ist auch die enge Allianz zwischen der schon von Hause aus zutiefst personalistischen realistischen Phänomenologie und der polnischen personalistischen Anthropologie und Ethik zu sehen, die sich über die letzten Jahrzehnte weg (seit 1978) entwickelt hat.4 3

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Vgl. dazu außer den in der letzten Anmerkung angegebenen Werken auch Josef Seifert, Discours des Méthodes. The Methods of Philosophy and Realist Phenomenology, (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: OntosVerlag, 2009); Discurso sobre los métodos. Filosofía y fenomenología realista (Madrid: Encuentro, 2008); ders., „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Äquivokationen im Ausdruck ‘transzendentales Ego’ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus.“ Salzbuger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970; ders., What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. Value Inquiry Book Series (VIBS), ed. by Robert Ginsberg, vol. 51/Central European Value Studies (CEVS), ed. by H.G. Callaway (Amsterdam: Rodopi, 1997); ders., „Die vierfache Quelle der Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte“, in: Burkhardt Ziemske (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag (München: Verlag C.H. Beck, 1997), S. 165-185. Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik: Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hrsg. v. Maria Scheler (5e Aufl., Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern: A. Francke, 1966); Formalism

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Anthologie der realistischen Phänomenologie

In alledem hat die hier ‚realistische Phänomenologie‘ genannte Bewegung Husserls Standpunkt m.E. entscheidend vertieft, kritisch durchdacht, und damit über eine Reihe von Schritten zu einem radikal neuen Verständnis der Phänomenologie und ihrer Methode geführt.5

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in Ethics and Non-Formal Ethics of Values. A New Attempt Towards the Foundation of an Ethical Personalism, transl. Manfred S. Frings and Roger L. Funk (Evanston: Northwestern University Press 1973). Vgl. Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl., Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975); ders., Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973); Balduin Schwarz; The Human Person And the World Of Values. A Tribute To Dietrich Von Hildebrand by his Friends in Philosophy (New York: Fordham University Press, 1960), reprinted (Westport, Connecticut: Greenwood Press Publishers, 1972); Edith Stein; Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986); Karol Wojtyáa, The Acting Person (Boston: Reidel, 1979); cf. also the corrected text, authorized by the author (unpublished), (official copy), Library of the International Academy of Philosophy in the Principality of Liechtenstein; Josef Seifert, „Diligere veritatem omnem et in omnibus“, in: Ethos, Nr. 28, 1994, S. 75-76; ders., Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989); ders., “Karol Cardinal Karol Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), pp. 130-199; Tadeusz StyczeĔ, „Zur Frage einer unabhängigen Ethik“, in: Karol Kardinal Wojtyáa, Andrzej Szostek, Tadeusz StyczeĔ, Der Streit um den Menschen. Personaler Anspruch des Sittlichen (Kevelaer: Butzon und Bercker, 1979), S. 111-175; John F. Crosby, The Selfhood of the Human Person (Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1996). Vgl. auch Rocco Buttiglione, Il Pensiero di Karol Wojtyáa (Milano: Jaca Book, 1982), A Philosophy of Freedom: the Thought of Karol Wojtyáa, Introduction by Michael Novak, Trans. and Afterword by Paolo Guietti and Francesca Murphy (Washington, D.C.: Catholic University of America Press, 1997). Vgl. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991); ders., „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“, Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27; Fritz Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode (Salzburg: A. Pustet, 1976); ders., Die Objektivität der Werte (Regensburg: Josef Habbel Verlag, 1973); ders., “Insight and Objective Necessity – A Demonstration

EINFÜHRUNG

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Es ist evident, daß in dieser Bemerkung eine Auffassung der realistischen Phänomenologie impliziert wird, die sich an einem Ideal derselben orientiert und nicht etwa nach rein geographischen oder historischen Gesichtspunkten richtet wie einer Zuordnung der Münchener oder der Göttinger Phänomenologie zu den Städten Göttingen oder München, oder der Frage, ob ein Denker Schüler von Lipps gewesen ist, usf.6 In der vorliegenden russisch-deutschen Anthologie realistischer Phänomenologen möchten wir den russischen, aber auch den deutschen Leser in größerem Umfang mit dieser Schule vertraut machen. Nicht ohne Grund erschien diese erste Anthologie realistischer Phänomenologie zuerst in Rußland, ist es doch ihre an Husserls Logische Untersuchungen anknüpfende, aber zugleich sehr neuartige Deutung der Maxime „Zu den Sachen selbst“, welche die Bewegung der realistischen Phänomenologie eng mit der russischen Philosophie verbindet.7 Daher ist es begrüßenswert und verständlich, daß in Rußland nunmehr schon seit einigen Jahren die Schule der realistischen Phänomenologie einer breiteren akademischen Öffentlichkeit vorgestellt wird.8 Dabei ist es einerseits

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8

of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107-197; Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987). Unter diesem sicher historisch interessanten Gesichtspunkt hat Vitaly Kurennoj die Münchener Phänomenologie von anderen Richtungen abgrenzen wollen. Es ist bemerkenswert, daß gerade in Rußland auch die erste fremdsprachige Ausgabe der Logischen Untersuchungen erschien, nämlich Edmund Husserl, Logicheskija izsledovanija, chast pervaja: Prolegomeny k chistoi logike (Sankt Petersburg, 1909), mit einem berühmten Vorwort von S. Frank. Adolf Reinach. Gesammelte Schriften herausgegeben von seinen Schülern (Halle a.d.Saar: Max Niemeyer, 1921). Ⱥɞɨɥɶɮ Ɋɚɣɧɚɯ. ɋɨɛɪɚɧɢɟ ɫɨɱɢɧɟɧɢɣ / ɉɟɪ. ɫ ɧɟɦ., ɫɨɫɬ., ɩɨɫɥɟɫɥ. ɢ ɤɨɦɦɟɧɬɚɪɢɣ ȼ. Ⱥ. Ʉɭɪɟɧɧɨɝɨ. Ɇ.: Ⱦɨɦ ɢɧɬɟɥɥɟɤɬɭɚɥɶɧɨɣ ɤɧɢɝɢ, 2001. ( Reinach, Adolf. – Sobranie socinenij / Adolf Rajnach ; perevod s nemeckogo V. Kurennogo. – Moskva : Dom intellektual'noj knigi, 2001. (Serija “Realisticeskaja fenomenologija”), 60 S. Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, (hrsg. von der Dietrich-von-HildebrandGesellschaft). o. J.; Ins Russische übersetzt von A. Smirnov, mit einem Nachwort von Karla Mertens, Ⱦɢɬɪɢɯ ɮɨɧ Ƚɢɥɶɞɟɛɪɚɧɞ "ɑɬɨ ɬɚɤɨɟ ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ?" (St. Petersburg: Aletheia, 1997); Ethik, russisch: übersetzt von A. Smirnov, mit einem

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Anthologie der realistischen Phänomenologie

erstaunlich, daß diese Bewegung in Deutschland, von wo sie ausging und wo ihre wichtigsten Vertreter lebten oder studierten,9 heute wesentlich weniger beachtet wird als in Rußland,10 andererseits ist dies begreiflich.

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Nachwort von Karla Mertens, ǪǿǵǷǭ (St. Petersburg: Aletheia, 1999); ders., Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973); ders., Das Wesen der Liebe; Dietrich von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971); russisch: vgl. auch Josef Seifert, «ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ ɤɚɤ ɫɬɪɨɝɚɹ ɧɚɭɤɚ» (Philosophy as a Rigorous Science. Towards the Foundations of a Realist Phenomenological Method – in Critical Dialogue with Edmund Husserl’s Ideas about Philosophy as a Rigorous Science), (Russian), Logos 8 9 (1997), 54-76. Man denke an Adolf Reinach, Alexander Pfänder, Max Scheler, Moritz Geiger, Hedwig Conrad-Martius, Dietrich von Hildebrand, Edith Stein, und den polnischen Husserl-Schüler und großen Vertreter der realistischen Phänomenologie Roman Ingarden, dessen unbedingt hierher gehörigen Beiträge wir in einem eigenen Band kürzlich der Öffentlichkeit neu zugänglich gemacht haben: Roman Ingarden, Über das Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum LiechtensteinPhilosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein, vol. 18. (Hrsg. von Peter McCormick), (Heidelberg: Winter Verlag, 2007). Auch aus seinen folgenden Werken hätten hier einige Texte publiziert werden können: Über die Verantwortung. Ihre ontischen Fundamente (Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1970); Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972; Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I, Existentialontologie (Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965). Das gilt nicht für den ganzen deutschsprachigen Raum. Denn in Liechtenstein ist ein mit anderen Zentren in den USA, in Spanien, in Italien, in Polen, in der Ukraine, in Ungarn und in anderen Ländern eng verbundenes internationales Zentrum dieser Schule entstanden, in dem Philosophen wie Czesáaw PorĊbski, Peter McCormick, Mariano Crespo, Martin Cajthaml und ich arbeiten. Ich habe in verschiedenen Arbeiten versucht, die Methode dieser realistischen Phänomenoloie darzustellen, weiterzuentwickeln und in manchen Punkten neu zu begründen. Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996); ders., «ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ ɤɚɤ ɫɬɪɨɝɚɹ ɧɚɭɤɚ» (Philosophy as a Rigorous Science. Towards the Foundations of a Realist Phenomenological Method – in Critical Dialogue with Edmund Husserl’s Ideas about Philosophy as a Rigorous Science), (Russian), Logos10 9 (1997), 54-76. Andere Arbeiten von mir über die

EINFÜHRUNG

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Denn gerade in Rußland standen dieser Bewegung viele Denker außerordentlich nahe, wahrscheinlich wesentlich näher als im durch den Deutschen Idealismus geprägten Deutschland, ja gehörten ihr sogar an, wie Alexandre Koyré. Auch viele andere russische Philosophen wie Wladimir Solowjew, Sergey Ljudvigovich Frank, Alexej Losew, Nikolai Berdjajew, Aron Gurwitsch und Gustav Špet weisen in ihren Schriften viele Verwandtschaften zur realistischen Phänomenologie auf, teils als deren geistige Vorfahren wie Solowjew (auch in theoretischer und methodologischer Hinsicht),11 teils als den realistischen Phänomenologen verwandte und teils auch als Denker, die von realistischen Phänomenologen beeinflußt wurden, wie Gustav Špet, der von 1912-1913 bei Husserl studierte,12 nachdem schon drei Jahre zuvor die erste fremdsprachige Übersetzung der für die realistische Phänomenologie und die Phänomenologie überhaupt grundlegendsten Schrift Edmund Husserls, die Logischen Untersuchungen, auf russisch erschienen war.13 Von Helmut Dahm und anderen Autoren wurden ferner bemerkenswerte Parallelen zwischen Wladimir Solowjew und Max Scheler erforscht. Insbesondere Solowjew, dessen Werke in der wohl umfassendsten Gesamtausgabe seiner Schriften fast vollständig in deutscher Sprache vorliegen,

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erkenntnistheoretischen Fundamente der realistischen Phänomenologie sind: Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976); und Back to Things in Themselves, zit. Vgl. Wladimir Solowjew, Theoreticheskaja Philosophija, in Solovyev, V.S., Sochineija, v. I, Moscow, 1988, S. 758-797. Vgl. auch Wladimir Solowjew, Theoretische Philosophie, in Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, Bd. VII, hrsg. Von Wladimir Szylkarski (Freiburg im Breisgau: Erich Wewel Verlag, 1953). Vgl. Gustav Špet, Appearance and Sense: Phenomenology as the Fundamental Science and its Problems. Trans. Tomas Nemeth. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1991.; sowie A. Haardt, Husserl in Rußland. Sprache und Kunst in der Phänomenologie G. Špets und A. Losevs (München, 1991), und Antologija fenomenologicheskoj filosofii v Rossii, Logos, Moscow 1998. Edmund Gusserl, Logicheskie issledovanija, chast pervaja: Prolegomeny k chistoj logike, Razrshennyj avtorom perevod s nemeckogo E. A. Bernstejn. Pod redakciej i s predisloviem S. L. Franka. St. P., 1909. Schon zuvor war der wohl erste Bezug zur Edmund Husserl und der Phänomenologie durch den Aufsatz von G. Chelpanov, „Uchenie Brentano i Gusserlja o predmete psikhologii“ (Brentano and Husserl on the subject of psychology), 1902, hergestellt worden.

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hat viele realistische Phänomenologen durch seine erkenntnistheoretischen Ausführungen inspiriert und wurde von ihnen bewundert.14 Dazu kommt, daß trotz all ihrer fundamentalen philosophischen Irrtümer (inklusive einer letzten Endes relativistischen Theorie der Erkenntnis und einer ideologisierenden Auffassung der Philosophie überhaupt in der Deutschen Ideologie)15 sowie ihrer vielen destruktiven und antipersonalistischen Elemente, eine wichtige Seite der MarxEngel’schen Philosophie und des Dialektischen Materialismus, welche wesentlich zum Erfolg des Marxismus bei intelligenten Denkern beigetragen hat, auf der Unabhängigkeit der allgemeinen Gesetze und vor allem auf der Unabhängigkeit der objektiven Wirklichkeit vom Bewußtsein bestand und somit dem Deutschen Idealismus einen Realismus entgegensetzte. Doch nicht nur die Wirklichkeit als solche (gegenüber abstrakten Gegenständen des Bewußtseins), auf deren Bedeutung Marx und Engels mit aller Energie hinweisen, auch die Wirklichkeit von Personen, die Wirklichkeit des Anderen, des armen, ausgebeuteten Arbeiters, des Kindes, usf. steht einem vor Augen, wenn man etwa das Kommunistische Manifest liest, in welchem man sogar – trotz der allgemeinen radikal antipersonalistischen Tendenz des Kommunismus – gewisse Elemente eines Personalismus, einer personalistischen und realistischen Ethik der Sorge um den Menschen und sogar einen ausdrücklichen Hinweis auf den erhabenen Wert des Menschen, auf seine Würde, findet. Gerade diese Elemente im Marxismus können vielleicht am ehesten das Zugehörigkeitsgefühl mancher edler Denker des 20. Jahrhunderts, wie Leszek Koáakowski16 oder 14

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Vgl. vor allem Wladimir Solowjew, Theoreticheskaja Philosophija, in Solovyev, V.S., Sochineija, v. I, Moscow, 1988, S. 758-797. Vgl. auch Wladimir Solowjew, Theoretische Philosophie, in Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, Bd. VII, hrsg. Von Wladimir Szylkarski (Freiburg im Breisgau: Erich Wewel Verlag, 1953). auch Helmut Dahm, Solov'ev und Scheler. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie (München und Salzburg: A. Pustet, 1971). Vgl. „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheitserkenntnis“ in Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990; „Die Philosophie als Überwindung der Ideologie“, in: Al di là di occidente e oriente: Europa, a cura di Danilo Castellano (Napoli/Roma/Benevento/Milano: Edizioni Scientifiche Italiniane, 1994), pp. 27-50. Vgl. Leszek Koáakowski, Main Currents of Marxism, Bd. I-III (Oxford, 1982 f.).

EINFÜHRUNG

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Tadeusz KotarbiĔski, zum Marxismus erklären.17 Um diese Elemente des Marxismus zu sehen, denke man etwa an den folgenden Text aus dem Kommunistischen Manifest: Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.... Werft ihr uns vor, daß wir die Ausbeutung der Kinder durch ihre Eltern aufheben wollen? Wir gestehen dieses Verbrechen ein.18

Das vielen edlen Menschen zu Herzen gehende und sie für den Kommunismus begeisternde Ethos der Befreiung der Menschen vor der Entwürdigung und Ausbeutung ist zweifellos ein Element, das historisch gesehen manche marxistisch geprägte russische Denker einer realistischen Philosophie und personalistischen Ethik verbindet, obwohl objektiv und in ihren letzten Grundlagen vielleicht niemals in der Vergangenheit eine so 17

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Vgl. zur kritischen Diskussion einiger Elemente der Ethik Tadeusz KotarbiĔskis Tadeusz StyczeĔ, „Zur Frage einer unabhängigen Ethik“, in: Karol Kardinal Wojtyáa, Andrzej Szostek, Tadeusz StyczeĔ, Der Streit um den Menschen. Personaler Anspruch des Sittlichen (Kevelaer: Butzon und Bercker, 1979), S. 111175. Karl Marx/Friedlich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MarxEngels, Werke, Band 4, (Berlin: Dietz Verlag, 1974), S. 459-493.

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antipersonalistische Philosophie existiert hat wie der Marxismus/Leninismus und vor allem die Ideologie und das in die Praxis umgesetzte System des Stalinismus. Dessen unbeschadet gewannen Marx und Engels mit dem glänzend geschriebenen Manifest der Kommunistischen Partei zweifellos viele Anhänger, weil diese im Marxismus gegenüber dem Pragmatismus, aber auch gegenüber der abstrakten Hegelschen und anderen idealistischen Philosophien des Westens ein neues Interesse am realen Menschen, an dem aus Fleisch und Blut bestehenden wirklichen Menschen fanden, der nicht in blutleere Abstraktionen eines transzendentalen Ich aufgelöst werden kann und darf.19 Diese Elemente des Realismus und eines Pathos der geforderten Bejahung der Würde der Person bei Marx sind – ich wiederhole: trotz des kaum je zuvor dagewesenen Angriffs auf die Menschenwürde im Marxismus – nicht unbedeutend, zumal Marx sogar den Begriff der Würde in seinem eigentlichen Sinn eines objektiven und unverletzlichen Wertes, auch wenn seine Gesamtphilosophie für einen solchen keinerlei angemessene Kategorie und Stelle hatte, auf die menschliche Person anwandte, wie aus der oben zitierten Stelle aus dem Kommunistischen Manifest hervorgeht.20 Gerade die Person aber ist die eigentliche Realität. Das eigentlichste Seiende. Was kann daher ein wichtigerer Ausdruck einer realistischen Philosophie sein als die jeden Solipsismus durchbrechende Anerkennung der nicht konstituierten Wirklichkeit der anderen Person, des Leidenden, des Unterdrückten, von denen auch Marx und Engels sprechen? 19

Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, 2: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.

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In seinen unveröffentlichten und an der Universität Salzburg in den frühen 70er Jahren gehaltenen Vorlesungen über die gesamte Geschichte der Philosophie und insbesondere in einem Seminar über den frühen Marx und Das Kommunistische Manifest hat Balduin Schwarz auf diese Elemente hingewiesen. Vgl. dazu den Nachlaß von Balduin Schwarz an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein.

EINFÜHRUNG

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So könnte man in der realistischen Phänomenologie eine Bewahrung und vor allem eine echte philosophische Begründung der realistischen Aspekte der marxistischen Philosophie erblicken, insbesondere der Marx’schen Betonung der grundlegenden Bedeutung und des hohen philosophischen und menschlichen Interesses der realen Existenz der Welt und der Personen, die in ihrer Geschichte existieren und nicht nur ums Leben und Überleben, sondern auch um eine Anerkennung ihrer Würde und Rechte ringen. Während aber Marx diese Realität und Würde der Person zunehmend pragmatisch umdeutete und durch seinen historisch-soziologischen Relativismus sowie eine Verkennung vieler Folgen der Menschenwürde verdunkelte und sogar leugnete, lösten realistische Phänomenologen Marxens Einsichten in die Menschenwürde von solchen irrigen und destruktiven Elementen los und stellten sie in ihrer Reinheit und ihrem Fundament in notwendigen und ewigen Wahrheiten über den Menschen dar. Die gewaltige und von der Philosophie voll anzuerkennende Rolle der real existierenden Person und der Gemeinschaft von Personen tauchte in ganz anderer und reinerer Form als im Marxismus in der dialogischen Philosophie der Existenz und in der Entdeckung der grundlegenden Bedeutung des geliebten Du zu einem angemessenen Verständnis des Menschen überhaupt, sowie im neuen philosophischen Interesse an der Ich-Du-Beziehung und Gemeinschaft zwischen Menschen auf, wie wir es bei Soeren Kierkegaard, Martin Buber, Gabriel Marcel, Emmanuel Levinas und anderen Denkern finden und die ebenfalls in Rußland ein lebhaftes Echo fanden.21 Die Einsicht in die Notwendigkeit einer philosophischen Würdigung der einmaligen Bedeutung der realen individuellen Person ist wohl einer der Hauptgründe, aus denen auch Martin Buber und die stärker phänomeno21

Vgl. Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (Ges. Werke 16. Abteilung) Teil I und II. (Düsseldorf/Köln, Diederichs, 1957/1958); Martin Buber, Ich und Du, in: Martin Buber, Das dialogische Prinzip. 6. Aufl., (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1992); Gabriel Marcel, The Mystery of Being, trans. Rene Hague, 6th ed. (Chicago, 1970); Emmanuel Levinas, Humanisme de l’Autre Homme (Montpellier: Fata Morgana, 1978, second edition): ders., Le Temps et l’Autre (Paris: Presses Universitaires de France, 1979).

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logisch geprägten Gabriel Marcel und Emmanuel Levinas die idealistische Wende der Phänomenologie Husserls verwarfen. Insbesondere Martin Buber stand, trotz einer inneren Nähe zur Idee einer Rückkehr zu den Urgegebenheiten, der Phänomenologie überhaupt skeptisch gegenüber, obwohl auch in dieser ganz wesentliche Beiträge zu einer Philosophie des Ich und Du sowie der Gemeinschaft überhaupt erbracht wurden. Der Grund für diese Skepsis Bubers gegenüber der Phänomenologie lag wohl nicht zuletzt darin, daß diese das lebendige Ich und Du in ein transzendentales Ego aufzulösen und herabzuwürdigen schien und daß sie die eigentliche Urgegebenheit der Person, des ‚Du‘, das niemals ein bloßer Gegenstand intentionalen Bewußtseins sein kann, sondern in sich selber wirklich ist, durch eine Beschränkung der „Sachen selbst“ auf reine Bewußtseinsgegenstände (noemata) aufzulösen drohte.22 Besonders die in Bubers Denken zentrale Wirklichkeit Gottes und Rechtfertigung der Gottesliebe als des höchsten sittlichen Aktes läßt sich, wie Buber sieht, von einer so gedeuteten rein immanenten Phänomenologie, die in gewisser Weise auch Jean-Paul Sartre von seinem atheistischen Ansatz her zu überwinden suchte,23 nicht erklären.24 Auch ein solches dialogisches Denken über die Beziehung realer personaler Wesen, wie es ebenso wie bei Buber, Levinas und Marcel innerhalb der realistischen Phänomenologie zur Blüte kam, besitzt in der russischen Philosophie, etwa in Wladimir Solowjews Philosophie der 22

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Vgl. Martin Buber, Ich und Du, in: Martin Buber, Das dialogische Prinzip. 6. Aufl., (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1992); ders., Das Problem des Menschen (Gütersloher Verlagshaus, 1982). Mit dem Gesagten schließe ich keineswegs aus, daß es bei Martin Buber ausgesprochen relativistische Momente gibt, auf die insbesondere Wladimir Blitznekov hingewiesen hat. Der Atheismus selbst setzt letzten Endes einen Realismus voraus: daß es Gott wirklich nicht gibt. In seinem Versuch einer phänomenologischen Metaphysik und einer Unterscheidung des être-en-soi und des darüber hinausgehenden être-poursoi. Vgl. Jean-Paul Sartre, L’Être et le néant (Paris, 1943). „Aber der Mensch erfährt, wenn er Gott lieben lernt, eine Wirklichkeit, die die Idee überwächst. Er mag immerhin die große Anstrengung des Philosophen machen, um den Gegenstand seiner Liebe als einen Gegenstand seines philosophischen Denkens festzuhalten: die Liebe zeugt für das Dasein ihres Partners“. Martin Buber, Gottesfinsternis (München: Manesse Verlag, 1953), S. 75. Vgl. das Werk auch in Martin Buber, Werke. Bd.1, (München, 1962).

EINFÜHRUNG

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Liebe und seinem Gedanken, daß die höchste Leistung der Liebe darin bestehe, das Zentrum des eigenen Lebens der Person in eine andere Person zu verlegen sowie allgemeiner gesprochen im agapeischen Element der russischen Idee einer universalen Bruderschaft aller Menschen, entscheidende Wurzeln. Es bestehen gleichermaßen starke Brücken und Verbindungslinien zwischen der dialogischen Philosophie eines Martin Buber sowie der Existenzphilosophie eines Gabriel Marcel einerseits und der realistischen Phänomenologie andererseits, besonders der Philosophie der Liebe Max Schelers und Dietrich von Hildebrands.25 Das ursprüngliche Interesse am individuellen Menschen trat unvergleichlich viel tiefer als bei Marx und im russischen Marxismus in der russischen Literatur auf. In dieser finden wir fünfundzwanzig Jahre nach Erscheinen des Kommunistischen Manifests (1847) in Dostojewskis Die Dämonen (1871-1872) die schärfste Kritik eines vom Dichter in seinen späteren Auswirkungen geahnten kommunistischen Totalitarismus und Antipersonalismus, die erst im 20. Jahrhundert geschichtliche Gestalt annahmen.26 Dostojewski befreite in seinem dichterischen Werk die bei Marx vorhandenen Momente des Realismus und einer Philosophie der Menschenwürde und der Ausbeutung der Armen von den Verzerrungen und sich ankündigenden Greueln der kommunistischen Ideologie. Und in einer solchen reinen Form wurde auch in den Jahren vor dem großen Umbruch, insbesondere von 1980 bis 1989, gerade diese Entdeckung der Würde und Menschenrechte des realen Menschen erneut Schwerpunkt des Interesses in der polnischen, und nach 1990 in der russischen Philosophie. Die Intersubjektivität und Erkenntnis des Anderen 25

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Vgl. außer den eben bereits zitierten Werken Max Scheler, „Ordo amoris“, in: Max Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Band I, herausgegeben von Manfred S. Frings, mit einem Anhang von Maria Scheler, 3. Aufl. (Bern: Bonn, BouvierVerlag, 1986; 1.-2. Auflage im Francke Verlag), Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 345-376; Roger Troisfontaines, S.J., De l’Existence à l’Être. La Philosophie de Gabriel Marcel (Paris, Namur 1953), p. 141; Vladimir Bliznekov, Die Gottesliebe als philosophisches Problem bei Martin Buber und Dietrich von Hildebrand, unveröffentl. Dissertation (Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, 2003). Vgl. Fjodor M. Dostojewski, Die Dämonen, sowie Alexander Solschenizyn, Archipel Gulag.

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gehören heute zu den am meisten erörterten Themen der russischen Philosophie, worin der ursprüngliche, personalistisch orientierte Realismus des russischen Denkens und der russischen Seele anschaulich hervortritt. Die Kenntnis der Hauptvertreter und Geschichte der realistischen Phänomenologie ist für den russischen und osteuropäischen Leser nicht zuletzt deshalb heute wichtig, weil sie beweist, daß es keineswegs der Realismus und Objektivismus waren, die den (übrigens im Grunde ganz relativistischen) Marxismus zu einem Übel und zu einem dogmatischen Totalitarismus machten.27 Ganz im Gegenteil, nur auf einer objektivistischen und realistischen philosophischen Grundlage, und niemals auf einer subjektivistischen und skeptischen, die die Idee einer objektiven Wahrheit preisgibt, lassen sich der Marxismus und totalitäre Systeme überhaupt rational und nachhaltig kritisieren.28 Insbesondere ein vernünftiger und begründeter Widerspruch zur Unterdrückung der Menschenwürde ist nur dann möglich, wenn eine objektive Erkenntnis der Wirklichkeit und der Werte erlangt werden kann. So gab es verständlicherweise keine philosophische Bewegung in Deutschland, die zu einem so rückhaltlosen intellektuellen Widerstand und einer so tiefen Kritik aller Entwürdigungen der Person und der Wahrheit, nicht nur im theoretischen und praktischen Bolschewismus und Marxismus, sondern auch im Antisemitismus und Nationalsozialismus, geführt hat, wie die realistische Phänomenologie,29 währendem viele Vertreter der subjektivistischen, hegelianischen und existentialistischen Phänomenologie eines Heidegger und anderer deutscher Philosophen mit dem Nationalsozialismus, und andere nihilistische Formen der Phänomenologie mit einem inzwischen durchaus (nach dem Abfallen seiner personalistischen Maske) 27 28

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Vgl. Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben (Hamburg: Rowohlt, 1990). Vgl. dazu N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1991). Ich zitiere hier nur als Beispiel Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933-1938. Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, mit Alice von Hildebrand und Rudolf Ebneth hrsg. v. Ernst Wenisch (Mainz: Matthias Gründewald Verlag, 1994); siehe auch (Hrsg.), Dietrich von Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus (Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, 1998).

EINFÜHRUNG

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als anti-personalistische und relativistische politische Ideologie erwiesenen Marxismus,30 mit Denkrichtungen, die sie als Ausdruck des Zeitgeistes empfanden, paktierten.31 Gerade dieser, aber auch der folgende Umstand dürfte die russischen Leser an der realistischen Phänomenologie sehr interessieren: Es liegt nämlich dem gewaltigen und historisch einmaligen Ereignis des „friedlichen Zusammenbruchs“ der Herrschaft des Kommunismus ein echter, der Phänomenologie sowohl historisch als auch inhaltlich äußerst nahestehender personalistischer Realismus zugrunde. Die polnische SolidarnoĞüBewegung stützte sich ganz auf diesen realistischen Personalismus, ohne welchen die Großtat dieser Bewegung als Anfang vom Ende des Kommunismus undenkbar gewesen wäre. Eine Schlüsselrolle hatte hier sicher der polnische Philosoph und Papst Karol Wojtyáa inne, dessen Denken der SolidarnoĞü-Bewegung weitgehend zugrundelag.32 Seine Philosophie der Solidarität als eines Grundprinzips der Sozialphilosophie, obwohl zweifellos vom Personalismus und Solidaritätsbegriff Max Schelers sowie von jenem Dietrich von Hildebrands und anderen Personalisten aus dem Kreis der Phänomenologen beeinflußt, ist sehr originell und eigenständig und stellte mit äußerster Konsequenz die 30

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Vgl. Josef Seifert, „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über MarxEngels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheitserkenntnis“ in Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990. Man denke an Jean-Paul Sartre, dessen nihilistischen und welt- und selbstschaffenden Ideen der Freiheit – trotz der erwähnten Rückwendung zur Ontologie und Metaphysik – einen tiefen Subjektivismus und Relativismus implizieren. Erst nach der grausamen Unterdrückung der Freiheitsbewegung in Ungarn 1956 begann Sartre, der das stalinistische Rußland und China in den Jahren zuvor besucht und reißerisch gepriesen hatte, sich von Stalisnismus und Kommunismus zu distanzieren. Mit dieser Bemerkung will ich nicht im mindesten die wichtige Rolle bestreiten, die der russische Dichter und Denker Alexander Solschenizyn und viele andere heldenhafte Persönlichkeiten in dieser Wende spielten. Zur Rolle Karol Wojtyáas vgl. Rocco Buttiglione, A Philosophy of Freedom: the Thought of Karol Wojtyáa, Introduction by Michael Novak, Trans. and Afterword by Paolo Guietti and Francesca Murphy (Washington, D.C.: Catholic University of America Press, 1997); vgl. Auch Tadeusz StyczeĔ, „Karol Wojtyáa – Philosoph der Freiheit im Dienst der Liebe,“ in: K. Wojtyáa – Johannes Paul 11, Erziehung zur Liebe (Augsburg, 1979), S. 156 ff. Vgl. Ferner George Weigel, Karol Wojtyáa.

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Anthologie der realistischen Phänomenologie

Person in ihrer Würde und ihren Rechten, sowie die menschliche Gemeinschaft zwischen Personen in den Mittelpunkt der politischen Befreiungsbewegung.33 Die SolidarnoĞü-Bewegung, die in Polen begann, wurde 1989 und danach wiederum für die Geschichte Rußlands und der Welt hoch bedeutsam und baute auf einem phänomenologisch orientierten und realistisch-personalistischen Denken vom Menschen und seiner Würde auf. So darf man hoffen, daß vor allem im Hinblick auf die große vormarxistische und antimarxistische russische Philosophie, aber auch im Sinne einer Rettung der wahren realistischen Elemente des Marxismus, ohne die dieser niemals so große Macht auf die von Natur aus erdverbundene und realistische russische Seele, wie sie uns niemand gewaltiger als Dostojewski geschildert hat, ausgeübt hätte, diese Ausgabe realistischer Phänomenologen gerade in Rußland wohlwollend aufgenommen wird. Auch mit der klassischen russischen Literatur und einigen großen gegenwärtigen russischen Schriftstellern weiß sich die realistische Phänomenologie zutiefst verbunden.34 Diesen, allen voran Dostojewski, dessen gigantisches und so tief metaphysisches schriftstellerisches Werk viele realistische Phänomenologen wie kaum ein anderes dichterisches Werk inspiriert hat, verdanken Max Scheler, Dietrich von Hildebrand und auch andere Phänomenologen viel von jener Soseinserfahrung, ohne die ein phänomenologischer Rückgang auf die Sachen selbst undenkbar wäre.

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Vgl. Karol Wojtyáa, „Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in Anlehnung an Max Scheler zu schaffen“, in: Karol Wojtyáa/Johannes Paul II, Primat des Geistes. Philosophische Schriften (Stuttgart-Degerloch: Verlag Dr. Heinrich Seewald, 1980), S. 35-326. So hat unsere Akademie Solschenizyn ein Ehrendoktorat verliehen. Vgl. die russisch-englisch-deutsche Ausgabe seiner Rede: Alexander Solschenizyn, Macht und Moral zu Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Akademie-Reden (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1994).

EINFÜHRUNG

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II. WAS IST DIE „REALISTISCHE PHÄNOMENOLOGIE“ UND WAS IHRE METHODOLOGISCHE BEDEUTUNG? Worin besteht aber eine realistische Phänomenologie und was ist der Grund ihrer Bedeutung? 1. Die realistische Phänomenologie als klassische, um die Wahrheit bemühte, Philosophie überhaupt Unter realistischer Phänomenologie verstehen wir in der vorliegenden Anthologie in erster Linie eine Philosophie, die in wirklich rigoroser Weise der Maxime Husserls folgt, zu den Sachen selbst zurückzukehren. Gerade aus diesem Grund ist diese Richtung in erster Linie nicht eine neue Schule, die etwa unter die phänomenologische Bewegung als deren Subspezies eingeordnet werden dürfte oder sich gar an alle konkreten Ideen Husserls über die epoché und die Methode der Philosophie halten müßte. Sie ist vielmehr in erster Linie einfach echte Philosophie, insofern sich diese nicht in Gedankenspielen und Sophistik ergeht, welche die Wahrheit über die Sachen verfälscht, vorschnelle gewaltsame Konstruktionen und Systeme entwickelt oder einem Reduktionismus verfällt, sondern nichts als die Welt und die Dinge aussprechen will, wie sie wirklich sind und uns gegeben sind. Diese eigentlichste Grundidee der phänomenologischen Methode wurde auch lange vor Husserl von Johann Wolfgang von Goethe bewundernswert und eindrücklich formuliert. Man betrachte etwa die folgenden Texte, in denen Goethe das innerste Anliegen der Phänomenologie vorweggenommen hat: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.35

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Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann (Leibzig: InselVerlag, 1921) S. 448.

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Anthologie der realistischen Phänomenologie Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt...36 Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... 37

In diesem Sinne hat auch Balduin Schwarz, ein bedeutendes Mitglied dieser realistischen phänomenologischen Bewegung,38 immer wieder Goethes Wort als Programm einer echt phänomenologisch fundierten Historie der Philosophie zitiert: „Ich habe die Geschichte der Philosophie niemals als reine Historie betrachtet, sondern als Auseinandersetzung mit der Sache der Philosophie. Dabei ist mir oft das Goethe-Wort vor der Seele gestanden: Man spricht immer vom Studium der Alten. Allein, was will das anderes sagen als: Richte Dich auf die wirkliche Welt und versuche sie auszusprechen, denn das taten die Alten auch, da sie lebten.“39

Mit anderen Worten: realistische Philosophie ist eine Philosophie, die sich strikt an das gegebene Wesen der Dinge hält und nichts als die Wahrheit über sie sucht. Ein solches philosophisches Programm ‚Zurück zu den Sachen!‘ aber ist nicht eine moderne Idee Husserls, sondern einfach das Wesen guter Philosophie überhaupt. Und gerade deshalb eröffnen wir diese Anthologie auch mit Texten klassischer und mittelalterlicher Philosophen und fügen Texte aus dem Werk russischer Denker bei, die genau dieses Ziel formuliert bzw. realisiert haben. Man könnte diesen natürlich zahlreiche andere Texte, auch solche aus der Periode der modernen Philosophie (von Pascal. Descartes, Leibniz, Kant, Hegel, Kierkegaard und anderen) hinzufügen, in deren Werken wir – vielleicht 36 37 38

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Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Einleitung, Bd. 37, S. 9. Farbenlehre, ebd., V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232-233. Vgl. Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie (Münster, Aschaffenburg, 1934). Balduin Schwarz, (Paula Premoli/Josef Seifert), hrsg., Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie (Heidelberg: C. Winter, 1996), 1.

EINFÜHRUNG

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entgegen den allgemeinen Tendenzen dieser Denker – aus echtem Sachkontakt stammende reine Analysen der Sachen selbst antreffen. Die These, daß eine solche unbedingte Suche nach der Wahrheit die primäre Aufgabe der Philosophie ist, ist wie gesagt keineswegs neu, sondern entspricht vielmehr einer alten klassischen Beschreibung des Philosophen bei Platon. So sagt Platon im 6. Buch der Politeia, 485: Nächstdem betrachte nun dieses, ob es wohl neben jenem die notwendig in ihrer Seele haben müssen, welche so werden sollen wie wir sie beschrieben. Was doch? Daß sie ohne Falsch sind und mit Willen auf keine Weise das Falsche annehmen, sondern es hassen, die Wahrheit aber lieben. Wahrscheinlich wohl, sagte er. Nicht nur wahrscheinlich, Freund, sondern ganz notwendig wird, wer in irgend etwas von Natur verliebt ist, alles seinem Lieblingsgegenstande Verwandte und Angehörige auch lieben. Richtig, sagte er. Könntest du nun wohl etwas der Weisheit Verwandteres finden als die Wahrheit? Wie sollte ich, sprach er. Kann also wohl dieselbe Natur weisheitsliebend sein und trugliebend? Keineswegs wohl. Der in der Tat Wißbegierige also muß nach aller Wahrheit gleich von Jugend an möglichst streben. Allerdings ja.40

Eine Philosophie, die sich im Sinne der Beschreibung des Philosophen im 6. Buch des Staates nach nichts als der Wahrheit bemüht, tut genau das, was das eigentlichste Ziel der realistischen Phänomenologie ist, weshalb wir auch, gleichsam als Motto der vorliegenden Bände, kurze Texte von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin an den Anfang setzen. Obwohl aber die realistische Phänomenologen nur das getan haben, was alle großen Denker vor ihnen taten, insofern sie nicht konstruiert, sondern 40

Genau diesem Ziel will auch jene Schule der Philosophie folgen, die sich dem Anliegen einer lebendigen Weiterführung der realistischen Phänomenologie verschrieben hat, nämlich die Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, deren Motto lautet: diligere veritatem omnem et in omnibus, alle Wahrheit lieben und sie in allem lieben.

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Anthologie der realistischen Phänomenologie

etwas gesehen und die Sachen selbst getreu analysiert haben, bemüht sich die realistische Philosophie um eine ausdrückliche Methode, um dieses Ziel einer umfassenden und sachnahen Philosophie systematisch zu realisieren. Unter Methode kann man dreierlei verstehen: a) die einem bestimmten Gegenstandsbereich angemessenen Erkenntnisformen, b) die Elemente und Schritte, die man innerhalb dieser Erkenntnisformen beachten und durchführen muß, um sie möglichst systematisch, kritisch und umfassend zu gewinnen; c) bestimmte Hilfsmittel im Dienst der betreffenden Erkenntnis: Das erste dieser Elemente hat Husserl mit verschiedenen Ausdrücken bezeichnet, unter denen die ‚kategoriale Anschauung‘ der sechsten Logischen Untersuchung und die Einsicht bzw. Wesenseinsicht, die hervorstechendsten sind, während Max Scheler die Ausdrücke ‚Wesensschau‘ und ‚Wesenseinsicht‘ bevorzugte. Dabei könnte man innerhalb dieser unmittelbaren Erkenntnis noch zwei Erkenntnisformen unterscheiden: (1) eine geistige rezeptive Wesenserschauung (von ähnlicher Unmittelbarkeit wie die Sinneswahrnehmung), die das Kant’sche Dogma überwindet, daß unmittelbares Wahrnehmen nur im Reich der Sinne und sinnlichen Anschauung vorkommt. Diese unmittelbare Erkenntnisform der kategorialen Anschauung (Wesensschau) hat allgemeine (‚kategoriale‘) und in sich notwendige Wesenheiten zum Gegenstand, deren Abgrenzung von kontingenten und nicht-notwendigen Wesen, welche Gegenstand der empirischen Wissenschaften sind, in systematischer Weise erstmals Dietrich von Hildebrand durchgeführt hat; einige seiner Texte zu diesem Gegenstand werden im ersten Teil der vorliegenden Anthologie veröffentlicht. Die unmittelbare Schau des Wesens ähnelt der Wahrnehmung, sie hat jedoch geistige und intelligible Gegenstände. Deshalb ist sie eher ein unmittelbares geistiges Erfassen und Verstehen (eine Noesis im Sinne Platons und Aristoteles’), ein unmittelbares intelligere, als ein reines Wahrnehmen, dessen Gegenstand wir nur deskriptiv beschreiben könnten, weshalb auch der häufig gebrauchte Ausdruck einer phänomenologischen Deskription unzutreffend bzw. sehr ungenügend ist. In der Wesenseinsicht im engeren Sinne hingegen sind uns nicht Wesenheiten als solche, sondern in diesen wurzelnde Wesenssachverhalte

EINFÜHRUNG

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gegeben: in ihr erfassen wir, daß etwas so sein muß oder nicht so sein kann, usf.41 Notwendige Wesenheiten und die in ihnen gründenden notwendigen Sachverhalte erfassen wir in den zwei beschriebenen Formen unmittelbarer Erkenntnis der Wesensschau und Wesenseinsicht. Diese von Adolf Reinach meisterhaft analysierte und gehandhabte Methode42 wurde durch einige wichtige Unterscheidungen grundverschiedener Arten von Wesenheiten und verschiedener Bedeutungen von a priori von Dietrich von Hildebrand zu völlig neuer Klarheit gebracht.43 Es erfaßt jedoch die unmittelbare philosophische Erkenntnismethode (im Sinne der Erkenntnisform der Philosophie) keineswegs nur Wesen oder Wesenheiten, sondern auch die vom Wesen ganz verschiedene Existenz, die in einer anderen Art von Erfahrung und sich auf diese stützender intuitiver Erkenntnis erfaßt wird, welche sowohl konkrete Existenz als auch das allgemeine Moment erfaßt, welches das Sein im Sinne des Existierens vom Wesen und Sosein eines Dinges unterscheidet und Existenz von vielen anderen Phänomenen, die auch Edmund Husserl, Max Scheler und andere Phänomenologen mit diesem Urphänomen verwechselt haben, abzugrenzen erlaubt.44 Elemente innerhalb dieser Methode im Sinne der phänomenologischen Erkenntnisform sind etwa eine sorgfältige Wesensanalyse (die sich von einer bloßen Deskription von reinen Fakten oder nicht-notwendigen Soseinsformen scharf unterscheidet). Eine derartige Wesensanalyse und ihr hier hervorzuhebendes Moment der Unterscheidungen untersucht systematisch die verschiedenen einsichtigen allgemeineren oder spezifischeren 41

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Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke. Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140. Vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, sowie ders., „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg. v. Karl Schuhmann Barry Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141-278. Vgl. die Auswahl aus seinen erkenntnistheoretischen Schriften in diesem Band. Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2 und 3.

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Wesensmerkmale von Raum, Zeit, Person, Erkennen, Freiheit, Gemeinschaft usf. Sie führt ferner zur Abgrenzung und Unterscheidung dieser Gegebenheiten von benachbarten Phänomenen, mit denen sie leicht verwechselt werden können, sowie zum Auffinden ihrer Gegensätze, Quellen, Bedingungen, Ursachen, Folgen, usf. Hilfsmittel im Prozeß des Erlernens eines solchen rein geistigen Erschauens der Urphänomene bzw. methodologische Werkzeuge, durch die man zur Wesenserkenntnis gelangen kann, wären etwa die Methode der epoché in einem noch näher zu bestimmenden Sinne der ‚Einklammerung‘ unwesentlicher Momente oder auch innerhalb der Wesenserkenntnis der realen Existenz, die stufenweise Abstraktion, das Ausgehen von einer Fülle verschiedenartiger konkreter Beispiele eines Phänomens, um nicht das, was nur einer Unterart eines Phänomens angehört, mit einer allgemeinen Wesensbestimmung zu verwechseln, die ‚freie Variation‘ aller für ein Wesen nicht unerläßlichen Momente in einem konkreten Phänomen oder Beispiel, die Analyse der in der Sprache ausgedrückten Bedeutungen und der Wortverwendungen, etc.45 2. Die Wiederentdeckung der epistemologischen Transzendenz als Bedingung der Möglichkeit einer realistischen Phänomenologie und ihre interkulturelle, universal vermittelnde Rolle Es war insbesondere die heute als „realistische Phänomenologie“ bezeichnete Bewegung, die sich in immer radikalerer Weise in ihrer Deutung der Husserlschen Maxime der phänomenologischen Methode: ‚Zurück zu den Sachen‘ von der späteren transzendentalen Phänomenologie Husserls abgesetzt hat und auf das schärfste von jeder subjektivistischen und relativistischen Deutung der Phänomenologie unterscheidet. Ein solches Denken, wie es die realistische Phänomenologie46 anstrebt, 45

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Vgl. Balduin Schwarz, „The role of linguistic analysis in error analysis,“ in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 34 (1960), S. 127-132. Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991); Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, zit., ders., Back to Things in Themselves, zit.

EINFÜHRUNG

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stellt eine Rückkehr zum „wahren Wesen der Dinge“ dar, das trotz aller kulturellen und sonstigen Verschiedenheiten seiner geschichtlichen Erscheinungsweisen überall dasselbe bleibt und zugleich von jeder historischen und kulturellen Erfahrung aus neu beleuchtet, wenn auch oft in ihr entstellt, wird. Wir erblicken in diesem Moment einen (zunehmend in Schelers Spätphilosophie durch eine Soziologie der Erkenntnis und Schatten eines gewissen historisch-kulturellen Relativismus verdunkelten) Platonismus und Augustinismus.47 In einer solchen geschichtlichen Lage ist es bemerkenswert, daß die realistische Phänomenologie, der die Arbeit der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile gilt, fast allein unter den Philosophien des 20. Jahrhunderts, einen vollen Anschluß an die klassische Tradition antiker und mittelalterlicher, islamischer und christlicher, Philosophie48 findet, 47

48

Vgl. Josef Seifert, Ritornare a Platone. Im Anhang eine unveröffentlichte Schrift Adolf Reinachs, hrsg., Vorwort und übers. Von Giuseppe Girgenti. Collana Temi metafisici e problemi del pensiero antico. Studi e testi, vol. 81, (Milano: Vita e Pensiero, 2000). Vgl. auch Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999)/ The Reality of the Mind. St. Augustine’s Arguments for the Human Soul as Spiritual Substance (London: Routledge and Kegan Paul, 1986). Dies im einzelnen nachzuweisen oder gar eine gesamte Bibliographie über diesen Bezug zwischen realistischer Phänomenologie und der klassischen philosophischen Tradition würde hier zu weit führen. Ich nenne nur einige Werke, die dies nachweisen: Balduin Schwarz, Ewige Philosophie. Gesetz und Freiheit in der Geistesgeschichte (Leipzig: Verlag J. Hegner, 1937; 2. Aufl. Siegburg: Schmitt, 2000); Edith Stein, „Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas v. Aquino: Versuch einer Gegenüberstellung.“ Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Erganzungsband (1929), 315-338. Vgl. auch Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999)/ The Reality of the Mind. St. Augustine’s Arguments for the Human Soul as Spiritual Substance (London: Routledge and Kegan Paul, 1986). Neben meinen schon zitierten Werken Ritornare a Platone, Erkenntnis objektiver Wahrheit, Sein und Wesen, What Is Life?, vgl. weiters Josef Seifert, Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973); ders., „Bonaventuras

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indem sie nicht nur einen Weg zur Begründung objektiver sittlicher Werte, der Erkenntnis des geistigen Wesens der menschlichen Seele, objektiver Gesetze der Logik, usf. beschreitet, sondern sich auch bis in die höchsten Sphären der klassischen Philosophie vorwagt und Beiträge zur Metaphysik, Gotteserkenntnis und Philosophie der Religion leistet, die eine wesentliche Rolle bei den großen klassischen, mittelalterlichen, jüdischen, christlichen, islamischen und nicht-religiösen Denkern spielt.49 Hier ist der neuerlich entwickelte Bezug zwischen arabischen islamischen und westeuropäischen Denkern besonders hervorzuheben. Ein zunächst sehr äußerlicher Bezug der realistischen Phänomenologie zur arabischen und muslimischen Welt besteht historisch gesehen schon seit

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Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977), 38-52; ders., “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424. Die realistische personalistische Phänomenologie berücksichtigt nicht ausschließlich antike und mittelalterliche westliche Denker, sondern auch viele Elemente fernöstlicher Philosophie. Vgl. auch Ismael Quiles, Filosofia budista (Buenos Aires, Ed Troquel, 1973); ders., Qué es el Yoga? (Buenos Aires: Ed. Depalma, 1987) ; ders., „La personalidad e impersonalidad del absoluto segun las filosofias de oriente y occidente“, in: Sociedad Católica Mexicana de Filosofía, ed., El Humanismo y la Metafisica Cristiana en la Actualitad, Segundo Congreso Mundial de Filosofía Cristiana, IV (Monterrey, N.L., Mexico, 1986), S. 39-52; ders., Filosofía de la persona según Karol Wojtyáa. Estudio comparado con la antropología in-sistencial, Obras de I. Quiles (Buenos Aires: Ediciones Depalma, 1987). Vgl. etwa Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein, Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986) oder Alexandre Koyré, L’Idée de Dieu dans la philosophie de S. Anselme (Paris, 1923). Vgl. auch mein Buch Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments, (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), 2. Aufl. 2000, das von Dr. Hamid Lechab ins Arabische übersetzt wurde: Allah Ka Bourhan Ala Oujoudi Allah. Iaadat Taassis Finimonologi Li Al Bourhan Al Antologi. Tarjamat Hamid Lechhab. Afrikya Achark, Adar Al Bayda, Al Maghrib-Bayrouth, Lobnan, 2001.

EINFÜHRUNG

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Max Scheler, hat sich aber in jüngerer Zeit wesentlich weiter entwickelt und ist sehr eng geworden.50 Was aber ist die „realistische Phänomenologie“ und was ist ihr Platz im 20. Jahrhundert? Die Philosophie der „realistischen Phänomenologie“ ist zugleich modern, da sie im 20. Jahrhundert entstand, und klassisch bzw. zeitlos. Daher kann man auch in klassischen Denkern zahlreiche Einsichten entdecken, die die Methoden und Inhalte einer „realistischen Phänomenologie“ bekunden, aber durch deren in unserem Jahrhundert entwickelte Methoden noch systematischer entfaltet werden können.51 Obwohl sie dem Begründer aller Phänomenologie, Edmund Husserl, und anderen Denkern des eben verflossenen Jahrhunderts immens viel verdankt, unterscheidet sich die „realistische Phänomenologie“, wie bereits angedeutet, viel radikaler von den subjektivistischen Phänomenologien des 20. Jahrhunderts als von der großen abendländischen Tradition der Philosophie der Antike, aber auch des Mittelalters, deren bedeutende 50

51

Schon als Max Scheler, einer der ersten bedeutenden Vertreter einer „realistischen Phänomenologie“, in seinem Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913) eine derartige Philosophie der Rückkehr zu den Sachen selbst entwarf, die sich durch große Sachnähe auszeichnete und insbesondere die Objektivität der Werte herausarbeitete, erregte diese Philosophie so großes Interesse seitens islamischer Autoritäten, daß er einen Ruf an die Universität Kairo erhalten sollte. Vgl. Dietrich von Hildebrand, (unveröffentlichte Teile der) Memoiren, Dietrich von Hildebrand-Archiv der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Vgl. Alice von Hildebrand, The Soul of a Lion – Dietrich von Hildebrand. Eine viel engere Verbindung zwischen islamischen Denkern und realistischer Phänomenologie entstand durch einen Vorlesungszyklus von mir in Marokko nach Erscheinen der arabischen Übersetzung meiner phänomenologischen Verteidigung des ontologischen Gottesbeweises (Allah Ka Bourhan Ala Oujoudi Allah. Iaadat Taassis Finimonologi Li Al Bourhan Al Antologi, Tarjamat Hamid Lechhab. Afrikya Achark, Adar Al Bayda, Al Maghrib – Bayrouth, Lobnan, 2001) und einer Reihe von Artikeln über mein philosophisches Werk in arabischen Zeitschriften. Vgl. dazu auch „Vorwort für die arabischen Leser“ in: Josef Seifert, 2. Aufl., zit. Vgl. zum Beweis dieser These etwa Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele, zit.; Kateryna Fedoryka, “Certitude and Contuition. St. Bonaventure’s Contributions to the Theory of Knowledge”, in: Aletheia VI (1993/94), S. 163-197.

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Geschichte nicht nur gewaltige christliche Philosophen, sondern auch zahlreiche muslimische Denker wie Avicenna ebenso wie viele jüdische Philosophen zu ihren Vertretern zählt. Das unterscheidende Merkmal der Phänomenologie, und damit auch der realistischen Phänomenologie, ist dabei dieses: Auch adäquate metaphysische Erkenntnis des Seins kann nur unter Beachtung des phänomenologischen Urprinzips aller Prinzipien geschehen; nur durch ein Ausgehen vom leibhaftig selbst Gegebenen, von den selbst gegebenen Sachen her ist sie möglich. Husserl formulierte ein solches Programm als einziges Ziel einer phänomenologischen Philosophie und schrieb: Doch genug der verkehrten Theorien. Am Prinzip aller Prinzipen: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede [indirekte Beweisführung] ihre Wahrheit nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte. 52

Goethe hatte schon zuvor ein ähnliches phänomenologisches philosophisches Programm formuliert, wie wir gesehen haben. Während, wenn auch nicht in der konkreten Durchführung, so doch in der Theorie, alle Phänomenologie prinzipiell dem zu folgen suchte, was Husserl das „Prinzip aller Prinzipien“ nannte, so konnte doch die tatsächliche Anwendung und das reale methodologische Verständnis von Husserls eigener Philosophie, die sich seit 1905 zunehmend einem transzendentalen Idealismus verschrieb und von ihrem ursprünglichen Objektivismus zu einem Subjektivismus führte, dieses Vorhaben nicht erfüllen. Gerade das im „Prinzip aller Prinzipien“ genannte Ziel konnte das von Husserl bereitgestellte konkrete methodische Instrument, das zu einer solchen Rückkehr zu den Sachen selbst führen sollte und zum Teil auch brillant führte, aus verschiedenen Gründen und wegen schwerwiegender 52

Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, ed. Karl Schuhmann. Husserliana, vol. III/1; 1. Buch, text of 1.-3. edn, 1. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, § 24.

EINFÜHRUNG

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Mängel, von denen im folgenden drei genannt seien, nicht, zumindest nicht in einem umfassenden und ausreichenden Sinne, leisten. A. Die realistische Phänomenologie als Fortführung der Anfänge der Phänomenologie und als Überwindung des ersten Mangels der späteren Husserlschen Phänomenologie: des Immanentismus und Subjektivismus Die erste Interpretation der von Husserl intendierten Rückkehr zu den Sachen selbst in Beschränkung auf die „reinen Gegebenheiten“ war es zu behaupten, dem Menschen seien nur intentionale Gegenstände des Bewußtseins (Noemata) und die diesen entsprechenden bewußten Akte (Noesen) als solche gegeben. Objekte seien ihm nur als „Gegebenheitsweisen“ zugänglich, weshalb alle ontologischen und metaphysischen Ansprüche, ja alle Geltungsansprüche über die Sphäre menschlichen Bewußtseins hinaus auf die Wirklichkeit selber hin fallengelassen werden müßten. Denn es könne der Mensch, der sich nicht in Weltanschauungsphilosophie erginge, sondern in reiner Wissenschaft auf das Erkannte beschränke, sich selbst im Erkennen niemals in Richtung auf die Dinge an sich überschreiten.53 Gewiß, Husserl betont konsequent eine gewisse „immanente Transzendenz“, die schon in der Intentionalität allen Bewußtseins impliziert ist: das Bewußtsein vermag auf Objekte des Bewußtseins zu blicken, die Noemata oder Percepta sind und sich nicht auf den Bewußtseinsstrom im Subjekt (die Noesis) reduzieren lassen. Die 53

Vgl. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921), hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana Bd. XXV (Dordrecht/Boston/Lancaster: M. Nijhoff, 1987), S. 3-62. Vgl. auch Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft,“ in: Filosofie, Pravda, Nesmrtelnost. TĜi pražské pĜednášky/Philosophie, Wahrheit, Unsterblichkeit. Drei Prager Vorlesungen (tschechisch-deutsch), pĜeklad, úvod a bibliografie Martin Cajthaml (Prague: Vydala KĜestanská akademie ěím, svazek, edice Studium, 1998), S. 14-51; auch auf Russisch «ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ ɤɚɤ ɫɬɪɨɝɚɹ ɧɚɭɤɚ» (Philosophy as a Rigorous Science. Towards the Foundations of a Realist Phenomenological Method – in Critical Dialogue with Edmund Husserl’s Ideas about Philosophy as a Rigorous Science), (Russian), Logos 53 9 (1997), 54-76.

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Häuser und Zwerge, von denen wir träumen, sind nicht Inhalte und Gehalte unseres bewußten Lebens selber; sie liegen nicht auf der Subjektseite, sondern stehen dem Bewußtseinsstrom als Gegenständlichkeiten gegenüber, von denen wir Bewußtsein haben. Um jedoch Metaphysik und überhaupt eine objektive Erkenntnis der Wahrheit über die Dinge selbst zu ermöglichen, ist eine ganz andere und tiefere Transzendenz in der Erkenntnis Voraussetzung, die Husserl „transzendente Erkenntnis“ nannte und leugnete:54 die Dinge an sich, die Wesensgesetze, die sich auf die wirkliche und jede mögliche Welt erstrecken, und auch das Sein selber, müssen intelligibel (für den Geist erfaßbar) sein, wenn es Erkenntnis geben soll. Sonst ist Erkenntnis überhaupt, und vor allem metaphysische, wenn auch unvollkommene und unvollständige, Erkenntnis der Dinge, wie sie in sich selber sind, unmöglich. Während Husserl in den Logischen Untersuchungen gerade dies behauptete, daß die von uns erkannten Wesensgesetze in sich wahr seien, und deshalb gleichermaßen wahr, ob sie von Engeln, Menschen oder Göttern geurteilt würden,55 wandte er sich, nach seinem genauen Studium

54

Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1950), Beilage II, S. 81–83. Unklar ist die B e z i e h u n g d e r E r k e n n t n i s a u f T r a n s z e n d e n t e s . Wann hätten wir Klarheit und wo hätten wir sie? Nun, wenn und wo uns das Wesen dieser Beziehung gegeben wäre, daß wir sie s c h a u e n könnten, dann würden wir die Möglichkeit der Erkenntnis (für die betreffende Erkenntnisartung, wo sie geleistet wäre) verstehen. Freilich erscheint diese Forderung eben von vornherein für alle transzendente Erkenntnis u n e r f ü l l b a r und damit auch transzendente Erkenntnis u n m ö g l i c h z u s e i n .

55

Vgl. auch Husserl, ebd., S. 84: „Wie Immanenz erkannt werden kann, ist verständlich, wie Transzendenz, unverständlich.“ Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd. I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg. v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Prolegomena, Kap. 5 ff., z.B. Kap. 7, § 36: Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen

EINFÜHRUNG

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Kants und der Kritik der reinen Vernunft zwischen 1901 und 1905,56 radikal von dieser Position ab und einem Immanentismus zu, dem zufolge nur noch reine Gegenstände des Bewußtseins und die ihnen korrespondierenden Akte philosophisch zugänglich seien. Die realistische Phänomenologie hingegen entwickelt, in schärfstem Gegensatz zu dieser Position, die durch obige Zitate belegte Ansicht der Logischen Untersuchungen weiter und wendet sie auf die Erkenntnis des Wesens der seit Kant verloren geglaubten „Dinge an sich“ an. Eine Erkenntnis der „Dinge an sich“ wird von der „realistischen Phänomenologie“ nicht als Leugnung der menschlichen Erkenntnisgrenzen verstanden, die es uns in der Tat verbieten, das „Ding an sich“ im Sinne der unausschöpfbaren Fülle der Wirklichkeit, wie sie Gott allein erkennt, geistig zu umfassen, sondern im menschlichen Sinne einer unvollständigen, aber wahren Erkenntnis notwendiger Wesenheiten und der in ihnen gründenden Wesensgesetze sowie der Existenz von Dingen, die alle vom menschlichen Geist unabhängig sind. Die in einer solchen Erkenntnis der Dinge an sich liegende Transzendenz ist keine weltanschauliche Glaubensthese, sondern eine im Wesen der Erkenntnis evident verwurzelte und von jeder philosophischen Theorie und jeder Leugnung derselben, ja sogar von jedem Irrtum und jeder Täuschung überhaupt wieder notwendig vorausgesetzte echte und evident gegebene Selbsttranszendenz des erkennenden Subjekts, die Husserl aus mir rätselhaften Gründen verwarf und die Nikolai Hartmann auf eine rein subjektive Intention auf Transzendenz umdeutete.57

sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind. 56

57

Das Husserl-Archiv in Löwen (Leuven) enthält in seiner Abteilung der von Husserl eigenhändig kommentierten Bücher aus seiner Privatbibliothek eine ReclamAusgabe der Kritik der reinen Vernunft, die Husserl von Anfang bis Ende ausführlich unterstrich und kommentierte. Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus Nijhoff, 1950), Beilagen 2 und 3; vgl. auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, zit., Teil I, Kap. 1-3; ders., Back to Things in Themselves, zit. Vgl. auch Nikolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (4. Auflage), (Berlin, Walter de Gruyter & Co, 1949).

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Husserl hingegen definierte, wie gesagt, die Grenzen phänomenologischer Rückkehr zu den Sachen innerhalb der Grenzen einer Analyse des Bewußtseins und seiner (immanent transzendenten) intentionalen Gegenstände, indem er leugnete, daß wir jemals erkennend an ein Sein rühren können, das wahrhaft unabhängig vom Subjekt besteht und dem Subjekt gegenüber transzendent ist. Ja Husserl geht zur These über, daß jeder erdenkliche Sinn und jedes erdenkliche Sein, die überhaupt erkenntnismäßig gegeben sein könnten, vom menschlichen Bewußtsein allein konstituiert und abhängig sein müßten.58 Mit diesem Schritt ist aus der vorigen Skepsis gegenüber solcher Transzendenz des Erkennens deren ausdrückliche Leugnung geworden und ging Husserl von seiner ursprünglich objektivistischen Philosophie ganz zu jener ihr radikal entgegengesetzten subjektivistischen Philosophie über, die seit Immanuel Kant und David Hume die abendländische Philosophie beherrscht, wie Husserl selbst in Logische Untersuchungen beklagt.59 58

Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in: Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter der Leitung von H. L. Breda (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950, § 41: Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden... Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der transzendentalen Subjektivität.

59

Vgl. auch Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls ,Cartesianischen Meditationen‘ “, zit. Eine eindrucksvolle Analyse dieses Faktums findet sich im 7. Kapitel, I. Teil, S. 116, der Logischen Untersuchungen:, „Der Psychologismus als skeptischer Relativismus“, nicht zuletzt deshalb, weil Husserl dort die Unterscheidung zwischen individuellem Relativismus und spezifischem Relativismus, bzw. Anthropologismus, der die Wahrheit nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf „die Spezies Mensch“ relativ setzt, durchführt: „Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem Relativismus) zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten worden sei, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen Relativismus, und näher dem Anthropologismus, in einem

EINFÜHRUNG

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Auch im Raume des Islam gibt es einen ganz ähnlichen Gegensatz zwischen dem Objektivismus der Erkenntnistheorie eines Avicenna60 und Al-Ghazzali und einem (Kant und den späten Husserl vorwegnehmenden) Subjektivismus bei Averroës. Averroës nahm, in radikalem Gegensatz zu anderen arabischen Philosophen, zumindest in manchen seiner Ideen, eine der subjektiven Konstitutionslehre des späten Husserl verwandte Position ein, auf deren subjektivistischen Gedanken der auf den Menschen relativ betrachteten Erkennbarkeit des Seins Thomas von Aquin ausgezeichnet antwortete, indem er die Unvollständigkeit und Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis von ihrer Subjektivität und Irrigkeit unterschied. Und zwar ging es dabei um das berühmte Beispiel der Nachteule, die Aristoteles zum Vergleich der metaphysischen Erkenntnis nimmt und sagt, daß, wie die Eule das Licht der Sonne nicht sehen kann, was nicht auf einem Mangel seitens der Sonne, sondern auf einem Mangel ihrer Sehkraft beruht, so können auch wir, und zwar wegen eines Defektes unseres Intellekts, die sublimsten metaphysischen Gegenstände der Metaphysik, vor allem Gott, nicht umfassend und deutlich erkennen, obwohl sie in sich die intelligibelsten sind. Averroës verwirft dieses Beispiel, indem er sagt, die Intelligibilität dieser Gegenstände sei fruchtlos, wenn wir sie nicht erkennen könnten, so wie es sinnlos sei, ein Sichtbares anzunehmen, das niemand sehen könnte. Thomas wendet gegen diesen „frivolen Gedanken“ ein, daß das, was in sich (quoad se) intelligibel sei, nicht notwendig für den Menschen (quoad nos) einsichtig sein müsse und daß außerdem ein dem Menschen überlegener Geist es sehr wohl erfassen könne.61 Darin liegt nicht nur die Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte.“ (A. a. O., S. 116. Vgl. auch S. 117 ff.) 60

61

Vgl. Avicenna, Metafisica. La scienza delle cose divine. Testo arabe di fronte, testo latino in nota, dreisprachige Ausgabe (arabisch, lateinisch, italienisch), hrsg. und übers.v. V. Olga Lizzini, Vorwort von Pasquale Porro, Il Pensiero occidentale, Dirett. Giovanni Reale, in Zusammenarbeit mit dem Platon-Institut der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein (Milano: Bompiani, 2002). Summa contra gentiles, lb3 cp4–5 n.7–8: propter quod et aristoteles congruo exemplo usus est: nam oculus vespertilionis nunquam potest videre lucem solis. quamvis averroes hoc exemplum depravare nitatur, dicens quod

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Anerkennung des uns gegebenen in sich Seienden, sondern auch des jenseits unserer Erkenntnisgrenzen bestehenden in sich Seienden. Auch dies nicht eine willkürliche Annahme, sondern selbst gegeben. Denn wir können in jeder Erkenntnis eines Gegenstands zugleich unsere menschlichen Erkenntnisgrenzen mit-wahrnehmen. Im Gegensatz zu jedem Subjektivismus, aber in einer vielen klassischen, mittelalterlichen und modernen Denkern nahestehenden Weise entwickelte sich die realistische Phänomenologie in radikalem Gegensatz zur immanentistischen Auffassung des späteren Husserl und wies nach, wie Husserl selbst dies in Logische Untersuchungen getan hatte, daß jede solche Auffassung, ein radikaler Idealismus und Relativismus aller Spielarten, nicht nur falsch, sondern auch prinzipiell widersprüchlich ist. Denn es sind gar keine Täuschung und kein Irrtum möglich, ohne gewisse Sachverhalte und Sachen einzusehen, die in sich wirklich sind und in deren Erkenntnis der Geist sich selbst überschreitet und etwas erfaßt, von dem er einsieht, daß es auf Grund seiner inneren Notwendigkeit und/oder auf Grund seiner absolut unbezweifelbaren rein essentialen oder auch existentialen Gegebenheitsform als „an sich wirklich“ unmöglich vom menschlichen Subjekt konstituiert und geschaffen sein kann.62 Nur von einer solchen Anerkennung der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis des Wesens und Seins der Dinge her aber ist es ferner möglich, irgendeine sinnvolle Basis für philosophische Gotteserkenntnis zu gewinnen. Denn erstens wäre ein Gott, der nur Gegenstand des Bewußtseins wäre, gerade nicht Gott, er wäre gerade nicht das Seiende, simile non est de intellectu nostro ad substantias separatas, et oculo vespertilionis ad lucem solis, quantum ad impossibilitatem, sed solum quantum ad difficultatem. quod tali ratione probat ibidem. quia si illa quae sunt intellecta secundum se, scilicet substantiae separatae, essent nobis impossibiles ad intelligendum, frustra essent: sicut si esset aliquod visibile quod nullo visu videri posset. ... quae quidem ratio quam frivola sit, apparet. etsi enim a nobis nunquam illae substantiae intelligerentur, tamen intelliguntur a seipsis. unde nec frustra intelligibiles essent: sicut nec sol frustra visibilis est, ut aristotelis exemplum prosequamur, quia non potest ipsum videre vespertilio; cum possit ipsum videre homo et alia animalia. 62

Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, lib. 3 cap. 4-5, N. 7-8. Vgl. dazu auch die Kritik an Edmund Husserl von Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie (Stuttgart: Kohlhammer, 1969).

EINFÜHRUNG

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über das hinaus nichts Größeres sein und gedacht werden kann;63 zweitens würde ein solcher Erkenntnissubjektivismus sämtliche Grundlagen und Prinzipien, auf denen das ontologische Argument als das tiefste Argument der rein philosophischen Gotteserkenntnis beruht, zerstören;64 drittens setzen auch die Fundamente aller anderen Gottesbeweise die (in der gewissen Erkenntnis evident gegebene!) Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis voraus.65 Die These eines Gottes als bloßer Gegenstand des Bewußtseins ist gerade die Grundthese des Atheismus eines Feuerbach oder Karl Marx.66 Auch für eine adäquate Philosophie der Religion, d.h. für eine Philosophie der Religion, die diese nicht in ein rein immanentes Phänomen und damit in etwas von ihrem Wesen völlig abweichendes ‚Etwas‘ uminterpretiert, ist diese Transzendenz der Erkenntnis, oder wenigstens die Anerkennung, daß jede echte, insbesondere jede monotheistische Religion, diese Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis impliziert, eine notwendige Voraussetzung. Denn das jüdische, christliche und islamische Bekenntnis zum Schöpfergott, oder das christliche Bekenntnis zu einem einzigen, ewigen Gott, der in seiner Einheit und Vollkommenheit eine Dreiheit von Personen, eine vollendete communio personarum ist, sowie das Bekenntnis zu Jesus Christus, als der Zweiten göttlichen Person, die Menschennatur angenommen hat, ohne die göttliche Wesenheit verloren zu haben, setzt notwendig eine Grundfähigkeit zu einer das Subjekt erkennend 63

64 65

66

Vgl. Robert Spaemann, „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚Gott‘“, in: Communio 1 (1972), S. 54-72, wiederabgedruckt in: R. Spaemann, Einsprüche (Einsiedeln: Johannes-Verlag, 1977), S. 13-35. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis, 2. Aufl., zit. Vgl. Josef Seifert, „Die natürliche Gotteserkenntnis als menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag, 2001), 9-102; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit, zit.; ders., Back to Things in Themselves, zit. Vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, durchgesehen und neu herausgegeben von Wilhelm Bolin (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann Verlag Günther Holzboog, 1960), Bd. VI; vgl. ferner Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 3 (Berlin: Dietz Verlag, 1958). Vgl. auch Robert Spaemann, „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚Gott‘“, in: Communio 1 (1972), S. 54-72, wiederabgedruckt in: R. Spaemann, Einsprüche (Einsiedeln: Johannes-Verlag, 1977), S. 13-35.

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überschreitenden Erkenntnis voraus, die allein es erklären kann, daß wir in der Religion mit Gott nicht nur als mit einem immanenten und kulturell geprägten Gegenstand menschlichen Bewußtseins in Berührung treten. Eine Philosophie, die meint, die „Sachen selbst“ auf rein intentionale Gegenstände des Bewußtseins einschränken zu dürfen, kann nur von einem „Gott als Gegenstand menschlichen Bewußtseins“ reden und leugnet daher die wesentliche Grundlage aller echten Religion und insbesondere die gemeinsame Basis aller monotheistischen Religionen,67 daß es nämlich einen allem menschlichen Denken gegenüber transzendenten Gott gibt, der in sich Sein und Bestand hat, und an dem dennoch der Mensch erkennend teilhat. Wenn ich die notwendigen und informativen Urteile, die Kant synthetische Urteile a priori nennt, als Ergebnis einer „transzendentalen Synthesis“ oder einer Konstitution durch das Subjekt erkläre, dann begehe ich in der synthetischen apriorischen Erkenntnis, wie Nietzsche die Kantische Grundposition genial gekennzeichnet hat, höchstens „unwiderlegbare Irrtümer“.68 Und dies wirkt sich notwendig auf alle Bereiche und Gegenstände der Philosophie inklusive des philosophischen Gottesbegriffs und der Religion im Sinne ihrer absoluten Auflösung aus. B. Die realistische Phänomenologie als Überwindung des zweiten Dogmas mancher (auch objektivistischer) Phänomenologen: des reinen „Essentialismus“ Ein zweites „Dogma“, das nicht nur subjektivistische, sondern auch eminente objektivistische Phänomenologen der ersten Phase, zum Beispiel Adolf Reinach, bis zu einem gewissen Grad beeinflußte, das es aber durch einen kritischen Rückgang auf das Gegebene zu überwinden galt, ist eine Form des „Essentialismus“, den besonders die existentialistische

67 68

Auch aller polytheistischen Religionen. F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, n. 265: „Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? – Es sind die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen.“ Ne. We., Bd. II, S. 159.

EINFÜHRUNG

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thomistische Philosophie an der Phänomenologie angriff.69 Eine solche Gefahr eines falschen Essentialismus bestand durchaus bei Husserl, aber auch bei Max Scheler, Adolf Reinach und den meisten Phänomenologen. Dieser „Essentialismus“ bestand schon vor Husserls transzendentaler Wende, also vor der Einführung der sogenannten „transzendentalen Reduktion“ und epoché. Dieser „Essentialismus“ ist die Folge einer schwerwiegenden Beschränkung und Radikalisierung der philosophischen Methode der Wesenserkenntnis und der epoché als deren methodologisches Instrument. Die phänomenologische Methode wird in dieser Auffassung auf eine mehrstufige phänomenologische Epoché als Einklammerung der realen Existenz und einer weiteren Reduktion der Phänomene auf deren Wesen, um nach dieser „eidetischen Reduktion“ ihr reines Wesen zu beschreiben und zu analysieren, reduziert. Eine solche eidetische Reduktion und durch sie ermöglichte Wesenserkenntnis wurde von einer Reihe von Phänomenologen als einzige grundsätzliche Methode der Phänomenologie angesehen. Indem eine solche Philosophie aber von jenem Sein, jener Existenz absah, die den überwältigenden Unterschied zwischen einer rein möglichen und der wirklichen Welt ausmacht, sah sie auch von jenem actus essendi, von jener einzigartigen aktuellen Wirklichkeit ab, die eben gerade das Sein im Sinne der Existenz ist. Die Erkenntnis dieses Seinsaktes ist jedoch für jede Philosophie Gottes, aber auch für jedes Verstehen der kontingenten Welt und der anderen Person entscheidend, was Thomas von Aquin ebenso wie Avicenna oder al-Ghazzali betonten. Damit übersieht eine solche exklusiv essentialistische Phänomenologie eine entscheidende Dimension der „Sachen selbst“, die es philosophisch zu erhellen gilt: den Sinn des Daseins im Sinne der Existenz; deren Unterschied vom Wesen; die Frage nach der wirklich daseienden Welt und nach der Existenz der eigenen (Augustinus, René Descartes) und anderer Personen (Martin Buber, Gabriel Marcel, usf.), und vor allem die Grundfrage nach der Existenz Gottes.

69

Vgl. Étienne Gilson, Being and Some Philosophers, 2nd ed. (Toronto: University of Toronto Press, 1952); Frederick D. Wilhelmsen, The Paradoxical Structure of Existence (Irving: University of Dallas Press, 1970).

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Daher setzte innerhalb der realistischen Phänomenologie, als logische Konsequenz der Rückkehr zu den „Sachen selbst“, und nicht zuletzt auf Grund eines Dialogs mit einer „existentialistischen thomistischen“ Philosophie, welche die Seinsvergessenheit eines phänomenologischen „Essentialismus“ anprangerte, aber in vieler Hinsicht wiederum ganz falsch interpretierte und durch eine Art „Feindschaft gegen das Wesen“ beantwortete, eine intensive Reflexion über die zentrale Bedeutung der Existenz und die Unzurückführbarkeit des Seins auf das Wesen ein, ohne die auch eine philosophische Gotteslehre undenkbar wäre.70 Innerhalb der realistischen Phänomenologie aber führte ein Weg aus einem solchen begrenzten reinen „Essentialismus“ heraus – zurück zur Existenz und zurück zum Sein selbst! Man könnte angesichts dieser Rückkehr zu den existentiellen Fragen der Philosophie innerhalb der späteren Entwicklung der realistischen Phänomenologie von einer „existentiellen Vervollständigung“ und Wende der Phänomenologie reden.

C. Die „realistische Phänomenologie“ als „spekulative Phänomenologie“ und als Überwindung eines dritten Vorurteils früherer Phänomenologen: einer reduktiven Auffassung vom „leibhaft selbst Gegebenen“ Um Metaphysik und vor allem philosophische Gotteserkenntnis zu ermöglichen, ist auch ein breiteres Verständnis des Prinzips aller Prinzipien: „daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns i n d e r ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in 70

Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, zit.; vgl. auch ders., “Essence and Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of ‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I, 2 (1977), pp. 371-459, sowie die Urform dieses Werkes, die den heftig geführten Dialog zwischen Phänomenologen und existentialistischen Thomisten an der University of Dallas schildert, in der Bibliothek der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein.

EINFÜHRUNG

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denen es sich da gibt“, vor allem der letzte Teil dieses Satzes, neu zu durchdenken. Denn wenn diese leibhaftige Selbstgegebenheit nach dem Modell sinnlichen unmittelbaren Anschauens oder konkreter Gegebenheiten, wie der eigenen Liebe, des Schmerzes, des Leibes usf. aufgefaßt wird, dann kann eine phänomenologische Methode uns nur zu unmittelbar in der Erfahrung selbst gegebenen Phänomenen, niemals aber zu jenseits derselben liegenden, wie etwa der Totalität der Welt, der den sinnlichen Erscheinungen zurgundeliegenden Substanzen und Ursachen, und vor allem zur Gotteserkenntnis führen. Dann sind alle diese ‚hinter dem unmittelbar selbst gegebenen Phänomen‘ liegenden Dinge, und vor allem Gott, unserem Erkennen prinzipiell und radikal unzugänglich. Es muß also auch alles indirekt, im Spiegel solcher unmittelbaren Gegebenheiten Zugängliche, so wie es sich uns da gibt, anerkannt werden, um eine für metaphysische Untersuchungen angemessene und notwendige Methode zu finden und insbesondere um die phänomenologische Methode für eine Erfassung des absoluten göttlichen Wesens per analogiam geeignet zu machen, wie in meinem Buch über Gott und auch anderswo und von anderen Autoren erklärt wird.71 Eine Metaphysische Intuition und Erkenntnisform als wichtiger Aspekt der nötigen Reform der phänomenologischen Methode kann auch so ausgedrückt werden: Es darf der Erfahrungsbegriff nicht unbegründeterweise so eingeengt werden, daß, wie in Martin Heideggers Sein und Zeit, nur das unmittelbar hier und jetzt in der Zeit Anwesende als Phänomen gilt und alle ausschließlich spekulativ – im Spiegel anderer – gegebenen Wesenheiten aus dem Reich des Gegebenen ausgeschlossen werden.72 71

72

Vgl. dazu auch Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986); sowie Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 1-4, 7. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. unveränd. Auflage (Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1963). Vgl. auch Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘ – Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz (Hg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.

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Denn nicht nur wäre auf dem Boden einer solchen reduzierten Phänomenologie jede metaphysische Gotteserkenntnis unmöglich, sondern eine solche Einengung des Gegebenheitsbegriffs entspricht auch nicht der tatsächlichen Fülle der Gegebenheitsweisen. Um der wahren Fülle des Gegebenen Rechnung zu tragen und um zu einer philosophischen Gotteserkenntnis, wie sie auch der menschlichen Vernunft zugänglich ist, zu gelangen, müssen neben dem direkt Gegebenen auch alle indirekten, vermittelten und unvollkommenen Gegebenheitsformen anerkannt werden. So müssen etwa in der moralischen Erfahrung auch jene Aspekte berücksichtigt werden, die sich im menschlichen Gewissen, in der Fülle der moralischen Verpflichtungen und des in ihnen angedeuteten göttlichen Herrseins und Gerichts als letzter Instanz unserer Verantwortung, auf dessen Erbarmen der Unrecht Tuende angewiesen ist, zeigen. Um ein anderes Beispiel zu wählen: Bei der Untersuchung der göttlichen Ewigkeit müssen alle im Gegensatz zu diesem dem Fluß und der Nichtigkeit des Zeitlichen und Vergänglichen, sowie alle in den Analogien des Zeitlichen sich enthüllenden Aspekte der göttlichen allgegenwärtigen Ewigkeit treu dem unmittelbar Gegebenen, aber auch allen geheimnisvollen, über sich hinausweisenden Aspekten des im Gegebenen MitGegebenen, anerkannt werden.73 Auch Jean-Luc Marion verlangt eine Erweiterung der phänomenologischen Methode in Form einer „metaphysischen Intuition“. Zur Realisierung des Ziels einer Neufassung der phänomenologischen Methode als geeignetes Instrument einer Metaphysik der Transzendenz scheinen uns allerdings die postmodernen und an Levinas und Derrida sich anlehnenden Versuche Marions ungenügend zu sein, der zwar mit Recht die Horizontalität und Reduktion der Husserlschen Methode kritisiert und auch zum Zweck ihrer Eignung zu einer Philosophie des Absoluten eine Reform der Phänomenologie und eine „nicht-endliche“ Intuition verlangt, aber diese mit einer Verweigerung der Ontologie und Metaphysik, mit der Annahme 73

Vgl. Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 10, über die Beweise der Ewigkeit Gottes aus der Zeit. Vgl. auch Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein, Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986).

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der Destruktion der Onto-Theologie durch Heidegger sowie mit der These einer durch den endlichen Geist sich ereignenden unvermeidlichen Idolatrie und „Zerstörung“ der Gottesidee verbindet – alles Thesen, die ich – mit vielen anderen Phänomenologen – in keiner Weise teilen kann und anderswo eingehend kritisiert habe.74 Allerdings kann man die schwer zu verfolgenden Gedanken Marions auch anders, nämlich im Sinne eines “transgresser l’intuition”, einer Transzendenz der Intuition in ihrem immanenten Husserlschen Verstande, interpretieren. Marion entwickelt diese höchst bemerkenswerte Idee, die die Gegenwärtigkeit des Gegenstands des Erkennens (la présence) über das in der (von Husserl immanent gedeuteten) Intuition Gegebene hinaus behauptet und die Idee einer “transgression” der Intuition, aber auch jene ihrer „Erweiterung“,75 die er suggeriert, nicht ausreichend, sagt aber viel Bemerkenswertes und Richtiges darüber.76 Aus anderswo77 ausgeführten 74

75

76

Vgl. Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957); Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein, zit.; Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973); Josef Seifert, „Vorwort für die arabischen Leser“, in: Gott als Gottesbeweis, 2e Auflage 2000, zit.; ders., Back to Things in Themselves, zit. “L’élargissement de l’intuition” ; Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Être (Paris: Communio/FAYARD, 1982), S. 90. Vgl. Jean-Luc Marion, “La percée et l’élargissement. Contribution à l’interprétation des Recherches Logiques,” Philosophie 2 (1983), 67-91, speziell S. 90 f. Diese Transzendenz allerdings, so meine ich mit Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991), gehört zum Wesen der Erkenntnis überhaupt, besonders der evidenten Intuition und Einsicht in Wesenssachverhalte. Daher verlangt sie nicht ein Verlassen der Intuition, sondern ihre transzendente Deutung und ihr erweitertes Verständnis, das auch jene spekulative Erkenntnisdimension einbezieht, auf die Marion abzuzielen scheint. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, zit., und ders., Back to Things in Themselves, zit. Vgl. zu Marions Position Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Être (Paris: Communio, 1982), sowie die Kritik an Marions Buch Dieu sans l’Être in Karol Tarnowski, “Dieu après la Métaphysique?”, Kwartalnik Filozoficzny (1996), 24 (1), 31-47. Tarnowski verwirft mit Recht die Idee, daß eine postmetaphysische Philosophie, die auf den „Tod Gottes“ aufbaut, zu einer Erneuerung philosophischer Gotteslehre führen kann. Vgl. auch Jean-Luc Marion, God Without Being, Thomas A. Carlson (trans), (Chicago: Univ. of Chicago Press, 1991); ders., L’idole et la

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grundsätzlichen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erwägungen heraus kann ich mich allerdings Heideggers Subjektivismus und einem Denken, das auf diesem aufbaut, wie auf weiten Strecken dasjenige Marions, nicht anschließen.78 Bei aller notwendigen Kritik aber darf man nicht Marions wertvolles Abzielen auf eine transzendente Gegenwärtigkeit, für die der immanentistische Gegebenheits- und Intuitionsbegriff des transzendentalen Husserl tatsächlich keinen Raum läßt, übersehen. Und gerade eine solche Erweiterung des Intuitionsbegriffs ist auch für die realistische Phänomenologie zentral. Die phänomenologische Methode mußte in kritischer Auseinandersetzung mit Husserl radikal neu formuliert und durchdacht werden, um von der Analyse der „Sachen selbst“ zur Metaphysik zurückzukehren und bis zur philosophischen Gotteserkenntnis aufzusteigen.79 Aus der Notwendigkeit menschlichen Denkens, bei der Erfahrung der Welt und des eigenen Ich anzusetzen, folgt nicht notwendig, daß die Welt in ihrem Sein verstehbarer ist als das absolute Sein. Ganz im Gegenteil zeigt eine eingehendere philosophische Reflexion, daß das Sein der Welt, solange diese an und für sich betrachtet wird, durch und durch unverständlich und unbegründet ist, so sonnenklar diese Welt auch unseren Sinnen und unserer Erfahrung gegeben sein mag. Anschauliche Gegeben-

77 78

79

distance (Paris: Presses Universitaires de France, 1977); ders., “The Idea of God” in: Daniel Garber (Ed), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy (New York: Cambridge Univ. Pr., 1998); ders., “The End of the End of Metaphysics”, Epoche (1994), 2 (2), 1-22. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis, 2. Auflage, zit. Vgl. außer den eben zitierten Arbeiten auch Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘ – Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, Hg., Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332. Vgl. ferner zur Kritik an Marions Thesen Jean-Yves Lacoste, “Penser à Dieu en l’aimant: philosophie et théologie de J-L. Marion”, Arch Phil (Ap-Je 1987), 50, 245-270. Vgl. gleichfalls die fragwürdige immanentistisch-husserlianische Kritik an Marions Standpunkt von James K. A. Smith, “Respect and Donation: A Critique of Marion’s Critique of Husserl”, Amer Cath Phil Quart (Fall 1997), 71 (4), 523-538. Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis, zit., Vorworte und Prolegomena.

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heit muß eben scharf von jener Intelligibilität und Verstehbarkeit von Sein unterschieden werden, die dieses eine Antwort auf die Frage geben läßt: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Auch der Phänomenologe Max Scheler betonte dies, als er von den erstevidenten Erkenntnissen sprach. Die Tatsache, die Max Scheler für die erste und unmittelbarste Evidenz hält, ist die, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.80 80

Siehe Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie. Der philosophische Aufschwung und die moralischen Vorbedingungen“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen (Erkenntnislehre und Metaphysik), Schriften aus dem Nachlass Band II, herausgegeben mit einem Anhang von Manfred S. Frings (Bern: Francke Verlag, 1979), S. 61-99, S. 93-94. Der Text beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Darum muß auch jede Erörterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem der ‚Ordnung der fundamentalsten Evidenzen‘ beginnen.“ Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich diejenige, die schon zur Konstituierung des Wortes „Zweifel an etwas“ (an dem Sein von etwas, an der Wahrheit eines Satzes usw.) vorausgesetzt ist, ist aber die evidente Einsicht, daß überhaupt Etwas sei oder, noch schärfer gesagt, daß „nicht Nichts sei“ (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich das Nicht-Etwas noch das Nicht-Da-sein von Etwas, sondern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen Seinsnegation im negierten Sein das So-Sein oder Wesen und das Da-Sein noch nicht scheidet). Der Tatbestand, daß nicht Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und unmittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen Verwunderung – wobei diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tatbestandes freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn ihr unter den die philosophische Haltung prädisponierenden Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter ... des Tatbestandes des Seins auslöschende Demutshaltung vorangegangen ist. Also: Gleichgültig, auf welche Sache ich mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren Seinskategorien schon genauer bestimmte Sache ... - als da z.B. sind Sosein - Dasein; Bewußtsein - Natursein; reales Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein – Aktsein, desgleichen Gegenstandsein - Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes „existentiales“ Sein; substantielles, attributives, akzidentelles oder Beziehungsein; Möglichsein ... oder Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-, Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; ausschließlich mentales „fiktives“ Sein (z. B. der nur vorgestellte „goldene Berg“ oder das nur vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein – ich hinblicke: an jedem einzelnen beliebig herausgegriffenen Beispiel innerhalb einer oder mehrerer sich je kreuzender sog. Arten des Seins, wie an jeder dieser herausgegriffenen Arten selbst wieder wird mir diese Einsicht mit unumstößlicher Evidenz klar – so klar, daß sie an Klarheit alles überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich gebracht werden kann. Freilich: Wer gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig übersehen. Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht minder evidenten, aber der Evidenz dieser Einsicht doch nachgeordneten Einsichten beginnen ...

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Scheler gewann eine zweite Einsicht, die übrigens auch am Ausgangspunkt des ontologischen Gottesbeweises steht: Das einzige Sein, das durch sich selber verstehbar ist, das einzige Sein, das einen rationalen Grund für sein Sein besitzt und daher voll intelligibel ist, das ist eben das ungeschaffene und ewige absolute „Sein schlechthin“. Und dieses Wesen besitzt genau so sehr wie alle anderen notwendigen Wesenheiten eine innere Notwendigkeit, eine Einsichtigkeit, deren Gegenstand in keiner willkürlichen Weise vom menschlichen Subjekt ausgedacht wird, sondern allem unserem Verstehen vorgegeben ist. Wenn es überhaupt etwas gibt, so können wir den Kern dieser Einsicht formulieren, dann muß es das notwendige, absolute Sein geben: Dann ist die Einsicht, daß ein absolutes Seiendes ist, ...81 die zweitevidente Einsicht.82

81

Der hier eingefügte Nebensatz Schelers: „oder ein Seiendes, durch das alles andere nicht absolute Sein sein ihm zukommendes Sein besitzt,“ drückt einen über unseren Kontext hinausführenden Gedanken aus. Vor dem zitierten Satz steht im Originaltext die folgende Erklärung des Terminus „absolutes Sein“: ein Seiendes also, das – wenn es ist – ausschließlich ist, sein Sein in sich und nur in sich hat, also von nichts zu Lehen trägt, wollen wir – wie immer es sonst nach den übrigen Seinsunterschieden bestimmt sein mag – das absolut Seiende nennen.

82

Und Scheler fügt hinzu: Und nur, wenn wir uns zu wundern gelernt haben, daß wir selber nicht nicht sind, werden wir auch die ganze Klarheitsfülle des Lichts der beiden genannten Einsichten und ihren Evidenz-Vorzug vor allen anderen Einsichten voll empfangen können.... so ist das Leuchten des Lichts dieser zweiten Einsicht davon abhängig, daß man an allem relativen und abhängigen Sein (und hier an erster Stelle an sich selbst) nicht nur das Sein, sondern auch das relative Nichtsein mitgewahrt, also nicht – ohne es recht zu merken und zu wissen – heimlich irgendein relatives Sein mit dem absoluten Sein identifiziert. Denn sowohl die „Selbstverständlichkeit“ des Seins, die eben gerade das ist, was die klare Einsicht in die unermeßliche Positivität des Tatbestandes, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, versperrt, wie auch die bei je verschiedenen Subjekten in verschiedener Weise und an verschiedenen Zonen des relativen Seins stattfindende Verleugnung des relativen Nichtseins der Dinge, ihrer relativen „Nichtigkeit“ – beide sind eine abhängige Funktion jenes „natürlichen Stolzes“, jener natürlich-instinktiven (freilich biologisch zweckmäßigen) Selbstüberschätzung und daraus folgenden Selbstsicherheit des Daseins, die z. B. auch den Tod und die unermeßliche Zeit, da wir nicht waren und nicht sein werden, vor dem Bewußtsein so merkwürdig verleugnen läßt.

EINFÜHRUNG

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Obwohl Scheler selbst den ontologischen Gottesbeweis ablehnt, begründet gerade diese Einsicht das ontologische Argument und zeigt eine tiefe Beziehung zwischen Phänomenologie und diesem auf.83 Eine Rückkehr zu den „sich selbst gebenden Sachen“ erweist sich auf diese Weise auch als fruchtbares methodisches Prinzip, ja als unentbehrliche und letztgültige Methode eines wahren metaphysischen Denkens, das sich nicht in sachfernen Spekulationen oder Systemkonstruktionen ergeht, sondern durch die Erforschung des Gegebenen und des Wirklichen die Metaphysik vollends zu jener höchsten „Wissenschaft“ vom Sein selbst macht, die Philosophen seit Aristoteles suchen.84 Also sollten die Möglichkeiten der phänomenologischen Methode in den Dienst des Aufweises der Metaphysik und sogar der höchsten „Sache aller Sachen selbst“ gestellt werden. Hier knüpft die realistische phänomenologische Metaphysik ebensosehr an die große Tradition abendländischer Philosophie wie an Husserls Logische Untersuchungen an: Eine ontologische und metaphysische Notwendigkeit des göttlichen Wesens wird schon von Anselm nicht wegen einer psychologischen Denknotwendigkeit behauptet, sondern umgekehrt: nur wegen der objektiven Seinsnotwendigkeit des Wesens der Sache selbst können wir auch das Nichtsein Gottes nicht denkend setzen. Die Seinsnotwendigkeit Gottes, die im unerfindbaren Wesen des id quo maius

83

84

Wie schon gesagt, lehnt Scheler – wenngleich in tiefem Widerspruch zu dieser seiner Lehre von der zweitevidentesten Tatsache – das ontologische Argument selbst ab. Vgl. zur Kritik dieser These die „Einleitung“ zu Gott als Gottesbeweis, zit. Vgl. auch Josef Seifert, „Schelers Denken des absoluten Ursprungs: Zum Verhältnis von Schelers Metaphysik und Religionsphilosophie zum ontologischen Gottesbeweis“, in: Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy und Türingische Gesellschaft für Philosophie, Jena (Hrsg.), Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena. Kritisches Jahrbuch der Philosophie 3 (1998), S. 34-53. Die Möglichkeit einer ausgeführten phänomenologischen Metaphysik haben zunächst Hedwig Conrad-Martius in Das Sein und Edith Stein aufgewiesen. Vgl. bes. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Auch ich habe schon in anderen Werken eine inhaltliche phänomenologische Metaphysik und deren Grundlagen darzulegen gesucht. Vgl. bes. J. Seifert, Essere e persona.

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nihil cogitari possit gründet, geht also nicht nur der Denkunmöglichkeit seines Nichtseins voraus, sondern das Erfaßtwerden der objektiven ontologischen Wesensnotwendigkeit und Wesensunmöglichkeit allein ist der Grund für dieses Nichtdenkenkönnen des Daseins Gottes: Nur wenn die Wesensnotwendigkeit, kraft deren Gott notwendig ist, dem Geist einleuchtet; nur wenn dieser Geist id ipsum quod res est erfaßt, folgt daraus eine Gesetzlichkeit für das richtige Denken, das nun die einmal erkannte Notwendigkeit nicht mehr leugnen kann. Auch bei Descartes finden sich entsprechende Stellen, die genau dieselben Einsichten präzise formulieren. Zwischen diesem Kerngedanken des ontologischen Arguments und der in den Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen gebotenen Widerlegung der psychologistischen Deutung der obersten logischen Gesetze durch Husserl besteht eine bemerkenswerte Verwandtschaft. Ähnlich wie Husserl dort nachweist, daß keine Denknotwendigkeit als solche besteht, das Widerspruchsgesetz nicht zu verwerfen, bzw. nicht gleichzeitig zwei kontradiktorische Urteile für wahr zu halten, bemerkt auch eine realistische phänomenologische Verteidigung des ontologischen Arguments, daß keine Denkunmöglichkeit besteht, die den Atheisten von der Verwerfung des Daseins Gottes abhalten könnte. Wie Husserl eine rein objektive Wesensnotwendigkeit für das logische Widerspruchsgesetz nachzuweisen sucht, das einen anderen Sinn hat als ein psychologisches Denkgesetz, und das besagt, daß eine objektive gesetzliche Unmöglichkeit besteht, daß zwei kontradiktorische Urteile zusammen wahr sein können, versucht auch jede gültige Version des ontologischen Arguments eine objektive gesetzliche Wesensunmöglichkeit des Nichtseins Gottes festzustellen. Wie Husserl annimmt, daß es demjenigen, der die objektive Wesensnotwendigkeit des Widerspruchsprinzips erfaßt, unmöglich ist, dieses in seinem Denken zu verwerfen, weil er eine objektive Wesensnotwendigkeit einsieht, nimmt auch jede gültige Verteidigung des ontologischen Arguments an, daß nur derjenige das Sein Gottes nicht einmal in seinem Denken leugnen kann, der das objektive Wesen Gottes richtig versteht und dessen Urteil von der objektiven Wesensnotwendigkeit der Sachen selbst (vom id ipsum quod res est) geformt ist.

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Da es sich ferner erweisen läßt, daß die Intelligibilität des Seins als solchen von der Intelligibilität des absoluten Seins abhängt und daß das letztere in genau zu bestimmendem Sinn „allein intelligibel“ ist, weil ihm jene tiefen Mängel der Intelligibilität, die sich aus der Endlichkeit, Zeitlichkeit, Nichtnotwendigkeit usf. ergeben, fehlen, hat eine zu den Sachen selbst zurückkehrende phänomenologische Ontologie und Gnoseologie des Gottesgedankens dessen Gegebenheit und Eigenart einer transzendenten und alle andere Intelligibilität begründenden Wesenheit zu erweisen. Die klare Erkenntnis der genannten unbegründeten Husserlschen „Dogmen“ und ihre Widerlegung führte zur erkenntnistheoretischen Grundlegung einer grundsätzlich verschiedenen, realistischen, Phänomenologie. 3. Die Bedeutung der realistischen Phänomenologie über die Philosophie hinaus: als eine Philosophie des Dialogs der Kulturen und Überwindung des „Clash of Civilizations“ Nur eine solche „realistische Phänomenologie“ kann auch jene zentralen gemeinsamen Fundamente in ihrer Tiefe und Breite wieder entdecken, die einen gemeinsamen Boden zwischen allen Menschen zu bilden vermögen. Und es ist gerade erst eine derartige Philosophie, die ihre Rückkehr zu „den Sachen selbst“ nicht wieder verrät, sondern die geeigneten Methoden für eine volle Rückkehr zum Gegebenen findet. Sofern ihr dies gelingt, erhält sie eine universale vereinigende Rolle durch eine tatsächlich „reine“ Vernunft, eine ratio, die zur geistigen Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen, bzw. auch zwischen jenen Menschen, die nicht durch einen gemeinsamen Glauben (fides), sondern eben nur durch die allen Menschen gemeinsame Vernunft, sofern sie sich wirklich dem Sein öffnet, verbunden sind. Ja erst eine solche wirklichkeitsgetreue und sachnahe Philosophie, bzw. jene Erkenntnis, die sie nur bewußt entfaltet, kann, wenn sie rückhaltlos nach der Wahrheit forscht, zu einer echten Gemeinsamkeit auch unter solchen Menschen führen, die in vielen Anschauungen stark von einander abweichen. Dabei kann selbstredend die Philosophie den religiösen Glauben niemals ersetzen noch die religiösen Gegensätze überwinden, wohl aber einen in unserer Zeit dringend

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geforderten breiten Boden des Konsenses gewinnen, auf dem wir das gemeinsame Haus nicht nur Europas, sondern unserer Welt aufbauen können; sie kann sogar, wie gesagt, Elemente eines gemeinsamen Bodens zwischen Theisten und Atheisten entdecken, die auch vorphilosophischer Erkenntnis zugänglich sind, deren philosophische Bewußtmachung aber einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung der Völker und Kulturen liefern kann.85 Ein realistisch-phänomenologisches Vorgehen im klassischen und universalen Sinn des Wortes und ein wirklich sachnahes Denken können auch Menschen verschiedenster religiöser und kultureller Hintergründe verbinden. Denn ein derartiges Denken entwickelt nicht ein nur „dem Westen“ oder nur dem „Judentum“, der „griechischen“ oder der „asiatischen Kultur“, oder ein nur dem Christentum oder dem „Islam“ zugehöriges System. Einem solchen auf die Wahrheit ausgerichteten Denken kommt es ja nicht auf bloße Treue zur „eigenen Tradition“, sondern auf die Wahrheit an. Sein Prinzip ist die Liebe zur Wahrheit und damit geht es bedingungslos von der allgemeinmenschlichen, philosophisch relevanten und authentischen Erfahrung aus, in der sich uns nicht bloße empirische Fakten, sondern die intelligiblen Wesenheiten der Dinge erschließen und die prinzipiell allen Menschen in allen Kulturen, allen Religionen, und zu allen Zeiten zugänglich ist. Im Lichte des Gesagten ist das Interesse an der „realistischen Phänomenologie“ seitens arabischer und islamischer, aber auch jüdischer und anderer Philosophen verständlich, wenn man bedenkt, daß jene Philosophen, die Gläubige des Islams sind, weder an jenen westlichen Philosophien Gefallen finden werden, die alle Fundamente ihres Glaubens oder moralischen Lebens untergraben, noch an jenen, die auf spezifisch und exklusiv westliche Begriffssysteme oder Konstrukte aufbauen, für die es keine klaren Anknüpfungspunkte in der erfahrenen und intelligiblen Wirklichkeit gibt, noch auch an rein fideistisch oder theologisch auf der Offenbarung beruhenden Philosophien. Wenn die Philosophie hingegen – wie es ein Grundanliegen der Phänomenologie ist – sich durch Sachnähe 85

Die spezifisch religiös-theologische Wahrheit muß ebenfalls in allem Ernst einer spezifisch religiösen Wahrheitssuche von allen Dialogpartnern untersucht werden, was aber nicht auf rein philosophischer Basis möglich ist.

EINFÜHRUNG

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auszeichnet, wenn ihr Gesetz nicht westliche Gedankenströmungen und nicht einmal positiv geoffenbarte und geglaubte, etwa christliche, Glaubensinhalte, sondern die Urphänomene selber sind, die jedem Menschen bekannt und zugänglich sind – der Liebe, des Todes, der Gesundheit und Krankheit, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, des Verzeihens und der Dankbarkeit, des Seins oder der logischen Gesetze, ja sogar Gottes selbst –, dann kann es nicht erstaunen, daß eine solche Philosophie Basis eines echten Dialogs werden kann. Denn wenn Menschen aller Völker gleichermaßen gewisse Wahrheiten als Fundamente menschlichen sinnvollen Lebens entdecken können, dann sind diese Wahrheiten ebenso wichtig für Muslime und Juden wie für Christen, ja für Menschen aller Kulturen und Religionen. Denn keine Religion darf ja gegen jene Wahrheiten und Gegebenheiten gerichtet sein, die das Fundament aller menschlichen Erkenntnis und Erfahrung ausmachen und ohne die keine wahre Religion und menschliche Gesellschaft möglich sind, wie etwa die Menschenrechte und die Grundprinzipien der Ethik. Ja auch der Atheist, der alle Religion verwirft, stützt sich auf Evidenzen oder Werte, wie den Wert der Wahrheit oder eines nicht auf Illusionen gebauten Lebens, Werte, ohne die eine humane Koexistenz unmöglich ist und die durch die realistische Phänomenologie aufkgelärt werden, sodaß diese auch einen in vielfacher Hinsicht gemeinsamen Boden zwischen Atheisten und Gläubigen in einer säkularisierten und zunehmend atheistisch gewordenen pluralistischen Welt findet. Es ist Aufgabe der Philosophie, besonders einer phänomenologischen Philosophie, diesen gemeinsamen Boden zu einer prise de conscience zu bringen und voll ins Bewußtsein zu heben, da die Menschheit in einer pluralistischen und globalisierten Welt zusammenleben muß und möglichst sinnvoll und solidarisch zusammenleben soll, worüber besonders Max Scheler tiefe Einsichten gewonnen hat.86

86

Vgl. die Akten des Kongresses der Schelergesellschaft über Schelers Denken über Solidarität: Christian Bermes/Wolfgang Henckmann/Heinz Leonardy (Hrsg.), Solidarität. Person und soziale Welt (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2006), S. 87-106.

TEIL I

VORLÄUFER DER REALISTISCHEN PHÄNOMENOLOGIE

ARISTOTELES ÜBER DIE SEELE (II, 1 412a)1 BUCH II 1. Teil 1 Laßt uns das Vorhergehende als unsere Darstellung der Meinungen über die Seele genügen, die uns von unseren Vorgängern überliefert sind; laßt uns diese jetzt beiseite lassen und sozusagen einen ganz neuen Anfang machen in dem Versuch, eine präzise Antwort auf die Frage zu geben: Was ist die Seele?

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Übersetzt von Josef Seifert.

PLATON DER STAAT (6.484 a-b; 485a-486b )1

Die Philosophen also, sprach ich, o Glaukon, und die es nicht sind, wollten uns erst, nachdem wir eine lange Rede durchgeführt, zum Vorschein kommen, wer sie beide sind. Vielleicht, sagte er, geht es auch in einer kurzen nicht leicht. Wie es scheint! antwortete ich. Aber mich dünkt, sie würden sich uns noch besser gezeigt haben, wenn wir nur hierüber allein nötig gehabt hätten zu reden und nicht noch so vielerlei anderes durchzugehn, da wir ja zusehen sollten, wie das gerechte Leben von dem ungerechten verschieden ist. Was also, sagte er, kommt uns nach diesem? Was sonst, sprach ich, als das nächste? Da nun die Philosophen die sind, welche das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können; die aber dies nicht können, sondern immer unter dem vielen und auf allerlei Weise sich Verhaltenden umherirren, nicht Philosophen, welche von beiden demzufolge müssen Führer des Staates sein? [....] Dieses, denke ich, soll uns feststehen in Absicht der philosophischen Naturen, daß sie Kenntnisse immer lieben, welche ihnen etwas offenbaren von jenem Sein, welches immer ist und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird. Das soll uns feststehen. Ja auch, sprach ich, daß sie dieses ganz begehren und weder einen kleineren noch größeren, weder einen vorzüglich hochgeachteten noch einen minder geachteten Teil derselben wider ihren Willen sich entgehen lassen, eben wie wir es vorher an den Ehrliebenden und Verliebten gezeigt haben. 1

Plato, Der Staat, übersetzt von Friedrich Schleiermacher (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft , 1990).

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PLATON

Richtig, sagte er. Nächstdem betrachte nun dieses, ob es wohl neben jenem die notwendig in ihrer Seele haben müssen, welche so werden sollen wie wir sie beschrieben. Was doch? Daß sie ohne Falsch sind und mit Willen auf keine Weise das Falsche annehmen, sondern es hassen, die Wahrheit aber lieben. Wahrscheinlich wohl, sagte er. Nicht nur wahrscheinlich, Freund, sondern ganz notwendig wird, wer in irgend etwas von Natur verliebt ist, alles seinem Lieblingsgegenstande Verwandte und Angehörige auch lieben. Richtig, sagte er. Könntest du nun wohl etwas der Weisheit Verwandteres finden als die Wahrheit? Wie sollte ich, sprach er. Kann also wohl dieselbe Natur weisheitsliebend sein und trugliebend? Keineswegs wohl. Der in der Tat Wißbegierige also muß nach aller Wahrheit gleich von Jugend an möglichst streben. Allerdings ja. Aber wem sich die Begierden sehr nach einem einzigen Gegenstande hinneigen, dem, wissen wir, sind sie nach andern Seiten hin desto schwächer, weil der Strom gleichsam dorthin abgeleitet ist. Wie sollten sie nicht! Wem sie also nach Kenntnissen und allem dergleichen hinströmen, dem gehen sie, denke ich, auf die Lust, welche der Seele für sich allein zukommt und halten sich dagegen von der durch den Leib vermittelten zurück, wenn einer nicht zum Schein, sondern wahrhaft philosophisch ist. Ganz notwendig. Mäßig ist also ein solcher und keineswegs habsüchtig. Denn weshalb mit solchem Aufwande nach Geld gestrebt wird, danach zu streben ziemt eher jedem andern als ihm. So ist es. Aber auch dieses mußt du ja erwägen, wenn du unterscheiden willst eine philosophische Natur und eine, die es nicht ist. Was doch?

Der Staat

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Daß nicht etwa eine, ohne daß du es merkst, auch an Unedlem Anteil habe. Denn Kleinlichkeit ist wohl ganz vorzüglich einer Seele zuwider, welche überall das Ganze und Vollständige anstreben soll, Göttliches und Menschliches. Vollkommen richtig! sagte er. Wer nun eine Größe der Denkungsart besitzt und Übersicht der ganzen Zeit und alles Seins, hältst du es für möglich, daß den das menschliche Leben etwas Großes dünke? Unmöglich, sprach er. Also auch den Tod wird ein solcher wohl nicht für etwas Arges halten? Am wenigsten wohl. Eine feige und unedle Natur also kann an wahrhafter Philosophie keinen Teil haben. Nein, dünkt mich. Wie aber? Der Sittsame, nicht Habsüchtige, noch Unedle, noch Großtuerische, noch Feige, könnte der wohl unverträglich sein oder ungerecht? Nicht möglich. Willst du also untersuchen, welches eine philosophische Seele ist und welches nicht, so wirst du gleich, wenn einer noch jung ist, darauf sehen, ob sie gerecht ist und mild oder unverträglich und roh. Allerdings.

AURELIUS AUGUSTINUS1 DER LEHRER ZWEITES KAPITEL 3 AUGUSTIN Wir

sind uns also darin einig, daß Worte Zeichen sind. ADEODAT Gewiß. AUGUSTIN Ja, aber kann ein Wort, das nicht etwas bezeichnet, auch ein Zeichen sein? ADEODAT Nein. AUGUSTIN Wieviel Worte enthält dieser Vers: Si nihil ex tanta Superis placet urbe relinqui. (Ob denn nichts von der mächtigen Stadt nach Götterbeschluß zurückbleibt.)? (Vergil, Aeneide 2, v. 659) ADEODAT Acht (Zehn). AUGUSTIN Das sind also acht (zehn) Zeichen? ADEODAT Ja. AUGUSTIN Ich nehme an, du verstehst den Vers. ADEODAT Ich denke schon. AUGUSTIN Dann sag mir, was jedes Wort bezeichnet. ADEODAT Ich weiß freilich, was das Wort „ob“ (si) sagen will, aber ich finde kein andres Wort, das seinen Sinn erklären könnte. AUGUSTIN Was immer die Sache sei, die durch dieses Wort bezeichnet wird: weißt du wenigstens, wo sie zu finden ist? ADEODAT Es scheint mir, daß das Wort „ob“ einen Zweifel bezeichnet. Nun, wo findet sich Zweifel, wenn nicht in der denkenden Seele? AUGUSTIN Fürs erste will ich es gelten lassen. Nun geh an die anderen Worte. ADEODAT „Nichts“ (nihil): was bezeichnet dieses Wort, wenn nicht das, was nicht ist?

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Aurelius Augustinus. Der Lehrer. Übertragen von Carl Johann Perl. 3. Aufl. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1974, S. 7-11. (Der letzte Satz der Übersetzung wurde vom Herausgeber leicht verändert.).

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AURELIUS AUGUSTINUS

Vielleicht hast du recht. Aber was mich abhält, derselben Meinung zu sein, ist, daß du früher erklärt hast, ein Zeichen, das nicht etwas bezeichnet, sei auch kein Zeichen. Aber was nicht ist, kann auf keinen Fall „etwas“ sein. Daher ist das zweite Wort in diesem Vers kein Zeichen, weil es nicht etwas bezeichnet. Und es war daher falsch von uns, zu sagen, daß alle Worte Zeichen seien, oder daß jedes Zeichen etwas bezeichne. ADEODAT Du drängst mich viel zu sehr! Wenn wir nichts mehr zu bezeichnen haben, dann ist überhaupt jedes Wort, das wir aussprechen, sinnlos geworden. Ich glaube aber nicht, daß du, wenn du jetzt mit mir sprichst, auch nur einen Laut zwecklos äußerst. Sondern du gibst mir mit allem, was du sagst, Zeichen, um mir etwas verständlich zu machen. Wenn du also nicht irgend etwas zu bezeichnen hättest, wäre es ja gar nicht nötig, dieses kleine Wort auszusprechen. Aber du weißt sehr genau, daß damit eine notwendige Aussage erfolgt und daß wir mit diesen zwei Silben, die unsere Ohren treffen, belehrt und erinnert werden, und ebenso weißt du ganz sicher, was ich sagen möchte, ohne daß ich es aber erklären könnte. AUGUSTIN Also was tun? Ob wir nicht besser sagen, durch dieses Wort werde eine gewisse Verfassung des Geistes bezeichnet, der sich über das Nichtsein einer unsichtbaren Sache klar wird oder glaubt, klar geworden zu sein, statt daß eine Sache selbst gemeint wäre, die gar nicht existiert? ADEODAT Gerade das ist es wahrscheinlich, was ich mich bemühte zu erklären. AUGUSTIN Wie immer es sei, wir wollen es auf sich beruhen lassen, um uns nicht in allzu Verrücktes zu verirren. ADEODAT Wieso das? AUGUSTIN Wenn wir von einem „Nichts“ zurückgehalten werden, versäumen wir nur unsre Zeit. ADEODAT Freilich ist es lächerlich, und trotzdem, ich weiß nicht wieso, merke ich, daß uns das widerfahren kann, ja, ich fürchte sogar, wir haben uns schon darein verirrt. AUGUSTIN

4 AUGUSTIN Wenn

Gott es zuläßt, werden wir bei richtiger Gelegenheit diese Art von Widerspruch genauer verstehen lernen. Jetzt aber nimm dir

Der Lehrer

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nochmals jenen Vers vor und versuch, so gut du kannst, zu erklären, was die anderen Worte bezeichnen. ADEODAT Das nächste Wort ist die Präposition „von“, für die wir, glaube ich, auch das Wort „aus“ nehmen könnten. AUGUSTIN Ich verlange nicht, daß du mir anstelle eines bekannten Wortes ein andres ebenso bekanntes nennst, das das gleiche bezeichnet. Im übrigen bleibe es vorläufig dahingestellt, ob es wirklich das gleiche bedeutet. Freilich, wenn der Dichter nicht „von der mächtigen“ sondern „aus der mächtigen Stadt“ gesagt hätte, und ich dich fragen würde, was „aus“ bezeichnet, würdest du sagen: „von“, denn deiner Meinung nach sind beide Worte Zeichen, das heißt Bezeichnungen für ein und dasselbe. Ich frage jedoch nach diesem einen selbst; denn ich will wissen, was das ist, das durch diese beiden Zeichen bezeichnet wird. ADEODAT Das Wort bezeichnet meiner Ansicht nach eine gewisse Absonderung von einer Sache, in der sich etwas befand, von dem man sagt, es komme „von“ ihr; sei es, daß diese Sache nicht bleibt, wie in diesem Vers, so daß wir also von der nicht bleibenden Stadt sprechen, aus der nur noch einige Trojaner übrigbleiben konnten, oder die Stadt ist geblieben, so wie wir sagen: Kaufleute aus Rom seien nach Afrika gekommen. AUGUSTIN Um dir eben recht zu geben, will ich nicht die vermutlich zahlreichen Fälle aufzählen, die sich außerhalb dieser deiner Regel ermitteln ließen. In diesem Falle hast du es dir jedenfalls leicht gemacht, indem du mit Worten die Worte erklärt hast, also Zeichen mit Zeichen, bekannteste Worte und Zeichen durch ebenso bekannte. Ich möchte aber, daß du mir, wenn du es kannst, die Sachen selbst zeigst, für die diese Worte Zeichen sind.

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE AUSGEWÄHLTE FRAGMENTE Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten. Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf...1 *** Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.2 *** Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.3 *** 1

2

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J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre. Polemischer Theil. Geschichte der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden. Stuttgart and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840. Bd. 37-40. Farbenlehre, Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann. Leibzig: InselVerlag, 1921. S. 448. Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639.

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JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt.4 *** Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... Kann dagegen der Physiker zur Erkenntnis desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; ... denn er [der Philosoph] nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird.5 *** Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt...6 *** ... und er [der Philosoph] wird finden, daß ihm ... im Grund- und Urphänomen ein würdiger Stoff zu weiterer Behandlung und Bearbeitung überliefert werde.7 *** Metaphysische Formeln haben eine große Breite und Tiefe, jedoch sie würdig auszufüllen, wird ein reicher Gehalt erfordert, sonst bleiben sie hohl. Mathematische Formeln lassen sich in vielen Fällen sehr bequem und 4 5 6 7

Farbenlehre, ebd., Einleitung, Bd. 37, S. 9. Farbenlehre, ebd., Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232-233. Farbenlehre, ibid., Nr. 175, Bd. 37, S. 67. Farbenlehre, ibid., Nr. 177, Bd. 37, S. 68.

Ausgewählte Fragmente

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glücklich anwenden, aber es bleibt ihnen immer etwas Steifes und Ungelenkes, und wir fühlen bald ihre Unzulänglichkeit, weil wir, selbst in Elementarfällen, sehr früh ein Inkommensurables gewahr werden... Mechanische Formeln sprechen mehr zu dem gemeinen Sinn, aber sie sind auch gemeiner und behalten immer etwas Rohes. Sie verwandeln das Lebendige in ein Totes; sie töten das innere Leben, um von außen ein Unzulängliches heranzubringen.8 *** ... und wie oft wird ... das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr zugedeckt, und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht.9

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Farbenlehre, ebd., Nr. 752, Bd. 37, S. 246. Farbenlehre, ebd., Nr. 754, S. 247.

BERNARD BOLZANO WISSENSCHAFTSLEHRE1 ERSTES HAUPTSTÜCK. VOM DASEYN DER WAHRHEITEN AN SICH. §. 19. Was der Verfasser unter einem Satze an sich verstehe? Um meinen Lesern mit möglichster Deutlichkeit zu erkennen zu geben, was ich unter einem S a t z e a n s i c h verstehe; fange ich damit an, erst zu erklären, was ich einen a u s g e s p r o c h e n e n oder d u r c h W o r t e a u s g e d r ü c k t e n S a t z nenne. Mit dieser Benennung bezeichne ich nämlich jede (meistens aus mehren, zuweilen aber auch aus einem einzigen Worte bestehende) R e d e , wenn durch sie irgend etwas ausgesagt oder behauptet wird, wenn sie mithin immer Eines von Beidem, entweder wahr oder falsch, in der gewöhnlichen Bedeutung dieser Worte, wenn sie (wie man auch sagen kann) entweder richtig oder unrichtig seyn muß. So heiße ich z. B. folgende Reihe von Worten: «Gott ist allgegenwärtig,» einen ausgesprochenen Satz; denn durch diese Worte wird etwas, und zwar hier etwas Wahres, behauptet. Eben so heiße ich aber auch folgende Reihe von Worten: «Ein Viereck ist rund,» einen Satz; denn auch durch diese Verbindung von Worten wird etwas ausgesagt oder behauptet, obgleich etwas Falsches und Unrichtiges. Dagegen würden mir nachstehende Verbindungen von Worten: «Der gegenwärtige Gott,» «ein rundes Viereck,» noch keine Sätze heißen; denn durch diese wird wohl etwas v o r g e s t e l l t , aber nichts ausgesagt oder behauptet, so daß man eben deßhalb strenge genommen nicht sagen kann, weder, daß sie etwas Wahres, noch, daß sie etwas Falsches enthalten. Wenn man nun weiß, was ich unter ausgesprochenen Sätzen verstehe; so bemerke ich ferner, daß es auch Sätze geben, die nicht in Worten dargestellt sind, sondern die Jemand sich bloß denket, und diese nenne ich g e d a c h t e S ä t z e . Wie ich aber in 1

Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre. Hrsg. von Wolfgang Schultz. I. Bd. Verlag von Felix Meiner in Leipzig, 1929, S. 76-80.

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der Benennung: «ein ausgesprochener Satz» den Satz selbst offenbar von seiner Aussprache unterscheide; so unterscheide ich in der Benennung: «ein gedachter Satz» den Satz selbst auch noch von dem Gedanken an ihn. Dasjenige nun, was man sich unter dem Worte S a t z nothwendig vorstellen muß, um diese Unterscheidung gemeinschaftlich mit mir machen zu können; was man sich unter einem Satze denkt, wenn man noch fragen kann, ob ihn auch Jemand ausgesprochen oder nicht ausgesprochen, gedacht oder nicht gedacht habe, ist eben das, was ich einen S a t z a n s i c h nenne, und auch selbst dann unter dem Worte Satz verstehe, wenn ich es der Kürze wegen ohne den Beisatz: a n s i c h , gebrauche. Mit anderen Worten also: unter einem S a t z e a n s i c h verstehe ich nur irgend eine Aussage, daß etwas ist oder nicht ist; gleichviel, ob diese Aussage wahr oder falsch ist; ob sie von irgend Jemand in Worte gefaßt oder nicht gefaßt, ja auch im Geiste nur gedacht oder nicht gedacht worden ist. Verlangt man ein B e i s p i e l , w o das Wort S a t z in der hier festgesetzten Bedeutung erscheint: so gebe ich gleich folgendes, dem viele ähnliche zur Seite gestellt werden können. «Gott, als der Allwissende, kennt nicht nur alle wahren, sondern auch alle falschen Sätze; nicht nur diejenigen, die irgend ein geschaffenes Wesen für wahr hält, oder von denen es sich nur eine Vorstellung macht, sondern auch jene, die Niemand für wahr hält, oder sich auch nur vorstellt, oder je vorstellen wird.» Damit der Leser den durch das Bisherige ihm, wie ich hoffe, verständlich gewordenen Begriff desto fester halte, und auch davon, daß er mich recht verstanden habe, desto gewisser überzeuget werde, mögen noch folgende Bemerkungen da stehen. a) Wenn man sich unter einem S a t z e a n s i c h das vorstellen will, was ich hier verlange; so darf man bei diesem Ausdrucke nicht mehr an das, was seine u r s p r ü n g l i c h e Bedeutung anzeigt, denken; also nicht an etwas G e s e t z t e s , welches mithin das Daseyn eines Wesens, durch welches es gesetzt worden ist, voraussetzen würde. Dergleichen sinnliche Nebenbegriffe, die der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes ankleben, muß man ja auch von den Kunstworten, die in so mancher anderen Wissenschaft vorkommen, wegdenken. So darf man z.B. in der Mathematik bei dem Begriffe einer Quadratwurzel an keine Wurzel, die der Botaniker kennt, auch an kein geometrisches Quadrat denken. b) Eben so wenig, als man sich vorzustellen hat, daß ein Satz an sich etwas von Jemand Gesetztes ist, darf man ihn auch mit einer

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in dem Bewußtseyn eines denkenden Wesens vorhandenen V o r s t e l l u n g , ingleichen mit einem F ü r w a h r h a l t e n , oder U r t h e i l e verwechseln. Wahr ist es allerdings, daß jeder Satz, wenn sonst von keinem anderen Wesen, doch von Gott gedacht oder vorgestellt, und, falls er wahr ist, auch für wahr anerkannt werde, und somit in dem göttlichen Verstande entweder als eine bloße Vorstellung oder sogar als ein Urtheil vorkomme; darum ist aber doch ein Satz immer noch etwas Anderes, als eine Vorstellung und als ein Urtheil. c) Aus diesem Grunde darf man auch S ä t z e n a n s i c h kein Daseyn (keine Existenz oder Wirklichkeit) beilegen. Nur der gedachte oder behauptete Satz, d. h. nur der G e d a n k e an einen Satz, ingleichen das einen gewissen Satz enthaltende U r t h e i l hat Daseyn in dem Gemüthe des Wesens, das den Gedanken denkt, oder das Urtheil fället; allein der Satz an sich, der den Inhalt des Gedankens oder Urtheiles ausmacht, ist nichts Existirendes; dergestalt, daß es eben so ungereimt wäre zu sagen, ein Satz habe ewiges Daseyn, als, er sey in einem gewissen Augenblicke entstanden, und habe in einem anderen wieder aufgehört. d) Endlich verstehet es sich von selbst, daß ein S a t z a n s i c h , obgleich er als solcher weder Gedanke, noch Urtheil ist, doch von Gedanken und Urtheilen handeln, d. h. doch den Begriff eines Gedankens oder Urtheils in irgend einem seiner Bestandtheile enthalten könne. Dieß zeigt ja selbst der Satz, den ich zuvor als Beispiel von einem Satze an sich aufgestellt habe. A n m e r k . Wenn man nach Allem, was bisher gesagt worden ist, schon recht gut weiß, was man sich unter einem Satze zu denken oder nicht zu denken habe; so kann man gleichwohl durch folgende Frage über ein vorgelegtes Beispiel in einige Verlegenheit gerathen. In S a v o n a r o l a s Compendio aureo totius Logicae. Lips. L. X. Nr. 18. kömmt unter der Aufschrift: I n s o l u b i l e p r o p o s i t u m (h. e. propositio se ipsam destruens) n e c e s t c o n c e d e n d u m n e c n e g a n d u m – dieß Beispiel vor: Hoc est falsum, posito quod per subjectum demonstretur ipsamet propositio; d.h. D i e s e s (nämlich die Rede, die ich so eben führe) i s t f a l s c h . – Es fragt sich, ob diese Verbindung von Worten den Namen eines S a t z e s verdiene, und dann, ob dieser Satz wahr oder falsch sey? – S. sagt von solchen Wortverbindungen, daß man sie weder bejahen, noch verneinen dürfe. «Et si dicatur, omnis propositio est vera vel falsa. dicendum est, quod n o n s u n t propositiones. Nam definitio propositionis,

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quod est oratio vera vel falsa, non competit eis in veritate. Habent tamen figuram propositionum. Sicut h o m o m o r t u u s habet figuram et similitudinem hominis, non tamen est homo: ita et hae dicuntur p r o p o s i t i o n e s d e s t r u e n t e s s e i p s a s , v e l i n s o l u b i l e s , non tamen propositiones simpliciter.» – Was meinen wohl die Leser? Man sollte glauben, daß S. recht habe, und zwar besonders darum, weil das Subject eines Satzes doch nie er selbst seyn kann, so wenig, als ein Theil das Ganze ausmachen kann. Ich wage es gleichwohl mich zur entgegengesetzen Meinung zu bekennen; und glaube, daß auch der gemeine Menschenverstand für mich entscheide. Denn welcher Sprachlehrer wird einen Anstand nehmen, die Worte: «Was ich jetzt sage, ist falsch,» einen Satz zu nennen, der seinen vollständigen Sinn gibt? – Was aber den Einwurf betrifft, daß dieser Satz zugleich sein eigenes Subject seyn müßte, welches so ungereimt scheinet, als die Behauptung, daß der Theil eines Ganzen das Ganze selbst ausmache: dieser behebet sich, wie ich glaube, durch die Unterscheidung zwischen einem S a t z e a l s s o l c h e m , und zwischen der b l o ß e n V o r s t e l l u n g von ihm. Nicht der Satz selbst, als Satz, sondern nur die Vorstellung von ihm, macht die Subjectvorstellung in jenem Satze aus. Daß diese Unterscheidung gegründet sey, beweiset der Umstand, daß man nicht etwa nur hier, sondern überall die Sache selbst von dem Begriffe derselben unterscheiden muß, will man sich nicht in die gröbsten Ungereimtheiten verwickeln. Erkläre ich aber die obige Rede für einen vollständigen Satz, so muß ich mich auch für Eines von Beidem entscheiden, diesen Satz entweder wahr oder falsch zu nennen. Ich thue, wie man vermuthen wird, das Letztere, und sage, der Satz: «Was ich so eben behaupte, ist falsch» – sey selbst ein falscher Satz, denn er ist gleichgeltend mit folgendem: «Was ich so eben behaupte, e r k l ä r e i c h für falsch, und b e h a u p t e e s n i c h t . » Und das ist allerdings unwahr! Daraus folgt aber keineswegs, daß ich den nachstehenden aufstellen müsse: «Was ich so eben behaupte, ist wahr.» Dieß scheint S. geglaubt zu haben; und nur weil ihm dieser Satz fast eben so ungereimt als der erste vorkam, mochte er seine Zuflucht lieber zu der Behauptung genommen haben, daß beide Wortverbindungen gar keine eigentlichen Sätze wären. Ich sage dagegen, daß der Satz: «Was ich so eben behaupte, ist falsch,» nur das Besondere habe, daß sein contradictorisches Gegentheil nicht auf eben die Art, wie bei so manchen

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anderen Sätzen (deren Subjectvorstellung nur einen einzigen Gegenstand hat) gefunden werden kann; nämlich nicht dadurch, daß man seinem Prädicate «falsch» nur die Verneinung «Nicht» vorsetzt. Dieß gehet bei unserem Satze nicht an, weil eine Aenderung in seinem Prädicate auch eine Aenderung in seinem Subjecte nach sich zieht. Denn dieses, oder der Begriff, welchen die Worte: «Was ich jetzt eben behaupte,» ausdrücken, wird ein anderer, wenn ich sage: «Was ich jetzt eben behaupte, ist falsch;» als wenn ich sage: «Was ich jetzt eben behaupte, ist nicht falsch.» – Eine ähnliche Erscheinung hat man bei allen Sätzen, in deren Subjecte oder Prädicate eine Beziehung auf sie selbst, oder nur auf irgend einen ihrer Bestandtlieile vorkommt. So sind z.B. folgende zwei Sätze, die den Worten nach contradictorisch scheinen: «Das vorletzte Wort in der Rede, die ich jetzt eben führe, ist e i n Geschlechtswort;» und: «Das vorletzte Wort in der Rede, die ich jetzt eben führe, ist k e i n Geschlechtswort,» beide wahr. Folgende zwei dagegen sind beide falsch: «Die Anzahl der Worte, aus welchen der der Satz, den ich so eben ausspreche, bestehet, ist siebenzehn;» und: «Die Anzahl der Worte, aus welchen der Satz, den ich so eben ausspreche, bestehet, ist nicht siebenzehn;» denn der letzte Satz bestehet wirklich aus siebenzehn Worten, weil er um Eines (nämlich das Wort Nicht) mehr hat, als der erste u.s.w. Das contradictorische Gegentheil des Satzes: «Was ich so eben behaupte, ist – oder erkläre ich für – falsch» – ist also nicht der Satz: «Was ich so eben behaupte, ist wahr;» sondern: «Was ich so eben behaupte, behaupte ich.» – Doch schon genug von dieser Spitzfindigkeit!

FRANZ BRENTANO PSYCHOLOGIE VOM EMPIRISCHEN STANDPUNKT1 Zweites Buch Von den psychischen Phänomenen im allgemeinen Erstes Kapitel. Von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene. § 1. Die gesamte Welt unserer Erscheinungen zerfällt in zwei große Klassen, in die Klasse der p h y s i s c h e n und in die der p s y c h i s c h e n Phänomene. Wir haben von diesem Unterschiede schon früher gesprochen, da wir den Begriff der Psychologie feststellten, und wiederum sind wir bei der Untersuchung über die Methode darauf zurückgekommen. Aber dennoch ist das Gesagte nicht genügend; was damals nur flüchtig angedeutet wurde, müssen wir jetzt fester und genauer bestimmen. Dies scheint um so mehr geboten, als hinsichtlich der Abgrenzung beider Gebiete weder Einigkeit noch volle Klarheit erzielt sind. Wir sahen bereits gelegentlich, wie physische Phänomene, welche in der Phantasie erscheinen, für psychische gehalten wurden. Es gibt aber noch viele andere Fälle von Vermengung. Und selbst bedeutende Psychologen dürften schwer gegen den Vorwurf, daß sie sich selbst widersprechen, zu rechtfertigen sein*. Manchmal stößt man auf Äußerungen wie die, daß 1

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Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt. Hrsg. von Oskar Kraus. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1973, S. 109-140. So gelingt es mir wenigstens nicht, die verschiedenen Bestimmungen miteinander in Einklang zu bringen, die A. Bain in einem seiner neuesten psychologischen Werke, Mental Science, Lond. 3. edit. 1872, in dieser Hinsicht gegeben hat. S. 120 Nr. 59 sagt er, die psychische Wissenschaft (Science of Mind, die er auch Subject Science nennt) sei auf Selbstbewußtsein oder introspective Aufmerksamkeit gegründet; das Auge, das Ohr, das Tastorgan seien Media zur Beobachtung der physischen Welt, des «object world», wie er sich ausdrückt. S. 198 Nr. 4, I. heißt es dagegen: «Die Wahrnehmung von Materie oder das objektive Bewußtsein (object consciousness) ist verknüpft mit der Äußerung von Muskeltätigkeit im Gegensatz zu passivem Gefühle.» Und in der Erläuterung fügt er hinzu: «Bei rein passivem Gefühle, wie bei denjenigen Empfindungen, bei welchen unsere Muskeltätigkeit nicht beteiligt ist, nehmen wir nicht Materie wahr, wir sind in einem Zustande subjektiven

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Empfindung und Phantasie sich dadurch unterscheiden, daß die eine infolge eines physischen Phänomens entstehe, während die andere, nach den Gesetzen der Assoziation, durch ein psychisches Phänomen hervorgerufen werde. Dabei geben dieselben Psychologen aber zu, daß dasjenige, was in der Empfindung erschiene, der einwirkenden Ursache nicht entsprechend sei. Und somit stellt sich heraus, daß, was sie physische Erscheinungen nennen, uns in Wahrheit nicht erschient, ja daß wir gar keine Vorstellung davon haben; gewiß eine merkwürdige Art, den Namen Phänomen zu mißbrauchen! Bei solcher Lage der Dinge können wir nicht umhin, uns noch etwas eingehender mit der Frage zu beschäftigen. §2. Die Erklärung, die wir anstreben, ist nicht eine Definition nach den herkömmlichen Regeln der Logiker. Diese haben in letzter Zeit mehrfach eine vorurteilslose Kritik erfahren, und dem, was ihnen zum Vorwurfe gesagt wurde, wäre noch manches weitere Wort beizufügen. Das, worauf wir ausgehen, ist die Verdeutlichung der beiden Namen: physisches Phänomen – psychisches Phänomen. Wir wollen in betreff ihrer Mißverständnis und Verwechselung ausschließen. Und dabei kommt es uns nicht auf die Art der Mittel an, wenn sie nur wirklich der Deutlichkeit dienen. Zu solchem Zwecke ist nicht allein die Angabe allgemeinerer, übergeordneter Bestimmungen brauchbar. Wie auf dem Gebiete des Beweisverfahrens der Deduktion die Induktion, so steht hier der Erklärung durch das Allgemeinere eine Erklärung durch das Besondere, durch das Beispiel, entgegen. Und diese wird so oft am Platze sein, als die besonderen Namen deutlicher als die allgemeinen sind. So ist es vielleicht ein wirksameres Verfahren, wenn man den Namen Farbe dadurch erklärt, daß man sagt, er bezeichne die Gattung für rot, blau, grün und gelb, als Bewußtseins (subject consiousness).» Er erläutert dies an dem Beispiele der Empfindung von Wärme, wenn man ein warmes Bad nimmt, und an jenen Fällen sanfter Berührung, in welchen keine Muskeltätigkeit stattfindet, und erklärt, unter denselben Bedingungen könnten Töne, ja möglicherweise auch Licht und Farbe, eine rein subjektive Erfahrung (subjekt experience) sein. Er entnimmt also Beispiele für das Subjekt-Bewußtsein gerade den Empfindungen durch Auge, Ohr und Tastorgan, welche er an der anderen Stelle im Gegensatz zum Subjekt-Bewußtsein als Vermittler des Objekt-Bewußtseins bezeichnet hatte.

Psychologie vom empirsichen Standpunkt

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wenn man umgekehrt rot als eine besondere Art von Farbe verdeutlichen will. Doch noch mehr wird bei Namen wie die, um welche es sich in unserem Falle handelt, Namen, welche im Leben gar nicht üblich sind, während die der einzelnen darunter befaßten Erscheinungen häufig gebraucht werden, die Erläuterung durch die besonderen Bestimmungen gute Dienste leisten. Suchen wir also zunächst durch Beispiele die Begriffe deutlich zu machen. Ein Beispiel für die psychischen Phänomene bietet jede Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie; und ich verstehe hier unter Vorstellung nicht das, was vorgestellt wird, sondern den Akt des Vorstellens. Also das Hören eines Tones, das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von warm oder kalt, sowie die ähnlichen Phantasiezustände sind Beispiele, wie ich sie meine; ebenso aber auch das Denken eines allgemeinen Begriffes, wenn anders ein solches wirklich vorkommt. Ferner jedes Urteil, jede Erinnerung, jede Erwartung, jede Folgerung, jede Überzeugung oder Meinung, jeder Zweifel – ist ein psychisches Phänomen. Und wiederum ist ein solches jede Gemütsbewegung, Freude, Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Mut, Verzagen, Zorn, Liebe, Haß, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Verachtung usw. Beispiele von physischen Phänomen dagegen sind eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Akkord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen. Diese Beispiele mögen hinreichen, den Unterschied der beiden Klassen anschaulich zu machen. §3. Doch wir wollen noch in einer anderen und einheitlicheren Weise eine Erklärung des psychischen Phänomens zu geben suchen. Hierfür bietet sich uns eine Bestimmung dar, von der wir schon früher Gebrauch machten, indem wir sagten, mit dem Namen der psychischen Phänomene bezeichneten wir die Vorstellungen, sowie auch alle jene Erscheinungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden. Daß wir hier unter Vorstellung wiederum nicht das Vorgestellte, sondern das Vorstellen verstehen, bedarf kaum der Bemerkung. Dieses Vorstellen bildet die Grundlage des Urteilens nicht bloß, sondern ebenso des Begehrens, sowie jedes anderen psychischen Aktes. Nichts kann beurteilt, nichts kann aber

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auch begehrt, nichts kann gehofft oder gefürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird. So umfaßt die gegebene Bestimmung alle eben angeführten Beispiele psychischer Phänomene und überhaupt alle zu diesem Gebiete gehörigen Erscheinungen. Es ist ein Zeichen des unreifen Zustandes, in welchem die Psychologie sich befindet, daß man kaum e i n e n Satz über psychische Phänomene aussprechen kann, der nicht von manchen bestritten würde. Doch in dem, was wir eben sagten, Vorstellungen seien die Grundlage für die anderen psychischen Phänomene, kommt wenigstens die große Mehrzahl mit uns überein. So sagt Herbart ganz richtig: «Jedesmal, indem wir fühlen, wird irgend etwas, wenn auch ein noch so vielfältiges und verwirrtes Mannigfaltiges, als ein Vorgestelltes im Bewußtsein vorhanden sein; so daß dieses bestimmte Vorstellen in diesem bestimmten Fühlen eingeschlossen liegt. Und jedesmal, indem wir begehren, ... haben [wir] auch dasjenige in Gedanken, was wir begehren.»* Herbart geht dann aber weiter. Er sieht in allen anderen Phänomenen nichts als gewisse Zustände von Vorstellungen, welche aus Vorstellungen ableitbar sind; eine Ansicht, die schon wiederholt und insbesondere von Lotze mit entscheidenden Gründen bestritten worden ist. Unter anderen trat in neuester Zeit auch J . B . M e y e r in seiner Darstellung von Kants Psychologie in längerer Erörterung ihr entgegen. Aber dieser begnügte sich nicht damit, zu leugnen, daß die Gefühle und Begierden aus Vorstellung abgeleitet werden könnten; er behauptete, daß Phänomene dieser Art auch ohne jede Vorstellung zu bestehen vermöchten.** Ja, Meyer glaubt, daß die niedersten Tiere und der Menschen mit bloßem Fühlen und Begehren anfange, während das Vorstellen erst bei fortschreitender Entwickelung hinzukomme.*** Hierdurch scheint er auch mit unserer Behauptung in Konflikt zu kommen. Doch, wenn ich nicht irre, so ist der Widerspruch mehr scheinbar als wirklich. Aus mehreren seiner Äußerungen scheint mir hervorzugehen, daß Meyer den Begriff der Vorstellung enger faßt, als wir es getan haben, während er den Begriff der Gefühle in demselben Maße erweitert. *

Psych. als Wissensch. Th. II. Abschn. 1. Kap. 1. 103. Vgl. auch Drobisch, Empir. Psychol. S. 38 und 348, und Andere aus der Schule Herbarts. ** Kants Psychologie, Berlin 1870. S. 92ff. *** Ebend. S. 94.

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«Vorstellen,» sagt er, «tritt erst da auf, wo die empfundene Veränderung des eigenen Zustandes als Folge eines äußeren Reizes aufgefaßt werden kann, wenn sich dies auch zuerst nur in dem unbewußt erfolgenden Umherblicken oder Umhertasten nach einem äußeren Objekt ausspricht.» Würde Meyer unter Vorstellung dasselbe wie wir verstehen, so würde er unmöglich so sprechen können. Er würde einsehen, daß ein Zustand, wie der, welchen er als den Anfang des Vorstellens beschreibt, bereits eine reiche Zahl von Vorstellungen enthalten würde, Vorstellungen von zeitlichem Nacheinander z.B., Vorstellungen von Ursache und Folge. Wenn alles dies der Seele schon gegenwärtig sein muß, damit eine Vorstellung in J. B. Meyers Sinne sich bilde, so ist es freilich klar, daß eine solche nicht die Grundlage jeder anderen psychischen Erscheinung sein kann. Allein jenes Gegenwärtig-sein jedes einzelnen der genannten Dinge ist eben schon ein Vorstellt-sein in unserem Sinne. Und ein solches kommt überall vor, wo etwas im Bewußtsein erscheint: mag es gehaßt oder geliebt oder gleichgültig betrachtet; mag es anerkannt oder verworfen oder, bei völliger Zurückhaltung des Urteils – ich kann mich nicht besser ausdrücken als, – vorgestellt werden. Wie wir das Wort «vorstellen» gebrauchen, ist «vorgestellt werden» so viel wie «erscheinen». Daß ein Vorstellen in diesem Sinne von jedem, auch dem niedrigsten Gefühle der Lust und Unlust vorausgesetzt werde, das erkennt J. B. Meyer selbst an, obwohl er, in seiner Terminologie von uns abweichend, es nicht ein Vorstellen, sondern selbst bereits ein Fühlen nennt. Dies scheint mir wenigstens aus folgenden Worten hervorzugehen: «Zwischen nichtEmpfinden und Empfinden gebt es kein mittleres... Nun braucht die einfachste Form der Empfindung nicht mehr zu sein als ein bloßes E m p f i n d e n d e r zufolge irgendeines Reizes eingetretenen V e r ä n d e r u n g des eigenen Leibes oder eines Teiles desselben. Wesen mit solcher Empfindung ausgestattet, hätten dann nur ein G e f ü h l i h r e r e i g e n e n Z u s t ä n d e . M i t d i e s e m L e b e n s g e f ü h l für die Vorgänge unter der eigenen Haut könnte wohl unmittelbar eine verschiedene Reizbarkeit der Seele für die ihr förderlichen oder schädlichen Veränderungen verbunden sein, wenn auch diese n e u e R e i z b a r k e i t nicht einfach aus jenem Gefühl abzuleiten wäre, eine solche Seele könnte G e f ü h l e der Lust und Unlust n e b e n d e r E m p f i n d u n g haben ... Eine so ausgestattete Seele

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besäße noch keine Vorstellung...»* Wir sehen wohl, daß, was nach uns allein den Namen Gefühl verdienen würde, auch nach J.B. Meyer als Zweites nach einem Ersten auftritt, welches unter den Begriff der Vorstellung, wie wir ihn fassen, fällt und für jenes die unentbehrliche Voraussetzung bildet. So scheint es denn, daß, wenn Meyers Ansicht in unsere Sprache übersetzt wird, der Widerspruch von selbst verschwindet. Ein gleiches ist vielleicht auch bei anderen der Fall, die ähnlich wie Meyer sich äußern. Doch mag es immerhin vorkommen, daß bei einigen Arten von sinnlichen Lust- und Unlustgefühlen jemand in Wahrheit der Ansicht ist, es liege ihnen auch in unserem Sinne keine Vorstellung zugrunde. Eine gewisse Versuchung dazu kann wenigstens nicht geleugnet werden. Dies gilt z.B. hinsichtlich der Gefühle, welche durch Schneiden oder Brennen entstehen. Wird einer geschnitten, so hat er meist keine Wahrnehmung von Berührung, wird er gebrannt, keine Wahrnehmung von Wärme mehr, sondern nur Schmerz scheint in dem einen und anderen Falle vorhanden. Nichtsdestoweniger liegt auch hier ohne Zweifel dem Gefühle eine Vorstellung zugrunde. Immer haben wir in solchen Fällen die Vorstellung einer örtlichen Bestimmtheit, die wir gewöhnlich in Relation zu dem einen oder anderen sichtbaren und greifbaren Teil unseres Körpers bezeichnen. Wir sagen, es tue der Fuß, es tue die Hand uns weh, es schmerze uns diese oder jene Stelle des Leibes. Und so werden denn vor allem diejenigen, welche eine solche örtliche Vorstellung als etwas ursprünglich durch die Reizung der Nerven selbst Gegebenes betrachten, eine Vorstellung als Grundlage dieser Gefühle nicht leugnen können. Aber auch andere können derselben Annahme nicht entgehen. Denn nicht bloß die Vorstellung einer örtlichen Bestimmtheit, auch die einer besonderen sinnlichen Beschaffen*

Kants Psychol. S. 92. J. B. Meyer scheint die Empfindung ebenso wie U e b e r w e g in seiner Logik I. 36 (2. Aufl. S. 64) zu fassen: «Von der bloßen Empfindung... unterscheidet sich die Wahrnehmung dadurch, daß das Bewußtsein in jener nur an dem subjektiven Zustand hafftet, in der Wahrnehmung aber auf ein Element geht, welches wahrgenommen wird und daher... dem Akte des Wahrnehmens als ein Anderes und Objektives gegenübersteht.» Wäre diese Ansicht Ueberwegs über die Empfindung im Unterschiede von der Wahrnehmung richtig, so würde nichtsdestoweniger das Empfinden ein Vorstellen in unserem Sinne einschließen. Warum wir sie nicht für richtig halten, wird sich später zeigen.

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heit, analog der Farbe, dem Schall und anderen sogenannten sinnlichen Qualitäten, ist in uns vorhanden, einer Beschaffenheit, die zu den physischen Phänomenen gehört und von dem begleitenden Gefühle wohl zu unterscheiden ist. Wenn wir einen angenehm milden oder einen schrillen Ton, einen harmonischen Klang oder eine Disharmonie hören, so wird es niemand einfallen, den Ton mit dem begleitenden Lust- oder Schmerzgefühle zu identifizieren. Aber auch da, wo durch Schneiden, Brennen oder Kitzeln ein Gefühl von Schmerz oder Lust in uns erweckt wird, müssen wir in gleicher Weise ein physisches Phänomen, das als Gegenstand der äußeren Wahrnehmung auftritt, und ein psychisches Phänomen des Gefühles, welches sein Erscheinen begleitet, auseinander halten, obwohl der oberflächliche Betrachter hier eher zur Verwechselung geneigt ist. Der hauptsächliche Grund, der die Täuschung veranlaßt, ist wohl folgender. [Unsere Empfindungen werden bekanntlich durch die sogenannten sensibel Nerven vermittelt. Früher glaubte man, daß jeder Gattung von sinnlichen Qualitäten, wie Farbe, Schall usf., besondere Nerven als ausschließliche Leiter dienen. In neuster Zeit neigt sich dagegen die Physiologie mehr und mehr der entgegengesetzten Ansicht zu.* Namentlich lehrt sie fast allgemein, daß die Nerven für die Berührungsemfindungen, in einer anderen Weise gereizt, die Empfindungen der Wärme und Kälte und, wieder in einer anderen Weise erregt, die sogenannten Lust- und Schmerzempfindungen in uns hervorbringen. In Wahrheit gilt aber etwas Ähnliches für alle Nerven, insofern ein sinnliches Phänomen der zuletzt erwähnten Gattung durch jeden Nerven in uns hervorgerufen werden kann. Wenn sie sehr stark gereizt werden, bringen alle Nerven schmerzliche Phänomene hervor, die sich der Art nach nicht voneinander unterscheiden.** Vermittel ein Nerv verschiedene Gattungen von Empfindungen, so geschieht es oft, daß er mehrere zugleich vermittelt, wie z.B. der Blick in ein elektrisches Licht zugleich eine «schöne», d.h. uns angenehme Farbenerscheinung und zugleich eine uns schmerzliche Erscheinung anderer Gattung zur Folge hat. Die Nerven des Tastsinnes vermitteln häufig zugleich eine sogenannte Empfindung der Berührung, * **

Vgl. insbesondere Wundt, Physiol. Psychol. S. 345 ff. Vgl. unten Buch II. Kapitel 3 6.

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eine Empfindung von Wärme oder Kälte und eine sogenannte Lust- oder Schmerzempfindung.] Nun zeigt es sich, daß, wenn mehrere Empfindungsphänomene zugleich erscheinen, sie nicht selten als e i n e s betrachtet werden. In einer auffallenden Weise hat man dies in betreff der Geruchsund Geschmacksempfindungen nachgewiesen. Es steht fest, daß fast alle Unterschiede, die man als Unterschiede des Geschmacks anzusehen pflegt, in Wahrheit nur Unterschiede gleichzeitig entstehender Geruchsphänomene sind. Ähnlich ist es, wenn wir eine Speise kalt oder warm genießen: wir glauben oft Unterschiede des Geschmacks zu haben, welche in Wahrheit nur Unterschiede der Temperaturerscheinungen sind. Da ist es denn nicht zu verwundern, wenn wir das, was ein Phänomen der Temperaturempfindung und das, was ein Phänomen der Berührungsempfindung ist, nicht immer genau auseinanderhalten. Ja, wir würden sie vielleicht gar nicht scheiden, wenn sie nicht gewöhnlich unabhängig voneinander aufträten. Betrachten wir nun die Gefühlsempfindungen. so finden wir im Gegenteil, daß mit ihren Phänomenen meistens Empfindungen aus einer anderen Klasse verbunden sind, welche höchstens im Falle einer sehr starken Erregung neben ihnen verschwinden. Und so erklärt es sich recht wohl, wenn man sich über das Auftreten einer besonderen Gattung von sinnlichen Qualitäten täuschte, und statt zweier eine einzige Empfindung zu haben glaubte. Da die hinzukommende Vorstellung von einem verhältnismäßig sehr starken Gefühle begleitet war, ungleich stärker als dasjenige, welches der ersten Art von Qualität folgte, so betrachtete man diese psychische Erscheinung als das einzige, was man neu empfangen habe. Und fiel dann die erste Art von Qualität ganz weg, so glaubte man nichts als ein Gefühl ohne zugrunde liegende Vorstellung eines physischen Phänomens zu besitzen. Ein weiterer Grund, der die Täuschung begünstigt, ist der, daß die Qualität, welcher das Gefühl folgt, und dieses selbst nicht zwei besondere Namen tragen. Man nennt das physische Phänomen, welches mit dem Schmerzgefühle auftritt, in diesem Falle selbst Schmerz. Man sagt nicht sowohl, daß man diese oder jene Erscheinung im Fuße mit Schmerz empfinde, sondern man sagt, man empfinde Schmerz im Fuße. Dies ist eine Äquivokation, wie wir sie allerdings auch anderwärts häufig finden, wo Dinge in enger Beziehung zueinander stehen. Gesund nennen wir den Leib und, in bezug auf ihn, die Luft, die Speise, die Gesichtsgarbe und

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dergl. mehr, aber offenbar in einem anderen Sinne. In unserem Falle nennt man nach dem Gefühle der Lust oder des Schmerzes, welches das Erscheinen eines physischen Phänomens begleitet, dieses selbst Lust und Schmerz, und auch hier ist der Sinn ein modifizierter. Es ist, wie wenn wir von einem Wohlklang sagen würden, er sei uns eine Lust, weil wir bei seiner Erscheinung ein Gefühl der Lust empfinden; oder auch, der Verlust eines Freundes sei uns ein großer Kummer. Die Erfahrung zeigt, daß die Äquivokation eines der vorzüglichsten Hindernisse ist, Unterschiede zu erkennen. Am meisten mußte sie es hier werden, wo an und für sich eine Gefahr der Täuschung gegeben, und die Übertragung des Namens vielleicht selbst Folge einer Konfusion war. Daher wurden viele Psychologen getäuscht, und weitere Irrtümer hingen mit diesem zusammen. Manche kamen zu dem falschen Schlusse, das empfindende Subjekt müsse an der Stelle des verletzten Gliedes, in welchem ein schmerzliches Phänomen in der Wahrnehmung lokalisiert wird, gegenwärtig sein. Denn indem sie das Phänomen mit dem begleitenden Schmerzgefühle identifizierten, betrachteten sie es als ein psychisches, nicht als ein physisches Phänomen. Und eben darum glaubten sie, seine Wahrnehmung in dem Gliede sei eine innere, also evidente und untrügliche Wahrnehmung.* Allein ihrer Ansicht widersprach die Tatsache, daß die gleichen Phänomene in der gleichen Weise oft nach der Amputation des Gliedes erscheinen. Andere argumentierten daher vielmehr umgekehrt skeptisch gegen die Evidenz der inneren Wahrnehmung. Alles löst sich, wenn man zwischen dem Schmerze in dem Sinne, in welchem der Namen die scheinbare Beschaffenheit eines Teiles unseres Leibes bezeichnet, und zwischen dem Gefühle des Schmerzes, das sich an seine Empfindung knüpft, zu unterscheiden gelernt hat. Hat man aber dieses getan, so wird man nicht mehr geneigt sein zu behaupten, daß dem Gefühle des sinnlichen Schmerzes, den man bei einer Verletzung empfindet, keine Vorstellung zugrunde liege. Wir dürfen es demnach als eine unzweifelhaft richtige Bestimmung der psychischen Phänomene betrachten, daß sie entweder Vorstellungen sind, oder (in dem erläuterten Sinne) auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen. Hierin hätten wir also eine zweite, in wenigere Glieder zerfallende Erklärung ihres Begriffes gegeben. Immerhin ist sie nicht ganz *

So noch der Jesuit Tongiorgi in seinem vielverbreiteten Lehrbuche der Philosophie.

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einheitlich, da sie vielmehr die psychischen Phänomene in zwei Gruppen geschieden uns vorführt. §4. Eine vollkommen einheitliche Bestimmung, die alle psychischen Phänomene gegenüber den physischen kennzeichnet, hat man negativ zu geben gesucht. Alle physischen Phänomene, sagt man, zeigen Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit: seien sie nun Erscheinungen des Gesichts oder eines anderen Sinnes; oder seien sie Gebilde der Phantasie, die ähnliche Objekte uns vorstellt. Das Gegenteil aber gilt von den psychischen Phänomenen; Denken, Wollen usf. erscheinen ausdehnungslos und ohne räumliche Lage. Hiernach wären wir imstande, die physischen Phänomene leicht und genau gegenüber den psychischen zu charakterisieren, indem wir sagten, sie seien diejenigen, welche ausgedehnt und räumlich erscheinen. Und auch die psychischen wären dann den physischen gegenüber mit derselben Exaktheit als diejenigen Phänomene zu bestimmen, welche keine Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit zeigen. Descartes und Spinoza könnte man zugunsten einer solchen Unterscheidung anrufen; besonders aber Kant, der den Raum für die Form der Anschauung des äußeren Sinnes erklärt. Dieselbe Bestimmung gibt neuerdings A. Bain: «Das Gebiet des Objekts oder die objektive (äußere) Welt», sagt er, «ist genau umschrieben durch e i n e Eigentümlichkeit, die Ausdehnung. Die Welt der subjektiven Erfahrung (die innere Welt) entbehrt dieser Eigentümlichkeit. Von einem Baume oder von einem Bache sagt man, er besitze eine ausgedehnte Größe. Ein Vergnügen hat nicht Länge, Breite oder Dicke; es ist in keiner Hinsicht ein ausgedehntes Ding. Ein Gedanken oder eine Idee mag sich auf ausgedehnte Größen beziehen, aber man kann nicht von ihnen sagen, sie hätten eine Ausdehnung in sich selbst. Und ebensowenig können wir sagen, daß ein Willensakt, eine Begierde, ein Glauben einen Raum nach gewissen Richtungen erfülle. Daher spricht man von Allem, was in das Bereich des Subjekts fällt, als von dem Unausgedehnten. Gebraucht man also, wie es gemeiniglich geschieht, den Namen Geist für die Gesamtheit

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der inneren Erfahrungen, so können wir ihn negativ durch eine einzige Tatsache definieren, – durch den Mangel der Ausdehnung.»* So, scheint es, haben wir wenigstens negativ eine einheitliche Bestimmung für die Gesamtheit der psychischen Phänomene gefunden. Allein auch hier herrscht nicht Einstimmigkeit unter den Psychologen; und aus entgegengesetzten Gründen hört oft die Ausdehnung und den Mangel an Ausdehnung als unterscheidende Merkmale zwischen physischen und psychischen Phänomenen verwerfen. Viele erklären die Bestimmung darum für falsch, weil nicht allein die psychischen, sondern auch manche von den physischen Phänomenen ohne Ausdehnung erscheinen. So lehrt eine große Zahl nicht unbedeutender Psychologen, daß die Phänomene gewisser oder auch sämtlicher Sinne ursprünglich von aller Ausdehnung und räumlichen Bestimmtheit sich frei zeigen. Besonders von den Tönen und von den Phänomenen des Geruches glaubt man dies sehr allgemein. Nach Berkeley gilt von den Farben, nach Platner von den Erscheinungen des Tastsinnes, nach Herbart und Lotze, sowie nach Hartley, Brown, den beiden Mill, H. Spencer und anderen von den Erscheinungen aller äußeren Sinne dasselbe. Allerdings kommt es uns so vor, als seien die Erscheinungen, welche die äußeren Sinne, namentlich das Gesicht und der Tastsinn uns zeigen, alle räumlich ausgedehnt. Aber dies, sagt man, komme daher, daß wir die allmählich entwickelten räumlichen Vorstellungen auf Grund früherer Erfahrung damit verbinden; ursprünglich ohne örtliche Bestimmtheit, werden sie später von uns lokalisiert. Sollte wirklich nur dieses die Weise sein, in welcher die physischen Phänomene örtliche Bestimmtheit erlangen, so könnten wir offenbar nicht mehr in Rücksicht auf diese Eigentümlichkeit die beiden Gebiete scheiden; umsoweniger, als auch psychische Phänomene in solcher Weise von uns lokalisiert werden, wie z.B. wenn wir ein Phänomen des Zornes in den gereizten Löwen, und unsere eigenen Gedanken in den von uns erfüllten Raum verlegen. Das also wäre die eine Weise, in welcher auf dem Standpunkte einer großen Zahl bedeutender Psychologen die gegebene Bestimmung beanstandet werden muß. Im Grunde genommen ist auch Bain, der sie zu vertreten schien, diesen Denkern beizuzählen; denn er folgt ganz der *

Mental Science, Introd. ch. 1.

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Hartleyschen Richtung. Nur darum konnte er sprechen, wie er gesprochen hat, weil er (obwohl nicht mit durchgängiger Konsequenz) die Phänomene der äußeren Sinne an und für sich nicht zu den physischen Phänomenen rechnet.* Andere, wie gesagt, werden aus einem entgegengesetzten Grunde die Bestimmung verwerfen. Nicht sowohl die Behauptung, daß alle physischen Phänomene ausgedehnt erscheinen, erregt ihnen Anstoß, als vielmehr die, daß alle psychischen der Ausdehnung entbehren; auch gewisse psychische Phänomene zeigen sich nach ihnen ausgedehnt. Aristoteles scheint dieser Ansicht gewesen zu sein, wenn er im ersten Kapitel seiner Abhandlung über Sinn und Sinnesobjekt es als unmittelbar und ohne vorgängigen Beweis einleuchtend betrachtet, daß die sinnliche Wahrnehmung Akt eines körperlichen Organes sei.** Neuere Psychologen und Physiologen äußern sich zuweilen ähnlich hinsichtlich gewisser Affekte. Sie sprechen von einem Lust- und Schmerzgefühl, das in den äußeren Organen auftrete, manchmal sogar noch nach der Amputation des Gliedes; und doch ist Gefühl wie Wahrnehmung ein psychisches Phänomen. Auch von sinnlichen Begierden behaupten manche, daß sie lokalisiert erscheinen; und damit stimmt es recht wohl, wenn die Dichter, nicht zwar von einem Denken, wohl aber von einer Wonne und einem Sehnen sprechen, die Herz und alle Glieder durchdringen. So sehen wir, daß sowohl hinsichtlich der psychischen Phänomene die gegebene Unterscheidung angefochten wird. Vielleicht ist der eine der andere Widerspruch in gleicher Weise unbegründet.* Aber dennoch ist jedenfalls noch eine weitere gemeinsame Bestimmung für die psychischen Phänomene wünschenswert: denn einmal zeigt der Streit darüber, ob gewisse psychische und physische Phänomene ausgedehnt erscheinen oder nicht, daß das angegebene Merkmal zur deutlichen Scheidung nicht hinreicht; und dann ist es für die psychischen Phänomene nur negativ. * **

*

Vgl. oben S. 101 Anm. 1. De sens. et sens. 1. p. 436, b, 7. Vgl. auch, was er De Anim. I. 1. p. 403, a, 16 von den Affekten, insbesondere von denen der Furcht, sagt. Die Behauptung, auch psychische Phänomene erschienen ausgedehnt, beruht offenbar auf einer Verwechselung physischer und psychischer Phänomene, ähnlich derjenigen, von welcher wir oben uns überzeugten, da wir eine Vorstellung als notwendige Grundlage auch der sinnlichen Gefühle nachwiesen.

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§5. Welches positive Merkmal werden wir nun anzugeben vermögen? Oder gibt es vielleicht gar keine positive Bestimmung, die von allen psychischen Phänomenen gemeinsam gilt? A. Bain meint in der Tat, es gebe keine.** Nichtsdestoweniger haben schon Psychologen älterer Zeit auf eine besondere Verwandtschaft und Analoge aufmerksam gemacht, die zwischen allen psychischen Phänomenen bestehe, während die physischen nicht an ihr Teil haben. Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale)*** Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren gebehrt usw.* ** ***

*

The Senses and the Intellect, Introd. Sie gebrauchen auch den Ausdruck «gegenständlich (objektive) in etwas sein», der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umgekehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz außerhalb des Geistes genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck «immanent gegenständlich sein», den man zuweilen in ähnlichem Sinne gebraucht, und bei welchem offenbar das «immanent» das zu fürchtende Mißverständnis ausschließen soll. Schon Aristoteles hat von dieser psychischen Einwohnung gesprochen. In seinen Büchern von der Seele sagt er, das Empfundene als Empfundenes sei in dem Empfindenden, der Sinn nehme das Empfundene ohne die Materie auf, das Gedachte sei in dem denkenden Verstande. Bei P h i l o finden wir ebenfalls die Lehre von der mentalen Existenz und Inexistenz. Indem er aber diese mit der Existenz im eigentlichen Sinne confundiert, kommt er zu seiner widerspruchsvollen Logos- und Ideenlehre. Ähnliches gilt von den Neuplatonikern. Augustinus in seiner Lehre vom Verbum mentis und dessen innerlichem Ausgange berührt dieselbe Tatsache. A n s e l m u s tut es in seinem berühmten ontologischen Argumente; und daß er die mentale wie eine wirkliche Existenz betrachtete, wurde von manchen als Grundlage seines Paralogismus hervorgehoben (vgl. Ueberweg, Gesch. der Phil. II.). Thomas von Aquin lehrt, das Gedachte sei intentional in dem Denkenden, der Gegenstand der Liebe in dem Liebenden, das Begehrte in dem Begehrenden, und benützt dies zu theologischen Zwecken. Wenn die Schrift von

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Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten. Aber auch hier stoßen wir auf Streit und Widerspruch. Und insbesondere ist es Hamilton, der für eine ganz weite Klasse von psychischen Erscheinungen, nämlich für alle diejenigen, die er als Gefühle (feelings) bezeichnet, für Lust und Schmerz in ihren mannigfachsten Arten und Abstufungen, die angegebene Eigentümlichkeit leugnet. Hinsichtlich der Phänomene des Denkens und Begehrens ist er mit uns eigen. Offenbar gebe es kein Denken ohne ein Objekt, das gedacht, kein Begehren ohne einen Gegenstand, der begehrt werde. «In den Phänomenen des Gefühles dagegen», sagt er, «(den Phänomenen von Lust und Schmerz) stellt das Bewußtsein den psychischen Eindruck oder Zustand nicht vor sich hin, es betrachtet ihn nicht für sich (apart), sondern ist sozusagen i n E i n s m i t i h m v e r s c h m o l z e n . Die Eigentümlichkeit des Gefühles besteht daher darin, daß in ihm nichts ist, außer was subjektivisch subjektiv (subjektively subjektive) ist; hier findet sich weder ein von dem Selbst verschiedenes Objekt, noch irgend welche Objektivierung des Selbst.»* In dem ersten Falle wäre etwas da, was nach Hamiltons Ausdrucksweise «objektiv», in dem zweiten etwas, was «objektivisch subjektiv» ist, wie bei der Selbsterkenntnis, deren Objekt Hamilton darum Subjekt-Objekt nennt; Hamilton stellt, indem er beides in betreff des Gefühles leugnet, jede intentionale Inexistenz für dasselbe auf das Entschiedenste in Abrede. Indessen ist, was Hamilton sagt, jedenfalls nicht durchgängig richtig. Gewisse Gefühle beziehen sich unverkennbar auf Gegenstände, und die Sprache selbst deutet diese durch die Ausdrücke an, deren sie sich bedient. Wir sagen, man freue sich an-, man freue sich über etwas, man trauere oder gräme sich über etwas. Und wiederum sagt man: das freut mich, das schmerzt mich, das tut mir leid usf. Freude und Trauer folgen, wie

*

einer Einwohnung des hl. Geistes spricht, so erklärt er diese als eine intentionale Einwohnung durch die Liebe. Und in der intentionalen Inexistenz beim Denken und Lieben sucht er auch für das Geheimnis der Trinität und den Hervorgang des Wortes und Geistes ad intra eine gewisse Analogie zu finden. Lect. on Metaph. I. S. 432.

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Bejahung und Verneinung, Liebe und Haß, Begehren und Fliehen, deutlich einer Vorstellung und beziehen sich auf das in ihr Vorstellte. Am meisten dürfte einer in d e n Fällen Hamilton beizustimmen geneigt sein, in welchen man, wie wir früher sahen, am leichtesten der Täuschung verfällt, es liege dem Gefühle keine Vorstellung zugrunde; also z.B. beim Schmerze, der durch Schneiden oder Brennen erweckt wird. Aber der Grund ist kein anderer als eben die Versuchung zu dieser, wie wir sahen, irrtümlichen Annahme. Auch Hamilton erkennt übrigens mit uns die Tatsache an, daß Vorstellungen ausnahmslos, und somit auch hier, die Grundlage der Gefühle bilden. Um so auffallender erscheint daher seine Leugnung eines Objekts für die Gefühle. Eines freilich ist wohl zuzugeben. Das Objekt, auf welches sich ein Gefühl bezieht, ist nicht immer ein äußerer Gegenstand. Auch da, wo ich einen Wohlklang höre, ist die Lust, die ich fühle, nicht eigentlich eine Lust an dem Tone, sondern eine Lust am Hören. Ja man könnte vielleicht nicht mit Unrecht sagen, daß sie sich in gewisser Weise sogar auf sich selbst beziehe, und daß darum mehr oder minder das eintrete, was Hamilton sagt, daß nämlich das Gefühl mit dem Gegenstand «in Eins verschmolzen» sei. Aber dies ist nichts, was nicht in gleicher Weise bei manchen Phänomenen der Vorstellung und Erkenntnis gilt, wie wir bei der Untersuchung über das innere Bewußtsein sehen werden. Dennoch bleibt bei ihnen eine mentale Inexistenz, ein Subjekt-Objekt, um mit Hamilton zu reden; und dasselbe wird darum auch bei diesen Gefühlen gelten. Hamilton hat Unrecht, wenn er sagt, daß bei ihnen alles «subjektivisch subjektiv» sei; ein Ausdruck, der ja eigentlich sich selbst widerspricht; denn, wo nicht mehr von O b j e k t , ist auch nicht mehr von S u b j e k t zu reden. Auch wenn Hamilton von einem in-Eins-Verschmelzen des Gefühles mit dem psychischen Eindruck sprach, gab er genau betrachtet gegen sich selbst Zeugnis. Jedes Verschmelzen ist eine Vereinigung von Mehrerem; und somit weist der bildliche Ausdruck, welcher die Eigentümlichkeit des Gefühles anschaulich machen soll, immer noch auf eine gewisse Zweiheit in der Einheit hin. Die intentionale Inexistenz eines Objekts dürfen wir also mit Recht als eine allgemeine Eigentümlichkeit der psychischen Phänomene geltend machen, welche diese Klasse der Erscheinungen von der Klasse der physischen unterscheidet.

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§6. Eine weitere gemeinsame Eigentümlichkeit aller psychischen Phänomene ist die, daß sie nur in innerem Bewußtsein wahrgenommen werden, während bei den physischen nur äußere Wahrnehmung möglich ist. Dieses unterscheidende Merkmal hebt Hamilton hervor.* Es könnte einer glauben, mit einer solchen Bestimmung sei wenig gesagt, da es vielmehr das Naturgemäße scheine, daß man umgekehrt den Akt nach dem Objekt, also jeder anderen als Wahrnehmung psychischer Phänomene bestimme. Allein die innere Wahrnehmung hat, abgesehen von der Besonderheit ihres Objektes, auch noch anderes, was sie auszeichnet; namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zukommt. Wenn wir also sagen, die psychischen Phänomene seien diejenigen, welche durch innere Wahrnehmung erfaßt werden, so ist damit gesagt, daß ihre Wahrnehmung unmittelbar evident sei. Ja noch mehr! Die innere Wahrnehmung ist nicht bloß die einzige unmittelbar evidente; sie ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes. Haben wir doch gesehen, daß die Phänomene der sogenannten äußeren Wahrnehmung auch auf dem Wege mittelbarer Begründung sich keineswegs als wahr und wirklich erweisen lassen; ja daß der, welcher vertrauend sie für das nahm, wofür sie sich boten, durch den Zusammenhang der Erscheinungen des Irrtums überführt wird. Die sogenannte äußere Wahrnehmung ist also streng genommen nicht eine Wahrnehmung; und die psychischen Phänomene können somit als diejenigen bezeichnet werden, in Betreff deren allein eine Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes möglich ist. Auch durch diese Bestimmung sind die psychischen Phänomene genügend charakterisiert. Nicht als ob alle psychischen Phänomene für jeden innerlich wahrnehmbar, und darum alle, die einer nicht wahrnehmen kann, von ihm den physischen Phänomenen zuzurechnen seien; vielmehr ist es offenbar und wurde von uns schon früher ausdrücklich bemerkt, daß kein psychisches Phänomen von mehr als einem einzigen wahrgenommen wird; allein wir haben damals auch gesehen, daß in jedem vollentwickelten menschlichen Seeleleben jede Gattung psychischer Erscheinungen sich vertreten findet und darum dient der Hinweis auf die Phänomene, welche *

Ebend.

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das Gebiet der inneren Wahrnehmung ausmachen, in genügender Weise unserem Zwecke. §7. Wir sagten, die psychischen Phänomene seien diejenigen, von welchen allein eine Wahrnehmung im eigentlichen Sinne möglich sei. Wir können ebensogut sagen, sie seien diejenigen Phänomene, welchen allein außer der intentionalen auch eine wirkliche Existenz zukomme. Erkenntnis, Freude, Begierde bestehen wirklich; Farbe, Ton, Wärme nur phänomenal und intentional. Es gibt Philosophen, welche so weit gehen, zu sagen, es sei durch sich selbst evident, daß einer Erscheinung wie die, welche wir eine physische nennen, keine Wirklichkeit entsprechen k ö n n e . Sie behaupten, daß, wer dies annehme und physischen Phänomenen eine andere als mentale Existenz zuschreibe, etwas sich selbst Widersprechendes behaupte. So sagt z.B. Bain, man habe die Erscheinungen der äußeren Wahrnehmung durch die Annahme einer physischen Welt zu erklären gesucht, «welche zuerst ohne wahrgenommen zu werden bestehe, und dann durch Einwirkung auf den Geist zur Wahrnehmung gelange». «Diese Anschauung», sagt er, «enthält einen Widerspruch. Die herrschende Lehre ist, daß ein Baum etwas in sich selbst, abgesehen von aller Wahrnehmung, sei, daß er durch das Licht, welches er entsende, in unserem Geist einen Eindruck hervorbringe und dann wahrgenommen werde; so zwar, daß die Wahrnehmung eine Wirkung, und der unwahrgenommene» (d.h. wohl der außer der Wahrnehmung bestehende) «Baum die Ursache sei. Allein der Baum ist nur durch Wahrnehmung bekannt; was er vor der Wahrnehmung und unabhängig von ihr sein mag, können wir nicht sagen; wir können an ihn als wahrgenommenen, aber nicht als unwahrgenommenen denken. Es liegt ein offenbarer Widerspruch in der Annahme; man verlangt von uns in demselben Augenblicke, wir sollten das Ding wahrnehmen, und wir sollten es nicht wahrnehmen. Wir kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist nicht möglich, daß wir die Berührungsempfindung, abgesehen von der Berührungsempfindung, kennen.»* Ich muß eingestehen, daß ich nicht imstande bin, mich von der Richtigkeit dieser Argumentation zu überzeugen. So gewiß es auch ist, daß *

Mental Science 3. edit. p. 198.

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eine Farbe uns nur erscheint, wenn wir sie vorstellen: so ist doch hieraus nicht zu schließen, daß eine Farbe ohne vorgestellt zu sein nicht existieren könne. Nur wenn das Vorgestellt-sein als ein Moment in der Farbe enthalten wäre, so etwa wie eine gewisse Qualität und Intensität in ihr enthalten ist, würde eine nicht vorgestellte Farbe einen Widerspruch besagen, da ein Ganzes ohne einen seiner Teile in Wahrheit ein Widerspruch ist. Dieses aber ist offenbar nicht der Fall. Wäre es doch sonst auch geradezu unbegreiflich, wie der Glauben an die wirkliche Existenz der physischen Phänomene außerhalb unserer Vorstellung, ich will nicht sagen, entstehen, aber zu der allgemeinsten Ausbreitung gelangen, mit äußerster Zähigkeit sich erhalten, ja selbst von Denkern ersten Ranges lange Zeit geteilt werden konnte. – Wenn das richtig wäre, was Bain sagt: «wir können an einen Baum als wahrgenommenen, nicht aber als unwahrgenommenen denken; es liegt ein offenbarer Widerspruch in der Annahme»: so wären seine weiteren Folgerungen allerdings nicht mehr zu beanstanden. Allein gerade dies ist nicht zuzugeben. Bain erläutert den Ausspruch, indem er bemerkt: «man verlangt von uns in demselben Augenblicke, wir sollten das Ding wahrnehmen, und wir sollten es nicht wahrnehmen.» Aber es ist nicht richtig, daß man dies verlangt: denn einmal ist nicht jedes Denken eine Wahrnehmung; und dann, selbst wenn dies der Fall wäre, würde nur folgen, daß einer nur an von ihm wahrgenommene Bäume, nicht aber, daß er nur an Bäume a l s v o n i h m w a h r g e n o m m e n e denken könne. Ein weißes Stück Zucker schmecken, heißt nicht, ein Stück Zucker a l s w e i ß e s schmecken. Recht deutlich zeigt sich der Fehlschluß, wenn man ihn auf die psychischen Phänomene anwendet. Wenn einer sagen würde: «ich kann an ein psychisches Phänomen nicht denken, ohne daran zu denken; also kann ich nur an psychische Phänomene als von mir gedachte denken; also existieren keine psychischen Phänomene außer meinem Denken»: so wäre dies ein völlig gleiches Schlußverfahren, wie das, dessen Bain sich bedient. Nichtsdestoweniger wird Bain selbst nicht leugnen, daß sein individuelles psychisches Leben nicht das einzige ist, dem wirkliche Existenz zukommt. Wenn Bain beifügt: «wir kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist nicht möglich, daß wir die Berührungsempfindung als etwas für sich, abgesehen von der Berührungsempfindung, kennen»: so gebraucht er das Wort Berührungsempfindung zuerst offenbar im Sinne des

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Empfundenen, dann im Sinne des Empfindens. Das sind verschiedene Begriffe, wenn auch der Namen derselbe ist. Und somit würde nur der, welcher durch die Äquivokation sich täuschen ließe, das von Bain verlangte Zugeständnis unmittelbarer Evidenz machen können. Nicht also das ist richtig, daß die Annahme, es existiere ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns sich finden, außerhalb des Geistes und in Wirklichkeit, einen Widerspruch einschließt, nur eines mit dem anderen verglichen, zeigen sie Konflikte, welche deutlich beweisen, daß der intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht. Und gilt dies auch zunächst nur, soweit unsere Erfahrung reicht, so werden wir doch nicht fehl gehen, wenn wir ganz allgemein den physischen Phänomenen jede andere als intentionale Existenz absprechen. §8. Man hat noch einen anderen Umstand als unterscheidend für physischen und psychische Phänomene geltend gemacht. Man sagte, daß von psychischen Phänomenen immer nur eines nach dem anderen, von physischen dagegen viele zugleich auftreten. Nicht immer jedoch ist dies in ein und demselben Sinne gesagt worden; und nicht jeder Sinn, den man mit der Behauptung verband, zeigte sich im Einklange mit der Wahrheit. In neuester Zeit hat H. Spencer sich also darüber ausgesprochen: «Die zwei großen Klassen von lebendigen Tätigkeiten, welche die Physiologie und die Psychologie beziehungsweise umfassen, sind dadurch weit voneinander geschieden, daß, während die eine sowohl gleichzeitige als auch aufeinanderfolgende Veränderungen, die andere nur aufeinanderfolgende Veränderungen einschließt. Die Phänomene, welche den Gegenstand der Physiologie bilden, stellen sich als eine Unzahl verschiedener miteinander verknüpfter Reihen dar. Diejenigen, welche den Gegenstand der Psychologie bilden, stellen sich nur dar als eine einzige Reihe. Ein Blick auf die vielen fortdauernden Betätigungen, welche das Leben des Körpers in seiner Gesamtheit ausmachen, zeigt sofort, daß sie gleichzeitig sind, – daß Verdauung, Blutumlauf, Atmung, Exkretion, Sekretion usf., in allen ihren zahlreichen Untereinteilungen zugleich und in gegenseitiger Abhängigkeit vor sich gehen. Und die kürzeste Selbstbetrachtung läßt deutlich erkennen, daß die Tätigkeiten, welche das Denken ausmachen, nicht zusammen, sondern die eine nach der andern, verlaufen.»* – *

Principles of Psychol. 2. edit. I. 177. p. 395.

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H. Spencer faßt also im besonderen die physiologischen und physischen Erscheinungen bei ein und demselben mit psychischem Leben verbundenen Organismus vergleichend ins Auge. Würde er dies nicht getan haben, so hätte er notwendig zugeben müssen, daß auch von psychischen Erscheinungsreihen mehrere gleichzeitig verlaufen, da ja von psychisch begabten lebenden Wesen mehr als eines in der Welt sich findet. Aber auch in der Beschränkung, die er ihr gibt, bleibt die von ihm aufgestellte Behauptung nicht durchgängig wahr. Und H. Spencer selbst ist so weit davon entfernt, dies zu verkennen, daß er sofort auf jene Arten von niederen Tieren, wie z.B. auf die Strahlentiere, hinweist, bei welchen ein mehrfaches Seelenleben in e i n e m Leibe gleichzeitig sich abspinnt. Hier, meint er darum – was andere aber nicht leicht zugestehen werden – sei zwischen psychischem und physischem Leben wenig Unterschied.** Und er macht noch weitere Zugeständnisse, wonach die angegebene Verschiedenheit zwischen physiologischen und psychischen Erscheinungen zu einem bloßen mehr oder minder sich abschwächt. – Noch mehr! Wenn wir uns fragen, was Spencer unter den physiologischen Phänomenen versteht, deren Veränderungen im Gegensatze zu den psychischen zugleich verlaufen sollen, so scheint es, daß er nicht eigentliche physische Erscheinungen, sondern die in sich selbst unbekannten Ursachen dieser Erscheinungen mit dem Namen bezeichnet; denn hinsichtlich der physischen Erscheinungen, die in der Empfindung auftreten, möchte es unleugbar sein, daß sie sich nicht gleichzeitig verändern können, wenn nicht auch die Empfindungen gleichzeitigen Veränderungen unterliegen. In dieser Weise können wir also nicht wohl zu einem unterscheidenden Merkmale für die eine und andere Klasse gelangen. Andere haben darin eine Besonderheit des Seelenlebens sehen wollen, daß immer nur e i n Objekt, nie mehrere gleichzeitig im Bewußtsein erfaßt werden könnten. Sie wiesen auf den merkwürdigen Fall des Fehlers in der Zeitbestimmung hin, der bei astronomischen Beobachtungen regelmäßig eintritt, indem der gleichzeitige Pendelschlag nicht gleichzeitig, sondern früher oder später zum Bewußtsein kommt, als der beobachtete Stern mit dem Faden in dem Fernglase sich berührt.* So folge denn von psychischen ** *

Ebend. p. 397. Vgl. Bessel, Astronom. Beobachtungen, Abtl. VIII. Koenigsb. 1823, Einl. Struve, Exp)edition chronom)etrique etc. Petersb. 1844, p. 29.

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Phänomenen in einfacher Reihe immer nur eines dem anderen nach. – Allein sicher hatte man Unrecht, das, was ein solcher Fall von äußerster Konzentration der Aufmerksamkeit zeigt, ohne weiteres zu verallgemeinern. H. Spencer wenigstens sagt: «Ich finde, daß man zuweilen nicht weniger als fünf gleichzeitige Rehen von Nervenveränderungen entdecken kann, welche in verschiedenen Graden zum Bewußtsein kommen, so daß wir keine von ihnen schlechthin unbewußt nennen können. Wenn wir gehen, ist die Reihe der Ortserscheinungen vorhanden; unter gewissen Umständen mag eine Reihe von Berührungserscheinungen sie begleiten; sehr häufig ist (bei mir wenigstens) eine Reihe von Tonerscheinungen da, welche eine Melodie oder das Bruchstück einer Melodie bilden, die mich verfolgt; und zu ihnen kommt die Reihe der Gesichtserscheinungen: welche alle, dem herrschenden Bewußtsein, das durch einen Zug von Reflexionen gebildet wird, untergeordnet, denselben kreuzen und sich darein verweben.»* Ähnliches berichten Hamilton, Cardaillac und andere Psychologen auf Grund ihrer Erfahrungen. Angenommen aber, es wäre richtig, daß alle Fälle der Perzeption demjenigen des Astronomen ähnlich seien, müßte man nicht immer wenigstens anerkennen, daß wir man oft zugleich etwas vorstellen und ein Urteil darüber fällen oder danach begehren? Es bliebe also dennoch eine gleichzeitige Mehrheit psychischer Phänomene. Ja man könnte mit besserem Rechte die umgekehrte Behauptung aufstellen, daß von psychischen Phänomenen wohl oft mehrere zugleich, von physischen aber mehr als eines vorhanden sei. In welchem Sinne kann man also allein etwa sagen, daß von psychischen Phänomenen stets nur eines, von physischen dagegen viele zu gleicher Zeit auftreten? Man kann es, insofern die ganze Mannigfaltigkeit der physischen Phänomene, die jemandem in innerer Wahrnehmung erscheinen, ihm immer als eine Einheit sich zeigt, während von den physischen Phänomenen, die er gleichzeitig durch sogenannte äußere Wahrnehmung erfaßt, nicht dasselbe gilt. – Wie anderwärts häufig, so ist auch hier von manchen Einheit mit Einfachheit verwechselt worden, und sie behaupteten darum, sich selbst als etwas Einfaches in innerem *

Ebend. p. 398. Ebenso sagt Drobisch, es sei «Tatsache, daß mehrere Reihen von Vorstellungen zugleich durch das Bewußtsein gehen können, aber gleichsam in verschiedenen Höhen.» Empir. Psychol. S. 140.

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Bewußtsein wahrzunehmen. Andere wieder leugneten, indem sie mit Recht der Einfachheit der Erscheinung widersprachen, zugleich die Einheit. Aber wie die ersteren sich nicht konsequent bleiben konnten, da vielmehr, sobald sie ihr Inneres beschrieben, eine reiche Vielheit verschiedener Momente Erwähnung fand: so konnten auch die letzteren sich nicht erwehren, unwillkürlich der Einheit der Seelenphänomene Zeugnis zu geben. Sie sprechen, wie andere, von einem «Ich» und nicht von einem «Wir» und bezeichnen dasselbe bald als ein «Bündel» von Erscheinungen, bald durch andere Namen, die das Zusammengehen in eine innige Einheit charakterisieren. Wenn wir Farbe, Schall, Wärme, Geruch gleichzeitig wahrnehmen so hindert uns nichts, jedes einem besonderen Dinge zuzuschreiben. Dagegen die Mannigfaltigkeit der entsprechenden Empfindungsakte, Sehen, Hören, Empfinden der Wärme und Riechen, und mit ihnen das gleichzeitige Wollen und Fühlen und Nachdenken, so wie die innere Wahrnehmung, die uns von ihnen allen Kenntnis gibt, sind wir genötigt, für Teilphänomene eines einheitlichen Phänomens, in dem sie enthalten sind, und für ein einziges einheitliches Ding zu nehmen. Worin der Grund dieser Nötigung besteht, das werden wir etwas später eingehend erörtern und dann auch noch manches hierher gehörige ausführlicher darlegen. Denn das, was wir hier berührten, ist nichts anderes als die sogenannte Einheit des Bewußtseins, eine der folgenreichsten und immer noch angefochtenen Tatsachen der Psychologie. §9. Fassen wir abschließend die Ergebnisse der Erörterungen über den Unterschied der psychischen und physischen Phänomene zusammen. Wir machten zunächst die Besonderheit der beiden Klassen an B e i s p i e l e n anschaulich. Wir bestimmten dann die psychischen Phänomene als V o r s t e l l u n g e n und solche Phänomene, die a u f V o r s t e l l u n g e n als ihrer Grundlage beruhen; alle übrigen gehören zu den physischen. Wir sprachen darauf von dem Merkmale der A u s d e h n u n g , welches von Psychologen als Eigentümlichkeit aller physischen Phänomene geltend gemacht wurde; allen psychischen sollte es mangeln. Die Behauptung war aber nicht ohne Widerspruch geblieben, und erst spätere Untersuchungen können über sie entscheiden; nur daß die psychischen Phänomene wirklich sämtlich ausdenhnungslos erscheinen, konnte schon jetzt festgestellt werden. Wir fanden demnächst als unterscheidende Eigentümlichkeit aller

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psychischen Phänomene die i n t e n t i o n a l e I n e x i s t e n z , die Beziehung auf etwas als Objekt; keine von dem physischen Erscheinungen zeigt etwas ähnliches. Weiter bestimmten wir die psychischen Phänomene als den ausschließlichen G e g e n s t a n d d e r i n n e r e n W a h r n e h m u n g ; sie allein werden darum mit unmittelbarer Evidenz wahrgenommen; ja sie allein werden wahrgenommen im strengen Sinne des Wortes. Und hieran knüpfte sich die weitere Bestimmung, daß sie allein Phänomene seien, denen außer der intentionalen auch w i r k l i c h e E x i s t e n z zukomme. Endlich hoben wir als unterscheidend hervor, daß die psychischen Phänomene, die jemand wahrnimmt, ihm trotz aller Mannigfaltigkeit i m m e r a l s E i n h e i t erschienen, während die physischen Phänomene, die er etwa gleichzeitig wahrnimmt, nicht in derselben Weise alle als Teilphänomene eines einzigen Phänomens sich darbieten. Dasjenige Merkmal, welches die psychischen Phänomene unter allen am meisten kennzeichnet, ist wohl ohne Zweifel die intentionale Inexistenz. Durch dieses, sowie durch die anderen angegebenen Eigentümlichkeiten dürfen wir sie den physischen Erscheinungen gegenüber nunmehr als deutlich bestimmt betrachten. Es kann nicht fehlen, daß die gegebenen Erklärungen der psychischen und physischen Phänomene auch unsere früheren Begriffsbestimmungen von psychischer und Naturwissenschaft in helleres Licht setzen; haben wir ja von dieser gesagt, sie sei die Wissenschaft von den physischen, und von jener, sie sei die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen. Es ist nunmehr zu erkennen, daß die beiden Bestimmungen stillschweigend gewisse Beschränkungen einschließen. Vor allem gilt dies von der Bestimmung der Naturwissenschaft. Denn sie handelt nicht von allen physischen Phänomenen; nicht von denen der Phantasie, sondern nur von denen, welche in der Empfindung auftreten. Und auch für diese stellt sie die Gesetze nur insoweit, als sie von der physischen Reizung der Sinnesorgane abhängen, fast. Man könnte die wissenschaftliche Aufgabe der Naturwissenschaft etwa so ausdrücken, daß man sagte: die Naturwissenschaft sei jene Wissenschaft, welche die Aufeinanderfolge der physischen Phänomene normaler und reiner (durch keine besonderen psychischen Zustände und Vorgänge mit beeinflußter) Sensationen auf Grund der Annahme der Einwirkung einer raumähnlich in drei Dimensionen ausgebreiteten und zeitähnlich in e i n e r Richtung

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verlaufenden Welt auf unsere Sinnesorgane zu erklären suche.* Ohne über die absolute Beschaffenheit dieser Welt Aufschluß zu geben, begnüge sie sich damit, ihr Kräfte zuzuschreiben, welche die Empfindungen hervorbringen und sich gegenseitig in ihrem Wirken beeinflussen, und stelle für diese Kräfte die Gesetze der Koexistenz und Sukzession fest. In ihnen gibt sie dann indirekt die Gesetze der Aufeinanderfolge der physischen Phänomene der Empfindungen, wenn diese, durch wissenschaftliche Abstraktion von psychischen Mitbedingungen, als rein und bei unveränderlicher Empfindungsfähigkeit stattfindend gedacht werden. – In dieser etwas komplizierten Weise muß man also den Ausdruck «Wissenschaft von den physischen Phänomenen» deuten, wenn man ihn mit der Naturwissenschaft als gleichbedeutend setzt. Indessen haben wir gesehen, wie man den Ausdruck «physisches Phänomen» mißbräuchlich zuweilen auf die ebenerwähnten Kräfte selbst anwendet. Und da naturgemäß das als der Gegenstand einer Wissenschaft bezeichnet wird, wofür sie direkt und ausdrücklich die Gesetze feststellt, so glaube ich nicht fehl zu gehen, wenn ich annehme, daß auch bei der Definition der Naturwissenschaft als der Wissenschaft von den physischen Phänomenen häufig mit diesem Namen der Begriff von Kräften einer raumähnlich ausgebreiteten und zeitähnlich verlaufenden Welt verbunden wird, die durch ihre Einwirkung auf die Sinnesorgane die Empfindungen hervorrufen und einander in ihrer Wirksamkeit beeinflussen, und für welche die Naturwissenschaft die Gesetze der Koexistenz und Sukzession erforscht. Betrachtet man diese Kräfte als das Objekt, so hat dies auch das Konveniente, daß als Gegenstand der Wissenschaft etwas erscheint, was wahrhaft und wirklich besteht. Das letzte wäre wohl auch zu erreichen, wenn man die Naturwissenschaft als Wissenschaft von den Empfindungen bestimmte, stillschweigend dieselbe Beschränkung, die wir soeben besprachen, ergänzend. Was dem Ausdrucke «physisches Phänomen» den Vorzug geben ließ, war wohl vorzüglich der Umstand, daß man die äußeren Ursachen der Empfindung den in ihr auftretenden physischen Phänomenen entsprechend dachte: sei es, wie es anfänglich der Fall war, in *

Vgl. darüber Ueberweg (System der Logik), in dessen Auseinandersetzung freilich nicht alles zu billigen ist. Namentlich hat er unrecht, wenn er die Welt der äußeren Ursachen statt raumähnlich geradezu räumlich, statt zeitähnlich geradezu zeitlich sich erstreckend denkt.

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jeder Hinsicht; oder sei es, was noch jetzt geschieht, wenigstens hinsichtlich der Ausdehnung in drei Dimensionen. Daher ja auch der sonst unpassende Namen «äußere Wahrnehmung». Dazu kommt aber, daß der Akt des Empfindens außer der intentionalen Inexistenz des physischen Phänomens auch noch andere Eigentümlichkeiten zeigt, mit welchen der Naturforscher sich gar nicht beschäftigt, da durch sie die Empfindung nicht in gleicher Weise Andeutungen über die besonderen Verhältnisse der Außenwelt gibt. Hinsichtlich der Begriffsbestimmung der Psychologie möchte es zwar zunächst den Anschein haben, als ob der Begriff der psychischen Phänomene eher zu erweitern als zu verengern sei, indem die physischen Phänomene der Phantasie wenigstens ebenso wie die psychischen in dem früher bestimmten Sinne ganz ihrer Betrachtung anheimfallen, und auch diejenigen, welche in der Empfindung auftreten, in der Lehre von der Sensation nicht unberücksichtigt bleiben können. Allein es ist offenbar, daß sie nur als Inhalt psychischer Phänomene bei der Beschreibung der Eigentümlichkeit derselben in Betracht kommen. Und dasselbe gilt von allen psychischen Phänomenen, die ausschließlich phänomenale Existenz haben. Als eigentlichen Gegenstand der Psychologie werden wir nur die psychischen Phänomene in dem Sinn von wirklichen Zuständen anzusehen haben. Und sie ausschließlich sind es, in bezug auf welche wir sagen, die Psychologie sei die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen.

WLADIMIR SOLOWJEW THEORETISCHE PHILOSOPHIE1 Der Anfangsgrund der theoretischen Philosophie III Die Idee des Guten verlangt von jedem Handelnden, daß er sich dem Gegenstand seiner Tätigkeit gegenüber gewissenhaft verhalte. Diese Forderung hat allgemein Geltung und duldet keinerlei Ausnahmen. Kraft ihrer ist der theoretische Denker vor allem zu gewissenhafter Erforschung der Wahrheit verpflichtet. Auch wenn er glaubt, daß sie gegeben oder offenbart sei, hat er das Bedürfnis und die Pflicht, seinen Glauben durch freies Denken zu prüfen oder zu rechtfertigen. Ein Philosoph unterscheidet sich von einem Nicht-Philosophen durchaus nicht durch den Inhalt seiner Überzeugungen, sondern dadurch, daß er es für unstatthaft hält, irgendeine prinzipielle Behauptung ohne vorhergehende Rechenschaft und Prüfung durch ein vernünftiges theoretisches Denken endgültig anzunehmen. Obwohl das philosophische Interesse sich eigentlich auf nichts anderes als auf die Wahrheit bezieht, so kann man doch nicht bei dieser zu weiten allgemeinen Begriffsbestimmung stehenbleiben. Ein Moralist, der das wahrhaft Gute auslegt, ein Theologe, der die wahre Offenbarung Gottes interpretiert, sind beide mit der Wahrheit beschäftigt, und dennoch sind sie nicht alle schon Philosophen. Genau ebenso bildet das Interesse an der Wahrheit noch kein Unterscheidungsmerkmal der Philosophie im Verhältnis zu Mathematik, Geschichte und den anderen Spezialwissenschaften, die alle nach Wahrheit streben. Wenn somit der unterscheidende Charakter der Philosophie nicht darin besteht, daß sie sich auf die Wahrheit bezieht, so kann er nur durch die Art und Weise bestimmt werden, wie sie sich auf diese bezieht, von welcher Seite sie an die Wahrheit herantritt, was sie in ihr sucht. Wir nennen einen solchen Intellekt einen philosophischen, der sich auch mit der festesten, jedoch ohne Prüfung übernommenen 1

Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew. Bd. VII. Hrsg. von Wladimir Szylkarski. Erich Wewel Verlag, Freiburg im Breisgau, 1953, S. 12-14; S.17-20.

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Gewißheit einer Wahrheit nicht begnügt, sondern nur eine beglaubigte Wahrheit annimmt, die allen Anforderungen des Denkens entsprochen hat. Nach Gewißheit streben von Natur aus alle Wissenschaften; aber es gibt eine relative und eine absolute oder unbedingte Gewißheit: die wahre Philosophie kann sich endgültig nur mit der letzteren zufrieden geben. Hieraus darf man nicht schließen, daß die Philosophie von vornherein davon überzeugt ist und dafür bürgt, daß sie die unbedingt sichere Wahrheit erreichen wird; es ist möglich, daß sie sie niemals findet, sie ist aber dennoch verpflichtet, sie bis zum Äußersten zu suchen, an keiner Grenze stehenzubleiben, nichts ohne Prüfung anzunehmen, von jeder Behauptung Rechenschaft zu fordern. Falls sie sich außerstande erweisen sollte, eine positive Antwort auf die Frage nach der unbedingt glaubhaften Wahrheit zu geben, so würde ihr doch eine große, wenn auch negative Errungenschaft verbleiben: das klare Wissen, daß alles, was als absolute Wahrheit ausgegeben wird, in Wirklichkeit eine solche Bedeutung nicht besitzt. Entweder man überwinde durch wirkliches Denken alle möglichen Zweifel an der angenommenen Wahrheit und rechtfertige damit sein Überzeugtsein von ihr, oder man erkenne freimütig alles Bekannte als im letzten Grunde zweifelhaft an und verzichte auf theoretische Gewißheit – das sind die zwei Leitsätze, die eines philosophischen Intellektes würdig sind und zwischen denen er eine entschlossene Wahl treffen muß. Es ist selbstverständlich, daß, wie schon DESCARTES bemerkte, eine von vornherein feststehende Absicht, immer und endgültig zu zweifeln, dem Wesen des philosophischen Gedankens ebenso zuwiderläuft, wie der im voraus gefaßte Entschluß, um jeden Preis alle Zweifel zu beseitigen, und sei es auch mit Hilfe von willkürlichen Beschränkungen der Untersuchung. Im vorgefaßten Skeptizismus wie im vorgefaßten Dogmatismus äußern sich nur zwei Typen intellektueller Furchtsamkeit: der eine fürchtet, zu glauben, der andere, den Glauben zu verlieren (der offenbar in ihm nicht sehr stark ist), und beide zusammen fürchten den Vorgang des Denkens selbst, von dem sie noch nicht wissen, zu welchem Ergebnis er führt, ob dieses wunschgemäß oder nicht wunschgemäß ausfallen wird. Für einen berufenen Philosophen aber gibt es nichts Wünschenswerteres als eine sinnvolle oder vom Denken geprüfte Wahrheit; daher liebt er den Vorgang des Denkens selbst als das einzige Verfahren, das ersehnte Ziel zu

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erreichen, und er gibt sich ihm ohne alle etwa auf tauchenden Befürchtungen und Ängste hin. Ihm gilt noch mehr als dem Dichter das Gebot: Auf freiem Wege Geh, wohin der freie Geist dich zieht. [PUSCHKIN]

V Wenn, wie eben gezeigt wurde, das philosophische Denken eine unerschütterliche Stütze weder in der sinnlichen noch in der religiösen Erfahrung haben kann, – denn beide sind für dieses Denken Gegenstand der Prüfung und nicht Grundlagen des Prüfens oder Kriterien der Wahrheit – so fragt es sich, worauf denn das philosophische Denken selbst sich gründet, wodurch es sich hält und geleitet wird, worin die Bürgschaft seiner Richtigkeit und folglich der Gewißheit seiner Ergebnisse liegt? Die erste von uns empfundene unzweifelhafte Grundlage der theoretischen Philosophie ist jene Unendlichkeit des menschlichen Geistes, die sich hier darin ausdrückt, daß die denkende Vernunft nicht damit einverstanden ist, ihrer Tätigkeit im voraus irgendwelche äußeren Grenzen oder Schranken zu setzen, sich im voraus irgendwelchen Voraussetzungen unterzuordnen, die nicht aus dem Denken selbst hervorgehen, von ihm nicht geprüft und nicht gerechtfertigt sind. Somit ist die erste Grundlage des philosophischen Denkens oder das erste Kriterium der philosophischen Wahrheit die unbedingte Prinzipialität: die theoretische Philosophie muß ihren Ausgangspunkt in sich selbst haben, der Denkvorgang muß von Anfang an in ihr beginnen. Das bedeutet natürlich nicht, daß das philosophische Denken erst seinen ganzen Inhalt aus sich selbst erschaffen muß, ohne etwas von außen anzunehmen. Wenn es so wäre, so müßte die Denktätigkeit vor jeglichem Inhalt beginnen, das heißt im Zustand der reinen Nichtigkeit, und die Philosophie wäre die Selbsterschaffung des Alls aus dem Nichts. Eine solche Aufgabe würde jedoch in sich einen inneren Widerspruch enthalten und sich selbst aufheben. Denn hier müßte man um der Ablehnung jedweder Voraussetzung willen gerade mit einer ganz bestimmten willkürlichen Voraussetzung beginnen, nämlich mit der Voraussetzung, daß das menschliche Denken an und für sich eine

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allmächtige schöpferische Kraft sei, die in der absoluten Leere existiert, was man aber am wirklichen Denken nicht feststellen kann. Festzustellen aber ist in Wirklichkeit dieses: auf der einen Seite das Denken als unendliche, jedoch nicht schöpferische, sondern prüfende oder kontrollierende Kraft, auf der anderen Seite aber eine unendliche Vielzahl alles dessen, was dieser Kontrolle unterliegt. Auf diese Weise besteht das wahre Prinzip des reinen Denkens oder der theoretischen Philosophie nicht darin, alles Seiende abzulehnen, solange es nicht vom Denken aus ihm selbst hervorgebracht wird, sondern darin, keine These als gewiß anzuerkennen, solange sie nicht vom Denken geprüft ist. Dieses vorläufige Kriterium der Wahrheit spricht für sich selber; denn indem es jede willkürliche oder nicht gerechtfertigte Voraussetzung verneint, setzt es selbst, wie es ja auch sein muß, nichts willkürlich voraus, sondern drückt nur das vorhandene Streben nach philosophischem Denken oder die Tatsache aus, daß der »Wille zum Philosophieren« – wie der Deutsche sagen würde – selbst vorhanden ist: Ich will philosophisch denken und beseitige daher, ehe ich beginne, aus meiner Überzeugung alles Nichtphilosophische, das heißt alles ohne Rechenschaft und Prüfung Angenommene, alles Ungeprüfte. Der echte reine Gedanke fällt also mit einer reinen Tatsache zusammen, nämlich mit der vorhandenen, unzweifelhaft bestehenden Forderung nach philosophischem Denken als solchem. Wenn die rein philosophische Tätigkeit des Intellektes darin besteht, alles zu prüfen oder an alles den Maßstab des kritischen Denkens anzulegen, so fragt es sich: Worin besteht denn dieser Maßstab, dieses Kriterium der Wahrheit selbst? Es ist klar, daß die vorläufige Antwort auf diese Frage nur sehr allgemein und unbestimmt sein kann, um nicht durch irgendeine willkürliche oder eine ohne weiteres angenommene Voraussetzung gebunden zu sein. Wir können zunächst nur sagen, daß der Maßstab der Gewißheit für das Denken nicht in irgend etwas Äußerlichem besteht, sondern ihm selbst, seiner eigenen Natur, eignet. Indem das Denken einen Gegenstand vorstellt oder begreift, kann es sich damit als mit einer sicheren Wahrheit erst dann zufrieden geben, wenn alle seine Forderungen vollauf befriedigt sind, wenn ihm die Angelegenheit vollständig klar ist und das erlangte Wissen es ganz und endgültig zufriedenstellt. Wie aber, wenn es früher, ohne bis ans Ende zu gehen, haltmacht? Das kann natürlich geschehen und geschieht nur zu oft mit dem Denken irgendeines Iwan

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Iwanowitsch oder Petr Petrowitsch. Wenn dieses Denken, nachdem es halt gemacht hat, offenherzig erklärt: »Ich bin müde, ich kann nicht weiter gehen!«, so gehört ein solches einzelnes Mißgeschick nicht zur Sache, denn den Schwachen zu helfen ist die Aufgabe der praktischen Wohltätigkeit und nicht der theoretischen Philosophie. Wenn aber das Denken, nachdem es Halt gemacht hat, infolge von Selbsttäuschung oder aus Neigung zur Scharlatanerie verkündet: »Ich bin bis zum Ende gegangen, man kann nicht mehr weitergehen, ich bin auf jene Wand gestoßen, wo die Bauern die Kittel an den Himmel hängen!«, so hindert nichts ein anderes, gewissenhafteres Denken, diese Wand gründlich abzutasten, ob sie mit diesem ganzen Himmel und mit allen Bauernkitteln nicht nur eine papierne Kulisse sei? Somit können wir, wenn wir nach Kriterien der Wahrheit suchen, den Begriff der Gewissenhaftigkeit nicht entbehren: Das wahre philosophische Denken muß ein gewissenhaftes Suchen nach der sicheren Wahrheit bis zum Ende sein. Führen wir nicht aber, indem wir vom Denken Gewissenhaftigkeit verlangen, ein sittliches Element in die theoretische Philosophie ein, unterstellen wir sie nicht der Ethik? Hat sich denn aber die theoretische Philosophie im voraus verpflichtet, in keinem Fall, in keinem Sinn und von keiner Seite in sich ein sittliches Element zuzulassen? Eine solche Verpflichtung wäre im Gegenteil eine Voreingenommenheit, die dem Wesen der theoretischen Philosophie selbst zuwiderläuft. Insofern das sittliche Element von den logischen Bedingungen des Denkens selbst gefordert wird, kann es nicht nur, sondern muß es der theoretischen Philosophie zugrunde gelegt werden. So ist es auch im gegebenen Fall. Versuchen wir einmal in Gedanken die Forderung, das philosophische Denken solle ein gewissenhaftes Suchen der Wahrheit bis zum Ende sein, von diesem Denken zu trennen; versuchen wir einmal ernstlich zu behaupten, das philosophische Denken bedürfe nicht der Gewissenhaftigkeit und Folgerichtigkeit. Was würde eine solche Behauptung eigentlich bedeuten? – Eine Erlaubnis, im Suchen nach der Wahrheit sich selbst und andere zu betrügen, das heißt nach der Wahrheit mittels der Lüge zu streben, ist eine vollständige Sinnlosigkeit, solange die Wahrheit selbst das Ziel bleibt; folglich kann man wohl von der Philosophie die Forderung nach Gewissenhaftigkeit fernhalten, doch nur nachdem man anderen Interessen Einlaß bei ihr gewährt hat, außer und entgegen dem Interesse

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der Wahrheit. Wer seinem Denken gestattet, von dem Suchen nach der reinen Wahrheit abzuweichen, wer es möglich findet, in dieser Sache krumme Wege zu gehen, der hat dafür natürlich irgendein Motiv, dessen Bedeutung in seinem Denken das Interesse der Wahrheit überwiegt; wenn er ihr nicht bis zum Ende treu bleibt, so selbstverständlich nur wegen irgend etwas, das für ihn wichtiger und teurer ist als sie. Aber die Philosophie unterscheidet sich von allem anderen, und die philosophische Vernunft von jeder anderen gerade dadurch, daß das Interesse an der reinen Wahrheit hier das Allerwichtigste und Wertvollste ist und nichts anderem untergeordnet werden kann; folglich ist der Verzicht auf gewissenhaftes Suchen der Wahrheit bis zum Ende ein Verzicht auf die Philosophie selbst. Auf solche Art ist unsere Forderung wie auch das ursprüngliche Kriterium der Wahrheit eigentlich nichts weiter als ein analytisches Urteil, das auf die einfache Identität zurückgeführt werden kann: Das philosophische Denken muß sich selber treu bleiben, oder, noch einfacher: Philosophie ist Philosophie, A = A. Es ist offensichtlich, daß in der Forderung nach intellektueller Gewissenhaftigkeit das sittliche Interesse mit dem theoretischen zusammenfällt. Die Forderung, daß ein Philosoph diese Art von Gewissenhaftigkeit besitzen und die Wahrheit unentwegt suchen muß, wird in der Praxis nicht nur sehr häufig verletzt, sondern zuweilen unter verschiedenen wohlanständigen Vorwänden prinzipiell bestritten; deshalb hielt ich es auch für nötig, auf das logische Wesen dieser Forderung hinzuweisen, selbst auf die Gefahr hin, pedantisch zu erscheinen. Es ist besser, für einen Pedanten gehalten zu werden, als für einen Schmuggler.

TEIL II PRINZIPIEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN ERKENNTNIS

EDMUND HUSSERL LOGISCHE UNTERSUCHUNGEN PROLEGOMENA ZU EINER REINEN LOGIK1 EINLEITUNG § l. Der Streit um die Definition der Logik und den wesentlichen Inhalt ihrer Lehren „Es herrscht ebenso großer Meinungsstreit in betreff der Definition der Logik, wie in der Behandlung dieser Wissenschaft selbst. Dies war naturgemäß bei einem Gegenstande zu erwarten, in betreff dessen die meisten Schriftsteller sich derselben Worte nur bedient haben, um verschiedene Gedanken auszudrücken.“* Seitdem J . S t . M i l l mit diesen Sätzen seine wertvolle Bearbeitung der Logik eingeleitet hat, ist manches Jahrzehnt verstrichen, bedeutende Denker hier wie jenseits des Kanals haben der Logik ihre besten Kräfte gewidmet und deren Literatur um stets neue Darstellungen bereichert; aber noch heute mögen diese Sätze als passende Signatur des Zustandes der logischen Wissenschaft dienen, noch heute sind wir von einer allseitigen Einigkeit in betreff der Definition der Logik und des Gehaltes ihrer wesentlichen Lehren weit entfernt. Nicht als ň ʼn2 ob die Logik der Gegenwart dasselbe Bild böte , wie die Logik um die Mitte des Jahrhunderts. Zumal unter dem Einfluß jenes ausgezeichneten Denkers hat von den drei Hauptrichtungen, die wir in der Logik finden, der ň ʼn3 psychologischen, der formalen und der metaphysischen, die erstgenannte in Beziehung auf Zahl und Bedeutung ihrer Vertreter ein entschiedenes Übergewicht erlangt. Aber die beiden anderen Richtungen pflanzen sich immer noch fort, die strittigen Prinzipienfragen, die sich in den verschiedenen Definitionen der Logik reflektieren, sind strittig geblieben, und was den Lehrgehalt der systematischen Darstellungen 1

* 2 3

Husserliana, Bd. XVIII. Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage. Bd. I. Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg. v. E. Holenstein, Den Haag, M. Nijhoff, 1975, S. 20-42; S. 53-62. J. St. Mill, Logik, Einleitung, § l (Übersetzung von G o m p e r z ). ň ʼn A: bieten würde . Fehlt in A.

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anbelangt, so gilt es noch immer und eher noch in gesteigertem Maße, daß die verschiedenen Schriftsteller sich derselben Worte nur bedienen, um verschiedene Gedanken auszudrücken. Und es gilt nicht bloß in Beziehung auf die Darstellungen, welche aus verschiedenen Lagern stammen. Die Seite, auf welcher wir die größte Regsamkeit finden, die der psychologischen Logik, zeigt uns Einheit der Überzeugung nur in Hinsicht auf die Abgrenzung der Disziplin, auf ihre wesentlichen Ziele und Methoden; aber kaum wird man es als Übertreibung tadeln, wenn wir in Hinsicht auf die vorgetragenen Lehren und zumal auch in Hinsicht auf die gegensätzlichen Deutungen der altüberlieferten Formeln und Lehrstücke das Wort vom bellum omnium contra omnes anwenden. Vergeblich wäre der Versuch, eine Summe sachhaltiger Sätze oder Theorien abzugrenzen, in denen wir den eisernen Bestand der logischen Wissenschaft unserer Epoche und ihr Erbe an die Zukunft sehen könnten. § 2. Notwendigkeit der erneuten Erörterung der Prinzipienfragen Bei diesem Zustande der Wissenschaft, welcher individuelle Überzeugung von allgemein verpflichtender Wahrheit zu scheiden nicht gestattet, bleibt der Rückgang auf die Prinzipienfragen eine Aufgabe, die stets von neuem in Angriff genommen werden muß. Ganz besonders scheint dies zu gelten von den Fragen, die im Streite der Richtungen und damit auch im Streite um die richtige Abgrenzung der Logik die bestimmende Rolle spielen. Allerdings ist das Interesse gerade für diese Fragen in den letzten Jahrzehnten sichtlich erkaltet. Nach den glänzenden Angriffen M i 1 1 s gegen H a m i l t o n s Logik und nach den nicht minder berühmten, obschon nicht so fruchtreichen logischen Untersuchungen T r e n d e l e n b u r g s schienen sie ja im ganzen erledigt zu sein. Als daher mit dem großen Aufschwung der psychologischen Studien auch die psychologistische Richtung in der Logik ihr Übergewicht errang, konzentrierte sich alle Bemühung bloß auf einen allseitigen Ausbau der Disziplin nach Maßgabe der als gültig angenommenen Prinzipien. Indessen läßt doch eben der Umstand, daß so viele und von bedeutenden Denkern herrührende Versuche, die Logik in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen, einen durchgreifenden Erfolg vermissen lassen, die Vermutung offen, daß

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die verfolgten Ziele nicht in dem Maße geklärt sind, wie es für eine erfolgreiche Untersuchung nötig wäre. Die Auffassung von den Zielen einer Wissenschaft findet aber ihren Ausdruck in der Definition derselben. Es kann natürlich nicht unsere Meinung sein, daß der erfolgreichen Bearbeitung einer Disziplin eine adäquate Begriffsbestimmung ihres Gebietes vorausgehen müsse. Die Definitionen einer Wissenschaft spiegeln die Etappen ihrer Entwicklung wieder, mit der Wissenschaft schreitet die ihr nachfolgende Erkenntnis der begrifflichen Eigenart ihrer Gegenstände, der Abgrenzung und Stellung ihres Gebietes fort. Indessen übt der Grad der Angemessenheit der Definitionen bzw. der in ihnen ausgeprägten Auffassungen des Gebietes auch seine Rückwirkung auf den Gang der Wissenschaft selbst, und diese Rückwirkung kann je nach der Richtung, in welcher die Definitionen von der Wahrheit abirren, bald von geringerem, bald von sehr erheblichem Einfluß auf den Entwicklungsgang der Wissenschaft sein. Das Gebiet einer Wissenschaft ist eine objektiv geschlossene Einheit; es liegt nicht in unserer Willkür, wo und wie wir Wahrheitsgebiete abgrenzen. Objektiv gliedert sich das Reich der Wahrheit in Gebiete; nach diesen objektiven Einheiten müssen sich die Forschungen richten und sich zu Wissenschaften zusammenordnen. Es gibt eine Wissenschaft von den Zahlen, eine Wissenschaft von den Raumgebilden, von den animalischen Wesen usw., nicht aber eigene Wissenschaften von den Primzahlen, den Trapezen, den Löwen oder gar von all dem zusammengenommen. Wo nun eine als zusammengehörig sich aufdrängende Gruppe von Erkenntnissen und Problemen zur Konstituierung einer Wissenschaft führt, da kann die Unangemessenheit der Abgrenzung bloß darin bestehen, daß der Gebietsbegriff im Hinblick auf das Gegebene vorerst zu enge gefaßt wird, daß die Verkettungen begründender Zusammenhänge über das betrachtete Gebiet hinausreichen und sich erst in einem weiteren zu einer systematisch geschlossenen Einheit konzentrieren. Solche Beschränktheit des Horizontes braucht nicht den gedeihlichen Fortschritt der Wissenschaft nachteilig zu beeinflussen. Es mag sein, daß das theoretische Interesse zunächst seine Befriedigung findet in dem engeren Kreise, daß die Arbeit, die hier ohne Inanspruchnahme der tieferen und weiteren logischen Verzweigungen 4

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getan werden kann, in Wahrheit das eine ist, was zunächst nottut. Ungleich gefährlicher ist aber eine andere Unvollkommenheit in der Abgrenzung des Gebietes, nämlich die G e b i e t s v e r m e n g u n g , die Vermischung von Heterogenem zu einer vermeintlichen Gebietseinheit, zumal wenn sie gründet in einer völligen Mißdeutung der Objekte, deren Erforschung das wesentliche Ziel der intendierten Wissenschaft sein soll. Eine derart unbemerkte met¦basi$ e„$ ¥llo gšno$ kann die schädlichsten Wirkungen nach sich ziehen: Fixierung untriftiger Ziele; Befolgung prinzipiell verkehrter, weil mit den wahren Objekten der Disziplin inkommensurabler Methoden; Durcheinanderwerfung der logischen Schichten, derart, daß die wahrhaft grundlegenden Sätze und Theorien, oft in den sonderbarsten Verkleidungen, sich zwischen ganz fremdartigen Gedankenreihen als scheinbar nebensächliche Momente oder beiläufige Konsequenzen fortschieben usw. Gerade bei den philosophischen Wissenschaften sind diese Gefahren beträchtlich, und darum hat die Frage nach Umfang und Grenzen für die fruchtbare Fortbildung dieser Wissenschaften eine ungleich größere Bedeutung, als bei den so sehr begünstigten Wissenschaften von der äußeren Natur, wo der Verlauf unserer Erfahrungen uns Gebietsscheidungen aufdrängt, innerhalb deren wenigstens eine vorläufige Etablierung erfolgreicher Forschung möglich ist. Speziell in Beziehung auf die Logik hat K a n t das berühmte Wort ausgesprochen, das wir uns hier zu eigen machen: ,,Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinanderlaufen läßt.“ In der Tat hofft die folgende Untersuchung es deutlich zu machen, daß die bisherige und zumal die psychologisch fundierte Logik der Gegenwart den eben erörterten Gefahren fast ausnahmslos unterlegen ist, und daß durch die Mißdeutung der theoretischen Grundlagen und durch die hieraus erwachsene Gebietsvermengung der Fortschritt in der logischen Erkenntnis wesentlich gehemmt worden ist. § 3. Die Streitfragen. Der einzuschlagende Weg Die traditionellen und mit der Abgrenzung der Logik zusammenhängenden Streitfragen sind folgende: 1. Ob die Logik eine theoretische oder eine praktische Disziplin

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(eine „Kunstlehre“) sei. 2. Ob sie eine von anderen Wissenschaften und speziell von der Psychologie oder Metaphysik unabhängige Wissenschaft sei. 3. Ob sie eine formale Disziplin sei, oder, wie es gefaßt zu ň ʼn werden pflegt, ob sie es 5 mit der ,,bloßen Form der Erkenntnis“ zu tun oder auch auf deren „Materie“ Rücksicht zu nehmen habe. 4. Ob sie den Charakter einer apriorischen und demonstrativen oder den einer empirischen und induktiven Disziplin habe. Alle diese Streitfragen hängen so innig zusammen, daß die Stellungnahme in der einen, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, diejenige in den übrigen mitbedingt oder faktisch beeinflußt. Der Parteien sind eigentlich nur zwei. Die Logik ist eine theoretische, von der Psychologie unabhängige und zugleich eine formale und demonstrative Disziplin – so urteilt die eine. Der anderen gilt sie als eine von der Psychologie abhängige Kunstlehre, womit von selbst ausgeschlossen ist, daß sie den Charakter einer formalen und demonstrativen Disziplin habe im Sinne der für die Gegenseite vorbildlichen Arithmetik. Da wir es nicht eigentlich auf eine Beteiligung an diesen traditionellen Streitigkeiten, vielmehr auf eine Klärung der in ihnen spielenden prinzipiellen Differenzen und letztlich auf eine Klärung der wesentlichen Ziele einer reinen Logik abgesehen haben, so wollen wir folgenden Weg einschlagen: Wir nehmen als Ausgangspunkt die gegenwärtig fast allgemein angenommene Bestimmung der Logik als einer Kunstlehre und fixieren ihren Sinn und ihre Berechtigung. Daran schließt sich naturgemäß die Frage nach den theoretischen Grundlagen dieser Disziplin und im besonderen nach ihrem Verhältnis zur Psychologie. Im wesentlichen deckt sich diese Frage, wenn auch nicht dem Ganzen, so doch einem Hauptteile nach, mit der Kardinalfrage der Erkenntnistheorie, die Objektivität der Erkenntnis betreffend. Das Ergebnis unserer diesbezüglichen Untersuchung ist die Aussonderung einer neuen und rein theoretischen Wissenschaft, welche das wichtigste Fundament für jede Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis bildet und den Charakter einer apriorischen und rein demonstrativen Wissenschaft besitzt. Sie ist es, die von Kant und den übrigen Vertretern einer „formalen“ oder „reinen“ Logik intendiert, 5

Fehlt in A.

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aber nach ihrem Gehalt und Umfang nicht richtig erfaßt und bestimmt worden ist. Als letzter Erfolg dieser Überlegungen resultiert eine klar umrissene Idee von dem wesentlichen Gehalt der strittigen Disziplin, womit von selbst eine klare Position zu den aufgeworfenen Streitfragen gegeben ist. ERSTES KAPITEL DIE LOGIK ALS NORMATIVE UND SPEZIELL ALS PRAKTISCHE DISZIPLIN § 4. Die theoretische Unvollkommenheit der Einzelwissenschaften Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Vorzüglichkeit, mit der ein Künstler seinen Stoff meistert, und daß das entschiedene und oft sichere Urteil, mit dem er Werke seiner Kunst abschätzt, nur ganz ausnahmsweise auf einer theoretischen Erkenntnis der Gesetze beruht, welche dem Verlauf der praktischen Betätigungen ihre Richtung und Anordnung vorschreiben und zugleich die wertenden Maßstäbe bestimmen, nach denen die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des fertigen Werkes abzuschätzen ist. In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Prinzipien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben vermag. Er schafft nicht nach Prinzipien und wertet nicht nach Prinzipien. Schaffend folgt er der inneren Regsamkeit seiner harmonisch gebildeten Kräfte, und urteilend dem fein ausgebildeten künstlerischen Takt und Gefühl. So verhält es sich aber nicht allein bei den schönen Künsten, an die man zunächst gedacht haben mag, sondern bei den Künsten überhaupt, das Wort im weitesten Sinne genommen. Es trifft also auch die Betätigungen des wissenschaftlichen Schaffens und die theoretische Schätzung seiner Ergebnisse, der wissenschaftlichen Begründungen von Tatsachen, Gesetzen, Theorien. Selbst der Mathematiker, Physiker und Astronom bedarf zur Durchführung auch der bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen nicht der Einsicht in die letzten Gründe seines Tuns, und obschon die gewonnenen Ergebnisse für ihn und andere die Kraft vernünftiger Überzeugung besitzen, so kann er doch nicht den Anspruch erheben, überall die letzten Prämissen seiner Schlüsse nachgewiesen und die Prinzipien, auf denen die Triftigkeit seiner Methoden beruht, erforscht zu haben. Damit aber hängt der unvollkommene Zustand aller Wissenschaften zusammen. Wir meinen hier nicht die bloße Unvollständigkeit, mit der sie die

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Wahrheiten ihres Gebietes erforschen, sondern den Mangel an innerer Klarheit und Rationalität, die wir unabhängig von der Ausbreitung der Wissenschaft fordern müssen. In dieser Hinsicht darf auch die Mathematik, die fortgeschrittenste aller Wissenschaften, eine Ausnahmestellung nicht beanspruchen. Vielfach gilt sie noch als das Ideal aller Wissenschaft überhaupt; aber wie wenig sie dies in Wahrheit ist, lehren die alten und ň ʼn noch immer nicht endgültig 6 erledigten Streitfragen über die Grundlagen ň ʼn der Geometrie, so wie die nach den berechtigten 7 Gründen der Methode des Imaginären. Dieselben Forscher, die mit unvergleichlicher Meisterschaft die wundervollen Methoden der Mathematik handhaben und sie um neue bereichern, zeigen sich oft gänzlich unfähig, von der logischen Triftigkeit dieser Methoden und den Grenzen ihrer berechtigten Anwendung ausreichende Rechenschaft zu geben. Obschon nun die Wissenschaften trotz dieser Mängel groß geworden sind und uns zu einer früher nie geahnten Herrschaft über die Natur verholfen haben, so können sie uns doch nicht theoretisch Genüge tun. Sie sind nicht kristallklare Theorien, in denen die Funktion aller Begriffe und Sätze völlig begreiflich, alle Voraussetzungen genau analysiert, und somit das Ganze über jeden theoretischen Zweifel erhaben wäre. § 5. Die theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften durch Metaphysik und Wissenschaftslehre Um dieses theoretische Ziel zu erreichen, bedarf es, wie ziemlich allgemein anerkannt ist, fürs erste einer Klasse von Untersuchungen, die in das Reich der Metaphysik gehören. Die Aufgabe derselben ist nämlich, die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Voraussetzungen metaphysischer Art zu fixieren und zu prüfen, die mindestens allen Wissenschaften, welche auf die reale Wirklichkeit gehen, zugrunde liegen. Solche Voraussetzungen sind z.B., daß es eine Außenwelt gibt, welche nach Raum und Zeit ausgebreitet ist, wobei der Raum den mathematischen Charakter einer dreidimensionalen E u k l i d i s c h e n , die Zeit den einer 6 7

Zusatz von B. ň ʼn A: berechtigenden .

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eindimensionalen orthoiden Mannigfaltigkeit hat; daß alles Werden dem Kausalitätsgesetz unterliegt usw. Unpassend genug pflegt man diese durchaus in den Rahmen der Ersten Philosophie des A r i s t o t e l e s gehörigen Voraussetzungen gegenwärtig als erkenntnistheoretische zu bezeichnen. Diese metaphysische Grundlegung reicht aber nicht aus, um die gewünschte theoretische Vollendung der Einzelwissenschaften zu erreichen; sie betrifft ohnehin bloß die Wissenschaften, welche es mit der realen Wirklichkeit zu tun haben, und das tun doch nicht alle, sicher nicht die rein mathematischen Wissenschaften, deren Gegenstände Zahlen, Mannigfaltigkeiten u. dgl. sind, die unabhängig von realem Sein oder Nichtsein als bloße Träger rein idealer Bestimmungen gedacht sind. Anders verhält es sich mit einer zweiten Klasse von Untersuchungen, deren theoretische Erledigung ebenfalls ein unerläßliches Postulat unseres Erkenntnisstrebens bildet; sie gehen alle Wissenschaften in gleicher Weise an, weil sie, kurz gesagt, auf das gehen, was Wissenschaften überhaupt zu Wissenschaften macht. Hierdurch aber ist das Gebiet einer neuen und, wie sich alsbald zeigen wird, komplexen Disziplin bezeichnet, deren Eigentümliches es ist, Wissenschaft von der Wissenschaft zu sein, und die eben darum am prägnantesten als Wissenschaftslehre zu benennen wäre. § 6. Die Möglichkeit und Berechtigung einer Logik als Wissenschaftslehre Die Möglichkeit und die Berechtigung einer solchen Disziplin – als einer zur Idee der Wissenschaft gehörigen normativen und praktischen Disziplin – kann durch folgende Überlegung begründet werden. Wissenschaft geht, wie der Name besagt, auf Wissen. Nicht als ob sie selbst eine Summe oder ein Gewebe von Wissensakten wäre. Objektiven Bestand hat die Wissenschaft nur in ihrer Literatur, nur in der Form von Schriftwerken hat sie ein eigenes, wenn auch zu dem Menschen und seinen intellektuellen Betätigungen beziehungsreiches Dasein; in dieser Form pflanzt sie sich durch die Jahrtausende fort und überdauert die Individuen, Generationen und Nationen. Sie repräsentiert so eine Summe äußerer Veranstaltungen, die, wie sie aus Wissensakten vieler Einzelner hervorgegangen sind, wieder in eben solche Akte ungezählter Individuen übergehen können, in einer leicht verständlichen, aber nicht ohne

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Weitläufigkeiten exakt zu beschreibenden Weise. Uns genügt hier, daß die Wissenschaft gewisse nähere Vorbedingungen für die Erzeugung von Wissensakten beistellt bzw. beistellen soll, reale Möglichkeiten des Wissens, deren Verwirklichung von dem ,,normalen“ bzw. „entsprechend begabten“ Menschen unter bekannten „normalen“ Verhältnissen als ein erreichbares Ziel seines Wollens angesehen werden kann. In diesem Sinne also zielt die Wissenschaft auf Wissen. Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus; denn nicht jedes richtige Urteil, jede mit der Wahrheit übereinstimmende Setzung oder Verwerfung eines Sachverhalts ist ein W i s s e n vom Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts. Dazu gehört vielmehr – soll von einem Wissen im engsten und strengsten Sinne die Rede sein – die Evidenz, die lichtvolle Gewißheit, daß i s t , was wir anerkannt, oder n i c h t i s t , was wir verworfen haben; eine Gewißheit, die wir in bekannter Weise scheiden müssen von der blinden Überzeugung, vom vagen und sei es noch so fest entschiedenen Meinen, wofern wir nicht an den Klippen des extremen Skeptizismus scheitern sollen. Bei diesem strengen Begriffe des Wissens bleibt die gemeinübliche Redeweise aber nicht stehen. Wir sprechen z.B. von einem Wissensakt auch da, wo mit dem gefällten Urteil zugleich die klare Erinnerung verknüpft ist, daß wir früher ein von Evidenz begleitetes Urteil identisch desselben Gehaltes gefällt haben, und besonders, wo die Erinnerung auch einen beweisenden Gedankengang betrifft, aus dem diese Evidenz hervorgewachsen ist und den zugleich mit dieser Evidenz wiederzuerzeugen wir uns mit Gewißheit zutrauen. („Ich weiß, daß der ň ʼn Pythagoräische Lehrsatz wahr ist 8 – ich kann ihn beweisen“; statt des letzteren kann es allerdings auch heißen: – „aber ich habe den Beweis vergessen.“) So fassen wir überhaupt den Begriff des Wissens in einem weiteren, aber doch nicht ganz laxen Sinne; wir scheiden ihn ab von dem grundlosen Meinen und beziehen uns hierbei auf irgendwelche „Kennzeichen“ für ň ʼn9 das Bestehen des angenommenen Sachverhalts bzw. für die Richtigkeit 8 9

ň

ʼn

A: besteht . ň ʼn A: die Wahrheit .

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des gefällten Urteils. Das vollkommenste Kennzeichen der Richtigkeit ist die Evidenz, es gilt uns als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst. In der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir dieser absoluten Erkenntnis der Wahrheit, statt ihrer dient uns (man denke nur an die Funktion des Gedächtnisses in den obigen Beispielen) die Evidenz für die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts, an welche sich bei entsprechend „erheblichen“ Wahrscheinlichkeitsgraden das fest entschiedene Urteil anzuschließen pflegt. Die Evidenz der Wahrscheinlichkeit eines Sachverhalts A begründet zwar nicht die Evidenz seiner Wahrheit, aber sie begründet jene vergleichenden und evidenten Wertschätzungen, vermöge deren wir je nach den positiven oder negativen Wahrscheinlichkeitswerten vernünftige von unvernünftigen, besser begründete von schlechter begründeten Annahmen, Meinungen, Vermutungen zu scheiden vermögen. Im letzten Grunde beruht also jede echte und speziell jede wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz, und so weit die Evidenz reicht, so weit reicht auch der Begriff des Wissens. Trotzdem bleibt eine Doppelheit im Begriff des Wissens (oder was uns als gleichbedeutend gilt: der Erkenntnis) bestehen. Wissen im engsten ň Sinne des Wortes ist Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt besteht ʼn oder nicht besteht 10; z.B. daß S P ist oder nicht ist; also ist auch die Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt in dem oder jenem Grade wahrscheinlich ist, in Beziehung darauf, daß er dies ist, ein Wissen im ň ʼn engsten Sinne; dagegen liegt hier in Beziehung auf den Bestand 11 des Sachverhaltes selbst (und nicht seiner Wahrscheinlichkeit) ein Wissen im weiteren, geänderten Sinne vor. In diesem letzteren spricht man, den Wahrscheinlichkeitsgraden entsprechend, von einem bald größeren, bald geringeren Ausmaß von Wissen, und es gilt das Wissen im prägnanteren Sinne – die Evidenz davon, daß S P sei – als die absolut feste, ideale Grenze, der sich die Wahrscheinlichkeiten für das P-Sein des S in ihrer Steigerungsfolge asymptotisch annähern.12 Zum Begriff der Wissenschaft und ihrer Aufgabe gehört nun aber mehr als bloßes Wissen. Wenn wir innere Wahrnehmungen, einzeln oder 10 11 12

ň

ʼn

A: gilt oder nicht gilt . ň ʼn A: die Geltung . In A schließt der Absatz mit einem Gedankenstrich.

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gruppenweise, erleben und als daseiend anerkennen, so haben wir Wissen, aber noch lange nicht Wissenschaft. Und nicht anders verhält es sich mit zusammenhangslosen Gruppen von Wissensakten überhaupt. Zwar ň ʼn Mannigfaltigkeit des Wissens, aber nicht b l o ß e 13 Mannigfaltigkeit will die Wissenschaft uns geben. Auch die sachliche Verwandtschaft macht noch nicht die ihr eigentümliche Einheit in der Mannigfaltigkeit des Wissens aus. Eine Gruppe vereinzelter chemischer Erkenntnisse würde gewiß nicht die Rede von einer chemischen Wissenschaft berechtigen. Offenbar ist mehr erfordert, nämlich s y s t e m a t i s c h e r Z u s a m m e n h a n g i m t h e o r e t i s c h e n S i n n e , und darin liegt Begründung des Wissens und gehörige Verknüpfung und Ordnung in der Folge der Begründungen. Zum Wesen der Wissenschaft gehört also die Einheit des Begründungszusammenhanges, in dem mit den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und mit diesen auch die höheren Komplexionen von Begründungen, die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erhalten. Ihr Zweck ist es eben, nicht Wissen schlechthin, sondern Wissen in solchem Ausmaße und in solcher Form zu vermitteln, wie es unseren höchsten theoretischen Zielen in möglichster Vollkommenheit entspricht. Daß uns die systematische Form als die reinste Verkörperung der Idee des Wissens erscheint, und daß wir sie praktisch anstreben, darin äußert sich nicht etwa ein bloß ästhetischer Zug unserer Natur. Die Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architektonischen Spiels sein. Die Systematik, die der Wissenschaft eignet, natürlich der echten und rechten Wissenschaft, erfinden wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar in größtmöglichem Umfange, zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm Einheit der Gesetzlichkeit; und so muß auch die Erforschung und Darlegung der Wahrheiten systematisch sein, sie muß deren systematische Zusammenhänge widerspiegeln und sie zugleich als Stufenleiter des Fortschrittes benützen, um von dem uns gegebenen oder bereits gewonnenen Wissen aus in immer höhere Regionen des Wahrheitsreiches eindringen zu können. 13

In A nicht gesperrt.

128

EDMUND HUSSERL ň

ʼn

Dieser hilfreichen Stufenleiter 14 kann sie nicht entraten. Die Evidenz, auf der schließlich alles Wissen beruht, ist nicht eine natürliche Beigabe, die sich mit der bloßen Vorstellung der Sachverhalte und ohne jede methodisch-künstlichen Veranstaltungen einfindet. Anderenfalls wären die Menschen auch nie darauf verfallen, Wissenschaften aufzubauen. Methodische Umständlichkeiten verlieren ihren Sinn, wo mit der Intention schon der Erfolg gegeben ist. Wozu die Begründungsverhältnisse erforschen und Beweise konstruieren, wenn man der Wahrheit in unmittelbarem Innewerden teilhaftig wird? Faktisch stellt sich aber die ň ʼn Evidenz, die den vorgestellten Sachverhalt als bestehend 15, bzw. die ň ʼn Absurdität, die ihn als nicht bestehend 16 stempelt (und ähnlich in Hinsicht auf Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit), nur bei einer relativ höchst beschränkten Gruppe primitiver Sachverhalte unmittelbar ein; unzählige wahre Sätze erfassen wir als Wahrheiten nur dann, wenn sie methodisch ,,begründet“ werden, d.h. in diesen Fällen stellt sich im bloßen Hinblick auf den Satzgedanken, wenn überhaupt urteilsmäßige Entscheidung, so doch nicht Evidenz ein; aber es stellt sich, gewisse normale Verhältnisse vorausgesetzt, beides zugleich ein, sowie wir von gewissen Erkenntnissen ausgehen und dann einen gewissen Gedankenweg zu dem intendierten Satze einschlagen. Es mag für denselben Satz mannigfaltige Begründungswege geben, die einen von diesen, die anderen von jenen Erkenntnissen auslaufend; aber charakteristisch und wesentlich ist der Umstand, daß es unendliche Mannigfaltigkeiten von Wahrheiten gibt, die ohne dergleichen methodische Prozeduren nimmermehr in ein Wissen verwandelt werden können. Und daß es sich so verhält, daß wir Begründungen brauchen, um in der Erkenntnis, im Wissen über das unmittelbar Evidente und darum Triviale hinauszukommen, das macht nicht nur Wissenschaften möglich und nötig, sondern mit den Wissenschaften auch eine W i s s e n s c h a f t s l e h r e , eine L o g i k . Verfahren alle Wissenschaften methodisch im Verfolge der Wahrheit, haben sie alle mehr oder minder künstliche Hilfsmittel in Gebrauch, um Wahrheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten, die sonst verborgen 14 15 16

ň

ʼn

A: Stufenleitern . ň ʼn A: Wahrheit . ň ʼn A: Falschheit .

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blieben, zur Erkenntnis zu bringen, und um das Selbstverständliche oder bereits Gesicherte als Hebel zu nützen für die Erreichung von Entlegenem, nur mittelbar Erreichbarem: dann dürfte doch die vergleichende Betrachtung dieser methodischen Hilfen, in denen die Einsichten und Erfahrungen ungezählter Forschergenerationen aufgespeichert sind, Mittel an die Hand geben, um allgemeine Normen für solche Verfahrungsweisen aufzustellen und desgleichen auch Regeln für die erfindende Konstruktion derselben je nach den verschiedenen Klassen von Fällen. § 7. Fortsetzung. Die drei bedeutsamsten Eigentümlichkeiten der Begründungen Überlegen wir, um etwas tiefer in die Sache zu dringen, die bedeutsamsten Eigentümlichkeiten dieser merkwürdigen Gedankenverläufe, die wir Begründungen nennen. Sie haben, um auf ein E r s t e s hinzuweisen, in Beziehung auf ihren Gehalt den Charakter fester Gefüge. Nicht können wir, um zu einer gewissen Erkenntnis, z.B. der des Pythagoräischen Lehrsatzes, zu gelangen, ganz beliebige aus den unmittelbar gegebenen Erkenntnissen zu Ausgangspunkten wählen, und nicht dürfen wir im weiteren Verlaufe beliebige Gedankenglieder einfügen und ausschalten: soll die Evidenz des zu begründenden Satzes wirklich aufleuchten, die Begründung also wahrhaft Begründung sein. Noch ein Z w e i t e s merken wir alsbald. Von vornherein, d.h. vor dem vergleichenden Hinblick auf die Beispiele von Begründungen, die uns von überall her in Fülle zuströmen, möchte es als denkbar erscheinen, daß jede Begründung nach Gehalt und Form ganz einzigartig sei. Eine Laune der Natur – dies dürften wir zunächst wohl für einen möglichen Gedanken halten – könnte unsere geistige Konstitution so eigensinnig gebildet haben, daß die uns jetzt so vertraute Rede von mannigfachen Begründungsf o r m e n eines jeden Sinnes bar und als Gemeinsames bei der Vergleichung irgendwelcher Begründungen immer nur das eine zu konstatieren wäre: Daß eben ein Satz S, der für sich evidenzlos ist, den Charakter der Evidenz erhält, wenn er im Zusammenhang auftritt mit gewissen, ihm ohne jedes rationale Gesetz ein für allemal zugeordneten Erkenntnissen P1P2 ... Aber so steht die Sache nicht. Nicht hat eine blinde Willkür irgendeinen

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Haufen von Wahrheiten P1P2 ... S zusammengerafft und dann den menschlichen Geist so eingerichtet, daß er an die Erkenntnis der P1P2 ... unweigerlich (bzw. unter ,,normalen“ Umständen) die Erkenntnis von S anknüpfen muß. In keinem einzigen Falle verhält es sich so. Nicht Willkür und Zufall herrscht in den Begründungszusammenhängen, sondern Vernunft und Ordnung, und das heißt: regelndes Gesetz. Kaum bedarf es eines Beispiels zur Verdeutlichung. Wenn wir in einer mathematischen Aufgabe, die ein gewisses Dreieck ABC betrifft, den Satz anwenden „ein gleichseitiges Dreieck ist gleichwinklig“, so vollziehen wir eine Begründung, die expliziert lautet: Jedes gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, das Dreieck ABC ist gleichseitig, also ist es gleichwinklig. Setzen wir daneben die arithmetische Begründung: Jede dekadische Zahl mit gerader Endziffer ist eine gerade Zahl, 364 ist eine dekadische Zahl mit gerader Endziffer, also ist sie eine gerade Zahl. Wir bemerken sofort, daß diese Begründungen etwas Gemeinsames haben, eine gleichartige innere Konstitution, die wir verständlich ausdrücken in der ,,Schlußform“: Jedes A ist B, X ist A, also ist XB. Aber nicht bloß diese zwei Begründungen haben diese gleiche Form, sondern ungezählte andere. Und noch mehr. Die Schlußform repräsentiert einen Klassenbegriff, unter den die unendliche Mannigfaltigkeit von Sätzeverknüpfungen der in ihr scharf ausgeprägten Konstitution fällt. Zugleich besteht aber das apriorische G e s e t z , daß jede v o r g e b l i c h e Begründung, die ihr gemäß verläuft, auch wirklich eine r i c h t i g e ist, wofern sie überhaupt von richtigen Prämissen ausgeht. Und dies gilt allgemein. Wo immer wir von gegebenen Erkenntnissen begründend aufsteigen zu neuen, da wohnt dem Begründungswege eine gewisse Form ein, die ihm gemeinsam ist mit unzähligen anderen Begründungen, und die in gewisser Beziehung steht zu einem allgemeinen Gesetze, das alle diese einzelnen Begründungen mit einem Schlage zu rechtfertigen gestattet. Keine Begründung steht, dies ist die höchst merkwürdige Tatsache, isoliert. Keine knüpft Erkenntnisse an Erkenntnisse, ohne daß, sei es in dem äußerlichen Modus der Verknüpfung, sei es in diesem und zugleich in dem inneren Bau der einzelnen Sätze, ein bestimmter Typus ausgeprägt wäre, der, in allgemeine Begriffe gefaßt, sofort zu einem allgemeinen, auf eine Unendlichkeit möglicher Begründungen bezüglichen Gesetze überleitet. Endlich sei noch ein D r i t t e s als merkwürdig hervorgehoben. Von

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vornherein, d.h. vor der Vergleichung der Begründungen v e r s c h i e d e n e r Wissenschaften, möchte man den Gedanken für möglich halten, daß die Begründungsformen an Erkenntnisgebiete gebunden seien. Wenn schon nicht überhaupt mit den Klassen von Objekten die zugehörigen Begründungen wechseln, so könnte es doch sein, daß sich die Begründungen nach gewissen sehr allgemeinen Klassenbegriffen, etwa denjenigen, welche die Wissenschaftsgebiete abgrenzen, scharf sondern. Ist es also nicht so, daß keine Begründungsform existiert, die zwei Wissenschaften gemeinsam ist, der Mathematik z.B. und der Chemie? Indessen auch dies ist offenbar nicht der Fall, wie schon das obige Beispiel lehrt. Keine Wissenschaft, in der nicht Gesetze auf singuläre Fälle übertragen ň ʼn würden 17, also Schlüsse der uns als Beispiel dienenden Form öfter ň ʼn auftreten 18. Und dasselbe gilt von vielen Schlußarten sonst. Ja wir werden sagen dürfen, daß alle anderen Schlußarten sich so verallgemeinern, sich so „rein“ fassen lassen, daß sie von jeder wesentlichen Beziehung auf ein konkret beschränktes Erkenntnisgebiet frei werden. § 8. Die Beziehung dieser Eigentümlichkeiten zur Möglichkeit von Wissenschaft und Wissenschaftslehre Diese Eigentümlichkeiten der Begründungen, deren Merkwürdigkeit uns nicht auffällt, weil wir allzuwenig geneigt sind, das Alltägliche zum Problem zu machen, stehen in ersichtlicher Beziehung zur M ö g l i c h k e i t e i n e r W i s s e n s c h a f t und weiterhin einer W i s s e n s c h a f t s l e h r e . Daß es Begründungen gibt, reicht in dieser Beziehung nicht hin. Wären ň ʼn sie form- und gesetzlos, bestände nicht diese 19 fundamentale Wahrheit, daß allen Begründungen eine gewisse „Form“ einwohnt, die nicht dem hic et nunc vorliegenden Schlüsse (dem einfachen oder noch so komplizierten) eigentümlich, sondern für eine ganze Klasse von Schlüssen typisch ist, und daß zugleich die Richtigkeit der Schlüsse dieser ganzen Klasse eben durch ihre Form verbürgt ist, bestände vielmehr in all dem das Gegenteil – dann 17 18 19

Fehlt in A. ň ʼn A: auftreten würden . ň ʼn A: die .

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gäbe es keine Wissenschaft. Das Reden von einer Methode, von einem systematisch geregelten Fortschritt von Erkenntnis zu Erkenntnis, hätte keinen Sinn mehr, jeder Fortschritt wäre Zufall. Da würden einmal zufällig die Sätze P1P2 ... in unserem Bewußtsein zusammentreffen, die dem Satze S die Evidenz zu verleihen fähig sind, und richtig würde die Evidenz aufleuchten. Es wäre nicht mehr möglich, aus einer zustande gekommenen Begründung für die Zukunft das Geringste zu lernen in Beziehung auf neue Begründungen von neuer Materie; denn keine Begründung hätte etwas Vorbildliches für irgendeine andere, keine verkörperte in sich einen Typus, und so hätte auch keine Urteilsgruppe, als Prämissensystem gedacht, etwas Typisches an sich, das sich uns (ohne begriffliche Hervorhebung, ohne Rekurs auf die explizierte ,,Schlußform“) im neuen Falle und bei Gelegenheit ganz anderer ,,Materien“ aufdrängen und20 die Gewinnung einer neuen Erkenntnis erleichtern könnte. Nach einem Beweis für einen vorgegebenen Satz forschen, hätte keinen Sinn. Wie sollten wir dies auch anstellen? Sollten wir alle möglichen Satzgruppen durchprobieren, ob sie als Prämissen für den vorliegenden Satz brauchbar seien? Der Klügste ň hätte hier vor dem Dümmsten nichts voraus, und es ist fraglich, ob er vor ʼn21 ihm überhaupt noch etwas Wesentliches voraus hätte . Eine reiche Phantasie, ein umfassendes Gedächtnis, die Fähigkeit angespannter Aufmerksamkeit und dgl. mehr sind schöne Dinge, aber intellektuelle Bedeutung gewinnen sie nur bei einem d e n k e n d e n Wesen, dessen Begründen und Erfinden unter gesetzlichen Formen steht. Denn es gilt allgemein, daß in einer beliebigen psychischen Komplexion nicht bloß die Elemente, sondern auch die verknüpfenden Formen assoziative bzw. reproduktive Wirksamkeit üben. So kann sich also die Form unserer theoretischen Gedanken und Gedankenzusammenhänge als förderlich erweisen. Wie z.B. die Form gewisser Prämissen den zugehörigen Schlußsatz mit besonderer Leichtigkeit hervorspringen läßt, weil uns früher Schlüsse derselben Form gelungen waren, so kann auch die Form eines zu beweisenden Satzes gewisse Begründungsformen in Erinnerung bringen, welche ähnlich geformte Schlußsätze früher ergeben hatten. Ist es auch nicht klare und eigentliche Erinnerung, so ist es doch ein 20 21

ň

ʼn

In A folgt: nach den Gesetzen der Ideenassoziation . ň ʼn A: es ist überhaupt fraglich, ob er vor ihm noch etwas Wesentliches voraus hätte .

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Analogon davon, gewissermaßen latente Erinnerung, es ist ,,unbewußte Erregung“ (im Sinne B . E r d m a n n s ); jedenfalls ist es etwas, das sich für das leichtere Gelingen von Beweiskonstruktionen (und nicht allein in den Gebieten, wo die argumenta in forma vorherrschen, wie in der Mathematik) höchst förderlich zeigt. Der geübte Denker findet leichter Beweise als der ungeübte, und warum dies? Weil sich ihm die Typen der Beweise durch mannigfache Erfahrung immer tiefer eingegraben haben und darum für ihn viel leichter wirksam und die Gedankenrichtung bestimmend sein müssen. In gewissem Umfang übt das wissenschaftliche Denken beliebiger Gattung für wissenschaftliches Denken überhaupt; daneben aber gilt, daß in besonderem Maß und Umfang das mathematische Denken speziell für Mathematisches, das physikalische speziell für Physikalisches prädisponiert usw. Ersteres beruht auf dem Bestande typischer Formen, die allen Wissenschaften gemein sind, letzteres auf dem Bestande anderer (eventuell als bestimmt gestaltete Komplexionen jener zu charakterisierenden) Formen, die zu der Besonderheit der einzelnen Wissenschaften ihre besondere Beziehung haben. Die Eigenheiten des wissenschaftlichen Taktes, der vorausblickenden Intuition und Divination hängen hiermit zusammen. Wir sprechen von einem philologischen Takt und Blick, von einem mathematischen usw. Und wer besitzt ihn? Der durch vieljährige Übung geschulte Philologe bzw. Mathematiker usw. In der allgemeinen Natur der Gegenstände des jeweiligen Gebietes wurzeln gewisse Formen sachlicher Zusammenhänge, und diese bestimmen wieder typische Eigentümlichkeiten der gerade in diesem Gebiete vorwiegenden Begründungsformen. Hierin liegt die Basis für die vorauseilenden wissenschaftlichen Vermutungen. Alle Prüfung, Erfindung und Entdeckung beruht so auf den Gesetzmäßigkeiten der Form. Ermöglicht nach all dem die g e r e g e l t e F o r m den Bestand von Wissenschaften, so ermöglicht auf der anderen Seite die in weitem Umfange bestehende U n a b h ä n g i g k e i t d e r F o r m v o m W i s s e n s g e b i e t den Bestand einer W i s s e n s c h a f t s l e h r e . Gälte diese Unabhängigkeit nicht, so gäbe es nur einander beigeordnete und den einzelnen Wissenschaften einzeln entsprechende Logiken, aber nicht die allgemeine Logik. In Wahrheit finden wir aber beides nötig: wissenschaftstheoretische Untersuchungen, welche alle Wissenschaften gleichmäßig betreffen, und zur Ergänzung derselben besondere Untersuchungen,

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welche die Theorie und Methode der einzelnen Wissenschaften betreffen und das diesen Eigentümliche zu erforschen suchen. So dürfte die Hervorhebung jener Eigentümlichkeiten, die sich bei der vergleichenden Betrachtung der Begründungen ergaben, nicht nutzlos gewesen sein, auf unsere Disziplin selbst, auf die Logik im Sinne einer Wissenschaftslehre, einiges Licht zu werfen. § 9. Die methodischen Verfahrungsweisen in den Wissenschaften teils Begründungen, teils Hilfsverrichtungen für Begründungen Doch es bedarf noch einiger Ergänzungen, zunächst hinsichtlich unserer Beschränkung auf die Begründungen, die doch den Begriff des methodischen Verfahrens nicht erschöpfen. Den Begründungen kommt aber eine zentrale Bedeutung zu, die unsere vorläufige Beschränkung rechtfertigen wird. Man kann nämlich sagen: daß alle wissenschaftlichen Methoden, die nicht selbst den Charakter von wirklichen Begründungen (sei es einfachen oder noch so komplizierten) haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch Begründungen ein für allemal Sinn und Wert empfangen haben, bei ihrer praktischen Verwendung zwar die Leistung, aber nicht den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich schließen; o d e r daß sie mehr oder weniger komplizierte H i l f s v e r r i c h t u n g e n darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleichterung, Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen und abermals keine diesen wissenschaftlichen Grundprozessen gleichwertige und neben ihnen selbständige Bedeutung beanspruchen dürfen. So ist es z.B., um uns an die z w e i t erwähnte Methodengruppe anzuschließen, ein wichtiges Vorerfordemis für die Sicherung von Begründungen überhaupt, daß die Gedanken in angemessener Weise zum Ausdruck kommen mittels wohl unterscheidbarer und eindeutiger Zeichen. Die Sprache bietet dem Denker ein in weitem Umfang anwendbares Zeichensystem zum Ausdruck seiner Gedanken, aber obschon niemand desselben entraten kann, so stellt es doch ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel der strengen Forschung dar. Die schädlichen Einflüsse der Äquivokationen auf die Triftigkeit der Schlußfolgerungen sind allbekannt.

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Der vorsichtige Forscher darf die Sprache also nicht ohne kunstmäßige ň Vorsorgen verwenden, er muß die gebrauchten Termini, soweit sie nicht ʼn eindeutig sind 22 und scharfer Bedeutung ermangeln, definieren. In der N o m i n a l d e f i n i t i o n sehen wir also ein methodisches Hilfsverfahren zur Sicherung der Begründungen, dieser primär und eigentlich theoretischen Prozeduren. Ähnlich verhält es sich mit der N o m e n k l a t u r . Kurze und charakteristische Signaturen für wichtigere und häufig wiederkehrende Begriffe sind – um nur eines zu erwähnen – überall da unerläßlich, wo diese Begriffe mit dem ursprünglichen Vorrat von definierten Ausdrücken nur sehr umständlich zum Ausdruck kämen; denn umständliche, vielfach ineinander geschachtelte Ausdrücke erschweren die begründenden Operationen oder machen sie sogar unausführbar. Von ähnlichen Gesichtspunkten läßt sich auch die Methode der K l a s s i f i k a t i o n betrachten usf. Beispiele zur e r s t e n Methodengruppe bieten uns die so überaus fruchtbaren a l g o r i t h m i s c h e n M e t h o d e n , deren eigentümliche Funktion es ist, uns durch künstliche Anordnungen mechanischer Operationen mit sinnlichen Zeichen einen möglichst großen Teil der eigentlichen deduktiven Geistesarbeit zu ersparen. Wie Wunderbares diese Methoden auch leisten, sie gewinnen Sinn und Rechtfertigung nur aus dem Wesen des begründenden Denkens. Hierher gehören auch die in wörtlichem Sinne mechanischen Methoden – man denke an die Apparate für mechanische Integration, an Rechenmaschinen u. dgl. –, ferner die methodischen Verfahrungsweisen zur Feststellung objektiv gültiger Erfahrungsurteile, wie die mannigfaltigen Methoden zur Bestimmung einer Sternposition, eines elektrischen Widerstandes, einer trägen Masse, eines Brechungsexponenten, der Konstanten der Erdschwere usw. Jede solche Methode repräsentiert eine Summe von Vorkehrungen, deren Auswahl und Anordnung durch einen Begründungszusammenhang bestimmt wird, welcher allgemein nachweist, daß ein so geartetes Verfahren, mag es auch blind vollzogen sein, notwendigerweise ein objektiv gültiges Einzelurteil liefern müsse. Doch genug der Beispiele. Es ist klar: Jeder wirkliche Fortschritt der 22

ň

ʼn

A: eindeutiger .

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Erkenntnis vollzieht sich in der Begründung; auf sie haben daher alle die methodischen Vorkehrungen und Kunstgriffe Beziehung, von denen über die Begründungen hinaus die Logik noch handelt. Dieser Beziehung verdanken sie auch ihren typischen Charakter, der ja zur Idee der Methode wesentlich gehört. Um dieses Typischen willen ordnen sie sich übrigens in die Betrachtungen des vorigen Paragraphen ebenfalls mit ein. § 10. Die Ideen Theorie und Wissenschaft als Probleme der Wissenschaftslehre ň

ʼn

Aber noch einer weiteren Ergänzung bedarf es. Natürlich hat es 23 die Wissenschaftslehre, so wie sie sich uns hier ergeben hat, nicht bloß mit der Erforschung der Formen und Gesetzmäßigkeiten einzelner Begründungen (und der ihnen zugeordneten Hilfsverrichtungen) zu tun. Einzelne Begründungen finden wir ja auch außerhalb der Wissenschaft, und somit ist klar, daß einzelne Begründungen – und ebenso zusammengeraffte Haufen von Begründungen – noch keine Wissenschaft ausmachen. Dazu gehört, wie wir uns oben ausdrückten, eine gewisse Einheit des Begründungszusammenhanges, eine gewisse Einheit in der Stufenfolge von Begründungen; und diese Einheitsform hat selbst ihre hohe teleologische Bedeutung für die Erreichung des obersten Erkenntniszieles, dem alle Wissenschaft zustrebt: uns in der Erforschung der Wahrheit – d.h. aber nicht in der Erforschung einzelner Wahrheiten, sondern des Reiches der Wahrheit bzw. der natürlichen Provinzen, in die es sich gliedert – nach Möglichkeit zu fördern. Die Aufgabe der Wissenschaftslehre wird es also auch sein, von den Wissenschaften als so und so gearteten systematischen E i n h e i t e n zu handeln, m.a.W. von dem, was sie der Form nach als Wissenschaften charakterisiert, was ihre wechselseitige Begrenzung, was ihre innere Gliederung in Gebiete, in relativ geschlossene Theorien bestimmt, welches ihre wesentlich verschiedenen Arten oder Formen sind u. dgl. Man kann diese systematischen Gewebe von Begründungen ebenfalls dem Begriff der Methode unterordnen und somit der Wissenschaftslehre 23

Fehlt in A.

Prolegomena zu einer reinen Logik

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nicht bloß die Aufgabe zuweisen, von den Wissensmethoden zu handeln, die in den Wissenschaften auftreten, sondern auch von denjenigen, welche selbst Wissenschaften heißen. Nicht allein gültige und ungültige Begründungen, sondern auch gültige und ungültige Theorien und Wissenschaften zu scheiden, fällt ihr zu. Die Aufgabe, die ihr damit zugewiesen wird, ist von der früheren offenbar nicht unabhängig, sie setzt in beträchtlichem Umfange deren vorgängige Lösung voraus; denn die Erforschung der Wissenschaften als systematischer Einheiten ist nicht denkbar ohne die vorgängige Erforschung der Begründungen. Jedenfalls liegen beide im Begriffe einer Wissenschaft von der Wissenschaft als solcher. §11. Die Logik oder Wissenschaftslehre als normative Disziplin und als Kunstlehre Nach dem, was wir bisher erörtert haben, ergibt sich die Logik – in dem hier fraglichen Sinne einer Wissenschaftslehre – als eine normative Disziplin. Wissenschaften sind Geistesschöpfungen, die nach einem gewissen Ziele gerichtet und darum auch diesem Ziele gemäß zu beurteilen sind. Und dasselbe gilt von den Theorien, Begründungen und allem überhaupt, was wir Methode nennen. Ob eine Wissenschaft in Wahrheit Wissenschaft, eine Methode in Wahrheit Methode ist, das hängt davon ab, ob sie dem Ziele gemäß ist, dem sie zustrebt. Was den wahrhaften, den gültigen Wissenschaften als solchen zukommt, m.a.W., was die Idee der Wissenschaft konstituiert, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder inwieweit sie sich ihr nahem, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft und scheidet von sich ab die vergleichende Betrachtungsweise der historischen Wissenschaft, welche die Wissenschaften als konkrete Kulturerzeugnisse der jeweiligen Epochen nach ihren t y p i s c h e n Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erfassen und aus den Zeitverhältnissen zu erklären versucht. Denn das ist das Wesen der normativen Wissenschaft, daß sie allgemeine Sätze begründet, in welchen mit Beziehung auf ein normierendes Grundmaß – z.B. eine Idee oder einen obersten Zweck – bestimmte Merkmale angegeben sind, deren Besitz die

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Angemessenheit an das Maß verbürgt oder umgekehrt eine unerläßliche Bedingung für diese Angemessenheit beistellt; desgleichen auch verwandte Sätze, in welchen der Fall der Unangemessenheit berücksichtigt oder das Nichtvorhandensein solcher Sachlagen ausgesprochen ist. Nicht als ob sie allgemeine Kennzeichen zu geben brauchte, die besagen, wie ein Objekt überhaupt beschaffen sein soll, um der Grundnorm zu entsprechen; so wenig die Therapie Universalsymptome angibt, so wenig gibt irgendeine normative Disziplin Universalkriterien. Was uns im besonderen die Wissenschaftslehre gibt und allein geben kann, sind Spezialkriterien. Indem sie feststellt, daß im Hinblick auf das oberste Ziel der Wissenschaften und auf die faktische Konstitution des menschlichen Geistes, und was sonst noch in Betracht kommen mag, die und die Methoden, etwa MlM2..., erwachsen, spricht sie Sätze der Form aus: Jede Gruppe von Geistesbetätigungen der Arten Įȕ..., die in der Komplexionsform Ml (bzw. M2...) sich abwickeln, liefert einen Fall richtiger Methode; oder was gleichwertig ist: Jedes (angeblich) methodische Verfahren der Form Ml (bzw. M2...) ist ein richtiges. Gelänge es, alle an sich möglichen und gültigen Sätze dieser und verwandter Art wirklich aufzustellen, dann allerdings enthielte die normative Disziplin die messende Regel für jede angebliche Methode überhaupt, aber auch dann nur in Form von Spezialkriterien. Wo die Grundnorm ein Zweck ist oder Zweck werden kann, geht aus der normativen Disziplin durch eine naheliegende Erweiterung ihrer Aufgabe eine Kunstlehre hervor. So auch hier. Stellt sich die Wissenschaftslehre die weitergehende Aufgabe, die unserer Macht unterliegenden Bedingungen zu erforschen, von denen die Realisierung gültiger Methoden abhängt, und Regeln aufzustellen, wie wir in der methodischen Überlistung der Wahrheit verfahren, wie wir Wissenschaften triftig abgrenzen und aufbauen, wie wir im besonderen die mannigfachen in ihnen förderlichen Methoden erfinden oder anwenden, und wie wir uns in allen diesen Beziehungen vor Fehlern hüten sollen: so wird sie zur K u n s t l e h r e v o n d e r W i s s e n s c h a f t . Offenbar schließt diese die ň ʼn normative Wissenschaftslehre ganz 24 in sich, und es ist daher vermöge ihres unzweifelhaften Wertes durchaus angemessen, wenn man den Begriff 24

ň

ʼn

A: voll und ganz .

Prolegomena zu einer reinen Logik

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der Logik entsprechend erweitert und sie im Sinne dieser Kunstlehre definiert.

[…] ZWEITES KAPITEL

THEORETISCHE DISZIPLINEN ALS FUNDAMENTE NORMATIVER

§ 14. Der Begriff der normativen Wissenschaft. Das Grundmaß oder Prinzip, das ihr Einheit gibt Wir beginnen mit der Fixierung eines Satzes, der für die weitere Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit ist, nämlich daß jede normative und desgleichen jede praktische Disziplin auf einer oder mehreren theoretischen Disziplinen beruht, sofern ihre Regeln einen von dem Gedanken der Normierung (des Sollens) abtrennbaren theoretischen Gehalt besitzen müssen, dessen wissenschaftliche Erforschung eben jenen theoretischen Disziplinen obliegt. Erwägen wir, um dies klarzustellen, zunächst den Begriff der normativen Wissenschaft in seinem Verhältnis zu dem der theoretischen. Die Gesetze der ersteren besagen, so heißt es gewöhnlich, was sein soll, obschon es vielleicht nicht ist und unter den gegebenen Umständen nicht sein kann; die Gesetze der letzteren hingegen besagen schlechthin, was ist. Es wird sich nun fragen, was mit dem S e i n s o l l e n gegenüber dem schlichten Sein gemeint ist. Zu enge ist offenbar der ursprüngliche Sinn des Sollens, welcher Beziehung hat zu einem gewissen Wünschen oder Wollen, zu einer Forderung oder einem Befehl, z.B.: Du sollst mir gehorchen; X soll zu mir kommen. Wie wir in einem weiteren Sinn von einer Forderung sprechen, wobei niemand da ist, der fordert, und evtl. auch niemand, der aufgefordert ist, so sprechen wir auch oft von einem Sollen, unabhängig von irgend jemandes Wünschen oder Wollen. Sagen wir: „Ein Krieger soll tapfer sein“, so heißt das nicht, daß wir oder jemand sonst dies wünschen oder wollen, befehlen oder fordern. Eher könnte man die Meinung dahin fassen,

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daß allgemein, d.h. in Beziehung auf jeden Krieger, ein entsprechendes Wünschen und Fordern Berechtigung habe; obschon auch dies nicht ganz zutrifft, da es doch nicht geradezu nötig ist, daß hier solch eine Bewertung eines Wunsches oder einer Forderung wirklich Platz greife. „Ein Krieger soll tapfer sein“, das heißt vielmehr: nur ein tapferer Krieger ist ein „guter“ Krieger, und darin liegt, da die Prädikate gut und schlecht den Umfang des Begriffs Krieger unter sich teilen, daß ein nicht tapferer ein „schlechter“ Krieger ist. W e i l dieses Werturteil gilt, hat nun jedermann recht, der von einem Krieger fordert, daß er tapfer sei; aus demselben Grunde ist, daß er es sei, auch wünschenswert, lobenswert usw. Ebenso in anderen Beispielen. „Ein Mensch soll Nächstenliebe üben“, d.h. wer dies unterläßt, ist nicht mehr ein „guter“ und damit eo ipso ein (in dieser Hinsicht) „schlechter“ Mensch. „Ein Drama soll nicht in Episoden zerfallen“ – sonst ist es kein „gutes“ Drama, kein „rechtes“ Kunstwerk. In allen diesen Fällen machen wir also unsere positive Wertschätzung, die Zuerkennung eines positiven Wertprädikates, abhängig von einer zu erfüllenden Bedingung, deren Nichterfüllung das entsprechende negative Prädikat nach sich zieht. Überhaupt dürfen wir als gleich, zum mindesten als äquivalent setzen ň ʼn die 25 Formen: „Ein A soll B sein“ und „Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes A“, oder „Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A“. Der Terminus „gut“ dient uns hier natürlich im weitesten Sinne des irgendwie Wertvollen; er ist in den konkreten, unter unsere Formel gehörigen Sätzen jeweilig in dem besonderen Sinne der Werthaltungen zu verstehen, die ihnen zugrunde liegen, z.B. als Nützliches, Schönes, Sittliches u. dgl. Es gibt so vielfältige Arten der Rede vom Sollen, als es verschiedene Arten von Werthaltungen, also Arten von – wirklichen oder vermeintlichen – Werten gibt. Die negativen Aussagen des Sollens sind nicht als Negationen der entsprechenden affirmativen zu deuten; wie ja auch im gewöhnlichen Sinne die Leugnung einer Forderung nicht den Wert eines Verbotes hat. Ein Krieger soll nicht feige sein, das heißt nicht, es sei falsch, daß ein Krieger feige sein soll, sondern: es sei ein feiger Krieger auch ein schlechter. Es sind also die Formen äquivalent: „Ein A soll nicht B sein“ und „Ein A, welches B ist, ist allgemein ein schlechtes A“, oder „Nur ein A, 25

ň

ʼn

A: den .

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welches nicht B ist, ist ein gutes A“. Daß sich Sollen und Nichtsollen ausschließen, ist eine formal-logische Konsequenz der interpretierenden Aussagen, und dasselbe gilt von dem Satze, daß Urteile über ein Sollen keine Behauptung über ein entsprechendes Sein einschließen. Die soeben klargelegten Urteile normativer Form sind offenbar nicht die einzigen, die man als solche wird gelten lassen, mag auch im Ausdruck das ň ʼn Wörtchen «soll» 26 keine Verwendung finden. Unwesentlich ist es, daß wir statt „A soll (bzw. soll nicht) B sein“, auch sagen können „A muß (bzw. darf nicht) B sein“. Sachhaltiger ist der Hinweis auf die beiden neuen Formen „A muß nicht B sein“ und ,,A darf B sein“, welche die kontradiktorischen Gegensätze zu den obigen darstellen. Es ist also „muß nicht“ die Negation von „soll“ oder – was gleich gilt – von „muß“; „darf“ die Negation von „soll nicht“ oder – was gleich gilt – von „darf nicht“; wie man aus den interpretierenden Werturteilen leicht ersieht: „Ein A muß nicht B sein“ = „Ein A, das nicht B ist, ist darum noch kein schlechtes A“. „Ein A darf B sein“ = „Ein A, das B ist, ist darum noch kein schlechtes A“. Aber noch andere Sätze werden wir hierher rechnen müssen. Z.B.: „Damit ein A ein gutes sei, genügt es (beziehungsweise genügt es nicht), daß es B sei.“ Während die vorigen Sätze irgendwelche n o t w e n d i g e n Bedingungen für die Zuerkennung oder Aberkennung der positiven oder negativen Wertprädikate betreffen, handelt es sich in den jetzt vorliegenden um h i n r e i c h e n d e Bedingungen. Andere Sätze wiederum wollen zugleich notwendige und hinreichende Bedingungen aussagen. Damit dürften die wesentlichen Formen allgemeiner normativer Sätze erschöpft sein; ihnen entsprechen natürlich auch Formen partikulärer und individueller Werturteile, die der Analyse nichts Bedeutsames hinzufügen und von denen jedenfalls die letzteren für unsere Zwecke auch nicht in Betracht kommen; sie haben allezeit eine nähere oder fernere Beziehung zu gewissen normativen Allgemeinheiten und können in abstrakten, normativen Disziplinen nur in Anlehnung an die sie regelnden Allgemeinheiten als Beispiele auftreten. Solche Disziplinen halten sich überhaupt jenseits aller individuellen Existenz, ihre Allgemeinheiten sind „rein begrifflicher“ Art, sie haben den Charakter von Gesetzen im echten Sinne des Wortes. 26

ň

ʼn

A: Sollen .

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Wir ersehen aus diesen Analysen, daß jeder normative Satz eine gewisse Art der Werthaltung (Billigung, Schätzung) voraussetzt, durch welche der Begriff eines in bestimmtem Sinne ,,Guten“ (Werten) bzw. „Schlechten“ (Unwerten) hinsichtlich einer gewissen Klasse von Objekten erwächst; ihr gemäß zerfallen darnach diese Objekte in gute und schlechte. Um das normative Urteil „Ein Krieger soll tapfer sein“ fällen zu können, muß ich irgendeinen Begriff von „guten“ Kriegern haben, und dieser Begriff kann nicht in einer willkürlichen Nominaldefinition gründen, sondern nur in einer allgemeinen Werthaltung, die nach diesen oder jenen Beschaffenheiten die Krieger bald als gute, bald als schlechte zu schätzen gestattet. Ob diese Schätzung eine in irgendwelchem Sinne „objektiv gültige“ ist oder nicht, ob überhaupt ein Unterschied zwischen subjektiv und objektiv „Gutem“ zu machen ist, kommt hier bei der bloßen Feststellung des Sinnes ň der Sollenssätze nicht in Betracht. Es genügt, daß für wert g e h a l t e n , daß eine I n t e n t i o n vollzogen wird des Inhalts, daß etwas wert oder gut ʼn sei 27. Ist umgekehrt auf Grund einer gewissen allgemeinen Werthaltung ein Paar von Wertprädikaten für die zugehörige Klasse festgelegt, dann ist auch die Möglichkeit normativer Urteile gegeben; alle Formen normativer Sätze erhalten ihren bestimmten Sinn. Jedes konstitutive Merkmal B des „guten“ A liefert z.B. einen Satz der Form: „Ein A soll B sein“; ein mit B unverträgliches Merkmal B‘ einen Satz: „Ein A darf nicht (soll nicht) B‘ sein“ usw. Was endlich den B e g r i f f d e s n o r m a t i v e n U r t e i l s anbelangt, so können wir ihn nach unseren Analysen folgendermaßen beschreiben: Mit ň ʼn Beziehung auf eine zugrunde liegende allgemeine 28 Werthaltung und den hierdurch bestimmten Inhalt des zugehörigen Paares von Wertprädikaten heißt jeder Satz ein normativer, der irgendwelche notwendige oder hinreichende, oder notwendige und hinreichende Bedingungen für den Besitz eines solchen Prädikates ausspricht. Haben wir einmal einen Unterschied zwischen „gut“ und „schlecht“ in bestimmtem Sinne, also auch in bestimmter Sphäre wertschätzend gewonnen, dann sind wir naturgemäß an der Entscheidung interessiert, unter welchen Umständen, 27 28

ň

ʼn

A: daß für wert g e h a l t e n wird, als ob etwas wirklich wert oder gut sei . Zusatz von B.

Prolegomena zu einer reinen Logik

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durch welche inneren oder äußeren Beschaffenheiten das Gutsein bzw. Schlechtsein in diesem Sinne verbürgt oder nicht verbürgt ist; welche Beschaffenheiten nicht fehlen dürfen, um einem Objekte der Sphäre den Wert des Guten noch geben zu können usf. Wo wir von gut und schlecht sprechen, da pflegen wir auch in vergleichender Wertschätzung Unterschiede des B e s s e r e n und Besten bzw. des S c h l e c h t e r e n und Schlechtesten zu vollziehen. Ist die Lust das Gute, so ist von zwei Lüsten die intensivere und wieder die länger andauernde die bessere. Gilt uns die Erkenntnis als das Gute, so gilt uns noch nicht jede Erkenntnis als „gleich gut“. Die Gesetzeserkenntnis werten wir höher als die Erkenntnis singulärer Tatsachen; die Erkenntnis allgemeinerer Gesetze – z.B. „Jede Gleichung nten Grades hat n Wurzeln“ – höher als die Erkenntnis ihnen untergeordneter Spezialgesetze – „Jede Gleichung 4ten Grades hat 4 Wurzeln“. So erheben sich also in Beziehung auf die relativen Wertprädikate ähnliche normative Fragen wie in Beziehung auf die absoluten. Ist der konstitutive Inhalt des als gut – beziehungsweise schlecht – zu Bewertenden fixiert, so fragt es sich, was in vergleichender Wertung konstitutiv als besser oder schlechter zu gelten habe; des weiteren dann, welches die näheren und ferneren, notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die relativen Prädikate sind, die den Inhalt des Besseren – beziehungsweise Schlechteren – und schließlich des relativ Besten konstitutiv bestimmen. Die konstitutiven Inhalte der positiven und relativen Wertprädikate sind sozusagen die messenden Einheiten, nach denen wir Objekte der bezüglichen Sphäre abmessen. Die Gesamtheit dieser Normen bildet offenbar eine durch die fundamentale Werthaltung bestimmte, in sich geschlossene Gruppe. Der normative Satz, welcher an die Objekte der Sphäre die allgemeine Forderung stellt, daß sie den konstitutiven Merkmalen des positiven Wertprädikates in größtmöglichem Ausmaße genügen sollen, hat in jeder Gruppe zusammengehöriger Normen eine ausgezeichnete Stellung und kann als die G r u n d n o r m bezeichnet werden. Diese Rolle spielt z.B. der kategorische Imperativ in der Gruppe normativer Sätze, welche K a n t s Ethik ausmachen; ebenso das Prinzip vom „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl“ in der Ethik der Utilitarier. Die Grundnorm ist das Korrelat der Definition des im fraglichen Sinne „Guten“ und „Besseren“; sie gibt an, nach welchem G r u n d m a ß e

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(G r u n d w e r t e ) alle Normierung zu vollziehen ist, und stellt somit im eigentlichen Sinne nicht einen normativen Satz dar. Das Verhältnis der Grundnorm zu den eigentlich normierenden Sätzen ist analog demjenigen zwischen den sogenannten Definitionen der Zahlenreihe und den – immer auf sie rückbezogenen – Lehrsätzen über numerische Verhältnisse in der Arithmetik. Man könnte auch hier die Grundnorm als „Definition“ des maßgebenden Begriffes vom Guten – z.B. des sittlich Guten – bezeichnen; womit freilich der gewöhnliche logische Begriff der Definition verlassen wäre. Stellen wir uns das Ziel,29 mit Beziehung auf eine derartige „Definition“, also mit Beziehung auf eine fundamentale allgemeine Wertung, die Gesamtheit zusammengehöriger normativer Sätze wissenschaftlich zu erforschen, so erwächst die Idee einer n o r m a t i v e n D i s z i p l i n . Jede solche Disziplin ist also eindeutig charakterisiert durch ihre Grundnorm bzw. durch die Definition dessen, was in ihr als das „Gute“ gelten soll. Gilt uns z.B. die Erzeugung und Erhaltung, Mehrung und Steigerung von Lust als das Gute, so werden wir fragen, welche Objekte erregen die Lust, bzw. unter welchen subjektiven und objektiven Umständen tun sie es; und überhaupt, welches sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den Eintritt der Lust, für ihre Erhaltung, Mehrung usw. Diese Fragen als Zielpunkte für eine wissenschaftliche Disziplin genommen, ergeben eine Hedonik; es ist die normative Ethik im Sinne der Hedoniker. Die Wertung der Lusterregung liefert hier die die Einheit der Disziplin bestimmende und sie von jeder anderen normativen Disziplin unterscheidende Grundnorm. Und so hat eine jede ihre eigene Grundnorm, und diese stellt jeweils das einsmachende Prinzip der normativen Disziplin dar. In den t h e o r e t i s c h e n D i s z i p l i n e n entfällt hingegen diese zentrale Beziehung aller Forschungen auf eine fundamentale Werthaltung als Quelle eines herrschenden Interesses der Normierung; die Einheit ihrer Forschungen und die Zusammenordnung ihrer Erkenntnisse wird ausschließlich durch das theoretische Interesse bestimmt, welches gerichtet ist auf die Erforschung des sachlich (d.i. theoretisch, vermöge der inneren Gesetzlichkeit der Sachen) Zusammenge29

Das Komma fehlt in A und B. Es findet sich jedoch in der 3. Auflage, 1922, entsprechend den Corrigenda in H u s s e r l s Handexemplar von B.

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hörigen und daher in seiner Zusammengehörigkeit auch zusammen zu Erforschenden. § 15. Normative Disziplin und Kunstlehre Das normative Interesse beherrscht uns naturgemäß besonders bei r e a l e n Objekten als Objekten p r a k t i s c h e r Wertungen; daher die unverkennbare Neigung, den Begriff der normativen Disziplin mit dem der praktischen Disziplin, der K u n s t l e h r e , zu identifizieren. Man sieht aber leicht, daß diese Identifizierung nicht zu Recht bestehen kann. Für S c h o p e n h a u e r , welcher in Konsequenz seiner Lehre vom angeborenen Charakter alles praktische Moralisieren grundsätzlich verwirft, gibt es keine Ethik im Sinne einer Kunstlehre, wohl aber eine Ethik als normative Wissenschaft, die er ja selbst bearbeitet. Denn keineswegs läßt er auch die moralischen Wertunterscheidungen fallen. – Die Kunstlehre stellt jenen besonderen Fall der normativen Disziplin dar, in welchem die Grundnorm in der Erreichung eines allgemeinen praktischen Zweckes besteht. Offenbar schließt so jede Kunstlehre eine normative, aber selbst nicht praktische Disziplin ganz in sich. Denn ihre Aufgabe setzt die Lösung der engeren voraus, zunächst, abgesehen von allem auf die praktische Erreichung Bezüglichen, die Normen zu fixieren, nach welchen die Angemessenheit an den allgemeinen Begriff des zu realisierenden Zieles, an das Haben der die bezügliche Klasse von Werten charakterisierenden Merkmale beurteilt werden kann. Umgekehrt erweitert sich jede normative Disziplin, in welcher sich die fundamentale Werthaltung in eine entsprechende Zwecksetzung verwandelt, zu einer Kunstlehre. § 16. Theoretische Disziplinen als Fundamente normativer Es ist nun leicht einzusehen, daß jede normative und a fortiori jede praktische Disziplin eine oder mehrere theoretische Disziplinen als Fundamente voraussetzt, in dem Sinne nämlich, daß sie einen von aller Normierung ablösbaren theoretischen Gehalt besitzen muß, der als solcher in irgendwelchen, sei es schon abgegrenzten oder noch zu konstituierenden, theoretischen Wissenschaften seinen natürlichen Standort hat. Die Grundnorm (bzw. der Grundwert, der letzte Zweck) bestimmt, wie

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wir sahen, die Einheit der Disziplin; sie ist es auch, die in alle normativen Sätze derselben den Gedanken der Normierung hineinträgt. Aber neben diesem gemeinsamen Gedanken der Abmessung an der Grundnorm besitzen diese Sätze einen eigenen, den einen vom anderen unterscheidenden theoretischen Gehalt. Ein jeder drückt den Gedanken einer abmessenden Beziehung zwischen Norm und Normiertem aus; aber diese Beziehung selbst charakterisiert sich – wenn wir von dem wertschätzenden Interesse absehen – objektiv als eine Beziehung zwischen Bedingung und Bedingtem, die in dem betreffenden normativen Satze als bestehend oder nicht bestehend hingestellt ist. So schließt z.B. jeder normative Satz der Form „Ein A soll B sein“ den theoretischen Satz ein „Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaffenheiten C“, wobei wir durch C den konstitutiven Inhalt des maßgebenden Prädikates „gut“ andeuten (z.B. die Lust, die Erkenntnis, kurz das durch die fundamentale Werthaltung im gegebenen Kreise eben als gut Ausgezeichnete). Der neue Satz ist ein rein theoretischer, er enthält nichts mehr von dem Gedanken der Normierung. Und umgekehrt, g i l t irgendein Satz dieser letzteren Form und erwächst als ein Neues die Werthaltung eines C als solchen, die eine normierende Beziehung zu ihm erwünscht sein läßt, so nimmt der theoretische Satz die ň ʼn ň normative Form an: „Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes 30, d.h. „Ein ʼn A soll B sein 29. Darum können auch selbst in theoretischen Gedankenzusammenhängen normative Sätze auftreten: das theoretische Interesse legt in solchen Zusammenhängen Wert auf den Bestand eines Sachverhaltes der Art M (etwa auf den Bestand der Gleichseitigkeit eines zu bestimmenden Dreiecks) und mißt daran anderweitige Sachverhalte (z.B. die Gleichwinkligkeit: S o l l das Dreieck gleichseitig sein, so muß es gleichwinklig sein), nur daß diese Wendung in den theoretischen Wissenschaften etwas Vorübergehendes und Sekundäres ist, da die letzte Intention hier auf den eigenen, theoretischen Zusammenhang der Sachen geht; bleibende Ergebnisse werden daher nicht in normative Form gefaßt, sondern in die Formen des objektiven Zusammenhanges, hier in die des generellen Satzes. Es ist nun klar, daß die theoretischen Beziehungen, die nach dem Erörterten in den Sätzen der normativen Wissenschaften stecken, ihren 30

Die Anführungszeichen fehlen in A.

Prolegomena zu einer reinen Logik

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logischen Ort haben müssen in gewissen theoretischen Wissenschaften. Soll die normative Wissenschaft also ihren Namen verdienen, soll sie die Beziehungen der zu normierenden Sachverhalte zur Grundnorm wissenschaftlich erforschen, dann muß sie den theoretischen Kerngehalt dieser Beziehungen studieren und daher in die Sphären der betreffenden theoretischen Wissenschaften eintreten. Mit anderen Worten: Jede normative Disziplin verlangt die Erkenntnis gewisser nicht normativer Wahrheiten; diese aber entnimmt sie gewissen theoretischen Wissenschaften oder gewinnt sie durch Anwendung der aus ihnen entnommenen Sätze auf die durch das normative Interesse bestimmten Konstellationen von Fällen. Dies gilt natürlich auch für den spezielleren Fall der Kunstlehre und offenbar noch in erweitertem Maße. Es treten die theoretischen Erkenntnisse hinzu, welche die Grundlage für eine fruchtbare Realisierung der Zwecke und Mittel bieten müssen. Noch eines sei im Interesse des Folgenden bemerkt. Natürlich können diese theoretischen Wissenschaften in verschiedenem Ausmaße Anteil haben an der wissenschaftlichen Begründung und Ausgestaltung der bezüglichen normativen Disziplin; auch kann ihre Bedeutung für sie eine größere oder geringere sein. Es kann sich zeigen, daß zur Befriedigung der Interessen einer normativen Disziplin die Erkenntnis gewisser Klassen von theoretischen Zusammenhängen i n e r s t e r L i n i e erforderlich, und daß somit die Ausbildung und Heranziehung des theoretischen Wissensgebietes, dem sie angehören, für die Ermöglichung der normativen Disziplin geradezu entscheidend ist. Andererseits kann es aber auch sein, daß für den Aufbau dieser Disziplin gewisse Klassen theoretischer Erkenntnisse zwar nützlich und evtl. sehr wichtig, aber doch nur von sekundärer Bedeutung sind, sofern ihr Wegfall den Bereich dieser Disziplin einschränken, jedoch nicht ganz aufheben würde. Man denke beispielsweise an das Verhältnis zwischen bloß normativer und praktischer Ethik.* Alle die Sätze, welche auf die Ermöglichung der praktischen Realisierung Bezug haben, berühren nicht den Kreis der bloßen Normen ethischer Wertung. Fallen diese Normen weg bzw. die ihnen zugrunde liegenden theoretischen Erkenntnisse, so gibt es keine Ethik überhaupt; entfallen jene ersteren Sätze, so gibt es nur keine Möglichkeit ethischer *

Vgl. oben § 15.

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Praxis bzw. keine Möglichkeit einer Kunstlehre vom sittlichen Handeln. Mit Beziehung auf derartige Unterschiede soll nun die Rede von den w e s e n t l i c h e n theoretischen Fundamenten einer normativen Wissenschaft verstanden werden. Wir meinen damit die für ihren Aufbau schlechterdings wesentlichen theoretischen Wissenschaften, eventuell aber auch die bezüglichen Gruppen theoretischer Sätze, welche für die Ermöglichung der normativen Disziplin von entscheidender Bedeutung sind.

MAX SCHELER VOM WESEN DER PHILOSOPHIE UND DER MORALISCHEN BEDINGUNG DES PHILOSOPHISCHEN ERKENNENS Die Frage nach dem Wesen der Philosophie ist nicht aus menschlicher Unzulänglichkeit, sondern aus der Natur der Sache selbst heraus mit Schwierigkeiten behaftet, die unvergleichbar sind mit den gleichfalls nicht geringen Schwierigkeiten, die sich bei den Versuchen einer genauen Umgrenzung der Gegenstände der verschiedenen positiven Wissenschaften einzustellen pflegen. Denn wie schwer es immer sein mag, z.B. die Physik von der Chemie scharf zu scheiden (besonders seit eine physikalische Chemie existiert), oder gar zu sagen, was Psychologie sei, so ist es doch hier wenigstens sachlich möglich und gefordert, bei allen Zweifeln auf philosophisch geklärte Grundbegriffe zurückzugreifen, auf Begriffe wie Materie, Körper, Energie, resp. „Bewußtsein“, „Leben“, „Seele“, d. h. auf Begriffe, welche in ihrem letzten Gehalte aufzuklären selbst noch ein zweifelloses Geschäft der Philosophie ist. Die Philosophie dagegen, die sich durch die Frage nach ihrem Wesen gleichsam selbst erst zu konstituieren hat, vermag nichts Ähnliches, sofern sie nicht bereits auf den besonderen Lehrgehalt einer bestimmten Abart des von ihr gesuchten Wesens der Philosophie, also auf eine bestimmte philosophische Lehre oder ein sog. philosophisches „System“, zurückzugreifen sich anschickt – hierdurch aber in eine Art Zirkel gerät. Denn schon ob jener Lehrinhalt auch ein philosophischer ist – nicht nur ob er auch wahr sei und der Kritik standhalte –, das setzt zur Entscheidung ja eben zu wissen voraus, was Philosophie sei und was ihr Gegenstand. Auch der Rückgang auf die Geschichte der Philosophie, der ohne bewußten oder halbbewußten Rekurs auf eine schon gegebene Wesensidee der Philosophie zunächst ja nur das eine zeigen könnte, was alles von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten „Philosophie“ genannt worden ist und was diesen verschiedenen

Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie. Der philosophische Aufschwung und die moralischen Vorbedingungen“, in: Scheler, Max, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 63-99.

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Geistesprodukten an gemeinsamen Merkmalen zukommen möchte, überhebt die Philosophie nicht der Aufgabe, die ich ihre Selbstkonstitution genannt habe. Nur eine gewisse Bewährung und Exemplifizierung der durch diese Selbstkonstitution schon gefundenen Selbsterkenntnis ihres eigentümlichen Wesens – eine Bewährung und Exemplifizierung, die sich darin verraten müßte, daß die grundverschiedenen, je Philosophie genannten Unternehmungen unter dem Lichte der gewonnenen Selbsterkenntnis einen einheitlichen Sinn und einen sinnvollen sachlichen und historischen Entfaltungszusammenhang erst annehmen – kann von solcher historischen und systematischen Erkenntnis der Philosophie der Vergangenheit mit Grund erwartet werden. Die Aufgabe, die ich Selbsterkenntnis des Wesens der Philosophie durch die Philosophie nannte, leuchtet in ihrer Eigenart auch dadurch ein, daß die Philosophie, ihrer Wesensintention nach, auf alle Fälle die voraussetzungslose Erkenntnis – oder sagen wir, um keine philosophische Entscheidung nach wahr und falsch vorauszunehmen – die sachlich möglichst voraussetzungslose Erkenntnis herstellen soll. Dies alles besagt, daß sie weder Geschichtserkenntnis (also auch nicht die Erkenntnis der Geschichte der Philosophie), noch irgendwelche Erkenntnis der sog. „Wissenschaften“ oder gar einer einzelnen von ihnen, noch die Erkenntnisweise (und Einzelinhalte) der natürlichen Weltanschauung, noch Offenbarungserkenntnis als wahre voraussetzen darf, wie sehr auch alle diese Erkenntnisarten und Erkenntnisstoffe von einer Seite her – einer Seite, die sie in ihrer Selbstkonstitution erst selbst eruiert – in das Gebiet ihrer zu erfassenden Gegenstände fallen (z.B. Wesen der Geschichtserkenntnis, Wesen der historischen Philosophiewissenschaft, Wesen der Offenbarungserkenntnis, Wesen der natürlichen Weltanschauung). Vorgegebene Philosophien, die schon in der Intention ihrer Träger, der betreffenden „Philosophen“, solche Voraussetzungen machen, verfehlen sich also schon gegen das erste Wesensmerkmal der Philosophie, daß sie voraussetzungsloseste Erkenntnis sei – dies wenigstens dann, wenn es nicht ein in der Intention voraussetzungslosester Erkenntnis selbst schon gewonnenes besonderes Resultat eben dieser Erkenntnis ist, daß Philosophie in ihrer Arbeit solche Voraussetzungen bestimmter Art zu machen habe. Diese wesenswidrigen Philosophieversuche mögen schon hier besondere Namen finden. Sie sind, je nachdem sie Geschichtserkenntnis von irgendeinem

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Punkte als wahr voraussetzen, „Traditionalismus“; wenn Wissenschaftserkenntnis, heißen sie: „Scientifismus“, wenn Offenbarungserkenntnis: „Fideismus”, wenn Ergebnisse der natürlichen Weltanschauung: „Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes“. Eine Philosophie dagegen, die sich wahrhaft voraussetzungslos selbst konstituiert und diese Fehler vermeidet, werde ich in folgendem die autonome, d.h. die ihr Wesen und ihre Gesetzlichkeit ausschließlich durch sich selbst und in sich selbst und ihrem Bestande suchende und findende Philosophie nennen. 1. DIE AUTONOMIE DER PHILOSOPHIE Ein Vorurteil erkenntnistheoretischer Art ist in der neueren Zeit so allgemein geworden, daß es als Vorurteil kaum mehr empfunden wird. Es besteht in der Meinung, es sei leichter, ein Sachgebiet oder eine „Aufgabe“ zu umgrenzen, als den Persontypus anzugeben oder doch diesen Typus im einzelnen zu erkennen, der für dieses Sachgebiet und diese Aufgabe die echte Kompetenz besitze – und zwar schon für deren Bestimmung und Umgrenzung, nicht nur für ihre Bearbeitung und Lösung. Wenn man etwa sagen wollte, Kunst sei, was der wahre Künstler hervorbringe, Religion, was der wahre Heilige erlebe, darstelle, predige, Philosophie aber sei die Bezogenheit zu den Dingen, die der wahre Philosoph besitze und in der er die Dinge betrachte, so muß man fürchten, von vielen verlacht zu werden. Und doch bin ich überzeugt, daß zum mindesten heuristisch – von der sachlichen Folgeordnung der Fragen also abgesehen – dieser Weg der Sachgebietsbestimmung über den Persontypus hinweg sowohl sicherer als eindeutiger in seinen Resultaten ist, als jedes andere Verfahren. Wie viel leichter vermögen wir uns einig darüber zu werden, ob dieser und jener Mensch ein wahrer Künstler ist, dieser oder jener ein wahrer Heiliger, als darüber, was Kunst sei und was Religion? Wenn wir aber so viel leichter und sicherer hierüber einig werden können, so muß uns bei diesen einzelnen Entscheidungen, ob dieser oder jener, z.B. Platon, Aristoteles, Descartes, ein „wahrer Philosoph“, sei, doch irgend etwas leiten, das sicher kein empirischer Begriff ist – denn dessen mögliche Geltungsweite und dessen Sphäre möglicher Abziehung gemeinsamer Merkmale ist ja hier erst gesucht. Und dieses Leitende ist sicher kein irgendwie beschaffener Begriff des Sachgebietes, über das ja die Uneinigkeit und das Schwanken

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so viel größer ist und das gleichfalls erst aus dem Typus seines echten Verwalters soll gefunden werden. Dieses Etwas aber kann nichts anderes sein als die uns für unser urteilsmäßiges und begriffliches Bewußtsein dabei noch verborgene Idee einer gewissen gesamtmenschlichen, an erster Stelle geistigen Grundhaltung zu den Dingen, welche Haltung uns in der Seinsform der Personalität so vor dem Auge des Geistes schwebt, daß wir wohl Erfüllung und Abweichung seitens eines Gegenstandes noch konstatieren können, ohne sie doch selbst in ihrem positiven Inhalte zu sehen. Freilich: Wir bemerken auch sofort, daß dieses Verfahren des Denkens, die Natur eines Sachgebietes oder einer sog. Aufgabe an erster Stelle nicht aus ihnen selbst heraus, sondern durch Vorentscheidung der Beschaffenheit solcher persönlichen Grundhaltung zu finden – nicht aus den Werken, sondern an den Werken, z.B. der Philosophen – ganz bestimmte Grenzen seiner Anwendung besitzt. Ganz unmöglich können wir z.B. so auch finden wollen, was das Gebiet der Physik oder der Zoologie sei usw. Nur für jene schlechthin autonomen, weder durch empirisch abgrenzbare Gegenstandsreihen, noch durch einen bestimmten menschlichen Bedarf, der vor Einnahme dieser Haltung und der aus ihr entspringenden Tätigkeit schon bestünde und Deckung und Leistung forderte, zu definierenden Seins- und Wertregionen ist dieses Verfahren möglich, sinnvoll und heuristisch notwendig. Sie bilden ein ausschließlich je in sich selbst bestehendes Reich. Und darum wird die erwiesene Möglichkeit, das Sachgebiet der Philosophie von der Aufdeckung jener „Idee“ her zu finden, die uns gewisse Menschen Philosophen nennen läßt, auch wieder eine rückwärtige Befestigung ihrer Autonomie sein müssen. Hüten wir uns aber schon hier vor einem Mißverständnis, das heutigen üblen Denkgewohnheiten naheliegt. Es bestünde in der vorweggenommenen Meinung, daß – wenn das angegebene Verfahren möglich und notwendig ist – die Philosophie ein eigenes Sachgebiet, eine besondere Gegenstandswelt überhaupt nicht zu eigen haben könne, daß sie also nur eine besondere Erkenntnisart aller möglichen, und das heißt auch ebenderselben Gegenstände sein müsse, mit denen es z.B. auch die Wissenschaften zu tun hätten, nur eben von einem anders gewählten subjektiven Gesichtspunkt aus; so wie etwa heute manche Forscher (irrtümlich, wie mir scheint) vermeinen, es sei die Einheit

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der Psychologie nicht in einer eigenen Tatsachenwelt, sondern nur in der Einheit eines „Gesichtspunktes der Betrachtung“ aller möglichen Tatsachen beschlossen (z.B. W. Wundt). Gewiß! Es könnte so sein, es könnte solche Möglichkeit stattfinden aber es muß keineswegs so sein. Jedenfalls präjudiziert der gewählte Ausgangspunkt der Untersuchung des Wesens der Philosophie darüber noch gar nichts. Denn es könnte ebensowohl sein, daß die idealtypische Einheit der Geisteshaltung, die uns leitet, wenn wir je entscheiden, was ein Philosoph sei, zwar den wesenhaft notwendigen subjektiven Zugang, aber auch nur den Zugang und Weg ausmachte zu einer besonderen Gegenstands- und Tatsachenwelt – d.h. zu einer solchen Welt von Tatsachen, die es sich nun einmal gestattet, nur in dieser und keiner anderen Geisteshaltung dem erkennenden Menschen zu erscheinen und die, obzwar wir uns heuristisch ihres Wesens und ihrer Einheit erst durch die Umgrenzung jener Geisteshaltung zu bemächtigen suchen, gleichwohl von dieser Haltung so unabhängig existiert wie vom Fernrohr der erscheinende Stern, den wir mit unbewaffneten Augen nicht wahrnehmen. Nur dies allerdings steht dabei a priori fest, daß es nicht empirisch abgrenzbare und per species et genus proximum definierbare Gegenstandsgruppen und -arten sein können, welche den eigenartigen „Gegenstand“ der Philosophie bilden, sondern nur eine ganze Welt von Gegenständen, deren mögliche Einschau an jene Haltung und die ihr immanenten Erkenntnisaktarten wesensmäßig geknüpft ist. Was ist die Natur dieser „Welt“? Welches sind die ihr entsprechenden Erkenntnisaktarten? Um diese Fragen zu beantworten, ist jene philosophische Geistes-Haltung, die uns dunkel vorschwebt, wenn wir sagen sollen, ob ein X wohl ein Philosoph sei, zu erhellen. 2. DIE PHILOSOPHISCHE GEISTESHALTUNG (ODER DIE IDEE DES PHILOSOPHEN) Die größten Alten besaßen den vorhin getadelten Pedantismus noch nicht, die Philosophie, sei es als Deckung eines zuvor gegebenen Bedarfs irgendeiner sozialen Organisation, oder als allen leicht aufweisbares, im Gehalt der natürlichen Weltanschauung mithin schon als gegeben vorausgesetztes Sachgebiet zu definieren. So sehr sie – im Gegensatz zu

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den Modernen – in einem bestimmten Reiche des Seins den Gegenstand der Philosophie entdeckten, nicht wie die wesentlich „erkenntnistheoretisch“ gewandte Philosophie der Neuzeit in der Erkenntnis des Seins, so wußten sie doch, daß die mögliche Berührung des Geistes mit diesem Seinsreiche an einen bestimmten Aktus der ganzen Persönlichkeit geknüpft sei, an einen Aktus, der innerhalb der Einstellung der natürlichen Weltanschauung dem Menschen fehlt. Dieser Aktus – der hier genauer zu erforschen ist – war den Alten zunächst ein Aktus moralischer, aber darum noch nicht einseitig willensmäßiger Natur. Er erschien ihnen als ein Aktus, in dem nicht etwa ein zuvor ins Auge gefaßter positiver Zielinhalt erreicht oder gar ein sog. „Zweck“ praktisch verwirklicht werden wollte, sondern durch den eine im Stande aller natürlichen Weltanschauung wesenhaft liegende Hemmung des Geistes, mit dem Reiche des eigentlichen Seins als Seins der Philosophie in möglichen Kontakt zu kommen, vorerst beseitigt werden sollte – ein Aktus, durch den eine diesem Stande konstitutiv eignende Schranke gesprengt, ein jenes Sein verhüllender Schleier vom Auge des Geistes gehoben werden sollte. Platon wird nicht müde, überall da, wo er den Lehrling zum Wesen der Philosophie hinführen will, diesen Aktus immer aufs neue und in immer neuen Wendungen in seinem Wesen zu erleuchten. Er nennt ihn so plastisch als tiefsinnig die „Bewegung der Flügel der Seele“, anderen Ortes einen Akt des Aufschwungs des Ganzen und des Kernes der Persönlichkeit zum Wesenhaften – nicht als ob dieses „Wesenhafte“ ein besonderer Gegenstand neben den empirischen Gegenständen wäre, sondern zum Wesenhaften in allen möglichen besonderen Dingen überhaupt. Und er charakterisiert die Dynamis im Kerne der Person, die Spannfeder, das Etwas in ihr, das den Aufschwung zur Welt des Wesenhaften vollzieht, als die höchste und reinste Form dessen, was er „Eros“ nennt, d.h. als das, was er später – hier freilich schon das Resultat seiner Philosophie voraussetzend – als die allem unvollkommenen Sein einwohnende Tendenz oder Bewegung zum vollkommenen Sein oder des +÷ ùi zum ùiotn ùi genauer bestimmt. Schon der Name der „Philosophie“ als der Liebe zum Wesenhaften – sofern das von dieser Bewegung des Eros zum vollen Sein emporgetragene X nicht irgendein beliebiges Seiendes, sondern der spezielle Fall einer Menschenseele ist – trägt noch heute das feste und unverwischbare Gepräge dieser platonischen Grundbestimmung. Ist schon

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diese nähere Bestimmung der höchsten Form der Liebe als Tendenz des Nichtseins zum Sein mit dem speziellen Inhalt der platonischen Lehre zu sehr behaftet, als daß wir sie hier zugrunde legen dürften, so sind dies noch mehr diejenigen platonischen Charakteristiken dieses den Philosophen konstituierenden Aktus, die ihn als bloßen Kampf, Streit, Gegensatz gegen den Leib und alles Leben in Leib und Sinnen charakterisieren. Sie führen schließlich dazu, das Ziel des Aktus, nämlich den Stand der Seele, vor dem sich erst der Gegenstand der Philosophie dem Geistesauge auftut, nicht in einem ewigen Leben des Geistes im „Wesenhaften“ aller Dinge, sondern in ewigem Absterben zu sehen. Denn diese weiteren Bestimmungen setzen bereits die rationalistische platonische Theorie und die (nach unserer Meinung falsche) Auffassung Platons voraus, es sei 1. alle anschauliche, d.h. nicht begriffsmäßige Erkenntnis auch notwendig sinnlich und in der spezifischen subjektiven Sinnes-Organisation des Menschen (Subjektivität aller Qualitäten) bedingt, 2. es sei nicht nur ein solcher Hang unserer leiblichen Natur, sondern diese Natur selbst in ihrer Grundartung das in der „Teilnahme am Wesenhaften“ zu Überwindende. D.h. Platon setzt, wenn er das Leben des Philosophen ein „ewiges Sterben“ nennt, den aus dem Rationalismus seiner Erkenntnislehre folgenden Asketismus schon voraus. Ja diese Askesis wird ihm die für den Philosophen erkenntnisdisponierende Haltung und Lebensform; ohne sie ist philosophisches Erkennen unmöglich. Halten wir uns darum hier, wo wir es mit dem Wesen der Philosophie – nicht mit dem Eigengehalt der platonischen Lehre – zu tun haben, nur an die beiden Grundbestimmungen Platons, in denen er für alle Zeiten das Tor zur Philosophie dem Menschen aufgeschlossen hat: es bedürfe 1. eines Gesamtaktes des Kernes der Person, der in der natürlichen Weltanschauung und allem in ihr noch fundierten Wissensverlangen nicht enthalten sei, um auch nur den Gegenstand der Philosophie vor das Geistesauge zu bringen, und 2. es sei dieser Aktus in einem Akt vom Wesen einer bestimmt charakterisierten Liebe fundiert. Dann dürfen wir – noch ehe wir diesen Aktus selbständig charakterisieren – das Wesen der Geisteshaltung, die jedenfalls allem Philosophieren formell zugrunde liegt, einstweilen definieren als: Liebesbestimmter Aktus der Teilnahme des Kernes einer endlichen Menschenperson am Wesenhaften aller möglichen Dinge. Und ein Mensch

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vom Wesenstypus des „Philosophen“ ist ein Mensch, der diese Haltung zur Welt einnimmt und soweit er sie einnimmt. Ist aber damit die allgemeine philosophische Geisteshaltung auch schon zureichend bestimmt? Ich sage: nein. Denn es fehlt noch ein Moment, das der Philosophie und dem Philosophen abzustreiten ganz unmöglich ist. Es besteht darin, daß Philosophie Erkenntnis ist und der Philosoph ein Erkennender. Die Frage, ob diese Grundtatsache den Philosophen ziere oder nicht; ob sie gar ihm und seiner Tätigkeit den höchsten Wesens-Rang menschlichen möglichen Daseins verleihe, oder nur einen irgendwie untergeordneteren Rang irgendwelcher Stufe ihm erteile, ist eine Frage zweiter Linie. Auf alle Fälle ist Philosophie Erkenntnis. Gäbe es also eine Teilnahme des Seinskernes einer endlichen Menschenperson am Wesenhaften, die etwas anderes als „Erkenntnis“ wäre, oder eine Teilnahme, die über die Erkenntnis des Seienden noch hinausreichte, so folgte nicht, es sei der Philosoph kein Erkennender, sondern es sei Philosophie eben überhaupt nicht die unmittelbarste Teilnahme, die dem Menschen am Wesenhaften vergönnt ist. In diesem methodischen Sinne ist also jede mögliche Philosophie „intellektualistisch“ – was immer auch ihr inhaltliches Resultat sei. Ganz gewiß liegt es ausschließlich an dem Gehalte der Sachwesenheiten und an ihrer Ordnung, schließlich an dem Gehalte eines Wesens, das wir hier das Urwesen aller Wesen uns zu nennen gestatten, ob es gerade die Philosophie, und das heißt, ob es spontane, vom menschlichen Subjekt ausgehende Erkenntnis sei, der wesensmöglich diese innigste und letzte „Teilnahme“ zukommen kann. Denn nach dem Gehalte des Urwesens richtet sich naturgemäß auch die Grundform des Teilnehmens an ihm. Der Orphiker, dem das im Seelenstande der Ekstasis „Gegebene“ ein chaotisches ungegliedertes schöpferisches Alldrängen war, mußte natürlich leugnen, daß der Philosophie als einer apollinischen Kunst diese Teilnahme zukomme. Für ihn war nicht Erkenntnis, sondern der dionysische Rausch die Methodos zur letzten Teilnahme am Urwesen. Ist der Urgehalt ein All-drängen, so kann eben nur ein Mit-drängen, ist er ein ewiges Sollen – wie Fichte lehrt – , so kann nur Mit-sollen, ist er eine All-liebe im johanneisch-christlichen Sinne, so kann nur ein ursprüngliches Mit-lieben mit dieser All-liebe, ist er ein All-leben (im Sinne etwa von Bergsons „élan vital“), so könnte nur ein ein- und mit-fühlendes Mit-leben oder ein Herausleben des Menschen aus

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diesem Alleben zu den Dingen als den Übergangsgestalten dieses „Lebens“ hin die rechte Methodos zur unmittelbarsten Teilnahme sein. Ist das Urwesen im altindischen Sinne ein all-träumendes Brahman, so wird unser Mit-träumen die tiefste und letzte Teilnahme sein, ist es – in Buddhas Sinn – ein Unwesen oder das Nichts, so nur die eigene Seinsaufhebung in einem absoluten Tode – das „Eingehen in Nirwana“. Aber auch, wenn einer dieser Fälle oder ein analoger Fall gälte – so würde nie und nimmer folgen, es sei Philosophie etwas anderes als Erkenntnis, d.h. als diejenige besondere Artung von Teilnahme am Wesenhaften, die Erkenntnis heißt. Der Philosoph qua Philosoph könnte – wenn er zu einem dieser Resultate käme – nur ganz am Ende seines Weges, an dem er das Wesenhafte sozusagen noch wie am anderen Ufer liegen sähe, aufhören, Philosoph zu sein; nicht aber könnte er der Philosophie eine andere Aufgabe als Erkenntnis setzen. Und immer erst nach dem Stattfinden einer so nichterkenntnismäßigen Teilnahme am Wesenhaften könnte der Philosoph im reflektiven Rückblick auf den Weg, auf dem er zu dieser Teilnahme gelangte, diesen Weg durch Angabe einer inneren Technik zur „Teilnahme“ schildern. Wer also diesem formalen „Intellektualismus“ der Philosophie entrinnen will, der weiß selbst nicht, was er will. Man könnte ihm nur sagen, er habe eben seinen Beruf verfehlt; er habe aber kein Recht, aus der Philosophie und dem Philosophen etwas anderes zu machen, als sie sind. Aber genau so unsinnig, wie den formalen Intellektualismus der Philosophie zu leugnen, wäre das umgekehrte Verfahren, aus ihm irgend etwas gewinnen oder schließen zu wollen über den materialen Gehalt des Wesenhaften, an dem der Philosoph ursprünglich eine Teilnahme sucht. Denn so sicher der Philosoph an die Teilnahme am Wesenhaften durch Erkenntnis (oder soweit es durch Erkenntnis möglich ist) gebunden ist, so sicher ist das Urwesen nicht a priori verpflichtet, dem Erkennenden qua Erkennenden letzte Teilnahme zu gewähren. Denn die Art der Teilnahme richtet sich ausschließlich nach dem Wesensgehallt des Urwesens – nicht aber nach der Wesenhaftigkeit des Gehalts. Der heute vielbeliebte Schluß vom methodischen Intellektualismus der Philosophie auf den Satz, es sei auch ihr Gegenstand das Erkennbare oder die mögliche „Erkenntnis“ der Welt, ist also ein ganz unsinniger. Es wäre auch ganz falsch, zu meinen, daß irgendein logischer, theoretischer Grund für die These vorliege,

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Philosophie habe es von Hause aus nicht mit dem Wesenhaften der Dinge, sondern mit der Erkenntnis der Dinge qua Erkenntnis zu tun, und es sei alles mögliche andere an den Dingen ein bloßer „Rest“, der den Philosophen „nichts angehe“. Nicht ein logischer, sondern ein moralischer Grund, das moralische Laster des Hochmutes der philosophierenden gelehrten Person ist es, was den Schein hervorruft, es sei schon a priori ausgeschlossen, daß der methodisch streng intellektualistische Gang der Philosophie (nach moralischer Besiegung der natürlichen Erkenntnis-Hemmung) zu einem solchen Material des Wesenhaften hinführen könne, das aus seiner Natur heraus als den letzten Aktus des Philosophen eine selbst noch autonom philosophische und „freie“ Selbstbegrenzung der Philosophie als Philosophie überhaupt erfordere; daß also der Gehalt des Urwesens schließlich eine andere, ihm angemessenere Form der Teilnahme notwendig machen könne als die philosophische Erkenntnishaltung. Es kann also sehr wohl sein, daß sich der Philosoph gerade in strengster Konsequenz seines Philosophierens einer anderen und höheren Teilnahmeform am Wesenhaften frei und autonom unterordnen muß; ja daß der Philosoph sich selbst als Philosophen, wie die philosophierende Vernunft überhaupt, der vom Gehalt des Urwesens selbst geforderten nichtphilosophischen Art der Teilnahme zum freien Opfer darbringe. Weit entfernt, daß der Philosoph dadurch sein methodisches autonomes Erkenntnisprinzip plötzlich aufgäbe und verließe oder vor etwas Außerphilosophischem gleichsam kapitulierte, wäre es – bei solchem Ergebnis seiner Philosophie – sogar nur die letzte Konsequenz dieses Erkenntnisprinzips selbst, sich samt seinem methodischen Prinzip dem Sachgehalte des von ihm erkannten Wesenhaften unterzuordnen oder es gegenüber der für diesen Gehalt allein angemessenen Form der Teilnahme frei zu opfern. Ja der Vorwurf der philosophischen Heteronomie und des Vorurteils resp. der mangelnden „Voraussetzungslosigkeit“ fiele umgekehrt jenen zur Last, die diesen Akt des Opfers, ganz unangesehen des positiven Gehaltes des Wesenhaften und des Urwesens aller Dinge, auf alle Fälle nicht zu vollziehen sich durch ein bloßes „fiat“ ihres Wollens von vornherein entschlossen hätten. Denn ganz willkürlich setzten jene ja schon voraus, daß das Urwesen einen solchen Gehalt habe, daß es durch sein mögliches Gegenstand-Sein (im Unterschiede z.B. zu seinem möglichen Aktsein) auch zur vollen Teilnehmung gebracht werden könne. Das Sein der

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Gegenstände (und der Nichtgegenstände) und das Gegenstandsein des Seins, des letzteren Möglichkeitsgrenzen auch a priori Möglichkeitsgrenzen der Erkenntnis sind, haben wir aber aufs allerschärfste zu unterscheiden. Das Sein kann ja viel weiter reichen als das gegenstandsfähige Sein. Nur wenn das Sein des Wesenhaften – und vor allem des Urwesens – seinem Gehalt nach gegenstandsfähig ist, so wird auch Erkenntnis die ihm adäquate Form möglicher Teilnahme von ihm sein; und Philosophie wird sich in diesem Falle nicht im obigen Sinne selbst zu begrenzen haben. Daß das aber a priori sein müßte, wäre ein pures Vorurteil, eine gerade alogische „Voraussetzung“ und jeder Philosophie, die diese Voraussetzung macht, müssen wir das Prädikat echter Autonomie und Voraussetzungslosigkeit radikal absprechen. Schon hier sei ein Beispiel gegeben, das uns noch mehr wie ein Beispiel bedeuten kann. Die großen Väter der europäischen Philosophie, Platon und Aristoteles, waren mit Recht von der Idee des Zieles der Philosophie als einer Teilnahme des Menschen am Wesenhaften ausgegangen. Da das Ergebnis ihrer Philosophie das Urwesen als ein mögliches Gegenstand-sein und damit als ein mögliches Korrelat der Erkenntnis bestimmte, so mußten sie auch in der Erkenntnis (oder einer bestimmten Art von Erkenntnis) die abschließende Teilnahme am Wesenhaften als für den Menschen erreichbar ansehen. Und zwar durch spontane Akte des Geistes. Sie konnten demgemäß konsequent nicht anders als im „Philosophos“, im „Weisen“, die höchste und vollkommenste Form des Menschseins überhaupt erblicken. Eben darum hatten sie auch keinen Grund, einen die Philosophie selbst wesensmäßig begrenzenden Aktus am Schlusse ihres Philosophierens zu vollziehen. Selbst ihre Gottesidee mußte sich in der Idee eines unendlichen Weisen oder eines „unendlichen Wissens des Wissens“ (Aristoteles) für sie darstellen. Völlig anders – und zwar gerade aus dem philosophischen Prinzip der großen Alten selbst heraus und kraft eben seiner Konsequenz – mußte es werden, wenn – sei es mit Recht oder Unrecht – zu Beginn der christlichen Epoche der Gehalt des Urwesens als ein unendlicher Aktus schöpferischer und barmherziger Liebe angesehen und erlebt wurde. Denn unter derselben Voraussetzung, es sei Philosophie ihrem Ziele nach 1. eine Teilnahme am Sein des Urwesens, 2. sie sei wesenhaft Erkenntnis, konnte bei diesem materialen Ergebnis Philosophie, und zwar Philosophie in ihrer

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Eigenschaft als Erkenntnis, aus der Natur der Sache heraus ihr autonom gesetztes Ziel nicht mehr erreichen. Denn Teilnahme des Menschen an einem Sein, das nicht Gegenstandsein, sondern Aktussein ist, kann auch nur Mitvollzug dieses Aktus sein und schon darum nicht Erkenntnis von Gegenständen; und es muß zweitens diese Teilnahme sich in einem Hineinstellen des persönlichen Aktzentrums des Menschen, soweit dieses Zentrum primär Liebeszentrum ist – nicht also Erkenntniszentrum – in jenes wesenhafte Ursein als eines unendlichen Liebesaktus, also als ein Mit-lieben mit ihm schon vollendet haben, wenn Philosophie ihre Wesensart der Teilnehmung, eben die durch Erkenntnis, auch erreichen, ja dem Urwesen gegenüber sogar allererst beginnen will. Es mußte also die strenge logische Folge sein, daß – unter dieser Voraussetzung über den Gehalt (Liebe) und über die Seinsweise des Urwesens (Aktus) – die Philosophie kraft ihres eigenen Prinzips sich selber frei und autonom selbst begrenzte und gegebenenfalls sich selbst und ihre Erkenntnisquelle, die Vernunft, einer anderen Wesensform der Teilnehmung am Urwesen auch frei und autonom zum Opfer darbrachte; d.h. die Philosophie mußte sich frei und autonom selbst als „ancilla des Glaubens“1, nicht des Glaubens als subjektiven Aktes, aber des Glaubens als objektiven Gehaltes, bekennen, da der Glaube an die Worte Christi als der Glaube an die Worte der Person, in der man die letzte adäquateste Einigung und Teilnahme mit dem Urwesen dieses neuen Gehaltes annahm, als ein unmittelbarerer und dem Gehalte wie der Seinsform dieses Urwesens angemessenerer angesehen werden mußte als die Teilnehmung durch Erkenntnis. Die Philosophie konnte sich – wenn der Philosoph überhaupt die Wahrheit dieser christlichen Urwesensbestimmung anerkannte – nur als vorläufigen Weg für eine ganz andere Art der Teilnehmung ansehen – methodisch nicht anders, wie sie dies ja auch müßte, wenn Fichtes Lehre vom unendlichen Sollen oder Bergsons Lehre vom élan vital wahr wären. Und demgemäß mußte der Rang des Philosophos oder des Weisen vor dem Range des Heiligen an die zweite Stelle rücken, und der Philosoph bewußt sich dem Heiligen unterordnen – nicht anders, wie der Philosoph sich unter der 1

Nicht notwendig als „ancilla theologiae“ Denn der Theologe verhält sich zum Heiligen so, wie der Philosophiewissenschaft Betreibende (Philosophiegelehrte) zum Philosophen.

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kantischen2 Voraussetzung eines sog. Primates der praktischen Vernunft dem moralischen Exempel des praktisch Weisen, unter Fichtes Voraussetzung sogar dem sittlich-praktischen Reformator, unter Bergsons Voraussetzung dem sich ein- und mit-fühlenden Zuschauer des universellen Lebensschrittes unterordnen, sein freier Diener (ancilla) sein, ja sogar je seine oberste Quelle aller materialen Daten für sein philosophisches Denken in diesen Typen achten mußte – Daten, die seiner „Erkenntnis“ so „gegeben“ sind, wie das Gegebene der Wahrnehmung zufälligen Seins dem Denken in der natürlichen Weltanschauung „gegeben“ ist. Selbstverständlich behielt (in unserem Beispiel) die Philosophie jene alte Würde, die sie bei Platon und Aristoteles besitzt – die Würde, nicht „eine Wissenschaft“ sondern die autonome Königin der Wissenschaften zu sein –, auch in diesem neuen Stande der christlichen Epochen durchaus bei. Aber es wuchs ihr zu dieser alten Würde der regina scientiarum noch die – unter Voraussetzung der Wahrheit der neuen Wesensbestimmung des Urwesens – neue und selbstverständlich weit erhabenere und jenes Königtum noch überragende Würde hinzu, auch noch “ancilla” d.h. die gemäß dem Bibelworte „Selig die (freiwillig) Armen am Geiste“ (makárioi o° ptwcoì tÖ pneúmati) freiwillige Dienerin und (sachlich) Vorstufe des Glaubens (praeambula fidei) zu sein. Dieser Schritt freiwilliger und sach-notwendiger philosophischer Selbstbegrenzung der Philosophie war hierbei nur die letzte und äußerste Verwirklichung ihrer wahren Autonomie, war also das genaue Gegenteil der Einführung eines heteronomen Prinzips, das die Philosophie von außen her begrenzt; war auch das Gegenteil jener anderen Begrenzung, welche die Philosophie nach den möglichen Gegenständen der Erkenntnis hin begrenzt hätte (etwa im kantschen Sinne gegen ihre Dingansichseite hin im Gegensatz zur Erscheinungsseite, oder gar in einem agnostischen Sinne). Im Gegenteil galt innerhalb der gesamten Epoche der europäisch-christlichen Philosophie die Philosophie nach der Gegenstandsseite hin überhaupt für unbegrenzt, indem sie ja den Anspruch erhob, Metaphysik zu sein und alles Seiende aus seinen letzten Gründen und Wurzeln zu erkennen.

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Kant unterscheidet daher logisch notwendig zwei Definitionen der Philosophie, ihren „Weltbegriff“ und ihren „Schulbegriff“.

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Man weiß nun freilich, daß die innere Selbstentfaltung der sog. „neueren Philosophie“ bis zur Gegenwart (freilich in sehr verschieden großen Schüben) schließlich zu einem Zustande geführt hat, der ungefähr das genaue Gegenteil von dem darstellt, was in dem Doppelanspruch der älteren Idee von Philosophie – der Idee, gleichzeitig freie Dienerin des Glaubens (als ihrer höchsten Würde) und Königin der Wissenschaften zu sein (als ihrer zweithöchsten Würde) – ausgedrückt war. Von einer „freien Magd“ des Glaubens wurde sie auf weiten Strecken Usurpatorin des Glaubens, gleichzeitig aber zur ancilla scientiartim, letzteres in verschiedenem Sinne, indem man ihr die Aufgabe stellte, entweder die Resultate der Einzelwissenschaften zu einer widerspruchslosen sog. Weltanschauung zu „vereinigen“ (Positivismus), oder als eine Art Polizei der Wissenschaften deren Voraussetzungen und Methoden genauer zu fixieren, als es diese selbst tun (kritische oder sog. „wissenschaftliche“ Philosophie). Es läßt sich leicht – aus Gründen der Sache heraus – zeigen, daß das neue Grundverhältnis der Philosophie zum Glauben und den Wissenschaften die tiefste, eingreifendste und folgenreichste Verkehrung der wahren Verhältnisse darstellt, welche die europäische Geistesbildung jemals erreicht hat, und daß auch diese Verkehrung nur ein Sonderbeispiel ist für die weit umfassendere Erscheinung jenes inneren Umsturzes aller Wertordnung, jenes Désordre des Geistes und Herzens, welcher die Seele des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters ausmacht. Es ist recht eigentlich der Sklavenaufstand in der Welt des Intellektuellen, den wir hier vor uns haben und der mit dem gleichen Aufstand des Niederen gegen das Höhere im Ethos (Erhebung des singularistischen Individualismus gegen das Solidaritätsprinzip, der Nützlichkeitswerte über die Lebenswerte und Geisteswerte, dieser letzteren Werte aber gegen die Heilswerte), in den Institutionen (Erhebung zuerst des Staates gegen die Kirche, der Nation gegen den Staat, der ökonomischen Institute gegen Nation und Staat), in den Ständen (Klasse gegen Stand), in der Geschichtsauffassung (Technizismus und ökonomische Geschichtslehre), in der Kunst (Bewegung des Zweckgedankens gegen den Formgedanken, des Kunstgewerbes gegen die hohe Kunst, des Regisseurtheaters gegen das Dichtertheater) usw. eine engzusammengehörige Symptomatik eben jenes Gesamtumsturzes der Werte bildet.

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Auch die Gleichzeitigkeit des Vorgangs, der die Philosophie zu einer dem Glauben feindlichen, ja ihn usurpierenden „Weltweisheit“ (Renaissance), und mehr und mehr zu einer würdelosen Sklavin und Hure bald dieser, bald jener Einzelwissenschaft (der Geometrie, der Mechanik, der Psychologie etc.) gemacht hat, darf uns nicht befremden. Beides gehört wesensmäßig zusammen. Diese Vorgänge folgen nur aufs genaueste dem Prinzip: Daß die Vernunft selbst so geartet ist, daß sie – als welcher Autonomie und Macht nach unten, sowohl gegenüber allem Triebleben als in allen „Anwendungen“ ihrer Gesetze innerhalb der sinnlichen Vielheit der Erscheinungsreihen, mit ewigem Rechte gebührt, aber gleichzeitig gebührt freie und demütige, selbst noch autonom vollzogene Unterwerfung unter die göttliche Offenbarungsordnung – heteronom nach unten im selben Maße bestimmt werden muß, als sie die im Wesen der Dinge selbst liegende Bedingung ihres Rechtes zur vollen Autonomie nach unten verleugnet: nämlich ihre lebendige, in der Tugend der Demut und der freien Opferfähigkeit fundierte Verknüpfung mit Gott als dem Urlichte selbst. Nur als „freie Magd“ des Glaubens vermag die Philosophie die Würde einer Königin der Wissenschaften zu bewahren, und sie muß notwendig Dienerin, ja Sklavin und Hure der „Wissenschaften“ werden, wenn sie sich erkühnt, sich als Herrin des Glaubens zu gebärden. Wenn ich die Worte „Philosophie“ und die „Wissenschaften“ in einem Verschiedenes bedeutenden Sinne gebrauche und es damit strengstens ausschließe, daß die Philosophie als Königin der Wissenschaften selbst unter sie gehöre, oder „eine Wissenschaft“ sei oder sog. „wissenschaftliche Philosophie“ sein müßte, so möchte ich schon hier diesen Sprachgebrauch rechtfertigen. Insbesondere sei gegenüber Edmund Husserl, dessen sachliche Idee von der Philosophie der hier entwickelten noch am nächsten steht, der aber ausdrücklich die Philosophie als „Wissenschaft“ bezeichnet, der hier betätigte abweichende Sprachgebrauch gerechtfertigt. Denn nicht um eine sachliche, sondern um eine, was wenigstens den Kern der Sache betrifft, nur terminologische Differenz handelt es sich hier. Husserl unterscheidet – prinzipiell genau wie ich später – sachlich evidente Wesenserkenntnis von Realerkenntnis. Realerkenntnis verbleibt wesensmäßig in der Sphäre der Wahrscheinlichkeit. Die Philosophie ist in ihrer Grunddisziplin aber evidente Wesenserkenntnis. Husserl unterscheidet die Philosophie ferner von den deduktiven Wissenschaften der von ihm so

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genannten „idealen Gegenstände“ (Logik, Mannigfältigkeitslehre und reine Mathematik). Er scheint dabei freilich sowohl der Aktphänomenologie überhaupt als der Phänomenologie des Psychischen einen Vorzug vor der Sachphänomenologie und den Phänomenologien anderer materialer Seinsgebiete, z.B. der Phänomenologie der Naturobjekte, einzuräumen, welcher Vorzug ungerechtfertigt ist. Da aber Husserl für die Philosophie nicht nur (mit meiner vollen Beistimmung) „Strenge“ fordert, sondern ihr außerdem den Titel einer „Wissenschaft“ gibt, ist er zunächst genötigt, den Namen Wissenschaft grundsätzlich bedeutungsverschieden anzuwenden: einmal für Philosophie als evidente Wesenserkenntnis, dann für die positiven Formalwissenschaften der idealen Gegenstände und für alle induktive Erfahrungswissenschaft. Da wir aber den alten ehrwürdigen Namen der Philosophie für das erste schon besitzen, so ist nicht einzusehen, warum wir völlig unnötig einen Namen zweifach verwenden sollen. Angst, daß Philosophie, wenn sie nicht der „Wissenschaft“ subsumiert werde, etwa gar einem anderen analogen Oberbegriff subsumiert werden müsse, sei es dem der Kunst usw., wäre ja völlig unsinnig, da doch nicht alle Dinge „subsumiert werden“ müssen, gewisse Dinge vielmehr als autonome Sach- und Tätigkeitsgebiete solche Subsumtion auch abzulehnen das Recht haben. Unter ihnen befindet sich die Philosophie in erster Linie, die wirklich nichts anderes ist als eben Philosophie, die ihre eigene Idee auch von „Strenge“ nämlich von philosophischer Strenge besitzt, sich also nicht etwa nach der besonderen Strenge der Wissenschaft (bei messendem und zählendem Verfahren „Exaktheit“ genannt) als einem ihr vorschwebenden Ideale zu richten hat. Aber die Sache hat auch einen historischen Hintergrund. Ich glaube, Husserl gebraucht jenen griechischen Begriff von Wissenschaft für die Philosophie, der etwa an Sinnumkreis mit der platonischen †pist•mh zusammenfällt, der Platon die Sphäre der bôj_ (d.h. auch aller Art von Wahrscheinlichkeitserkenntnis) gegenüberstellt. In diesem Falle freilich wäre die Philosophie nicht nur „eine“ strenge Wissenschaft, sondern sogar die einzige eigentliche Wissenschaft, und alles andere wäre im Grunde überhaupt gar nicht Wissenschaft im strengsten Sinne. Nun aber muß man sehen, daß der praktische Sprachgebrauch sich im Laufe der Jahrhunderte nicht nur verändert, sondern daß er sich, und zwar aus den tiefsten kulturgeschichtlichen Gründen heraus, sogar umgekehrt hat. Eben das, was

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mit Ausnahme der Formalwissenschaften Platon die Sphäre der bôj_ nannte, ist der Inbegriff dessen geworden, was man seit einigen Jahrhunderten fast bei allen Nationen „Wissenschaft“ und „die Wissenschaften“ nennt. Ich wenigstens habe noch keinen Menschen in Verkehr und Büchern getroffen, der bei dem Wort „Wissenschaft“ nicht zunächst an die sog. positive Wissenschaft dächte, sondern dächte etwa an die †/fmo•+d Platons oder an die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ im Husserlschen Sinn, die doch auch alle deduktive Mathematik nicht in sich enthalten soll. Ist es nun zweckmäßig und historisch berechtigt, diesen Sprachgebrauch wieder umkehren zu wollen und den griechischen Gebrauch wieder einzuführen? Ich kann es nicht finden. Will man nicht eine fürchterliche Äquivokation ewig sanktionieren, so müßte man ja sogar allen induktiven Erfahrungswissenschaften das Recht, sich Wissenschaft zu nennen, absprechen, was doch auch Husserl sicher nicht möchte. Aber nicht nur bei den Worten Philosophie und Wissenschaft gehen Husserls und mein Sprachgebrauch auseinander, noch schärfer tun sie es bei den Worten Weltanschauung und Weltanschauungsphilosophie. Der plastische Ausdruck „Weltanschauung“ wurde von einem geistesgeschichtlichen Forscher ersten Ranges, von Wilhelm v. Humboldt unserer Sprache gegeben und bedeutet vor allem die (durch Reflexion nicht auch notwendig bewußten und erkannten) jeweiligen faktischen Formen des „Weltanschauens“ und der Gliederung der Anschauungs- und Wertgegebenheiten seitens sozialer Ganzheiten (Völker, Nationen, Kulturkreise). In den Syntaxen der Sprachen, aber auch in Religion, Ethos usw., lassen sich diese „Weltanschauungen“ finden und erforschen. So gehört auch, was ich „natürliche Metaphysik“ von Völkern nenne, in die Sphäre dessen, was Weltanschauung als Wort umfassen soll. Der Ausdruck „Weltanschauungsphilosophie“ bedeutet nun für mich so viel wie Philosophie der für die Gattung „homo“ konstant „natürlichen“ und der je besonderen wechselnden „Weltanschauungen“ – eine sehr wichtige Disziplin, wie sie besonders Dilthey zur philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften neuerdings mit Glück zu fördern suchte. Husserl dagegen nennt Weltanschauungsphilosophie genau das, was ich mit weit mehr historischem Recht die „wissenschaftliche Philosophie“ nenne, d.h. den aus dem Geiste des Positivismus herausgewachsenen Versuch, aus jeweiligen „Ergebnissen der Wissenschaft“ eine „abschließende“

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Metaphysik oder sog. „Weltanschauung“ zu machen, oder doch die Philosophie in Wissenschaftslehre, d.h. in Lehre von Prinzipien und Methoden der Wissenschaft aufgehen lassen zu wollen. In ausgezeichneten Worten tadelt nun Husserl Versuche solcher Art, aus Grundbegriffen einer Einzelwissenschaft („Energie“, „Empfindung“, „Wille“) oder aller zusammen eine Metaphysik zu fabrizieren, und gibt Versuche, wie sie Ostwald, Verworn, Haeckel, Mach gemacht haben, als Beispiele an, an denen zu zeigen ist, wie durch sie dem wesensunendlichen Fortschritt aller wissenschaftlichen Dingwahrnehmung, -beobachtung, -untersuchung an irgendeiner Stelle willkürlich Halt geboten wird. Dies ist ganz meine eigene Meinung. Die „wissenschaftliche Philosophie“ ist in der Tat ein Unding, da positive Wissenschaft ebenso ihre Voraussetzung selbst zu setzen, alle ihre möglichen Folgen selbst zu ziehen, und auch ihre Widersprüche selbst auszugleichen hat, Philosophie aber sich dabei mit Recht vom Leibe hält, wenn sie ihr dreinzureden sucht. Erst das Ganze der Wissenschaften samt ihren Voraussetzungen, z.B. die Mathematik samt den sie tragenden und vom Mathematiker selbst gefundenen Axiomen, wird für die Phänomenologie in dem Sinne wieder zum Problem, daß dieses Ganze phänomenologisch reduziert, gleichsam in Anführungszeichen gesetzt und auf seine anschaulichen Wesensgrundlagen hin untersucht wird. Nicht richtig aber erscheint es mir, daß Husserl die Phantasieausgeburten von Spezialforschern, die Philosophen spielen möchten – und alle Wissenschaften sind Spezialwissenschaften – also eben die sog. „wissenschaftliche Philosophie“ mit dem guten Namen Weltanschauungsphilosophie bedenkt. Weltanschauungen werden und wachsen, nicht aber sind sie von Gelehrten erdacht. Und auch Philosophie kann, wie Husserl richtig hervorhebt, nie Weltanschauung, höchstens Weltanschauungslehre sein. Sollte man aber meinen, die Weltanschauungslehre sei zwar eine wichtige Aufgabe, aber nicht der Philosophie, sondern nur der historischen und systematischen Geisteswissenschaften, so ist dies zwar richtig für die Lehre von den einzelnen positiven Weltanschauungen, z.B. der indischen, der christlichen usw. Aber es gibt auch noch eine Philosophie einmal der „natürlichen Weltanschauung“, sodann der „möglichen“ materialen Weltanschauungen überhaupt, welche die historische Grundlage der diesbezüglichen geisteswissenschaftlichen Probleme einer positiven Weltanschauungslehre ist. Und diese Weltanschauungslehre wäre auch in der Lage, mit

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Hilfe einer reinen, ideal vollendet gedachten philosophischen Phänomenologie den Erkenntniswert der Weltanschauungen abzumessen. Sie vermöchte auch zu zeigen, daß die Strukturen der faktischen Weltanschauungen, im Unterschiede von den journalistischen Tagesprodukten der „wissenschaftlichen Philosophie“, die Struktur der faktischen Wissenschaftsstufen und -arten der Völker und Zeiten – ja schon Dasein und Nichtdasein einer „Wissenschaft“ in westeuropäischem Sinne überhaupt – noch fundieren und bedingen, und daß jeder Variation einer Wissenschaftsstruktur eine solche der Weltanschauung gesetzlich vorhergegangen ist. Und erst hier besteht vielleicht auch eine tiefe sachliche Differenz zwischen Husserls und meiner Meinung – insofern nämlich Husserl geneigt ist, den positiven Wissenschaften auch eine weit größere faktische Unabhängigkeit von den mit ganz andern Dauerdimensionen, als sie die Fortschritte der positiven Wissenschaften aufweisen, überaus langsam und schwer wechselnden Weltanschauungen zuzugestehen, als ich es tue. Denn die Wissenschaftsstrukturen, ihre faktischen Systeme von Grundbegriffen und -prinzipien, scheinen mir in der Geschichte sprunghaft mit den Weltanschauungen zu wechseln, und nur innerhalb jeder gegebenen Struktur einer Weltanschauung, z.B. der europäischen, scheint mir die Möglichkeit eines prinzipiell unbegrenzten Fortschritts der Wissenschaft zu liegen. Angesichts meiner Behauptung, daß es eine moralische Haltung sei, die für die besondere Art der Erkenntnis, die philosophisch heißt, wesensnotwendige Vorbedingung sei, mag mancher an Lehren denken, die besonders seit Kant und Fichte bis zur Gegenwart einen starken Anhang gefunden haben. Ich meine die Lehren, die man „Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen“ (zuerst Kant) genannt hat. In der Tat hat z.B. W. Windelband in seinem bekannten Buche über Platon die sokratische Reform und ihre platonische Fortwirkung mit dieser Lehre Kants in einen Zusammenhang gebracht, der nicht nur nicht besteht, dessen Annahme sogar eine radikale Verkennung dessen einschließt, was Sokrates und Platon faktisch gemeint haben und was (dem Grundgedanken nach) auch wir als wahr ansehen. Eine Lehre vom sog. Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen kennen die großen antiken Väter der europäischen Philosophie nicht nur nicht, es ist vielmehr sonnenklar, daß sie dem theoretischen Leben (ž¡tl¡Bi) einen unbedingten Wertvorzug vor

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dem praktischen Leben (/lÅoo¡fi) gewähren. Gerade diesen Wertvorzug aber leugnet jede der Formen, welche die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft seit Kant angenommen hat. Das wahre Verhältnis beider Anschauungen besteht darin, daß die antike Lehre eine bestimmte moralische Geisteshaltung (jenen Aufschwung des ganzen Menschen zum Wesenhaften) zur bloßen Vorbedingung philosophischer Erkenntnis macht, d.h. zur Bedingung, in das Sachenreich einzudringen, oder doch bis zu seiner Schwelle vorzudringen, mit dem es die Philosophie zu tun hat; und daß gerade die Überwindung aller nur praktischen Einstellungen auf das Dasein es sei, was – neben anderem – Aufgabe und Ziel dieser moralischen Geisteshaltung ist. Umgekehrt meint Kant, daß die theoretische Philosophie überhaupt keine spezifische moralische Vorbedingung im Philosophen besitze, daß aber auch im fingierten Falle einer äußersten Vollendung der Philosophie es erst das Erlebnis des Sollens und der Pflicht sei, das uns Teilnahme an jener „metaphysischen” Ordnung gewähre, in die nach seiner Meinung theoretische Vernunft nur vergeblich und unter Trugschlüssen einzudringen suche. Fichte aber (und die gegenwärtige, hierin von ihm abhängige Schule H. Rickerts) machte die theoretische Vernunft geradezu zu einer Formation der praktischen, indem er das Sein der Dinge der bloßen Forderung (dem idealen Gesolltsein) ihrer Anerkennung durch den Akt des Urteils gleichsetzt; die pflichtmäßige Anerkennung des sog. Wahrheitswertes das Sein der Dinge also geradezu fundieren, wenn nicht gar es in die „Forderung“ dieser Anerkennung aufgehen läßt. Was also bei Platon eine nur subjektive, obzwar als solche notwendige Voraussetzung für das Ziel der Philosophie, für die theoretische Seinserkenntnis ist, das ist für diese Denker ein Primat des Moralischen in den objektiven Ordnungen selbst, wogegen nun wieder fast genau umgekehrt die Alten auch im Guten nur einen höchsten Seinsgrad (ùiotn ùi) zu finden meinten. Und darum ist es gerade diese Lehre vom Primate der praktischen Vernunft, welche den Gedanken, daß für die pure Erkenntnis bestimmter seiender Gegenstände gerade eine gewisse moralische dauernde Lebensform die Voraussetzung sei, und daß gerade die metaphysischen Täuschungen an die „natürliche“ und an die vorwiegend „praktische“ Haltung zur Welt geknüpft seien, am allerstärksten verschüttet und zur Seite gedrängt hat.

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Die Thesis, die hier vertreten ist, fällt mit keiner dieser beiden Ideenkreise genau zusammen, wenn sie sich auch der antiken Meinung weit erheblicher nähert als jener modernen. Zunächst ist es klar, daß es in allen besonderen Fragen der Werteinsicht und des Werterkennens (die ich im Unterschiede von den Alten so wenig als bloße Funktion des Seins-erkennens ansehen kann, wie den positiven Wert selbst als einen je höheren Seinsgrad) es das der Werteinsicht vorangehende Wollen und Handeln ist, welches die Hauptmotive aller Werttäuschungen resp. Wertblindheiten ausmacht. Gerade darum muß den Menschen, wenn er überhaupt zu Wert-einsicht (und in ihr fundiertem möglichen Wollen und Handeln) gelangen soll, zuerst Autorität und Erziehung so zu handeln und so zu wollen bestimmen, daß diese Täuschungsmotive seiner Werteinsicht aufgehoben werden. Der Mensch muß zuerst auf mehr oder weniger blinde Weise objektiv richtig und gut wollen und handeln lernen, bevor er das Gute als auch gut einzusehen vermag und einsichtig das Gute zu wollen und zu verwirklichen imstande ist. Denn obzwar der Satz des Sokrates, daß derjenige, der das Gute klar erkenne, es auch wolle und tue (in den Modifikationen, die ich ihm anderwärts3 gegeben habe), insofern richtig bleibt, als ein vollkommen gutes Verhalten nicht nur die objektive Güte des Gewollten, sondern auch die evidente Einsicht in seinen objektiv gegründeten Wertvorrang als das je „Beste“ in sich einschließt, so gilt doch nicht minder, daß die Erwerbung der subjektiven Befähigung zu dieser Einsicht ihrerseits an die Wegräumung ihrer Täuschungsmotive – und das sind vor allem Lebensformen, die in gewohnheitsmäßig gewordenem objektiv schlechtem Wollen und Handeln bestehen – geknüpft ist. Es sind immer irgendwie vorhergehende verkehrte praktische Lebensweisen, die unser Wert- und Wertrangbewußtsein auf dasjenige Niveau herunterziehen, auf dem diese Lebensweisen selbst liegen, und die uns eben damit primär in Wertblindheit oder Werttäuschung führen. Ist dies zugestanden, so liegt freilich hierin allein noch kein Grund, auch für die theoretische Seinserkenntnis – im Unterschiede zu aller Werterfassung in Form von emotionalen Akten (Fühlen von etwas, Vorziehen, Lieben) – eine analoge „praktisch moralische Bedingung“ anzunehmen, wenn nicht zu dem 3

Siehe hierzu mein Buch: „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik„, Teil 1.

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Gesagten noch etwas anderes hinzukäme. Dieses „andere“ betrifft das Wesensverhältnis, das zwischen Werterkennen und Seinserkennen überhaupt besteht. Und da scheint es mir ein strenges Gesetz des Wesensaufbaus ebensowohl der höheren „geistigen“ Akte als der für sie stoffgebenden niedrigeren „Funktionen“ unseres Geistes zu sein, daß in der Ordnung möglicher Gegebenheit der objektiven Sphäre überhaupt die dieser Ordnung angehörigen Wertqualitäten und Werteinheiten allem vorhergegeben sind, was der wertfreien Schicht des Seins angehört: so daß überhaupt nichts ganz und gar wertfrei Seiendes zum Gegenstand einer Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, in zweiter Linie des Denkens und Urteils „ursprünglich werden“ kann, dessen Wertqualität oder dessen Wertrelation zu einem anderen (Gleichheit, Verschiedenheit usw.) uns nicht schon zuvor irgendwie gegeben gewesen wäre (wobei das „zuvor“ nicht notwendig Zeitfolge und Dauer, sondern nur die Ordnung der Folge der Gegebenheit resp. der Dauer in sich schließt). Alles wertfreie oder wertindifferente Sein ist solches Sein also immer erst auf Grund einer mehr oder weniger künstlichen Abstraktion, durch die wir von seinem nicht nur immer mitgegebenen, sondern auch stets vorgegebenen Werte absehen – eine Abstraktionsweise, die freilich beim „Gelehrten“ so gewohnheitsmäßig und zur „zweiten Natur“ werden kann, daß er umgekehrt geneigt ist, das wertfreie Sein der Dinge (der Natur und der Seele) für ursprünglicher nicht nur seiend, sondern auch gegeben zu halten als die Wertqualitäten der Sachen; und daß er sich auf Grund dieser seiner falschen Voraussetzung nach irgendwelchen „Maßstäben“, „Normen“ etc. umsieht, durch die sein wertfreies Sein wieder Wertunterschiede zurückerhielte. Nur darum ist es dem natürlichen Menschen so schwer, „psychologisch“, d.h. wertfrei zu denken. Schon die Kreise von äußeren Sinnesmodalitäten und Sinnesqualitäten, über die eine Spezies verfügt, ist – wie die „vergleichende“ Sinneslehre genau zu erhärten vermag – immer davon abhängig, welcher Ausschnitt aus den überhaupt möglichen Qualitäten es ist, der Zeichenfunktion für lebenswichtige Dinge und Vorgangseinheiten (lebenswichtig für die betreffende Organisation) erhalten kann. Die Qualitäten sind ursprünglich nur als Zeichen für „Freund und Feind“ gegeben4. Das 4

Die Bedeutung dieses Prinzips für gewisse Tatsachengruppen der Sinnesphysiologie und -Psychologie, ferner für die Entwicklungsgeschichte der sinnlichen Wahrneh-

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Kind weiß früher, daß der Zucker angenehm ist, als daß er süß ist (weshalb ein Kind zeitweise alles ähnlich Angenehme Zucker nennt), und daß die Arznei unangenehm („bitter“ im Wertsinn des Wortes), als daß sie bitter (im Qualitätssinn der Sinnesqualität) ist. Daß ebendasselbe für jede Milieugegebenheit, für Erinnern, Erwarten und für alle konkreten Einheiten der Wahrnehmung gilt, habe ich anderenorts so eingehend gezeigt, daß ich mich nicht wiederholen möchte5. Auch für ganze Weltanschauungen von Kulturkreisen und Völkern gilt, daß die Strukturen ihres Wertbewußtseins ihrer gesamten Weltanschauung das letzte Gestaltungsgesetz vorschreiben (soweit sie auf das Seiende Bezug hat). Und für allen historischen Fortschritt der Erkenntnis gilt, daß die Gegenstände, die dieser Fortschritt des Erkennens ergreift, zuerst geliebt oder gehaßt werden mußten, ehe sie intellektuell erkannt, analysiert und beurteilt werden. Überall geht der „Liebhaber“ dem „Kenner“ voraus, und es gibt kein Seinsgebiet (seien es Zahlen, Sterne, Pflanzen, geschichtliche Wirklichkeitszusammenhänge, göttliche Dinge), dessen Erforschung nicht eine emphatische Phase durchlaufen hätte, bevor es in die Phase wertfreier Analyse trat – eine Phase, die meist mit einer Art Metaphysizierung des Gebiets (seiner fälschlichen Erhebung in „absolute“ Bedeutung) zusammenfiel. Selbst die Zahlen waren den Pythagoreern erst –„Götter“, bevor sie ihre Beziehungen untersuchten. Die analytische Geometrie hatte bei ihrem Erfinder Descartes eine geradezu metaphysische, mit dem absolut Gültigen der Physik zusammenfallende Bedeutung; der Raum erstarrte ihm zur Materie. Der Differentialkalkül ergab sich Leibniz als Spezialfall seiner metaphysisch gemeinten „lex continui“; er galt ihm (ursprünglich wenigstens) nicht als ein Kunstgriff unseres Verstandes, sondern als ein Ausdruck des Werdens der Dinge selbst. Die junge Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts erwuchs in den Eierschalen der metaphysischen ökonomistischen Geschichtsauffassung wiederum vermöge des neuen, aufs höchste gesteigerten Interesses, das eine ökonomisch schwer leidende Klasse an den Wirtschaftsvorgängen nahm. Die in einem mächtigen pantheistisch gefärbten Naturrausch schwärmende phantastische Naturspekulation der Renaissance ging als

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mung in der Entfaltung der Lebewelt, wird im III. Bd. dieses Werkes aufgewiesen*. Siehe hierzu und zu dem Folgenden „Der Formalismus etc.“.

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neue Interessewendung des europäischen Menschen der strengen Naturforschung vorher. Für Giordano Bruno war der sichtbare Himmel zuerst ein Gegenstand eines neuen Enthusiasmus, ehe er durch die exakte Astronomie wirklich erforscht wurde. Nicht in der negativen Wendung, es gäbe ja jenen „Himmel“ des Mittelalters gar nicht, d.h. das Reich der endlich gedachten Kugelschalen der vorkopernikanischen Astronomie mit seinen besonderen Stoffen und nur ihm eigenen Bewegungsformen, mit seinen Sphärengeistern usw., sondern mit der positiven, es habe Kopernikus einen neuen Stern am Himmel entdeckt – die Erde – und wir seien ja „schon im Himmel“ und es gäbe umgekehrt jenes nur „Irdische“ des mittelalterlichen Menschen nicht, begrüßt Bruno den Kopernikanismus. Analog gingen die Alchimie der strengen Chemie, die botanischen und zoologischen Gärten als Gegenstände eines neuen Naturgenusses und einer neuen Naturwertung den Anfängen der strengeren wissenschaftlichen Botanik und Zoologie vorher. Die romantische „Liebe“ zum Mittelalter ging analog seiner historischen strengen Erforschung, die kongeniale Liebhaberfreude an den verschiedenen Teilen der griechischen Kultur (z.B. Winckelmanns an der Plastik, die Auffassung der griechischen Dichtungen als ewiger Musterbilder in der „klassischen“ Periode der neueren Philologie) ihrer nur historisch-wissenschaftlich gemeinten Philologie und Archäologie vorher. Für die Erforschung des Göttlichen ist es fast eine communis opinio aller großen Theologen, daß ein emotionaler Kontakt mit Gott in der Gottesliebe, ein Fühlen seiner Gegenwart als summum bonum – eine Erregung des „göttlichen Sinnes“, wie die großen Oratorianer Malebranche und Thomassinus anschließend an die Neuplatoniker und die griechischen Väter sagen – allen Beweisen seines Daseins als letzte Stoffquelle vorherginge und vorhergehen müsse. Wenn sich so – ich deutete es hier nur an – nach den verschiedensten Methoden, nach denen wir Werterkennen und Seinserkennen untersuchen können, dieser Primat der Wertgegebenheit vor der Seinsgegebenheit erweisen läßt, so folgt hieraus indes eine an sich bestehende Priorität der Werte gegenüber dem Sein mitnichten. Auch hier kann ja dasjenige, was „an sich das Spätere“ ist, „das für uns Frühere“ sein, wie es Aristoteles als allgemeine Regel über das Verhältnis von Erkennen und Sein behauptete. Ja, da es ein einsichtiger Satz ist, daß zu allen Qualitäten – wie immer sie auch gesondert von ihren Trägern gegeben sein können und wie immer sie

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einer in ihrem Gehalt gegründeten, ihnen wesenhaft eigenen Ordnung unterliegen – ein subsistierendes Sein „gehört“, dem sie inhärieren, so kann das aristotelische Wort hier nicht nur zutreffen – sondern es muß es auch. Aber gleichwohl folgt aus der Priorität der Wertgegebenheit vor der Seinsgegebenheit in Verbindung mit dem früheren Satze, nach dem evidente Wertgegebenheit – und um so mehr, je weniger relativ die Werte sind – selbst wieder eine „moralische Bedingung“ voraussetze, daß eben hierdurch auch der mögliche Zugang zum absoluten Sein selbst wieder indirekt an diese „moralische Bedingung“ geknüpft ist. Das eigenartige Verhältnis, das wir also zwischen Wert und Sein einerseits, zwischen Theorie und Moral hiermit statuieren, besteht darin, daß die einsichtige Wertgegebenheit eine objektive Priorität vor allem guten Verhalten, Wollen und Handeln besitzt (denn nur das einsichtig als gut Gewollte ist, wenn es zugleich objektiv gut ist, auch vollkommen gut). Die einsichtige Wertgegebenheit ist aber zugleich von subjektiver Aposteriorität gegenüber dem objektiv guten Wollen und Verhalten. Die einsichtige Wertgegebenheit ist ferner von subjektiver Apriorität gegenüber aller Seinsgegebenheit. Der Wert selbst aber ist gegenüber dem subsistenten Sein von nur attributiver Bedeutung. Und wir dürfen darum auch sofort hinzusetzen, daß die spezifischen „emotionalen“ Aktarten unseres Geistes, durch die uns Werte zuerst zur Gegebenheit kommen und die auch die Stoffquellen für alle sekundären Wert-Beurteilungen sowie für alle Normen und Sollseinssätze ausmachen, das gemeinsame Bindeglied ausmachen sowohl für all unser praktisches Verhalten, wie für all unser theoretisches Erkennen und Denken. Da aber Liebe und Haß die ursprünglichsten und alle übrigen Aktarten (Interessenehmen, Fühlen von etwas, Vorziehen usw.) umspannenden und fundierenden Aktweisen innerhalb der Gruppe dieser emotionalen Akte sind, so bilden sie auch die gemeinsamen Wurzeln unseres praktischen und unseres theoretischen Verhaltens, sind sie die Grundakte, in denen allein unser theoretisches und praktisches Leben seine letzte Einheit findet und bewahrt. Wie man bemerkt, ist diese Lehre gleich scharf von allen Lehren eines Primates des Verstandes wie eines Primates des Willens in unserem Geiste verschieden, da sie ja eben einen Primat von Liebe und Haß sowohl gegenüber allen Arten des „Vorstellens“ und „Urteilens“ als auch

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gegenüber allem „Wollen“ behauptet. Denn es geht, wie anderenorts gezeigt worden ist, nicht an, die Akte des Interessenehmens, der Aufmerksamkeit und die Akte von Liebe und Haß dem Streben und Wollen irgendwie zu subsumieren, und es ist ebensowenig möglich, sie auf bloße Veränderungen des Vorstellungsinhalts zurückzuführen6. 3. ANALYSE DES MORALISCHEN AUFSCHWUNGS Im Ganzen des Aktus jenes Aufschwungs, durch den der Kern der Person Teilnahme am Wesenhaften durch Erkenntnis zu gewinnen sucht, sind verschiedene Faktoren zu unterscheiden. Sind sie aber aufgezeigt, so ist erstens die besondere feste Erkenntnisstellung, die durch diesen Aufschwung der ganzen Person als Ziel gewonnen wird, zweitens das Erkenntnisprinzip, durch das und nach dem in dieser Haltung erkannt wird, und endlich drittens – das wichtigste – die Natur der Gegenstandswelt und ihres Zusammenhangs, die in dieser Erkenntnisstellung an die Stelle des in der „natürlichen Weltanschauung“ Gegebenen tritt, genau zu erforschen. Erst wenn dies geschehen ist, können die philosophischen Disziplinen entwickelt und kann das Verhältnis der Philosophie zu allen Arten nichtphilosophischer Erkenntnisart: 1) zur natürlichen Weltanschauung, 2) zur Wissenschaft, 3) zu Kunst, Religion, Mythos entwickelt werden. A. DER AKT DES AUFSCHWUNGS ALS PERSONAKT „DES GANZEN MENSCHEN“ Nicht das Kennzeichen einer besonderen Philosophie, sondern das Wesen der Philosophie selbst ist es, daß in ihr der ganze Mensch mit der konzentrierten Gesamtheit seiner höchsten geistigen Kräfte sich in Volltätigkeit befindet. Dies entspricht auf subjektiver Seite nur der Grundtatsache, daß die Philosophie eine ist – im Unterschiede zu den Wissenschaften, die – wesensmäßig – viele sind. Auch dieser Unterschied 6

Über die genaueren Wesensverhältnisse von Liebe und Haß zu den erkennenden und willensartigen Akten siehe im III. Bd. dieser Schrift die Abhandlung: „Erkenntnis und Liebe“; ferner vergleiche die historische Typologie dieses Problems im Buche: Krieg und Aufbau, „Liebe und Erkenntnis“. Siehe ferner mein Buch „Zur Theorie und Phänomenologie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß“ (Halle 1913)*.

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von Einheit und Vielheit ist schon ein prinzipielles Unterscheidungsmerkmal der Philosophie vom Wesen der Wissenschaft7. Vermöge der besonderen Natur ihrer Gegenstände (Zahlen, geometrische Gestalten, Tiere, Pflanzen, tote und lebendige Dinge) fordern die Wissenschaften Anwendung und Übung je ganz besonderer Teilfunktionen des menschlichen Geistes, z.B. je mehr Denken oder Beobachtungskunst, je mehr schließendes oder intuitiv-erfindendes Denken; dazu fordern die Hauptarten von ihnen je besondere, einseitige, den spezifischen Daseinsformen ihrer Gegenstände entsprechende Formen der materialgebenden Anschauung, als da sind z.B. die Form der äußeren Anschauung für die Naturwissenschaft, die der inneren für die Psychologie. Oder die Wissenschaften, die es mit in gewissen Wertarten gebundenen Güterwelten zu tun haben (Kunst, Recht, Staat usw.), fordern eine besondere einseitige Anwendung und Übung der emotionalen Funktionen, z.B. des Qualitätsgefühles in der Kunst, des Rechts- und Billigkeitsgefühls in der Rechtswissenschaft, dadurch die Werte dieser Art dem Bewußtsein sich kundgeben. In der Philosophie hingegen philosophiert von Hause aus das konkrete Ganze des menschlichen Geistes, und dies in einem Sinne, den ich die je einzelne in Tätigkeit befindliche Funktionsgruppe „überspannend“ nennen möchte. Auch im speziellsten philosophischen Teilproblem philosophiert der ganze Mensch. Nur indem er die wesenhaft geschiedenen Anschauungs-formen und Bewußtseinsstellungen, die in den „Wissenschaften“ oder die in Religion und Kunst und deren Verwaltern je gesondert und differenziert eingenommen werden und die an die spezifische Gegebenheitsmöglichkeit der betreffenden Seinsund Wertregionen geknüpft sind, im Zentrum seiner Person zunächst reintegriert, vermag der Philosoph dasjenige auch nur der Möglichkeit nach zu leisten, was alle diejenigen, die einseitig in diesen Formen leben und wirken, nicht leisten können: die Wesensverschiedenheit dieser Formen der Anschauung und des zugehörigen Daseins und Gegebenseins aufzuweisen und sie scharf zu umgrenzen; vermag er ferner – was das Wichtigste ist – die Anschauungs-, Denk-, Fühlformen, in denen die Forscher, die Künstler, die Frommen leben – und dies, ohne sie gegenständlich zu haben – noch als besondere Wesensgehalte vor einen noch undifferenzierten schlechthin 7

„Die“ Wissenschaft existiert nicht; es gibt nur Wissenschaften.

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einfachen Blick des Geistes zu bringen; er vermag sie vor einer reinen und formlosen Anschauung, resp. vor reinem und formfreiem „Denken“ zu vergegenständlichen. Die alte platonische Forderung, daß der ganze Mensch in der Philosophie – nicht nur sein isolierter Verstand oder sein isoliertes Gemüt usw. – Teilnahme am Wesenhaften suchen müßte, ist also nicht, wie viele sehr kindisch annehmen, ein bloß psychologisches Merkmal des Charakters Platons: es ist eine in der wesenhaften Einheit und der sachlichen Problematik der Philosophie gelegene Forderung der Erkenntnismöglichkeit seitens ihres Gegenstandes selber. Es ist eine nicht psychologisch und nicht nur philosophie-erkenntnis-theoretisch, sondern ontisch gegründete Forderung. Denn die wesensverschiedenen Regionen des Seins selbst werden erst durch vorhergehende Reintegration der ihnen wesenhaft je zugehörigen Anschauungsformen, Aktarten usw. im Zentrum einer Person auf einen einheitlichen Ausgangspunkt als wesensverschiedene in ihrer besonderen Artung überhaupt faßbar. Nur dann wird dieser Satz vom ganzen philosophierenden Menschen gründlich mißverstanden, wenn an Stelle des konkreten Aktzentrums des Geistes der „Mensch“ als psycho-physischer Gegenstand gesetzt wird, als dürfe auch dieser „Mensch“ seine Eigenheiten in die Philosophie mit hereingeben und die Philosophie so zu einem „Roman“ ihres Urhebers machen. Und wieder wurde der Gedanke mißverstanden, wenn er im Sinn des von dem Platonischen Satze ganz verschiedenen Fichteschen Satzes, „die Philosophie, die man habe, richte sich danach, was für ein Mensch man sei“, den moralischen Charakter auch für den Inhalt, für das Ergebnis der Philosophie verantwortlich machte, anstatt nur für den Aufschwung, resp. das Maß, die Reinheit und die Kraft des Aufschwungs, der uns erst mit dem an sich bestehenden Seinsreich, mit dem es Philosophie zu tun hat, in mögliche Erkenntnisbeziehung setzt. Und endlich wäre es auch ein Mißverständnis unseres Satzes, wenn man verkennte, daß jeder abschließende Akt des als Ganzes philosophierenden geistigen Menschen ein Erkenntnisakt sein muß – in der Ethik z.B. ebensowohl als in der Seinslehre –, daß dabei aber trotzdem das eigenartig Gegebene, das dieser Erkenntnis unterliegt, sehr wohl nicht „erkennenden“ Funktionen des konkreten Geistes verdankt werden kann, ja bei gewissen Dingen muß. Es scheint mir, daß z.B. Wilhelm Dilthey in seinen Schriften

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die gebenden und die erkenntnismäßig abschließenden Funktionen und Akte des Geistes im Philosophieren nicht immer genau unterschieden habe und so gewissen ganz mißverständlichen rationalistischen Kritiken seiner Lehre Tür und Tor geöffnet habe. Es gibt heute zweifellos eine Art Bestrebung aufsog. „Erlebnisphilosophie“, die dem Grundirrtum huldigt, es könne Philosophie je etwas anderes sein als Erkenntnis, und zwar streng objektive, allein durch den Gegenstand und nichts anderes bestimmte Erkenntnis – sie könne etwa auch „Erleben“ sein oder Urteile fällen über das je zufällige Erleben, z.B. über Evidenzgefühle, die sich hier und dort einstellen8. Es gibt aber auch – merkwürdigerweise – Philosophen, die auch die emotionalen Wesensformen des Werterfassens und die für verschiedene Philosophen verschiedenreiche Fälle der von jenem Aufschwung des ganzen Menschen in ihrer Gegebenheit, nicht in ihrem Sein und Bestand abhängigen Materien möglicher Erkenntnis für ein bloß „zufälliges psychisches Erlebnisfaktum“ halten, also der grenzenlos naiven Meinung sind, es genüge, um ein Philosoph zu sein, über beliebige Dinge richtig urteilen und schließen zu können. Indem das konkrete Aktzentrum des ganzen Menschen sich zur Teilhabe am Wesenhaften aufzuschwingen sucht, ist also sein Ziel eine unmittelbare Einigung zwischen seinem Sein und dem Sein des Wesenhaften; d. h. es ist hier des Menschen Ziel, das zentrale Aktkorrelat alles möglichen Wesenhaften, und zwar in der diesem Reiche immanenten Ordnung zu „werden“. Das besagt ebensowohl, daß das Aktzentrum sich selbst, d.h. sein eigenes Sein durch diese Teilhabe zu Verwesentlichen und zu verewigen habe, als es besagt, daß die Wesenheiten in die Seinsform und Spannweite der Personalität überzuführen seien. Insofern aber – wie sich zeigen wird – die Idee eines (unendlichen) konkreten personalen Aktzentrums als Korrelat aller möglichen Wesenheiten mit der Idee Gottes (oder doch mit einer Grundbestimmung dieser Idee) identisch ist, ist jener Versuch des Aufschwungs des ganzen geistigen Menschen immer zugleich ein Versuch des Menschen, sich selber als natürliches fertiges Sein zu transzendieren, sich selbst zu vergöttlichen oder Gott ähnlich zu werden 8

Daß auch mein Aufsatz über: „Versuche einer Philosophie des Lebens“ (siehe Abhandlungen und Aufsätze „Vom Umsturz der Werte“) also psychologisch mißverstanden werden konnte, ist nur ein Zeichen äußersten Tiefstandes der betrenenden Kritiker oder eingebildeter Gefolgschaft.

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(Platon). Zu „versuchen“, das Aktzentrum des eigenen Geistes aus seinem psycho-physischen und biologisch-menschlichen Zusammenhang durch einen immer neuen Aktus dieses Zentrums faktisch9 – nicht nur durch ein abstraktiv-theoretisches „Absehen“ oder bloßes „Nichtachten“ dieses Zusammenhangs – herauszulösen und es in das der Gottesidee entsprechende universale Aktzentrum „einzustellen“, um aus diesem Aktzentrum heraus und gleichsam „in“ seiner Kraft einen Blick auf das Sein aller Dinge zu tun – das ist als immer erneuter Versuch ein Wesensmerkmal des untersuchten „Aufschwungs“. Ob es ontisch möglich sei, daß dieser Versuch gelinge und wie weit er gelinge, das ist eine völlig andere Frage, welche den Inhalt der Philosophie, nicht den Ursprung der philosophischen Haltung des Geistes und die ihr wesensmäßig zugehörige einheitliche Intention betrifft. B. AUSGANGSPUNKT UND ELEMENTE DES AUFSCHWUNGS Man muß beim Studium des Aufschwungs, der in die philosophische Geisteshaltung (und von ihr aus erst zum Gegenstande und zum Sein der Philosophie) führt, zwei Dinge unterscheiden: ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel. Nun aber bildet für alle Arten einer höheren, der Wertgruppe, die ich in meiner Ethik „geistige Werte“ nannte, zugewandten Geistestätigkeit (sei diese wissenschaftliche, philosophische, ästhetische, künstlerische, religiöse, moralische) den gemeinsamen Ausgangspunkt die natürliche Weltanschauung10 des Menschen und das in ihr gegebene Seiende und 9

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Die später zu eruierenden Verfahrungsweisen der „Reduktion“ der Daseinsmodi der Gegenstände, um durch sie ihr pures „Was“, ihr „Wesen“, ihre „Essenz“ für sich zur Anschauung zu bringen – Verfähren, die E. Husserl neuerdings „phänomenologische Reduktion“ genannt hat und die er nur als „Absehen“ resp. DahingestelltseinIassen“, „Eingeklammertwerden“ der Daseinsmodi (nicht des Daseins selbst, wie er annimmt) beschreibt –, haben diesen versuchenden Aktus, das Sein des Aktzentrums aus dem psycho-physischen Seinszusammenhang wenigstens der Funktion nach herauszulösen, also einen Seins-Prozeß, ein Anderswerden des Menschen zur Voraussetzung. Es muß also die geistige Erkenntnis-Technik dieser Umstellung der Person selbst diesen nur logischen Verfahrungsweisen des Absehens vorhergehen. Resp. das natürliche „Betragen“ (Wollen, Handeln usw.), desgl. die „natürliche Werthaltung“.

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Wertvolle. Die identisch gemeinsame Voraussetzung aber für die grundverschiedenen Akte und Stellungnahmen, die von diesem Ausgangspunkt weg und in die Richtung irgendeines Wertbereiches vom Wesen der übervitalen Werte führen, ist das objektive Verhalten. Es ist das dem Wesen sogearteter Werte als solchem zugewandte Verhalten des Geistes überhaupt. Soll also die Überwindung des „moralischen Hindernisses“ studiert werden – jene Überwindung, die eben in dem Aufschwung gelegen ist und durch ihn erfolgt –, so müssen wir zuerst die generelle Natur der natürlichen Weltanschauung kennenlernen und dasjenige Sein und Verhalten des Menschen, das ihr selbst wie ihren Gegebenheiten entspricht. Und nicht minder haben wir jenes identische Moment in dem Akte zu suchen, das erstens objektives Verhalten überhaupt, zweitens philosophisches auf der Seite der Person fundiert. Und es wird sich hierbei als besonders bedeutsam erweisen, daß wir die drei wesensmäßig verschiedenen gegenständlich erkennenden Verhaltungsweisen: 1. Natürliche Weltanschauung, 2. Philosophische Weltanschauung, 3. Wissenschaftliche Weltauffassung, in ihrem richtigen Verhältnis zueinander gewahren. Ein erstes Merkmal aller natürlichen Weltanschauung ist, daß das in ihr stehende Subjekt sein jeweiliges Um-weltsein resp. alles mögliche Umweltsein überhaupt für das Weltsein hält – und dies in allen Richtungen, räumlich, zeitlich, sodann in der Innenwelts- und Außenweltsrichtung, in der Richtung auf das Göttliche wie in jener auf ideale Gegenstände. Denn in allen diesen Richtungen gibt es eine „Umwelt“, die, so sehr sie für verschiedene Einzel- oder Kollektivsubjekte (Völker, Rassen, die natürliche Menschengattung), desgleichen für verschiedene Organisationsstufen des Lebens verschiedenen Sondergehalt besitzt, einer essentiellen Struktur teilhaftig ist, die sie zur „Umwelt“ macht. Diese Struktur der natürlichen Umwelt ist das System der natürlichen Daseins-Formen (Dinge, Begebenheiten, natürliche Raum- und Zeitanschauung) mit dem ihm entsprechenden System der natürlichen Wahrnehmungs- und Gedanken- und Sprachformen (gesunder Menschenverstand und volkstümliche Sprache). Es hat in dem Lehrstück der „Phänomenologie der natürlichen Weltanschauung“ genau studiert zu werden und muß von der Kategorienlehre der Wissenschaft ebenso scharf geschieden werden wie von der Lehre von den Seins- und Erkenntnisformen, mit denen Philosophie als Philosophie es dann zu tun hat, wenn sie ihr besonderes

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Objekt schon erreicht hat und ihm gegenüber sich in Erkenntnisstellung befindet. Wie immer aber diese Struktur des Umweltseins für den Menschen aussehe, auf alle Fälle ist es dem ihr entsprechenden Sein eigen, daß es mit seiner Struktur relativ ist auf die biologische Sonderorganisation des Menschen als einer besonderen Artspezies des universellen Lebens. Und diese Daseinsrelativität oder diese Daseinsgebundenheit an die „Organisation“ besteht in gleichem Maße für die Struktur und den Gehalt der Wasinhalte dieser Umwelt (der in sie eingehenden Wesenheiten), wie für ihr reales Dasein und die Formen ihres Daseins. Es ist die Welt der doxa – gemäß der platonischen Scheidung von bôj_ und †/fmo•+d –, in der wir uns hier befinden. Und es ist dabei noch gleichgültig, ob wir bei der Umwelt an die Sonderumwelt eines Individuums, einer Rasse, eines Stammes oder Volkes denken, oder an die generelle Umwelt des natürlichen Menschen als Vertreters dieser vitalen Gattung überhaupt. Das Seiende aber in eben derselben Seinsrelativität auf das Leben überhaupt so zu erkennen und zu denken, daß es in größtmöglicher Vollständigkeit und unter streng prinzipieller Ausscheidung aller Seinsrelativität (Wesens- und Daseinsrelativität) auf Individuum, Rasse, Volk usw. nur mehr auf die menschliche Organisation überhaupt oder auf das Identische in jedem Menschen seinsrelativ ist, das ist diejenige Reduktion, welche das wissenschaftliche „allgemeingültige“ Erkennen am Sein und Gehalt der Umwelt vornimmt. Aber die Grundtatsache, daß aus der Fülle des WeltSeins überhaupt nur dasjenige in die Umweltsphäre eingeht, was für die Trieb- und die der Triebstruktur entsprechende Sinnesstruktur des Menschen von erfüllender resp. widerstreitender, auf alle Fälle antwortender Bedeutung ist, besteht für die vollständige und aller individuell-partikularen Seinsbezüge entkleidete, also nur mehr auf einen lebendigen Menschen überhaupt bezogene Umwelt genau in derselben Weise, wie für die partikulareren Umwelten des Individuums, der Rasse usw. Die Richtung des philosophischen Erkennens ist nun aber im Unterschiede zum „wissenschaftlichen“, das in den Strukturformen – wenn auch nicht notwendig den Stuktur-Inhalten – der „natürlichen Weltanschauung“ verbleibt, nicht in so gearteter Erweiterung der erkennenden Teilnahme am Sein der Umwelt oder an der Gewinnung einer

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(menschlich) „allgemeingültigen“ Umwelt gelegen. Das philosophische Erkennen zielt vielmehr in eine völlig andere Seinssphäre, die außer und jenseits der bloßen Umweltsphäre des Seins überhaupt gelegen ist. Darum bedarf es ja eben des besonderen Aufschwunges, um an das Sein der Welt selber heranzugelangen. D.h. es bedarf eines besonderen Gefüges zunächst moralischer Akte, um für den erkennenden Geist die Bande nach Möglichkeit zu beseitigen, die seinen möglichen Gegenstand innerhalb der natürlichen Umweltanschauung überhaupt (der gemeinen wie der „wissenschaftlichen“) seinsrelativ auf das Leben, seinsrelativ auf die Vitalität überhaupt und darum auch notwendig auf irgendein besonderes leiblich-sinnliches Triebsystem machen. Es bedarf dieser Akte, um den Geist das nur vitalrelative Sein, das Sein für das Leben (und in ihm für den Menschen als Lebewesen) prinzipiell verlassen zu machen, um ihn mit dem Sein, wie es an sich selbst und in sich selbst ist, in Teilnehmung treten zu machen11. Im Gefüge dieser moralischen, die philosophische Erkenntnis wesensmäßig disponierenden Grundakte unterscheiden wir eine positive Grundaktart und zwei negativ gerichtete Grundaktarten, die nur in ihrem einheitlichen Zusammenwirken den Menschen an die Schwelle möglicher Gegebenheit des Gegenstandes der Philosophie gelangen lassen: 1. die Liebe der ganzen geistigen Person zum absoluten Wert und Sein, 2. die Verdemütigung des natürlichen Ich und Selbst, 3. die Selbstbeherrschung und dadurch erst mögliche Vergegenständlichung der die natürliche sinnliche Wahrnehmung stets notwendig Mitbedingenden Triebimpulse des als „leiblich“ gegebenen und als leiblich fundiert erlebten Lebens. In ihrem geordneten Zusammenwirken führen diese moralischen Akte – nur sie allein – die geistige Person als Subjekt möglicher Teilnehmung am 11

Da diese Akte prinzipiell in allen möglichen Graden von Menschen vollzogen werden können, so ist auch die Gewinnung des Gegenstandes der Philosophie oder des absoluten Seins (Wesens und Daseins) aller Gegenstände in allen Graden der Adäquation und der Fülle möglich. Schon darum ist es ausgeschlossen, zu sagen, es könne jeder von den absoluten Sachen und Werten auf alle Fälle entweder alles, oder doch gleichviel oder gleichwenig oder gar nichts erkennen. Was jeder auch nur erkennen kann, richtet sich vielmehr nach dem Grade des Aufschwungs.

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Sein durch Erkennen, aus der Umweltsphäre des Seins oder aus der Richtung der Seinsrelativität überhaupt heraus und in die Weltsphäre des Seins, also in die Richtung des absoluten Seins hinein. Sie lösen den natürlichen Egozentrismus, Vitalismus und Anthropomorphismus des Menschen, die für alle natürliche Weltanschauung charakteristisch sind, und die ihnen genau entsprechende Sach-Charakteristik der Umweltgegebenheit als solcher auf – und das nach verschiedenen Richtungen: Die Liebe zum absoluten Wert und Sein bricht die im Menschen befindliche Quelle der Seinsrelativität alles Umwelt-seins. Die Verdemütigung bricht den natürlichen Stolz und ist die moralische Voraussetzung des für die Erkenntnis der Philosophie notwendigen gleichzeitigen Abstreifens 1) der zufälligen Daseinsmodi von den puren Wasgehalten (Bedingung der Intuition der puren „Wesen“) und 2) der faktischen Verwobenheit des erkennenden Aktes in den Vital-Haushalt eines psychophysischen Organismus. Der Bestand der zufälligen Daseinsmodi an den Wasgehalten und diese Verwobenheit des erkennenden Aktes in den Haushalt einer psycho-physischen Lebenseinheit aber entsprechen sich gegenseitig wesensmäßig. Sie stehen und fallen zusammen. Die Selbstbeherrschung als Mittel der Zurückhaltung und als Mittel der Vergegenständlichung der Triebimpulse bricht die natürliche Concupiscentia und ist die moralische Bedingung einer sich von Null bis zur Vollkommenheit steigernden Adäquation in der Gegebenheitsfülle des Weltinhalts. Also entsprechen den drei voneinander unabhängig variablen Maßstäben aller Erkenntnis: 1. Art und Grad der Seinsrelativität ihres Gegenstandes, 2. evidente Wesenserkenntnis oder induktive Daseinserkenntnis, 3. Adäquation der Erkenntnis, genau die genannten moralischen Akte als Vorbedingungen des Erkenntnisvollzugs: Die Liebe, der Kern und die Seele gleichsam des ganzen Aktgefüges, führt uns in die Richtung des absoluten Seins. Sie führt also hinaus über die nur auf unser Sein relativ daseienden Gegenstände. Die Demut führt uns vom zufälligen Dasein irgendeines Et-was (und allen in diese Sphäre gehörigen kategorialen Seinsformen und Seinsverknüpfungen) in die Richtung zum Wesen, zum puren Wasgehalt der Welt.

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Die Selbstbeherrschung führt von inadäquater, im äußersten Falle vom nur symbolischen eindeutigen Meinen der Gegenstände von der Fülle Null in die Richtung der vollen Adäquation der anschauenden Erkenntnis. Zwischen diesen moralischen Haltungen und dem möglichen Fortschritt der Erkenntnis in einer dieser Grundrichtungen (zum absoluten Sein, zur evidenten Einsicht, zur Adäquation) besteht nicht ein zufälliger oder ein empirisch-psychologischer Zusammenhang, sondern ein Wesenszusammenhang – ein Zusammenhang, in dem die moralische und die theoretische Welt aneinander – wie mit Klammern – ewig gebunden sind. Denn genau von denjenigen Faktoren in uns selber, denen innerhalb der natürlichen Weltanschauung und ihrer Umweltgebundenheit (desgleichen noch in der „Wissenschaft“) das je primäre Haben des je zufälligen Daseins der Dinge (im Geegensatz zu ihrem Wesen) entspricht, befreit uns die Demutshaltung. Sie hebt die systematische moralische Hemmung damit auf, welche die betreffenden Faktoren, das Auge unseres Geistes verdunkelnd, der puren Wesenserkenntnis hemmend entgegensetzen. Nur eine aus diesen drei moralischen Grundhaltungen wird sich hierbei nicht nur als moralische Bedingung der philosophischen Erkenntnis, sondern (im Unterschied von der natürlichen Weltanschauung) auch der wissenschaftlichen Erkenntnis erweisen: diese Haltung ist die der Steigerung der Adäquation der Erkenntnis entsprechende Grundhaltung der Selbstbeherrschung der Triebimpulse durch den vernünftigen Willen. Und dem entspricht es genau, daß die Wissenschaft im Unterschiede zur Philosophie sich (sei es induktiv, sei es in deduktiver Methode) in der Sphäre des zufälligen Seins bewegt (Wesenserkenntnis zwar voraussetzt, aber nicht selbst leistet), und dies auch da noch, wo sie z.B. Naturgesetze sucht und findet; und daß sie zweitens nicht das absolute Sein, sondern nur den Inbegriff all der seienden Gegenstände erkennend bearbeitet, die auf mögliche Beherrschbarkeit und Veränderlichkeit vermöge eines durch mögliche Lebensziele und Lebenswerte gelenkten, aber auch gebundenen Vernunftwillens noch seinsrelativ sind. Denn wie sehr Wissenschaft auch alle individuelle, volkliche, rassenmäßige Seinsrelativität der Gegenstände, ja sogar die Seinsrelativität auf die positive menschliche Naturorganisation und damit die Phase natürlicher Weltanschauung bereits überwindet und aus ihrem Gegenstande ausschaltet, so bleibt sie wie ihre gesamte Gegenstandswelt durch die konstitutive Grundbeziehung alles möglichen

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Seins auf mögliche Beherrschbarkeit durch einen vernünftigen, auf mögliche Ziele universellen Lebens überhaupt hingeordneten endlichen Willen überhaupt an die zwei Grundtatsachen im Menschen, 1) sein Wollen, 2) seine universellen Vitaleigenschaften doch notwendig gebunden. Genau diese Grundtatsachen als auslesende Beziehungszentren alles Seins sind es aber, die dem primären Haben zufälligen Seins wie seinsrelativen Seins in aller nichtphilosophischen Geisteshaltung so genau entsprechen, daß ohne sie auch der Primat dieser Gegebenheiten in Wegfall käme. Und diese Grundtatsachen sind es auch, die die Liebe zum absoluten Sein und Demut gegenüber dem puren Was der Welt und der Weltinhalte (gleichgültig, wie sich dieses Was und sein Zusammenhang nach Raum, Zeit, Zahl, Kausalität usw. in der Daseinssphäre des Zufälligen überhaupt über die Welt verteile) nach Möglichkeit aufzuheben und auszuschalten tendieren. Und darum ist es auch wieder nicht zufällig, sondern es ist eine selbst wesensnotwendige Tatsache, daß auch die moralische Grundgesinnung des wissenschaftlichen Forschers gegenüber der Welt und seiner Aufgabe an ihr eine von der philosophischen Grundgesinnung ganzlich verschiedene ist und sein soll. Der positive Forscher ist in seinem Erkenntniswillen primär beseelt von einem Herrschafts- und einem erst aus ihm hervorgehenden Ordnungswillen gegenüber aller Natur: „Gesetze“, nach denen sich Natur beherrschen läßt, sind auch darum sein höchstes Ziel. Nicht was die Welt sei, sondern wie sie als gemacht gedacht werden kann, um sie innerhalb dieser obersten Grenze als praktisch veränderlich überhaupt zu denken, interessiert ihn. Darum ist Selbstbeherrschung um möglicher Weltbeherrschung willen sein Grundethos, nicht Demut und Liebe. Wohl muß auch den Forscher – so wie Wissenschaft die Philosophie, Erkenntnis des Zufälligen Wesenserkenntnis ja überhaupt voraussetzt – noch Liebe zur Erkenntnis der Dinge überhaupt bewegen. Nicht aber auch – wie den Philosophen – Liebe zu dem Sein der Gegenstände selbst. Und auch seine Liebe zur Erkenntnis ist nur Liebe zur Erkenntnis einer gewissen Art: derjenigen Erkenntnis, die außer dem, daß sie all dem genügt, was überhaupt Erkenntnis adäquat und logisch richtig macht (zwei Maßstabarten, die für alle Erkenntnis gelten), auch noch, aber auch nur eine Beherrschbarkeit der Welt überhaupt, nicht also zu einem bestimmten Zwecke oder Nutzen, möglich macht. Wohl muß auch den

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Philosophen noch Selbstbeherrschung leiten; aber sie leitet ihn nur als heuristisch-pädagogische Maßregel, um – bei maximaler Adäquation der Erkenntnis der Gegenstände mit ihrer disponierenden Hilfe angekommen – durch volle Verdemütigung seines willentlichen Seins das „zufällige Dasein“ dem Sein des Gegenstandes abzustreifen und möglichst ausschließlich auf sein Was, sein ewiges Wesen hinzublicken. An der Schwelle seiner Erkenntnis angekommen, muß der Philosoph den Willen (das wesensmäßige Aktkorrelat alles zufälligen Daseins überhaupt) wieder ausschalten und sich dem puren Was seines Gegenstandes voll „hingeben“. 4. DER GEGENSTAND DER PHILOSOPHIE UND DIE PHILOSOPHISCHE ERKENNTNISHALTUNG Mit Recht ist die Frage, welche Einsicht die erste sei an Evidenz, an die Spitze aller „klassischen“ Philosophie gestellt worden, und mit Recht werden die großen Phasen der Philosophie an erster Stelle daran unterschieden, welche Einsicht die Stelle solchen einsichtigsten „Ausgangspunktes“ aller Philosophie einnahm. Der erheblichste Einschnitt in der Geschichte des europäischen Denkens wird ferner mit Recht darin gesehen, daß seit Descartes das Problem der Erkenntnis der Dinge vor dem Problem des Seins der Dinge in sich selbst den Vorrang gewinnt. Die antike wie die mittelalterliche Philosophie ist vorwiegend Seinsphilosophie; die moderne, mit wenigen Ausnahmen, vorwiegend Erkenntnistheorie. Ob sich aber die Philosophie in dieser oder jener dieser grundsätzlich voneinander abweichenden Richtungen gestalte, das hängt wesentlich davon ab, was als jene voraussetzungsloseste und ursprünglichste und unumstößlichste Einsicht ausgegeben ist und in welcher Ordnung von Ursprung, Voraussetzung und Folge sich die ferneren Einsichten folgen. Darum muß auch jede Erörterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem der „Ordnung der fundamentalsten Evidenten“ beginnen. Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich diejenige, die schon zur Konstituierung des Sinnes des Wortes „Zweifel an Etwas“ (an dem Sein von Etwas, an der Wahrheit eines Satzes usw.) vorausgesetzt ist, ist aber die evidente Einsicht, die in Urteilsform besagt, daß überhaupt Etwas sei oder, noch schärfer gesagt, daß „nicht Nichts sei“ (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich das Nicht-Etwas noch das Nicht-Dasein von Etwas,

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sondern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen Seinsnegation im negierten Sein das So-Sein oder Wesen und das Da-Sein noch nicht scheidet). Der Tatbestand, daß nicht Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und unmittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen Verwunderung – wobei diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tatbestandes freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn ihr unter den die philosophische Haltung prädisponierenden Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter (und eben damit den Einsichtscharakter) des Tatbestandes des Seins auslöschende Demutshaltung vorangegangen ist. Also: Gleichgültig, auf welche Sache ich mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren Seinskategorien schon genauer bestimmte Sache – als da z.B. sind Sosein – Dasein; Bewußt-sein – Natursein; reales Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein – Aktsein, desgleichen Gegenstandsein – Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes „existentiales“ Sein; substantielles, attributives, akzidentielles oder Beziehungsein; Möglichsein, Notwendigsein oder Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-, Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; ausschließlich mentales „fiktives“ Sein (z.B. der nur vorgestellte „goldene Berg“ oder das nur vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein – ich hinblicke: an jedem einzelnen beliebig herausgegriffenen Beispiel innerhalb einer oder mehrerer sich je kreuzender sog. Arten des Seins, wie an jeder dieser herausgegriffenen Arten selbst wieder wird mir diese Einsicht mit unumstößlicher Evidenz klar – so klar, daß sie an Klarheit alles überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich gebracht werden kann. Freilich: Wer gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig übersehen. Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht minder evidenten, aber der Evidenz dieser Einsicht doch nachgeordneten Einsichten beginnen, wie z.B. der im cogito ergo sum vermeintlich liegenden Einsicht, oder in solchen Einsichten wie, daß es Wahrheit gäbe, daß es einen absoluten Wert gäbe, daß geurteilt wird, daß es Empfindungen gäbe, oder daß es eine „Vorstellung“ der Welt gäbe usw. Die Einsicht, von der wir reden, wäre nicht einmal evident – geschweige die ursprünglichste und bei jedem versuchten Zweifel an etwas schon

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vorausgegebene Einsicht – wenn sie zu „begründen“ wäre. Sehr wohl aber bedarf die Behauptung einer Begründung, daß sie und keine andere die erste und unumstößlichste Einsicht ist. Denn eben dies wird ja sogar von der Mehrzahl der Philosophen, z.B. von allen Philosophen bestritten, welche die Einsicht in den Bestand von Erkenntnis – oder wie andere, die Einsicht in den Bestand von Wahrsein, Gültigsein oder sogar Wertsein – dieser Einsicht wollen an Evidenz vorhergehen lassen. Darum sind besondere, allgemein erkannte Methoden zu finden, um den Primat dieser Einsicht vor allen anderen zu erhärten, und es wäre mit Hilfe dieser Methoden jeder Versuch, an die Stelle dieser Einsicht eine andere zu setzen, in extenso zu widerlegen12. Ehe diese Methoden entwickelt und an einigen Beispielen angewendet werden, ist aber eine zweite Einsicht aufzuführen, die auf Grund der ersten und auf Grund einer Einteilung des Seins besteht, die aller Sonderung der Seinsarten, Seinsformen usw. überlegen ist, also von allen sonstigen Einteilungen des Seins auch nur geschnitten werden kann. Die Scheidung, die ich meine, betrifft den Unterschied, der zwischen einem und einem anderen nicht Nichtseienden in der Rücksicht obwaltet, ob es nur in einseitiger resp. gegenseitiger Abhängigkeit von einem anderen Seienden, oder mit Ausschluß jeder möglichen Abhängigkeit von einem anderen Seienden, und das heißt: auf „absolute“ Weise ist. Ein Seiendes also, das – wenn es ist – ausschließlich ist, sein Sein in sich und nur in sich hat, also von nichts zu Lehen trägt, wollen wir – wie immer es sonst nach den übrigen Seinsunterschieden bestimmt sein mag – das absolut Seiende nennen. Das absolut Seiende kann im Verhältnis zu anderen Seinsunterschieden je verschieden aufgefaßt und begriffen werden, ohne daß diese Unterschiede in ihm selbst vorhanden sind. Es kann z.B. gegenüber der gesamten Sphäre des möglichen (stets relativen) Gegenstandseins (für einen möglichen Akt des Meinens) als das auch „Fürsichseiende“ („ens pro se“) bezeichnet werden. Es kann gegenüber allem Sein, das einer möglichen urteilsmäßigen Anerkennung resp. eines satzmäßigen Wahrseins „über“ sein Sein zu seinem Sein bedarf, als „ens a se“, gegenüber allem Seienden, das nur „durch“ (sei es nur logisch oder auch kausal) ein 12

Eingehend soll dies geschehen in meinem demnächst erscheinenden Buche: „Die Welt und ihre Erkenntnis. Versuch einer Lösung des Erkenntnisproblems“.

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anderes Sein ist, als „ens per se“ bezeichnet werden. Es kann gegenüber allem absoluten Sein, das nur absolutes Sein einer nur gemeinten, d.h. mentalen oder fiktiven Existenz ist, das nicht nur meinungsrelative absolute Sein, sondern das zu allem Meinen absolut-absolute Sein genannt werden. Das alles und ähnliches sind nur relativ sinnvolle Bestimmungen des absoluten Seins, die berechtigt sind, nicht aber in sein Sein selbst hineingetragen werden dürfen. Dann ist die Einsicht, daß ein absolut Seiendes ist, oder ein Seiendes, durch das alles andere nichtabsolute Sein sein ihm zukommendes Sein besitzt, die zweitevidente Einsicht. Denn wenn es (wie wir an jedem Beispiel eines irgendwie Seienden klar erkennen) überhaupt Etwas gibt und nicht lieber überhaupt Nichts, so kann zwar dasjenige an unseren beliebig zu musternden „Beispielen“, was relatives Nichtsein (sowohl Nicht-Etwas-sein wie Nicht-Dasein) an ihnen ist, auf die möglichen Abhängigkeiten und Relationen geschoben werden, welche deren Sein von anderem Sein besitzt (darunter auch von dem erkennenden Subjekt), niemals aber ihr Sein selbst. Dieses Sein selber fordert nicht vermöge eines Schlusses, sondern vermöge einer unmittelbar anschauenden Einsicht eine Quelle in einem schlechthin und ohne jede nähere einschränkende Bestimmung Seienden. Dem Leugner dieses Satzes kann man nur zeigen, daß selbst der Versuch seiner Leugnung und alle seine Argumente das absolut Seiende selbst in seiner eigenen Intention als ihm faktisch gegeben und von ihm faktisch anerkannt voraussetzen. Er faßt es faktisch in jeder seiner Intentionen „mit“ ins geistige Auge, wie sofort sonnenklar wird beim intellektuellen Versuch seiner Wegnahme, – er sieht durch das Gewebe jedes relativen Seins, also auch jedes relativen Nichtseins, auf es hindurch und in seine Richtung. Um aber in seine Richtung zu sehen, muß er auch das Ziel soweit sehen, als es eben nichts weiter ist als das absolut Seiende – ohne nähere Bestimmung. Freilich: das Leuchten des Lichts dieser Wahrheit ist nicht an erster Stelle von logischer Akribie abhängig. Wie die Einsicht in den ersten Satz davon abhängig ist, daß man sich die zweifellose objektive Möglichkeit, daß überhaupt Nichts sei, nicht nur dann und wann urteilsmäßig zum Bewußtsein gebracht hat, sondern gleichsam in ihr so lebt, daß das Sein jedes Seienden als wunderbare Aufhebung dieser Möglichkeit gegeben ist – als die ewig erstaunliche Zudeckung des Abgrundes des absoluten Nichts

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–, so ist das Leuchten des Lichts dieser zweiten Einsicht davon abhängig, daß man an allem relativen und abhängigen Sein (und hier an erster Stelle an sich selbst) nicht nur das Sein, sondern auch das relative Nichtsein mitgewahrt, also nicht – ohne es recht zu merken und zu wissen – heimlich irgendein relatives Sein mit dem absoluten Sein identifiziert. Nicht das ist daher eine Frage, ob die Menschen das Sein des absoluten Seins in jedem Momente ihres bewußten Lebens mitgewahren, mit-meinen, sondern nur das ist eine Frage, ob es sich auch für sie vom relativen Sein genügend streng und klar abhebe, oder für ihr Bewußtsein heimlich mit diesem oder jenem Teile dieses relativen Seins dadurch verschmelze, daß sie, dessen relatives Nichtsein nicht mitgewahrend, es dem absoluten Sein bewußt oder unbewußt gleichsetzen und unterschieben. Wer immer ein relativ Seiendes verabsolutiert, der muß notwendig, da er nunmehr das absolute Sein nicht mehr geschieden von diesem gewahrt, dasjenige werden, was man einen Relativisten nennt. Immer – immer ist der Relativist ja nur der Absolutist des Relativen. Schon hier also gilt das früher Gesagte, daß eine gewisse moralische Haltung der ganzen Person eine Voraussetzung für die Klarheit des Lichtes einer philosophischen Einsicht ist. Denn nur wer auch, ja wer zuvor in dem Wertaspekt der Welt und seiner selbst neben dem relativen „Stolz“ des Seins und des positiven Wertes jedes Dinges auch das Maß und die Art der ihm gebührenden „Demut“ seines relativen Nichtseins und seines Unwertes mit wahrnimmt, und wessen Liebe zugleich auf das absolut und positiv Wertvolle (das summum bonum) als auf ein in seinem Bewußtsein von den übrigen relativen Gütern gesondertes Gut klar gerichtet ist, wird auch die oben genannten Bedingungen erfüllen können, ohne deren Erfüllung ihm das Licht beider Einsichten nicht leuchtet. Denn sowohl die „Selbstverständlichkeit des Seins, die eben gerade das ist, was die klare Einsicht in die unermeßliche Positivität des Tatbestandes, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, versperrt, wie auch die bei je verschiedenen Subjekten in verschiedener Weise und an verschiedenen Zonen des relativen Seins stattfindende Verleugnung des relativen Nichtseins der Dinge, ihrer relativen „Nichtigkeit“ – beide sind eine abhängige Funktion jenes „natürlichen Stolzes“, jener natürlich-instinktiven (freilich biologisch zweckmäßigen) Selbstüberschätzung und daraus folgenden Selbstsicherheit des Daseins, die z.B. auch den Tod und die unermeßliche Zeit, da wir

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nicht waren und nicht sein werden, vor dem Bewußtsein so merkwürdig verleugnen läßt. Und nur, wenn wir uns zu wundern gelernt haben, daß wir selber nicht nicht sind, werden wir auch die ganze Klarheitsfülle des Lichts der beiden genannten Einsichten und ihren Evidenz-Vorzug vor allen anderen Einsichten voll empfangen können. Die dritte Einsicht, die in der „Ordnung der Evidenz“ folgt, d.h. so „folgt“, daß wir unter den Gliedern dieser Ordnung das je vorhergehende je schon wesensmäßig einsahen – wenn das folgende Glied einsehen zu wollen auch nur einen möglichen Sinn besitzen soll –, oder, anders gesagt, so folgt, daß wir das je folgende noch sinnmöglich „bezweifeln“ können, wenn wir es bei den vorhergehenden schon nicht mehr vermögen, entspricht in Urteilsform dem Satze, daß alles mögliche Seiende ein Wesensein oder Wassein (Essentia) und ein Dasein (Existentia) notwendig besitzt, und dies ganz gleichgültig, was sonst es sein mag und welcher Sphäre des Seins es nach anderen möglichen Scheidungen der Seinsarten und -formen auch angehören mag. Auch hier genügt jedes beliebige Beispiel eines Seienden (sei es Akt-Sein oder Gegenstand-Sein, sei es „ein“ Seiendes oder selbst schon eine besondere Form des Seins, wie z.B. reales Sein und objektives nichtreales Sein oder subsistentes und inhärentes Sein), um die für jedes mögliche Sein überhaupt gültige Scheidbarkeit von Wesen und Dasein aufzuzeigen, zugleich aber die Einsicht zu gewinnen, daß jegliches Seiende notwendig ein Wesen und ein Dasein besitzen müße. Auch das Realsein z.B. hat wieder sein besonderes Wesen. Es muß also auch zu jedem Wesen von Etwas auch irgendein Dasein gehören und zu jedem Dasein ein bestimmtes Wesen – obzwar die Wesenserkenntnis eine vollständig verschiedene ist von der Daseinserkenntnis, verschieden ebensowohl an Evidenz wie an Geltungsweite, wie auch an Erreichbarkeit für uns. Denn unsere Daseinserkenntnis und Daseinszusammenhangserkenntnis ist weit eingeschränkter als unsere Wesens- und Wesenszusammenhangserkenntnis der Welt. Dürfen wir doch hier schon den grundlegenden Satz aussprechen, daß, was immer im Wesen irgendwelcher Gegenstände enthalten ist oder von ihnen qua Wesen gilt, a priori und notwendig auch in allen möglichen daseienden Gegenständen desselben Wesens enthalten ist oder von ihnen gilt – ob diese daseienden Gegenstände oder ein Teil von ihnen für uns erkennbar seien oder nicht; wogegen keineswegs alles, was von den als daseiend

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erkannten Gegenständen gilt oder in ihnen enthalten ist, auch vom Wesen dieser Gegenstände gilt oder in ihm enthalten ist13. Haben wir uns den puren Wasgehalt eines Gegenstandes (oder eines Aktes) zur vollen Einsicht gebracht oder eine bestimmte Ordnung oder einen Zusammenhang solcher Gehalte, so hat diese Einsicht Eigenschaften, die sie von aller Erkenntnis des Reiches des ihr gegenüber „zufälligen“ Daseins grundsätzlich unterscheidet: Sie ist abgeschlossen, also unvermehrbar und unverminderbar, d.h. streng evident, wogegen aller Erkenntnis zufälligen Daseins (wie immer es gefunden werde, durch direkte Wahrnehmung oder durch Schlüsse) nie mehr als Vermutungsevidenz oder vorbehaltliche Evidenz gegenüber neuer Erfahrung resp. einem erweiterten Schlußzusammenhang zukommt (objektiv also in Urteilsform nicht Wahrheit, sondern Wahrscheinlichkeit). Sie ist Einsicht und „gilt“ (in Urteilsform) „apriori“ für alles mögliche Daseiende desselben Wesens, auch das uns jetzt unbekannte oder überhaupt unerkennbare. Alle wahre Apriorität ist insofern Wesensapriorität. Sie ist drittens als bloße Wesenseinsicht ebensowohl (ja oft leichter) vollziehbar an dem bloßen Gemeintsein der Ficta des betreffenden Wesens, als an wirklich daseienden Gegenständen dieses Wesens. Wenn ich z.B. etwas faktisch Unlebendiges durch Täuschung für lebendig halte, die Lebendigkeit des im Täuschungsakt gemeinten Gegenstandseins also ein Fictum ist, so muß doch das Wesen des Lebendigen im Fictum ebensowohl enthalten sein wie im wahrnehmenden Auffassen eines faktisch Lebendigen. Nur bezüglich des absoluten Seins, dessen einsichtiger, nach Wesen und Dasein noch ungeschiedener Bestand dieser Scheidung von 13

Da das formale und materiale Wesensapriori nicht nur gilt „für“ das Daseiende, an dem es zufällig gefunden ist und das in den Grenzen unserer Daseinserfahrung gelegen ist, sondern auch für dasjenige Daseiende desselben Wesens, das jenseits und außerhalb der Sphäre unserer möglichen Daseinserfahrung gelegen ist, haben wir in ihm auf alle Fälle ein Wissen, das – ohne die Wesenheiten der erfahrungstranszendenten Sphäre erschöpfen zu müssen – für diese Sphäre und ihr Daseiendes auf alle Fälie mitgültig ist. Wie sich daraus eine positive Lösung der Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik gewinnen und das Verdikt Kants über die Metaphysik widerlegen läßt, kann hier nicht gezeigt werden und bleibt einer systematischen Behandlung des Erkenntnisproblems vorbehalten.

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Wesen und Dasein und den beide betreffenden wahren Sätzen vorhergeht, nicht also folgt, ist die Bemerkung hinzuzufügen, daß es, da es seinem Begriffe nach in seinem Sein überhaupt von keinem anderen möglichen Sein abhängt, auch dem Dasein nach nicht zufällig sein kann, sein Dasein vielmehr so beschlossen sein muß, daß es aus seinem Wesen (welch immer dies sei) selbst und ausschließlich notwendig folge. Während also die Scheidung von Wesen und Dasein innerhalb alles relativ Seienden eine ontische ist, im Sein der Sachen selbst und nicht in unserem Verstande gelegene, ist sie gegenüber dem absoluten Seienden – was immer es sei – nur erkenntnisrelativ auf ein erkennendes Subjekt. Da-Sein und Wesen fallen im absoluten Sein in eins zusammen, freilich so, daß unter der Voraussetzung der erkenntnisrelativen Trennung sein Dasein aus seinem Wesen folgt, nicht aber umgekehrt sein Wesen aus seinem Dasein. Schon damit haben wir zur Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie zwar noch nicht alle, aber einige wesentliche Materialien gewonnen. Wir dürfen sagen: Philosophie ist ihrem Wesen nach streng evidente, durch Induktion unvermehrbare und unvernichtbare, für alles zufällig Daseiende „a priori“ gültige Einsicht in alle uns an Beispielen zugänglichen Wesenheiten und Wesenszusammenhänge des Seienden, und zwar in der Ordnung und dem Stufenreich, in denen sie sich im Verhältnis zum absolut Seienden und seinem Wesen befinden. Die Richtung des Erkennens auf die Absolutsphäre oder das Verhältnis zur Absolutsphäre alles möglichen objektiven Seins und die Richtung auf die Wesenssphäre alles objektiven möglichen Seins im Unterschiede zu seiner zufälligen Daseinssphäre – das und das allein macht die Natur des philosophischen Erkennens an erster Stelle aus; und dies im strengsten Unterschied von den Wissenschaften, die es ebenso notwendig mit auf mannigfachste Weise seins-relativem (und zwar daseins- wie wesensrelativem) Sein zu tun haben und die alle ihre Erkenntnisse entweder (freilich auf Grund von in Wesenszusammenhängen gründenden sog. Axiomen) an dem intramentalen Sein bloßer Ficta vollziehen (so die gesamte Mathematik), oder an zufälligem Dasein und seinem Daseinszusammenhang. Indes schon in dieser unvollständigen Gegenstandsbestimmung der Philosophie wie in allem früher über sie Gesagten kommt ein Begriff vor, der bisher ungeprüft zugelassen war, der aber angesichts des weit

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überwiegenden Zuges der modernen Philosophie seit Descartes alles Gesagte in Frage zu ziehen scheint. Dieser Begriff ist jener der Erkenntnis und alle mit ihm zusammengehörigen Begriffe. Wir haben zu sagen, welche Art Sein das Sein der Erkenntnis ist, und wir sind um so mehr dazu verpflichtet, als wir in der Ordnung des Evidenten oder der Stufen möglicher Bezweifelbarkeit von Einsichten nicht wie Descartes, Locke, Kant und andere von der „Erkenntnis“ oder dem „Denken“ oder dem „Bewußtsein“ oder irgend einer Art von „Ich“ oder dem Urteil usw. ausgegangen sind, um erst mit deren Hilfe die ontischen Grundbegriffe zu gewinnen. Ja wir werden die bisher gewonnene Evidenzordnung unserer drei Sätze selbst nur endgültig aufrecht erhalten können, wenn wir die von diesen Forschern angenommene Evidenzordnung nicht nur auf dem Boden der unsrigen widerlegen, sondern auch positiv zeigen, was denn nun Erkenntnis überhaupt in einem Reiche bloß seiender Etwasse selber sei und bedeute. Mit der Erörterung dieser Frage, die über die Bestimmung des Wesens der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens bereits erheblich hinausreicht, seien die Veröffentlichungen über „die Welt und ihre Erkenntnis“ begonnen, die wir demnächst der Öffentlichkeit vorzulegen gedenken.

MARTIN HEIDEGGER SEIN UND ZEIT § 7. Die phänomenologische Methode der Untersuchung Mit der vorläufigen Charakteristik des thematischen Gegenstandes der Untersuchung (Sein des Seienden, bzw. Sinn des Seins überhaupt) scheint auch schon ihre Methode vorgezeichnet zu sein. Die Abhebung des Seins vom Seienden und die Explikation des Seins selbst ist Aufgabe der Ontologie. Und die Methode der Ontologie bleibt im höchsten Grade fragwürdig, solange man etwa bei geschichtlich überlieferten Ontologien oder dergleichen Versuchen Rat erbitten wollte. Da der Terminus Ontologie für diese Untersuchung in einem formal weiten Sinne gebraucht wird, verbietet sich der Weg, ihre Methode im Verfolg ihrer Geschichte zu klären, von selbst. Mit dem Gebrauch des Terminus Ontologie ist auch keiner bestimmten philosophischen Disziplin das Wort geredet, die im Zusammenhang mit den übrigen stände. Es soll überhaupt nicht der Aufgabe einer vorgegebenen Disziplin genügt werden, sondern umgekehrt: aus den sachlichen Notwendigkeiten bestimmter Fragen und der aus den »Sachen selbst« geforderten Behandlungsart kann sich allenfalls eine Disziplin ausbilden. Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die phänomenologische. Damit verschreibt sich diese Abhandlung weder einem »Standpunkt«, noch einer »Richtung«, weil Phänomenologie keines von beiden ist und nie werden kann, solange sie sich selbst versteht. Der Ausdruck »Phänomenologie« bedeutet primär einen Methodenbegriff. Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser. Je echter ein Methodenbegriff sich auswirkt und je umfassender er den grundsätzlichen Duktus einer Wissenschaft bestimmt, um so ursprünglicher ist er in der Auseinandersetzung mit den Sachen selbst verwurzelt, um so weiter entfernt er sich von dem, was wir einen technischen Handgriff nennen, deren es auch in den theoretischen Disziplinen viele gibt.

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Der Titel »Phänomenologie« drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: »zu den Sachen selbst!« – entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als »Probleme« breitmachen. Diese Maxime ist aber doch – möchte man erwidern – reichlich selbstverständlich und überdies ein Ausdruck des Prinzips jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Man sieht nicht ein, warum diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich in die Titelbezeichnung einer Forschung aufgenommen werden soll. Es geht in der Tat um eine »Selbstverständlichkeit«, die wir uns näher bringen wollen, soweit das für die Aufhellung des Vorgehens dieser Abhandlung von Belang ist. Wir exponieren nur den Vorbegriff der Phänomenologie. Der Ausdruck hat zwei Bestandstücke: Phänomen und Logos; beide gehen auf griechische Termini zurück: fainÒmenon und lÒgoj. Äußerlich genommen ist der Titel Phänomenologie entsprechend gebildet wie Theologie, Biologie, Soziologie, welche Namen übersetzt werden: Wissenschaft von Gott, vom Leben, von der Gemeinschaft. Phänomenologie wäre demnach die Wissenschaft von den Phänomenen. Der Vorbegriff der Phänomenologie soll herausgestellt werden durch die Charakteristik dessen, was mit den beiden Bestandstücken des Titels, »Phänomen« und »Logos«, gemeint ist und durch die Fixierung des Sinnes des aus ihnen zusammengesetzten Namens. Die Geschichte des Wortes selbst, das vermutlich in der Schule Wolffs entstand, ist hier nicht von Bedeutung. A. Der Begriff des Phänomens Der griechische Ausdruck fainÒmenon, auf den der Terminus »Phänomen« zurückgeht, leitet sich von dem Verbum fa…nesqai her, das bedeutet: sich zeigen; fainÒmenon besagt daher: das, was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare; fa…nesqai selbst ist eine mediale Bildung von fa…nw, an den Tag bringen, in die Helle stellen; fa…nw gehört zum Stamm fa- wie fîj, das Licht, die Helle, d.h. das, worin etwas offenbar, an ihm selbst sichtbar werden kann. Als Bedeutung des Ausdrucks »Phänomen« ist daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare. Die fainÒmena, »Phäno-mene«, sind dann die Gesamtheit

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dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann, was die Griechen zuweilen einfach mit t¦ Ônta (das Seiende) identifizierten. Seiendes kann sich nun in verschiedener Weise, je nach der Zugangsart zu ihm, von ihm selbst her zeigen. Die Möglichkeit besteht sogar, daß Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist. In diesem Sichzeigen »sieht« das Seiende »so aus wie …«. Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen. Und so hat auch im Griechischen der Ausdruck fainÒmenon, Phänomen, die Bedeutung: das so Aussehende wie, das »Scheinbare«, der »Schein«; fainÒmenon ¢gaqÒn meint ein Gutes, das so aussieht wie – aber »in Wirklichkeit« das nicht ist, als was es sich gibt. Für das weitere Verständnis des Phänomenbegriffes liegt alles daran zu sehen, wie das in den beiden Bedeutungen von fainÒmenon Genannte (»Phänomen« das Sichzeigende und »Phänomen« der Schein) seiner Struktur nach unter sich zusammenhängt. Nur sofern etwas überhaupt seinem Sinne nach prätendiert, sich zu zeigen, d. h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als etwas, was es nicht ist, kann es »nur so aussehen wie …«. In der Bedeutung fainÒmenon (»Schein«) liegt schon die ursprüngliche Bedeutung (Phänomen: das Offenbare) mitbeschlossen als die zweite fundierend. Wir weisen den Titel »Phänomen« terminologisch der positiven und ursprünglichen Bedeutung von fainÒmenon zu und unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen Modifikation von Phänomen. Was aber beide Termini ausdrücken, hat zunächst ganz und gar nichts zu tun mit dem, was man »Erscheinung« oder gar »bloße Erscheinung« nennt. So ist die Rede von »Krankheitserscheinungen«. Gemeint sind Vorkommnisse am Leib, die sich zeigen und im Sichzeigen als diese Sichzeigenden etwas »indizieren«, was sich selbst nicht zeigt. Das Auftreten solcher Vorkommnisse, ihr Sichzeigen, geht zusammen mit dem Vorhandensein von Störungen, die selbst sich nicht zeigen. Erscheinung als Erscheinung »von etwas« besagt demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt. Erscheinen ista ein Sich-nicht-zeigen. Dieses »Nicht« darf aber keineswegs mit dem privativen Nicht zusammengeworfen werden, als welches es die Struktur des Scheins bestimmt. Was sich in der a

in diesem Falle

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Weise nicht zeigt, wie das Erscheinende, kann auch nie scheinen. Alle Indikationen, Darstellungen, Symptome und Symbole haben die angeführte formale Grundstruktur des Erscheinens, wenngleich sie unter sich noch verschieden sind. Obzwar »Erscheinen« nicht und nie ist ein Sichzeigen im Sinne von Phänomen, so ist doch Erscheinen nur möglich auf dem Grunde eines Sichzeigens von etwas. Aber dieses das Erscheinen mit ermöglichende Sichzeigen ist nicht das Erscheinen selbst. Erscheinen ist das Sich-melden durch etwas, was sich zeigt. Wenn man dann sagt, mit dem Wort »Erscheinung« weisen wir auf etwas hin, darin etwas erscheint, ohne selbst Erscheinung zu sein, so ist damit nicht der Begriff von Phänomen umgrenzt, sondern vorausgesetzt, welche Voraussetzung aber verdeckt bleibt, weil in dieser Bestimmung von »Erscheinung« der Ausdruck »erscheinen« doppeldeutig gebraucht wird. Das, worin etwas »erscheint«, besagt, worin sich etwas meldet, d.h. sich nicht zeigt; und in der Rede: »ohne selbst ,Erscheinung‘ zu sein« bedeutet Erscheinung das Sichzeigen. Dieses Sichzeigen gehört aber wesenhaft zu dem »Worin«, darin sich etwas meldet. Phänomene sind demnach nie Erscheinungen, wohl aber ist jede Erscheinung angewiesen auf Phänomene. Definiert man Phänomen mit Hilfe eines zudem noch unklaren Begriffes von »Erscheinung«, dann ist alles auf den Kopf gestellt, und eine »Kritik« der Phänomenologie auf dieser Basis ist freilich ein merkwürdiges Unterfangen. Der Ausdruck »Erscheinung« kann selber wieder ein Doppeltes bedeuten: einmal das Erscheinen im Sinne des Sich-meldens als Sichnicht-zeigen und dann das Meldende selbst – das in seinem Sichzeigen etwas Sich-nicht-zeigendes anzeigt. Und schließlich kann man Erscheinen gebrauchen als Titel für den echten Sinn von Phänomen als Sichzeigen. Bezeichnet man diese drei verschiedenen Sachverhalte als »Erscheinung«, dann ist die Verwirrung unvermeidlich. Sie wird aber noch wesentlich dadurch gesteigert, daß »Erscheinung« noch eine andere Bedeutung annehmen kann. Faßt man das Meldende, das in seinem Sichzeigen das Nichtoffenbare anzeigt, als das, was an dem selbst Nichtoffenbaren auftritt, von diesem ausstrahlt, so zwar, daß das Nichtoffenbare gedacht wird als das wesenhaft nie Offenbare – dann besagt Erscheinung soviel wie Hervorbringung, bzw. Hervorgebrachtes, das aber nicht das eigentliche Sein des Hervorbringenden ausmacht:

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Erscheinung im Sinne von »bloßer Erscheinung«. Das hervorgebrachte Meldende zeigt sich zwar selbst, so zwar, daß es, als Ausstrahlung dessen, was es meldet, dieses gerade ständig an ihm selbst verhüllt. Aber dieses verhüllende Nichtzeigen ist wiederum nicht Schein. Kant gebraucht den Terminus Erscheinung in dieser Verkoppelung. Erscheinungen sind nach ihm einmal die »Gegenstände der empirischen Anschauung«, das, was sich in dieser zeigt. Dieses Sichzeigende (Phänomen im echten ursprünglichen Sinne) ist zugleich »Erscheinung« als meldende Ausstrahlung von etwas, was sich in der Erscheinung verbirgt. Sofern für »Erscheinung« in der Bedeutung von Sichmelden durch ein Sichzeigendes ein Phänomen konstitutiv ist, dieses aber privativ sich abwandeln kann zu Schein, so kann auch Erscheinung zu bloßem Schein werden. In bestimmter Beleuchtung kann jemand so aussehen, als hätte er gerötete Wangen, welche sich zeigende Röte als Meldung vom Vorhandensein von Fieber genommen werden kann, was seinerseits noch wieder eine Störung im Organismus indiziert. Phänomen – das Sich-an-ihm-selbst-zeigen – bedeutet eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas. Erscheinung dagegen meint einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, »Phänomen« ist. Erscheinung und Schein sind selbst in verschiedener Weise im Phänomen fundiert. Die verwirrende Mannigfaltigkeit der »Phänomene«, die mit den Titeln Phänomen, Schein, Erscheinung, bloße Erscheinung genannt werden, läßt sich nur entwirren, wenn von Anfang an der Begriff von Phänomen verstanden ist: das Sichan-ihm-selbst-zeigende. Bleibt in dieser Fassung des Phänomenbegriffes unbestimmt, welches Seiende als Phänomen angesprochen wird, und bleibt überhaupt offen, ob das Sichzeigende je ein Seiendes ist oder ob ein Seinscharakter des Seienden, dann ist lediglich der formale Phänomenbegriff gewonnen. Wird aber unter dem Sichzeigenden das Seiende verstanden, das etwa im Sinne Kants durch die empirische Anschauung zugänglich ist, dann kommt dabei der formale Phänomenbegriff zu einer rechtmäßigen Anwendung. Phänomen in diesem Gebrauch erfüllt die Bedeutung des vulgären Phänomenbegriffs. Dieser vulgäre ist aber nicht der phänomenologische Begriff von Phänomen. Im Horizont der Kantischen Problematik kann das, was

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phänomenologisch unter Phänomen begriffen wird, vorbehaltlich anderer Unterschiede, so illustriert werden, daß wir sagen: was in den Erscheinungen, dem vulgär verstandenen Phänomen, je vorgängig und mitgängig, obzwar unthematisch, sich schon zeigt, kann thematisch zum Sichzeigen gebracht werden, und dieses Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende (»Formen der Anschauung«) sind Phänomene der Phänomenologie. Denn offenbar müssen sich Raum und Zeit so zeigen können, sie müssen zum Phänomen werden können, wenn Kant eine sachgegründete transzendentale Aussage damit beansprucht, wenn er sagt, der Raum sei das apriorische Worinnen einer Ordnung. Soll aber nun der phänomenologische Phänomenbegriff überhaupt verstanden werden, abgesehen davon, wie das Sichzeigende näher bestimmt sein mag, dann ist dafür die Einsicht in den Sinn des formalen Phänomenbegriffs und seiner rechtmäßigen Anwendung in einer vulgären Bedeutung unumgängliche Voraussetzung. – Vor der Fixierung des Vorbegriffes der Phänomenologie ist die Bedeutung von lÒgoj zu umgrenzen, damit deutlich wird, in welchem Sinne Phänomenologie überhaupt »Wissenschaft von« den Phänomenen sein kann. B. Der Begriff des Logos Der Begriff des lÒgoj ist bei Plato und Aristoteles vieldeutig, und zwar in einer Weise, daß die Bedeutungen auseinanderstreben, ohne positiv durch eine Grundbedeutung geführt zu sein. Das ist in der Tat nur Schein, der sich so lange erhält, als die Interpretation die Grundbedeutung in ihrem primären Gehalt nicht angemessen zu fassen vermag. Wenn wir sagen, die Grundbedeutung von lÒgoj ist Rede, dann wird diese wörtliche Übersetzung erst vollgültig aus der Bestimmung dessen, was Rede selbst besagt. Die spätere Bedeutungsgeschichte des Wortes lÒgoj und vor allem die vielfältigen und willkürlichen Interpretationen der nachkommenden Philosophie verdecken ständig die eigentliche Bedeutung von Rede, die offen genug zutage liegt. lÒgoj wird »übersetzt«, d.h. immer ausgelegt als Vernunft, Urteil, Begriff, Definition, Grund, Verhältnis. Wie soll aber »Rede« sich so modifizieren können, daß lÒgoj all das Aufgezählte bedeutet und zwar innerhalb des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs? Auch wenn lÒgoj im Sinne von Aussage verstanden wird, Aussage aber

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als »Urteil«, dann kann mit dieser scheinbar rechtmäßigen Übersetzung die fundamentale Bedeutung doch verfehlt sein, zumal wenn Urteil im Sinne irgendeiner heutigen »Urteilstheorie« begriffen wird. lÒgoj besagt nicht und jedenfalls nicht primär Urteil, wenn man darunter ein »Verbinden« oder eine »Stellungnahme« (Anerkennen – Verwerfen) versteht. lÒgoj als Rede besagt vielmehr soviel wie dhloàn, offenbar machen das, wovon in der Rede »die Rede« ist. Aristoteles hat diese Funktion der Rede schärfer expliziert als ¢pofa…nesqai.1 Der lÒgoj läßt etwas sehen (fa…nesqai), nämlich das, worüber die Rede ist und zwar für den Redenden (Medium), bzw. für die miteinander Redenden. Die Rede »läßt sehen» ¢pÕ ... von dem selbst her, wovon die Rede ist. In der Rede (¢pÒfansij) soll, wofern sie echt ist, das, was geredet ist, aus dem, worüber geredet wird, geschöpft sein, so daß die redende Mitteilung in ihrem Gesagten das, worüber sie redet, offenbar und so dem anderen zugänglich macht. Das ist die Struktur des lÒgoj als ¢pÒfansij. Nicht jeder »Rede« eignet dieser Modus des Offenbarmachens im Sinne des aufweisenden Sehenlassens. Das Bitten (eÙc») z.B. macht auch offenbar, aber in anderer Weise. Im konkreten Vollzug hat das Reden (Sehenlassen) den Charakter des Sprechens, der stimmlichen Verlautbarung in Worten. Der lÒgoj ist fwn» und zwar fwn» met¦ fantas…aj – stimmliche Verlautbarung, in der je etwas gesichtet ist. Und nur weil die Funktion des lÒgoj als ¢pÒfansij im aufweisenden Sehenlassen von etwas liegt, kann der lÒgoj die Strukturform der sÚnqesij haben. Synthesis sagt hier nicht Verbinden und Verknüpfen von Vorstellungen, Hantieren mit psychischen Vorkommnissen, bezüglich welcher Verbindungen dann das »Problem« entstehen soll, wie sie als Inneres mit dem Physischen draußen übereinstimmen. Das sun hat hier rein apophantische Bedeutung und besagt: etwas in seinem Beisammen mit etwas, etwas als etwas sehen lassen. Und wiederum, weil der lÒgoj ein Sehenlassen ist, deshalb kann er wahr oder falsch sein. Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer »Übereinstimmung« freizuhalten. Diese Idee ist keinesfalls die primäre im Begriff der ¢l»qeia. Das »Wahrsein« 1

Vgl. de interpretatione Kap. 1-6. Femer Met. Z 4 und Eth. Nic. Z.

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des lÒgoj als ¢lhqeÚein besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, im lšgein als ¢pofa…nesqai aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes (¢lhqšj) sehen lassen, entdecken. Imgleichen besagt das »Falschsein« yeÚdesqai soviel wie Täuschen im Sinne von verdecken: etwas vor etwas stellen (in der Weise des Sehenlassens) und es damit ausgeben als etwas, was es nicht ist. Weil aber »Wahrheit« diesen Sinn hat und der lÒgoj ein bestimmter Modus des Sehenlassens ist, darf der lÒgoj gerade nicht als der primäre »Ort« der Wahrheit angesprochen werden. Wenn man, wie es heute durchgängig üblich geworden ist, Wahrheit als das bestimmt, was »eigentlich« dem Urteil zukommt, und sich mit dieser These überdies auf Aristoteles beruft, dann ist sowohl diese Berufung ohne Recht, als vor allem der griechische Wahrheitsbegriff mißverstanden. »Wahr« ist im griechischen Sinne und zwar ursprünglicher als der genannte lÒgoj die a‡sqhsij, das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas. Sofern eine a‡sqhsij je auf ihre ‡dia zielt, das je genuin nur gerade durch sie und für sie zugängliche Seiende, z.B. das Sehen auf die Farben, dann ist das Vernehmen immer wahr. Das besagt: Sehen entdeckt immer Farben, Hören entdeckt immer Töne. Im reinsten und ursprünglichsten Sinne »wahr« – d. h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann, ist das reine noe‹n, das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen. Dieses noe‹n kann nie verdecken, nie falsch sein, es kann allenfalls ein Unvernehmen bleiben, ¢gnoe‹n, für den schlichten, angemessenen Zugang nicht zureichen. Was nicht mehr die Vollzugsform des reinen Sehenlassens hat, sondern je im Aufweisen auf ein anderes rekurriert und so je etwas als etwas sehen läßt, das übernimmt mit dieser Synthesisstruktur die Möglichkeit des Verdeckens. Die »Urteilswahrheit« aber ist nur der Gegenfall zu diesem Verdecken – d.h. ein mehrfach fundiertes Phänomen von Wahrheit. Realismus und Idealismus verfehlen den Sinn des griechischen Wahrheitsbegriffes, aus dem heraus man überhaupt nur die Möglichkeit von so etwas wie einer »Ideenlehre« als philosophischer Erkenntnis verstehen kann, mit gleicher Gründlichkeit. Und weil die Funktion des lÒgoj im schlichten Sehenlassen von etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden, kann lÒgoj Vernunft bedeuten. Und weil wiederum lÒgoj gebraucht wird nicht nur in der Bedeutung von

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lšgein, sondern zugleich in der von legÒmenon, das Aufgezeigte als solches, und weil dieses nichts anderes ist als das Øpoke…menon, was für jedes zugehende Ansprechen und Besprechen je schon als vorhanden zum Grunde liegt, besagt lÒgoj qua legÒmenon Grund, ratio. Und weil schließlich lÒgoj qua legÒmenon auch bedeuten kann: das als etwas Angesprochene, was in seiner Beziehung zu etwas sichtbar geworden ist, in seiner »Bezogenheit«, erhält lÒgoj die Bedeutung von Beziehung und Verhältnis. Diese Interpretation der »apophantischen Rede« mag für die Verdeutlichung der primären Funktion des lÒgoj zureichen. C. Der Vorbegriff der Phänomenologie Bei einer konkreten Vergegenwärtigung des in der Interpretation von »Phänomen« und »Logos« Herausgestellten springt ein innerer Bezug zwischen dem mit diesen Titeln Genieinten in die Augen. Der Ausdruck Phänomenologie läßt sich griechisch formulieren: lšgein t¦ fainÒmena; lšgein besagt aber ¢pofa…nesqai. Phänomenologie sagt dann: ¢pofa…nesqai t¦ fainÒmena: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. Das ist der formale Sinn der Forschung, die sich den Namen Phänomenologie gibt. So kommt aber nichts anderes zum Ausdruck als die oben formulierte Maxime: »Zu den Sachen selbst!« Der Titel Phänomenologie ist demnach hinsichtlich seines Sinnes ein anderer als die Bezeichnungen Theologie u. dgl. Diese nennen die Gegenstände der betreffenden Wissenschaft in ihrer jeweiligen Sachhaltigkeit. »Phänomenologie« nennt weder den Gegenstand ihrer Forschungen, noch charakterisiert der Titel deren Sachhaltigkeit. Das Wort gibt nur Aufschluß über das Wie der Aufweisung und Behandlungsart dessen, was in dieser Wissenschaft abgehandelt werden soll. Wissenschaft »von« den Phänomenen besagt: eine solche Erfassung ihrer Gegenstände, daß alles, was über sie zur Erörterung steht, in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muß. Denselben Sinn hat der im Grunde tautologische Ausdruck »deskriptive Phänomenologie«. Deskription bedeutet hier nicht ein Verfahren nach Art etwa der botanischen Morphologie – der Titel hat wieder einen prohibitiven Sinn: Fernhaltung

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alles nichtausweisenden Bestimmens. Der Charakter der Deskription selbst, der spezifische Sinn des lÒgoj, kann allererst aus der »Sachheit« dessen fixiert werden, was »beschrieben«, d.h. in der Begegnisart von Phänomenen zu wissenschaftlicher Bestimmtheit gebracht werden soll. Formal berechtigt die Bedeutung des formalen und vulgären Phänomenbegriffes dazu, jede Aufweisung von Seiendem, so wie es sich an ihm selbst zeigt, Phänomenologie zu nennen. Mit Rücksicht worauf muß nun der formale Phänomenbegriff zum phänomenologischen entformalisiert werden, und wie unterscheidet sich dieser vom vulgären? Was ist das, was die Phänomenologie »sehen lassen« soll? Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne »Phänomen« genannt werden muß? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmachta. Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur »verstellt« sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die voranstehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein des Seienden. Es kann so weitgehend verdeckt sein, daß es vergessen wird und die Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt. Was demnach in einem ausgezeichneten Sinne, aus seinem eigensten Sachgehalt her fordert, Phänomen zu werden, hat die Phänomenologie als Gegenstand thematisch in den »Griff« genommen. Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die ausweisende Bestimmungsart dessen, was Thema der Ontologie werden soll. Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate. Und das Sichzeigen ist kein beliebiges noch gar so etwas wie Erscheinen. Das Sein des Seienden kann am wenigsten je so etwas sein, »dahinter« noch etwas steht, »was nicht erscheint«. »Hinter« den Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts a

Wahrheit des Seins.

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anderes, wohl aber kann das, was Phänomen werden soll, verborgen sein. Und gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu »Phänomen«. Die Art der möglichen Verdecktheit der Phänomene ist verschieden. Einmal kann ein Phänomen verdeckt sein in dem Sinne, daß es überhaupt noch unentdeckt ist. Über seinen Bestand gibt es weder Kenntnis noch Unkenntnis. Ein Phänomen kann ferner verschüttet sein. Darin liegt: es war zuvor einmal entdeckt, verfiel aber wieder der Verdeckung. Diese kann zur totalen werden, oder aber, was die Regel ist, das zuvor Entdeckte ist noch sichtbar, wenngleich nur als Schein. Wieviel Schein jedoch, so viel »Sein«. Diese Verdeckung als »Verstellung« ist die häufigste und gefährlichste, weil hier die Möglichkeiten der Täuschung und Mißleitung besonders hartnäckig sind. Die verfügbaren, aber in ihrer Bodenständigkeit verhüllten Seinsstrukturen und deren Begriffe beanspruchen vielleicht innerhalb eines »Systems« ihr Recht. Sie geben sich auf Grund der konstruktiven Verklammerung in einem System als etwas, was weiterer Rechtfertigung unbedürftig und »klar« ist und daher einer fortschreitenden Deduktion als Ausgang dienen kann. Die Verdeckung selbst, mag sie im Sinne der Verborgenheit oder der Verschüttung oder der Verstellung gefaßt werden, hat wiederum eine zweifache Möglichkeit. Es gibt zufällige Verdeckungen und notwendige, d.h. solche, die in der Bestandart des Entdeckten gründen. Jeder ursprünglich geschöpfte phänomenologische Begriff und Satz steht als mitgeteilte Aussage in der Möglichkeit der Entartung. Er wird in einem leeren Verständnis weitergegeben, verliert seine Bodenständigkeit und wird zur freischwebenden These. Die Möglichkeit der Verhärtung und Ungriffigkeit des ursprünglich »Griffigen« liegt in der konkreten Arbeit der Phänomenologie selbst. Und die Schwierigkeit dieser Forschung besteht gerade darin, sie gegen sich selbst in einem positiven Sinne kritisch zu machen. Die Begegnisart des Seins und der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie allererst abgewonnen werden. Daher fordern der Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung. In der Idee der

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»originären« und »intuitiven« Erfassung und Explikation der Phänomene liegt das Gegenteil der Naivität eines zufälligen, »unmittelbaren« und unbedachten »Schauens«. Auf dem Boden des umgrenzten Vorbegriffes der Phänomenologie können nun auch die Termini »phänomenal« und »phänomenologisch« in ihrer Bedeutung fixiert werden. »Phänomenal« wird genannt, was in der Begegnisart des Phänomens gegeben und explizierbar ist; daher die Rede von phänomenalen Strukturen. »Phänomenologisch« heißt all das, was zur Art der Aufweisung und Explikation gehört und was die in dieser Forschung geforderte Begrifflichkeit ausmacht. Weil Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur das ist, was Sein ausmacht, Sein aber je Sein von Seiendem ist, bedarf es für das Absehen auf eine Freilegung des Seins zuvor einer rechten Beibringung des Seienden selbst. Dieses muß sich gleichfalls in der ihm genuin zugehörigen Zugangsart zeigen. Und so wird der vulgäre Phänomenbegriff phänomenoiogisch relevant. Die Voraufgabe einer »phänomenologischen« Sicherung des exemplarischen Seienden als Ausgang für die eigentliche Analytik ist immer schon aus dem Ziel dieser vorgezeichnet. Sachhaltig genommen ist die Phänomenologie die Wissenschaft vom Sein des Seienden – Ontologie. In der gegebenen Erläuterung der Aufgaben der Ontologie entsprang die Notwendigkeit einer Fundamentalontologie, die das ontologisch-ontisch ausgezeichnete Seiende zum Thema hat, das Dasein, so zwar, daß sie sich vor das Kardinalproblem, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupta, bringt. Aus der Untersuchung selbst wird sich ergeben: der methodische Sinn der phänomenoiogischen Deskription ist Auslegung. Der lÒgoj der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des ˜rmhneÚein, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden. Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet. Sofern nun aber durch die Aufdeckung des Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische a

Sein – keine Gattung, nicht das Sein für das Seiende im allgemeinen; das ,überhaupt‘ = kaqÒlou = im Ganzen von: Sein des Seienden; Sinn der Differenz.

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Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich »Hermeneutik« im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung. Und sofern schließlich das Dasein den ontologischen Vorrang hat vor allem Seienden – als Seiendes in der Möglichkeit der Existenz, erhält die Hermeneutik als Auslegung des Seins des Daseins einen spezifischen dritten – den, philosophisch verstanden, primären Sinn einer Analytik der Existenzialität der Existenz. In dieser Hermeneutik ist dann, sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausarbeitet als die ontische Bedingung der Möglichkeit der Historie, das verwurzelt, was nur abgeleiteterweise »Hermeneutik« genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften. Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gattung eines Seienden, und doch betrifft es jedes Seiende. Seine »Universalität« ist höher zu suchen. Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthina. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis. Ontologie und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach Gegenstand und Behandlungsart. Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenzb das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt. Die folgenden Untersuchungen sind nur möglich geworden auf dem Boden, den E. Husserl gelegt, mit dessen »Logischen Untersuchungen« die a

b

transcendens freilich nicht – trotz alles metaphysischen Anklangs – scholastisch und griechisch-platonisch koinÒn, sondern Transzendenz als das Ekstatische – Zeitlichkeit – Temporalität; aber ,Horizont‘! Seyn hat Seyendes ,überdacht‘. Transzendenz aber von Wahrheit des Seyns her: das Ereignis. ,Existenz‘ fundamentalontologisch, d. h. auf Wahrheit des Seins selber bezogen, und nur so!

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Phänomenologie zum Durchbruch kam. Die Erläuterungen des Vorbegriffes der Phänomenologie zeigen an, daß ihr Wesentliches nicht darin liegt, als philosophische »Richtung« wirklich zu seinc. Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit.2 Mit Rücksicht auf das Ungefüge und »Unschöne« des Ausdrucks innerhalb der folgenden Analysen darf die Bemerkung angefügt werden: ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu berichten, ein anderes, Seiendes in seinem Sein zu fassen. Für die letztgenannte Aufgabe fehlen nicht nur meist die Worte, sondern vor allem die »Grammatik«. Wenn ein Hinweis auf frühere und in ihrem Niveau unvergleichliche seinsanalytische Forschungen erlaubt ist, dann vergleiche man ontologische Abschnitte in Platons »Parmenides« oder das vierte Kapitel des siebenten Buches der »Metaphysik« des Aristoteles mit einem erzählenden Abschnitt aus Thukydides, und man wird das Unerhörte der Formulierungen sehen, die den Griechen von ihren Philosophen zugemutet wurden. Und wo die Kräfte wesentlich geringer und überdies das zu erschließende Seinsgebiet ontologisch weit schwieriger ist als das den Griechen vorgegebene, wird sich die Umständlichkeit der Begriffsbildung und die Härte des Ausdrucks steigern.

c

2

d.h. nicht transzendental-philosophische Richtung des kritischen Kantischen Idealismus. Wenn die folgende Untersuchung einige Schritte vorwärts geht in der Erschließung der »Sachen selbst«, so dankt das der Verf. in erster Linie E. Husserl, der den Verf. während seiner Freiburger Lehrjahre durch eindringliche persönliche Leitung und durch freieste Überlassung unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten Gebieten der phänomenologischen Forschung vertraut machte.

DIETRICH VON HILDEBRAND DER SINN PHILOSOPHISCHEN FRAGENS UND ERKENNENS1 3. Die anschaulich erfaßbaren echten Wesenheiten. Um die Frage nach dem tiefsten Wesensunterschied von apriorischer und empirischer Erkenntnis zu beantworten, betrachten wir zunächst. a) die Abhängigkeit apriorischer Erkenntnis von einer bestimmten Wesensstruktur. Wir sahen, daß wir bei der Einsicht in wesensnotwendige Sachverhalte auf das So-, nicht auf das Dasein hinblicken. Wenn wir erkennen, daß ethische Werte notwendig eine geistige Person als Träger voraussetzen, oder daß apersonale Gebilde, wie ein materielles Ding oder eine Pflanze, nicht Träger sittlicher Werte sein können, so blicken wir auf das Sosein der sittlichen Werte oder der Personen, und die Frage, ob der sittliche Wert, an dem wir uns diese seine Wesenseigenart klarmachen, ein hic et nunc verwirklichter oder nur ein vorgestellter oder geträumter ist, spielt dabei keine Rolle. Oder wenn wir uns die Unräumlichkeit des bewußten Seins an einem Beispiel der Freude zur Gegebenheit bringen und diesen Wesenszusammenhang erkennen, so rekurrieren wir lediglich auf das Sosein des bewußten Seins, und die Frage, ob es eine wirkliche Freude oder eine geträumte Freude ist, spielt für die Erkenntnis dieses Wertzusammenhangs keine Rolle. Wenn wir hingegen die Eigenart eines Metalls, etwa die von Gold, kennenlernen wollen, so ist die Ausschaltung der Frage, ob bei der Wahrnehmung, von der wir ausgehen, das Wahrgenommene wirklich existiert, oder ob nur halluziniert oder geträumt wird, nicht möglich. Wenn wir hier nur auf das Sosein hinblicken und die Wirklichkeitsfrage einklammern, so verliert l. dieses Sosein jedes wirkliche Erkenntnisinteresse, und 2. ist dieses Sosein auch nicht so geartet, daß wir irgendwelche Zusammenhänge als notwendig in ihm gründend erkennen würden. Alle Versenkung in das Sosein von dem Etwas, das wir bewußt haben, wenn wir etwa ein Stück Gold vor uns haben, führt uns nicht zur Erkenntnis eines in diesem Sosein gründenden Wesenszusammenhanges. Denn viel allgemeinere Wesenszusammenhänge als die: dieses Etwas kann nicht 1

Dietrich von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragen und Erkennens. Peter Hanstein Verlag, Bonn, 1950, S. 48-61; S. 65-68; S. 89-91.

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zugleich sein und nicht sein – die natürlich auch an diesem eingesehen werden können – gründen nicht in der besonderen Eigenart des Goldes, sondern in dem Seienden schlechtweg. Auch die Möglichkeit, angesichts eben dieses Soseins Wesenszusammenhänge einzusehen, die von Materie schlechtweg gelten, wie etwa ihre räumliche Ausdehnung, sind kein Einwand gegen unsere Behauptung, daß uns die Gegebenheit des Soseins von Gold nicht zur Erkenntnis von wesensnotwendigen, absolut gewissen Sachverhalten führt. Denn diese apriorischen Sätze gründen in einem viel allgemeineren Sosein als dem mit „Gold“ vermeinten, und in ihnen wird die Gegebenheit des Goldes nur insofern berücksichtigt, als sie zugleich Gegebenheit eines „Materiellen“ ist. Solange wir nur diese allgemeinen Wesenssachverhalte feststellen, bleibt der besondere Gehalt des Soseins von „Gold“, der das Gold von Silber oder Blei unterscheidet, völlig aus dem Blick. Erst recht dürfen wir gewisse Wesenszusammenhänge, die in der ästhetischen Erscheinung des Goldes liegen, seine Schönheit und anderes, nicht mit konstitutiven Wesenssachverhalten des Metalles Gold verwechseln. Wenn wir bei der Versenkung in das Sosein von Wollen zu der Einsicht gelangen: nil volitum nisi cogitatum, so handelt es sich um einen für das Wollen als solches, und nicht etwa bloß für eine ästhetische Erscheinung des Wollens konstitutiven Sachverhalt. Zu einem solchen kann uns aber alle Versenkung in das Sosein des Goldes niemals führen. Denn „Gold“ wendet uns sein eigentliches Sosein, sein „Wesen“, nicht so zu wie das Wollen. Nur auf Umwegen, von außen her, durch „Beobachtungen“ erfahren wir etwas von seinem Sosein, d.h. aber nur durch einzelne Realkonstatierungen, wie die Feststellung des spezifischen Gewichtes von Gold, des Wärmegrades, bei dem es schmilzt usw. Dieser Weg der Induktion endet naturgemäß in nur empirischen Sachverhalten. Außerdem liegt es auf der Hand, daß alles, was wir über die unmittelbar wahrnehmbare Beschaffenheit des Goldes feststellen würden, jedes Erkenntnisinteresses entbehren würde, sobald wir die Wirklichkeit des wahrgenommenen Gegenstandes suspendieren bzw. von ihr absehen. Denn das Erkenntnisinteresse dieses Soseins ist ganz und gar davon abhängig, daß es sich auch in der jeweiligen Wahrnehmung desselben, von der die Erkenntnis ausgeht, um. einen wirklichen Gegenstand bzw. um die Wahrnehmung eines Wirklichen handelt und nicht um eine Halluzination. Eine phantasierte Metallsorte oder Käferart deskriptiv zu untersuchen, ist

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Spielerei. Offenbar muß es also an dem jeweiligen Sosein eines Gegenstandes selbst liegen, ob die Versenkung in das Sosein mit „Einklammerung“ der Realkonstatierung überhaupt Erkenntnisinteresse besitzt und darüber hinaus so fruchtbar ist, daß sie zur Erkenntnis von wesensnotwendigen, absolut gewissen Sachverhalten führt. So gewinnen wir das Ergebnis: Die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis ist von der Art des jeweiligen Erkenntnisgegenstandes her bedingt. Die bloße Soseinsbetrachtung mit Einklammerung der Wirklichkeitsfrage genügt noch nicht, um zu der Gegebenheit zu führen, die eine absolut gewisse Einsicht in wesensnotwendige Sachverhalte ermöglicht. Dazu bedarf es einer ganz bestimmten Art des Soseins und einer nur bei dieser Soseinsart möglichen Gegebenheit derselben. Um diesen für die Art des Erkanntwerdenkönnens ganz fundamentalen Unterschied innerhalb des Soseins der Gegenstände zu verstehen, müssen wir auf verschiedene Grundtypen von Sosein eingehen. b) Wir fragen zum Zwecke der Erhellung der apriorischen und der empirischen Erkenntnis weiter nach den Stufen der Sinnhaftigkeit in den Soseinseinheiten. Eine große Abstufung von Sinnhaftigkeit fällt bei der Vergegenwärtigung des Seienden in seiner ungeheueren Mannigfaltigkeit sofort in die Augen: Jedes seiende Etwas ist eine Einheit, und sein Sosein muß irgendwie als Einheit charakterisiert sein. Es gibt zwei Gegenpole dieser Einheit: l. das innerlich Unmögliche und 2. das völlig konturlos Amorphe, das Chaotische. Das innerlich Unmögliche: entweder ein in sich Widersprechendes (ein hölzernes Eisen, ein rundes Viereck u. ä.) oder ein Unsinniges (eine blaue Zahl, eine viereckige Freude u. ä.) ist das Gegenteil einer Einheit, weil es inkompatible Elemente enthält, die sich dem Zusammenschluß in eins widersetzen. Diese Ansätze sind die ausdrückliche Negation der inneren Verbundenheit der Einheit, das radikale Gegenteil von Einheit. Vom Niederen zum Höheren aufsteigend, wollen wir uns die Stufen der Einheit vorführen: vom Chaotischen und nur zufällig Einheitlichen zum echten Typus und von dort zur notwendigen Einheit, die die echten „Wesenheiten“, die „Idee“ darstellt. I. Die niederste Stufe von Einheit ist das Chaotische und das zufällig Einheitliche. Das völlig amorphe, chaotische Auseinanderfließende antagonisiert die

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Einheit nicht in bezug auf die innere Verbundenheit der Elemente, sondern in bezug auf das „Etwas“-Sein, in beziig auf die Herausgehobenheit aus dem übrigen Seienden. Es ist der Widerstreit gleichsam gegen die „Außenseite“ der Einheit, während das innerlich Unmögliche der „Innenseite“ der Einheit widerstreitet. Je gestaltloser, je ungeformter etwas ist, um so mehr nähert es sich dem «m¾ Ôn» des Chaos bis zu dem Punkt, wo es überhaupt aufhört, „etwas“ zu sein. Zu dem innerlich Unmöglichen führt vom Möglichen keine analoge an Sinn abnehmende Linie, sondern es handelt sich hier um die entscheidende Alternative: möglich oder nicht möglich. Für das im Unmöglichen Vorliegende gibt es innerhalb des Möglichen keine Unterschiede, die ein Mögliches dem Unmöglichen angenäherter erscheinen lassen als ein anderes Mögliches. Die Antagonisierung des Chaotischen hingegen zeigt viele Abstufungen: von dem relativ Sinnarmen, schwach Konturierten bis zu den innerlich notwendigen Einheiten. Daher wird, solange wir von einer Einheit nur sagen können, daß sie möglich ist, noch nichts über ihre positive Sinnstufe ausgesagt. Wird die Einheit nur als prinzipiell möglich gefaßt, so ist nur ausgemacht, daß in ihr keine sich ausschließenden Elemente vorliegen und sie damit vom Sein nicht ausgeschlossen ist. Wieweit diese Einheit aber das Chaotische antagonisiert, oder auch wie weit die innere Verbundenheit der Elemente dieser Einheit sinnvoll organisch oder gar notwendig ist, ist damit nicht angedeutet. Es gibt nun Einheiten, die zwar möglich, aber in der Verbindung ihrer Elemente den Charakter des Sinnarmen, rein Zufälligen haben, etwa ein Steinhaufen oder eine Tonfolge, die keine Melodie ist. Das ist vom Standpunkt der Sinnhaltigkeit aus die niedrigste Stufe von Einheit. Der Kohärenz der Elemente fehlt hier der innere Sinn, es ist eine ausschließlich faktische Kohärenz, d.h. die Einheit wird lediglich von der Tatsache, daß sie an einem realen Etwas vorkommt, zusammengehalten oder, im Falle einer phantasierten Einheit, von unserem Akt einer Ineinssetzung. Als Sosein steht sie in keiner Weise auf eigenen Füßen. Es ist nichts objektiv Sinnvolles in dieser Einheit getroffen, sie hat kein eigentliches Eidos. Was sie vom chaotischen Auseinanderfließen oder Auseinanderfallen rettet, ist lediglich ein äußerliches Moment. Sie lebt nur von der Faktizität, sei es der Mindeststufe realer Existenz, des von jemand Gedacht-, Vorgestellt-, Phantasiertwerdens, oder eines Vorkommens in der

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Wirklichkeit. Beispiel: Wir können jedes Gestaltprinzips entbehrende geometrische Figuren zeichnen, die zwar eine Einheit konstituieren, aber eine, die ausgesprochen willkürlichen, zufälligen und fast sinnlosen Charakter trägt. Im Unterschied von einem Dreieck, Viereck, Trapez usw. ist nichts Objektives in dieser Einheit getroffen, sie hat kein „auf eigenen Füßen“ stehendes Sosein. Sie wird gleichsam als Einheit nur von unserem Akt willkürlicher Konstruktion zusammengehalten. Noch deutlicher ist dieser Mangel an innerer Konsistenz, wenn wir an einen Haufen heterogener Gegenstände denken, etwa ein Gerümpel. Die hier vorliegende dünne Einheit ist rein faktischer Natur, nur von der kontingenten, raumzeitlichen Benachbarung getragen. Die einzelnen Elemente, die jedes für sich genommen eine sinnvolle Einheit darstellen können, sind nicht innerlich sinnvoll verbunden, sondern nur gleichsam von außen her zusammengehalten. Dieser Einheit fehlt jede wirkliche innere Konsistenz und jede Kohärenz der Teile. Was die Teile vor dem Auseinanderfallen bewahrt, ist, abgesehen von einer sehr allgemeinen kategorischen Verwandtschaft, lediglich die Tatsache, daß sie hic et nunc in dieser räumlichen Gruppenhaftigkeit vorkommen. Wir haben hier vom Standpunkt der Sinnhaltigkeit aus den niedrigsten Fall von Einheit. Natürlich meinen wir hier nicht die Einheit, die der Typus „Gerümpel“ oder „Haufen von Unrat“ darstellt, sondern die materiale Einheit eines bestimmten Gerümpels. Das Sosein, das ein Gerumpel darstellt, geht nicht über die reine Faktizität hinaus, in ihr ist nichts Objektives getroffen, die Teile schließen sich nicht zu einer sinnvollen Einheit zusammen, die von außen kommende Zusammenfügung ist innerlich ohnmächtig, leer. Sie zehrt ausschließlich davon, daß diese Kombination der Elemente infolge bestimmter kausaler Verbindungen hic et nunc zustande kam. Aber es ist bei dieser Kombination zu keinerlei sinnvollem Gehalt gekommen. Dieser Typus von Sosein zeichnet sich außer seiner Sinnarmut, außer der fehlenden inneren Konsistenz seiner Teile, die ihn dem Chaotischen annähert, auch dadurch aus, daß wir bei dem Blick auf dieses Sosein zu keinem echt Generischen im Sinn eines „Typus“ gelangen. Wohl kommen wir immer, wenn wir den Blick auf das Sosein eines Individuums richten und von der Realität desselben künstlich absehen, wenn wir seine

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„Sogeartetheit“ als solche fassen, aus der Sphäre der Individuen zur Welt des Generischen im formalen Sinne. Das ist auch dann der Fall, wenn es zum Sinn dieser Sogeartetheit gehört, daß nur ein Individuum dieser Art existiert, wie etwa bei Raum und Zeit. II. Eine höhere Stufe von Sinnhaftigkeit, ja eine grundsätzlich andere als diese sinnarmen Soseinseinheiten stellt in mannigfacher Abstufung die Einheit des echten Typus dar. Sie begegnet uns in dem Sosein von Gegenständen wie Gold, Stein, Wasser oder von Lebewesen wie Löwe, Hund, Zypresse, Eiche usw. Von dem Generischen in dem eben angetroffenen formalen Sinn unterscheidet sich die Allgemeinheit eines echten Typus. Hier haben wir es nicht nur mit einem Generischen zu tun, das den Gegensatz zum einzelnen realen Individuum in sich birgt, hier findet sich eine bestimmte Allgemeinheitsstufe, die sich von vielen möglichen weiteren Differenzierungen abhebt. Und weiter ist die Allgemeinheitsstufe nicht eine willkürliche, sondern eine in der sinnvollen Einheit dieses Soseins objektiv gegründete. Bei den sinnarmen Soseinseinheiten hingegen führte uns der Blick auf das Sosein nur zu einem Generischen im formalen Sinn, nicht aber zu der echten Allgemeinheit des Typus. Die „Sogeartetheit“ dieser willkürlichen geometrischen Figur oder eines bestimmten Gerümpels ist in ihrer Allgemeinheit völlig willkürlich. Wir können auch keinen eigentlichen Begriff dieser Einheit bilden, sondern sind auf eine Gesamtdeskription dieses Soseins angewiesen. Es hegt – im Gegensatz zum echten Typus – kein innerer Grund vor, gerade dieses Sosein als ein generisches zu fassen bzw. an dieser Stelle einen Einschnitt zu machen. Das im echten Typus vorliegende Sosein ist offenbar von ganz anderer innerer Konsistenz, und es ist in ihm objektiv etwas „getroffen“. Es erhebt sich über das rein Zufällige und Faktische. Es ist nicht nur von außen her durch willkürliche oder rein zufällige Momente vor dem Auseinanderfall bewahrt, sondern es ist von der „Mitte“ her zu einer Einheit zusammengeschlossen, und die Elemente sind nicht zufällig aneinandergereiht, sondern sinnvoll innerlich verbunden. Um dies ganz klar zu sehen, müssen wir allerdings vorher kurz auf die besondere Erkenntnissituation eingehen, die hier bei diesen Gegenständen vorliegt. Das eigentliche konstitutive Sosein dieser Gegenstände, das, was Gold zu Gold, einen Hund zu einem Hund, eine Eiche zu einer Eiche macht, ist

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unserem Geist nicht unmittelbar zugänglich. Wohl haben diese Gegenstände meist eine auch anschaulich unmittelbar zugängliche Eigenart, die es dem naiven Erkennen ermöglicht, sie als bestimmte Typen zu fassen und voneinander zu unterscheiden. So etwa bei der Eiche die äußere Gestalt und Farbe, die Form ihrer Blätter, ihre durchschnittliche Größe und Breite, die Beschaffenheit der Oberfläche des Stammes. Oder bei dem Hund seine Gestalt und sein Gesicht, seine Lebensgewohnheiten usw. Aber diese äußere Beschaffenheit ist nicht identisch mit dem eigentlichen konstitutiven Sosein. Sie ist nur ein Teil desselben und mehr die von dem eigentlichen konstitutiven Sosein bedingte „Ersɫheinung“. Auch im naiven Erkennen meinen wir, wenn wir von diesen Gegenständen als Typen sprechen, das eigentlich konstitutive Sosein, wenn wir uns auch primär an der Erscheinung und ihrer sinnvollen Einheit orientieren und oft Momente, die nur der Erscheinung angehören, für konstitutive halten. Die wissenschaftliche Betrachtung dieser Inhalte hingegen ist sich der möglichen Diskrepanz von Erscheinung und konstitutivem Sosein bewußt, und sie geht bei ihrer Typenbildung von Merkmalen aus, die erst durch kompliziertere Beobachtungen und ein Eindringen in eine dem naiven Erkennen verborgene Sphäre auffindbar sind. Sie ist ganz auf das konstitutive Sosein eingestellt, und die Eigenart der Erscheinung wird eben nur als Eigenart der Erscheinung mit einbezogen. Beispiel: Der äußere Aspekt charakterisiert etwa die Walfische als Fische. Sie teilen mit den Fischen gewisse augenfällige Merkmale. Das naive Erkennen wird sie darum als besondere Fischart auffassen. Die Wissenschaft dagegen zeigt, daß sie vom Standpunkt ihres konstitutiven Soseins aus zu den Säugetieren gehören und nicht zu den Fischen. Momente, die für die Eigenart der Erscheinungseinheit mit charakteristisch sind, erweisen sich als nicht in das konstitutive Sosein hineingehörend. Die anatomischen und physiologischen Momente sind für das konstitutive Sosein eines Typus von Lebewesen maßgebender als seine äußere Erscheinung und gewisse Lebensgewohnheiten. Wir haben hier die konstitutiven Soseinseinheiten im Auge, wenn wir die Einheit dieser Gegenstände hinsichtlich ihrer Sinnhaltigkeit untersuchen. Folgendes ist nun für diese Einheiten charakteristisch: 1. Wir haben es mit einer sinnvollen Einheit zu tun, mit einer Einheit

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von innerer Konsistenz, bei der die einzelnen Elemente nicht nur willkürlich und zufällig verbunden sind. Sie heben sich dadurch deutlich von den oben erwähnten sinnarmen, nur faktischen Einheiten ab. 2. Sie besitzen eine echte unkünstliche Allgemeinheit. Sie sind echte Typen, bei denen die bestimmte Allgemeinheitsstufe kein willkürlicher Einschnitt ist, sondern ein objektiv Fundiertes. So z.B. Hund, in Abgrenzung von den einzelnen Hundearten – Schäferhund, Spitz, Bulldogge – und auch diese wiederum gegenüber entsprechenden Unterarten. 3. Diese sinnvolle Einheit trägt keinen notwendigen Charakter. Sie besitzt trotz ihrer Sinnhaltigkeit und trotzdem in ihr ein „Objektives“ getroffen ist, trotz ihrer inneren Konsistenz doch noch den Stempel des Kontingenten. Sie ist ein spezifisch „Geschaffenes“, sie ist – wenn auch eine übermenschliche – „Erfindung“. 4. Daher hat auch alles, was wir von diesem Sosein feststellen, nur solange Erkenntnisinteresse, als wir annehmen dürfen, daß es sich um eine Realkonstatierung handelt. Wenn sich herausstellen würde, daß wir das spezifische Gewicht von Gold nur im Traum festgestellt hätten, so hätte diese Feststellung keinerlei Bedeutung mehr. Oder wenn sich ergeben würde, daß wir eine physiologische Eigentümlichkeit eines Reptils halluzinieren würden, so hätte die Feststellung jeden Erkenntniswert verloren. Ja, auch wenn wir ansetzen, daß wir eine bestimmte Käfergattung nur aus dem Traum kennten, so wäre deren Beschreibung ohne Forschungsinteresse. Für den Historiker besitzt eine Begebenheit aus dem Leben Napoleons kein Erkenntnisinteresse, wenn sich herausstellen würde, daß er dieselbe nur geträumt hat. 5. Diese Bindung des Soseins an die Realkonstatierung hängt aber nicht nur mit dem Rest von Kontingenz zusammen, der diesen Einheiten eigen ist, sondern auch mit der höchst bedeutsamen Tatsache, daß dieses Sosein unserm Geist nicht anschaulich offenbar ist. Wir können an dieses Sosein nur „von außen“ her, auf Umwegen näher herankommen durch Beobachtung einzelner Merkmale und Gesetzlichkeiten. Das konstitutive Sosein dieser Gegenstände liegt nicht als solches qualitativ ausgebreitet vor unserem geistigen Auge, so daß wir aus demselben die einzelnen Merkmale und Gesetzmäßigkeiten schöpfen könnten. Der aus der

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Erscheinungseigenart datierende Typus dient dabei als vorläufiger Ausgangspunkt für die Identität der in immer neuen Realkonstatierungen untersuchten „Art“. Aber die Identität der Art des zu Untersuchenden wird letzten Endes von den tiefer liegenden einzelnen Merkmalen bestimmt. Zweierlei ist hier bedeutsam: l. Die „Verborgenheit“ des konstitutiven Soseins, dem wir uns nur von ,,außen“ her nähern können. Nur einzelne Merkmale – denn die Erscheinungseigenart ist ja selbst nur ein Merkmal und meist ein periphereres – sind unserer Erkenntnis zugänglich, von hier aus tasten wir uns an das konstitutive Sosein des Typus heran und dieses Sosein berühren wir nie unmittelbar anschaulich. Die Merkmale werden nie als in einem uns geistig unmittelbar zugänglichen konstitutiven Sosein gründend erkannt. 2. Die Tatsache, daß die ganze Untersuchung, sei sie deskriptiver oder kausal-genetischer Art, immer an die Realkonstatierung gebunden bleibt und jeder Versuch, die Realität des Untersuchten einzuklammern, sofort den Zugang zu dem konstitutiven Sosein versperren würde. 6. An dieser Tatsache dürfen wir nicht dadurch irre werden, daß wir bei vielen dieser Gegenstände, wenn wir ihre Erscheinungsart verselbständigen, zu einer gewissen „ästhetischen“ Wesenheit gelangen können, die ihren Sinn unabhängig von der Beschaffenheit des konstitutiven Soseins behält. Beispiel: Wir sprechen etwa von „Lowenhaftigkeit“ und meinen dann damit eine kraftvolle, wilde und unheimliche Majestät. Diese bestimmte Qualität behält ihren Sinn auch, wenn es Tiere gibt, die ihrem konstitutiven Sosein nach zu dem Genus Löwe gehören und die diese „Lowenhaftigkeit“ nicht aufweisen. Oder wir reden von „Fischhaftigkeit“ und meinen damit eine Qualität des Kühlen, Stummen, Gleißenden. Oder wir sprechen von der „Goldhaftigkeit“ und meinen damit das Schöne, strahlend Heitere, Prachtvolle, geheimnisvoll Edle, Gediegene, das dieses Metall auszeichnet. Diese ästhetischen Wesenheiten haben zwar einen Sinn, der nicht dadurch tangiert wird, ob ein Gegenstand solcher Art real vorkommt oder nicht. Sie stellen ein sinnvolles Sosein dar, das sein Interesse behält, auch wenn eine solche Qualität nur geträumt oder halluziniert würde. Diese ästhetischen Wesenheiten sind im Unterschied zu dem konstitutiven Sosein nicht „verborgen“, sie sind anschaulich erfaßbar, und sie stellen auch einen noch sinndurchsättigteren Typus von Einheit dar als

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das konstitutive Sosein der jeweiligen Gegenstände. Das „Löwenhafte“ ist l. offenbar und nicht verborgen, wie das konstitutive Sosein des Löwen, und 2. ist es als Einheit noch sinnhaltiger, noch weniger „zufällig“. Darum ist auch die Frage, was diesen Charakter der Lowenhaftigkeit trägt und was nicht, viel eindeutiger zu beantworten als die Frage, was noch in den Rahmen des konstitutiven Soseins fällt und was nicht, bzw. es heben sich bei ihr die für diesen Typus wesentlichen Momente von den unwesentlichen ganz anders ab als bei dem konstitutiven Sosein des Löwen. Aber diese ästhetische Wesenheit ist eben für das konstitutive Sosein so wenig maßgebend, daß eine Erkenntnis ihrer Eigenart für das konstitutive Sosein keinerlei entscheidende Konsequenzen birgt. Sobald wir uns für diese ästhetische Wesenheit der Dinge interessieren, hat sich unser Erkenntnisinteresse völlig verschoben, wir haben es mit einem ganz anderen Erkenntnisgegenstand zu tun. Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn man glauben würde, aus einer Versenkung in die Qualität der ,,Lowenhaftigkeit“ zu einer Erfassung und Abgrenzung des real konstitutiven Soseins des Genus Löwe kommen zu können, von dem die Zoologie handelt. Abgesehen davon, daß also die Analyse dieser ästhetischen „Wesenheiten“ niemals mit dem Weg zur Erfassung des konstitutiven Soseins der Gegenstände mit verborgener sinnvoller Einheit verwechselt werden darf, hat auch die Analyse dieser ästhetischen Wesenheiten, wenn sie bewußt von der Analyse des konstitutiven Soseins säuberlich unterschieden und getrennt wird, nicht entfernt das Gewicht und den Ernst, der der Analyse des konstitutiven Soseins zukommt. Diese ästhetischen „Wesenheiten“, die eine große Rolle in der Kunst spielen, haben auch eine symbolische Bedeutung. In ihnen offenbaren sich bedeutsame Analogien der verschiedenen Seinsregionen, und sie spiegeln die Fülle des Seienden sinnvoll wieder. Sie einer systematischen Erkenntnis zu unterziehen, ist daher nicht sinnlos. Aber die deskriptive Erfassung dieser ästhetischen „Typen“ ist durch eine Welt getrennt von einer „Wesensanalyse“, die zu apriorischen Sachverhalten führt. Denn auch diese ästhetischen „Wesenheiten“ sind nicht als notwendige Einheiten charakterisiert. Auch sie sind, obzwar unserem Geiste „offenbar“ und von einer lichteren Sinnhaltigkeit als die geschilderten konstitutiven Soseinseinheiten, doch noch kontingenter Natur. Auch sie tragen, wie die

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Einheit eines Kunstwerkes, den Charakter des „Erfundenen“, wenn auch einer übermenschlichen Erfindung. Eine Versenkung in sie führt darum nur zu einer deskriptiven, verstehenden Charakteristik, nie aber zur Einsicht in wesensnotwendige Sachverhalte. III. Ein ganz neuer Typus von Einheit liegt hingegen bei dem Sosein von Gegenständen vor wie Raum, Zeit, Person, Wollen, Liebe, Rot u. a. Hier haben wir eine Stufe prinzipiell höherer Sinnhaltigkeit, die der notwendigen Einheit. Sie hebt sich deutlich von der sinnarmen und auch von der sinnvollen, aber doch kontingenten Einheit ab und läßt sich durch eine Reihe von Merkmalen näher ergreifen. 1. Hier ist der Höhepunkt innerer Konsistenz gegeben, das polare Gegenstück zu einer bloß „von außen“ zusammengehaltenen Einheit. 2. Die Soseinseinheit ist hier nicht verborgen, sondern anschaulich zugänglich. Und zwar nicht als bloßes Sosein einer „Erscheinung“, sondern als das konstitutive Sosein dieser Gegenstände selbst. Beispiel: Die Einheit, die uns bei dem Blick auf das Sosein von Rot anschaulich gegeben ist, ist nicht bloße Eigenart eines Außenaspektes oder gar eine bloß ästhetische „Wesenheit“, sondern das für die Qualität Rot konstitutive Sosein. Daß hier die Doppelheit von Erscheinung und konstitutivem Sosein aufgehoben ist, kommt nicht daher, daß es sich hier um eine bloße Qualität handelt, sondern weil das Rot eine notwendige Einheit besitzt. Denn dasselbe liegt vor, wenn wir etwa auf das Sosein der geistigen Person hinblicken. Was wir vor uns haben, wenn wir einsehen, daß die geistige Person nicht ein räumlich ausgedehntes Sein besitzt oder daß sie allein Träger sittlicher Werte sein kann, ist das konstitutive Sosein der Person selbst, das uns hier als notwendige Einheit unmittelbar anschaulich zugänglich ist. Ebenso berühren wir bei der Zeit, wenn wir einsehen, daß sie nicht rückwärts gehen kann, mit unserem Geist das wirkliche konstitutive Sosein der Zeit. In diesen Fällen die oben unerläßliche Scheidung von Erscheinung und konstitutivem Sosein des Gegenstandes vornehmen zu wollen, wäre völlig sinnlos. Hier ist das konstitutive Sosein des Gegenstandes selbst unserem Geist offen zugewandt und unserer unmittelbaren Erkenntnis zugänglich. 3. In dieser Einheit ist ein echt Generisches gegeben, und zwar ist die bestimmte Allgemeinheitsstufe etwa des Soseins von Rot gegenüber allen Rotnuancen oder des Dreiecks gegenüber allen Typen von Dreiecken oder

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des Lebewesens gegenüber Tier und Pflanze nicht nur von aller Willkür frei, als ein echtes Genus, sondern sie ist auch in ihrem Umfang eindeutig konturiert, was bei den sinnvollen, nicht notwendigen Einheiten nicht der Fall ist. Wenn wir an das konstitutive Sosein des „Löwen“ denken, so ist die Linie, die diese Art von anderen Arten abgrenzt, nicht eine eindeutige wie bei dem Sosein des Dreiecks oder des Rot. Vor allem bietet sich hier bei dem Blick auf ein einziges konkretes Beispiel das echte generische Sosein ganz von selbst unserem Geiste dar, wir „lesen“ es gleichsam am Objekt „ab“. Während wir bei den bloß sinnvollen, aber nicht notwendigen Soseinseinheiten erst durch eine Abstraktion zu dem Generischen kommen, erst durch Beobachtungen vieler Einzelfälle zu dem allgemeinen konstitutiven Sosein dieses Typus gelangen, hebt sich bei den notwendigen Einheiten das Generische ganz vom Objekt her, ohne unser Zutun ab. Mit anderen Worten: es ist uns eben hier das Allgemeine im Einzelnen anschaulich gegeben, was schon darin zum Ausdruck kommt, daß es nicht der Betrachtung vieler Einzelfälle bedarf, um zu dem Genus vorzudringen. 4. In den notwendigen Soseinseinheiten ist der Unterschied von bloß akzidentiellen Momenten und den für das Genus konstitutiven Momenten eindeutig gegeben. Ob die braune Farbe oder die Mähne für den Löwen nur ein akzidentielles oder typisches Merkmal ist, kann ich nur durch „Erfahrung“ im Sinn von Realkonstatierung und Induktion feststellen. Die Vergegenwärtigung des Typus Löwe als solche kann mich darüber nicht belehren. Daß die Größe des Dreiecks nicht für sein Wesen als Dreieck konstitutiv ist, können wir an einem einzigen Dreieck einsehen. Sie weist sich deutlich als akzidentielles Moment, als außerhalb der notwendigen Soseinseinheit stehend aus. 5. Für diese Art von Einheit ist endlich wesentlich, daß wir es mit einem so „potenten“ Sosein zu tun haben, daß es in seinem Gehalt ganz auf eigenen Füßen steht und auch bei der Ansetzung, daß es keinen realen Gegenstand dieser Art gäbe, doch nicht aufhört, ein voll seriöses Objekt unserer Erkenntnis zu bleiben. Ja, diese klassischen notwendigen Einheiten sind so „potent“, daß es sie in einem bestimmten Sinn „gibt“, auch wenn kein reales Exemplar dieser Art vorkäme. Hier ist dieses echte Eidos in keiner Weise in das Reich der Phantasien, Fiktionen, Halluzinationen oder des Traums zu verweisen. Wie immer sie unserem Geist sich erschließen,

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sie stehen so auf eigenen Füßen durch die innere Potenz und notwendige Sinnfülle ihres Soseins, daß sie in ihrer völligen Seinsautonomie nicht angetastet werden. Sie brauchen weder die Stütze eines Vorkommens in einem realen Gegenstand und erst recht nicht die eines „gedacht“ Werdens von uns für ihre volle Valenz. Sie allein besitzen ideale Existenz im vollen Sinn, eine Art der Existenz, die sie rein auf Grund der Dichte und Notwendigkeit ihres Soseins besitzen. Sie können von keiner Relativierung des Aktes, in dem sie uns gegenwärtig werden, angetastet werden. Ihnen gegenüber wäre es auch sinnlos, irgendeine Relativierung auf die Beschaffenheit unseres Geistes zu versuchen. Wenn wir auch verrückt wären, so würde die Sinnfülle dieser notwendigen Soseinseinheiten davon nicht angetastet werden. Wenn eine solche notwendige Einheit klar und eindeutig gegeben ist, dann kann kein Fehler und Mangel unseres Geistes und seiner Akte diese auf eigenen Füßen stehende Sinnfülle ankränkeln und relativieren. Sie stehen eben völlig auf eigenen Füßen, und an der Sinnfülle und Potenz ihres Soseins zerschellen alle Relativierungsversuche. Sie bedürfen, wenn sie eindeutig klar gegeben sind, nicht der Legitimierung durch den erfassenden Akt, sondern sie legitimieren ihrerseits den erfassenden Akt als sinnvoll. Der Erkenntnisakt, in dem eine solche notwendige Soseinseinheit eindeutig und klar gegeben ist, wird eben durch die Sinnfülle derselben als nicht verkehrt, verrückt oder sonst mit konstitutiven Erkenntnisfehlern behaftet ausgewiesen, und es bedarf nicht umgekehrt irgendeines anderen Kriteriums, durch das der Erkenntnisakt als fähig erwiesen werden müßte, objektiv Seiendes, so wie es ist, zu erfassen. Wenn uns im Traum das Sosein des Dreiecks oder des Rot oder des Wollens klar und deutlich gegeben wäre, so würde dieses Sosein kein bloß geträumtes sein, der Traumindex würde sich nicht diesem Sosein mitteilen. Wenn wir hingegen von einem bestimmten, aus der Wahrnehmung unbekannten Metall oder einer neuen Käferart träumten, so würde der Traumindex nicht nur das Dasein dieser Inhalte antasten, sondern auch das Sosein. Es wäre auch ein nur geträumtes Sosein und damit des seriösen Erkenntnisinteresses verlustig. Bei dem Sosein der notwendigen Einheiten hingegen bleibt der Traumindex völlig außerhalb derselben und vermag sie nicht irgendwie ihrer Valenz zu berauben. Diese notwendigen Einheiten sind die eigentlich echten „Wesenheiten“,

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die „Ideen“, auf die Platon bei der Entdeckung der Idee primär abzielte. Sie sind der Urquell aller Ratio, der Höhepunkt des Intelligiblen. Ihnen gegenüber befindet sich unser Geist in einer einzigartigen Situation. Obgleich aber diese echten anschaulich erfaßbaren Wesenheiten eine derartige in sich selbst ruhende Valenz haben, die auch dann nicht zerstört wird, wenn es keine realen Gegenstände dieser Art geben sollte, ist ihr Verhältnis zur Welt des Realen doch derart, daß sie konstitutive Wesenheiten eines realen Etwas sind, bzw. daß wir, sobald wir eine reale geistige Person, ein reales Rot, ein reales Wollen, ein reales Lebewesen wahrnehmen, wissen, daß alle in dem notwendigen Sosein gründenden Sachverhalte auch von diesem Realen gelten müssen. Ich kann mich zwar im Einzelfall darüber täuschen, ob es ein wirkliches oder halluziniertes Rot ist, ob es eine wirkliche oder geträumte Liebe ist, aber ich weiß, daß, wenn es ein wirkliches Rot, wenn es eine wirkliche Liebe ist, diese Wesenheit als konstitutives Sosein ihnen innewohnt und von ihnen all das gilt, was in dieser notwendig gründend erkannt wurde. In ihrem Sosein so potent, daß sie der Stütze der Wirklichkeit nicht bedürfen, um sich von bloßen ,,Erfindungen“ zu unterscheiden, haben diese Wesenheiten eine eigentümliche „Herrschaft“ über die Realität und geht ihr Verhältnis zu dem Wirklichen weit über das bloß Mögliche hinaus. Möglich ist ein Gegenstand, dessen Sosein nicht widerspruchsvoll oder unsinnig ist und der darum von der realen Existenz nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Abgesehen davon, daß dieses Sosein, insofern es Möglichkeit zum Dasein gewährt, auch nur sinnvoll und nicht notwendig, oder gar sinnarm und rein zufällig sein kann, ist auch seine Beziehung zur Wirklichkeit nur negativ bestimmt: als nicht ausgeschlossen von der Wirklichkeit. Bei diesen notwendigen Soseinseinheiten liegt viel mehr vor. Sie sind nicht nur nicht ausgeschlossen von der Wirklichkeit, sondern sie stehen in einem viel positiveren Korrelationsverhältnis zu ihr. Man könnte sagen, sie sind urklassische Komponenten der Wirklichkeit, und es liegt in der Wirklichkeit der entsprechenden Gegenstände, soweit es sich um ihren Wesenskern handelt, nichts willkürlich Zufälliges. Sie sind gleichsam in klassischer Weise zur Wirklichkeit „bestimmt“. Das darf jedoch in keiner Weise so verstanden werden, als wäre die reale Existenz von Gegenständen mit einem notwendigen Sosein selbst notwendig in diesem Sosein begründet. Eine wesenhaft notwendige reale

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Existenz liegt natürlich nicht vor. Ihre reale Existenz bleibt kontingent im Unterschied zu der idealen Existenz ihrer Wesenheit. Eine notwendige reale Existenz gibt es nur bei dem absolut Seienden, bei Gott, und selbst da können wir sie nicht aus der Wesenheit Gottes allein erkennen. Fassen wir diese Überschau über die Einheitsstufen des Soseins zusammen und fragen wir, was sie für die Erkenntnis des Unterschiedes von apriorischer und empirischer Erkenntnis bedeutet. In der Welt der uns bekannten Gegenstände finden wir eine große Abstufung in der Sinnhaltigkeit ihres Soseins: von dem sinnarmen, rein zufälligen Sosein über das sinnvolle, aber doch kontingente bis zu den notwendigen Soseinseinheiten. Nicht alle Gegenstände haben eine notwendige Soseinseinheit, die uns obendrein unmittelbar anschaulich zugänglich ist. Hier liegt der entscheidende Schnitt für apriorische und empirische Erkenntnis. Soweit es sich hier um sinnarme Gegenstände handelt, ist eine prinzipielle und generelle Erkenntnis unmöglich. Sie bilden höchstens den Gegenstand rein empirischer Deskription. Soweit es sich um Gegenstände mit sinnvoller, aber nicht notwendiger Soseinseinheit handelt und insbesondere mit verborgener konstitutiver Soseinseinheit, wie bei den verschiedenen Arten von Materie oder bei den einzelnen Spezies von Tier und Pflanze, sind sie nur empirischer Erkenntnis im Sinne von Realkonstatierung und Induktion zugänglich. Soweit es sich hingegen um Gegenstände mit einer notwendigen und anschaulich offenbaren Soseinseinheit handelt, sind sie apriorischer Erkenntnis zugänglich, bzw. können apriorische Sachverhalte als notwendig in ihnen gründend eingesehen werden. Damit soll nicht gesagt sein, daß alles bei ihnen Erkennbare apriorischer Natur ist, bzw. daß wir alles, was sie überhaupt charakterisiert, als in ihrem Wesen notwendig begründet einsehen können. Die Erkenntnis ihrer realen Existenz vor allem ist auch bei diesen Gegenständen empirisch. Aber auch eine Reihe von Zusammenhängen und Gesetzen, die sich auf den kausalgenetischen Zusammenhang beziehen, in den sie als reale Gegenstände einbezogen sind, ist empirischer Natur, mit anderen Worten alles, was von ihnen gilt und was nicht notwendig in ihrem Wesen begründet ist. So etwa die gesamten psychophysischen Gesetzmäßigkeiten des Menschen, obgleich der Mensch als geistige Person ein anschaulich erfaßbares notwendiges Sosein besitzt, in dem wir apriorische Wesens-

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zusammenhänge notwendig gründend einsehen können, wie etwa die Tatsache: Nil volitum nisi cogitatum u. a. So sehen wir, daß die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis bzw. der absolut gewissen Erkenntnis wesensnotwendiger Sachverhalte in der Art des Soseins gewisser Gegenstände begründet ist, nämlich in den anschaulich zugänglichen, unserem Geist offenbaren, notwendigen, konstitutiven Soseinseinheiten gewisser Gegenstände. Wir verstehen, daß nicht der Blick auf das Sosein mit „Einklammerung“ des Daseins als solcher zur apriorischen Erkenntnis führt, wie Husserl meint. Diese Hinwendung auf das Sosein mit Einklammerung des Daseins gelangt vielmehr nur da zur Erkenntnis wesensnotwendiger absolut gewisser Sachverhalte, wo es sich um bestimmte Gegenstände handelt, nämlich um solche mit einer notwendigen, anschaulich offenbaren Soseinseinheit. Der große Schnitt, der apriorische und empirische Sachverhalte oder apriorische und empirische Erkenntnis trennt, ist durch den prinzipiellen tiefgehenden Unterschied im Seienden selbst bedingt: durch den Unterschied von Gegenständen, die eine anschaulich offenbare, notwendige Soseinseinheit besitzen, und solchen, die nur eine sinnvolle, aber kontingente oder gar nur eine sinnarme, rein zufällige Soseinseinheit aufweisen. Denn nur in diesen notwendigen Soseinseinheiten gründen wesensnotwendige Sachverhalte. Die Notwendigkeit der Verbundenheit der Sachverhaltsglieder setzt die Notwendigkeit der Soseinseinheit voraus. Solange es sich um Gegenstände mit zwar sinnvollen, aber kontingenten Soseinseinheiten handelt, können auch die in diesen Soseinseinheiten gründenden Sachverhalte höchstens naturnotwendigen Charakter tragen. Und weiterhin ist nur bei den anschaulich offenbaren notwendigen Soseinseinheiten das notwendige Gründen der Sachverhalte in der Wesenheit unserem Geist ,,gegeben“. Bei den nur „von außen“, auf Umwegen erkennbaren, verborgenen sinnvollen, kontingenten, konstitutiven Soseinseinheiten hingegen können wir nie das Gründen der Gesetze in der Soseinseinheit erfassen. Nur in der Erkenntnis der Gegenstände mit einer anschaulich erfaßbaren notwendigen Wesenheit sind wir darum von der Erfahrung im engeren Sinn, d.h. von Realkonstatierung und Induktion unabhängig. Wir sind bei diesen Gegenständen in der einzigartigen Lage, die im Sosein notwendig gründenden Sachverhalte ohne Rekurs auf Realkonstatierungen und erst recht auf Induktion mit absoluter Gewißheit einsehen zu können, weil hier das konstitutive Sosein

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dieser Gegenstände anschaulich erfaßbar ist, und weil es in seiner Notwendigkeit als Einheit auch notwendig gewisse Sachverhalte begründet. So ist also die Unabhängigkeit von Erfahrung im weiteren Sinn, also im Sinn der Soseinserfahrung, wie wir jetzt noch deutlicher sehen, für die Erkenntnis apriorischer, das ist wesensnotwendiger, absolut gewisser Sachverhalte, in keiner Weise erforderlich und ebensowenig der Umstand, daß es sich dabei um Gegenstände handelt, die die Voraussetzung für die Möglichkeit der Erfahrung im engeren und weiteren Sinn bilden. Apriorische Erkenntnis heißt also die Erkenntnis von Sachverhalten, die l. als solche in einer notwendigen Soseinseinheit notwendig gründen, und die 2. von uns entweder bei anschaulicher Gegebenheit dieser notwendigen Soseinseinheit prinzipiell mit absoluter Gewißheit eingesehen oder aus unmittelbar einsichtigen notwendigen Tatbeständen deduktiv abgeleitet werden können. Da die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis lediglich davon abhängig ist, ob es sich um Gegenstände mit einer anschaulich erfaßbaren notwendigen Wesenheit handelt, ist auch der Umfang apriorischer Erkenntnis viel größer, als man oft angenommen hat. Nicht nur auf dem Gebiet der Logik und Mathematik, sondern auch auf dem der Ontologie, vor allem der Ontologie der Person, auf dem Gebiet der Ethik, Ästhetik und vielen anderen ist apriorische Erkenntnis nicht nur überhaupt möglich, sondern die einzig mögliche und angemessene. Die hier thematischen Tatbestände, Gesetze und Zusammenhänge sind alle apriorischer Natur. Es könnte sich nun bei dem Umfang bzw. bei der Grenze apriorischer Erkenntnis die Frage erheben, wie man denn wissen könne, ob es sich um einen Gegenstand mit einer anschaulich erfaßbaren notwendigen Soseinseinheit handelt oder nicht, bzw. welches Kriterium dafür vorhanden sei. Darauf ist zu antworten, daß sich eben dies vor allem bei dem Blick auf das Sosein eines Gegenstandes ergibt. Es bedarf hier keines eigenen Merkmales vor und außerhalb der Gegebenheit des jeweiligen Soseins. Wenn es sich um einen Gegenstand mit einer anschaulich erfaßbaren notwendigen Wesenheit handelt, können wir prinzipiell bei dem Blick auf das Sosein mit eindeutiger Gewißheit erfassen, daß es sich um eine anschaulich erfaßbare notwendige Soseinseinheit handelt. Eben dies weist sich als elementarer Charakter an dem Objekt auf. Wohl sind Herüber

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Irrtümer möglich. Aber um gegen diese gesichert zu sein, bedarf es nicht eines eigenen Kriteriums, sondern diese Tatsache ist “criterium sui ipsius”, und sie ist in dem Maß eindeutig gegeben, als das Sosein des Gegenstandes voll gehabt wird. Ihre Einsicht geht mit voller Visierung des Soseins Hand in Hand. […] 5. Der Gegenstand der Philosophie. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, so können wir nunmehr den Gegenstand der Philosophie bestimmen. 1. Die Philosophie hat es fast ausschließlich mit apriorischer Erkenntnis zu tun. Sie zielt auf ein Erkennen im Sinne dieses lichten, von „innen“ her Durchdringens des Objektes ab, wie es nur bei Inhalten mit einer anschaulich erfaßbaren notwendigen Wesenheit möglich ist. Ihre ureigene Domäne ist daher dieses Eindringen in notwendige Wesenheiten und die Erkenntnis wesensnotwendiger, absolut gewisser Sachverhalte. 2. Aber trotzdem deckt sich der Gegenstand der Philosophie nicht mit dem Reich des Apriorischen schlechtweg. Denn es gibt a) apriorische Sachverhalte, die außerhalb des Gegenstandsbereiches der Philosophie liegen, und es gibt b) Gegenstände der Philosophie, die außerhalb des Apriorischen liegen. Ein Beispiel für das erste liefert die Mathematik. Der Tatbestand 2×2=4 oder gar der pythagoreische Lehrsatz ist kein Objekt der Philosophie, obgleich rein apriorischer Natur. Ein Beispiel für das zweite sind Fragen, wie die nach der Realexistenz der Außenwelt oder nach einer teleologischen Ordnung in der Außenwelt oder vor allem die Frage nach der Existenz Gottes. 3. Das kommt daher, weil es noch ein anderes konstitutives Merkmal dafür gibt, ob etwas in den Gegenstandsbereich der Philosophie gehört oder nicht. Dieses Merkmal ist eine gewisse inhaltliche prinzipielle und zentrale Bedeutsamkeit des Gegenstandes. Die Philosophie interessiert sich nur für Gegenstände, die in ihrem Sosein irgendwie zum Brennpunkt des Seienden in tiefer Beziehung stehen. Diese Beziehung kann dabei sehr mannigfaltiger Natur sein: a) Sie kann entweder von der Allgemeinheitsstufe des Erkenntnis-

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gegenstandes herrühren und der darin gründenden prinzipiellen, das Sein strukturell fundierenden Bedeutung, die sie mit dem Brennpunkt des Seienden verbindet. So gehört z.B. das Wesen der Zahl und der in diesem allgemeinen Wesen notwendig gründenden Sachverhalte zu ihrem Gegenstandsbereich, nicht aber das Wesen der Zahl 4 oder 12 und der in diesen notwendig gründenden Sachverhalte. So gehört das Wesen des Raumes und der im Raum als solchem notwendig gründenden Sachverhalte in die Philosophie, nicht aber das Wesen einzelner konkreter Raumgebilde. So umfaßt die Ontologie alle Reiche des Seienden, in denen eine notwendige Wesenheit vorliegt, aber nur auf hoher Allgemeinheitsstufe. b) Oder aber die Beziehung zu dem Zentralpunkt des Seienden ist durch die inhaltliche Tiefe und materiale Sinnfülle des Gegenstandsgebietes gegeben. So etwa bei dem Gebiet der Ethik, Ästhetik, Personlehre u. a. Hier gehört jede noch so konkrete notwendige Wesenheit, etwa das Wesen von Treue oder das Wesen der Freude oder das Wesen des Tragischen und die zugehörigen Wesenssachverhalte, in den Gegenstandsbereich der Philosophie. Denn auf diesen Gebieten ist das Thema ein material so bedeutsames, daß nicht nur eine hohe Allgemeinheitsstufe und ihre strukturelle Tragweite, sondern jede konkrete notwendige Wesenheit eine Beziehung zum Brennpunkt des Seienden besitzt. Doch interessiert die Philosophie bei diesen beiden Gegenstandsarten, die aus so verschiedenartigen Gründen mit dem Brennpunkt des Kosmos in Beziehung stehen, nur das, was auf Grund seiner notwendigen Soseinseinheit apriorische Erkenntnis ermöglicht. Denn nur das besitzt auch bei diesen Gegenstandsarten prinzipielle Bedeutung, und nur das ist mit dem Brennpunkt des Seienden innerlich verbunden. Die empirischen Fragen hingegen, die wir bei diesen beiden Gegenstandsarten aufwerfen können, – z.B.: Kommt diese Gegenstandsart in der Wirklichkeit vor? oder: Welche kausalgenetischen Ursachen weist das reale Bestehen von Gegenständen dieser Art auf? u. a. – sind zu wenig prinzipieller Natur, um Gegenstand der Philosophie zu werden. 4. Aber die Philosophie will nicht nur zentral bedeutsame Gegenstände erkennen, sondern sie will sie auch in zentral bedeutsamer Weise erkennen. Nur apriorische Erkenntnis aber ist imstande, diejenige Art der

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Erkenntnis-Berührung zu gewähren, auf die, wie wir zu Anfang schon sahen, das philosophische Erkennen abzielt. Es würde dem Erkenntnisziel der Philosophie nichts nützen, wenn das es intendierende Erkennen nur von ,,außen“ her um zentral bedeutsame Gegenstände herumginge, wie es die empirischen Wissenschaften in Realkonstatierungen und Induktion tun. Sie will das „Wesen“ dieser Dinge erkennen, sie will ihr Wesen von „innen“ her durchdringen. Auch aus diesem Grunde ist die Philosophie diesen Gegenständen gegenüber auf das apriori Erkennbare beschränkt. Nur bei den Fragen, die in unmittelbarer Beziehung zum Brennpunkt des Seienden stehen, wie die Frage nach der Existenz der Außenwelt oder der eigenen Person, oder die gar den Brennpunkt selbst betreffen, wie die Frage nach der Existenz Gottes, geht die Philosophie über die Sphäre des rein Apriorischen hinaus. Was sie dort dann behandelt, ist allerdings auch nicht „empirisch“ im gewöhnlichen Sinn. So handelt es sich vor allem bei der Erkenntnis Gottes l. um etwas, das nur prÕj ¹m©j nicht apriorisch erkannt werden kann. Kaq'aØtÒ ist die Existenz Gottes nicht kontingent, sondern wesensnotwendig. 2. Es handelt sich inhaltlich bei der natürlichen Erkenntnis Gottes um den Punkt, in dem Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit „konfluieren“. Beide Welten, die des apriorischen wesenhaft Notwendigen und die der Wirklichkeit, münden in Gott. 3. Die Methode der eigentlichen klassischen Gottesbeweise, also vor allem des kosmologischen, ist nicht empirisch im Sinn von Induktion. Wir bedürfen zwar einer Realkonstatierung als Ausgangspunkt. Irgendein endlich Seiendes muß als existent konstatiert werden. Der Rückschluß von diesem endlich Seienden auf Gott aber fußt bei dem kosmologischen Gottesbeweis auf dem Wesenszusammenhang, daß jedes endliche kontingent Seiende einer Ursache für seine Existenz bedarf. Da die Angabe jeder endlichen Ursache das Problem nur verschiebt, so ist die Annahme einer unendlichen extramundanen Ursache unbedingt notwendig. Der Schluß von der Existenz eines endlich Seienden auf die Existenz eines unendlich Seienden ist also nicht induktiver Natur, er geht nicht von vielen Beobachtungen aus und besitzt nicht die prinzipielle Lücke, die, wie wir früher sahen, jeder induktive Schluß aufweist. Er ist vielmehr lückenlos und stringent und steigt auf Grund eines apriorischen Wesenszusammenhanges zu der Conclusio auf. Er geht von dem allgemeinen

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Wesen des als real konstatierten Seienden als Seiendem aus, also von „innen“ her und nicht wie die Induktion von einer empirischen Eigentümlichkeit vieler Fälle, von „außen“ her. Nur die erste Prämisse, die reale Existenz eines endlich Seienden, ist als Realkonstatierung empirisch. Aber auch sie ist nicht eine gewöhnliche Realkonstatierung unter anderen, sondern betrifft die prinzipielle Frage der Realexistenz von etwas überhaupt. Legt man in dieser Prämisse die Realexistenz der eigenen Cogitatio zugrunde, so hat man sogar eine absolut gewisse Realkonstatierung, und die Erkenntnis des absolut Seienden erreicht dieselbe Erkenntnisdignität wie apriorische Sachverhalte, wenigstens in bezug auf die Gewißheitsstufe. So sehen wir, wie unbeschadet der Einschränkungen apriorische Erkenntnis und philosophische Erkenntnis zutiefst zusammenhängen, und daß ein Verständnis des Wesens der Philosophie, ihres Gegenstandes, ihrer Erkenntnisart und ihrer Fragestellung nicht möglich ist ohne eine prinzipielle Klärung des Wesens apriorischer Erkenntnis, die hier in großen Zügen skizziert wurde. Ist so die Frage nach dem Gegenstand der Philosophie geklärt, so blieb die andere noch unbeantwortet, in welchem Verhältnis das philosophische Erkennen zu jenem steht, das in den Wissenschaften gepflegt wird. Diese zweite Frage wird die Eigenart philosophischen Fragens und Erkennens deutlich herausstellen.

[…] 5. Gegenüber diesen Verirrungen einer sachfernen, konstruktiven „Ableitung“ und einer kausalgenetischen „Erklärung“, war es das große Verdienst der ,,Logischen Untersuchungen“ (l. Aufl. 1900) E d m u n d H u s s e r l s , die eigentliche Methode der Philosophie wiedergewonnen zu haben. Denn der wahre Sinn von „Phänomenologie“ ist nichts anderes, als prinzipiell zu jener intuitiven Gegebenheit der notwendigen, anschaulich offenbaren Soseinseinheiten vorzudringen, um die Gegenstände, die eine solche notwendige Soseinseinheit besitzen, in ihrem Wesen zu erkennen. Mit anderen Worten: die Phänomenologie ist nichts anderes als die Urmethode philosophischen Erkennens. Sie ist nichts anderes als ein

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eindeutiges Vordringen zur intuitiven Vergegenwärtigung der Wesenheit durch ein vorsichtiges Hinwegräumen alles ,,Gestrüpps“, das den Zugang zu der Wesenheit des jeweiligen Gegenstandes versperrt. Sie ist ein Ausscheiden all dessen, was, da es sich in der Nachbarschaft befindet, zu Verwechslungen führen könnte. Sie ist ein klares Visieren der Wesenheit selbst durch deren intuitive Vergegenwärtigung, das uns die Erkenntnis der Wesenselemente und der Wesenssachverhalte ermöglicht. Sie ist die Ausschaltung aller gewaltsamen Konstruktionen, aller illegitimen Formalisierung, aller erzwungenen Ableitungen, aller stillschweigenden Voraussetzungen. Sie ist ein vorurteilsloses Lauschen auf den Gegenstand, ein ständiges Zurückgehen auf den Gegenstand selbst, wo es möglich ist, eine in lebendigstem Sachkontakt vollzogene Erkenntnis. Sie ist nicht Begriffs-, sondern Wesensanalyse, also das, was wir als spezifische Methode der Philosophie kennenlernten. Der Ausdruck Phänomenologie ist heute schon vieldeutig geworden. H u s s e r l hat in seinen „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ (1913; Nachwort dazu 1930) und entschiedener noch in seiner „Formalen und transzendentalen Logik, Versuch einer Kritik der logischen Vernunft“ (1929) eine immer stärkere Wendung zum Idealismus kantischer Prägung hin vollzogen, durch die er den Boden der Phänomenologie, wie sie in der ersten Auflage der „Logischen Untersuchungen“ vertreten wurde, verlassen hat. Wenn wir hier von „Phänomenologie“ reden, so geschieht dies nur im Sinne der intuitiven Wesensanalyse, wie sie vor allem in den Arbeiten von A d o l f R e i n a c h , A l e x a n d e r P f ä n d e r , H e d w i g C o n r a d - M a r t i u s und des Verfassers zu finden ist. Die Phänomenologie ist kein System, sondern eine Methode. Aber sie ist keine neue Methode, wie etwa die transzendentale Deduktion Kants, die Hegelsche Dialektik u. a., sondern die philosophische Urmethode, wie sie alle großen Philosophen tatsächlich anwandten, wenn sie ihre entscheidenden Entdeckungen machten. Wir haben früher gesehen, daß philosophische Entdeckungen – wie der Unterschied von Substanz und Akzidenz, von empirischer und apriorischer Erkenntnis, die Unräumlichkeit personalen Seins, der Unterschied von synthetischen und analytischen Sätzen oder die Tatsache, daß allem Wertvollen eine bejahende Antwort von Seiten der Person gebührt – nur in intuitiver Vergegenwärtigung des

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jeweiligen Seienden gemacht werden konnten. Mag auch von dem Philosophen generell eine andere Methode bewußt zugrunde gelegt werden, in dem Moment, in dem diese Einsichten gewonnen wurden, lag tatsächlich jener letzte, fruchtbare Kontakt mit dem Gegenstand selbst vor, der den Sinn der phänomenologischen Methode ausmacht. Nichts wäre darum irriger als in der phänomenologischen Betrachtungsweise eine Reduktion der Welt auf bloße „Phänomene“ zu erblicken oder gar eine bloße Deskription der „Erscheinung“ der Dinge. Zwischen phänomenologischer Betrachtungsweise und metaphysischer Wesensanalyse ist kein Unterschied. Vielmehr ist ja die phänomenologische Betrachtungsweise nur sinnvoll bei Gegenständen mit anschaulich offenbarer, notwendiger Soseinseinheit, bei denen der Unterschied von „Erscheinung“ und „verborgenem Wesen“ überholt ist. Das sind also dieselben Gegenstände, die ja auch, wie wir sahen, den weitaus größten Teil der Philosophie ausmachen. Die Phänomenologie ist auch nicht etwa nur die Besinnung auf das, was wir jeweils mit einem Begriff meinen, sondern sie ist Erkenntnis der Sache selbst in ihrem Wesen. Die phänomenologische Methode ist nach alledem an sich nichts Neues. Neu ist an der Phänomenologie nur dies, daß sie die selbstverständliche philosophische Urmethode nicht nur unbewußt und gelegentlich anwendet, sondern bewußt, prinzipiell und systematisch. Und neu ist ferner, daß sie diese Methode erkenntnistheoretisch begründet und legitimiert hat. Beides ist keine geringe philosophische Tat.

DIETRICH VON HILDEBRAND DAS COGITO UND DIE ERKENNTNIS DER REALEN WELT TEILVERÖFFENTLICHUNG DER SALZBURGER VORLESUNGEN HILDEBRANDS: „WESEN UND WERT MENSCHLICHER ERKENNTNIS“1 Meine Damen und Herren2, wir sahen, daß auch auf dem Gebiet der Erkenntnis eines konkreten, real Existierenden eine absolute Sicherheit erzielt werden kann, nämlich in der Realerkenntnis der eigenen Person, die der hl. Augustinus in die Worte “si enim fallor, sum” zusammengefaßt hat und die Descartes wieder aufnimmt in seinem “cogito, ergo sum”. Ich wiederhole: Selbst wenn ich mich täusche, wenn der Gegenstand auf der Objektseite, der sich als real präsentiert hat, zum bloßen Schein herabsinkt, bleibt die Realität des Aktes der Täuschung und mit ihr die Realität der eigenen Person völlig unberührt. Und wiederum: die Tatsache, daß ein Wahrgenommenes ein bloßer Schein ist, setzt wesensmäßig die Realität einer Person voraus. Nur einer Person kann etwas scheinen. Ein Gegenstand kann entweder sein oder nicht sein, wenn wir von der Person abstrahieren. Aber in dem Moment, wo es einen Schein gibt, wo etwas, was nicht wirklich existiert, nur so erscheint, erscheint es jemandem, einem Bewußtsein; und dieses Bewußtsein selbst kann nicht wieder ein bloßer Schein sein, sonst müßte es ja wieder einem anderen Bewußtsein erscheinen, und so ad infinitum. Die Tatsache, daß es einen Schein gibt, garantiert die volle reale Existenz einer Person. Es kann nicht genug betont werden, daß es völlig falsch ist, im “si enim fallor, sum” oder im “cogito, ergo sum” einen Anfang des Idealismus oder Subjektivismus zu sehen. Das ist ein völliges Mißverständnis. Und die Tatsache, daß sich vielleicht historisch eine solche Entwicklung nachweisen läßt, hat gar nichts mit der Sache selbst zu tun. Denn, wie ich schon gesagt habe, man sollte auch für die Philosophie sagen, was im Code Civil steht: La “recherche de la paternité est interdite”, d.h. man kann nicht einen Philosophen dafür verantwortlich machen, daß er nachher mißverstanden wurde und daß er in der rein geschichtlichen Entwicklung 1 2

ALETHEIA. An International Yearbook of Philosophy. Vol. VI (1993/1994), p.6-27 8. Vorlesung (1964, ohne Schluß) an der Salzburger Universität.

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dann in viele Dinge hineingeführt hat, die ihm selbst völlig fernlagen. Man kann ihn dafür selbst dann nicht verantwortlich machen, wenn er vielleicht in seiner Formulierung zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, sondern man muß sich dafür interessieren, was der betreffende Philosoph gesehen und gemeint hat. Zwar kommt es manchmal vor, daß gewisse Formulierungen, die nicht eindeutig sind, aber bei einem bestimmten Philosophen wohl ganz auf das Richtige abzielen, dann für folgende Irrtümer verantwortlich sein können. Aber es ist in solchen Fällen ungerecht, wenn wir den Philosophen für mehr verantwortlich machen, als daß er einen wahren Sachverhalt nicht genügend eindeutig formuliert hat. Denn es sind zwei ganz verschiedene Dinge: etwas erkennen, etwas sehen, etwas entdecken – und es ganz korrekt und eindeutig formulieren; ebenso wie man auch eine große Wahrheit entdecken kann und dabei die Argumente, die man für die Wahrheit bringt, deshalb nicht unbedingt stichhaltig sein müssen. Es ist sicher eine der großen fundamentalen Einsichten von Plato, daß er für die Unsterblichkeit der Seele eintritt. Die Argumente, die er bringt, sind nicht unbedingt stichhaltig. Aber etwas wird ja nicht falsch, weil ich ein Argument dafür bringe, das nicht stichhaltig ist. Die Sache kann dennoch richtig sein; und in diesem Fall können dann richtige Argumente dafür gefunden werden. In Wirklichkeit enthält die Erkenntnis des hl. Augustinus, die dann von Descartes in dem “cogito, ergo sum” aufgenommen wird, den Todesstoß für allen Idealismus. Wenn man sie wirklich versteht, sieht man, daß hier jede Möglichkeit, sich in einen Immanentismus des Bewußtseins zurückzuziehen, unmöglich ist. Denn die absolut sichere Erkenntnis eines konkreten, individuellen, realen Seienden enthält die Sprengung aller Bewußtseinsimmanenz und garantiert das volle Transzendieren zu einer objektiven Realität! Ob diese objektive Realität meine eigene Person ist oder etwas anderes, spielt gar keine Rolle. Die Auffassung, das “cogito, ergo sum” oder “fallor, sum” sei ein Abgleiten von der objektiv gültigen Realität in eine bloße Bewußtseinsimmanenz, beruht auf folgenden Irrtümern und Verwechslungen (und es ist sehr wichtig, diesen Punkt zu verstehen): Wir müssen hier wieder die schon früher erwähnte Äquivokation im Terminus „Bewußtseinsinhalt“ hervorheben. Sie erinnern sich, wir unterschieden innnerhalb dieses vieldeutigen Terminus – und dies klar

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hervorgehoben zu haben ist ein Verdienst von Husserl in seinen Logischen Untersuchungen gewesen, in der 1. Auflage, im 1. Band – verschiedene Bedeutungen. Mit Bewußtseinsinhalt wird einmal das Objekt gemeint, von dem ich ein Bewußtsein habe, und das andere Mal meinen wir den bewußten Akt selbst. Wir können aber jetzt dreierlei unterscheiden: 1. Einmal versteht man unter Bewußtseinsinhalt den Gegenstand, von dem ich ein Bewußtsein habe, also etwa ein Haus, dieses Pult usw.; man sagt, daß es ein ‚Bewußtseinsinhalt‘ von mir ist – eine sehr unglückliche Ausdrucksweise; denn ihr liegt, wie früher gesagt, jene Bewußtseinskastentheorie zugrunde, als müsse irgendetwas irgendwie in meinen Kopf, in mein Bewußtsein, hineinkommen, und drin stecken, damit ich davon wissen könne. Wer sagt denn, daß das Bewußtsein ein Kasten ist? Warum soll es nicht vielmehr eben gerade die Charakteristik des erkennenden Geistes sein, daß er hinausgehen kann und das Objekt selbst erfaßt? Es spielen solche falsche Bilder, die nicht ausgesprochen werden, aber die doch im Hintergrund irgendwie ihr Unwesen treiben, wie diese Bewußtseinskastenvorstellung, eine verhängnisvolle Rolle in der Philosophie. Schon in vielen Fragen impliziert man falsche Ideen: Ja, wie soll ich denn davon wissen? Das muß doch irgendwie hereinkommen? Schon bei Demokrit muß der Gegenstand der Sehwahrnehmung direkt, also physisch durch‘s Auge, in das Bewußtsein hineinkommen. Das Bewußtsein wird so als ein Raum gesehen. Das sind aber alles gänzlich vage und unfundierte Vorstellungen. Deshalb ist der Ausdruck „Bewußtseinsinhalt“ als solcher sehr unglücklich, um Gegenstände zu bezeichnen, von denen ich Bewußtsein habe. Aber hier kommt es darauf an zu unterscheiden und die erwähnte Äquivokation zu sehen. ‚Bewußtseinsinhalt‘ im ersten Sinn heißt also das, wovon ich ein Bewußtsein habe: dieses Pult, dieser Tisch, und Sie alle, die da sind. Das alles wird dann sehr unglückseligerweise „Bewußtseinsinhalt“ genannt. In Wirklichkeit paßt dieser Ausdruck hier nicht. 2. Ein zweites Mal aber – und da hat es etwas mehr Sinn – meint man mit demselben Ausdruck einen ‚reinen Bewußtseinsinhalt‘: Ein solcher liegt vor, wenn ich mich täusche und wenn der Gegenstand nichts weiter ist als nur ein Gegenstand, ein Objekt meines Bewußtseins, wenn er sich also nicht mehr, wie dieses Pult, hier im Raum befindet, sondern wenn er

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nichts weiter ist wie ein Schein, etwas, was mir so erscheint. Auch hier ist es unglücklich, von „Bewußtseinsinhalt“ zu sprechen, denn mit seiner Irrealität existiert ja der Gegenstand der Täuschung auch nicht irgendwo da in meinem Kopf, sondern er bleibt eben ein bloßer Schein, etwas, was nicht existiert. Aber immerhin ist diese Reduktion, die Verminderung, die in dem Ausdruck „Bewußtseinsinhalt“ liegt, hier schon etwas mehr motiviert. 3. Ganz etwas anderes aber, und das ist der dritte Sinn des vieldeutigen Ausdrucks, ist ‚Bewußtseinsinhalt‘ als ein realer Teil meines Bewußtseins: nicht ein Objekt, von dem ich ein Bewußtsein habe, sondern ein realer Teil meines bewußten Seins, wie meine Freude, die ich erlebe, der Schmerz, den ich erleide, der Akt der Wahrnehmung, oder auch der Akt des Getäuschtwerdens, oder der Akt des Träumens. Diese alle sind ja wirklich. Das Haus, das ich sehe, ist entweder ein wirklicher, materieller Gegenstand in der Außenwelt, dann ist es in keiner Weise ein Teil meines Bewußtseins, meines bewußten Seins. Es ist nur ein Gegenstand meiner Wahrnehmung, ein Gegenstand meines Bewußtseins, eben das Objekt, von dem ich ein Bewußtsein habe, das ich besitze. Im Falle des bloßen Scheines ist das Haus nicht wirklich vorhanden, es ist nur eine Täuschung, ein Schein, es ist also nichts weiter als nur ein Gegenstand meiner Wahrnehmung. Es existiert nicht, es scheint nur zu existieren, wenn ich geträumt oder halluziniert habe. Und dann ist es ebenfalls kein Teil meines bewußten Seins, in keiner Weise, sondern es hat kein anderes Sein als dieses ganz miserable, ephemäre Sein, daß es ein Objekt meines Bewußtseins ist, nichts anderes als nur das, daß es nur da erscheint. Denn da das geträumte Haus sich als ein in der Außenwelt existierendes, materielles, von meinem Geiste völlig unabhängiges Sein ausgibt, da es prätendiert wirklich dazusein, dies aber nicht ist, ist es eben darum nur ein scheinbar Existierendes, ein Ungültiges. Die Freude hingegen, die ich erlebe, der Akt des Wahrnehmens, der Akt des Träumens oder Halluzinierens sind ja reale Teile meines personalen Seins. Sie sind ja ein voll von mir vollzogenes bewußtes Sein. Dadurch, daß man diese drei Bedeutungen von ‚Bewußtseinsinhalt‘ nicht trennt, die offenbar auf ganz verschiedene Dinge abzielen, glaubt man irrigerweise, die objektive Realität bewußten Seins irgendwie doch als etwas Bewußtseinsimmanentes interpretieren zu können. Es gibt einen

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gewissen Sinn zu sagen: „Das halluzinierte Haus existiert nicht objektiv, es wurde nur von mir für wirklich gehalten.“ Und diesen Tatbestand drückt man dann schon in viel äquivokerer Weise mit den Worten aus: „Es existiert nicht wirklich, sondern nur für mich.“ Denn tatsächlich existiert es gar nicht ‚für mich‘, ich weiß ja, daß es nicht existiert, sondern es scheint nur. Es existierte scheinbar, solange ich es nicht als Schein erkannt hatte, aber nachher weiß ich ja, daß es nicht existiert. Das bewußte Sein aber, das ein realer Teil meiner Person ist, wie meine Freude, aber auch mein Halluzinieren und Träumen, existiert ja in voller Realität und in keiner Weise nur für mich. Es gibt gar keinen Sinn, das zu sagen. Nein, es hat wirklich stattgefunden, objektiv, in der Welt. Natürlich merken es die andern nicht, weil es etwas ist, was sich nicht in ihnen abspielt, aber es hat tatsächlich in mir stattgefunden. Es ist auch nicht nur ‚für mich‘ dagewesen. Es ist ein objektives reales Sein. Die Einsicht, durch die der Inhalt eines „Bewußtseins von“, wie das geträumte oder halluzinierte Haus, nachher entthront wird – ich wache auf, ich sehe es war alles nur ein Traum, es existiert gar nicht, was ich gemeint habe - führt auch in keiner Weise zu einer Entthronung des Aktes. Der Akt des Träumens und Halluzinierens, des Sich-Täuschens, wird durch die Erkenntnis, daß sein Gegenstand nicht real ist, in keiner Weise in seiner Wirklichkeit entthront. Wir haben gesehen: Im Gegenteil, nur weil ich wirklich geträumt habe, ist das geträumte Haus kein wirkliches Haus. Diese Einsicht enthält durchaus nicht ein Sich-Zurückziehen auf ein bloß Immanentes. Das ist ungeheuer wichtig zu verstehen. Diese Einsicht für den Anfang des Subjektivismus zu halten ist eine ganz fürchterliche Verwechslung und ein Irrtum. Daß ein Akt, der seinem Wesen nach etwas Personales ist, ein personales Sein hat und daß er sich nicht wie das Haus oder wie ein Stein in der materiellen Außenwelt befindet, das macht ihn doch in keiner Weise zu etwas Bewußtseinsimmanentem im erkenntnistheoretischen oder auch im metaphysischen Sinn. Er findet doch real statt, nicht nur als ein mir Scheinendes, daß ich ihn bewußt vollziehe. Daß er in mir stattfindet und nicht ein Vorgang ist, wie das Rauschen oder das Fließen eines Flusses, das macht ihn doch nicht subjektiv im Sinn eines bloßen Scheines, das nimmt ihm doch nicht die Realität weg. Bedenken wir auch, daß diese Akte wesenhaft eine reale Person voraussetzen. Gerade das ist ein Wesensgesetz, das ich mit absoluter

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Sicherheit und ohne alle Realerkenntnis einsehen kann. Die Einsicht „jede Täuschung setzt einen realen Akt und ein reales Subjekt voraus“ gehört zu den erwähnten Wesenseinsichten.3 Daß jeder Akt des Sich-Täuschens eine Person voraussetzt, daß darum die Existenz eines solchen Aktes notwendig eine Person, eine reale Person voraussetzt, ist evident. Und das ist nicht dieselbe Vorausgesetztheit wie wenn ein Schein vorliegt, der eine Person braucht, um hier scheinen zu können, wie wir gesehen haben. Schon der Schein setzt eine Person voraus, um ihr scheinen zu können. Aber hier ist es nicht der Schein, der die Person voraussetzt, sondern der Akt. Das ist eine andere Beziehung; hier setzt dieser Akt die Person als ihren Träger wesenhaft voraus. Sieht man dies ein, tritt die Absurdität, im fallor, sum oder im cogito, ergo sum ein Sich-Zurückziehen in eine idealistische Bewußtseinsimmanenz sehen zu wollen, noch deutlicher hervor. Meine Damen und Herren, das Selbstbewußtsein ist kein Bewußtsein von, es ist nicht ein Bewußtsein von etwas, von einem Gegenstand, es ist ein realer Vollzug meines Selbst. Hier berühre ich die volle Realität in einzigartiger Weise. Es ist gar nicht nur ein cogito, ergo sum, es ist ein cogito, sum. Es braucht gar kein ergo. Und in jedem Idealismus reduziert man ja irgendwie das volle reale objektive Sein auf ein bloßes Mir-Erscheinen. Man spricht ihm nur die Form der Existenz zu, die ein bloßes Objekt meines Bewußtseins hat, ein bloßes Etwas, das nichts anderes ist als bloß ein Objekt meines Bewußtseins. Das fallor, sum oder cogito, ergo sum hingegen urgiert die radikale Verschiedenheit des objektiven, realen und bewußten Seins eines Aktes der Person und mit ihr der voll realen Person, von dem bloßen Gegenstand eines „Bewußtseins von“. Ich erwähnte es schon, aber ich muß es noch einmal unterstreichen: Der berühmte Satz von Berkeley “esse est percipi”, Sein ist nichts als ein Wahrgenommenwerden, kann ja in gewisser Weise als die Magna Charta des Idealismus und Subjektivismus betrachtet werden. Dieser Satz4 bringt 3

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Diese Feststellungen und ähnliche Bemerkungen beziehen sich auf die vorhergehenden Vorlesungen über Wesenseinsichten in absolute und in sich notwendige Sachverhalte, die wir in der Einleitung erwähnt haben. Anm. d. Hrsg. Wenn er nicht nur für die Materie, sondern allgemein gelten soll. Berkeley hat ihn wohl nicht allgemein verstanden, sondern wollte nur die materielle Welt auf ein bloßes Wahrgenommenwerden reduzieren. Später aber wurde er – durch die

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den Subjektivismus deutlich zum Ausdruck. Das Sein wird in ein Wahrgenommenwerden aufgelöst. Aber jedes Wahrgenommenwerden, jedes percipi, setzt doch notwendig ein percipere voraus, setzt doch den realen Akt der Wahrnehmung voraus. Der Akt der Wahrnehmung selbst ist doch nicht ein nur Wahrgenommenes. Und dieses Wahrnehmen hat eine ganz andere, volle, objektive Realität. Ein Abgrund klafft zwischen der dünnen miserablen Existenz, die darin besteht, daß etwas nichts anderes ist als ein Objekt meines „Bewußtseins von“, daß es nur mir so scheint, vor meinem Geist besteht: dieses halluzinierte Haus, der geträumte Berg oder irgendeine Fiktion – und der vollen Realität eines personalen Aktes, sei es eine Freude über etwas, eine Überzeugung von etwas, ein Wollen von etwas, ein Erkennen oder ein Bewußtsein von etwas. Wir meinen hier nicht den Gegenstand des Bewußtseins, sondern ‚das Bewußtsein‘ vom Selbst, das Wahrnehmen, das Halluzinieren, das Träumen, was immer es sei. Zwischen der Seinsform des „Objektes eines Bewußtseins von“, also zwischen der Seinsform des perceptum im Sinne dessen, was nichts weiter als ein perceptum ist, und der Seinsform des “Bewußtseins von”, des Aktes selbst, also des percipere, gähnt ein Abgrund. Es ist von größter Bedeutung, das bewußte Sein, das vollzogene bewußte Sein von dem bloßen perceptum klar zu scheiden. Das percipere selbst, das vollzogene bewußte Sein, ist genauso ein voll reales Sein wie ein Vorgang in der materiellen Welt, wie das Kreisen eines Sternes, wie das Kreisen der Erde. Es ist genauso etwas voll Reales, in der realen Welt Stehendes, wie das wirkliche Haus und der wirkliche Berg. Es ist nur radikal verschieden in seinem Wesen und darum in seiner Seinsart. Aber diese ontologische Verschiedenheit hat doch nichts mit der realen Existenz zu tun, hat doch nichts mit der Realität zu tun. Selbstverständlich gilt für jedes Gebilde, daß wenn ich die Frage stelle „Existiert es oder existiert es nicht?“, ich ja auf seine Wesensart Rücksicht nehmen muß, sonst gehe ich eben vor wie jemand, der sagt „Es gibt keine Töne, weil ich sie nicht sehen kann, und es gibt keine Farben, weil ich sie nicht hören kann.“ Natürlich können gewisse Gegenstände nur so erkannt werden, wie unglückliche Allgemeinheit der Formulierung – auf alle Seienden ausgedehnt. Anm. d. Hrsg.

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es ihrer Natur entspricht. Wenn ich sage wie der Chirurg: „Ich habe so viele Leute operiert und immer ehrlich bei allen Operationen gesucht, hinter welchem Organ ich die Seele finde; es ist mir aber nie gelungen, sie zu finden“, dann kann ich sie nie finden, weil ich erwarte, daß die Seele eine Seinsform besitzt wie eine Niere oder eine Lunge. Daß die Seele eine solche Seinsform ihrem Wesen nach nicht besitzen kann, das hat mit der Frage, ob sie existiert oder nicht, gar nichts zu tun. Ja sie würde nicht existieren, wenn sie unter einer Niere oder einer Lunge gefunden würde. Sie existiert nur dann, wenn sie eben gerade in ihrer Seinsart radikal verschieden ist. Der Ausweis, den ich für ihre Existenz bringen muß, ist ein völlig anderer. Ich kann ihn nicht bringen wie für ein physisches Ding. Dies zu verlangen wäre ähnlich willkürlich wie wenn ich von vornherein sagte: „Ich mache die Frage, ob etwas existiert, davon abhängig, ob ich es lieben kann.“ Nach einem solchen willkürlichen Kriterium würde auch ein Gegenstand der materiellen Welt nicht existieren. Elektrizität kann ich nicht lieben, also existiert sie nicht. Die Frage, ob das bewußte Leben und sein Subjekt existieren, darf also nicht mit der ganz anderen Frage verwechselt werden, ob hier das bewußte Sein eine ganz andere Form von Sein ist. Weil dieses Sein aber von der Person vollzogen ist und ein bewußtes Sein ist, ist es keineswegs ein bloßer Bewußtseinsinhalt in dem Sinne, daß bewußte Akte in meinem Bewußtsein (als deren scheinbare Objekte) existieren, sondern sie existieren objektiv. Sie finden tatsächlich statt. Das wird ja erfreulicherweise heute mehr und mehr von manchen erkannt, daß dieses Sein ein höheres, ein volleres, ein metaphysisch bedeutsameres Sein ist als irgendein materielles Sein. Es wird eingesehen, daß dieses Sein der Person, dieses bewußte und so völlig andere, personale Sein, eine viel höhere Seinsart ist als bloße Dinge. Ich erinnere nur an Heidegger, der doch das personal-menschliche Sein allein das ‚Dasein‘ nennt gegenüber anderem Sein, oder an Gabriel Marcel. Ja selbst ein in so vielen Hinsichten unglückseliger Mann wie Sartre unterscheidet, wenn auch unter anderen Vorzeichen, zwischen dem être-pour-soi und dem être-en-soi. Die Verwechslung von perceptum und percipere hat dazu geführt, das personale Sein in den Augen vieler als bloß subjektiv und als weniger metaphysisch hinzustellen. Hier rühren wir an einen sehr gefährlichen

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Irrtum, der sich an vielen Stellen geltend macht, ja der sich sogar in der traditionellen Konzeption der Metaphysik – ich sage nicht der Metaphysik eines hl. Augustinus oder eines Duns Scotus, ich meine insbesondere den heutigen offiziellen Thomismus – geltend macht. Man denke an die berühmten drei Abstraktionsstufen und die Vorstellung, daß ich durch die Abstraktion immer an das Höhere, das noch Würdigere, das noch Bedeutsamere, hingelange. Es liegt dem ein falscher Begriff der Umfassendheit und der Weite zugrunde, der natürlich hier nicht in der Weise urgiert wird, daß er ad absurdum führt, aber der sich dann in katastrophaler Weise bei Plotin geltend macht, wenn er sagt: „Gott ist jenseits der Frage von Existieren und Nichtexistieren.“ Also das höchste Sein muß so sein, daß es so unbestimmt ist, weil jede Bestimmtheit schon eine Einengung ist. Und so finden Sie bei Spinoza „Gott ist natürlich jenseits von Gut und Böse, weil er andernfalls schon viel zu konkret, viel zu bestimmt wäre.“ Selbstverständlich, diese Art des ad absurdum führenden abstrakten ‚Gottes‘ ist in der traditionellen Philosophie nicht zu finden, aber es liegt hinter den erwähnten Ideen doch die auch innerhalb der Tradition bestehende falsche Vorstellung, man käme dem absolutum näher, je allgemeiner und abstrakter man es auffasse. Wie oft ist das Wort aus dem Alten Testament “Ego sum qui sum” so gedeutet worden, als ob das die Offenbarung Gottes im eigentlichsten Sinne sei, weil dieses Wort gewissermaßen nur von dem absolut Seienden ganz abstrakt spricht. Die Exegese hat nachgewiesen, daß eine solche Interpretation dieses Wortes falsch ist. Es bedeutet nämlich im Hebräischen die Kundgabe Gottes als Person, „Ich bin ein personales Sein“. Das ist heute in der Exegese gesichert. Es ist mir unbegreiflich, wie man die Überlegenheit personalen Seins so verkennen kann. Es kann doch gar nichts Überwältigenderes geben für jemand als der Moment, wo er einsieht, daß Gott die absolute Person ist. Der Schritt von einer impersonalen Gottheit zum Deus videns et vivens ist doch ganz überwältigend, daran hängt doch alles Glück, das Gott gewähren kann, daran hängt doch alles. Im Grunde ist eine Anbetung einer impersonalen Gottheit in sich schon etwas Unsinniges, weil in der Anbetung doch die Überlegenheit des angebeteten Seins eingeschlossen ist. Jedes impersonale Sein ist wesenhaft kontingent. In der Impersonalität liegt ja ein Zeichen der Kontingenz. Das impersonale Sein ist ja ein

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schlafendes Sein, nur in der Person erwacht ja das Sein, dieses sinnvoll durchleuchtete vollzogene Sein. Ich müßte mich ja notgedrungen über diesem Absoluten fühlen, wenn es nicht personal wäre. Das hat ja Pascal herrlich gesehen, wenn er sagt: “L’homme n’est qu’un roseau, mais un roseau pensant” (Er ist nur ein Rohr, ein Schilfrohr, aber er ist ein denkendes Schilfrohr). Und weiter: „Das Universum braucht sich nicht zu rüsten mit großen Waffen, um den Menschen zu töten. Ein Tropfen Wasser genügt. Aber der Mensch ist größer als das Universum, denn er weiß, daß er stirbt und das Universum weiß es nicht.“ Mit diesen Worten hat Pascal in phantastischer Weise die absolute Superiorät des bewußten Seins aufgezeigt. Wie kann man glauben, daß man Gott näherkommt, wenn man sich wieder in ein so allgemeines Sein hineinabstrahiert, in dem die Personalität nicht mehr enthalten ist? Damit habe ich mich von Gott entfernt. Ich bin ihm 10x näher, wenn ich ihn als Person sehe. Die wahre Metaphysik ist die, die die Überlegenheit personalen Seins unterstreicht und immer wieder unterstreicht: personales Sein. Und alles, was sich in der Person abspielt, ist viel metaphysischer als Vorgänge in der Welt draußen. Was für ein unseliger Gedanke deshalb, wenn man von Liebe spricht, zu glauben, man müsse, um seriös und metaphysisch zu werden, natürlich von dem Akt einer Person absehen. Was man da Liebe nennt, das muß dann irgendeine finale Bewegung sein, die sich auch im Sein als solchem findet. Ich habe schon auf diesen unseligen Gedanken von Garrigou Lagrange hingewiesen, der das Gravitätsgesetz als eine Liebe interpretiert, was, wie ich schon sagte, selbst als Poesie nicht gut ist, aber für Philosophie überhaupt nichts fördern kann. Warum die Dinge alle enteigentlichen? Warum ihnen ihren Sinn, ihren Gehalt nehmen? Warum nicht glücklich sein, je mehr Gehalt etwas hat, je bedeutungsvoller es damit ja ist? Was sind denn alle finalen Vorgänge materieller Art, alle Bewegung? Das ist ja Staub und Asche verglichen mit einem Akt der Liebe, einer personal vollzogenen Liebe, aber der menschlichen Liebe. Was sind denn größere Ereignisse in der Welt als diese großen Momente von gültigen tiefen Akten, sagen wir der heiligen Freude eines hl. Simeon, der das Jesuskind in den Armen hielt, oder der Reue eines hl. Petrus, nachdem er Christus verleugnet hat? Das sind die Dinge, die in das Buch des Lebens eingeschrieben sind und die metaphysisch hundertmal interessanter sind als bloße allgemeine Bewegungen innerhalb eines abstrakten Seins. Es ist ein

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ganz unglücklicher Gedanke, die Subjektivität im Sinn des realen bewußten Seins der Person mit der negativen Subjektivität bloßer Bewußtseinsinhalte zu verwechseln. Es ist überaus gefährlich zu glauben, daß man die Hierarchie mit einer falschen Abstufung der Abstraktion gleichsetzen müsse, und dies ist besonders erstaunlich für einen Christen. Verzeihen Sie, wenn ich jetzt einen Moment die philosophische Ebene verlasse, nur um zu zeigen, wie widerspruchsvoll diese Haltung ist. Die Inkarnation, die Tatsache der Epiphanie Gottes in Christus, in dieser konkreten realen Persönlichkeit, in quo habitat omnis plenitudo divinitatis (in dem alle Fülle der Gottheit wohnt) – all das ist nicht zu verstehen, wenn es nicht die Höhe des Wertes ist, die die wahre Umfassendheit hat und wenn nicht das konkrete Antlitz Christi alle Herrlichkeit per eminentiam enthält – und nicht ein allgemeiner Begriff von einem Sein, das ganz inhaltsleer und reduziert ist. Bedenken wir noch einen Grund dieses Mißverständnisses. Man glaubt, daß im Moment, wo man zu dem höheren personalen Sein übergeht, man von der metaphysischen Ebene in das Psychologische abgleitet. Und davon kann gar keine Rede sein. Man verwechselt hier die Form der Seinsart des Bewußten, die eine nicht dingliche ist und die nicht die Dinglichkeit besitzt, die ein materieller Gegenstand hat, mit einem Mangel an Realität. Das hält man für einen Verlust an objektiver metaphysischer Realität, was aber völlig falsch ist. Es ist nur eine andere Form des Seins. Selbstverständlich besitzt auch die Person ein voll objektives Sein und nicht nur ein Sein für mich. Dieses höhere bewußte Sein hat doch gar nichts mit „für mich selbst“ zu tun! Ich habe schon gesagt, das cogito, ergo sum ist im Grunde ein cogito, ergo esse est: es ist in keiner Weise eine Reduktion auf etwas rein Subjektives. Der Gegenstand, der mir nur erscheint, existiert nicht wirklich, aber mein eigenes Sein, weil es ein bewußtes Sein ist, ist deshalb doch nicht ein bloßes ‚Für-jemand-Sein‘. Es ist leider nicht nur ein lapsus linguae, sondern ein lapsus mentis, der hier vorliegt und diese falsche Vorstellung erzeugt. Leider muß ich hier sagen, daß auch, wie ich gehört habe, der von mir so hoch verehrte Gabriel Marcel gegen das cogito, ergo sum einen Einwand erhebt, der mir ganz unberechtigt erscheint, indem er sagt: „Ich kann ja das Sein des Ego nur in Kontakt mit dem Objekt erkennen, wenn die Realität des andern mir gegeben ist.“ Sie sind also gewissermaßen

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gemeinsam gegeben, gleichsam untrennbar voneinander. Ich kann gar nichts vom Ich wissen, wenn ich nicht ein Objekt habe. Abgesehen davon, daß diese These sehr fragwürdig und unseligerweise ein Einfluß von Heidegger auf Marcel ist, sieht er nicht, daß die Situation, von der man zum cogito, ergo sum oder zum fallor, sum kommt, ja durchaus den Kontakt mit dem Objekt einschließt. Es ist ja Bewußtsein von etwas. Also ist diese Situation, die er für notwendig hält, um das Ich zu entdecken, ja gegeben. Nur daß eben gerade das Objekt entthront wird und daß mit dem Kollaps des Objektes als bloßer Schein die volle Realität der Cogitatio, also des Fallor und damit auch der Person, in keiner Weise entthront wird. Nein, das cogito, ergo sum und das fallor, sum sind, wie ich schon sagte, ein archimedischer Punkt der unbezweifelbaren realen Existenz der eigenen Person, wobei das Faktum, daß es die eigene Person ist, gar nicht das Wesentliche ist, sondern das Wesentliche ist, daß es eine Person ist. Und hier finden wir wieder eine verwandte Verwechslung. Weil es meine Person ist, so denkt man, sperrt man sich vielleicht in sich ein. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn meine Person existiert ja in diesem Fall objektiv als Person, in der objektiven metaphysischen Welt. Sie ist ja von der Cogitatio vorausgesetzt. Erkenntnis der realen Außenwelt – eine weitere realistische Konsequenz des “si enim fallor, sum”: mundus realis est Aber es ist auch ein großer Irrtum zu glauben, daß dieser archimedische Punkt irgendwie einen Zweifel an der absoluten Gewißheit der Außenwelt und vor allem anderer Personen einschließt. Ganz im Gegenteil, mit der Sicherung dieser Erkenntnis, mit der unbezweifelbaren Erkenntnis des ‚Ich bin‘, die, wie ich gesagt habe, einen Todesstoß für jeden Idealismus darstellt, müssen wir uns jetzt als zweites erneut der Frage der Gewißheit der Erkenntnis der Außenwelt zuwenden. Wir müssen fragen: „Ist nicht die Annahme, daß wir uns vielleicht in jeder Wahrnehmung täuschen, und daß die ganze Welt um uns herum vielleicht nur ein Traum sei, schon als solche in sich unmöglich?“ Gewiss, im Einzelfall können wir uns täuschen und täuschen wir uns oft, aber das Faktum, daß wir diese Täuschung als Täuschung feststellen können, beweist, daß es eine Wirklichkeitserfahrung geben muß, die diese

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Wahrnehmung entlarvt. Die Täuschung, das Phänomen der Täuschung, setzt notwendig eine gültige Wirklichkeitserfahrung voraus. Sonst könnten wir überhaupt nicht einmal zu dem Begriff „Täuschung“ kommen. Das Fallor gibt mir nicht nur die unbezweifelbare volle Realität des sum, also der eigenen Person, sondern es gibt mir auch die unbezweifelbare Wirklichkeit der Welt außer mir, denn die Nötigkeit der Entthronung einer Wahrnehmung als Täuschung, als Halluzination, als Traum, oder was immer es sei, impliziert schon eine Wirklichkeitserfahrung, die sie korrigiert. Wenn es wahr wäre, daß wir immer träumen, könnten wir die Frage nicht stellen, gäbe es den Unterschied von Traum und Wirklichkeit nicht. Den gibt es doch. Das ist wieder so ein Sprung, ähnlich dem, den ich neulich erwähnt habe, angesichts jener Art von Antinomien, wo man sich von der Anschauung, von der Wirklichkeit, entfernt und dann sich geistig einfach so weiter herumpufft, wie es bei der Zenonischen Antinomie der Fall ist, mit Achilles und der Schildkröte, indem man die Teilbarkeit, die potentielle Teilbarkeit, als ein Reelles, als etwas, was ich real durchschreiten muß, ansetzt. So ähnlich hier: „Ja vielleicht, wer weiß, vielleicht träumen wir überhaupt immer.“ Die Tatsache, daß ich sagen kann, „wir träumen immer nur“, die Tatsache, daß ich diese Frage aufwerfen kann, schließt aus, daß es der Fall ist. Denn der Unterschied von Täuschung und Wirklichkeit wäre gar nicht denkbar, wenn es nicht eine Erfahrung gäbe, die eine andere entthront. Daß ich überhaupt von Täuschung sprechen kann, setzt auf der Objektseite die Instanz voraus, die eine einzelne Erfahrung als Täuschung entlarvt. Das Wort vom hl. Augustinus ist so vielgestaltig fruchtbar und bedeutsam, daß es nicht nur in der Richtung des fallor, sum, die er selbst ausführt, sondern auch in einer anderen entfaltet werden kann: Indem ich fallor sage, setze ich auch die Instanz auf der Objektseite voraus, die meine Täuschung korrigieren kann. Meine Damen und Herren, die Wirklichkeitserfahrung konstituiert sich aus einer Reihe vielgestaltiger Erfahrung und ist ein ganzes Netz, das sich gegenseitig fortwährend bestätigt. Wenn wir feststellen, daß wir uns getäuscht haben, so muß immer eine für diese Erfahrung erforderliche notwendige Bestätigung ausbleiben, oder es muß eine überlegene Reihe von Erfahrungen diese einzelne widerlegen, entthronen, ungültig erklären. Wir finden hier ein Netzwerk ineinandergreifender Erfahrungen dessen,

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was uns in der uns umgebenden Wirklichkeit begegnet: wir tauchen einen Stab ins Wasser und er sieht wie gebrochen aus; sobald wir ihn aber herausziehen, sieht er nicht nur gerade aus, sondern er fühlt sich auch als gerade an; wir fühlen, daß kein Bruch vorliegt – alle unsere Erfahrungen in bezug auf Holz usw. widersprechen der Möglichkeit einer plötzlichen Krümmung, die nur dadurch verursacht würde, daß ich den Stab ins Wasser stecke. Es genügt aber auch, daß wir den Stab, der gekrümmt erscheint, im Wasser lassen und ihn nur anfassen, nur an ihm mit der Hand entlangfahren. Wir brauchen nur eine andere Erfahrungsquelle dazuzunehmen, um zu fühlen, daß er nicht gekrümmt ist. Ich nehme dies nur als ein Beispiel dieses gegenseitigen, sich bestätigenden Ineinandergreifens von verschiedenen Erfahrungen der Wirklichkeit. Bei der Halluzination wird diese Erfahrung dadurch widerlegt, daß sie gleichsam von dem Wirklichkeitsnetz entthront wird. Wenn wir plötzlich einen Bekannten sehen, der über die Strasse geht, und dann darum annehmen, daß er sich wirklich dort befindet, und im nächsten Moment erfahren wir aus zuverlässiger Quelle, daß er schon vor einer Woche gestorben ist, und wenn sich in der Folge diese Nachricht bestätigt, wird diese Wahrnehmung aus der Wirklichkeit ausgestoßen und als ungültig, als Täuschung erwiesen, wenn wir nicht annehmen, daß uns da ein Geist erschienen ist. Bei dem Traum haben wir es mit einer Welt zu tun, die sich insofern deutlich von der Wirklichkeit als Ganzes abhebt, als die ganze innere Konsistenz, die Logik, der widerspruchsfreie Aufbau, der sinnvolle Aufbau, den die ganze Wirklichkeit besitzt, wegfällt. Und das Wegfallen dieser gegenseitigen Bestätigung, der Konstanz, ist ein radikaler Gegensatz zu dem wohlgeordneten Gebäude der Wirklichkeit. Das ist ja das Spezifische am Traum, dieses plötzliche Springen – eine Person kann zwei Personen werden – plötzlich verwechselt man sie; plötzlich kommt das, was an einem ganz anderen Ort ist; alles geht in einer sprunghaften Weise vor sich. Und selbst wenn das Traumgeschehen einmal nicht so sprunghaft vor sich geht, sondern ein sehr logischer Traum ist, was es ja auch manchmal gibt, selbst dann explodiert all dies im Moment, wo ich erwache, weil ich dann eine ganz neue Art der Erfahrung, eine Wirklichkeitserfahrung habe. Wenn ich die nie hätte, wenn ich immer träumte, wäre dies nicht möglich. Gewiß, es gibt auch solche Träume – ich

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habe das selbst erlebt – wo sich im Traum mehrmals wiederholt, daß man glaubt, man wache auf. Man träumt vielleicht, man ist in seinem Zimmer, man träumt, man ist in seinem Bett, und träumt, daß man aufwacht, und träumt, daß man aufsteht; und wenn man aufgestanden ist, merkt man, daß man dies geträumt hat: es gibt wieder eine Schicht, die von der scheinbar wirklichen Welt zur Traumwelt wechselt. Aber einmal kommt dann das Erwachen, das gänzlich anders und allein imstande ist, all diese geträumten Geschehen als irreale zu entthronen. So ist die Annahme, daß wir vielleicht immer träumen oder halluzinieren usw. als solche eine unmögliche Annahme. Die Wirklichkeit als Ganzes ist eindeutig mit absoluter Gewißheit gegeben. Sosehr es möglich ist, sich im einzelnen in der Wirklichkeit zu täuschen, so unmöglich ist es, an der Realität der wirklichen Welt als Ganzes zu zweifeln. Obendrein sind die Gründe für die Täuschung im einzelnen ja ungeheuer einsichtig. Ich kann den Traum als Phänomen studieren. Nicht nur ist das Träumen selbst real, es liegt ihm ja auch eine Realität zugrunde, auf die er sich bezieht. Ich kann in ähnlicher Weise sehen, warum ich diese optische Täuschung habe. Aber viel wichtiger für uns ist folgendes: Jede Theorie, die die wirkliche Welt als Ganzes subjektiviert, auch wenn sie nicht behauptet, daß wir vielleicht immer träumen oder halluzinieren, nein, sondern nur behauptet, daß wir nur ein mehr oder weniger subjektives Bild der Außenwelt erfassen können und daß wir nie wissen, ob das, was wir sehen, in Wirklichkeit existiert oder uns nur so erscheint, widerspricht sich. Also sind alle Formen von Subjektivismen und auch von Idealismen in sich widerspruchsvoll. Erstens bringt uns schon, wie wir sahen, das cogito ergo sum, das fallor, sum, in Berührung mit der vollen objektiven metaphysischen Wirklichkeit eines konkreten Seins, in diesem Fall derjenigen der eigenen Person, aber das Wichtige ist, daß es die Wirklichkeit einer Person ist, die, wie wir sahen, ja nicht nur für unseren Geist ist, sondern sich in voller objektiver Existenz als real ausweist. Zweitens führt jede Behauptung, die sich uns erschließende Welt sei nur ein subjektives Bild im weitesten Sinn, in welcher Form immer, auch wenn sie noch so intelligent, noch so geistvoll ist, zur Konsequenz des Solipsismus. Wenn ich konsequent bin, muß ich im Solipsismus enden. Denken wir an die Behauptung, wie sie Stirner in seinem Eigentum ausführt, daß ich nichts anderes wissen kann als daß das, was ich sehe, was

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nur Bewußtseinsinhalte sind; daß ich nicht aus mir hinausgehen kann, daß ich die Tatsache nicht widerlegen kann, daß alle Objekte meines Bewußtseins ebensogut bloße Fiktionen von mir sein können. Ich sage, ein derartiger Subjektivismus führt notwendig zum Solipsismus. Denn sobald man über etwas urteilt, das nicht bloßer Bewußtseinsgegenstand ist, widerspricht man dem Subjektivismus. In dem Moment, wo ein Philosoph – z.B. Hume – diese Relativität aller Objekte auf den Menschen in seinem Sensualismus feststellen will, so will er ja etwas sagen, was für alle Menschen gilt. Aber damit widerspricht er sich. So etwas zu sagen und zu erkennen ist von seinem subjektivistischen Standpunkt aus unmöglich. Wie will Hume wissen, wenn sein Sensualismus wahr wäre, ob es überhaupt andere Menschen gibt? Und wie will er sich wie sie geartet wissen und wissen, ob für sie das gilt, was er in sich feststellt, und was Empfindungen sind usw.? Was man sehen muß, ist, daß in dem Moment, wo man solche Behauptungen aufstellt, ja die eigene Theorie transzendiert wird. Darum sage ich, sie ist widerspruchsvoll, wenn sie nicht absolut im Solipsismus endet. Viele der Thesen Humes stehen in absolutem Widerspruch zu seinem Subjektivismus. Er müßte, wenn er konsequent wäre, behaupten, wir können nichts über die Existenz anderer Menschen aussagen, weil ich nur von dem sprechen kann, was ich über mich und die Objekte meines Bewußtseins weiß. Dann wäre er konsequent. Und dann wäre er eben in diesem Solipsismus gefangen. Vorläufig spreche ich nur davon, daß jeder Subjektivismus und Idealismus konsequent in einen Solipsismus münden müßte und daß der Widerspruch darin besteht, daß die Vertreter des Subjektivismus das nicht tun, sondern die Welt auf den menschlichen Geist oder auf den Menschen im allgemeinen relativ präsentieren, also Sätze aufstellen, die weit über die Sphäre der Objekte des eigenen Bewußtseins hinausgehen. Über die Unsinnigkeit des Solipsismus selbst werden wir gleich nachher sprechen. Dasselbe, daß jeder Subjektivismus im Solipsismus oder im Widerspruch endet, gilt ja mutatis mutandis auch für alle Formen des Idealismus, es gilt sogar für den großen, gewaltigen Kant. Bitte machen Sie sich einen Moment den Widerspruch klar, in den er verfällt, wenn er erstens einmal sagt: „Alles Erkennen ist eine Konstruktion. Es ist nicht ein Erfassen von etwas, wie es ist, sondern wir sind von dem Ding an sich, von dieser Realität, dadurch getrennt, daß wir alles mit unseren Anschauungs-

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formen und Verstandeskategorien verarbeiten, und daß die Welt, wie sie vor uns steht, nicht etwas ist, was unabhängig von dem menschlichen Geist existiert, sondern ein Produkt, das das Subjekt aufgebaut hat mit seinem Geiste.“ Ist nun seine Behauptung, daß dies so ist, daß die Kausalität nur eine Verstandeskategorie ist, daß Raum und Zeit bloße Anschauungsformen sind, auch nur eine Konstruktion, die wir vorgenommen haben? Nein, das ist nach Kant wirklich so. Er prätendiert also gezeigt zu haben, worin das Erkennen objektiv besteht. Wie kann er das wollen, wenn alles Erkennen ein Konstruieren ist? Gott sei Dank ist er eben doch ein so großer Philosoph, daß er hier einen gewaltigen Widerspruch zuläßt – was ihm zur Ehre gereicht – um der Tatsache gerecht zu werden, daß das Erkennen ein Entdecken und kein Hervorbringen von Gegenständen ist. Im Irrtum konsequent zu sein wäre viel schlimmer. Die Konsequenz ist kein großer Vorteil, wenn es eine Konsequenz im Irrtum ist. Der Urcharakter, der unentthronbare Charakter des Erkennens, der Sinn des Erkennens als ein geistiges Empfangen, erweist sich selbst wenn man ihn leugnet. Ich habe Ihnen schon am Anfang gesagt, es gibt Urgegebenheiten, die ich nicht auflösen kann, da jeder Versuch, sie aufzulösen, sie schon wieder voraussetzt. Ich kann nicht hinter mich springen – so ist es mit dem Erkennen. Gott sei Dank hat Kant das doch wieder vorausgesetzt im Moment, in dem er uns sagen will, was die Erkenntnis wirklich ist. Denn wer würde sich schon dafür interessieren, wer würde schon einen Pfennig geben für alles, was Kant gesagt hat, wenn es nur eine Konstruktion seines Geistes und nicht wahr wäre? Das hätte ja gar kein Interesse. Das Interessante hierbei ist aber, daß Kant ja eben hier ein wirkliches Ding an sich, nämlich den menschlichen Geist, zu erkennen und zu berühren, zu erfassen sucht, wie er ist. Warum soll denn der Geist und die Person und deren Struktur, von denen er behauptet, daß er nun mit absoluter Gewißheit feststellen könne, daß sie so sind, so seien und funkionierten – nicht nur für den menschlichen Geist, sondern daß sie wirklich so seien –, warum soll das weniger Ding an sich sein wie irgendein materieller Gegenstand da draußen? Hier finden wir wieder diese komische Vorstellung, als wäre das Subjekt weniger real als die Außenwelt. Und warum soll diese objektiver sein?

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Da hat Kant also vermeintlich einen objektiven Punkt, und er hätte in der Tat einen viel wichtigeren objektiven Punkt als die materielle Welt, wenn das Subjekt so wäre, wie er behauptet. Wir sehen also den ganz offenkundigen Widerspruch jedes kantischen Idealismus. Die Transzendenz wird hier absolut vollzogen und zugleich geleugnet. Wie kann er denn etwas über alle Subjekte und alle Menschen wissen, wenn die Welt so ist, wie er glaubt? Wie kann er wissen, ob es überhaupt andere Menschen gibt, ob das, was er von anderen Menschen sagt, nicht auch nur eine Konstruktion sei, die von den wirklichen Dingen verschieden ist? Es ist ja vielleicht gar nicht so, der Mensch ist ja vielleicht ganz anders! Wie will Kant das widerlegen? Kant würde in Antwort darauf mit dem ‚transzendentalen Ego‘ kommen, was ein sehr merkwürdiger und überhaupt zweifelhafter Begriff ist, aber jedenfalls eine Sache, die nicht gegeben ist, eine typische Hypothese. Aber Kants Theorie geht ja darauf hinaus, wenn er die Behauptung, daß wir alles konstruieren, konsequent vertritt, daß wir ja in keiner Weise wissen können, ob die Menschen tatsächlich so denken, wie wir behaupten. Vor allem ist unter diesen Voraussetzungen der schöpferische Charakter des Erkennens nicht aufweisbar. Die Theorie, daß sich das Objekt nach unserem Erkennen richte, nicht umgekehrt, widerspricht dem Wesen des Erkennens, aber sie ist selbst eine gewaltige Konstruktion. Das ist der Fall, der sich ja oft in der Philosophie wiederholt, daß die Thesen, die aufgestellt werden und scheinbar alles umstürzen, was vorher geschehen ist, nur für die Person dessen, der sie aufstellt, bzw. für seine Arbeit gelten, nicht für die Wirklichkeit. Die Idee, daß die ganze Welt ein Produkt der Konstruktion aus einem amorphen Etwas ist, das uns durch die Sinne gegeben ist, ist noch in vielfacher anderer Weise widersprüchlich. Wie kann man von Sinnen sprechen? Wie kann ich wissen, ob es überhaupt Sinne gibt, wenn es so ist wie Kant behauptet? Wie wissen wir, daß uns dieser amorphe Stoff, den wir nun verarbeiten und aus dem wir die ganze Welt bilden, durch die Sinne geliefert wird? Das ist ein klassischer Fall für eine Konstruktion – im Gegensatz zur Erkenntnis eines Gegebenen, der größte Gegensatz, der klassische Gegensatz zu einer Erkenntnis, wie der von Plato, wenn er empirische und apriorische Erkenntnis unterscheidet, oder wie der von

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Aristoteles, wenn er zwischen der causa efficiens und der causa finalis unterscheidet, oder wie der von Descartes im cogito, ergo sum. Es ist der klassische Fall einer ungeheuer genialen und phantastisch gescheiten Konstruktion, aber einer Konstruktion, und in diesem Fall einer falschen. Denn eine Hypothese kann ja richtig sein; wenn ich sie auch nie mit derselben Gewißheit erfassen kann wie ein Gegebenes, könnte sie dennoch richtig sein; aber nie kann eine möglicherweise wahre Hypothese widerspruchsvoll, in sich widerspruchsvoll sein. Aus den oben ausgeführten Gründen müßte auch dieser kantische Subjektivismus, wenn wir ihn konsequent durchdenken, in einem Solipsismus enden. Warum ist der menschliche Geist weniger Ding an sich als eine impersonale Außenwelt? Warum soll seine Erkenntnis kein Transzendieren sein? Nein, konsequenterweise, wenn es wahr wäre, was Kant sagt, könnte Kant nichts über andere Menschen wissen und müßte auch im Solipsismus enden.5 Nun aber, was den Solipsismus selbst betrifft: Bitte, meine Damen und Herren, stellen Sie sich einen Moment vor, daß also der Mensch wirklich nichts anderes erfassen kann als Fiktionen. Die ganze Welt wäre nur ein Produkt subjektiver Schöpfungen der Menschen. Stellen Sie sich vor, daß der Mensch den ganzen Kosmos in seiner ungeheuren Vielgestalt und Konstanz erfunden hätte, alle Geschichte, alles, was wir studieren, alles, in das wir einzudringen suchen, wo wir weiterzugehen suchen, was sich uns Schritt für Schritt enthüllt, den ganzen Mikrokosmos, den ganzen Makrokosmos, alles, was wir entdecken, was sich durch die Mikroskope neu erschlossen hat – all das soll nur eine Erfindung sein!? Alle Kunst wäre nur unser Bewußtseinsgegenstand, es existierten ja nicht wirklich die Skulpturen von Michelangelo, sie wären ja nur von uns gemacht, all diese Werke schienen uns ja nur so. Mein Gott, wie grandios wären wir! Und diese an göttliche Kraft mahnende Schöpfung würde durch ein so miserables Wesen hervorgebracht, daß es sich ständig täuschte und sich 5

Ja selbst der Solipsismus würde voraussetzen, daß wir die Kategorien der Realität und Existenz etc. auf uns selber anwendbar erkennen könnten, was Kant leugnet. Deshalb folgt aus einer konsequenten Anwendung der These, das Erkennen bringe seine Gegenstände hervor, ein Nihilismus – und selbst das Nichts zu erkennen wäre nur in einem rezeptiven Akt möglich. Anm. d. Hrsg.

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nicht bewußt wäre, daß es irgend etwas schafft, sondern das ständig im Irrtum bliebe. Alle großen Personen, alle Bücher, die wir lesen, alle Gedanken, die alle anderen Philosophen gehabt haben, alle Menschen, die wir kennenlernen, all das wäre ja, wenn wir diesen Gedanken zu Ende denken, ein Produkt unseres Geistes. Und eine göttliche Schöpferkraft ist einem so erbärmlichen Wesen eigen, das sich immerfort täuscht? Der Solipsismus ist eine in sich unmögliche, widerspruchsvolle Theorie. Man könnte versuchen, sie in der Form zu retten, daß man sagen würde: „Nein, Kunst produziere ja nicht ich, das ist ein Schein, den uns Gott, ein absolutes Wesen, da vorzaubert und vormacht. Die Welt als Erscheinung ist nicht wahr, aber sie ist so, ‚als ob‘.“ Eine solche betrügerische Tätigkeit Gottes wäre natürlich, wie Descartes mit Recht gesehen hat, eine mit der Vorstellung von Gott unverträgliche. Es ist wesensmäßig unmöglich, daß ein Gott einem prinzipiell die herrlichsten, gehaltvollsten, wunderbarsten Dinge, die tiefste Wahrheit und alles Intelligente und Schöne, was Kunst, Natur und Wissenschaft bergen, gewissermaßen vormacht. Abgesehen davon ist es ja gar nicht notwendig, an all dies zu denken, um den Idealismus zu überwinden. Meine Damen und Herren, wir haben gesehen, daß erstens schon durch die Erkenntnis von absolut gewissen Wesensgesetzen ein für alle Mal alle Bewußtseinsimmanenz gesprengt ist, und daß zweitens die reale Erkenntnis, die uns im Cogito gegeben ist, allen Immanentismus und Solipsismus sprengt. Darum widerlegt ja schon dies den Solipsismus hundertfach. Aber ganz abgesehen davon wollte ich Ihnen darüber hinaus zeigen, in was für – verzeihen Sie das Wort – blödsinnige Konsequenzen für die reale Außenwelt man sich dabei verwickelt, und wie jeder radikale Subjektivismus und jeder Idealismus sich schon im Grunde auf die Bahn eingelassen hat, die notwendig in den Solipsismus und seine Konsequenzen hinein abgleitet.6

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Im letzten Abschnitt der 8. Vorlesung (ca. 2 Seiten der Abschrift) gibt Hildebrand eine Vorankündigung des nächsten Themas seiner Vorlesung – einer Verteidigung des humanen Aspektes der materiellen Welt, der tatsächlich in gewisser Form vom Subjekt abhängt, dabei aber objektive Gültigkeit besitzt und keineswegs ein bloßer Schein ist. Darüber handelt Kapitel V von Was ist Philosophie?

TEIL III PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLEGUNGEN VERSCHIEDENER TEILDIZIPLINEN DER PHILOSOPHIE

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ERSTER ABSCHNITT DIE LEHRE VOM URTEIL Erstes Kapitel VORBEREITENDES 1. Das Urteil und der Satz Urteile kommen gewöhnlich in bestimmten sprachlichen Sätzen zum Ausdruck. In der Sprachlehre unterscheidet man im allgemeinen vier Arten von Sätzen, nämlich: l. die Aussage- oder Behauptungssätze, 2. die Fragesätze, 5. die Wunschsätze und 4. die Befehlssätze. Diese verschiedenen Satzarten unterscheiden sich im allgemeinen schon als rein sprachliche Gebilde, noch abgesehen von den Gedanken, die mit ihnen verbunden werden. Im normalen Gebrauch dieser verschiedenen Satzarten sind es auch verschiedene Gedankenarten, die in ihnen ausgedrückt werden. Nach diesen verschiedenen Gedankenarten sind eben die sprachlichen Sätze verschieden benannt. Der Normalsinn eines Behauptungssatzes ist eine Behauptung, der eines Fragesatzes eine Frage, der eines Wunschsatzes ein Wunsch, und der eines Befehlssatzes ein Befehl. Trotzdem können die betreffenden Satzarten in anomaler Funktion auch andere als die ihren Normalsinn ausmachenden Gedanken zum Ausdruck bringen. Es sei dies kurz verdeutlicht. Der Satz: »Sie gehen nach Amerika?« ist der sprachlichen Form nach ein Aussage- oder Behauptungssatz. Er gibt aber hier einer Frage Ausdruck. In der Form eines Behauptungssatzes wird dagegen ein Wunsch zum Ausdruck gebracht in dem Satz: »Du gehst zum Teufel!«

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Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Hrsg. von E. Husserl. Bd. IV (1921), S. 169-189.

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Ein Befehl dagegen wird gegeben in dem Behauptungssatz: »Sie bringen den Koffer auf Zimmer 9.« Wie hier die Behauptungssätze, so können auch die Fragesätze anomal funktionieren und Behauptungen, Wünsche oder Befehle ausdrücken. So kann im bestimmten Fall der Fragesatz: »Ist das nicht häßlich?« das Urteil: »Das ist häßlich« ausdrücken; der Fragesatz: »Wollen Sie mir das Salz geben ?« dem entsprechenden Wunsch Ausdruck verleihen. Wird der Fragesatz: »Wo ist mein Hut?« an die Dienerin gerichtet, so ist er gewöhnlich Ausdruck eines Befehls und wird daher adäquat beantwortet, nicht durch die Aussage: »dort ist er«, sondern durch die Tat des Herbeireichens. Ebenso kann der Wunschsatz: »Ach, hätte ich doch einen Federhalter!« gelegentlich der Ausdruck des Befehls sein, mir einen Federhalter zu reichen. In die Form des Befehlssatzes werden übrigens schon normalerweise nicht nur Befehle, sondern auch Bitten, Aufforderungen, Ratschläge, Warnungen u. dgl. gekleidet. In den angeführten Beispielen anomaler Funktion der sprachlichen Sätze stimmt der Normalsinn noch in einem gewissen Betrag mit dem anomalen Sinn überein. Die Übereinstimmung kann aber mehr und mehr abnehmen und schließlich ganz aufhören, so daß gelegentlich der Normalsinn des Satzes seinen Hintersinn vollständig verdeckt. Ein Rest von Übereinstimmung ist z.B. noch vorhanden, wenn die Behauptung: »Das Lesen beim Essen ist sehr schädlich« die Bitte kundgeben soll: »Leg doch bitte die Zeitung weg und unterhalte Dich mit mir.« Der Hintersinn der Aussage ist also hier noch nicht ganz, aber doch schon sehr beträchtlich durch den Vordersinn verdeckt. Der Gebrauch der Sätze mit Vordersinn und einem mehr oder weniger verdeckten Hintersinn ist ein »doppelbodiges Sprechen«. Gelegentlich kann aber ein Satz sogar mehrere Hintersinne gleichzeitig kundgeben, die je nach der Beschaffenheit seines verdeckenden Vordersinnes und der gegebenen Situation mehr oder weniger leicht zu erraten sind. Da das weibliche Geschlecht im allgemeinen gern doppel- oder sogar mehrbodig spricht, der Mann aber meistens einfach einbodig, so entstehen notwendig viel Mißverständnisse zwischen beiden, wenn die Frau zugleich doppelbödig, der Mann aber zugleich bloß einbodig hört und versteht. Da die Hintersinne mehrerer

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nacheinander gesprochener Sätze natürlich meistens in einem anderen logischen Zusammenhang stehen als ihre verdeckenden Vordersinne, so kann sich offenbar die größte Unlogik des Vordersinnes mit der schönsten Logik des Hintersinnes verbinden, und auch umgekehrt die Logik des Vordersinnes mit der größten Unlogik des dahinter vermuteten Hintersinnes. Woraus dann so gern die zwischen Mann und Frau hin- und hergehenden Vorwürfe der Unlogik entspringen, besonders wenn sie beide nicht ahnen, daß die Frau doppelbödig, der Mann aber nur einbodig spricht und hört. Diejenigen sprachlichen Sätze nun, in denen normalerweise Urteile oder Behauptungen im Vordersinn zum Ausdruck kommen, sind die Aussageoder Behauptungssätze. Man kann in der Logik die sprachlichen Behauptungssätze gar nicht umgehen, denn man hat sie erstens nötig, um die Urteile zu fixieren, die man untersuchen will, und man kann zweitens die Untersuchungen über bestimmte Urteile nicht mitteilen, wenn man die gemeinten Urteile nicht in sprachlich angemessene Formen kleidet. Um so nachdrücklicher ist darauf hinzuweisen, daß weder die sprachlichen Sätze noch die Verbindung zwischen bestimmten sprachlichen Sätzen und bestimmten Urteilen den eigentlichen Problemgegenstand der Logik bilden. Der ist vielmehr nur in den ausgedrückten Urteilen gelegen. Um zu diesen zu gelangen, muß man daher von den stützenden sprachlichen Sätzen zu den bestimmten, zu untersuchenden, Urteilen hinüberkommen und nicht an den Sätzen hängen bleiben. Und um dies mit voller Besonnenheit ausführen zu können, muß man die Verschiedenheit zwischen den sprachlichen Sätzen und den ihren Sinn bildenden Urteilen klar erkannt haben. 2. Die Verschiedenheit von Satz und Urteil Der sprachliche Behauptungssatz besteht aus einzelnen Wörtern, die selbst wieder aus einzelnen Buchstaben bestehen. Er ist ein sprachliches Gebilde aus diesen Elementen. Das in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Urteil dagegen besteht niemals aus Wörtern, und die Elemente des Urteils, die Begriffe, bestehen niemals aus Buchstaben. Dagegen besteht das Urteil aus Begriffen, die niemals Bestandteile eines sprachlichen Satzes bilden.

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Übrigens erweist sich die Verschiedenheit von Satz und Urteil schon darin, daß mit einem und demselben Satz in verschiedenen Fällen sehr verschiedene Urteile zum Ausdruck gebracht werden können. Dem entspricht, daß auch ein und dasselbe Urteil in verschiedenen Sätzen, zum mindesten in verschiedenen Sprachen kundgegeben werden kann. Können aber Satz und Urteil unabhängig voneinander variieren, so sind sie notwendig voneinander verschieden. Sprachliche Behauptungssätze lassen sich ganz gedankenlos bilden und vernehmen, ohne daß irgendwelche Urteile dabei vollzogen werden. Dies wäre natürlich unmöglich, wenn Behauptungssätze selbst schon Urteile wären. Andererseits gibt es viele Fälle, in denen zwar Urteile, aber keine Behauptungssätze gebildet werden: man hat das Urteil schon vollzogen, ehe man den angemessenen sprachlichen Satz formt. Wenn man trotzdem die sprachlichen Sätze selbst gelegentlich als wahre oder falsche bezeichnen hört, so scheint es zwar, als ob die Sätze schon Urteile wären, da, wie Aristoteles bemerkt hat, die Urteile dadurch charakterisiert sind, daß sie wahr oder falsch sein können. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß die Sätze nur in übertragenem Sinne wahr oder falsch genannt werden, nämlich dann, wenn die in ihnen liegenden Urteile wahr oder falsch sind, und daß die Sätze für sich nur sprachlich entweder richtig oder falsch gebildet sein können, was für die Wahrheit oder Falschheit der zugehörigen Urteile noch gar nichts ausmacht. Weil also die Behauptungssätze von den zugehörigen Urteilen wesentlich verschieden sind, darf die logische Untersuchung der Urteile nicht nur nicht an den Salzen haftenbleiben, sondern sie darf auch nicht ohne weiteres von der Beschaffenheit und dem Aufbau der Sätze auf die Beschaffenheit und den Aufbau der Urteile schließen. 3. Die Beziehung zwischen Urteil und Behauptungssatz Die Beziehung, die zwischen einem Behauptungssatz und dem in ihm ausgedrückten Urteil besteht, ist keine umkehrbare, d.h. der Satz bringt wohl das Urteil, aber nicht das Urteil den Satz zum Ausdruck. Satz und Urteil nehmen in dieser Beziehung ganz verschiedene Stellungen ein. Der Satz ist gleichsam das Äußere, das Urteil das Innere, das in dem Äußeren

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sich ausprägt und dadurch das an sich gedankenleere Äußere gedanklich beseelt. Es war daher eine völlige Verkennung des eigenartigen Verhältnisses, das zwischen dem Satz und dem Urteil besteht, als man diese Beziehung als eine bloße »Assoziation« erklärte. Denn in einer solchen Assoziation haben die verbundenen Glieder eine wesentlich gleichartige Stellung, die nur die Unterschiede des Nebeneinander und Nacheinander zeigt. Gewiß sind die Urteile mit den sprachlichen Sätzen nur im Bewußtsein denkender Wesen verbunden, da nur denkende Wesen Urteile bilden können. Und gewiß führt das Hören bestimmter Sätze die entsprechenden Urteile in das Bewußtsein des hörenden und denkenden Wesens ein. Will man also mit der Behauptung, zwischen den Sätzen und den Urteilen bestehe eine Assoziation, nicht viel anderes als dies besagen, so ist die Behauptung allerdings richtig. Aber damit ist das Wesen der Ausdrucksbeziehung zwischen dem Behauptungssatz und dem zugehörigen Urteil durchaus nicht erschöpfend bestimmt. Die Ausdrucksbeziehung ist eben mehr als eine bloße Assoziation. Ein bestimmter Satz kann z.B. hartnäckig an einen Gedanken erinnern, der gar nicht in ihm ausgedrückt ist und der dadurch auch niemals zum Sinn des Satzes selbst wird. Der Gedanke bleibt dann dem Satze, obgleich er noch so eng mit ihm assoziiert ist, dennoch äußerlich, während der Gedanke, der den Sinn des Satzes ausmacht, dem Satze gleichsam innerlich als sein gedanklicher Gehalt eingelegt ist2. 4. Das Urteil und der Sachverhalt Jedem bestimmten Urteil entspricht ein bestimmter Sachverhalt. Dem Urteil »Schwefel ist gelb« entspricht ein Sachverhalt, der aus der Stoffart Schwefel und seinem Gelbsein besteht. Das Urteil entwirft aus sich heraus diesen Sachverhalt. Es setzt ihn sich gegenüber, so daß der entworfene Sachverhalt immer außerhalb des ihn entwerfenden Urteils liegt, ihm immer jenseits oder »transzendent« ist. Kein Bestandteil des Sachverhalts bildet daher einen Bestandteil des Urteils. So ist bei dem eben angeführten Urteil der »Schwefel« als eine bestimmte Stoffart, so wie er als Bestandteil des Sachverhalts gemeint ist, in gar keinem Sinne ein Bestandteil des Urteils. Ebensowenig ist das »gelb« in dem gesetzten Sachverhalt ein 2

Vergleiche Seite 4.

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Bestandteil des Urteils. Das Urteil enthält in sich als seine Teile weder jene bestimmte Stoffart noch jenes bestimmte Farbenquale, sondern es besteht, wie wir noch genauer sehen werden, aus Begriffen, die von allen materiellen Stoff arten und allen Farbenqualitäten wesentlich verschieden sind. Die Schicht der gemeinten Sachverhalte ist also streng geschieden zu halten von der Schicht der Urteile, in denen diese Sachverhalte gesetzt werden. Gewiß gehört zu jedem Urteil notwendig ein bestimmter Sachverhalt. Aber »gehören« heißt nicht notwendig einen Bestandteil dessen bilden, wozu etwas gehört. Und gewiß kann man kein Urteil bilden, ohne einen Sachverhalt zu entwerfen. Aber deshalb ist doch der entworfene Sachverhalt nicht selbst das gebildete Urteil. Der Sachverhalt ist das durch das Urteil entworfene Gegenstück, das »intentionale Korrelat« des Urteils. Es gibt allerdings Urteile, die sich wieder auf Urteile oder auf Begriffe beziehen, indem sie über dieselben etwas behaupten. Das sind eben die logischen Urteile. Bei diesen speziellen Urteilen enthalten also die entworfenen Sachverhalte selbst wieder Urteile und Begriffe. Aber trotzdem bilden auch diese in den Sachverhalten enthaltenen Urteile und Begriffe nicht etwa Bestandteile derjenigen Urteile, die sich auf sie beziehen, sondern stehen diesen als ihr bezieltes Gegenstück gegenüber. Die Verschiedenheit von Urteil und Sachverhalt zeigt sich auch darin, daß die Prädikate wahr und falsch direkt nur den Urteilen zukommen und nur indirekt in übertragenden Sinne von den Sachverhalten behauptet werden können. Die Sachverhalte dagegen können bestehen oder nicht bestehen, während dies von den Urteilen zu behaupten keinen rechten Sinn ergibt. Die offenbare Verschiedenheit des Urteils vom entworfenen Sachverhalt macht nun von vornherein bestimmte Urteilstheorien unmöglich, von denen die einen bestimmte Teile des Sachverhaltes, wie den Subjektsgegenstand, zu den Bestandteilen des Urteils rechnen; von denen die anderen dagegen bestimmte Bestandsteile des Urteils, wie den Subjekts- und den Prädikatsbegriff, in den entworfenen Sachverhalt verlegen. Sagt man z.B., das Urteil bestehe aus Subjekt und Prädikat, und in dem oben angeführten Urteil sei der »Schwefel«, diese bestimmte Stoffart, das Subjekt, so rechnet man den Subjektsgegenstand mit zu den Bestandteilen des Urteils und begeht damit die zuerst bezeichnete

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Verwechslung. Erklärt man andererseits z.B., das positive Urteil sei eine Verbindung von Begriffen, es ordne den Subjektsbegriff, also etwa den Begriff »Schwefel«, unter den Prädikatsbegriff, also unter den Begriff »gelb«, so übersieht man, daß sich das Urteil in diesem Falle gar nicht auf Begriffe bezieht, sondern auf die bestimmte Stoffart, und daß die Verbindung der Begriffe im Urteil etwas anderes ist, als die Verbindung der bestimmten Stoffart mit dem bestimmten Farbenquale im Sachverhalt. Es ist klar, daß durch die Verwechslung und Vermischung so wesentlich verschiedener Schichten, wie es die der Urteile und die der Sachverhalte sind, notwendig die ganze Urteilslehre in Verwirrung geraten mußte. Indem das Urteil den von ihm verschiedenen Sachverhalt entwirft, bestimmt es ihn von sich aus; insofern ist also das Urteil das Primäre, der Sachverhalt das Sekundäre. Als ausschließlich vom Urteil her entworfener ist der Sachverhalt ganz unselbständig gegenüber dem Urteil. Er wird von ihm entworfen wie ein Projektionsbild von einer Projektionslampe. Und die sprachlichen Behauptungssätze sind gleichsam nur die Gestelle, welche die Projektionslampen tragen. 5. Die Supposition der Sätze Bei jedem Urteil, das in einem sprachlichen Behauptungssatz ausgedrückt ist, sind also drei verschiedene Schichten wohl zu unterscheiden, nämlich die Schicht der Sätze, die Schicht der Urteile und die Schicht der von den Urteilen entworfenen Sachverhalte. Trotz ihrer Verschiedenheit sind diese drei Schichten doch eng miteinander verbunden: die Behauptungssätze bringen die Urteile zum Ausdruck, und die Urteile entwerfen die Sachverhalte. Das auffassende Verstehen der Behauptungssätze geht nun gewöhnlich durch die Sätze hindurch zu den in ihnen ausgedrückten Urteilen, aber sogleich auch wieder durch diese hindurch zu den von ihnen entworfenen Sachverhalten und findet erst in diesen sein ruhendes Ende. Die Sätze werden also gewöhnlich so aufgefaßt, daß sie zum Sachverhalt führen. Diese Supposition der Sätze ist also eine sachliche oder »reale« Supposition. Ein und derselbe Behauptungssatz kann nun aber in gewissen Ausnahmefällen so aufgefaßt werden, daß er nicht mehr, wie gewöhnlich, »für den Sachverhalt«, sondern »für das Urteil« steht, das in ihm

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ausgedrückt ist. Diese Supposition des Satzes ist dann die logische oder »formale« Supposition. Um zu charakterisieren, daß ein bestimmter Satz in logischer Supposition genommen werden soll, setzt man ihn gewöhnlich in Anführungszeichen. Es wird damit gefordert, daß das auffassende Verstehen des Satzes zwar das entsprechende Urteil vollziehe und den Sachverhalt entwerfe, aber jetzt nicht durch das Urteil hindurchgehe und erst bei dem Sachverhalte und dessen Erfassung haltmache, sondern sich bei dem ausgedrückten Urteil verhalte und dieses vergegenständliche. Da die Logik nicht die Sätze selbst und auch nicht die entworfenen Sachverhalte für sich zu untersuchen hat, sondern die Sätze nur als Stütze gebraucht, um zu den Urteilen zu kommen, die sie zu Gegenständen ihrer Untersuchung machen will, so ist klar, daß die Logik in großem Umfange die Sätze, die sie als Beispiele anführt, in logischer Supposition zu nehmen hat. Genauer gesprochen, ist nun aber bei der logischen Supposition eines Behauptungssatzes die Sachlage folgende. Der Satz ist jetzt direkt nicht mehr der Ausdruck eines Urteils, sondern der eines Begriffes, nämlich des Begriffes, der dasjenige Urteil zum Gegenstand hat, das sonst die Bedeutung des Satzes ausmacht. So bedeutet also der Satz »Schwefel ist gelb« in logischer Supposition genommen nichts anders als das Wortgefüge: »das Urteil /Schwefel ist gelb/ «, in sachlicher Supposition genommen. Entsprechend der Dreiheit der Schichten: Sachverhalt, Urteil und Satz kann ein Satz nicht nur in sachlicher und logischer, sondern auch in sprachlicher oder »materialer« Supposition genommen werden. Er steht dann für den sprachlichen Satz selbst. Nimmt man z.B. den Satz »Schwefel ist gelb« in sprachlicher Supposition, so meint man mit ihm den sprachlichen Satz selbst, also dieses aus drei Wörtern bestehende sprachliche Gebilde. Der Satz ist dann also der Ausdruck nicht eines Urteils, sondern eines Begriffs, nämlich eben desjenigen Begriffs, der den Satz selbst zum Gegenstand hat. Die Grammatik ist es, die im allgemeinen die Sätze in sprachlicher Supposition nimmt, wenn sie sie zum Gegenstand ihrer Forschung macht. Nachdem durch diese vorbereitenden Betrachtungen das Urteil aus seiner Einbettung herausgeschält ist, soll es nun selbst für sich untersucht werden.

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ZWEITES KAPITEL DAS WESEN UND DER AUFBAU DES URTEILS ÜBERHAUPT 1. Die wesentlichen Bestandteile des Urteils überhaupt Als Beispiel eines einfachen Urteils diene der Normalsinn des Behauptungssatzes: »Schwefel ist gelb.« Dieses Urteil bezieht sich auf einen materiellen Stoff, den Schwefel. Die Beziehung auf diesen Stoff wird durch den Gedankengehalt des Wortes »Schwefel« hergestellt. Nennen wir diesen Gedankengehalt den Begriff »Schwefel«, so weist dieser Begriff auf den materiellen Stoff hin und macht ihn in dem Urteil zugleich zu dem Gegenstand, auf den sich das Urteil bezieht; er unterwirft den Stoff dem Urteil, macht ihn zum Subjektsgegenstand des Urteils. Lassen wir nun nicht nur das Wort, sondern auch den Begriff »Schwefel« aus dem sprachlich formulierten Urteil weg, so ist das Urteil verstümmelt; es fehlt ihm ein ganz wesentlicher Bestandteil, eben jenes Urteilselement, das den Zielpunkt, die gegenständliche Unterlage, den Subjektsgegenstand des Urteils bestimmt. Das Urteil wird sofort wieder vollständig, wenn wir statt des Subjektsbegriffes »Schwefel« den Begriff »Gold« oder »Messing« oder (da es auf die Wahrheit des Urteils hier nicht ankommt, sondern nur auf seine Vollständigkeit als Urteil) auch den Begriff »Silber« in das verstümmelte Urteil einsetzen. Es zeigt sich, daß auch keiner dieser bestimmten Begriffe notwendig für das Urteil ist, sondern daß jeder derselben ersetzt werden kann durch irgendeinen anderen Begriff, wenn dieser nur irgendeinen Gegenstand meint und ihn zur Unterlage des Urteils macht. Aber jeder dieser Begriffe darf doch nicht einfach weggelassen werden, sondern muß notwendig durch irgendeinen gegenständlichen Subjektsbegriff ersetzt werden, wenn das Urteil ein unverstümmeltes, vollständiges Urteil bleiben soll. Zu jedem Urteil überhaupt gehört also wesentlich und notwendig ein Subjektsbegriff als sein Hauptbestandteil, der die Funktion erfüllt, den Gegenstand zu setzen, auf den sich das Urteil bezieht, und ihn dem Urteil zu unterwerfen. Dieser Subjektsbegriff, nicht der Subjektsgegenstand und nicht das Subjektswort, sei im folgenden mit »S« bezeichnet. Trotz seiner Notwendigkeit für das Urteil ist jedoch der Subjektsbegriff allein durchaus nicht hinreichend, um ein Urteil zu bilden. Mag auch in

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einem sprachlich formulierten Urteil nur ein einziges Wort, das zugleich als Subjektswort fungiert, vorhanden sein, so wird doch der Bedeutungsgehalt dieses einzigen Wortes, wenn er nichts anderes tut, als einen Gegenstand zu bezielen, niemals ein Urteil sein. Nur wenn zu dem so beschränkten Bedeutungsgehalt des Wortes noch andere Gedankenelemente unausgesprochen hinzugenommen werden, kann sein Bedeutungsgehalt zu einem vollständigen Urteile werden. Diese anderen notwendigen Gedankenelemente gewinnen wir vorläufig in folgender Weise, indem wir uns für später vorbehalten, auf mögliche Einwände zurückzukommen. Wir gehen wieder aus von unserem obigen Urteile »Schwefel ist gelb.« Dieses Urteil bezieht sich nicht nur durch seinen Subjektsbegriff auf den materiellen Stoff, den Schwefel, sondern es behauptet über ihn etwas, nämlich, daß er gelb sei. Es muß also in diesem Urteil notwendig ein zweiter Begriff enthalten sein, der die Farbenqualität »gelb« meint. Entfernen wir diesen zweiten Begriff aus unserem Urteil und lassen die durch seine Wegnahme leergewordene Stelle unausgefüllt, so ist der übrigbleibende Gedankenrest kein Urteil mehr. Füllen wir dagegen die entstandene Lücke durch irgendeinen anderen Begriff, der etwas Gegenständliches, irgendeine Bestimmtheit von Gegenständen meint, also etwa durch die Begriffe »rot« oder »rund« oder »groß« oder ähnliche aus, so entstehen wieder volle Urteile, wenn sie auch zum großen Teile nicht wahr sein werden. Nennen wir nun die Begriffe von dem, was von dem Subjektsgegenstand des Urteils im Urteil »ausgesagt« wird, die Prädikatsbegriffe, so scheint nach den bisherigen Ergebnissen zum Urteil notwendig auch ein Prädikatsbegriff zu gehören. Der Predikatsbegriff, nicht der Prädikatsgegenstand und nicht das Prädikatswort sei im folgenden mit »P« bezeichnet. Die beiden bisher genannten Begriffe »S« und »P« sind nun aber in keiner Weise genügend, um ein Urteil zu konstituieren. Mag es in manchen Sprachen genügen, zwei solche Begriffswörter wie »Schwefel« und »gelb« nebeneinander zu stellen, um ein volles Urteil zum Ausdruck zu bringen, so muß dabei eben doch der Bedeutungsgehalt, den die beiden Wörter jedes für sich haben, durch einen bestimmten, sprachlich unausgedrückten, Gedankenzuschuß ergänzt werden, wenn wirklich ein Urteil zustande kommen soll. Geschieht diese Ergänzung nicht, so besteht das Gedankengebilde nur aus zwei unverbundenen Begriffen, von denen der

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eine den materiellen Stoff »Schwefel«, der andere die Farbenqualität »gelb« meint, ohne daß dieses »gelb« irgendwie auf den Schwefel bezogen wird. Ein Gebilde, das vielleicht ein »Begriffslallen«, aber niemals ein wirkliches Urteil ist. Wie der Subjektsbegriff nicht nur den bestimmten Gegenstand meinen, sondern ihn zugleich als Subjektsgegenstand dem Urteil unterwerfen muß, so muß auch der Prädikatsbegriff nicht nur die gegenständliche Bestimmtheit meinen, sondern zugleich die Funktion ausüben, diese Bestimmtheit dem Subjektsgegenstand zuzuordnen, sie auf ihn zu beziehen. Dieses Gedankenelement, das zu dem Subjekts- und Prädikatsbegriff notwendig hinzukommen und die Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand beziehen muß, nennt man seit alters in der Logik die »Kopula« und bezeichnet sie im Deutschen durch das Wörtchen »ist«. Man hat dann im allgemeinen mit diesem Element die Analyse des Urteils abgeschlossen und erklärt, das Urteil überhaupt bestehe aus drei Elementen: dem Subjektsbegriff, dem Prädikatsbegriff und der Kopula. Die Formel »S ist P« sollte diese drei Elemente als die notwendigen und hinreichenden Bestandteile des Urteils kennzeichnen. Tatsächlich ist aber die Gedankenanalyse des Urteils mit der Herausstellung dieser drei Elemente noch keineswegs erschöpft, denn es fehlt noch ein für das Urteil durchaus notwendiges und das Urteil als solches erst eigentlich charakterisierendes Element. Das Vorhandensein dieses weiteren Gedankenelementes im Urteil erkennen wir am deutlichsten, wenn wir das Urteil mit dem entsprechenden »bloßen« Gedanken oder mit der entsprechenden Frage vergleichen. Der »bloße« Gedanke »Schwefel ist gelb« bezieht bloß das »gelb« auf den gesetzten Subjektsgegenstand »Schwefel«, ohne irgend etwas zu behaupten, ohne zu urteilen, daß der Schwefel gelb sei. Er läßt es unentschieden, in der Schwebe, wie es sich mit dem Gelbsein des Schwefels verhalte. Subjekts-, Prädikatsbegriff und Kopula sind wohl in ihm vorhanden, aber es fehlt eben in ihm dasjenige Element, das den bloßen Gedanken zu einem Urteil machen würde, eben das Behauptungsmoment. In der entsprechenden Frage »Ist Schwefel gelb?« sind ebenfalls die drei obigen Elemente, nämlich der Subjektsbegriff »Schwefel«, der Prädikatsbegriff »gelb« und die Kopula »ist« vorhanden. Trotzdem ist das so zusammengesetzte Gedankengebilde kein Urteil. Das Gelbsein des Schwefels wird in ihm in keiner Weise behauptet, sondern noch fraglich

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gelassen. Statt des Behauptungsmoments enthält freilich die Frage außer jenen drei Elementen noch das Fragemoment. Aber durch Weglassung dieses Fragemomentes wird das Gedankengebilde nicht etwa zu einem Urteil, sondern wiederum zu einem »bloßen« Gedanken. In dem Urteil, das die Antwort auf jene Frage gibt, ist das Fragemoment der Frage ersetzt durch jenes eigentümliche Behauptungsmoment. Ohne es zu bemerken, hat die traditionelle Logik dieses Behauptungsmoment mit in die Kopula »ist« hineingenommen. Es bedarf aber dieses Moment offenbar der nachdrücklichen Hervorhebung, da es nicht nur auch zu den notwendigen Bestandteilen des Urteils gehört, sondern erst das charakteristische Wesen des Urteils bestimmt. Denn das Urteil ist wesentlich ein behauptendes Gedankengebilde. In jener allgemeinen Formel für das Urteil überhaupt muß also in den Gehalt der Kopula »ist« zu der Funktion der Hinbeziehung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand noch unbedingt dieses gedankliche Behauptungsmoment hinzugenommen werden, wenn die Formel ein vollständiges Urteil darstellen soll. Nicht hineingenommen zu werden braucht dagegen in die Kopula die Zeitbedeutung des »ist«. Erst recht würde man sich durch die zufällige Zweideutigkeit des Wörtchens »ist« verführen lassen, wenn man meinte, in jedem Urteil setze die Kopula zugleich Existenz. Wir werden später sehen, daß das Wort »ist« in den verschiedenen logischen Formeln, in denen es vorkommt, verschiedene Bedeutungen hat. In der allgemeinen Formel des Urteils überhaupt ist es nur das Zeichen für die beziehende und die behauptende Funktion der Kopula. Vorbehaltlich der späteren Berücksichtigung hier möglicher Einwände, die vor allem durch das sogenannte Existenzialurteil und durch das Impersonale entstehen, können wir also das Resultat unserer bisherigen Untersuchung dahin zusammenfassen, daß jedes Urteil notwendig aus drei Begriffen besteht, von denen der Subjetksbegriff den Gegenstand des Urteils setzt und ihn dem Urteil zur Unterlage gibt; während der Prädikatsbegriff die Gegenstandsbestimmtheit setzt, die dann durch die Kopula auf den Subjektsgegenstand hinbezogen wird. Zugleich übt die Kopula die Behauptungsfunktion aus, indem sie das bis dahin konstituierte Ganze des Sachverhalts absetzt und aus sich bestehen läßt. Die allgemeine Urteilsformel besagt also in keiner Weise, daß der Mensch tatsächlich in dieser Form seine Urteile vollziehe, noch daß er in

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seinem Urteilen nach dieser Formel verfahren solle, noch daß diese Formel die Form des ideal vollkommenen Urteils darstelle. Um die notwendigen und hinreichenden Elemente des Urteils und den Aufbau des Urteils aus diesen Elementen zu erkennen, bedarf man keiner psychologischen Untersuchung des menschlichen Denkens. Die Ergebnisse sind daher auch nicht bloß relativ, auf den Menschen, bezüglich, gültig, sondern völlig unabhängig von der Natur des denkenden Menschen und jedes anderen denkenden Wesens, also auch gültig für jedes beliebige denkende Wesen. Denn es liegt im Wesen des Urteils selbst, daß es aus diesen Elementen bestehen und in dieser bestimmten Weise aufgebaut sein muß. Die drei Glieder des Urteils sind in bestimmter Weise zueinander geordnet. Das erste und grundlegende Glied ist der Subjektsbegriff. An ihn schließt die primäre Funktion der Kopula an und führt hinüber zum Prädikatsbegriff, greift durch diesen hindurch und bezieht die Prädikatsbestimmtheit hin auf den Subjektsgegenstand, der durch den Subjektsbegriff untergehalten und durchgehalten wird; darauf legt sich über das Ganze die zweite Kopulafunktion, die Behauptung, abschließend hinüber. In der Formel »S ist P« ist die Reihenfolge der Zeichen dieser inneren Ordnung des Urteils angemessen, nur die spezielle Behauptungsfunktion findet darin kein besonderes Zeichen. Die sprachliche Formulierung der Urteile braucht nicht für jedes Urteilsglied ein eigenes Wort zu zeigen. Es können zwei, ja in einigen Sprachen, wie im Lateinischen, kann sogar gelegentlich ein Wort genügen, um ein vollständiges Urteil zum Ausdruck zu bringen. Ebenso kann der sprachliche Ausdruck die gerade Reihenfolge der Glieder des Urteils verändern und den Prädikatsbegriff an die erste Stelle, den Subjektsbegriff an die dritte Stelle setzen. Die logische Ordnung der Glieder wird dadurch nicht verändert. 2. Die Kopulafunktion Indem die Kopula die Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand hinbezieht, setzt sie nicht notwendig diese oder jene bestimmte sachliche Beziehung zwischen Subjektsgegenstand und Prädikatsbestimmtheit. Vor allem ist es nicht die Beziehung zwischen dem Gegenstand und seiner Eigenschaft, die jedem Urteile wesentlich wäre. In unserem

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obigen Beispiel ist freilich das »gelb« zu dem »Schwefel« als seine Eigenschaft hinzugesetzt. In anderen, auf denselben Gegenstand bezüglichen Urteilen dagegen, wie z.B. in dem Urteil »Schwefel kristallisiert in rhombischen Kristallen« ist dem Subjektsgegenstand nicht eine Eigenschaft im eigentlichen Sinne, sondern ein Verhalten zugeordnet. Das Urteil überhaupt muß daher jede besondere sachliche Beziehung zwischen dem Subjektsgegenstand und der Prädikatsbestimmtheit noch offenlassen. Die Kopula »ist«, in der allgemeinen Formel des Urteils, hat daher in dieser Hinsicht nur die Funktion der Hinbeziehung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand überhaupt zu vollziehen. Übrigens stehen auch die verschiedenen Eigenschaften eines Gegenstandes durchaus nicht alle in derselben sachlichen Beziehung zu dem Gegenstand, so daß vielmehr jedes Urteil, das eine Eigenschaft prädiziert, auch jedesmal die der Eigenschaft angemessene Beziehung zu dem Gegenstand mitsetzen muß. So steht das spezifische Gewicht in einer anderen sachlichen Beziehung zu dem Schwefel als die Sprödigkeit, und beide wieder in einer anderen als die gelbe Farbe. Das Urteil ist eben durchaus nicht gebunden an ein eintöniges Verhältnis von Ding und Eigenschaft, oder von Ding und Tätigkeit, wie es manchmal in der Logik behauptet worden ist. Im sprachlichen Ausdruck der Urteile kommt freilich die besondere Art der in dem Urteil mitgesetzten sachlichen Beziehung zwischen der Prädikatsbestimmtheit und dem Subjektsgegenstand nicht gesondert zum Ausdruck, sondern wird unausgesprochen mitgesetzt. Dies macht uns aber nur erneut auf die Verschiedenheit des sprachlichen Satzes von dem Urteil aufmerksam und hindert nicht, daß man, um ein solches sprachlich ausgedrücktes Urteil voll und ganz zu verstehen, auch die nicht ausgedrückte sachliche Beziehung mitdenken muß. Die Kopula übt nun nicht nur jene Funktion der Hinbeziehung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand aus, sondern sie vollzieht zugleich die Behauptungsfunktion. Die Eigentümlichkeit dieser zweiten Funktion der Kopula hebt sich deutlich heraus, wenn man das Urteil mit einer entsprechenden Forderung vergleicht. In einer Forderung, daß ein Gegenstand ein bestimmtbeschaffener sein solle, wird ebenfalls die Beschaffenheit auf den Subjektsgegenstand hingeordnet, aber sie wird ihm zugleich aufgezwängt. Die Versiegelung, die zwischen dem Gegenstand und seiner Beschaffenheit vorgenommen wird, ist hier eine fordernde

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Versiegelung. Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgend etwas zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen Gegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und sich ihm in jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen. Man muß daher aus dem Sinn des Behauptungsmomentes jeden Anflug von eigensinniger Entgegensetzung entfernt halten. Jedenfalls ist hier die Behauptung in dem Sinne gemeint, daß sie weder gegen den Gegenstand des Urteils noch gegen eine gegenüberstehende Person sich eigenwillig entgegensetzt. Um ein richtiges Verständnis der Ergebnisse zu sichern, welche die vorangehende Analyse des Urteils herausgestellt hat, sei hier noch besonders hervorgehoben, daß in bezug auf das Urteil vier Fragen wesentlich voneinander zu scheiden sind. Die erste Frage lautet: »Was ist das Urteil?« Unsere Antwort darauf ist bis jetzt: Das Urteil ist ein eigenartiges, zusammengesetztes, behauptendes Gedankengebilde. Die zweite Frage lautet: »Woraus besteht das Urteil?« Die Antwort, die wir darauf gegeben haben, besagt: Das Urteil besteht aus mindenstes drei Begriffen, nämlich dem Subjektsbegriff, dem Prädikatsbegriff und dem doppelfunktionierenden Kopulabegriff. Als dritte Frage ergibt sich: »Wie baut sich das Urteil auf?« Darauf haben wir soeben ausführlicher die Antwort gegeben. An vierter Stelle ist dann zu fragen: »Was meint und tut das Urteil?« Und die Antwort lautet: Das Urteil meint irgendwelche Gegenstände, die es sich unterwirft und über die es, eine Bestimmtheit hinzusetzend oder abspreizend, in Anschmiegung an das Selbstverhalten der Gegenstände, eine Behauptung vollzieht. Das Urteil besteht nicht aus den Gegenständen, auf die es sich bezieht, und es bezieht sich nicht auf die Begriffe, aus denen es besteht. Sein Verbinden und Trennen betrifft die

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Gegenstände, auf die es sich bezieht, und nicht seine eigenen Bestandteile, die Begriffe, aus denen es besteht. DRITTES KAPITEL GEGENSTÄNDE, SACHVERHALTE UND URTEILE 1. Das Reich der Gegenstände und das Urteil Das Urteil bezieht sich notwendig auf Gegenstände. Es gibt aber kein Kategorie und keine Art von Gegenständen, auf die sich das Urteil nicht beziehen könnte3. Nicht nur Dinge, Stoffe, Personen, sondern auch Zustände, Beschaffenheiten, Vorgänge, Tätigkeiten, und schließlich auch Beziehungen und Verhältnisse können Gegenstände von Urteilen werden. Außerdem ist kein Gegenstandsgebiet irgendwelcher Art prinzipiell der Bezielung durch Urteile verschlossen. Das Gebiet der unbelebten Natur steht dem Urteil ebenso offen wie das Gebiet der belebten Natur, die seelische Welt ebenso wie die soziale und die kulturelle Welt, die übermenschliche und göttliche Welt ebenso wie alle Gebilde der irrealen und fiktiven Welt. Das Reich der Gegenstände, auf die sich Urteile beziehen können, ist also ein völlig unbeschränktes und im wahrsten Sinne des Wortes ein unendliches. Nun sind Urteile, die sich auf verschiedene Gegenstände beziehen, an sich schon verschiedene Urteile. So wie die Anzahl der Gegenstände eine unendliche ist, so gibt es also nach diesem Gesichtspunkt schon unendlich viel verschiedene Urteile. Sie lassen sich aber entsprechend der Anzahl von Kategorien und Arten von Gegenständen in eine beschränkte Anzahl von unechten Arten von Urteilen einteilen. Eine solche Einteilung hat jedoch keinen eigentlichen logischen Wert.4 2. Die Einteilung der Urteile nach den gesetzten Sachverhaltsarten Eine unendliche Menge von Gegenständen aus allen möglichen Gegenstandsgebieten breitet sich vor den Urteilen aus. Dementsprechend sind schon eine unendliche Menge von Sachverhalten möglich. Nun kann 3 4

Vergleiche Seite 5 f. Vergleiche ersten Abschnitt, neuntes Kapitel, Anfang.

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aber jeder einzelne Gegenstand selbst wieder eine unbeschränkte Menge von Sachverhalten aufweisen, so daß also die Anzahl der möglichen Sachverhalte überhaupt gleichsam eine doppelt unendliche ist. Wie sich aber die Gegenstände trotz ihrer unbeschränkten Anzahl in eine beschränkte Anzahl von Gegenstandsarten aufteilen, so ordnen sich auch die möglichen Sachverhalte trotz ihrer zahllosen Menge in eine beschränkte Anzahl von Sachverhaltsarten. Die erste Hauptgruppe von Sachverhalten bilden diejenigen, die innerhalb des Subjektsgegenstandes selbst liegen, die zweite Hauptgruppe diejenigen, die über den Subjektsgegenstand hinausreichen, bis zu anderen Gegenständen hin. In der ersten Hauptgruppe sind wieder zu unterscheiden: 1. das Verhalten des Subjektsgegenstandes zu seinem eigenen »Was« oder Wesen; 2. das Verhalten des Subjektsgegenstandes zu seinen Bestimmtheiten irgendwelcher Art, von denen die einen das Wiesen des Gegenstandes kundgeben, die anderen dagegen mehr oder weniger zufällig dem Gegenstand anhaften; 3. das Verhalten des Subjektsgegenstandes zu seiner Seinsart, zu seinem realen oder ideellen Sein irgendwelcher Art. In der zweiten Hauptgruppe, den Relationssachverhalten, unterscheiden sich ganz allgemein: 1. die Vergleichungssachverhalte, d.h. das Verhalten des Gegenstandes im Vergleich zu irgendwelchen ändern Gegenständen; 2. die Zugehörigkeitssachverhalte, d.h. das Verhalten der Zugehörigkeit des Gegenstandes zu irgendwelchen anderen Gegenständen; 3. die Abhängigkeitssachverhalte, d.h. das Aufsichselbststehen des Gegenstandes oder sein Abhängigsein von irgendwelchen anderen Gegenständen; 4. die intentionalen Sachverhalte, d.h. das Betroffensein des Gegenstandes von irgendwelchen Intentionen irgendwelcher anderen Gegenstände. In bezug auf jeden Gegenstand können alle diese Arten von Sachverhalten bestehen. Da nun die Urteile ihrem Wesen nach immer Sachverhalte setzen, und da sie ihrem Wesen nach jeden beliebigen Sachverhalt setzen können, so lassen sich die Urteile entsprechend der Art

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der von ihnen gesetzten Sachverhalte einteilen in zwei Hauptgruppen, von denen die erste drei, die zweite vier Untergruppen aufweist. In der ersten Hauptgruppe ergeben sich dementsprechend: l. die Bestimmungsurteile, so genannt, weil sie den Subjektsgegenstand durch die Angabe seines »Was« bestimmen. Sie geben Antwort auf die Frage: »Was ist das?« Auf diese Frage wird auf keinen Fall eine Antwort dadurch erteilt, daß man die Bestimmtheiten, die dem Gegenstand zukommen, in noch so großer Anzahl aufzählt. Das zeigen deutlich jene Rätselfragen, die von irgendeinem Gegenstand zunächst eine ganze Reihe von Bestimmtheiten angeben, dann aber zum Schluß die noch unbeantwortete Frage erheben: »Was ist das?« Ebenso gibt der Prüfling in der Prüfung eine ausweichende Antwort, wenn er mit dem Hinweis auf einen vorgezeigten Gegenstand gefragt wird: »Was ist das?«, und nun beginnt, eine Reihe von Eigenschaften und sonstigen Bestimmtheiten des Gegenstandes aufzuzählen. Freilich lassen sich auf die Frage »Was ist das?« meistens noch eine Reihe verschiedener Antworten geben. Ein und derselbe Gegenstand, nach dessen »Was« gefragt wird, ist im gegebenen Falle vielleicht zugleich ein Körperding, ein Lebewesen, ein Tier, ein Raubvogel und ein Adler. Im Fortgange der entsprechenden Bestimmungsurteile wird der Subjektsgegenstand näher und näher bestimmt, indem immer speziellere »Was« angeführt werden. Gewöhnlich geht die Frage auf die möglichst spezielle Bestimmung des Gegenstandes durch die niederste Spezies. Aber alles, was in diesen verschiedenen Bestimmungsurteilen von dem Subjektsgegenstand behauptet wird, wird doch als in ihm liegend gesetzt und zwar eben in der eigentümlichen Einheit mit ihm, in der das »Was«, das Wesen, die »Essentia« eines Gegenstandes zu ihm selbst steht. Die verschiedenen »Was« ruhen dabei in eigenartig ineinandergeschobener Weise in dem Gegenstand. In den Bestimmungsurteilen vollzieht die Kopula demnach nicht nur jene behauptende allgemeine Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand, wie sie in der allgemeinen Formel des Urteils überhaupt durch das Wort »ist« ausgedrückt ist, sondern sie setzt zugleich jene sachliche Einheit, die zwischen dem Gegenstand und seinem »Was« besteht. Die Bestimmungsurteile werden daher nur dann richtig verstanden, wenn in ihrem Vollzug jene eigenartige sachliche Einheit mitgesetzt wird.

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2. Die Attributionsurteile unterscheiden sich von den Bestimmungsurteilen gerade wesentlich dadurch, daß in ihnen, entsprechend der verschiedenen Art von Prädikaten, eine wesentlich verschiedene Art von sachlicher Einheit zwischen dem Subjektsgegenstand und der Prädikatsbestimmtheit gesetzt wird. Ein Beispiel für diese attribuierenden Urteile ist jenes oben angeführte Urteil »Schwefel ist gelb«. Dieses Urteil gibt keineswegs eine Antwort auf die Frage »Was ist das?«, sondern auf die Frage »Wie ist das?« Es bezieht durch die Kopula »ist« das »gelb« nicht nur behauptend auf den »Schwefel« hin, sondern setzt es mit ihm in die eigentümliche Einheit der Eigenschaft zu dem Körperding. Stehen nun auch die verschiedenen Bestimmtheiten, die einem Gegenstand zukommen können, so z.B. die Größe, die Gestalt, die Härte, die Sprödigkeit usw. nicht alle in genau derselben Einheit mit dem Gegenstand, so ist ihnen doch dies gemeinsam, daß sie in oder an dem Gegenstand sind und zwar in ganz anderer Weise als das »Was« des Gegenstandes in ihm ist. Die Attributionsurteile setzen also durch ihre Kopula, auch wenn sie durch das Wörtchen »ist« ausgedrückt wird, doch eine andere sachliche Einheit in den Sachverhalt als die Bestimmungsurteile, und bei den verschiedenen Arten von attribuierten Bestimmtheiten die verschiedenen, jeweils angemessenen Einheitsarten zwischen dem Subjektsgegenstand und den Prädikatsbestimmtheiten. 3. Die Seinsurteile geben Antwort auf die Frage nach der Seinsart des Subjektsgegenstandes. Die Existentialurteile, diese besondere Art von Seinsurteilen, geben Anlaß, die eben festgestellte notwendige Dreigliedrigkeit jedes Urteils zu bezweifeln. Auf die Betrachtung dieser Zweifel soll sogleich eingegangen werden. Hier sei nur hervorgehoben, daß mit einem Seinsurteil irgendwelcher Art keinerlei Antwort gegeben ist auf die Frage, was ein Gegenstand sei. Das Sein, die »Existentia« ist kein »Was«, sondern unterscheidet sich wesentlich von jeder »Essentia«. Ebenso geben die Seinsurteile keine Antwort auf die Frage, wie der Gegenstand sei. Denn das Sein irgendwelcher Art ist auch von jeder inhaltlichen Bestimmtheit eines Gegenstandes wesentlich verschieden. Ein hinsichtlich seines »Was« und seines »Wie« bestimmter Gegenstand erfährt keinerlei Bereicherung seines Bestandes, wenn ihm außerdem eine bestimmte Seinsart zuerteilt wird. Indem die Seinsurteile eine besondere Art von Prädikatsbestimmtheit dem Subjektsgegenstand zuordnen, setzen sie zugleich auch eine

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besondere Art von sachlicher Einheit zwischen dem Gegenstand und seinem Sein. Die Relationsurteile sollen hier als zweite Hauptgruppe von Urteilen diejenigen Urteile zusammenfassen, die jene oben unterschiedenen vier Arten von Relationssachverhalten setzen. Es sind also unter den Relationsurteilen nicht etwa solche Urteile zu verstehen, die irgendwelche Relationen zu Subjektsgegenständen haben. Denn in bezug auf Relationen sind sowohl Bestimmungsurteile als auch Attributionsurteile, Seinsurteile und Relationsurteile, wie wir sie verstehen, möglich. So ist z.B. das Urteil »Die Ähnlichkeit ist eine Vergleichungsrelation«, ein Urteil, das eine Relation, nämlich die Ähnlichkeit, zum Subjektsgegenstand hat, und von ihr behauptet, was sie ist. Es charakterisiert sich dieses Urteil also als ein Bestimmungsurteil. Ein auf dieselbe Relation bezogenes Attributionsurteil wäre dagegen das Urteil »Die Ähnlichkeit hat immer eine bestimmte Größe.« Ein negatives Seinsurteil bezieht sich auf die Ähnlichkeit in der Behauptung »Die Ähnlichkeit hat kein reales Sein.« Schließlich kann eine Relation auch Gegenstand der hier gemeinten Relationsurteile sein. So etwa in den Urteilen: »Die Ähnlichkeit zwischen rot und orange ist größer als die zwischen rot und gelb«, oder »Die Ähnlichkeit gehört zu den Vergleichungsrelationen, sie ist ein unselbständiger Gegenstand, sie wird in besonderen Akten erkannt.« Aus den allgeführten Beispielen ist ersichtlich, wodurch sich die Relationsurteile von den anderen Urteilen unterscheiden. Sie können sich, wie alle Urteile, auf irgendwelche Gegenstände beziehen, aber in dem Sachverhalt, den sie setzen, gehen sie von dem Subjektsgegenstand hinüber zu irgendwelchen anderen Gegenständen und setzen zugleich irgendeine Relation zwischen dem Subjektsgegenstand und jenen anderen Gegenständen. Sie geben demnach Antwort auf die Frage: »Wie verhält sich der Gegenstand in bestimmter Richtung zu gewissen anderen Gegenständen?« Die sachliche Beziehung, die in diesen Fällen die Kopula des Urteils mitsetzt, mag in den verschiedenartigen Relationsurteilen je nach der Relationsart sehr verschieden sein, so ist sie doch in allen Fällen verschieden von denjenigen, die in den Bestimmungs-, Attributions- und Seinsurteilen von der Kopula mitvollzogen wird. Nach den vier oben unterschiedenen Arten von Relationssachverhalten lassen sich also vier verschiedene Arten von

Logik

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Relationsurteilen unterscheiden, nämlich die Vergleichsurteile, die Zugehörigkeitsurteile, die Abhängigkeitsurteile und die Intentionalurteile. Die Einteilung der Urteile, die wir hiermit vorgenommen haben, ist jedoch keine rein logische Einteilung. Es sind sachliche Verschiedenheiten innerhalb der von den Urteilen gesetzten Sachverhalte, welche die Grundlage für diese Unterscheidungen abgeben, nicht aber Unterschiede in den Urteilen selbst als behauptenden Gedankengebilden. Weder das Urteil überhaupt noch die rein logischen Arten des Urteils fordern, daß bestimmte sachliche Beziehungen notwendig in den Sachverhalt hineingesetzt werden. Aus der rein logischen Einteilung der Urteile kann man daher nicht, wie Kant es irrtümlicherweise gemeint hat, bestimmte sachliche Kategorien ableiten. Und das Urteil überhaupt, oder vielmehr die Kopula überhaupt hat noch die volle Wahlfreiheit gegenüber allen möglichen sachlichen Beziehungen, die zwischen dem Subjektsgegenstand und den Prädikatsbestimmtheiten gesetzt werden können. Auf die rein logische Einteilung der Urteile soll erst später eingegangen werden. Hier kehren wir zunächst zurück zu dem allgemeinen Wesen und Aufbau des Urteils überhaupt, um die Bedenken zu prüfen, die aus dem Sinn bestimmter Urteile, nämlich der Existenzialurteile und der sogenannten Impersonalien, gegen die obigen Ergebnisse geltend gemacht werden können.

HEDWIG CONRAD-MARTIUS ZUR ONTOLOGIE UND ERSCHEINUNGSLEHRE DER REALEN AUSSENWELT VERBUNDEN MIT EINER KRITIK POSITIVISTISCHER THEORIEN.1 I. Das Gesamtphänomen der “realen Außenwelt” als solches. In der positivistischen Literatur spricht man gern von der Weltanschauung des „gemeinen Mannes“, die der des positivistischen Schriftstellers einerseits und andererseits der des „spekulativen Philosophen“ oder des „Philosophen“ schlechthin gegenübergestellt wird. Die naive Weltansicht ist dabei dem Positivsten weit sympathischer als die stets durch verstiegene Spekulationen und Konstruktionen ausgezeichnete Welt des „Philosophen“. In einem Punkte hat der moderne Positivismus in vollkommener Sachangepaßtheit die naive Weltanschauung als eine sachlich gesunde und natürliche gegen eine gewisse philosophische Lehrmeinung ausgespielt, die übrigens heute wohl kaum mehr Vertreter beizt: in seinem Kampf gegen einen in der Tat völlig absurden sog. „Idealismus“, wie ihn A v e n a r i u s in seiner Schrift „Der menschliche Weltbegriff“ in glänzender Weise zur Darstellung gebracht und ad absurdum geführt hat. Ob man im einzelnen mit der psychologischen Theorie über die Genesis solcher idealistischer Anschauungen mit Avenarius übereinstimmen mag oder nicht, den wesentlichen Punkten seiner sachlichen Kritik wird sich kaum jemand mit gutem intellektuellem Gewissen entziehen können. Die von Avenarius in ihrer Widersinnigkeit aufgewiesene „Introjektion“ besteht darin, daß die wahrgenommenen Inhalte in das Gehirn des wahrnehmenden Menschen verlegt werden, resp. in eine an dieses Gehirn räumlich gebunden gedachte „Seelensubstanz“. Der Positivist vertritt gegenüber dieser künstlichen Theorie sein leider an keiner Stelle wirklich durchgeführtes Prinzip, das Gegebene da stehen zu lassen, wo es sich gibt und so stehen zu lassen, wie es sich gibt; er betont, daß die den eigenen Leib umgebende Außenwelt in dieser ihrer „außenweltlichen“ Stellung 1

Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Hrsg. von E. Husserl. Bd. III, 1916, S. 361-397.

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ebenso ein ursprünglich Vorzufindendes und damit Unantastbares wie das Ich selbst sei; die Funktion, die das Ich oder der Ichleib oder das Gehirn in jener Theorie haben soll, der originäre „Träger“ oder das „Gefäß“ der jeweiligen Wahrnehmungswelt zu sein, wird aufgehoben.2 Andererseits aber hat dieses Ich (und zwar zunächst der Ichleib) doch eine Vorzugsstellung vor dem im übrigen Vorgefundenen, insofern es stets und notwendig als „Zentralglied“ (spezieller Ausdruck von Avenarius) gegeben ist, in bezug auf das alle anderen Wahrnehmungsinhalte – zunächst räumlich – orientiert sind.3 Mit diesen Feststellungen endigt für den Positivsten in der Hauptsache das, was ihm bezüglich der Gegebenheit einer realen Außenwelt von der natürlichen Weltanschauung in unveränderter Weise der Übernahme wert erscheint. Wir haben keineswegs diese Auffassung. Wir müssen aber, ehe wir auf die spezielle Bedeutung dieser positivistischen Grundantchauung für das Phänomen der realen Außenwelt zurückkommen, zunächst an unsere augenblikliche Hauptfrage in direkter Weise herangehen. Sie lautet: 2

3

Bei M a c h , der an der Bekämpfung solcher Theorien geringeres Interesse hatte, finden wir ebenfalls sehr deutliche nach dieser Richtung gehende Bemerkungen. Er tritt besonders gegen die an eben jenen erkenntnistheoretischen Vorstellungen orientierten Scheinprobleme der „Außenprojektion der Empfindungen“ auf (A. d. E. Seite 28 unten, Seite 44 unten). Im übrigen meint er, daß er in bezug auf den kritischen Charakter seiner Ausführungen eher von der Bekämpfung der „Extrajektion“ sprechen könnte; er deutet hiermit offenbar auf die von ihm beabsichtigte Elimination aller der als Realitäten vorausgesetzten Bestandteile bin, die sich seiner Meinung nach unter den „Gegebenheiten“ nicht aufweisen lassen, also in das perhorreszierte Gebiet des “Metaphysischen” verwiesen werden. Die Meinung, daß die Möglichkeit dieser ganzen „Vorfindung“ der in dem angegebenen Sinne räumlich angeordneten Welt irgendein vorfindendes Subjekt – ein „Bewußtsein überhaupt“, oder wie man sich ausdrücken mag – voraussetzt, für das diese gesamte jeweilige Wahrnehmungsphäre wiederum Objekt ist (wobei jenes Subjekt nicht mit dem vorgefundenen und damit selbst zur Objektwelt gehörigen Ichleib mitsamt seinen an es gebundenen [ebenfalls vorzufindenden] psychischen Elementen verwechselt werden darf), wird nicht von allen Positivisten vertreten. Sie scheidet vor allem die sog. „Immanenzphilosophie“ (S c h u p p e ) von den Positivisten im engeren Sinne. Vgl. vor allem W . S c h u p p e , „D i e B e s t ä t i g u n g d e s r e i n e n R e a l i s m u s “. Offener Brief an Avenarius. (In der Vierteljahrsschrift für wissensch. Philos. 17, 1893.) Auch L a a s vertritt mit seinem „Korrelativismus“ oder „Subjekt-Objektivismus“ einen ähnlichen Standpunkt.

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Auf was für eine sachliche Grundlage führt eine genaue Analyse der dem natürlichen Bewußtsein immanenten, aber in ihm in u n a u s g e b r e i t e t e r und d u r c h a u s v a g e r Weise vorhandenen Vorstellung einer „realen“ und mit ihrer Realität von dem wahrnehmenden Ich völlig abtrennbaren Außenwelt? D a ß im natürlichen Bewußtsein eine solche vage Vorstellung auffindbar ist, würde auch der Positivist kaum bestreiten. Er würde jedoch auf unsere Frage antworten: Sie führe auf sachliche Widersinnigkeiten, und ihr tatsächliches Vorhandensein im realen Bewußtsein trotz dieser Widersinnigkeiten sei nur durch gewisse psychologische Gesetzmäßigkeiten erklärbar. Der Spezielle Gedankengang auf eine prinzipielle Form gebracht, wäre etwa folgender:4 Eine sog. „Wirklichkeit“ anzusetzen, die keinerlei Bezug auf Wahrnehmung in sich enthielte, widerstreitet dem S i n n von Wirklichkeit. Denn „Wirklichkeitsbewußtsein“ im originären und ungetrübten Sinn i s t nichts anderes als das Bewußtsein, etwas wahrzunehmen, resp. einen „Empfindungsinhalt“ zu haben. Wie aber kann auf dieser Grundlage ein Wirkliches v o r g e s t e l l t werden? Offenbar nur mit dem Bewußtsein, daß das Vorgestellte wahrgenommen werden wird, resp. unter bestimmten Bedingungen werden kann. Ein s c h o n Wirkliches, d.h. ein Wirkliches im o r i g i n ä r e n S i n n e , könnte also nach dieser Theorie n i c h t vorgestellt werden; denn die Vorstellung eines Gegenstandes ist eben nicht Wahrnehmung dieses Gegenstandes und nur in der Wahrnehmung als solcher kann Wirklichkeitsbewußtsein vorhanden sein. Man müßte denn die mit der Vorstellung eines Gegenstandes verknüpfte Vorstellung von dem möglichen Wahrgenommen w e r d e n eines Gegenstandes s e l b s t eine Vorstellung vom „Wirklich s e i n “ dieses Gegenstandes nennen. „Wirklich“ in diesem e r w e i t e r t e n Sinne wäre dann 1. das, was gerade wahrgenommen wird,

4

Vgl. hierzu C o r n e l i u s , „V e r s u c h e i n e r T h e o r i e d e r E x i s t e n z i a l u r t e i l e “. Diese Schrift kann bezüglich der hier zu behandelnden Problematik geradezu als k l a s s i s c h e s Beispiel der von uns sog. typischpositivistischen Anschauungsweise dienen.

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2. das, was unter bestimmten Bedingungen wahrgenommen werden kann.5 Jedoch das Charakteristische und für uns Wesentliche bleibt auch bei dieser Ausdrucksverschiebung erhalten; und dieses ist, daß i n d e r Vorstellung ein wirklicher Gegenstand als wirklicher nur auf dem Vorstellungsumweg über eine „mögliche Wahrnehmung“ vorzukommen vermag. Wenn es uns also gelingt, in den folgenden Analysen zu zeigen, daß das Wirklichkeitsbewußtsein mit dem Vorstellungserlebnis in einer Weise verknüpft ist oder doch sein kann, bei der die Vorstellung eines möglichen Wahrnehmungserlebnisses g a r k e i n e r e l e v a n t e F u n k t i o n besitzt, dann ist damit erwiesen, daß jene I d e n t i f i k a t i o n von Wahrnehmungserlebnis und Wirklichkeitsbewußtsein falsch ist, und daß das Moment, durch welches in einem Vorstellungserlebnis der vorgestellte Gegenstand phänomenal zu einem vorgestellten „w i r k l i c h e n “ Gegenstand gemacht wird, als etwas E i g e n a r t i g e s faßbar gemacht werden kann und muß. Damit wäre aber zugleich jene Meinung, daß die Vorstellung einer vom Wahrnehmungs-Ich „unabhängigen“ Außenwelt und so auch die ganze erkenntnistheoretische Frage nach einer berechtigten Ansetzung dieser w i d e r s i n n i g sei, hinfällig; sowohl die erkenntnistheoretische Frage, wie vorerst und vor allem die Frage, was eine solche „seinsselbständige“ Welt ihrem w e s e n h a f t e n Gehalt nach ist, wäre neu zu stellen. Als methodische Anmerkung sei hinzugefügt, daß der von uns unter vielen möglichen anderen Wegen speziell eingeschlagene Weg, um das tatsächliche Vorhandensein einer völlig eigenartigen Idee „realen Seins“ herauszustellen, innerhalb dieser Arbeit nicht nur dazu dienen soll, diese Tatsache möglichst einleuchtend zu machen, sondern auch dazu, mit den hierbei notwendig vorzunehmenden Sonderanalysen der Klärung des Gesamtphänomens einer „realen Außenwelt“ vorzuarbeiten. Es soll zunächst untersucht werden, an welche in der Sache selbst auffindbaren Momente die Theorie, daß ein Wirkliches a l s Wirkliches in 5

Man achte wohl darauf, daß diese Bestimmungen nicht nur dazu dienen sollen, das „Wirkliche“ durch ein von ihm unabtrennbares Prädikat in eindeutiger Weise zu fixieren. Unter diesem Gesichtspunkte wären sie ja richtig, da jedes Wirkliche prinzipiell wahrgenommen werden kann. Sondern daß es eine I d e n t i t ä t s bestimmung sein soll.

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der Vorstellung nur als ein ev. Wahrzunehmendes vorkommen kann, anknüpft. Denn wenn auch diese Anschauung schon allein eine durch jene Meinungsgrundlage (Wirklichkeitsbewußtsein = Wahrnehmungserlebnis) als solche konsequenterweise geforderte ist, so wird doch voraussichtlich das wissenschaftliche Postulat der Sachlichkeit nicht so weit vernachlässigt sein, daß die Theorie nicht im gegebenen Gehalt auch des Vorstellungserlebnisses noch gewisse sachliche Stützpunkte besäße. Man hat für alle so gearteten Theorien einen Typus von Vorstellungserlebnissen im Auge, der in der Tat dieser Auffassung zunächst keine Schwierigkeiten in den Weg zu stellen scheint. Es ist der Vorstellungstypus, an den die bekannte positivistitche „A b b i l d t h e o r i e “ anknüpft: von einem empfundenen Inhalt bleibt ein „Abbild“ im Gedächtnis zurück; wenn dieses als solches im Bewußtsein auftritt, so ist der betreffende s e l b s t n i c h t gegenwärtige Inhalt „vorgestellt“. Es gibt bekanntlich eine große Literatur darüber, wie sich dieses Abbild von dem ursprünglichen Inhalt, dem es doch eben a l s sein Abbild gleich sein muß, dennoch unterscheidet. Wir heben zwei für uns vornehmlich wichtige Momente hervor: l. die so oft erwähnte „Undeutlichkeit“, „Mattigkeit“, “Verschwommenheit” des Vorgestellten. Daß dieses Moment nicht gedeckt wird mit der Angabe einer bloß geringeren “Intensität” des vorstellungsmäßig Gegebenen und daß auch die Ausdrücke „Verschwommenheit“ und „Undeutlichkeit“ die Sachlage nicht eigentlich charakterisieren, ist oft genug betont worden und mit dem Argument ad absurdum geführt, daß ein Wahrgenommenes durch eine Abnahme seiner Intensität oder durch ein Undeutlicherwerden nicht ebendamit in ein Vorgestelltes übergeht. C o r n e l i u s , der in der erwähnten Schrift (S. 34 f.) sehr richtig die Unzulänglichkeit dieses Bestimmungsversuches hervorhebt, gibt sich schließlich mit der Feststellung zufrieden, daß es sich eben um einen „eigenartigen qualitativen inhaltlichen Unterschied zwischen Empfindung und entsprechendem Phantasma“ handelt, dem gegenüber die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit andererseits „eine der ersten Tatsachen des psychischen Lebens ist, welche schon unseren elementarsten Erkenntnissen zugrunde liegt und daher einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig erscheint“. Uns scheint mit jener Feststellung die eigentliche

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Aufgabe zwar nicht der „Erklärung“, aber doch der „Klarlegung“ dieser eigentümlichen Phänomene erst zu beginnen. Man kann in Hinblick auf die vorstellungsmäßige Anschaulichkeit am besten von einer „v e r d e c k t e n A n s c h a u l i c h k e i t “ sprechen. „Verdeckte“ Anschaulichkeit darum, weil das in vorstellungsmäßiger Anschaulichkeit Gegebene gegenüber dem in wahrnehmungsmäßiger Anschaulichkeit Gegebenen auch da, wo es sich um eine i n s i c h vollkommen klare und deutliche Vorstellung handelt, etwas eigentümlich „Entrücktes“ hat – so, als ob dieser Inhalt in sich selbst erheischte, aus einem ihn verdunkelnden Medium hervorgeholt und „ans rechte Licht“ gestellt zu werden. Es scheint hiernach fast, als ob der vorgestellte Inhalt in sich auf eine ihm mögliche andere anschauliche Gegebenheitsweise, eben die wahrnehmungsmäßige, hinwiese. Das müßte näher untersucht werden. Hier kommt es auf die bloße Feststellung des tatsächlichen Vorhandenseins des Momentes der „Verdecktheit“ an. D i e s e r Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung betrifft also den verschiedenen Charakter der Anschaulichkeit des gegebenen Inhalts. Als z w e i t e s Moment ist nun zu erwähnen: d a s E r s c h e i n e n d e s Vorgestellten nicht dort, wo das Wahrgenommene e r s c h e i n t , sondern in einer von dieser Wahrnehmungssphäre deutlich u n t e r s c h i e d e n e n S p h ä r e ; hiermit hängt wesentlich zusammen ein W e c h s e l d e r B l i c k r i c h t u n g , wenn ich beispielsweise von der Wahrnehmungseinstellung in die Vorstellungseinstellung übergehe. Dieses Moment hat offenbar auch M a c h im Auge, wenn er A. d. E. S. 16 von dem Erscheinen des Vorgestellten „in einem ändern Felde“ spricht, und vor allem S. 163 von dem „Wechsel der Aufmerksamkeitsrichtung“: „ich fühle, wie ich beim Übergang zur Vorstellung die Aufmerksamkeit vom Auge abwende und anderswohin richte.“ Vom „Auge“ zwar wende ich die Aufmerksamkeit sicherlich nicht ab; denn ich war auch in der Wahrnehmung nicht auf dieses gerichtet. Aber von der Sphäre, in die ich als Wahrnehmender gerichtet war, wende ich mich wenigstens bei dem hier zunächst ins Auge zu fassenden Vorstellungstypus tatsächlich ab. Wir sehen dies daran, daß sie uns beim Vorstellen s t ö r e n kann, daß wir sie, wenn wir nicht etwa die Augen

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schließen, sehend fortzudrängen suchen. Wohin aber wende ich mich nun beim Vorstellen? In mich hinein? Auch dieses nicht eigentlich: der vorgestellte Inhalt bleibt zwar hier ein von meinem „Geist“ stets „gehaltener“; er ist von diesem nicht in jener Weise völlig “abgetrennt” oder „abgesetzt“, wie es die Wahrnehmungsgegenstände sind (die Redewendung: sich etwas „im Geiste“ vorstellen, entbehrt keineswegs jeder phänomenalen Grundlage); jedoch kann auch er deutlich „da draußen irgendwo“ erscheinen; nur ist er dort nicht gleich den Wahrnehmungsgegenständen, so möchten wir vorläufig sagen, eigentlich v e r w u r z e l t . Er „schwebt dort irgendwo“, aber die Stelle seines Schwebens ist weder genau bestimmbar, noch besitzt sie für sein Dasein oder sein Sosein irgendwelche relevante Funktion. Dies nur zur vorläufigen Orientierung. Eine vollständigere Aufklärung hierüber ist erst später möglich. Nach dieser allgemeinen Erörterung sei der spezielle Fall ins Auge gefaßt, bei dem ein w i r k l i c h e r , und zwar natürlich ein in der Vorstellung als wirklich vermeinter oder gewußter Gegenstand vorgestellt wird. Dieser ist etwa viele, viele Meilen von dem Vorstellenden entfernt und der Vorstellende h a t ihn in der Vorstellung a l s einen so weit entfernten. Der anschauliche Vorstellungsinhalt ist, wie wir sagten, „da draußen irgendwo“; ich kann auch den spontan erzeugten Vorstellungsgegenstand innerhalb einer gewissen Sphäre beliebig v e r l e g e n , ohne daß diese Verlegung etwas Wesentliches an gerade dieser Vorstellung und ihrem Inhalt änderte. Aber das Eine ist für diesen Vorstellungstypus charakteristisch: an die Raumwirklichkeitsstelle, an der sich der vorgestellte Gegenstand, wie ich weiß oder vermeine, tatsächlich befindet, vermag ich den Vorstellungsinhalt n i c h t zu verlegen; an den w i r k l i c h e n Gegenstand in seiner ihm eigenen Wirklichkeitsstelle reiche ich also in diesem Vorstellungstypus n i c h t heran. Unmittelbar anschaulich gegenwärtig ist mir dagegen nur ein „Vertreter“ des eigentlichen, des gemeinten Gegenstandes; in dem unmittelbar anschaulichen Vorstellungsinhalt steckt der gemeinte wirkliche Gegenstand nicht darin, sondern nur dieser „Repräsentant“.6 Man könnte 6

Die hier gemeinte Art der Repräsentation, bei der ein (anschaulich gegenwärtiger) G e g e n s t a n d für den in der Vorstellung gemeinten, s e l b s t nicht unmittelbar zu erscheinenden eintritt, ist nicht zu identifizieren mit derjenigen, die L i p p s (L e i t f a d e n d e r P s y c h o l o g i e , 2. A., S. 12) im Auge hat, wenn er davon

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mit einer bildlichen, natürlich nicht genetisch aufzufassenden Wendung sagen: der Geist habe den Gegenstand unter Zuhilfenahme eines anschaulichen Repräsentanten in eine größere Nähe zu sich gebracht, um ihn ü b e r h a u p t anschaulich fassen zu können (natürlich nur in der „verdeckten Anschaulichkeit“, die der Vorstellung als solcher eigentümlich ist). Im Hinblick auf diesen phänomenologischen Tatbestand kann sich jene Theorie nunmehr, die wir bekämpfen wollen, in gewisser Weise behaupten. An das hier tatsächlich auffindbare Moment, daß in dem unmittelbar anschaulichen Vorstellungsinhalt als solchem der gemeinte wirkliche Gegenstand nicht eigentlich selbst d a r i n s t e c k t , knüpft sie an; sie folgert von hier aus, daß der vorgestellte „Inhalt“ n u r i n s o f e r n mit einem gemeinten wirklichen etwas zu tun habe, als man bezüglich seiner das Bewußtsein besäße, er könne unter gewissen Bedingungen wirklich w e r d e n , und das heißt für diese Theorie wahrgenommen werden. Freilich müßte ein näheres Zusehen schon an dieser Stelle die Unzulänglichkeit dieser Theorie einsichtig machen können. Denn, wenn ich allerdings in solchen Vorstellungen an den wirklichen Gegenstand in seiner ihm eigenen Wirklichkeitsstelle mit dem geistigen Blick nicht direkt heranreichen kann, sondern das, was er mir anschaulich bieten würde, spricht, daß uns „auch“ in der Vorstellung ein „Vorstellungsbild“ den in der Vorstellung „gedachten“ Gegenstand „repräsentiere“. Bei uns handelt es sich nicht wie hier um eine Repräsentationsbeziehung zwilchen “I n h a l t e n ” und Gegenständen, sondern um eine zwischen einem Gegenstand und einem ändern, die auf W a h r n e h m u n g bezogen vollkommen ihren Sinn verlieren würde. Auf der Grundlage jener Anschauung von Lipps müßten wir bezüglich unseres Falles sagen: es fände in unserm Vorstellungstypus eine z w i e f a c h e Repräsentation statt: l. von dem anschaulichen Repräsentationsgegenstand zu jenem Gegenstand, auf den vorstellungsmäßig abgezielt ist, 2. i n n e r h a l b des Repräsentationsgegenstandes selbst von dem unmittelbar anschaulichen I n h a l t zu dem gesamten Anschauungsgegenstande. Aber so wichtig gewiß jene Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand überhaupt ist, so wenig können wir doch der Auffassung Folge leisten, auch hier handle es sich um eine R e p r ä s e n t a t i o n s beziehung. Denn gerade jene vollkommene A b g e t r e n n t h e i t zwischien den beiden Gliedern, die eine solche ihrer Natur nach verlangt und die in unserm Falle eine deutliche ist, fehlt in der Beziehung zwischen Inhalt und dem i n ihm erfaßten und erschauten Gegenstand.

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gleichsam von ihm loslösen und in der Form eines neuen Gegenstandes (eben des Vorstellungsrepräsentanten) vor meinen geistigen Blick ziehen muß, so ist damit gewiß nicht gesagt, daß ich i n k e i n e m S i n n e an den wirklichen Gegenstand direkt heranreiche oder daß ich i n k e i n e m S i n n e den wirklichen Gegenstand in der Vorstellung selbst fasse. Jedenfalls handelt es sich doch sicherlich nicht nur um einen an den anschaulichen Vorstellungsinhalt sich anschließenden abstrakten Gedankenvollzug, wie den, daß der vorgestellte Inhalt wahrgenommen werden oder wirklich werden kann, oder auch den, daß er schon wirklich ist. An Stelle dieser äußerlichen Verknüpfung heterogener Bestandteile (anschaulicher Vorstellungsinhalt – abstrakter Gedankenvollzug) tritt uns das Vorstellungserlebnis als k o n k r e t e E i n h e i t entgegen, die eben dadurch charakterisiert ist, daß der vorgestellte Gegenstand e i n e r s e i t s durch einen Vorstellungsrepräsentanten zu anschaulicher Vergegenwärtigung gebracht wird und a n d e r e r s e i t s in einer selbst allerdings eigentümlich anschauungsleeren Weise (ü b e r den Anschauungsrepräsentanten h i n oder auch d u r c h diesen h i n d u r c h ) direkt gefaßt wird.7 Das erste Moment k a n n überhaupt seiner spezifischen Artung nach gar nicht ohne dieses andere bestehen, daß ich in den als wirklich gehabten Gegenstand, den ich vorstelle, zugleich irgendwie direkt „verhakt“ bin: denn der Vorstellungsrepräsentant ist als solcher für mich eben das den w i r k l i c h e n G e g e n s t a n d mir m i t t e l b a r anschaulich Vergegenwärtigende; er v e r s c h a f f t mir ja phänomenal die B e z u g n a h m e auf den wirklichen Gegenstand in einer anschaulichen Form, also kann der 7

Die Behauptung von C o r n e l i u s (a. a. 0. S. 38 f.), daß die Redeweise, ich nehme denselben Gegenstand wahr, den ich vorstelle, eine uneigentliche und äquivoke sei, erachten wir demnach als dem phänomenologitchen Tatbestand durchaus nicht entsprechend. Auch bleibt bei Cornelius schon völlig unerklärlich, wie die für seine Theorie verlangte Beziehung zwischen dem Phantasma und der entsprechenden unter bestimmten Bedingungen eintretenden Empfindung aussehen soll. Denn e n t w e d e r müßte ich doch hierzu die gemeinte Empfindung ebenso direkt gegenwärtig haben wie das Phantasma, o b w o h l sie in diesem Augenblick nicht aktuelle Empfindung ist, was seiner Theorie widerspräche, ja sie überhaupt überflüssig machen würde; o d e r ich hätte wiederum ein Phantasma von ihr – dann wäre eine erneute Beziehung gefordert, und wir kämen aus den Phantasmen nicht heraus.

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Beziehungspunkt selbst nicht aus dem Phänomen fortgestrichen werden, ohne dieses totaliter zu verändern. Aber ohne uns weiter auf den an diesem Phänomen direkt erschaubaren, als solchen allerdings sehr komplizierten Gehalt zu berufen8, sei noch einmal betont, daß eben dieser Vorstellungstypus jener Theorie wenigstens eine gewisse sachliche Handhabe bietet. ___________________

Wir kommen zu einem z w e i t e n Typus möglicher Vorstellungsweise: Ich sitze in meinem Zimmer bei geschlossener Tür und erwarte einen versprochenen Besuch. In einer solchen Situation kann es vorkommen, daß 8

Ich habe mit Absicht den von mir sogenannten „e r s t e n Vorstellungstypus“ in einer etwas s c h e m a t i s c h e n Weise zur Darstellung gebracht, damit das Resultat, auf das alle diese Analysen hinführen sollen, in seiner spezifischen Eigenart deutlicher heraustritt, ohne daß der Richtigkeit dieses Resultats selbst hierdurch Abbruch geschehen könnte Gerade dieser erste Vorstellungstypus bietet als Solcher eine Fülle phänomenologisch äußerst komplizierter Varianten, und zwar besonders durch die Möglichkeit ganz v e r s c h i e d e n a r t i g e n Hinein- und Hinübergreifens in die „reale Welt“, das mit jener anschaulichen Gegenstandsvergegenwärtigung gegeben sein kann. Die von uns in schematischer Weise gegebene Darstellung, daß der Vorstellungsrepräsentant i m Erlebnis selbst als b l o ß e r Repräsentant fungiert und der „wirkliche“ Gegenstand, auf den abgezielt ist, als ein „da hinten irgendwo“ in anschaulich nicht direkt erreichbarer Ferne zurückgelassener dasteht, trifft v o l l s t ä n d i g nur auf den besonderen Fall der bewußtermaßen „b i l d m ä ß i g e n “ Vergegenwärtigung einer Gegenständlichkeit zu. In den meisten Fällen scheint es mir dagegen so zu liegen, daß ich, im Vorstellungserlebnis darinstehend, mit dem geistigen Blick gewissermaßen d i r e k t in die gemeinte „wirkliche“ Gegenstandsphäre hineinzugreifen glaube; erst die b e w u ß t e R e f l e x i o n auf das, was hier in der Tat vorliegt, läßt die „bloß“ repräsentative Funktion des anschaulich Gegenwärtigen hervortreten. Damit ist aber natürlich auch ein Solcher Fall von dem Später im Text als z w e i t e r Vorstellungstypus zu behandelnden Fall, bei dem mein Blick tatsächlich zu dem wirklichen Gegenstand s e l b s t , und zwar auch hier noch in Vorstellungsweise h i n r e i c h t , wesenhaft Unterschieden; handelt es sich doch im ersten Vorstellungstypus gewissermaßen um eine bloße Erlebnistäuschung. Dann gibt es aber auch eine Reihe merkwürdiger Ü b e r g a n g s stufen vom ersten Vorstellungstypus zum zweiten, die an und für sich der Betrachtung wert wären. Uns aber kommt es hier in der Hauptsache nur auf die möglichst deutliche Kennzeichnung des z w e i t e n Vorstellungstypus an, mag man wie immer vom ersten aus zu ihm hinüberführen können.

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man den betreffenden Menschen in der Ungeduld der Erwartung schon fortwährend „gleichsam“ die Treppe heraufkommen „sieht“. Dies mag geschehen mit einem mehr oder weniger ernsthaften Glauben daran, daß er wirklich gerade jetzt die Treppe heraufkommt oder besser gesagt, es mag geschehen mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Wirklichkeitsbewußtsein. Wenn dieses Wirklichkeitsbewußtsein vollkommen fehlt, so hat das Erlebnis einen spielerischen Charakter: ich vertreibe mir die Zeit mit einer solchen Vorstellungsweise, obwohl ich genau weiß, daß in ihr in Wahrheit nichts Wirkliches ergriffen wird. Andererseits vermag das mit dem sehenden Haben des Vorgangs da draußen verwobene Wirklichkeitsbewußtsein so stark zu sein, daß ich das Eintreten des Bekannten in dem entsprechenden Augenblick mit voller Sicherheit erwarte. Aber lassen wir zunächst die Möglichkeit eines mitvorhandenen Wirklichkeitsbewußtseins beiseite, obwohl es uns auf dieses letztlich ankommt, und fassen wir jenes Moment des „g l e i c h s a m S e h e n s “ ins Auge. Der oben betrachtete Typus von möglichen Vorstellungsarten war in der Hauptsache charakterisiert 1. durch das Moment der „verdeckten Anschaulichkeit“ und 2. dadurch, daß der anschaulich gegebene Vorstellungsgegenstand zwar „da draußen irgendwo“ erscheint, aber dort nicht in der eigentlichen Weise „verwurzelt“ ist, wie etwa die wahrgenommenen Gegenstände als dort verwurzelte erlebt werden. Das erste Moment, die „verdeckte Anschaulichkeit“, charakterisiert auch diesen zweiten Typus. Nicht zufällig: denn, wenn überhaupt irgendwie von „bloßer Vorstellung“ in tiefgreifendem Wesensgegensatz zur Wahrnehmung gesprochen werden soll, dann muß dieses Moment als wesenhaft zusammenhängend mit der eigentümlichen Natur der „bloßen Vorstellung“ vorhanden sein. Wo etwas mit „verdeckter Anschaulichkeit“ gegeben ist, da ist eben jenes „unverhüllte Selbsthervortreten“ dieses Gegenstandes, wie es für die Wahrnehmung charakteristisch ist, ausgeschlossen. Nur dieses „unverhüllte Selbsthervortreten“ aber, oder, wie wir Später Sagen werden, diese „Selbstkundgabe“, gibt uns in natürlicher Einstellung die unmittelbar a n s c h a u l i c h e G e w ä h r vom t a t s ä c h l i c h e n Selbstdasein und t a t s ä c h l i c h e n Sosein des Gegenstandes. Keine Vorstellung irgendwelcher Art kann uns dieses

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Moment ersetzen, und von hier aus ergibt (ich das Recht, die Wahrnehmungssphäre von der Vorstellungssphäre (letzere speziell als Sphäre „b l o ß e r Vorstellung“) so scharf wie möglich zu trennen. Wie steht es nun aber bei diesem zweiten Vorstellungstypus um das zweite der angeführten Momente? Um hier deutlich zu sehen, muß zuerst noch einmal der Blick zurückgehen auf den ersten Vorstellungstypus und einmal auch hier ein Fall herangezogen werden, bei dem es sich um einen „b l o ß e i n g e b i l d e t e n “ Gegenstand handelt. So denke man etwa an irgendeine Phantasiegestalt, wie sie die Luft des Augenblicks hervorbringen und ausgestalten mag. Hier ist nun von einer repräsentativen Funktion der unmittelbar anschaulich gegenwärtigen Gegenständlichkeit natürlich keine Rede; dasjenige, worauf vorstellungsmäßig abgezielt ist, steckt voll und ganz in dem anschaulichen Inhalt darin. Zugleich aber ist auch der anschaulich gegenwärtige Gegenstand s e l b s t für mich kein „realer“, sondern ein „bloß“ phantasierter; er hat, um einen treffenden Ausdruck von L i p p s zu gebrauchen, nur ein „Dasein von meinen Gnaden“; er ist daseinsrelativ auf meinen ihn phantasierenden Geist. (Daß dieser hiermit hervorgehobene Tatbestand nicht, wie man glauben mag, eine völlig selbstverständliche Grundlage von jenem ersten ist – dem Mangel an einer repräsentativen Funktion – wird bald heraustreten). Drittens ist nun aber wiederum vor allem auf die Artung der „E r s c h e i n u n g s weise“ zu achten, die einen solchen phantasierten Gegenstand in derselben Weise auszeichnet oder vielmehr in eben diesem e r s t e n Vorstellungstypus in derselben Weise auszeichnet wie oben bildhaften Vorstellungsrepräsentanten. Wir sagten dort, ein solcher Vorstellungsgegenstand „schwebe da draußen irgendwo“, sei aber dort nicht in der „eigentlichen“ Weise „verwurzelt“, wie es die Wahrnehmungsgegenstände sind. Wir müssen nun hier hinzufügen – und bei einer solchen Phantasiegestalt tritt dies besonders gut heraus, da hier jede Komplikation in der Weise irgendeines Bezuges auf die „reale“ oder irgendeine sonstige Welt fehlt –, daß ein solcher in echter Weise vorstellungsmäßig „vorschwebender“ Gegenstand seiner anschaulichen Erscheinungsweise nach „im Grunde“ mit dem „wirklichen“ Raum, dem Raum der Wahrnehmungsgegenstände, n i c h t s zu tun hat. Jener Ausdruck „er Schwebe da draußen irgendwo“ ist ein völlig uneigentlicher und das

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hiermit Angedeutete ist natürlich ganz unvergleichbar mit einem Tatbestand wie dem, daß etwa ein Vogel da draußen irgendwo schwebe und sei auch dieses „Vogelschweben“ ein undeutliches und fernes. Und doch hat solche Ausdrucksweise eine phänomenologische Grundlage, die nicht außer acht gelassen werden darf: der Geist h a t in der Tat beim phantasiemäßigen Vorstellen, wenigstens beim Vorstellen „physischer Gegenständlichkeiten“ eine Richtung „nach außen“, oder hat diese doch in den meisten Fällen. Aber mir scheint, daß diese Richtung allerdings eine „zufällige“ insofern ist, als sie nur eingeschlagen wird, weil der Geist gewissermaßen „R a u m “ braucht für die anschauliche Vergegenwärtigung solcher Gegenständlichkeiten, und weil jenes „Draußen“ der wirklichen Welt eine zufällig allein sich darbietende oder doch günstigste „Gelegenheit“, für die anschauliche Ausbreitung der Vorstellungsgegenstände darstellt.9 Insofern kann man also auch bei diesem Vorstellungstypus – wenigstens in gewissen Fällen – die „Außenwelt“ als „Aufnahmestätte“ der Vorstellungsgegenstände ansehen. Aber n u r i n s o f e r n . Denn w e d e r hat es mit dem speziellen Inhalt der Vorstellung das mindeste zu tun, in welche „Gegend“ der „Raumwirklichkeit“ die vorgestellte Gegenständlichkeit hinverlegt wird, – ob ich vorstellend in den Fußboden hineinstarre, oder in die Ferne sehe oder wie sonst immer. N o c h ist überhaupt diese „Gegend“ in irgendeiner e i n d e u t i g e n Weise fixierbar; und dieses darum, weil der solchermaßen phantasierte oder bildmäßig vorgestellte Gegenstand nicht eigentlich „ i n “ den realen Raum hineingesetzt wird und werden kann (daß es andererseits ein t a t s ä c h l i c h e s H i n e i n setzen eines phantasierten Gegenstandes in die Raumwirklichkeit gibt, wird gleich behandelt werden; aber dann sieht auch das T o t a l phänomen ganz anders aus); denn ein solcher Vorstellungsgegenstand ist von seiner e i g e n e n S p h ä r e , nämlich d e r in die Außenwelt gleichsam „hinein- oder vorgescho9

Man achte im übrigen auf sonstige eigentümliche „Wendungen“, die der Geist zuweilen bei irgendeiner anschaulichen Vergegenwärtigungsbemühung vornehmen kann; so etwa, wenn die Außenwelt sich allzu störend auf- und zudrängt und auch das Mittel, die Augen zu schließen, als solches kein zureichendes ist und der Geist sich alsdann gleichsam „in sich selbst verkriecht“, um völlig unbehelligt seinen „Gesichten“ leben zu können. Alle diese Dinge wären der Spezialuntersuchung wert.

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b e n e n “ W e l t d e s G e i s t e s , nicht abtrennbar. Es findet sich hier auf der Linie vom Geist zum Vorstellungsgegenstand kein „Abbrechen“ derart, wie es wesenhaft zwischen dem w a h r n e h m e n d e n Geist und den w a h r g e n o m m e n e n Gegenständen seine Stelle hat: mag der wahrnehmende Geist noch so nahe an die „außenweltlichen“ Gegenstände herantreten, sie noch so innig umschließen, die Sphäre des Geistes und die Sphäre der „außenweltlichen Realitäten“ sind durch kein „homogenes“ Band zu vereinigen. Mit dieser Einsicht ist aber zugleich die andere gegeben, daß der p h a n t a s i e r t e Gegenstand andererseits, solange er ein in die Sphäre des Geistes „eingebetteter“ bleibt, solange er nicht durch einen Akt besonderer Art von dem Geiste ab- und in die „andere Welt“ h i n a u s gesetzt wird, nicht z u g l e i c h eine irgendwie e i g e n t l i c h e Stelle in der realen Raumwelt haben kann. Das betreffende Stück „Phantasiewelt“ oder „Vorstellungswelt“ und die „reale Außenwelt“ können sich nur in einer schwer beschreibbaren Weise durchkreuzen, ja die „Weite“ des realen Raumes kann der Phantasiesphäre sogar als Ausbreitungsfeld dienen; aber nie können sie sich eigentlich b e r ü h r e n ; sie sind und bleiben, wenn wir so sagen dürfen, aus völlig heterogenem Stoff. Wie ist nun von hier aus jenes oben herangezogene Beispiel der z w e i t e n Vorstellungsart zu charakterisieren: ich sehe den Bekannten schon „gleichsam“ die Treppe heraufkommen, obwohl ich weiß, daß er tatsächlich noch nicht da draußen ist. Auch hier also besitzt die vorgestellte Gegenständlichkeit als solche keine „Wirklichkeit“ für mich. I n s o f e r n wird also auch hier der Vorgang an die Stelle, wo ich ihn in Vorstellungsweise „sehe“, als nicht eigentlich h i n g e h ö r i g erlebt: ich bin mir bewußt, daß da draußen auf dem Korridor nichts dergleichen vor sich geht; der Korridor ist in Wirklichkeit geschehnisleer. Aber findet sich auch hier ein mir etwa in der Weise jener phantasierten Gestalt „vorschwebender“ Vorstellungsgegenstand? Hat es hier i r g e n d einen Sinn zu sagen, der Vorstellungsgegenstand bringe seine eigene Sphäre mit sich? Ist es auch hier vollkommen irrelevant und gewissermaßen zufällig, in welcher Gegend des „wirklichen“ Raumes das Ganze zur Erscheinung kommt? Und hat dieses Ganze zu dem wirklichen Raum nur jene völlig „uneigentliche“ Beziehung?

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Es gehört doch gewiß nicht nur zu dem speziellen Vorstellungsi n h a l t , daß das vorgestellte Geschehnis sich da draußen auf der Treppe abspielt, sondern auch zu dieser speziellen Vorstellungsa r t , daß ich es, indem ich es vorstelle, d i r e k t da draußen s e h e oder „gleichsam“ sehe. Ich kann auch im erstgenannten Vorstellungstypus mit der Wirklichkeit irgendeines Dinges oder eines Geschehens insofern „spielen“, als ich es an irgendeiner Stelle der realen Raumwelt tatsächlich verwirklicht denke; aber dort wäre ich doch dabei immer nur in jener eigentümlich anschauungsleeren Weise auf diese Raumstelle bezogen, während der anschaulich gegebene Vorstellungsrepräsentant „anderswo“, d.h. „irgendwo“ vor meinem Geist und unabgetrennt von ihm erschiene. Hier dagegen ist mir eben die Raumstelle, an der ich den Gegenstand verwirklicht denke, mit diesem in anschaulicher, wenn auch verdeckt anschaulicher Weise tatsächlich und im „ e i g e n t l i c h s t e n “ Sinne e r f ü l l t . „Erfüllt“ allerdings, ohne daß der Gegenstand dort ein wirkliches Dasein für mich hat, ohne daß er, wie wir oben sagten, dort wirklich „hingehört“. Bei einer solchermaßen durch meinen Geist spontan erzeugten Vorstellung findet aber eben jener A k t d e r A b - u n d H i n a u s s e t z u n g statt, von dem wir schon oben sprachen. Erst durch ihn wird das „Kind meines Geistes“ in ein „Kind der realen Welt“ verwandelt. Natürlich meinen wir mit dieser „Verwandlung“ nicht, daß ich etwa den realen Bekannten kraft meines Geistes tatsächlich dorthin zaubern könnte, oder daß irgendeine Phantasiegestalt durch einen solchen Akt reales Leben zu gewinnen vermöchte; wir meinen aber ebenso nicht, daß ich nun plötzlich an das tatsächliche reale Dasein des vorher „bloß Vorgestellten“ g l a u b e n müßte. Sondern wir haben allein dieses im Auge, daß irgendeine vorstellungsmäßig erzeugte Gegenständlichkeit (falls sie überhaupt ihrer Natur nach in die reale Welt hineingehören k ö n n t e ) durch einen geistigen Akt derart in die Raumwirklichkeit hineinprojiziert werden kann, daß sie ihrer unmittelbaren Vorstellungserscheinung nach genau so „aussieht“, als gehörte sie in der Tat zu den „wirklichen“ Gegenständen. (Natürlich bleibt auch hierbei die Erscheinungsweise stets eine „vorstellungsmäßige“, d.h. eine von „verdeckter Anschausichkeit“; Wahrnehmungsgegenstände kann ich wesenhaft nicht aus meinem Geist heraus- und in die reale Welt hineinprojizieren – Wahrnehmungsgegenstände könnte ich nur „halluzinieren“.) Jener Ausdruck, daß wir mit der Wirklichkeit solcher

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Gegenstände oder solcher Geschehnisse „spielen“ besagt ja als solcher schon, daß wir diesen Vorstellungsgegenständlichkeiten bewußtermaßen nur den „ H a b i t u s “ eines t a t s ä c h l i c h zur realen Wirklichkeit gehörigen Bestandes verleihen. Mehr läßt sich hierüber an dieser Stelle noch nicht sagen. Den Unterschied als solchen, der zwischen einer bloß phantasiemäßig oder bildhaft vorgestellten und einer in der realen Umwelt „gleichsam gesehenen“ Gestalt besteht, obwohl beide keine Realität für mich zu haben brauchen, wird man nicht mehr bestreiten. Wir gehen jetzt zu einem als einen „wirklichen“ vorgestellten Gegenstand über und denken etwa an den bekannten Hausflur selbst mit den in ihm befindlichen Dingen: indem ich in meinem Zimmer bei verschlossener Tür sitze, wandert mein geistiger Blick durch die Tür auf den Hausflur hinaus und geht hier von einem Gegenstand zum andern. Wieder ist hier ähnlich wie oben zu fragen: hat es auch hier einen guten Sinn, davon zu sprechen, daß ich mir von diesem allem „anschauliche Repräsentanten“ insofern verschaffen muß, als ich es allererst in eine für meinen Geist „anschaubare Nähe“ zu bringen gezwungen bin? Gewiß könnte man auch hier von einem für den wirklichen Gegenstand in gewisser Weise „eintretenden“ Vorstellungsrepräsentanten sprechen, als ja die Gegenstände sich nicht wie in der Wahrnehmung in ihrem „leibhaften Selbst“ enthüllen. Aber n u r i n d i e s e m S i n n e . Man kann dagegen nicht sagen, daß wir auch hier die „wirklichen“ Gegenstände in einer anschaulich selbst nicht zu vergegenwärtigenden Ferne zurücklassen und dafür gewissen Repräsentanten eine für ihr Dasein und Sosein ganz zufällige Erscheinungsstelle „da draußen irgendwo“ anweisen, damit die betreffenden Gegenstände ü b e r h a u p t anschaulich erscheinen können. Ein solches anschaulich-geistiges „Heranholen“ ist in diesem Falle gewissermaßen unnötig, da sich die Gegenstände schon an und für sich in einer „erschaubaren Nähe“ befinden: m e i n g e i s t i g e r B l i c k v e r m a g bis zu der ihnen an sich selbst eigenen Wirklichkeitss t e l l e d i r e k t u n d u n m i t t e l b a r h i n z u d r i n g e n . 10 10

Damit ist natürlich nicht gesagt, daß überall, wo „realiter“ diese Möglichkeit vorliegt, wo sich die Gegenstände also in direkt erschaubarer Nähe „befinden“, auch der entsprechende Vorstellungstypus vorhanden sein m ü ß t e . Auch die mich unmittelbar umgebenden Gegenstände kann ich mir in jener „bildhaften“ Weise vor meinem Geist vergegenwärtigen. – Und andererseits besagt jenes, daß die

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Nicht etwa, daß ich hier ebenso wie in der Wahrnehmung ein an der Anschauung gesichertes Wissen von ihrem Dasein und Sosein erhalten könnte, wie es mir gewiß a l l e i n ihr wahrnehmungsmäßiges Hervortreten verschafft; aber wenn ü b e r h a u p t schon als daseiend und soseiend bewußt, können sie hier in eben der unmittelbaren und direkten Weise anschaulich umfaßt werden (natürlich in „vorstellungsmäßiger Anschaulichkeit“) wie jene Wahrnehmungsgegenstände. Diese ganze Sachlage nun bringt es mit sich, daß hier bei einem Übergang von wahrgenommenen zu „bloß“ vorgestellten G e g e n s t ä n d e n jener bei dem ersten Vorstellungstypus so deutlich hervortretende Blickrichtungswechsel in eine total andere Sphäre hinein k e i n e mögliche Stelle hat. Jener nur „repräsentierende“ Vorstellungsgegenstand, der in völlig „uneigentlicher“ Weise in den Raum hineingesetzt erschien, in dem sich die Wahrnehmungsgegenstände befinden, hat eben damit zu diesen und dem wirklichen Raum keinerlei natürliche Beziehung; er verlangt f ü r s i c h gefaßt zu werden und zieht dadurch den Blick notwendigerweise von der sich gerade darbietenden Wahrnehmungssphäre ab. Hier dagegen erscheint der Vorstellungsgegenstand in d e m s e l b e n „realen“ Raum in völlig e i g e n t l i c h e r Weise; er wird genau so als ein in diesem „verwurzelter“ gegenständlich wie die Wahrnehmungsgegenstände; es stellt keinerlei wesentlichen Unterschied dar, ob ich innerhalb meines Zimmers den Blick von einem Gegenstande fort zu einem. andern hinrichte, oder ob der Blick von einem solchen wahrgenommenen Gegenstande hinaus auf den n i c h t w a h r n e h m b a r e n , aber doch u n m i t t e l b a r ü b e r s c h a u b a r e n Korridor wandert. Man kann also zusammenfassend diese beiden Typen möglicher Vorstellung speziell n a c h i h r e r V o r s t e l l u n g s b e z i e h u n g z u e i n e m „ w i r k l i c h e n “ G e g e n s t a n d folgendermaßen unterscheiden: 1. Der vorgestellte und in der Vorstellung als ein wirklicher gehabte Gegenstand wird für den geistigen Blick durch einen „ a n s c h a u l i c h e n Gegenstände in erschaubarer Nähe sein müssen, damit dieser „zweite“ Vorstellungstypus sich überhaupt realisieren kann, selbstverständlich n u r , daß sie sich – im Erlebnis selbst – phänomenal oder für mein Bewußtsein dort befinden müssen. Ihre r e a l e Selbstgegenwart dort ist natürlich für die Konstitution des Phänomens ganz irrelevant. So kann ich etwa vorstellungsmäßig einen Stuhl noch auf dem Korridor stehen „sehen“, der ohne mein Wissen fortgenommen wurde.

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R e p r ä s e n t a n t e n “ sichtbar gemacht, der ev. in einer schwer bestimmbaren Gegend der Raumwirklichkeit in völlig u n e i g e n t l i c h e r ( „ s c h w e b e n d e r “ ) Weise erscheint. 2. Der vorgestellte und in der Vorstellung als ein wirklicher gehabte Gegenstand steckt s e l b s t in dem unmittelbar anschaulichen Vorstellungsinhalt darin: der geistige Blick reicht bis zu dessen e i g e n e r Wirklichkeitsstelle hin und umfaßt ihn in „sehender“ Weise ebendort. Von diesen b e i d e n Vorstellungstypen bleibt die W a h r n e h m u n g dadurch streng unterschieden, daß bei ihr der Blick n i c h t n u r bis an den Gegenstand und seine ihm eigene Wirklichkeitsstelle direkt und unmittelbar hinreicht, sondern daß in ihr dieser Gegenstand zu „ u n v e r h ü l l t e m S e l b s t h e r v o r t r e t e n “ gelangt. Hiermit ist unsere Analyse zu einem entscheidenden Punkt gekommen: denn da sich die beiden Vorstellungstypen mit Rücksicht auf ihre Vorstellungsbeziehung zu einem vermeinten „ w i r k l i c h e n “ Gegenstand nur dadurch u n t e r s c h e i d e n lassen, daß in dem einen Typus von einem die anschauliche Gegenwart des wirklichen Gegenstandes ersetzenden „anschaulichen Repräsentanten“ n i c h t die Rede sein kann, sondern im Gegenteil der vorstellende Blick an den wirklichen Gegenstand selbst und direkt hinreicht, so wird es damit natürlich unmöglich, das mit einer Vorstellung möglicherweise verknüpfte Wirklichkeitsbewußtsein auch weiterhin schlechtweg mit der Rede decken zu wollen, es könne sich dabei um nichts weiter handeln, als um ein bloßes Phantasma, verbunden mit dem Bewußtsein möglicher Wahrnehmung. Da es sich im zweiten Vorstellungstypus um ein Wirklichkeitsbewußtsein handelt, das einerseits n i c h t an eine „Empfindung“, um in positivistischer Sprache zu reden, anknüpft, also an einen „unverhüllt“ hervortretenden Wahrnehmungsgegenstand, andererseits aber a u c h n i c h t an ein bloßes „Phantasma“, also an einen anschaulichen Repräsentanten, so kann zum mindesten Wirklichkeitsbewußtsein nicht einfach mehr mit dem „Empfindungserlebnis“ g l e i c h g e s e t z t und das Wirklichkeitsbewußtsein der Vorstellung mit jenem d a s „ P h a n t a s m a “ z u H i l f e n e h m e n d e n S u r r o g a t erlebnis abgefertigt werden. Hier haben wir eben den Fall vor uns, bei dem es sich einerseits nicht um eine „repräsentative Funktion“ des unmittelbar gegenwärtigen Vorstellungsgegenstandes handelt und d i e s e r a n d e r e r -

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seits doch als ein „realer“ im echten und eigentlichen Sinne vor mir steht. Wenn aber an einer Stelle jene positivistische Theorie so wenig ausreicht, ja an einem Punkt der schlicht aufgenommene Tatbestand geradezu das G e g e n t e i l von dem aufweist, was jene Theorie dogmatisch voraussetzt, so muß sich gewiß die Forderung erheben, das Problem des Wirklichkeitsbewußtseins überhaupt neu anzugreifen. ___________________

Nicht allein aber, um in möglichst einleuchtender Weise die Unzulänglichkeit der gekennzeichneten positivistischen Theorie zu zeigen, ist jene Untersuchung durchgeführt worden, sondern auch, um gewisse Phänomene sichtbar zu machen, die uns dem G e s a m t p h ä n o m e n e i n e r „ r e a l e n A u ß e n w e l t “ , wie es dem „natürlichen Bewußtsein“ immanent ist, näher führen sollen. Wir knüpfen zur weiteren Klärung an gewisse noch dunkle Punkte der bisherigen Betrachtung an, mit deren Aufhellung zugleich auch der eigentliche Gegensatz jener beiden Vorstellungstypen, der bisher nur nach ihrem verschiedenen Verhältnis zu einem in ihnen gefaßten „wirklichen“ Gegenstand fixiert wurde, an sich selbst noch deutlicher heraustreten wird. Wir richten unseren Blick zuerst auf das, was mit dem Ausdruck „erschaubare Nähe“ in vorläufiger Weise gedeckt wurde: so schien uns das eine Mal der vorgestellte „wirkliche“ Gegenstand an der Hand eines „anschaulichen Repräsentanten“ zu einer „erschaubaren Nähe“ herangezogen zu sein, das andere Mal dagegen konnte der Blick das betreffende Wirklichkeitsbereich, in dem sich der vorgestellte Gegenstand der Meinung nach an sich selbst befindet, direkt ü b e r s c h a u e n , weil sich der vorgestellte „wirkliche“ Gegenstand s c h o n a n s i c h s e l b s t in einer „erschaubaren Nähe“ befindet. Es muß also offenbar eine v o n d e r j e w e i l i g e n W a h r n e h mungs- resp. Vorstellungsposition aus jeweilig direkt „ ü b e r s c h a u b a r e S p h ä r e “ geben, die aber natürlich, da es sich ja gerade um „bloß“ vorgestellte Gegenstände handelt, mit dem eigentlichen W a h r n e h m u n g s b e r e i c h n i c h t zusammenfallen kann. Weiterhin – und das ist der z w e i t e noch ungeklärte Punkt erhielt dasjenige, was als ein in dieser Sphäre in e i g e n t l i c h e r Weise „Verwurzeltes“ erschien – sei es auch nur als ein im Vorstellungsspiel

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dorthin Versetztes, also nicht tatsächlich dorthin G e h ö r i g e s – einen gewissen anschaulichen „Wirklichkeitscharakter“ oder auch „Wirklichkeitsanschein“, dessen erlebtes Vorhandensein natürlich nicht mit dem eigentlichen Wirklichkeitsbewußtsein verwechselt werden darf: die mit dem „Wirklichkeitsanschein“ versehenen Gegenstände erhalten damit, wie wir uns ausdrückten, den äußeren „Habitus“ der „wirklichen“ Gegenstände, während, so fügen wir hier hinzu, ein in jener „vorschwebenden“ Weise erscheinender Vorstellungsgegenstand gerade umgekehrt die ihm an sich selbst eigene „Unwirklichkeit“ an sich trägt (d. h. natürlich, wo es sich um einen bildhaften Repräsentanten handelt, nur die dem R e p r ä s e n t a n t e n an sich selbst eigene; der r e p r ä s e n t i e r t e Gegenstand wird ja in diesem Fall gerade als ein „wirklicher“ gehabt). Nur diese Sachlage ermöglicht im ersteren Fall jenes eigentümliche „ S p i e l e n “ mit der W i r k l i c h k e i t eines Gegenstandes. Aber so wenig uns bisher das, was die sog. „überschaubare Sphäre“ an sich selbst ist, wirklich deutlich wurde, so wenig auch ihre nach allem offenbar enge phänomenale Beziehung zur „realen Welt“. Neben die Frage nach der „überschaubaren Sphäre“ tritt die Frage nach der über das jeweilige Wahrnehmungsbereich hinausreichenden „Raumwirklichkeit“. Fassen wir zunächst noch einmal den Fall ins Auge, wo in einer uns bekannten Gegend die Gegenstandswelt hinter unserm Rücken und über das vor uns Wahrnehmbare hinaus zwar nicht selbst auch „wahrgenommen“, aber doch direkt „erschaut“ wird. Hier war es das Charakteristische, daß diese sich etwa hinter meinem Rücken befindlichen Gegenständlichkeiten nicht irgendwo und irgendwie vor meinem geistigen Blick „schweben“, sondern daß sie in eben der Sphäre „bodenständig“ sind wie ich als dieses reale leiblich-seelische Individuum selber und mit mir die Wahrnehmungsgegenstände. Mein Blick bleibt, wenn er von den letzteren zu den ersteren gleitet, in einer und derselben „Anschauungsebene“. Indem er von dem Wahrnehmungsbereich zum Vorstellungsbereich übergeht, findet nicht ein die Anschauungssphäre betreffendes „Abbrechen“ irgendwelcher Art statt – wie es offensichtlich statthatte beim Übergang von wahrgenommenen Gegenständen zu etwas „Vorgestelltem“ vom ersten Typus. Ein gleiches, in sich kontinuierliches Anschauungsmedium verbindet meine Wahrnehmungsposition mit den solcherweise vorstellungsmäßig direkt erschaubaren Gegenständen. Indem der Blick i n diesem

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in immer gleicher Weise fortwandert, besteht für ihn ein Übergang nur insofern, als die mit „unverdeckter Anschaulichkeit“ gegebenen Gegenstände denen mit „verdeckter Anschaulichkeit“ gegebenen weichen. Nehmen wir jetzt einen Fall, bei dem irgendein Dasein und Sosein gerade nicht wahrgenommener Gegenstände u n b e k a n n t ist, solche Gegenstände also – falls es nicht bewußtermaßen „bloß“ phantasierte sind – auch nicht irgendwie in der angegebenen Weise anschaulich m i t den Wahrnehmungsgegenständen umfaßte sein können: so denke man sich etwa in eine völlig fremde Gegend versetzt. Dann haben wir trotz des Bewußtseins der gewissen anschaulichen „Leere“ hinter uns doch das offenbare „Gefühl“, daß es „hinter uns weiter geht“, resp. daß der irgendwie erfüllte Raum weitergeht. Nicht, daß wir dieses nur als eine erfahrungsgemäße Tatsache w ü ß t e n oder e r s c h l ö s s e n oder auch das wahrnehmungsgemäße Erscheinen des Raumes bei einem Umwenden e r w a r t e t e n , auch nicht, daß es uns nur in der Art einer „Wesenseinsicht“ a priori feststünde, sondern wir „ s e h e n “ den Raum weitergehen. Oder besser noch läßt sich dieser Tatbestand in negativer Weise folgendermaßen ausdrücken: d a s a n s c h a u l i c h e Haben einer Raumsphäre, in der ich mich befinde, bricht nicht mit dem Aufhören der Wahrnehmungssphäre p l ö t z l i c h a b . Wie weit diese Raumanschauung reicht, wie sie weiterhin aussieht, womit und wodurch sie endigt, das alles ist zunächst gleichgültig; nur, daß sie nicht an der bezeichneten Stelle a b b r i c h t , ist das hier Wichtige. Die gemeinte Sachlage wird ebenfalls deutlich, wenn wir den Fall setzen, daß wir uns in jener fremden Gegend u m w e n d e n : dann sind die jetzt neu wahrnehmbaren Gegenstände nicht „so plötzlich“ ohne irgendwelche anschauliche Beziehung zu den vorher schon wahrgenommenen jetzt neben diesen „auch noch da“; sondern die schon vorher über die Wahrnehmungssphäre hinaus anschaulich mitgegebene, obwohl in eigentümlicher Weise inhaltsleere Raumwirklichkeit f ü l l t sich mit ihnen. Nicht hat sich ein bloßes „Anschauungsnichts“ in ein anschauliches Etwas oder vielmehr viele „Etwasse“ verwandelt, sondern was vorher anschaulich „leer“ war, wird jetzt anschaulich gefüllt. Genau derselbe Sachverhalt liegt natürlich vor, wenn sich mir durch ein Weiterschreiten immer neue und neue Stücke der „Raumwelt“

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wahrnehmungsmäßig eröffnen. Überall bin ich, falls ich überhaupt in die Außenwelt hineingerichtet bin, mit meiner Anschauung schon ein Stück über die Grenzen des eigentlichen Wahrnehmungsbereiches hinaus. Diese für die reale Erlebnissituation stets oder normalerweise, in geringerem oder weiterem Umfange (es kommt wie leicht ersichtlich, auf genaue Bestimmungen hierüber an dieser Stelle nicht an; sie wären Aufgabe experimentalpsychologischer Untersuchungen) anschaulich noch mitgefaßten, wahrnehmungstranszendenten Raumweltstücke runden sich nun bei einer bewußten Reflexion auf sie zu einer eigenartigen Sphäre von beträchtlicher Größe ab, die – um meine reale Raumposition herumgeordnet eben durch jene für meinen geistigen Blick unmittelbare Ü b e r s c h a u b a r k e i t ausgezeichnet ist, und die das jeweilige Wahrnehmungsfeld (bei geschlossenen Augen ist dieses = 0) als ein in besonderer Weise ausgezeichnetes Stück i n s i c h enthält. Der oben hervorgehobene Tatbestand, daß einzelne, als solche mir schon bekannte Gegenständlichkeiten von mir in direkter Weise erschaut werden können, ehe ich sie wahrnehme, bestimmt sich jetzt näher dahin, daß alses, was sich in diesem von meiner Wahrnehmungsposition aus a n u n d f ü r s i c h überschaubaren Stück der „Raumwelt“ befindet (und in seinem Dasein und Sosein als solches gewußt wird), s e l b s t direkt und unmittelbar erschaubar ist. In einem solchen Fall füllt sich bei einem Weiterschreiten durch die Raumwelt nicht ein vorher inhaltleeres, aber selbst anschaulich gegebenes Raumstück mit vorher noch unbekannten und damit auch selbstverständlich ungeschauten Gegenständlichkeiten, sondern was zunächst mit „verdeckter Anschaulichkeit“ in der unmittelbaren Fortsetzung eben der Raumwelt „erschaut“ wurde, in der ich mich als Wahrnehmender mit den wahrgenommenen Gegenständen befinde, tritt jetzt mit „unverdeckter Anschaulichkeit“ hervor. Aber noch immer ist die Frage offen geblieben, was dieser „überschaubaren Sphäre“ eine Grenze setzt; denn eine solche muß offenbar vorhanden sein, wenn jener Gegensatz von „erschaubarer Nähe“ und „nicht erschaubarer Ferne“ seinen Grund im Phänomen finden soll. Und zweitens ist jetzt wiederum nach ihrer Beziehung zur „realen Welt“ als solcher zu fragen. Das Erstere wird in unmittelbarem Anschluß an das Zweite beantwortet werden können. Daß das Realitätsbewußtsein im echten und originären Sinne nicht

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schlechthin zusammenfällt mit dem Erlebnis, etwas wahrzunehmen, trat hervor. Man könnte aber im Anschluß an unsere Ausführungen fragen, ob nicht „Wirklichkeit“ nunmehr als identisch anzusetzen sei mit dem Wahrnehmbaren p l u s dem in jener gekennzeichneten Weise noch über dieses hinaus direkt Erschaubaren, sodaß der Fehler jener positivistischen Theorie nur darin bestünde, daß sie eine zu e n g e Sphäre aufgegriffen habe. Jenes: eine gewisse um die Wahrnehmungsposition herumgeordnete Sphäre – sei es in wahrnehmungsmäßiger, sei es in vorstellungsmäßiger Anschaulichkeit direkt überschauen zu können und damit die in ihr zu überschauenden Gegenständlichkeiten als realiter existierende zu haben, wäre ein in seiner Eigenart nicht weiter aufzuklärendes „Urerlebnis“, genau so wie für den Positivismus dieses: Wahrnehmungsinhalte haben und sie als realiter existierende fassen eine letzte und als solche eben schlechthin anzuerkennende „psychologische Urtatsache“ ist. Doch jene Auffassung wäre nicht minder unrichtig und prinzipiell genommen nicht minder „positivistisch“ als die letztere; und zwar darum, weil in ihr etwas wesenhaft Eigenartiges (eben das Wirklichkeitsbewußtsein) um einer vermeintlichen Identität mit einer anderen Sache willen (einen gewissen Abschnitt der realen Welt in jener direkten Weise überschauen zu können) unterschlagen würde. (Solcherlei Identitätssetzungen werden zudem in den positivistischen Theorien nie eigentlich ernst genommen und dort, wo die Tatsachen dazu zwingen, wiederum in ein allerdings stets Hand in Hand gehendes Z w e i e r l e i aufgelöst, ohne daß dieses je dahin führte, nunmehr jedes für sich in seiner Eigenart zu untersuchen und herauszustellen.) „Positivistisch“ auch darum, weil man bei einem Punkt als einer „eben hinzunehmenden Urtatsache“ stehenbliebe, die doch schon für einen geringen Einblick in die Sachlage noch dringend einer Aufklärung bedarf. So wenig Wirklichkeitsbewußtsein identisch ist mit dem Wahrnehmungserlebnis, so wenig ist es auch identisch mit dem gekennzeichneten Anschauungserlebnis überhaupt. Übrigens trifft ja nicht einmal die hier stets gemachte Voraussetzung zu, daß Wirklichkeitsbewußtsein mit dem Wahrnehmungserlebnis einerseits, mit dem gekennzeichneten Anschauungserlebnis andererseits unabtrennbar verbunden sei; so kann mir auch in einer Vorstellung vom ersten Typus ein realer Gegenstand als realer unmittelbar gegenwärtig (wiewohl nicht unmittelbar a n s c h a u l i c h gegenwärtig) sein, wenn auch diese Tatsache

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vom „Positivismus“ um eben jener “Identifikation” willen bestritten wird. Andererseits sahen wir ebenfalls, daß ich etwas nur spielenderweise in die direkt zu überschauende Raumsphäre hineinsetzen und ihm damit einen gewissen „Wirklichkeitshabitus“ verleihen kann, wobei von einem „Wirklichkeitsbewußtsein“ im eigentlichen Sinne gar keine Rede ist. Allerdings scheint die unmittelbar überschaubare Sphäre s e l b s t in einer wenigstens für das natürliche Bewußtsein unaufhebbaren Weise als eine zur realen Welt gehörige charakterisiert zu sein. Aber eben nur als eine z u ihr g e h ö r i g e ; nicht aber sind der realen Sphäre selbst mit der „überschaubaren“ schon die Grenzen gesetzt. Im ersten Vorstellungstypus z.B. kann der als wirklich existierend gehabte Gegenstand wohl als ein zur realen Welt überhaupt zugehöriger gefaßt sein, ohne daß er der „überschaubaren Sphäre“ anzugehören braucht; irgendwo dahinten ist er, wohin ich in direkter Schauung nicht mehr zu reichen vermag. Wir haben jetzt zwei Sonderfragen: 1. die eigentliche Hauptfrage, deren Beantwortung wir zwar durch die bisherigen Analysen nahegebracht worden sind, die aber doch als solche schließlich ganz direkt angegriffen werden muß: was liegt dem Bewußtsein sachlich zugrunde, s i c h i n e i n e r „ w i r k l i c h e n W e l t “ z u befinden, oder: sich einer „realen Außenwelt“ gegenüber z u b e f i n d e n . Und 2. in welchem phänomenalen Verhältnis steht die „überschaubare Sphäre“ zur „realen Außenwelt“ überhaupt? Oben war hervorgetreten, daß der Positivismus gegenüber einem falschen sog. „Idealismus“ die nicht aufhebbare „ A u ß e n s t e l l u n g “ der Wahrnehmungsinhalte gegenüber dem „Ich“ betont, und andererseits hervorhebt, daß diese Wahrnehmungsinhalte auf den Ichleib stets räumlich orientiert sind. Wie verhält sich nun dieser Tatbestand zu dem Bewußtsein, sich in einer „realen Außenwelt“ zu befinden? Jene „ A u ß e n s t e l l u n g “ impliziert zunächst, wie wir oben schon erwähnten, daß alle Theorien, nach denen die sog. „Außenwelt“ z u n ä c h s t i m Kopfe, resp. i m Gehirn des sie wahrnehmenden und vorstellenden Individuums ersteht, um dann auf irgendeine wunderbare Weise an die ihr phänomenal zukommende Stelle „hinausprojiziert“ zu werden, w i d e r s i n n i g und a b s u r d sind. Wir betonten das ausgesprochene Verdienst des Positivismus nach dieser Richtung. Dann aber deutet diese „Außenstellung“ auf etwas für die phänomenale

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Sachlage selbst weit Wesentlicheres hin, nämlich darauf, daß eine gewisse Gruppe von „Bewußtseinsinhalten“ in einer deutlichen und unaufhebbaren G e g e n ü b e r stellung zum Geist oder zum Bewußtsein erscheint und damit in einem ausgesprochenen phänomenalen Gegens a t z steht zu der anderen Gruppe von „Bewußtseinsinhalten“, die eben wirkliche „ I n h a l t e “ sind, denen also das reale Bewußtsein nicht wie jenen „ g e g e n ü b e r s t e h t “ , sondern die es i n sich selbst und m i t sich selbst, d. h. an seiner eigenen, realen Ursprungsstätte vorfindet. Die ersteren sind die „a u ß e n weltlichen“ oder die „physischen“ Gegebenheiten, die zweiten die „ i n n e n weltlichen“, wenn wir so sagen dürfen, oder die psychischen Gegebenheiten, oder, wie sich der Positivismus auch auszudrücken liebt: das erste sind die „objektiven“, das zweite die „subjektiven“ Bewußtseinsinhalte. (Vgl. hierzu wiederum S c h u p p e ; weiterhin L a a s mit seinem „Subjekt-Objektivismus“ und seiner durchaus berechtigten Polemik bezüglich dieses Punktes gegenüber H u m e , der beispielsweise den deutlichen phänomenalen Unterschied zwischen der Erscheinungsstelle einer Schmerzempfindung und einer Farbe vollkommen verkennt.) Die neueren Positivisten haben hier wieder den sehr wertvollen Schritt getan, den Gegensatz von „objektiv“ und „subjektiv“ oder auch von „ a u ß e n “ und „ i n n e n “ ein für allemal abzutrennen von dem ganz anderen Gegensatz zwischen Inhalten, die „ a u f d a s B e w u ß t s e i n r e l a t i v “ sind und solchen, die von dem Bewußtsein „ s e i n s u n a b h ä n g i g “ sind. Wenn etwas der Erscheinung nach eine A u ß e n - oder G e g e n ü b e r stellung oder auch eine „ o b j e k t i v e “ Stellung hat, kann es darum doch seinem Dasein nach „auf das Bewußtsein relativ“ sein, also in d i e s e m nunmehr fixierten Sinne doch „ B e w u ß t s e i n s i n h a l t “ sein.11 11

Die Gegensetzung von „Außenstellung“ gegenüber dem Geist und „Innenstellung“ birgt natürlich als solche noch mannigfaltige, sehr komplizierte und verschlungene phänomenologische Probleme in sich, wie uns eines schon oben entgegentrat, als wir auf die verschiedenen Möglichkeiten der „Richtungswendung“ hinwiesen, die ein „außenweltliche“ Gegenständlichkeiten v o r s t e l l e n d e r Geist einschlägt. Aber es ist hier nicht die Stelle, uns mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, da eben, wie wir im Text gleich näher sehen werden, eine „Außenstellung“ der Erscheinung nach noch keine a u ß e n w e l t l i c h e Stellung dem Dasein nach darstellt; nur dieses letztere Phänomen aber interessiert uns hier. Wir werden

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Für den Positivisten ist nun aber weiter die „Außenwelt“ als solche schon dadurch genügend charakterisiert, daß sie diese „Außen“ oder Gegenüberstellung hat; ein „bewußtseinsunabhängiges“ Sein erscheint ihm als solches widersinnig. Die r e a l e n außenweltlichen Bestände heben sich andererseits von den n i c h t realen – falls diese Ausdrucksweise überhaupt irgendeinen Sinn haben soll – durch ihr „ e m p f i n d u n g s mäßiges“ Auftreten ab; dasjenige, was in der erwähnten „Gegenüberstellung“ als eine „Empfindung“ gegeben ist, ist ein sog. „Wirkliches“, dasjenige, was in dieser als ein „Phantasma“ oder als eine bloße Vorstellung gegeben ist, ist ein sog. Nichtwirkliches. Wir sahen, daß diese letzteren Bestimmungen in keinem Sinne zureichende sind, da auch bei einem in der Weise einer „bloßen Vorstellung“ Erscheinenden das Wirklichkeitsbewußtsein im echten und ursprünglichen Sinne, d.h. d i r e k t und u n m i t t e l b a r a n das Erscheinende geknüpft, vorhanden sein kann, wie übrigens umgekehrt eine wahrnehmungsmäßige Gegebenheit zuweilen als ein N i c h t reales für mich dastehen kann (wie in der b e w u ß t e n Halluzination).12 Wir sehen damit, daß zu jener „Außenstellung“, die sich auf die bloße E r s c h e i n u n g s s t e l l e des Gegebenen bezieht, etwas a n d e r e s hinzutreten muß als der Gegensatz wahrnehmungsmäßigen und vorstellungsmäßigen Erscheinens, um den anderen Gegensatz von einem da draußen erscheinenden „ R e a l e n “ und einem da draußen erscheinenden „ N i c h t r e a l e n “ hervorzubringen. Es wird uns zugleich durch die Klärung dieser Sachlage deutlich werden, daß der Ausdruck „ A u ß e n welt“ schon als solcher einen weit volleren und prägnanteren Sinn hat, als ihm in dieser Theorie verliehen worden ist, daß er schon in übrigens an einer späteren Stelle dieser Arbeit, wo wir von „äußerer“ und „innerer“ Wahrnehmung sprechen, noch auf die eben angedeutete Problematik zurückkommen. 12 Mit diesem letzteren Fall setzt sich auch der „Positivismus“ in mannigfacher Weise auseinander, wie z.B. M a c h (A. d. E. 1. Kap.) Traum und Halluzination u. dgl. nur in dem Sinne als „nichtwirklich“ gelten lassen will, als sie „außergewöhnliche“ Empfindungszusammenhänge gegenüber den „gewöhnlichen“ darstellen. Wie verkehrt speziell diese Auffassung ist, werden wir im 2. Teil dieser Arbeit in eingehender Weise zeigen. Das im Text unmittelbar Folgende bereitet schon auf dieses alles vor.

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sich selbst auf das hindeutet, was ein in Gegenüber- oder Außenstellung Erscheinendes zu einem „Realen“ macht; denn dem in Außenstellung Erscheinenden, das Reales und Nichtreales in g l e i c h e r Weise umfaßt, tritt das „ D r a u ß e n s e i e n d e “ oder das „ A u ß e n w e l t l i c h e “ gegenüber, das als solches eben ein Reales i s t (wenn auch natürlich nicht jedes „Reale“ ein „Außenweltliches“ zu sein braucht). Dieses Phänomen aber der wahren „Außenweltlichkeit“ ist vom Positivismus da, wo nicht vollständig unterschlagen, doch als ein in sich nicht einstimmiges, also nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch sachlich nicht haltbares abgeleugnet worden. Unsere vorigen Analysen machen es uns leicht, einige nunmehr zu beantwortende prägnante Fragen zu formulieren: Worin besteht eigentlich dasjenige, was ein mit der R e a l i t ä t e i n e r G e g e n s t ä n d l i c h k e i t s p i e l e n d e r G e i s t eben dieser Gegenständlichkeit zukommen lassen will (in einer gewissen Art bewußter Selbsttäuschung), und das daher für diesen Geist eben das wesentlich Charakteristische einer „außenweltlichen Realität“ ausmachen muß. Oder: was ist es, was er solchen Gegenständlichkeiten, wenn er ihnen zwar den entsprechenden „ H a b i t u s “ aufzuzwingen vermag, doch „ i m E r n s t “ nie verleihen kann. Oder: was ist es, was den Vorstellungen vom ersten Typus nicht einmal diesen „Habitus“ zuzuerkennen gestattet, das also offenbar i n d i r e k t e m G e g e n s a t z zu demjenigen steht, was eine „außenweltliche Realität“ zu einer solchen macht. Der Beantwortung dieser letzteren Frage nun sind wir in der Tat schon sehr nahe gewesen, als wir darauf hinwiesen, daß es eines gewissen „ A k t e s d e r H i n a u s - u n d A b s e t z u n g “ bedürfe, um der vorgestellten Gegenständlichkeit diesen „Habitus“ zu verleihen, und daß es andererseits eben das vor allem Charakteristische des e r s t e n Vorstellungstypus sei, daß das Vorgestellte als solches hier ein „ i m “ Geist „Eingebettetes“ oder auch stets von ihm noch „Getragenes“, „Gehaltenes“ und „Gestütztes“ bleibt. Was will nun der Geist durch einen solchen Akt der „Hinaussetzung“ anderes erreichen, als vor sich selber die Vorstellung zu erwecken, als ob die betreffende Gegenständlichkeit ein von ihm (dem Geist) l o s g e l ö s t e s , e i g e n - und s e l b s t s t ä n d i g e s Dasein hätte, und daß sie ihm (dem Geist) gewissermaßen nur z u f ä l l i g gerade „vor Augen“ tritt, im übrigen aber ihrem Dasein und Sosein nach dem Dasein

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und Tun des Geistes gegenüber völlig a u t o n o m sei. Wir sehen dies außerordentlich deutlich an der eigenartigen D o p p e l n a t u r der hier vorliegenden Sachlage; daran, wie der Geist gleichsam „unter der Hand“ und „verdecktermaßen“ doch wiederum das fortwährend tun muß, was als Ganzes auszuschalten gerade seine fortwährende Vorstellungsbemühung ist, nämlich daß er eine solche Gegenständlichkeit in der ihr nur äußerlichen und aufgezwungenen Rolle der „außenweltlichen Realität“ u n u n t e r b r o c h e n z u h a l t e n u n d z u f i x i e r e n g e z w u n g e n i s t . Eine geringe Haltungswendung des Geistes muß für eben diesen, der sich „im Grunde“ der tatsächlichen Unwirklichkeit der betreffenden Gegenständlichkeit bewußt bleibt, das mühsam erreichte Vorstellungsresultat wieder vernichten: sobald er im geringsten Maße von seiner Bemühung abläßt, d.h. sich die Sache selbst vorzuspielen aufhört, wird auch die vorgestellte Gegenständlichkeit im unmittelbaren Anschluß an diese Haltungswendung des Geistes – um ein drastisches Bild zu gebrauchen – „wiederum in die Luft gehen“; sie wird, wenn sie nicht aus dem geistigen Blickfeld überhaupt verschwindet, wieder jene ihrer Unwirklichkeit im Grunde einzig angemessene Erscheinungsweise annehmen – als eine dem Geist „vorschwebende“ und von ihm „getragene“. Übrigens gibt es neben diesem Fall des bewußten Spiels oder der halbverdeckten Selbsttäuschung auch in dieser Sphäre der v o r s t e l l u n g s m ä ß i g e n Anschauung etwas der echten, wiewohl durchschauten Halluzination ganz Analoges, nämlich einen Erlebniszustand, bei dem ich gewissermaßen n i c h t a n d e r s k a n n , als irgend eine Gegenständlichkeit in meiner (nicht mehr wahrnehmungsmäßig gegebenen) Umgebung zu „sehen“ (so zu sehen, wie ich die hinter meinem Rücken befindlichen und mir bekannten Dinge sehen kann), o b w o h l ich das ausgesprochene Bewußtsein der U n w i r k l i c h k e i t eben dieser Gegenständlichkeit habe. Hier liegt es nicht so, daß ich b e m ü h t bin und fortwährend bemüht bleiben muß, der Gegenständlichkeit ihre, wie ich weiß, unechte Rolle zu bewahren, sondern sie selbst scheint mich zu z w i n g e n , sie in einer solchen Weise vor mir zu haben. Aber selbst auch diese, der andern scheinbar gerade entgegengesetzte Sachlage bestätigt dasjenige, worauf wir hinauswollen. Denn besteht nicht unser Unglaube an die tatsächliche Realität dieser Gegenständlichkeit gerade wieder in dem Bewußtsein, daß

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ihre mir sich aufzwingende S e l b s t h e r r l i c h k e i t s r o l l e nur eine u n e c h t e und t ä u s c h e n d e ist, d. h. daß da draußen „im Grunde“ gar nichts ist, was s e i n s u n a b h ä n g i g v o n m e i n e m e i g n e n D a s e i n besteht und sich damit in dieser Weise von sich aus, von seiner eignen außenweltlichen S t e l l u n g aus mir aufdrängen könnte? Ist nicht das „S e i n s b a n d “, das das Dasein dieser mir erscheinenden Gegenständlichkeit mit meinem Dasein unabtrennbarverbindet, nur ein noch mehr und in einer anderen Weise v e r d e c k t e s ? Während es in dem vorhergehenden Fall ein „Versteckspielen“ des Geistes mit sich selbst war, liegt hier die Seinsabhängigkeit des Erscheinenden von demjenigen, dem es erscheint, überhaupt nicht mehr auf der Oberfläche des Erscheinungszusammenhanges; aber das Bewußtsein der tatsächlichen Unwirklichkeit besteht doch eben darin, daß diese Seinsabhängigkeit t r o t z d e m sagen wir vorläufig „in einer tieferen Schicht“ v o r h a n d e n ist. Neben diese beiden möglichen phänomenalen Sachlagen stelle man jetzt noch einmal den Fall einer „bloß phantasierten“ Gestalt vom ersten Vorstellungstypus und beachte, wie hier jenes Band der Seinsabhängigkeit vom Geiste (das in dem Fall des Spielens mit der Realität einer Gegenständlichkeit möglichst verdeckt und nur „unter der Hand“ mitgegeben auftrat und im Fall der „Halluzination“ ein überhaupt nur im Unglauben als solchem bewußtes, dagegen gar nicht erscheinungsmäßig sichtbares war) f r e i s i c h t b a r daliegt und in seinem erscheinungsmäßigen Vorhandensein den ganzen Vorstellungstypus als solchen charakterisiert. Hier ist, kurz gesagt, die Seins u n selbstständigkeit des Erscheinenden zu einer unverdeckt sichtbaren geworden. Man wende jetzt natürlich nicht ein (dieser Punkt hat oft zur Verwirrung der vorliegenden Sachlage beigetragen), daß ja gerade solche Phantasiegestaltungen, seien sie nun „spontan erzeugt“ oder nicht, sich unserm Geist gewissermaßen aufzwingen können, ihn zuweilen belagern, verfolgen und belästigen. Denn das, was hier mein geistiges Blickfeld belagert, sind eben solche s i c h t b a r l i c h s e i n s u n s e l b s t ä n d i g e n Existenzen. Der Tatbestand, daß ich diese sich mir w i d e r m e i n e n W i l l e n aufdrängenden Vorstellungen nicht aus meinem B l i c k f e l d f o r t s c h i e b e n kann, steht in ganz und gar keinem Gegensatz zu dem Tatbestand, daß sie sichtbarlich von meinem Geist abhängige sind, daß sie – sichtbarlich – ihr Dasein der Gegenwart meines Geistes verdanken.

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Andererseits aber kann gerade die b e s o n d e r e A r t ihres tatsächlich stattfindenden „Entschwindens“ (sei es, daß es mir gelingt, die sich Aufdrängenden fortzutreiben, sei es, daß sie durch andere „Erscheinungen“ abgelöst werden, sei es, daß sie „von sich aus“ dem Blickfeld entgleiten) ein volles Licht auf ihre wesenhafte Seinseigenart gegenüber wahrhaften „außenweltlichen Realitäten“ werfen: man beachte nämlich das a u s g e p r ä g t e B e w u ß t s e i n , daß sie in dem Augenblick, wo sie mein momentanes Blickfeld verlassen, damit zugleich f ü r mein Bewußtsein gewissermaßen i n s i c h s e l b s t z u s a m m e n s i n k e n ; der Tatbestand, daß sie nicht mehr für meinen realen Geist da sind, macht sie als solche überhaupt „zunichte“, o d e r v e r n i c h t e t d o c h i h r D a s e i n a n g e r a d e d i e s e r r e a l e n E r s c h e i n u n g s s t e l l e . 13 13

Bei einem weiteren phänomenologischen Nachforschen tauchen allerdings gerade an diesem Punkte wiederum die merkwürdigsten Probleme auf, die darin wurzeln, daß auch diesen sog. „bloßen Phantasiegestaltungen“ ein ihnen spezifisch eignes „Dasein“ oder „Sein“ zugesprochen werden muß, das von ihrem Erscheinen vor einem realen Einzelgeist v ö l l i g u n a b h ä n g i g ist und doch auch k e i n „ r e a l e s “ i s t . So ist es gewiß d a s s e l b e „Rotkäppchen“ und derselbe „Zeus“ (und zwar sind es „dieselben“ in einem über die bloße Identität des gegenständlichen Inhalts hinausgehenden Sinne). die wir uns alle vor unsern geistigen Blick zaubern können. Dieser Tatbestand zeigt aber, daß wir mit unsern Ausführungen das Problem der „Realität“ als solches noch nicht in Angriff genommen haben, sondern n u r dieses eine Teilproblem, wie sich i n n e r h a l b d e r r e a l e n S p h ä r e ü b e r h a u p t der außenweltliche Realbestand von einem „ b l o ß e n E r s c h e i n u n g s b e s t a n d “ abhebt. I n n e r h a l b der realen Sphäre überhaupt: denn der „bloße Erscheinungsbestand“ nimmt ja als solcher in gewisser Weise a n der realen Welt t e i l ; er „erscheint“ i n ihr; er taucht in ihr auf. Aber er besitzt, seiner eigentümlichen Natur nach, gegenüber den e i g e n t l i c h e n und echten Realbeständen nur eine Realität gleichsam „aus zweiter Hand“ oder von „sekundärer Natur“. Denn nur, solange er a n einen realen Einzelgeist, der f ü r i h n da ist, „angeheftet“ ist, kann er an der Realität teilnehmen und eine Stelle in der realen Welt besitzen. Sobald ihm dieser Stützpunkt entzogen wird, muß er aus ihr wieder entschwinden, muß er – a l s Realität – zunichte werden. Mit dieser seiner Eigenart aber gehört er eben nicht zu den Realbeständen im eigentlichen und echten Sinne, für die es gerade das unabtrennbar Charakteristische ist, i n i h r e r R e a l n a t u r und damit auch an ihrer Realstelle s e l b s t h e r r l i c h und a u t o n o m zu ruhen, d. h. dieses beides gegenüber einem realen Einzelgeist, dem sie momentan „erscheinen“ mögen. Wir haben also auf diese Weise diese ihre „Realnatur“ wohl gegen eine „bloß scheinbare Realnatur“ oder eine solche „sekundärer und

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Wir haben nunmehr eine ganze Reihe anschaulich-konkreter Sachlagen beigebracht, denen gegenüber es der phänomenologisch aufweisbare Gehalt als solcher f o r d e r t , von einer „Daseinsrelativität“ oder auch, wenn man lieber den bekannten Terminus heranziehen will, von einer „Bewußtseinsabhängigkeit“ zu sprechen. Von dieser ganzen Sphäre aus blicke man nunmehr auf das Bewußtsein, mit dem wir „außenweltliche Realitäten“ zurücklassen, wenn sie unserem momentanen realen Blickfeld entgleiten. D.h. nur hier kann man eigentlich von einem „Zurücklassen“ überhaupt sprechen; denn was geht es sie, die gegenüber unserm Geist Daseinsautonomen, Selbstherrlichen und Eigenständsgen an, ob unser Blick zufällig auf sie gerichtet ist oder nicht? Dieses, daß sie an eben der Realstelle u n b e r ü h r t s t e h e n b l e i b e n , von der aus sie uns erscheinen, diese ihre D a s e i n s a b s o l u t h e i t gegenüber jedem möglichen, sie wahrnehmenden oder wie immer auf sie bezogenen Geist, macht phänomenal ihre s p e z i f i s c h e „ W i r k l i c h k e i t “ aus und stellt sie – phänomenal – in einen nicht fortzustreichenden unüberbrückbaren Gegensatz zu jenen „Geistesexistenzen“ oder b l o ß e n Geistesexistenzen (wenn wir diesen Ausdruck einführen dürfen, um die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Bewußtseinsinhalte“ zu vermeiden).14

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entliehener Art“ abgegrenzt, nicht aber gegen dasjenige, was überhaupt j e n s e i t s dieser g a n z e n Sphäre der Realität (mag es sich um echte oder unechte, eigentliche oder uneigentliche, primäre oder sekundäre handeln) liegt. Mit dem letzteren aber würden wir erst das ureigne Wesen von „Realität“ als solcher faßbar machen können. Diese unsere Ausfassung über das spezifische „Realitätsbewußtsein“ tritt, wie leicht ersichtlich, auch zu jenen Theorien in Gegensatz, die zwar nicht wie der eigentliche Positivismus das Realitätsbewußtsein in unabtrennbare Beziehung zu aktueller oder möglicher W a h r n e h m u n g setzen, aber in denen doch „Realität“ nur durch gewisse sich an den Gegenständen irgendwie betätigende oder auf sie irgendwie bezogene Bewußtseinsakte oder Bewußtseinszuständlichkeiten zustande kommen soll. Die Voraussetzung ist hier, wie übrigens auch im Positivismus, daß „Realität“ nichts sein k a n n , was als den Gegenständen a n u n d f ü r s i c h und an sich selbst zugehörig vorgestellt zu werden vermag; es k a n n folglich nur in einer spezifischen Weise, wie w i r auf die Gegenstände b e z o g e n sind, bestehen; an ihnen selbst ist für unser Bewußtsein oder für unsere Vorstellung n i c h t s verändert, ob wir sie als „existierende“ oder als „nicht existierende“ denken. Diese Auffassung hat bekanntlich H u m e , der das Auszeichnende einer mit Wirklichkeitsbewußtsein verbundenen Vorstellung in dem G l a u b e n an sie (dem

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Man entgegne uns nicht, daß dies, wie man wohl wisse, eben die „Meinung“ der gewöhnlichen, der naiven Weltanschauung sei, gegen die ja eben kritisch Stellung genommen werden müsse; natürlich sei es ein leichtes, diese „Meinung“, daß die Gegenstände „fortdauern“, auch wenn ich sie nicht wahrnehme, in bildhafter Weise zu interpretieren und zu explizieren. Denn mit einer solchen Entgegnung hätte man die eigentliche Intention solcher Ausführungen völlig mißverstanden. Es handelt sich in ihnen nicht um die Explikation einer beliebigen realen Meinung, sondern um Aufweisung k o n k r e t e r , a n s c h a u l i c h f a ß b a r e r P h ä n o m e n e , im Hinblick auf die der volle Sinn solcher Meinung erst wahrhaft einsichtig werden kann. Wie wichtig dieses Zurückgehen auf die entsprechenden phänomenalen Sachlagen ist, das zeigt die beständige Sinnverschiebung, die solche Redeweisen wie „bewußtseinsunabhängiges Dasein“, „reale Außenwelt“ usw. erleiden. Es liegt uns hier speziell daran zu zeigen, daß es eine d u r c h a u s verkehrte Meinung ist, auf die man in der positivistischen Literatur zuweilen trifft, wenn da behauptet wird, daß dem natürlichen Bewußtsein von einer „realen Außenwelt“ Nichts oder doch nichts Wesentliches geraubt würde, wenn man den g e s a m t e n Bestand der Bewußtseinsgegenständlichkeiten auf eben dieses Bewußtsein daseinsrelativ macht. Nicht nur nimmt man diesem Bewußtsein etwas s e h r belief) sieht. Jenen im Text kritisierten, spezifisch positivistischen Ausweg verbot ihm, dem sonst typischen Positivisten, die von ihm an dieser Stelle sachlich erfaßte Eigenart der Problematik; übrigens gewährt sein fortwährendes sachliches Schwanken über diesen Punkt einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie er mit dem Problem wahrhaft gerungen hat. Die Kritik. die C o r n e l i u s (Theorie der Existentialurteile) dieser Auffassung von Hume widmet, scheint uns durchaus unzutreffend zu sein und Hume ihr gegenüber die sachliche Überlegenheit in weitgehendem Maße zu besitzen. Auch in der neueren philosophischen Literatur findet man vielfach die gekennzeichnete Anschauungsweise. So scheint der B r e n t a n o s c h e Anerkennungsakt eine ähnliche Funktion zu besitzen wie das Humesche „belief“. Alles dieses möchte ich in einer besonderen Schrift urteilstheoretischer Natur zu expliziter Darstellung bringen und in ihr zugleich meine eigene Auffassung gegenüber diesen Theorien auf Grund einer genauen Analyse der hier in Betracht kommenden „Urteilsakte“ oder „Urteilserlebnisse“ darstellen. Denn diese Theorien – sachlich entschieden schwerer wiegend als die positivistischen – verlangen eine besondere Behandlung.

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Wesentliches, sondern man verkehrt es in sein v o l l k o m m e n e s G e g e n t e i l . Wie wir gleich noch mehr sehen werden, ist eine Fülle von Phänomenen, die unser tägliches, reales Dasein gewissermaßen beständig begleiten, nur auf der gekennzeichneten phänomenalen Basis verständlich. Die e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Frage andererseits ist hiermit natürlich noch gar nicht berührt; aber man soll sich v o l l k o m m e n klar darüber sein, was für das natürliche Bewußtsein die Seinsselbständigkeit der realen Außenweit wahrhaft b e d e u t e t , ehe man nach dem erkenntnistheoretischen Recht ihrer Ansetzung fragt; man soll diese „Daseinsautonomie“ gewissermaßen erst einmal i n e x p l i z i e r t e r W e i s e „ e r l e b t “ o d e r „ g e f ü h l t “ h a b e n , ehe man jene bekannten Zweifelsfragen stellt. Für den, der das Phänomen in dieser Weise w i r k l i c h vor Augen hat, wird auch der Einwand, daß eine solche „Bewußtseinsunabhängigkeit“ doch eine W i d e r s i n n i g k e i t in sich schließe, weil wir einen Gegenstand immer denken und vorstellen müssen, u m ihn zu denken und vorzustellen, zu einer vollkommenen Absurdität. Kaum eine Rede scheint mir mehr „nur begrifflich formuliert“ und weniger auf Anschauung und damit echter Einsicht zu beruhen als diese. Man braucht sich eben nur den Fall eines echten Realitätsbewußtseins a n z u s e h e n , um dessen einsichtig zu werden, daß man sich allerdings einen Gegenstand als einen „unvorgestellten“ vorstellen kann. Warum sollte auch die reale und völlig selbstverständliche Folge, die eintritt, wenn ich mir einen Gegenstand vorstelle, daß er nämlich damit zu einem „von mir vorgestellten“ wird, auf den Vorstellungsi n h a l t übergehen. Wir kommen jetzt auf unser Gesamtphänomen der „realen Außenwelt“ zurück. Wenn wir diesem gerecht werden wollen, so ist es also nicht damit getan, daß man die wahrnehmungsmäßig gegebenen Inhalte in bezug auf ihre Stellung zum Ich da stehen läßt, wo sie „vorgefunden“ werden, es ist auch nicht damit getan, eine Anschauungssphäre anzuerkennen, die über die Sphäre des speziell wahrnehmungsmäßig Gegebenen hinausreicht, sondern der entscheidende Schritt ist, daß wir die Raumwelt, in die wir uns mit unserm Leibe hineingesetzt finden, als eine „daseinsabsolute“ oder „daseinsautonome“ in dem fixierten Sinne fassen und unsere jeweilige Wahrnehmungsposition als eine dem Dasein und der Artung dieser Welt und ihrer Gegenständlichkeiten gegenüber v ö l l i g z u f ä l l i g e betrachten. Und zwar ist uns diese Raumwelt – in der natürlichen Weltanschauung

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– als eine an sich selbst u n b e g r e n z t e gesetzt. Es ist bezüglich dieses Punktes am angemessensten, sich in irgendeiner „negativen“ Weise auszudrücken; denn man kann nicht eigentlich sagen, daß die Raumwirklichkeit für das natürliche Bewußtsein in positiver Form als „unendlich“ dasteht. Das als solches so schwer zu einer angemessenen Anschauung zu bringende Phänomen der Unendlichkeit geht wohl kaum, auch nicht in implizierter Weise, in das natürliche Bewußtsein der „Außenweltlichkeit“ ein, wohl aber dieses, daß sie sich gewissermaßen in das „Unbegrenzbare verliert“. Natürlich ist dieser Tatbestand, zu dem wesenhaft gehört, daß „die Welt auch hinter mir nicht aufhört“, nicht zu verwechseln mit jener oben herausgestellten Möglichkeit, daß ich diese ihre Fortsetzung hinter meinem Rücken unmittelbar s e h e n kann. Jenes betrifft mein Bewußtsein von der Raumwirklichkeit überhaupt, die ich als solche natürlich nicht vollständig „ ü b e r s e h e n “ kann, dieses die jeweilig mögliche Anschauungssphäre. Auf das Verhältnis dieser Anschauungssphäre zur Raumwirklichkeit als solcher kommen wir gleich zurück. Wir möchten nur von hier aus noch einmal auf das für die natürliche Geisteshaltung so charakteristische Bewußtsein hinweisen, daß wir nur durch diese an und für sich unbegrenzte Raumwelt h i n d u r c h zuschreiten brauchen, damit immer neue und neue, ihr an sich selbst zugehörige Stücke zu einer möglichen Wahrnehmungsnähe kommen können, daß es also einzig und allein auf mein „ m i c h z u i h n e n H i n b e m ü h e n “ und damit meine zufällig erreichte Realposition ankommt, ob ich dieser an und für sich vorhandenen Realbestände wahrnehmungsmäßig habhaft werde oder nicht. Nicht aber nur die zufällige Umgrenztheit meines Wahrnehmungsfeldes ist durch diese Realposition meines Leibes innerhalb der an sich bestehenden Realwelt bestimmt, sondern auch – und damit knüpfen wir an unsere früheren Erörterungen wieder an – derjenige „Ausschnitt“ dieser Raumwirklichkeit, den ich in direkter Weise „überschauen“ kann. Daß sich mir bei meiner zufälligen Realposition gerade ein bestimmter Teil der Umwelt als w a h r n e h m u n g s m ä ß i g erscheinender gibt, das liegt an den zufälligen realen „Hindernissen“ (Zimmerwände usw.) einerseits und an meiner nun einmal bestehenden physiologischen Organisation andererseits. Die Möglichkeit des von dieser Position in die R a u m w i r k l i c h k e i t „ H i n e i n s e h e n s “ a l s s o l c h e aber ist nicht an

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diese zufälligen Grenzen gebunden: sie besteht sowohl nach a l l e n Richtungen und nach allen Dimensionen hin, wie über j e n e „Hindernisse“ hinaus. Wir „sehen“ in der Tat – in dem früher bestimmten Sinne – von unserer Raumstelle aus – durch die Zimmerwände „ h i n d u r c h “ und in die Weit hinter unserem Rücken h i n e i n . Aber diese Möglichkeit, von der bestimmten Realposition „rund herum“ in die Welt hineinzusehen, hat nun wiederum i h r e e i g e n e n , j e w e i l s a n d i e s e R e a l p o s i t i o n g e b u n d e n e n G r e n z e n . Damit kommen wir zur Beantwortung der einen unserer früheren Fragen. Unser geistiger Blick besitzt eine durch die reale Anschauungsposition auf der einen Seite festgelegte S p a n n w e i t e . Es scheint so, als wenn wir die Raumwelt zunächst annähernd in den ihr an und für sich eigenen Dimensionen überschauen könnten; dann aber scheint der geistige Blick, um das Fernere überhaupt noch in direkter Schauung ergreifen zu können, dieses immer mehr und mehr in der Richtung auf sich selbst hin z u s a m m e n z u z i e h e n ; schließlich verliert er sich im Unbestimmten. Um sich diesen phänomenalen Tatbestand mitsamt der in ihm liegenden Begrenztheit völlig deutlich machen zu können, muß man die reale Leibesposition als diejenige, v o n d e r a u s man in die Außenwelt hinein und weiter und weiter sieht, auch „im Geist“ streng festhalten; denn es gibt andererseits eine Sachlage, bei der man sich „im Geist“ an eine solche Stelle realiter h i n v e r s e t z t denkt, von der aus man wiederum ein f e r n e r e s , von der t a t s ä c h l i c h e n Realposition nicht mehr mit dem Blick direkt erreichbares Stück sehend fassen kann. Aber auf solche eigentümlichen und sehr interessanten Komplikationen können wir hier nicht eingehen. Natürlich hat der gekennzeichnete Zusammenhang n i c h t s zu tun mit den bekannten physikalisch-optischen Gesetzmäßigkeiten; denn es handelt sich ja hier gar nicht mehr um das, was im engeren, n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h einzig in Betracht kommenden Sinne „gesehen“, d. h. wahrgenommen werden kann. Bei unseren im zweiten Teil dieser Arbeit folgenden Untersuchungen über die i m S e h e n a l s s o l c h e m g r ü n d e n d e n a p r i o r i s c h e n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n wird das hier nur seinem faktischen Vorhandensein nach Hervorgehobene in einen prinzipiellen Zusammenhang gestellt werden. Mit dem Ausgeführten ist nunmehr klar geworden: was i n n e r h a l b dieses an sich selbst noch überschaubaren Bereiches liegt, oder besser

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gesagt, was als dort liegend vermeint wird, kann in direkter und unmittelbarer Schauung erfaßt werden (z w e i t e r Vorstellungstypus). Was als ein a u ß e r h a l b Liegendes dasteht, muß dagegen in der oben beschriebenen Weise durch einen Anschauungsrepräsentanten zu erschaubarer Nähe (die eben als solche durch die Anschauungsposition bestimmt ist) gebracht werden (e r s t e r Vorstellungstypus). Wobei es, wie schon oben angedeutet, noch den eigentümlichen, aber sehr häufigen Fall gibt, daß ich mich – in der Vorstellung lebend – gewissermaßen einer Selbsttäuschung hingebe, indem ich auch da noch einfach mit dem Blick „hinübergreife“, wo, wie ich mir vollkommen bewußt sein könnte, dieses „im Grunde“ nicht möglich ist. Und weiter: weil diese als solche unbegrenzte Raumwelt, in die ich mich mit meinem Leibe eingeordnet finde, eben als d i e „reale“ für mich gesetzt ist, darum ist natürlich auch von dem durch meine zufällige Anschauungsposition in seiner Umgrenztheit bestimmten, jeweilig direkt ü b e r s c h a u b a r e n A u s s c h n i t t dieser das Merkmal der Realität unabtrennbar. Das ist die Antwort auf die zweite unserer Fragen. Zur allgemeinen Charakteristik des Gesamtphänomens der realen Außenwelt sei zum Schluß noch einmal in explizierter Weise auf das besondere G e g e b e n h e i t s v e r h ä l t n i s hingewiesen, in dem für die natürliche Einstellung die drei hervorgehobenen Sphären (die Raumwirklichkeit überhaupt, das Anschauungsbereich als ganzes und das Wahrnehmungsbereich) zueinander stehen können: nämlich die anschaulich übersehbare Sphäre a l s b l o ß e r A u s s c h n i t t aus der unbegrenzten Raumwirklichkeit und weiter die jeweilige durch zufällige physische Begrenzungen bestimmte Wahrnehmungssphäre wiederum in der Weise eines bloßen A u s s c h n i t t s aus dem Anschauungsbereich oder auch unmittelbar aus der realen Raumsphäre als solcher. Dieses, daß die Gegenstände aus der schon vorher an sich selbst (wenn auch nicht immer a n s c h a u l i c h ) gehabten Raumwirklichkeit h e r a u s t r e t e n , gibt dem natürlichen Wahrnehmungserlebnis erst seinen eigentümlichen Charakter. Ähnlich, wie wir uns oben bei einer etwas andern Sachlage ausdrückten, können wir uns auch hier ausdrücken: die Gegenstände, die für mich zu „unverhüllter Erscheinung“ kommen, sind nicht einfach „so plötzlich“ oder wie „aus dem Nichts heraus“ für mich da, sondern sie treten a u s der immer irgendwie mitgehabten realen Raumsphäre zufällig für mich, der ich

Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Aussenwelt

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ihnen nahe genug bin, h e r v o r . Die Rede: das Wahrgenommene sei das stets p r i m ä r Gegebene, alles andere dagegen sei, wenn überhaupt, so doch stets nur sekundär gegeben, darf für die jeweilige momentane Erlebnissituation, (also bei Ausschaltung aller genetischer und erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte) nur diesen Sinn haben, daß erstens das Wahrgenommene als das u n v e r h ü l l t Anschauliche für den sich der Welt passiv hingebenden Geist eine besondere a n s c h a u l i c h e V o r d r i n g l i c h k e i t besitzt und daß es zweitens als das sein eignes Dasein unmittelbar bewährende, wie auch als das räumlich Nächstliegende für das praktisch eingestellte Lebensindividuum das vor allem in Betracht Kommende darstellt. Nicht aber darf jene Rede so aufgefaßt werden, als wenn das Wahrgenommene eine stets notwendige p h ä n o m e n a l e Grundlage (die erkenntnisgenetische Grundlage ist es ja in der Tat stets) für ein mögliches anderweitiges Anschauungserlebnis oder Wirklichkeitsbewußtsein abgeben müßte, so daß man immer erst über das Wahrgenommene als das auf ein anderes H i n w e i s e n d e oder ihm als Schlußgrundlage Dienende h i n ü b e r müßte, um zu der Anschauung auch des andern zu gelangen. Im Gegenteil kann, wie schon gesagt, bei einer bestimmten, jetzt wohl nicht fernliegenden Einstellung der Wahrnehmungsabschnitt eben wahrhaft als „bloßer A u s - oder A b s c h n i t t “ der realen Welt überhaupt und der gesamten Anschauungssphäre im besonderen gegeben sein, und zwar als ein für die Anschauung des Ganzen völlig zufällig vorhandener und z u f ä l l i g m i t g e g e b e n e r Ausschnitt, den man ebensogut fortstreichen könnte. Damit schließt sich der Kreis der ersten Reihe von Untersuchungen. Das Bewußtsein „realer Außenweltlichkeit“ kam zwar noch nicht im letzten philosophischen Sinne zur Durchleuchtung – dazu wäre jene allseitige Erfassung der Idee der Realität erforderlich; aber wir hoffen doch, daß das t a t s ä c h l i c h e V o r h a n d e n s e i n eines völlig e i g e n a r t i g e n , und i n s i c h s a c h l i c h e i n s t i m m i g e n Phänomens „realer Außenweltlichkeit“ unbezweifelbar geworden ist und die zunehmende Breite der Untersuchung ihm eine gewisse konkrete Anschaulichkeit verliehen hat. – Wenn wir im vorigen das Phänomen „realer Außenweltlichkeit“ mit dem Hinweis auf die „Seinsautonomie“ aller im echten Sinne zu ihr gehörigen Gegenständlichkeiten zu bestimmen suchten, so blieb dabei noch vollständig offen, wie diese seinsautonomen Gegenständlichkeiten

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genauer „aussehen“, wie sie sich innerlich aufbauen, wie sie sich darstellen und in welcher Weise sie sich und ihr bestimmt geartetes Dasein jeweilig ankündigen. Wenn wir eine reale Außenwelt in dem von uns fixierten Sinne erleben, müssen wir auch in concreto angeben können, was an E i n z e l g e h a l t in sie eingeht und ihrem eignen Sinn entsprechend in sie einzugehen vermag. Sind es etwa die reinen „Wahrnehmungsinhalte“ selbst und als solche, sind es die sogenannten „sinnlichen Erscheinungen“ oder sind es „Empfindungselemente“ im Sinne Machs, die diese seinsautonome Welt aufbauen und gestalten? Oder ist es doch wiederum etwas allen diesen primärsten Gegebenheiten prinzipiell Transzendentes? Was sind dem schlichten phänomenologischen Tatbestande nach die „Dinge an sich“? ___________________

Nach der noch in der Einleitung dieser Arbeit gegebenen Orientierung sollte jetzt im unmittelbaren A n s c h l u ß an den vorigen Abschnitt darzustellen versucht werden, wie in der „natürlichen Weltanschauung“ das Ding und im speziellen das Körperding gefaßt ist. Bei weiterem Vertiefen in die Sachlage jedoch schien es uns besser, vorerst noch ein Fundament nach anderer Richtung zu geben, auf dem aufgebaut das in der Ding – und Körperdingphänomenologie Auszuführende eine innere Notwendigkeit und Bedeutsamkeit erhält, die ihm durch eine d i r e k t e Inangriffnahme nicht zu verleihen ist. Es soll nämlich zunächst das s i n n l i c h e G e g e b e n h e i t s e r l e b n i s als solches einer genaueren Analyse unterworfen werden, und zwar in der Weise, daß einerseits Sinn und Natur sinnlicher Gegebenheit überhaupt zur Präzisierung gelangt und daß andererseits die sehr tiefgreifenden und durchaus prinzipiellen Unterschiede heraustreten, die wiederum innerhalb dieser alle Arten möglicher „sinnlicher Gegebenheit“ umgreifenden Sphäre bestehen. W e s h a l b auf dieser Grundlage die Ausführungen über die ontische Gestaltung der realen Außenwelt, so wie sie in der natürlichen Weltanschauung erlebt wird, einen weit unabweisbareren Charakter erlangen, kann erst mit den einzelnen Einsichten selbst, die die folgende Analyse zu verschaffen sucht, sichtbar gemacht werden.

JEAN HERING BEMERKUNGEN ÜBER DAS WESEN, DIE WESENHEIT 1 UND DIE IDEE Edmund Husserl zum 60. Geburtstag gewidmet. Einleitung. Wenn auch die phänomenologische Bewegung niemals in dem Bekenntnis zu bestimmten Lehrmeinungen dasjenige erblicken wird, was ihr Einheit und Kraft verleiht, so wird doch die Natur ihrer Arbeitsweise die Übereinstimmung der Forscher in einer fortschreitenden Zahl von Punkten mit sich bringen. Eine von allen phänomenologisch gerichteten Philosophen in gleicher Weise erkannte, (nicht etwa als ungeprüfte Voraussetzung übernommene) Grundtatsache läßt sich schon jetzt namhaft machen: Die Existenz nichtempirischer Gegebenheiten, die die sogenannte apriorische Forschung – möglich machen. Über das Wesen diser Gegenstände gehen allerdings die Ansichten noch weit auseinander. Bald wird den empirischen roten Farben so etwas wie eine I d e e „Rot“ gegenübergestellt, die übrigens selbst wieder von den verschiedenen Forschern verschieden beschrieben wird, bald ist die Rede von einer W e s e n h e i t „Röte“ oder von einem W e s e n v o n Rot, welch letzteres wiederum gern mit einer der beiden vorhergehenden Entitäten gleichgesetzt wird. Einen Teil der Probleme aufzuweisen, deren Lösung vielleicht zu einer größeren Klarheit auf diesem Gebiete führen würde, ist der Zweck der folgenden Ausführungen.2

1

2

Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Hrsg. von E. Husserl. Bd. IV (1921), S. 495-505. Diese im wesentlichen im Jahre 1913 entstandenen Notizen gehen z. T. auf Diskussionen in H u s s e r l s und R e i n a c h s Göttinger philosophischen Übungen zurück. Neue Argumente oder Beobachtungen, die uns zu einer Revision unserer damaligen Position hätten veranlassen können, und uns seitdem nicht bekannt geworden.

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JEAN HERING Erstes Kapitel. VOM WESEN. (TO TI HN EINAI.)

§ 1. Vorläufige Bestimmung von „Wesen“. 1. Im täglichen Leben wie in der Wissenschaft fragen wir oft genug nach dem W e s e n eines bestimmten empirischen oder idealen Gegenstandes. So sind uns allen geläufig Fragen wie die nach den Wesen der mathematischen Gegenstände, nach dem Wesen des Christentums, oder etwa auch nach dem Wesen der Politik des Kardinals Richelieu. Suchen wir auf sie eine Antwort zu geben, so beginnen wir in der Regel Merkmale aufzuzählen, die für die das Objekt k o n s t i t u i e r e n d e E i g e n a r t in Betracht kommen, unter Weglassung derjenigen, bei denen dies nicht der Fall zu sein scheint. Daß Richelieu gerade an jenem bestimmten Tage und nicht an einem andern an Spanien den Krieg erklärte, dies erklären wir vielleicht für „zufällig“ oder „von besonderen Umständen bedingt“, die auch nicht hätten eintreten können; daß er es überhaupt tat, betrachten wir als einen Zug, der geeignet ist, uns näher bekannt zu machen mit dem W e s e n seiner Politik. Je mehr es uns gelingt, Momente aufzufinden, welche, wie wir auch sagen, für den Gegenstand konstitutiv sind, um so deutlicher tritt dieser in der ganzen Fülle seiner Eigenart hervor. Diese den Gegenstand ausmachende Eigenart3 und nichts anderes ist es, auf deren Herausarbeitung unser Bemühen gerichtet ist, wenn wir darauf ausgehen, das W e s e n v o n E t w a s uns zur Gegebenheit zu bringen. Dieses rätselhafte Gebilde ist dasjenige, was wir auch als das S o s e i n des in der ganzen Fülle seiner Konstitution genommenen Objektes bezeichnen. Die einzelnen Züge des Soseins (/kBki ¡wi_f) sind Züge seines Wesens. Anmerkung: Das S o s e i n (/kBki ¡wi_f) eines Gegenstandes, dessen gesamter Bestand mit seinem Wesen zusammenfällt, ist streng zu scheiden von dem S o (/kBki) des Seienden, seiner Beschaffenheit im weitesten Sinne. Zu dem /kBki dieses Pferdes gehört z.B. die braune Farbe seiner Haare, von der ich sagen kann, sie sei heller als die braune Farbe am Kleide des Reiters. Das Braun-s e i n des Pferdes kann nicht heller sein als das Braunsein des Kleides. 3

„Sein Bestand an wesentlihcen Prädikabilien“ (vgl. Husserls „Ideen“ §2).

Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee

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Ebensowenig darf natürlich das /kBki ¡wi_f verwechselt werden mit dem S a c h v e r h a l t , daß das Objekt so und so beschaffen ist. Den Sachverhalt, daß S p ist, kann ich behaupten oder leugnen, nicht das Moment „p-sein“, welches ich als zum Wesen von S gehörig feststelle. Zu dem Sachverhalt „S ist p“ gibt es einen kontradiktorischen negativen: „S ist nicht p“; ein negatives Beschaffensein von S gibt es nicht. 2. Nicht einzusehen ist, warum nur i n d i v i d u e l l e Gegenstände4 ihr Wesen haben sollten. Denn nicht nur jeder Einzelgegenstand, sondern auch jede sogenannte „Idee“ hat ihr Wesen. Wir brauchen nur folgende beiden Sätze einander gegenüber zu stellen: a) „Es gehört zum Wesen der Politik Richelieus, daß er mit protestantischen Mächten ebensogern Bündnisse abschloß wie mit katholischen.“ b) „Es gehört zum Wesen des Oktaeders, 12 Kanten zu besitzen“, um zu sehen, daß im zweiten Falle von Wesen als „Bestand sämtlicher wesentlichen Prädikabilien, die dem Gegenstand zukommen müssen, als Seiendem, wie er in sich selbst ist“, ebensogut geredet werden kann wie im ersten. Nicht minder gewiß ist auch die Tatsache, daß jeder Gegenstand nur e i n e n e i n z i g e n derartigen Gesamtbestand an wesentlichen Ingredienzen besitzt. 3. Wir werden also nicht umhin können, den folgenden Satz, den wir auch als den Hauptsatz vom Wesen ansprechen könnten, zu formulieren: J e d e r G e g e n s t a n d (welche seine Seinsart auch sein möge) h a t E i n u n d nur Ein Wesen, welches als sein Wesen die Fülle der ihn k o n s t i t u i e r e n d e n E i g e n a r t a u s m a c h t . – Umgekehrt gilt, – und dies besagt etwas Neues: J e d e s W e s e n i s t s e i n e m S i n n e n a c h W e s e n v o n e t w a s , u n d z w a r Wesen von diesem und keinem andern Etwas. Doch bedarf dies noch einiger Erläuterung.

4

Unter „Individualität“ wollen wir hier vorläufig dasjenige Moment verstanden wissen, was einen Gegenstand A von einem ihm völlig gleichen A‘ unterscheidet. Zwei kongruente Dreiecke sind also notwendig individuell, nicht aber z. B. die Idee „Dreieck“, die es nur einmal gibt.

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§ 2. D a s W e s e n a l s I n d i v i d u u m . 1. Wenn ich von einer Feder sage, es gehöre zu ihrem Wesen die Fähigkeit, fein zu schreiben, nicht aber ihre Lage auf diesem Tisch oder ihr Einkaufspreis, dann habe ich d e n Sinn von „Wesen“ im Auge, den wir uns hier zum Problem gemacht haben. Von so etwas wie einer Idee „Feder“ oder von irgendeiner andern Idee ist hier nicht die Rede, sondern lediglich von dem Wesen, welches diese Feder als dieses Individuum hat und welches die konstituierende Eigenart seines Soseins umfaßt. Es ist von größter Wichtigkeit, hervorzuheben, daß „Wesen“ in diesem Sinne stets charakterisiert ist als Wesen v o n d i e s e m b e s t i m m t e n O b j e k t . Ebensowenig wie es eine Oberfläche gibt, es sei denn als Oberfläche von etwas, ebensowenig gibt es ein Wesen, es sei denn als Wesen von etwas. Nicht nur ist nämlich Wesen ein unselbständiger Gegenstand, der nicht ohne seine Träger existieren kann, wie etwa „Bewegung“ nicht ohne einen Träger der Bewegung, oder „Farbe“ nicht ohne Ausdehnungsmoment, sondern es ist selbst an und für sich und vor seiner Existenz mit einem bestimmten auf seinen Gegenstand weisenden I n d e x behaftet; es ist W e s e n v o n a. Und zwar ist dieser Index stets ebenso voll bestimmt, wie der Gegenstand, auf den er hinweist, während z.B. das Phänomen der Bewegung ist was es ist, unabhängig von der Beziehung auf einen wenn auch so notwendigen Träger.5 2. Zwei völlig gleiche (individuelle) Objekte haben zwei völlig gleiche Wesen, aber nicht identisch dasselbe; von zwei gleichen Blumen, zwei kongruenten Dreiecken hat eben jedes s e i n Wesen. Was hier leicht irre führt, ist der mehrdeutige Gebrauch des pronomen possessivum bzw. des Genetivs in der Rede: „sein (des Gegenstandes) Wesen“. Von zwei Blumen kann nämlich unter Umständen mit genau demselben Rechte gesagt werden: 1. Sie hätten die g l e i c h e n Farben oder 2.: die Farbe der einen sei d i e s e l b e wie die der andern. Die zugrunde liegende 5

Vgl. Schapp „Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung“ (Göttinger Dissertation 1910) S. 144, wo allerdings zwischen „Wesen“ und „Idee“ noch nicht geschieden ist.

Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee

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Äquivokation wird als solche deutlich, wenn man folgende Formulierungen wählt: 1. ihre F a r b e n sind g l e i c h – 2. ihre F a r b e ist d i e s e l b e .6 2) In dem ersten Satz sprechen wir von dem individuellen Farbmoment der ersten Blume und von dem der zweiten, von denen jedes eben nur an der einen vorkommt und nicht an der andern. Im zweiten Satze dagegen ist die Rede von etwas, was unindividuell existiert und in beiden Fällen sich (evtl. hic et nunc) vereinzelt. Genau so ist es natürlich möglich, außer von dem Wesen des a als seinem individuellen Wesen auch zusprechen von dem „Wesen von der Art wie a es hat“. Ein solches Gebilde könnte sich an verschiedenen einzelnen Wesen (Wesen von a, Wesen von a‘ usw.) vereinzeln, wäre selbst aber I d e e von diesem Wesen, nicht selber ein Wesen von a oder von a‘. Hier sprechen wir nun aber nicht von der etwa existierenden I d e e des Wesens von a, sondern vom Wesen von a selbst. Und dieses kann dem Wesen von a‘ zwar völlig gleich sein, aber nie mit ihm als ein identisches zusammenfallen. Denn ebensowenig wie die Tatsache, daß das Rotmoment an diesem Dinge sich in Idee setzen läßt, die Individualität dieses Rot aufhebt, sondern sie vielmehr v o r a u s s e t z t , ebenso würde die Rede von einem „Wesen, wie a es hat“, oder von einem „Wesen von allen a“ voraussetzen das, was wir hier genannt haben das Wesen von a, d.h. das einzelne Wesen dieses individuellen a. § 3. K o n s t i t u t i o n u n d A f f e k t i o n . 1. Zum Wesen des Hexameters (als idealer Species) gehört es, sechs Füße bestimmter Art zu besitzen. Zu seinem Wesen gehört es nicht, daß er in der deutschen Poesie zum erstenmale bei Konrad Geßner auftritt; dies ist ein „Schicksal“, welches er erfährt, und Schicksale gehören nicht zu dem Bestande des /kBki ¡wi_f, sondern zu dem Bereich des /kf¡Bi FDC SÅVFHLQ7. Daß nun aber der Hexameter mit Vorliebe für epische nicht aber 6

7

Entsprechend muß ich z.B. an zwei ähnlichen mathematischen Dreiecken unterscheiden zwischen ihren g l e i c h e n Formen und der i d e n t i s c h e n , beiden gemeinsamen Form. Ob es sich um reale oder nichtreale Gegenstände handelt, ist also völlig gleichgültig. Das /kf¡Bi FDC SÅVFHLQ gehört nie zum Wesen. Dagegen fällt nicht umgekehrt alles, was nicht zum Wesen gehört, unter das /kf¡Bi FDC SÅVFHLQ. Beispiele: Eine

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für lyrische Dichtung verwandt wird,8 – sollen wir sagen, dies sei zufällig, und habe mit seinem Wesen nicht das Geringste zu tun? Gewiß nicht. Trotzdem gehört dieses Schicksal nicht zu seinem /kBki ¡wi_f, zu dem, was den Bestand seines Wesens ausmacht. Dieses würde in der Fülle seiner Konstitution ungeändert bleiben, wenn er überhaupt nie angewandt würde. Wir sehen hier, daß die Gegensatzpaare: zum Wesen gehörig – nicht zu ihm gehörig, und: wesentlich – zufällig, keineswegs zusammenfallen. Wir haben also hier einen Satz, der etwas von einem Gegenstande aussagt, was zwar sein Wesen nicht mitkonstituiert, aber gleichwohl kein außerwesentliches Moment bildet in dem Sinne, daß es nur als durch äußere Umstände in seinem „zufälligen“ Auftreten bedingt zu begreifen wäre. Daß jene Anwendung vorzugsweise statthat, läßt sich aus dem Wesen dieses Versmaßes vollauf verständlich machen. Wir können sagen: es g r ü n d e in seinem Wesen, daß er – falls überhaupt – mit Vorliebe hier und nicht dort benutzt werde. Denn es g e h ö r e zu seinem Wesen, sich für diese Dichtungsart in höherm Maße zu eignen, als für jene. 2. Es gibt demnach auch unter dem Bestand dessen, was n i c h t zum Wesen eines Gegenstandes gehört, Data, die in einer derartigen Beziehung zum Wesen stehen, daß ihr Auftreten auf Grund desselben verständlich wird. Einen ausgezeichneten Fall haben wir dann vor uns, wenn das Auftreten eines Momentes als n o t w e n d i g aus dem Wesen sich ergebend sich herausstellt, sei es als absolut notwendig, sei es als notwendig beim Eintreten gewisser Bedingungen. Aus dem Wesen einer

8

philosophische Relation von a zu b, wie das Größersein des a im Vergleich zu b, außerdem alles SR, SôWH ¡wi_f, ferner alle nicht zum konstitutiven Bestand der Eigenart gehörigen, „unwesentlichen“ Eigenschaften eines realen Dinges. – Reinachs Begriff vom „Sosein“ scheint allerdings so weit zu sein, daß er jegliches p-sein des S in sich begreift. Sonst könnte die Frage, ob das Sosein zum Wesen des Soseienden gehöre oder nicht, nicht auftauchen. Vgl. „Jahrbuch“ I, 2, S. 687. Wir sprechen hier nicht von dem S a c h v e r h a l t , daß der Hexameter verwandt wird, sondern von dem Verwandtwerden selbst. Für die Sachverhalte ergeben sich naheliegende Konsequenzen.

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Kugel vom Durchmesser 1 m ergibt sich absolut notwendig ihr Kleinersein im Vergleich zu jedem Kubus von der Kantenlänge 1 m; zu ihrem Wesen g e h ö r t dies aber nicht; denn ihr Wesen ist was es ist, mag es andere Körper geben oder nicht. – R e l a t i v auf gewisse Umstände w e s e n s n o t w e n d i g ist etwa das Fallen eines Steines (es stellt sich als wesensnotwendig ein, sobald gewisse Bedingungen erfüllt sind). – Ebenfalls im Wesen g r ü n d e n d , aber nicht wesensnotwendig eintretend ist z.B. das Fallen des Steines s c h l e c h t h i n unter Absehung von allen bestimmten Bedingungen. Es ist ersichtlich, daß dieses Geschehnis auf Grund des Wesens des Steines eintreten k a n n . Sicherlich zeichnet das Wesen vor, welches Schicksal sein Träger überhaupt erfahren, in welchen Beziehungen er überhaupt stehen k a n n . Ebenso wie die Rede von Wesensnotwendigkeit hat auch die vom W e s e n s g e s e t z hier einen ihrer phänomenologischen Ursprünge. Daß der Stein jedesmal fällt, wenn bestimmte Bedingungen eintreten, ist ein Gesetz, gründend im Wesen des Steines; ebenso daß der Haß die Tendenz hat, sich in bösen Handlungen zu entladen; oder daß 2 kleiner als 3 ist. 3. Bisweilen pflegt man auch die Rede von a p r i o r i s c h e n S ä t z e n auf solche Wesenssätze anzuwenden; in der Tat entspricht dies insofern dem Sprachgebrauch, als sie unabhängig von der s p e z i e l l e n Erfahrung sind, daß S p ist, allerdings nicht unabhängig von a l l e r Erfahrung. Denn daß S w i r k l i c h ein so geartetes Wesen hat, daß das p-sein in ihm gründet, läßt sich nur durch Erfahrung feststellen. Natürlich hat die Rede von Erfahrung nur dann einen Sinn, wenn S ein realer, der empirischen Erfahrung prinzipiell zugänglicher Gegenstand ist. Entsprechende Sätze über Ideales wird man ohnehin apriorisch nennen, im Hinblick auf die Seinsart dieser Gegenstände selbst.9 Wollte man aber alle Urteile, die dem realen oder 9

Tatsächlich sind, falls S ein idealer (zeitloser) Gegenstand ist, die Wesenssätze über S schlechthin a priori. Die Gesetze, welche Z u f ä l l i g e s über S aussagen, setzen auch hier Erfahrung voraus. Um von solchen Sätzen sprechen zu können, müssen wir allerdings Aussagen über Realisierungen von Idealem in Empirischem oder über Bekundungen in erfassenden Akten heranzuziehen. (Z.B. „das hohe a wurde

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idealen S ein p bloß auf Grund der Kenntnis des Wesens von S, also v o r aller direkten Feststellung dieses p-seins beilegen, als apriorisch ansprechen, so würde man damit einen vielleicht nicht unfruchtbaren und dem Sprachgebrauch nicht ganz fernliegenden, aber jedenfalls relativ zu dem früher besprochenen gänzlich neuartigen Begriff der Apriorität statuiert haben. § 4. W e s e n s s ä t z e s i n d k e i n e S ä t z e ü b e r d a s W e s e n . Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß Sätze, welche einem S das p-sein als zu seinem Wesen gehörig oder in seinem Wesen gründend zuschreiben, keine Sätze über das Wesen selbst, sondern Sätze über S sind. Von solchen Aussagen, welche in der Form auftreten: „S ist kraft, vermöge, auf Grund seines Wesens p“, sind, wenn man genauer sein will, zu unterscheiden solche über das p-sein, welche dieses aus irgendwelchem Grunde schon feststehende Moment als einen W e s e n s z u g von S zeichnen, bzw. als auf Grund des Soseins sich notwendig oder möglicherweise ergebend hinstellen. In keinem der beiden Fälle haben wir es aber mit Sätzen ü b e r d a s W e s e n zu tun, und es wäre für einen tieferen Einblick in das, was das Wesen ist, vielleicht auch von d e r Bemerkung auszugehen, daß wir zwar in das Wesen eines Dinges eindringen und es erforschen können, daß wir aber die Resultate dieser Bemühungen wiederzugeben pflegen in Aussagen, welche nicht das Wesen selbst zum Subjekt haben. Eine Aussage über das Wesen selbst wäre z.B.: „Das Wesen von S umfaßt das p-sein, birgt es in sich; bzw. erzwingt oder ermöglicht seine Existenz.“ Wir sehen jedenfalls so viel, daß die Verwachsung zwischen dem, was Wesen von S ist und dem, was S ist, von einer Innigkeit ist, wie sie auf anderen Gebieten nicht leicht ihr Analogon haben dürfte. Das Wesen von S läßt sich nur erschauen an und im Objekt, welches Träger dieses Wesens ist. Es besteht sozusagen nur i n i h m , freilich nicht a u s i h m . Daher auch eine fälschliche Identifizierung des Wesens mit seinem Träger naheliegt. Andrerseits sind S und Wesen von S etwas so verschieden Geartetes, daß von der Sängerin mühelos erreicht.“ – „Dieser Satz war schon den Indern bekannt.“)

Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee

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schwerlich ein Prädikat gefunden werden könnte, welches beiden zuzusprechen wäre, es sei denn dies: daß beide die gleiche Existenzart haben, insofern als z.B. das Wesen stets ein WôGH WL ist, wenn sein Träger es ist. § 5. W e s e n u n d W e s e n s k e r n .10 1. Es sei hier gestattet, an einige jedem wissenschaftlichen Denken bekannte Struktureigentümlichkeiten gewisser Wesen zu erinnern, auf deren tieferen Sinn allerdings erst später ein erhellendes Licht fallen kann. Sehr oft begnügen wir uns bei der Suche nach dem Wesen eines Objektes nicht mit einer möglichst vollständigen und klaren Schauung des gesamten Bestandes seines /kBki ¡wi_f, sondern es wird das Wesen selbst uns zum Problem. Wir sehen wohl, aus welchen Zügen es sich zusammensetzt, aber deren innerer Zusammenhang ist uns nicht verständlich geworden, nicht „aufgegangen“; es fehlt uns der Schlüssel, der uns die Fülle des Wesens aufschließt als einen zusammenhängenden Bau. So läßt uns die Charakterbeschreibung einer historischen Persönlichkeit immer unbefriedigt, die sich in einer wenn auch noch so minutiösen Aufzählung einzelner Züge des Wesens erschöpft. Es gilt a priori verständlich zu machen, weshalb gerade diese Züge in dieser Verflechtung auftreten können, und, das Vorhandensein eines Teils von ihnen vorausgesetzt, als Ganzes verbunden auftreten mußten nach geregelter innerer Zusammengehörigkeit. Es gilt vornehmlich das Fazit der Deskription derart zu ziehen, daß uns ein mehr oder weniger einfacher Kern von Grundzügen aufgewiesen ist, dessen Vorhandensein das der übrigen Fasern des Wesens nach klar erschauten oder mehr instinktiv uns leitenden apriorischen Gesetzen verständlich macht. Ebenso glauben wir unter allen Prädikabilen, die zum Wesen einer geometrischen Figur gehören, eine begrenzte Zahl herausnehmen zu müssen, die sein Grundwesen ausmacht, aus der das Vorhandensein der andern sich einsichtig ergibt.11 10 11

Vgl. unten zweites Kapitel, § 8, 3. Natürlich brauchen diese grundwesentlichen Merkmale in keiner Weise mit denen zusammenzufallen, die die Wissenschaft in der Definition jener

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2. Das Aufsuchen eines solchen Wesenskernes erfüllt sich in Akten intuitiven Aufweisens von Gegebenem und hat nichts zu tun mit willkürlicher Vereinfachung eines Komplizierten oder mit der Hypothesis eines Unbekannten zur Erklärung eines Bekannten. Daß aber ein solcher Wesenskern, ja daß überhaupt eine zusammenhängende, nach inneren Notwendigkeiten begreifbare Struktur j e d e m Wesen innewohne, kann nun keinesfalls behauptet werden. Bringe ich mir das /kBki ¡wi_f des vor mir liegenden Löschblattes voll und ganz zur Gegebenheit, so kann ich zwar auch hier bestimmte Schichtenunterschiede feststellen: das Ausgedehntsein, das Schwersein gehören in andere Schichten als das Weichsein, und dieses wieder in eine andere als das Grünsein; die beiden ersten Momente kommen ihm zu qua Körper, und zwar beide wiederum in verschiedener Weise, das Weichsein qua Löschblatt, das Grünsein qua dieses Löschblatt.12 Dies sind lauter Beziehungen von höchstem philosophischen Interesse, auf die wir später zurückkommen müssen; aber sie finden sich bei jedem Wesen, und diese Strukturverhältnisse haben offenbar nichts zu tun mit denen, die für das Vorhandensein eines Wesenskerns maßgebend sind. Denn die Kompliziertheit des Wesens von diesem Löschblatt spottet als eine bloß zusammengewürfelte Zufälligkeit jedes Versuchs, es mit Rücksicht auf gewisse Grundcharaktere in analoger Weise verständlich zu machen wie das komplizierte Wesen Julius Cäsars oder das Wesen eines Kegelschnittes. Die Feststeilung, daß keineswegs jedes Wesen so etwas wie einen Kern hat, ist vorläufig darum für uns von Wichtigkeit, weil aus dem Nichtvorhandensein der zweiten unter diesen rätselhaften Größen nicht geschlossen werden kann auf das Fehlen des Wesens als solchen. Vielleicht wird nach dieser angedeuteten Trennung unsere Behauptung, jedes Individuum habe ein Wesen, weniger paradox erscheinen. Figur zusammenfaßt. Ein Kegelschnitt läßt sich sehr einfach definieren ohne Kenntnis der wesentlichen oder grundwesentlichen Konstituentien solcher Kurven. 12 Warum wir nicht sagen: Das Weichsein käme ihm zu, qua weicher Gegenstand, das Grünsein qua grüner Gegenstand, wird erst aus den Darlegungen des folgenden Kapitels hervortreten.

Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee

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§ 6. Ü b e r V e r ä n d e r l i c h k e i t v o n W e s e n . 1. Wir haben oben schon hervorgehoben, daß der Umkreis des nicht zum Wesen eines S Gehörigen nicht mit seinem /kf¡Bi FDC SÅVFHLQ zusammenfällt, obwohl letzteres nie zum Wesen zu gehören scheint. Man könnte vielleicht alles p-sein des S, insofern es nicht zu seinem Wesen gehört, als seine A f f e k t i o n bezeichnen. Besonders interessante und schwierige Beispiele bieten uns die realen Gegenstände, an denen Affektionen nicht nur in Gestalt des /kf¡Bi FDC SÅVFHLQ oder des SUô9 WL und dgl., sondern auch in Gestalt von Eigenschaften ihrer selbst auftreten. Wenn ein Haus, das früher braun war, weiß angestrichen worden ist, so würden wir wohl sagen: das Weißsein gehöre n i c h t zu seinem Wesen; und wir begründen dies mit dem Hinweis darauf, daß es auch mit einer andern Farbe ausgestattet werden könnte, ohne daß an der das Haus konstituierenden Wesenseigenart etwas geändert würde.13 Das Wesen ist hier in der Tat das Wö W{ ¿Q ¡wi_f. 2. Von solchen Veränderungen a n einem Dinge unterscheiden wir mit Recht Veränderungen des Dinges selbst. Ein Haus werde so umgebaut, daß es aus einem engen, finsteren, unfreundlichen, zu einem geräumigen, hellen, angenehmen wird. Sein ganzer Charakter hat sich nach dieser Umwälzung verändert. Und um der Sachlage gerecht zu werden, werden wir urteilen müssen: Das Wesen selbst des Hauses habe eine Wandlung erfahren, habe sich entweder geändert oder sei in ein neues Wesen 13

Es ist freilich auch eine Einstellung möglich, in der wir das Haus in dem jetzigen Zustand gegenüber dem Haus im vorigen Zustand als ein isoliertes neues Etwas fassen, ohne daß uns die faktische Identität der beiden kümmerte, wie z.B. dann, wenn wir, Beispiele sammelnd für weiße und für braune Häuser, das Haus, wie es früher war und das Haus wie es jetzt ist, in zwei getrennten Rubriken aufführen. Dann haben wir allerdings Gegenstände vor uns, zu deren Wesen auch das Weißsein, Braunsein gehört. Aber diese Gegenstände sind andere als das Haus, von dem wir oben sprachen, und welches derselbe Gegenstand mit derselben Soheit seiner Konstitution bleibt, mögen auch noch so viele Veränderungen a n i h m geschehen.

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übergegangen. Dabei setzt die Rede vom sich Ändern stets voraus, daß es ein identisch es selbst Bleibendes ist, welches sich da verändert, so daß wir ebenso wie am Hause selbst, so auch an seinem Wesen erfassen können, daß es identisch bleibt in seinen Wandlungen. Doch ist für die Wahrung der Identität des Wesens das Verharren eines Teils seiner Züge keineswegs erforderlich. Denn ein Etwas – auch ein Wesen – kann sich von Grund auf ändern und dennoch Identisch es selbst bleiben. Es gibt freilich auch partielle Änderungen, wobei unter Umständen dasjenige, worauf wir mit der Rede vom Wesenskern hinzuweisen versuchten, das unverändert Bleibende ist. Beispiele dafür bieten vielleicht die Fälle sog. Charakteränderungen von Menschen, die sehr durchgreifend sein können, ohne doch, wie wir sagen, ihr innerstes Wesen zu tangieren.14 3. Alle diese Komplikationen fallen bei zeitlosen Gegenständen weg. Das Wesen von Röte ist unveränderlich, wie die Röte selbst. Diese kann auch keine Eigenschaften aufweisen, die nur vorübergehende Affektionen wären. Alles an ihr haftende stoffliche Moment gehört eo ipso zu ihrer Konstitution, kommt ihr vermöge ihres Wesens zu. Gerade darum ist ja das Wesen realer, veränderlicher Dinge besonders instruktiv, weil ihr bloßes Dasein die Möglichkeit, Wesen mit einer zeitlosen, unveränderlichen, platonisch oder wie immer zu denkenden „Idee“ gleich zu setzen, ein für allemal ausschließen dürfte. Zur Vermeidung jeglicher Mißverständnisse betonen wir allerdings noch einmal, daß natürlich von so etwas wie einer I d e e d e s W e s e n s , die vom Wesen selbst streng zu scheiden wäre, ganz andere Sätze gelten wie vom Wesen selbst. Die Idee des Wesens wäre unzerstörbar und käme auch dem nicht mehr existierenden Gegenstande zu. Wieder etwas anderes wäre wohl das Wesen von der Idee des Gegenstandes; auch dieses wäre unveränderlich wie die Idee.

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Doch ist dabei das Wesensgesetz zu beachten, daß bei gleichbleibendem Wesenskerne die Wesenszüge nie ganz beliebig variieren können. Da sie in ihrem Vorhandensein auf Grund des Wesenskerns verständlich gemacht werden können, ist ihre Variationsmöglichkeit a priori vorgezeichnet. Umgekehrt werden Veränderungen des Kernes in der Regel solche der Schale nach sich ziehen. Ein genaueres Studium dieser Verhältnisse wäre aber notwendig.

DIETRICH VON HILDEBRAND ETHIK1

I. WERT UND MOTIVATION 1. Kapitel Der Begriff der Bedeutsamkeit im allgemeinen

Die Erfahrung zeigt, daß ein Seiendes, das Gegenstand unserer Erkenntnis werden kann, nicht notwendig unseren Willen oder unsere affektiven Antworten, wie Freude, Trauer, Begeisterung, Empörung usw. motiviert. Wenn wir einen Verzweifelnden nach der Ursache seines Grames fragten und er antworten würde: „Weil zwei mal zwei vier ist“, oder „weil die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten Winkeln ist“, so würden wir diese Tatsachen als Erklärung für seine Trauer selbstverständlich zurückweisen. Wir würden vielmehr annehmen, er wolle uns aus irgendeinem Grund ausweichen und weigere sich, uns den wahren Grund seines Schmerzes zu sagen, oder aber er verbinde diese Tatsachen abergläubisch mit etwas Unheilvollem. Vielleicht würden wir auch vermuten, er sei geisteskrank oder zumindest einer Neurose verfallen, in der die wahre Ursache seiner Verzweiflung ins Unterbewußtsein verdrängt wurde. Keineswegs würden wir zugeben, mathematische Feststellungen als solche könnten jemals seine Betrübnis oder Verzweiflung motivieren. Denn sie erscheinen uns derart neutral, daß nichts in ihnen eine affektive Antwort negativ oder positiv motivieren könnte. Nun bezeichnen die Begriffe gut (bonum) und schlecht (malum) jedoch gerade die Eigenschaft eines Seienden, die es befähigt, unseren Willen zu motivieren oder eine affektive Antwort in uns hervorzurufen. Wir wollen 1

Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 1-3; Kap. 23.

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jetzt noch nicht die Frage stellen, ob jedes Seiende als solches den Charakter eines bonum trägt, mit anderen Worten, ob es ein vollständig neutrales Seiendes gibt. Hier muß zunächst geklärt werden, ob Seiendes existiert, das uns als neutral oder indifferent gegeben ist, wenigstens so weit, daß es uns nicht diejenige Eigenschaft enthüllt, durch die es uns bewegen und unseren Willen, unsere Freude, unsere Trauer, unsere Hoffnung oder unsere Furcht motivieren kann. Das Besondere, wodurch ein Gegenstand eine affektive Antwort hervorrufen oder unseren Willen motivieren kann, wollen wir „Bedeutsamkeit“ nennen. Wir sind uns voll bewußt, daß das Wort „Bedeutsamkeit“ oft in einem anderen Sinne gebraucht wird, wollen es hier aber als Terminus technicus für jene Proprietät des Seienden verwenden, die ihm den Charakter des bonum oder malum verleiht; kurz, „Bedeutsamkeit“ wird hier als Antithese zur Neutralität oder Indifferenz genommen.2 Ohne Zweifel ist der Begriff der „Indifferenz“ ein notwendiger und bedeutsamer, selbst wenn die endgültige Analyse ergibt, daß etwas vollständig Indifferentes oder Neutrales nicht existiert. Auch der Begriff der Nichtexistenz ist sinnvoll und notwendig, obgleich es keine „NichtExistenz“ gibt und obwohl kein wirklich Seiendes besteht, von dem wir sagen können, es existiere nicht. Doch abgesehen von der Tatsache, daß der Begriff der Indifferenz, der dem der Bedeutsamkeit entgegengesetzt ist, durchaus nicht leer und sinnlos ist, besteht kein Zweifel, daß diese Unterscheidung zwischen dem Neutralen oder Indifferenten und seinem Gegensatz, der positiven oder negativen Bedeutsamkeit, eine große Rolle in unserem Leben spielt. Viele Tatsachen und Gegenstände haben für uns den Charakter des Neutralen und Indifferenten und können trotzdem sehr wohl Objekt unserer Erkenntnis, keinesfalls aber Objekt unseres Willens, unseres Wünschens oder irgendeiner affektiven Antwort, wie Freude, Trauer, Begeisterung, Empörung usw. werden. 2

Wir sehen zunächst von der Tatsache ab, daß ein Gegenstand, obgleich neutral vom Gesichtspunkt unserer affektiven Antworten und unseres Willens, doch Ursache der Freude im Verlauf geistiger Forschung sein kann. Die mathematischen Entdeckungen des Pythagoras waren ihm sicherlich eine Quelle von Freude. Aber das widerspricht nicht der in unserem Sinne relativen Neutralität der Gegenstände, die Pythagoras untersuchte.

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Ein Gegenstand muß mit irgendeiner Art von Bedeutsamkeit ausgestattet, muß der bloßen Neutralität oder Indifferenz enthoben sein, um den Willen oder irgendeine affektive Antwort zu motivieren. Es genügt nicht zu sagen: Nihil volitum nisi cogitatum – Nichts wird gewollt, was nicht zuerst erkannt ist. Wir müssen hinzufügen: Nichts kann gewollt werden, was uns nicht als irgendwie bedeutsam gegeben ist. Solange der Gegenstand vollkommen indifferent oder neutral vor uns steht, ist er seinem Wesen nach außerstande, unseren Willen zu motivieren oder eine affektive Antwort in uns zu erzeugen. Daher unterscheiden wir im Bereich unserer Erfahrung eindeutig zwischen neutralem und bedeutsamem Seienden. Sollte uns die Metaphysik später lehren, daß diese Indifferenz keine absolute ist, oder uns eine tiefere Analyse enthüllen, daß jedes Seiende eine Bedeutsamkeit in unserem Sinne hat, so können wir die erlebte Indifferenz als eine relative betrachten. Aber diese metaphysische Einsicht würde niemals die in unserer Erfahrung bestehende Verschiedenheit zwischen Indifferentem und dem Bedeutsamen selbst aufheben. Erstens könnte sie nicht den charakteristischen Unterschied zwischen den Gegenständen auslöschen, die sich uns als indifferent und neutral zeigen (und darum als außerstande, uns zu bewegen und zu affizieren), und jenen, die sich uns als bedeutsam darbieten (und daher imstande sind, unseren Willen und unsere affektiven Antworten zu motivieren). Diese Verschiedenheit bleibt eine reale und inhaltsvolle, selbst wenn das indifferent Seiende in einer tieferen Schicht eine verborgene Bedeutsamkeit aufweist. Überdies würde das primäre Interesse an der Unterscheidung zwischen den Begriffen der Indifferenz und der Bedeutsamkeit in keiner Weise durch die Tatsache verringert, daß selbst das scheinbar indifferente Seiende, letztlich oder metaphysisch gesehen, eine Bedeutsamkeit besitzt. Es ist daher von größter Wichtigkeit, das datum der Bedeutsamkeit und seinen vollen Sinn zu erkennen. Wenn die Metaphysik uns lehrt, jedes Seiende sei tatsächlich bedeutsam in unserem Sinne, so hat diese Feststellung keineswegs einen tautologischen Charakter. Sie würde im Gegenteil eine überraschende Entdeckung enthalten und eine echte veritas aeterna (ewige Wahrheit) im augustinischen Sinn darstellen, oder mit den Worten der scholastischen Philosophie: ein analytisches Urteil des zweiten Modus der Perseität.

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Zweifellos ist die Relation zwischen Bedeutsamkeit und unserem Willen oder jeder unserer affektiven Antworten so evident, daß wir sie ungeachtet einer mechanistischen oder einer Assoziations-Psychologie instinktiv voraussetzen, sobald wir es mit der Wirklichkeit, hier also mit der Motivierung in der einzelnen Person zu tun haben. Das Wissen um diese Tatsachen zeigt sich uns auch als Grundlage für die große Freudsche Entdeckung des Phänomens der Verdrängung. Obwohl sein theoretischer Ausgangspunkt sicherlich keine philosophische Einsicht in diese Tatsache einschließt, baut er nichtsdestoweniger auf ihr auf, wenn er gewisse Motivationen als anomal betrachtet und es in diesen Fällen ablehnt, das vom Bewußtsein angegebene Objekt als das echte anzuerkennen. Nun nennen wir das Objekt mit positiver Bedeutsamkeit, der Tradition gemäß, ein gutes, das mit negativer Bedeutsamkeit ein schlechtes. Es ist unbedingt notwendig, von allem Anfang an zu betonen: Der Gegensatz zwischen positiver und negativer Bedeutsamkeit, zwischen gut und schlecht, ist kein kontradiktorischer, sondern ein konträrer. Daher ist negative Bedeutsamkeit nicht einfach Abwesenheit der positiven, denn dies würde gerade bedeuten, das Objekt sei indifferent oder neutral. Wie körperlicher Schmerz eine Antithese zu körperlicher Lust darstellt und sich deutlich von einem neutralen Zustand, in dem weder Schmerz noch Lust erlebt wird, unterscheidet, so ist auch die negative Bedeutsamkeit eines traurigen Ereignisses nicht einfach die Abwesenheit eines erfreulichen. Hier liegt ein konträrer Gegensatz vor. Das gilt für jede negative Bedeutsamkeit, für alles Schlechte. Diese Feststellung berührt noch nicht die Frage, ob die Ursache jeder negativen Bedeutsamkeit in einem Mangel des Seienden liegt. Bevor wir die ontologische Grundlage der negativen Bedeutsamkeit erörtern, müssen wir zuerst die data erhellen, indem wir die Natur dessen, was uns als unbestreitbare Realität gegeben ist, untersuchen. Es wird uns jedoch nur gelingen, die wahre ontologische Basis jenes „Etwas“ zu entdecken, das wir mit den Worten: traurig, unangenehm, unglücklich, schlecht, böse usw. meinen, nachdem wir vollauf verstanden haben, was dieses „Etwas“ zu sein vorgibt. Wenn wir dagegen, noch bevor wir uns dem datum zuwenden, eine fertige Erklärung zur Hand haben und es stillschweigend für überflüssig halten, die Eigenart des datum auch nur zu erfassen, dann gebärden wir uns wahrlich wie

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Schulmeister und nicht wie Philosophen oder wie Blinde, die über Farben sprechen. Ohne das metaphysische Problem des Ursprungs des Bösen vorwegzunehmen, müssen wir uns hier dem Staunen über die Natur der Bedeutsamkeit und über die Art der Antithetik zwischen positiver und negativer Bedeutsamkeit überlassen. Mit der Feststellung, unser erstes Anliegen solle die Eigenart des unbestreitbaren datum positiver und negativer Bedeutsamkeit sein, beschränken wir uns keineswegs darauf, bloß subjektive Eindrücke, also für den menschlichen Geist relative Seinsgebilde zu analysieren. Im Gegenteil, wir konzentrieren uns auf ein Thema von größtem metaphysischen und gesamtphilosophischen Interesse, von klar umrissener objektiver Bedeutung. Der sinnvolle, innerlich notwendige Charakter der beiden data positiver und negativer Bedeutsamkeit oder Gut und Schlecht schließt von vornherein jede Möglichkeit aus, sie als bloße „Phänomene“ zu interpretieren.3

2. Kapitel Bedeutsamkeit und Motivation

Um die verschiedenen Typen von Bedeutsamkeit herausarbeiten zu können, müssen wir mit der Untersuchung der data anfangen, die imstande sind, unseren Willen zu motivieren, affektive Antworten zu erzeugen oder unsere Seele zu bewegen. Wenn wir unsere Untersuchung mit jenem Merkmal eines Seienden beginnen, vermöge dessen es unser Begehren motiviert, so bedeutet das keine neue Betrachtungsweise. Eine traditionelle Definition des Guten lautet: Bonum est quod omnes desiderant – Gut ist, was alle begehren. Doch im Unterschied zu dem traditionellen Ausgangspunkt wollen wir den Begriff der Motivation oder des desiderare nicht über die personale Sphäre hinaus erweitern, vielmehr von der Motivation im ursprünglichen Sinne 3

Vergleiche unsere Darlegungen über das Wesen der Objektivität dieser intelligiblen data in den ‚Prolegomena‘.

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ausgehen, also von einer Relation, die wesenhaft eine Person voraussetzt. Wir wollen bei dem desiderare im Sinne eines personalen Aktes ansetzen, wie er uns in der Erfahrung gegeben ist. Daher möchten wir eine Anwendung dieser Termini auf irgendeine Finalrelation in der Sphäre der Lebewesen wie des unbelebten Seienden ausschließen, dergemäß man z. B. sagen würde: jedes Seiende begehrt nach Selbstvollendung. Da wir von dem unmittelbar Gegebenen, von den sich unmittelbar in der Erfahrung enthüllenden data ausgehen wollen, werden wir uns jedes analogischen Gebrauches dieser Termini enthalten, der das Erfassen der spezifischen Eigenart der Motivation oder des desiderare gefährdet. Die Gefahr einer solchen Ausweitung besteht darin, daß man diese Termini bei der Analyse des Wirklichen anwendet, jedoch eine apersonale Relation zugrunde legt und so den wesenhaft personalen Sinngehalt dieser Termini übersieht. Viele Philosophen mögen entgegnen, unsere Methode schließe die metaphysische Sphäre aus und beschränke uns auf die psychologische.4 Aber das scheint uns ein Vorurteil zu sein. Sollte etwas darum metaphysischer sein, weil es keine Person voraussetzt oder weil es sich auf apersonales Seiendes bezieht?5 Dieses Vorurteil beruht offenbar auf einer Verwechslung jener Dinge, die nur für den menschlichen Geist existieren (wie bloßer Schein oder Fiktion) mit personalen Akten (wie Erkenntnis, Wille, Liebe, Freude). Diese letzten sind unverkennbar nicht nur Realitäten für den Geist der Person, sondern zugleich objektive Wirklichkeiten, Aktualisierungen und Manifestationen der Person selbst. Sie sind reale, bewußte Entitäten, von bloß „psychologischer“ Realität so weit entfernt wie irgendein Vorgang in der materiellen Welt oder irgendein physiologischer Prozeß. Und diese Wirklichkeiten sind nicht nur ebenso objektiv vorhanden wie Vorgänge in der materiellen Welt und ebenso verschieden von bloßer Illusion oder 4

5

„Das Psychologische gehört selbst zum ontologischen und metaphysischen Bereich“. (Pius XII. in seiner Ansprache an den 5. Internationalen Kongreß für Psychotherapie und klinische Psychiatrie). Dieselben Metaphysiker, die gegenüber der personalen Sphäre derart vorsichtig, in die apersonale dagegen so verliebt sind, werden trotzdem zugeben, daß die Person einen höheren ontologischen Rang besitzt als irgendein apersonales Seiendes und daß Gott die absolute Person ist.

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Fiktion; sie haben darüber hinaus einen unvergleichlich höheren Rang, denn sie gehören zum Reich des Geistes. Der personale Charakter des desiderare Vom metaphysischen Standpunkt aus ist es von höchster Wichtigkeit, uns von jeglicher Denkweise frei zu machen, in der das apersonale Seiende, apersonale Relationen und Prinzipien als Urbild (causa exemplaris) der höheren Sphäre fungieren. Wenn wir diese Betrachtungsweise nicht überwinden, sind wir in Gefahr, das spezifische Wesen dieser Akte zu übersehen oder es zu verfälschen, indem wir sie auf eine Art bloßer Bewegungen oder Spannungen reduzieren, die nur in der nicht personalen Welt vorhanden sind. Eine andere Gefahr ist, daß man ihre Fülle, ihre ontologische Überlegenheit übersieht, die zutiefst mit ihrem Charakter als bewußte Entitäten zusammenhängt. Diese Gefahr steht in Analogie zu dem Freudschen Irrtum, die Liebe als bloße Sublimierung des Geschlechtstriebes zu sehen. In beiden Fällen wird etwas metaphysisch tiefer Stehendes zur causa exemplaris eines Höheren gemacht. Beide Male wird das uns in einem bewußten Erlebnis als Ganzes Gegebene außer acht gelassen und in einem ausschließlich psychologischen Zusammenhang gesehen. Der Bewußtseinsbereich wird als verdächtig und ungültig behandelt. Eine solche Betrachtungsweise mag für Dinge , die nur als Bewußtseinsinhalte Existenz haben, tunlich sein, auf reale Akte der Person, wie Erkenntnis, Wille und Liebe angewandt, die keineswegs bloße Bewußtseinsinhalte, sondern bewußte objektive Wirklichkeiten sind, kann sie nicht angewandt werden. Ihr Charakter als ein bewußtes Seiendes, ihre ontologische Überlegenheit Vorgängen oder Spannungen in der apersonalen Welt gegenüber schmälert ihre Gültigkeit als objektive Realitäten nicht um ein Gran.6 Wenn wir hier also gewisse Ausdehnungen der Termini „Motivation“ und desiderare ausschließen, so muß der Begriff der Motivation nach einer

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etwa eine Halluzination. Anm. d. Übers. Dies steht in keiner Weise im Widerspruch zu der Tatsache, daß es in der menschlichen Person eine Schicht objektiver Realität gibt, die von der bewußt erlebten Sphäre unterschieden werden muß.

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anderen Richtung hin erweitert werden. Das bonum kann nämlich nicht auf den Gegenstand eines möglichen Begehrens beschränkt werden. Im Gegenteil, wir müssen auch die Objekte in unsere Untersuchung einbeziehen, die imstande sind, Freude, Begeisterung, Verehrung oder Achtung in uns zu erzeugen, ebenso jene, die uns tief zu ergreifen vermögen. Diese Erlebnisse und Akte können offenbar nicht unter den Terminus desiderare, selbst nicht im weitesten Wortverstande, zusammengefaßt werden. Nun ist aber sogar der Ausdruck desiderare als solcher noch nicht eindeutig. Da ist zuerst der buchstäbliche Sinn, in dem desiderare das Besitzenwollen eines Gutes bedeutet. Wir begehren, eine Speise zu essen, einen Wein zu trinken, ein Land zu sehen, schöne Musik zu hören, mit einer geliebten Person vereinigt zu sein. In all diesen Fällen richtet sich das desiderare auf bona, die man besitzen kann, die ein Genießen im strikten Sinn zulassen; hier geht es nicht nur um die Frage nach der Existenz eines Gutes, sondern es ist auch eine spezifische Aneignung, ein Meinwerden möglich. Wir können sagen: Dieses typische Begehren ist auf den Besitz eines Gutes gerichtet; sein Formalobjekt ist das Besitzen oder das Genießen eines Gutes. Wie wir später sehen werden, kann man von manchen Gütern Besitz ergreifen, während andere diese Möglichkeit ausschließen. Folglich ist es unmöglich, den Begriff des bonum auf diesen einen Typus des desiderare zu beschränken, dem gemäß wir ein Gut zu besitzen und uns an ihm als unserem Eigentum zu freuen trachten. Desiderare kann auch in dem weiteren Sinn jedes positiven Interesses an der Existenz eines Gutes verstanden werden. Dann erstreckt es sich nicht allein auf unser Trachten nach dem Besitz des Gutes, sondern auch auf unser Streben nach seiner Existenz. Sein Formalobjekt ist das Realwerden eines noch nicht existierenden Gutes. Ein solches Verlangen ist in jedem echten Wollen wie in jedem Wünschen enthalten. In diesem Sinne verlangen wir danach, daß unser Freund gesund sei, daß die Gerechtigkeit triumphiere, daß ein Sünder sich bekehre usw. Diese Akte sind auf die Zukunft gerichtet: entweder auf das Entstehen eines Etwas oder auf die Fortdauer seiner Existenz. Doch selbst in dieser weiteren Bedeutung deckt sich Begehren nicht vollauf mit unseren positiven Haltungen einem Gut gegenüber. Freude, Begeisterung, Verehrung können weder im engeren noch im weiteren

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Sinne des Wortes als ein desiderare gedeutet werden. Es ist z. B. klar, daß Freude über die Bekehrung eines Sünders kein desiderare im strikten Sinn des Wortes ist; denn die Bekehrung ist kein Gut, das man besitzen, das man sich aneignen könnte. Diese Freude bezieht sich vielmehr auf die Tatsache der Bekehrung selbst und nicht auf irgendein Besitzverhältnis zu ihr, das hier gar nicht in Frage kommt. Aber diese Freude ist auch kein Begehren im weiteren Sinn. Ihr Formalobjekt ist nicht das Wirklichwerden eines Etwas. Sie ist eine Antwort auf etwas schon Existierendes, etwas bereits Geschehenes. Daher müssen wir in unsere Untersuchung der verschiedenen Bedeutsamkeitstypen auch die Frage einbeziehen: Welcher Sinn von bonum ist auf der Objektseite gegeben, wenn wir uns über die Bekehrung eines Sünders freuen oder den Genius Platos bewundern? Notwendigkeit und Intelligibilität der Bedeutsamkeitskategorien Ein Studium der Bedeutsamkeitskategorien, die unseren Willen oder unsere affektiven Antworten motivieren können, d. h. eine Untersuchung der Gesichtspunkte, nach denen etwas den Charakter des Bedeutsamen annimmt, ist von größtem philosophischem Interesse. Wir werden uns später darüber hinaus fragen müssen: Welche Arten der Bedeutsamkeit erweisen sich als Proprietäten des Seienden selbst, unabhängig von dem Gesichtspunkt, nach dem wir uns ihnen zuwenden können? Dies ist offenbar eine neue, andersartige Frage. Nichtsdestoweniger ist die Analyse der möglichen Gesichtspunkte, nach denen Etwas als ein Gut betrachtet werden kann, keineswegs ein Problem aus dem Bereich der empirischen Psychologie. Diese beschäftigt sich mit Phänomenen wie der Verdrängung, dem Prozeß des Erlernens, den Assoziationsgesetzen usw. Dagegen befaßt sich eine Untersuchung der verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen einem Gegenstand Bedeutsamkeit zukommt, mit notwendigen, im höchsten Maß intelligiblen data, analog den aristotelischen Kategorien der Prädikation. Selbst als Gesichtspunkte der Erkenntnislehre überschreiten die Kategorien auf Grund ihrer Intelligibilität und ihrer letztlichen Sinnträchtigkeit den Rahmen rein empirischer Psychologie. Das gilt auch für die Bedeutsamkeitskategorien. Sogar als mögliche Gesichtspunkte einer

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Motivation betrachtet, erweisen sie sich als ebenso klar umrissene und intelligible Begriffe wie die der logischen Sphäre. Ihre Einsichtigkeit und ihr dichter Sinngehalt verleihen ihnen eine hohe philosophische Bedeutung. Hier stehen wir nicht psychologischen Phänomenen gegenüber, die nur empirischer Beobachtung zugänglich sind. Es ist nicht unsere Absicht, das Vorhandensein gewisser Bedeutsamkeitstypen in unserer Motivation nur als nacktes empirisches Faktum festzustellen. Wir wollen vielmehr die apriorische7 Einsicht gewinnen, daß bestimmte Typen von Bedeutsamkeit wirklich existieren. Diese Einsicht kann als Analogon zu jener Erkenntnis betrachtet werden, in der wir ein Urteil als kategorisch, hypothetisch oder alternativ bezeichnen oder in der wir sagen, ein Urteil könne entweder positiv oder negativ sein. Doch ihre innere Notwendigkeit und Intelligibilität, die sie prägt, schließt sie nur von dem Gebiet der empirischen Psychologie aus, und nicht unbedingt von dem der rationalen Psychologie, die Wesensforschung ist. Denn diese, d. h. die philosophische Anthropologie, befaßt sich gleichfalls mit notwendigen, intelligiblen Seinsgebilden und zielt auf apriorische Einsichten. Gleichwohl können die Bedeutsamkeitskategorien aus einem anderen Grund nicht als Gegenstand der Philosophie vom Menschen angesehen werden. Diese beschäftigt sich ausschließlich mit Seinsgebilden, die ein realer Bestandteil der menschlichen Person sind. Offenbar sind die Kategorien der Prädikation, obwohl sie eine denkende Person voraussetzen, nicht selbst ein realer Teil des menschlichen Geistes. Darum sind sie nicht Gegenstand der philosophischen Anthropologie, sondern der Logik. Analog dazu sind die Bedeutsamkeitskategorien, d. h. die Gesichtspunkte, nach denen etwas den Charakter der Bedeutsamkeit annimmt, kein realer Teil der menschlichen Seele; darum können sie nicht als Gegenstand der rationalen Psychologie gelten. Auf der anderen Seite bestreiten wir nicht, daß sich aus diesem Phänomenen auch für die Philosophie vom Menschen viele interessante Probleme ergeben. Nach der Erörterung der Bedeutsamkeitskategorien als grundlegender Gesichtspunkte der Motivation werden wir jetzt nach den Arten der 7

Der Terminus „a priori“ muß hier im Sinne einer Erkenntnis von veritates aeternae verstanden werden, und nicht im Sinne Kants. (Vgl. ,Prolegomena‘ S. 13 Anm. 1).

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Bedeutsamkeit fragen, die das Seiende selbst, unabhängig von jeder Zuwendung zu ihm besitzen kann. Wir müssen hier betonen: Eine Analyse der verschiedenen Bedeutsamkeitstypen ist nicht nur unerläßlich für die Erforschung des metaphysischen Problems, welche Art der Bedeutsamkeit das Sein und das Seiende in sich besitzen; sie ist auch von höchstem Interesse für das Subjekt der Ethik. Nicht nur das Wesen des Objektes unseres Willens ist in der Ethik von überragender Wichtigkeit, sondern auch der Gesichtspunkt, unter dem sich eine Person diesem Objekt zuwendet. Denn der Gesichtspunkt, nach dem wir etwas wählen, ist durchaus nicht mit der objektiven Bedeutsamkeit des Gegenstandes selbst identisch, wie das klassische Beispiel einer sittlich bösen Haltung zeigt.

3. Kapitel Die Kategorien der Bedeutsamkeit Das in sich Bedeutsame und das bloß subjektiv Befriedigende Wir wollen unsere Analyse der verschiedenen Kategorien von Bedeutsamkeit, die unseren Willen und unsere affektiven Antworten motivieren können, mit einem Vergleich der beiden folgenden Erlebnisse beginnen: Nehmen wir erstens an, jemand mache uns ein Kompliment. Wir merken vielleicht, daß wir es nicht ganz verdienen, aber es ist uns dennoch angenehm, es gefällt uns. Es ist nichts Neutrales und Indifferentes für uns, wie wenn uns jemand erklärt, sein Name beginne mit einem T. Vielleicht werden uns viele andere Dinge vor diesem Kompliment gesagt, Dinge von neutralem und indifferentem Charakter, aber jetzt tritt das Kompliment gegenüber allen anderen Feststellungen in den Vordergrund. Es stellt sich uns als angenehm dar, ausgestattet mit den Merkmalen eines bonum, kurz als etwas Bedeutsames. Nehmen wir ferner an, wir seien Zeugen einer großmütigen Tat geworden, jemand habe ein schweres Unrecht verziehen. Auch hier fällt uns ein Unterschied zu neutralen Tätigkeiten auf, z. B. zum Sichankleiden oder

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Eine-Zigarette-Anzünden. Der Akt des großmütigen Verzeihens leuchtet in der Tat als etwas Edles und Kostbares auf; er trägt das Merkmal des Bedeutungsvollen. Er bewegt uns und erweckt unsere Bewunderung. Wir erkennen nicht nur, daß diese Tat sich ereignet, sondern daß es besser ist, daß sie sich ereignet, besser, dieser Mann handelt so und nicht anders. Wir sind uns bewußt, dieser Akt ist bedeutsam, er ist etwas, was sein soll. Vergleichen wir diese beiden Typen des Bedeutsamen, so entdecken wir sogleich die wesenhafte Verschiedenheit zwischen ihnen. Der erste – das Kompliment – ist nur subjektiv bedeutsam, der andere dagegen – der Akt des Verzeihens – in sich bedeutsam. Es ist uns ganz klar, das Kompliment trägt nur, soweit es uns Freude macht, den Charakter des Bedeutsamen. Seine Bedeutsamkeit zehrt ausschließlich von seiner Relation auf unsere Befriedigung; sobald es von dieser geschieden wird, sinkt es zurück in die Anonymität des Neutralen und Indifferenten. Im Gegensatz dazu erweist sich der großmütige Akt des Verzeihens als etwas in sich Bedeutsames. Wir sind uns deutlich bewußt, daß seine Bedeutsamkeit in keiner Weise von irgendeiner Wirkung abhängt, die er in uns hervorruft. Seine besondere Bedeutsamkeit zehrt nicht von irgendwelcher Beziehung zu unserem Vergnügen und unserer Befriedigung. Er steht vor uns als etwas wesenhaft und autonom Bedeutsames, das in keiner Weise von unserer Reaktion abhängig ist. Auch unsere Sprache bringt diese grundlegende Unterscheidung zum Ausdruck. Die Bedeutsamkeit des Angenehmen oder Befriedigenden wird immer durch die Präposition „für“ ausgedrückt: Etwas ist angenehm für oder befriedigend für jemanden. Die Termini „angenehm“ und „befriedigend“ können als solche nicht auf einen Gegenstand angewandt werden, sondern nur, insoweit sie eine Person oder analog ein Tier betreffen. Andererseits verlangen die Ausdrücke „heroisch“, „schön“, „edel“, „erhaben“ durchaus nicht die Präposition „für“; sie widersprechen ihr vielmehr. Ein Akt der Liebe ist nicht erhaben für jemanden, sowenig wie die Neunte Symphonie Beethovens oder ein herrlicher Sonnenuntergang schön für jemanden ist. Die innere Bedeutsamkeit eines großmütigen Aktes des Verzeihens bezeichnen wir als „Wert“, zum Unterschied von der Bedeutsamkeit aller jener Güter, die unser Interesse nur darum erregen, weil sie angenehm oder befriedigend für uns sind.

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Aber sind sich diese beiden wesenhaft verschiedenen Typen der Bedeutsamkeit nicht doch in einer anderen Hinsicht ähnlich? Ist es nicht wahr, daß das Gute, Schöne, Edle, Erhabene uns tief ergreift, uns mit Freude und Entzücken erfüllt? Gewiß lassen sie uns nicht indifferent. Spendet uns jedes volle Erlebnis der Schönheit nicht notwendig Beglückung? Freuen wir uns nicht, wenn die Liebe oder Großmut eines Menschen unser Herz berührt? Solche Wonne, solches Entzücken sind tatsächlich wesenhaft verschieden von dem Vergnügen, das ein Kompliment hervorruft. Doch hebt dieser Unterschied wirklich die Tatsache auf, daß in beiden Fällen eine ähnliche Beziehung auf ein freudevolles Erlebnis zu finden ist? Sicherlich haben die Dinge, die wir in sich selbst bedeutsam nennen, die werttragenden Dinge, die Fähigkeit, Freude zu spenden. Doch wird eine Analyse des spezifischen Charakters der Freude noch deutlicher die wesenhafte Verschiedenheit dieser beiden Arten der Bedeutsamkeit erweisen. Sie wird zeigen, daß der Wert seine Bedeutsamkeit unabhängig von seiner Wirkung auf uns besitzt. Das Entzücken, die Ergriffenheit, die wir als Zeuge einer edlen sittlichen Tat oder beim Anblick der Schönheit eines sternenbesäten Himmels erleben, setzt wesenhaft das Bewußtsein voraus, daß die Bedeutsamkeit des Gegenstandes in keiner Weise von der Freude, die er uns schenkt, abhängt. Denn diese Seligkeit erwächst gerade aus unserer Konfrontation mit einem in sich selbst bedeutsamen Gegenstand, der majestätisch und autonom in seiner Erhabenheit und Hoheit vor uns steht. Es gehört gerade zu unserer Seligkeit, daß wir hier einen Gegenstand finden, der vollkommen unabhängig von unserer Reaktion auf ihn ist, dessen Bedeutsamkeit wir nicht verändern, weder erhöhen noch verringern können; denn sie erwächst ihm nicht aus seinem Verhältnis zu uns, sondern aus seiner eigenen Ranghöhe. Er steht gleichsam als eine Botschaft von oben vor uns; er trägt uns über uns selbst hinaus. Deshalb ist der Unterschied zwischen dem Glück, das der bloßen Existenz eines Wertes entströmt, und dem Vergnügen an etwas subjektiv Befriedigendem kein Unterschied des Grades, sondern der Art: eine Wesensverschiedenheit. Ein Leben, das in einem ununterbrochenen Strom von Vergnügungen bestünde, die nur subjektiv Befriedigendes zur Ursache

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haben, könnte uns niemals einen Augenblick jenes seligen Glückes gewähren, das echt werthaltige Wirklichkeiten erzeugen. Darum ist der Unterschied zwischen der egozentrischen Lust, die Aristippos als das einzig wahre Gut hinstellte, und dem Glück, nach dem Sokrates und Platon rangen, kein bloßer Gradunterschied, sondern einer des Wesens.8 Egozentrisches Glück zehrt sich auf die Dauer selbst auf und endet in Langeweile und Leere. Das beständige Genießen des bloß subjektiv Befriedigenden wirft uns schließlich in unsere eigene Begrenztheit zurück und kerkert uns in uns selbst ein. Unsere Zuwendung zu einem Wert erhebt uns dagegen, befreit uns vom Kreisen um uns selbst und trägt uns in eine von uns selbst, unseren Stimmungen, unserer jeweiligen Verfassung unabhängige transzendente Ordnung. Dieses beglückende Erlebnis setzt eine Teilhabe an dem in sich Bedeutsamen voraus; ihm wohnt eine Harmonie inne, die allein das in sich Gute, das wesenhaft Edle ausstrahlen. Es entfaltet eine Leuchtkraft vor uns, die mit der inneren Schönheit und Herrlichkeit des Wertes „konsubstantial“ (kongenial) ist. In dieser einzigartigen Berührung mit dem wahrhaft und autonom in sich Bedeutsamen ist es der Gegenstand, der unseren Geist birgt und umfängt. Im Prolog zu Wagners Oper Tannhäuser, in der Venusbergszene, sehen wir Tannhäusers Verlangen, den Bannkreis eines Lebens zu durchbrechen, das Lust um Lust verlangt. Er würde sogar edles Leiden dieser Einkerkerung im eigenen Ich vorziehen. Hier begegnen wir einigen Elementen dieser Sehnsucht nach etwas in sich Bedeutsamem, dem allein wir uns im wahren Sinn des Wortes hingeben können. Diese Sehnsucht, einer alle Egozentrik überragenden Wirklichkeit gegenüberzustehen, die uns verpflichtet und uns befähigt, die Grenzen unserer ausschließlich in unserer Natur9 wurzelnden subjektiven Neigungen, Strebungen und Triebe zu übersteigen, gehört wahrhaft zum tiefsten Wesen des Menschen. 8 9

Vgl. Augustinus, Sermo 179, 6. Der hl. Thomas unterscheidet deutlich zwischen dem von einem Wert ausgehenden und dem von dem bloß subjektiv Befriedigenden stammenden delectabile, obwohl er den Begriff Wert nicht gebraucht: „Honesta sunt etiam delectabilia … dicunter tamen illa proprie delectabilia, quae nullam habent aliam rationem appetibilitatis, nisi delectationem, cum aliquando sint et noxia, et inhonesta ... Honesta vero dicuntur, quae in seipsis habent, unde desiderentur.“ Summa Theologica, I, q. 5, a. 6

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Wir können also sagen: Beide, der Wert und das subjektiv Befriedigende, vermögen uns zu erfreuen. Aber gerade die Natur dieser Freude zeigt klar die wesenhafte Verschiedenheit der beiden Arten von Bedeutsamkeit. Das echte, tiefe Glück, das der Wert in uns bewirkt, schließt notwendig ein Wissen um die innere Bedeutsamkeit des Gegenstandes ein. Dieses Glück ist wesenhaft ein Begleitphänomen, denn es ist in keiner Weise die Wurzel dieser Bedeutsamkeit, sondern strömt als Überfluß aus ihr hervor. Das Bewußtsein, daß ein großmütiger Akt des Verzeihens seine Bedeutsamkeit unabhängig davon besitzt, ob ich von seiner Existenz weiß oder nicht, ob ich mich über ihn freue oder nicht, ist geradezu die Wurzel des Glückes, das wir erleben, wenn wir ihm gegenüberstehen. Darum ist dieses Glück etwas Sekundäres, ungeachtet der Tatsache, daß die Fähigkeit, uns Freude zu spenden, ein wesentliches Merkmal der Werte ist. Wir sollen uns sogar an ihnen freuen. Der Wert ist hier das principium (das Bestimmende) und unser Glück das principiatum (das Bestimmte). Im Falle des subjektiv Befriedigenden dagegen ist unser Vergnügen das principium und die am Gegenstand haftende Bedeutsamkeit des Angenehmen oder Befriedigenden das principiatum.

Werte fordern adäquate Antworten Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal finden wir in der Weise, in der jeder Bedeutsamkeitstypus sich an uns wendet. Jedes werttragende Gut legt uns gleichsam die Verpflichtung auf, ihm eine adäquate Antwort zu geben. Wir sprechen hier noch nicht von der einzigartigen Verpflichtung, die wir die sittliche nennen und die an unser Gewissen appelliert. Sie geht nur von bestimmten Werten aus. Wir denken jetzt an den Eindruck, den wir empfangen, sobald wir mit etwas in sich Bedeutsamem konfrontiert ad 2. („Das Edle ist auch angenehm … Denn im strengen Sinn wird das als angenehm bezeichnet, was aus keinem anderen Grunde begehrenswert ist als einzig wegen der damit verbundenen Lust, so daß diese Dinge zuweilen sogar schädlich und unedel sein können … Edle Güter aber sind jene Dinge, die in sich selbst haben, was sie begehrenswert macht.“ Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 1, S. 110, 112 u. 113, Salzburg 1933).

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werden, etwa mit der Schönheit in Natur und Kunst, mit der Erhabenheit einer großen Wahrheit, mit der Herrlichkeit sittlicher Werte. In all diesen Fällen sind wir uns deutlich bewußt, daß der Gegenstand eine adäquate Antwort von uns fordert. Wir begreifen, daß es weder unserer willkürlichen Entscheidung noch unserer zufälligen Stimmung überlassen ist, ob wir antworten oder nicht und wie wir antworten. Andererseits stellen bloß subjektiv befriedigende Gegenstände keine Forderung dieser Art an uns. Sie ziehen uns an, laden uns ein; aber es ist uns ganz klar, daß wir ihnen keine Antwort schulden und es uns freisteht, ihrer Einladung zu folgen oder nicht. Wenn uns ein köstliches Gericht lockt, spüren wir deutlich, daß es ganz in unserem Belieben steht, ob wir dieser Verlockung nachgeben oder nicht. Wir alle wissen, wie lächerlich es wäre, wollte jemand sagen, er unterwerfe sich der Verpflichtung, Bridge zu spielen und überwinde die Versuchung, einem Kranken zu helfen. Die Forderung eines echten Wertes nach adäquater Antwort ergeht an uns in souveräner, aber unaufdringlicher, soberer Weise. Sie appelliert an unser freies Personenzentrum.10 Die Anziehungskraft des subjektiv Befriedigenden lullt uns dagegen ein und versetzt uns in einen Zustand, in dem wir dem Instinkt nachgeben; sie hat die Tendenz, unser freies Personenzentrum zu entthronen. Diese Aufforderung ist hartnäckig, nimmt häufig den Charakter einer Versuchung an, will unser Gewissen ablenken und zum Schweigen bringen und sich unserer aufdringlich bemächtigen. Ganz anders ist der Anruf der Werte: er hat keinen aufdringlichen Charakter; er spricht zu uns von oben her, in soberer Distanz; er spricht mit der Kraft der Objektivität, einen majestätischen Anspruch erhebend, den wir mit unseren Wünschen nicht zu ändern vermögen.11 Schließlich spiegelt sich die wesenhafte Verschiedenheit beider Bedeutsamkeitskategorien deutlich in der Art, in der wir auf sie antworten. Betrachten wir die Begeisterung, mit der wir auf eine heroische sittliche 10

11

Vgl. Augustinus, Confessiones, VIII, 11, 27: „Mir erschien die reine Würde der Keuschheit: heiter, doch nicht ausgelassen, lud sie mich ehrenhaft und liebreich ein, zu ihr zu kommen.“ Die neutrale Notwendigkeit, unsere Handlungen um des Erfolges willen der inneren Logik der Dinge anzupassen, mit denen wir es zu tun haben, darf nicht mit der Verpflichtung verwechselt werden, uns selbst der Forderung der Werte zu konformieren. Dieser Unterschied wird später eingehend besprochen werden.

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Tat reagieren, und vergleichen wir diese Antwort mit unserem Interesse an etwas subjektiv Befriedigendem, z. B. einer vorteilhaften geschäftlichen Spekulation. Wir sehen klar, daß unsere Antwort im ersten Falle den Charakter einer Hingabe unserer selbst, eines Hinausgehens über die Grenzen unserer Ichbezogenheit, einer gewissen Unterwerfung hat. Das Interesse an dem subjektiv Befriedigenden offenbart dagegen eine Ichbefangenheit, ein Beziehen des Objektes auf uns selbst, auf die egozentrische Befriedigung, für die wir es benützen. Hier konformieren wir uns nicht dem Gut und seiner in sich ruhenden Bedeutsamkeit, wie im Fall der Bewunderung einer heroischen sittlichen Tat. Das Interesse an der geschäftlichen Spekulation besteht vielmehr darin, daß wir das Objekt uns selbst anpassen. Wir sind vielleicht völlig von ihm eingenommen, investieren große Energie in dieses Unternehmen, versagen uns seinetwegen viele Vergnügungen. Doch im dynamischen Gehabtsein von einem subjektiv Befriedigenden liegt noch nichts von dem Wesen wahrer Hingabe, nichts von diesem Sichausliefern an etwas wahrhaft und um seiner selbst willen Bedeutsames.12 Wir haben also vier Merkmale genannt, die den fundamentalen Unterschied zwischen dem in sich Bedeutsamen oder Wert und dem bloß subjektiv Befriedigenden aufzeigen.

Kein Grad-, sondern Wesensunterschied von Wert und subjektiv Befriedigendem Die Verschiedenheit von Wert und nur subjektiv Befriedigendem ist zuweilen als bloßer Gradunterschied interpretiert worden. Man hat angenommen, der Unterschied zwischen der inneren Bedeutsamkeit der Gerechtigkeit und der nur subjektiven Bedeutsamkeit des Angenehmen (z. B. die angenehme Qualität eines warmen Bades oder einer vergnüglichen Bridgepartie) bestehe nur in der Tatsache, daß das erste einen höheren Rang als das zweite einnimmt. Tatsächlich war dies die Meinung Max 12

Der Unterschied zwischen dem Absorbiertsein von einer Spekulation und der Hingabe an einen Wert wird offensichtlich nicht durch die Tatsache aufgehoben, daß in beiden Fällen die oben erwähnte Anpassung an die neutrale, immanente Logik eines Seienden vorliegt.

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Schelers.13 Es ist sehr erstaunlich, daß Scheler, dem wir so viele Einsichten in die Welt der Werte und in andere grundlegende ethische Probleme verdanken, diesen fundamentalen Unterschied nicht erfaßt hat. Nun ist jeder Versuch, die wesenhafte Verschiedenheit der beiden Bedeutsamkeitstypen auf eine bloßen Gradunterschied zu reduzieren, vergeblich. Gradunterschiede setzen immer einen gemeinsamen Nenner voraus. Aber für diese Bedeutsamkeitsarten gibt es keinen gemeinsamen Nenner. Wir stehen hier vor zwei völlig verschiedenen Gesichtspunkten: Bedeutsamkeit meint in jedem Fall etwas anderes. Selbstverständlich gibt es sowohl im Bereich des Angenehmen wie im Reich der Werte eine Stufenfolge. Wenn wir die angenehme Qualität eines warmen Bades mit der Anziehungskraft und der Befriedigung vergleichen, die einer einflußreichen Stellung eigen sind, geben wir natürlich zu, daß diese beiden Arten subjektiver Bedeutsamkeit nach Gewicht und Tiefe sehr verschieden sind. Oder vergleichen wir die Befriedigung eines sehr durstigen Menschen, der bei einer Hitzewelle Wasser trinkt, mit der Befriedigung dessen, der unter normalen Umständen Wasser trinkt, so zeigt sich gewiß ein Unterschied der Intensität. Wir sprechen von größerer oder geringerer Lust, von oberflächlicherer, vorübergehender und von gehaltvollerer und tieferer Befriedigung. Aber selbst die Art der Gradunterschiede im Bereich des subjektiv Befriedigenden bezeugt die wesenhafte Verschiedenheit zwischen ihm und dem der Werte. Wir können von größerem oder geringerem Vergnügen sprechen, aber das nur subjektiv Befriedigende gestattet uns nicht, hier den Begriff von niedriger und höher wie in der Wertsphäre anzuwenden. Die charakteristische Struktur einer Hierarchie, die wir im Reich der Werte finden, hat hier keinen Raum. Sobald wir die Attribute „niedriger“ und „höher“ auf zwei erfreuliche Erlebnisse anwenden, beurteilen wir sie schon vom Gesichtspunkt des Wertes und nicht mehr von dem des bloß subjektiv Befriedigenden. Wir können also sagen: Die Freude, die wir beim Hören einer Haydn13

In dem Kapitel ,Höhere und niedrigere Werte‘ seines großen ethischen Werkes Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4, Aufl., Franke Verlag, Bern 1954, S. 115, tritt besonders klar hervor, daß Scheler diese Unterscheidung nicht machte. Er spricht dort ausdrücklich von der „Größe der Werte ,Angenehm‘, die ein Wesen fühlt“ und stellt sie höher als den Wert „Nützlich“.

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Symphonie empfinden, ist etwas Höheres als das Vergnügen, das uns eine gute Speise machen kann. Höher bedeutet hier edler und ist offenbar ein Urteil über zwei Erlebnisse vom Wertgesichtspunkt aus. Es kommt darauf an zu verstehen: Die Eigenart der Wert-Bedeutsamkeit ist von der des subjektiv Befriedigenden so grundlegend verschieden, daß die Möglichkeit eines Vergleiches nach Graden von vornherein ausgeschlossen ist. Ein Vergleich würde ja einen gemeinsamen Nenner voraussetzen. Würde uns jemand fragen, ob wir ein bestimmtes Rot intensiver finden als das Kopfweh, das wir haben, wäre unsere Antwort: Vom Standpunkt der Intensität können wir nur eine Farbe mit einer anderen oder einen Schmerz mit einem anderen vergleichen, aber nicht eine Farbe mit einem Schmerz. Der für jeden Gradunterschied notwendige gemeinsame Nenner fehlt zwischen Farbe und Schmerz. Die Verschiedenheit der beiden Bedeutsamkeitskategorien ist noch viel größer als die zwischen einer Farbe und einem Schmerz. Der Gehalt der Bedeutsamkeit ist in beiden Fällen ein so vollkommen anderer, daß wir vergeblich nach einem gemeinsamen Nenner suchen, der uns einen Vergleich nach dem Gradgesichtspunkt ermöglichte. Im Durchschreiten der verschiedenen Stufen des bloß subjektiv Befriedigenden, angefangen vom schwächsten, flüchtigsten und oberflächlichsten bis zum intensivsten und gewichtigsten, nähern wir uns dem Reich der Werte in keiner Weise. Die Anziehungskraft der Krone auf Macbeth, die tiefe Befriedigung seines Hochmutes und Ehrgeizes, die das Königtum ihm verschafft, ist dem in sich Bedeutsamen keinesfalls näher als die angenehme Qualität eines warmen Bades. Diese ist dem bescheidenen Wert einer geistreichen Bemerkung ebenso fern wie dem hohen Wert eines großmütigen Verzeihensaktes. Die Sphäre des nur subjektiv Befriedigenden hat also ihre Skala, das Reich der Werte aber hat seine Hierarchie; in beiden finden wir Gradunterschiede, wenn auch in einem vollkommen verschiedenen Sinn. Doch gerade die Betrachtung der jeweiligen Gradunterschiede zeigt klar, daß die Verschiedenheit der beiden Bedeutsamkeitskategorien keinesfalls nur auf graduelle Differenzen zurückgeführt werden kann.14 14

Sehr folgerichtig und korrekt gebraucht Aristipp, der ausschließlich das Angenehme als das Nicht-Indifferente anerkennt, niemals die Begriffe „niedrig“ und „hoch“. Als

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Die Tatsache, daß der Unterschied zwischen Wert und subjektiv Befriedigendem ein wesenhafter ist, dem zwei verschiedene Sinngehalte von Bedeutsamkeit entsprechen, tritt vor allem im Fall eines Konfliktes zwischen der Verlockung eines Angenehmen und der Forderung eines Wertes zutage. In einer solchen Situation wird uns deutlich bewußt, daß zwei disparate Gesichtspunkte an unsere Entscheidung appellieren. Jemand ist in großer sittlicher Gefahr, und wir können ihm helfen. Der auf dem Spiel stehende objektive Wert steht klar vor unserem geistigen Auge, wir vernehmen die Forderung, diesem Menschen beizustehen. Aber da ist eine amüsante gesellschaftliche Veranstaltung, auf die wir verzichten müßten, wenn wir ihm zur Hilfe eilen. In diesem Konflikt wird uns voll bewußt: diese beiden Bedeutsamkeitsgesichtspunkte sind gar nicht vergleichbar; dieser Konflikt ist gänzlich verschieden von den Fällen, in denen wir zwischen zwei Werten zu wählen haben – z. B. ob wir eine wichtige Arbeit beenden oder einem kranken Freund beistehen sollen. Im letzten Fall vergleichen wir die beiden Werte und entscheiden uns für den höheren. Hier besteht ein Konflikt zwischen zwei Möglichkeiten, die einander nur ausschließen, weil sie nicht gleichzeitig verwirklicht werden können. Beide zeigen sich unter demselben Gesichtspunkt, beide appellieren an dasselbe Zentrum in uns. Dagegen handelt es sich im ersten Fall um einen Kampf zwischen zwei gänzlich verschiedenen Gesichtspunkten; hier prallen zwei Welten aufeinander, deren jede sich an eine ganz andere Schicht in uns wendet. Beschließen wir, dem schwer gefährdeten Menschen zu helfen und uns damit dem Wert und seiner Forderung zu konformieren, dann wenden wir uns von der Verlockung der Festlichkeit ab. Wir überwinden unsere auf das subjektiv Befriedigende gerichtete Neigung. Wir sind uns bewußt, daß das bloß subjektiv Bedeutsame als solches, gemessen an der Forderung eines Wertes, nicht ins Gewicht fällt. Entschließen wir uns statt dessen, zu der vielversprechenden gesellschaftlichen Veranstaltung zu gehen, so einzige Maßstäbe für das Vorziehen einer Lust vor einer anderen gibt er an: 1. die Intensität, 2. die Dauer, 3. die Frage, ob eine Lust Mißbehagen zur Folge habe oder nicht, 4. ob sie leichter zu erreichen sei als eine andere. Alle diese Gesichtspunkte bleiben vollständig im Bereich des nur Angenehmen. Sie setzen keine andere Art von Bedeutsamkeit voraus.

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scheiden wir den Wertgesichtspunkt aus. In diesem Widerstreit ist der jeweilige Sieg der Sieg eines generellen Bedeutsamkeitstypus und nicht allein der einer einzelnen konkreten Möglichkeit. Wir sehen also: Der Unterschied zwischen dem bloß subjektiv Befriedigenden und dem Wert ist ein wesenhafter und kein gradueller. Vielleicht beschäftigt uns ein und dieselbe Sache von beiden Gesichtspunkten aus. Vielleicht ist ein und derselbe Gegenstand zugleich angenehm und in sich bedeutsam. Aber dieses Zusammentreffen schwächt keineswegs die prinzipielle Verschiedenheit beider ab. Der Grund, warum Scheler den Wesensunterschied zwischen Wert und subjektiv Befriedigendem übersah, liegt darin, daß er die Frage nach den verschiedenen Gesichtspunkten der Bedeutsamkeit in unserer Motivation nicht klar von der Frage nach der Bedeutsamkeit des Objektes in sich, unabhängig von jeglicher Motivation, trennte. Die Tatsache, daß kein Seiendes bar jeglichen Wertes ist, mag uns von der Einsicht in die wesenhafte Verschiedenheit beider Gesichtspunkte ablenken. Doch die Kategorie des subjektiv Befriedigenden ist nicht auf gewisse Gegenstände gerichtet, die in sich selbst keine andere Bedeutsamkeit besäßen, sondern auf den Gesichtspunkt, unter dem wir uns diesen Dingen zuwenden. Daher ist der Einwand, die amüsante Festlichkeit habe auch einen Wert – nur einen niedrigeren – nicht treffend. In einem Fall, in dem ich zu wählen habe zwischen dem Besuch einer amüsanten Festlichkeit und der Hilfeleistung für einen Menschen in großer sittlicher Gefahr, besteht der Konflikt nicht zwischen dem Wert der Hilfeleistung für diesen Menschen und dem Wert des Besuches dieser Geselligkeit, sondern vielmehr zwischen zwei heterogenen Gesichtspunkten. Die Wahl, das amüsante Fest zu besuchen, ist eindeutig unter dem Gesichtspunkt des nur subjektiv Befriedigenden getroffen. Wenn ich mich dagegen entscheide, einem Kranken beizustehen, ist zweifellos der Wert mein bestimmender Gesichtspunkt. Ein gewöhnlicher Dieb hält die Tatsache, daß er zu Geld kommt, nicht für einen höheren Wert als das Eigentum seines Mitmenschen. Die Frage, ob etwas in sich bedeutsam ist oder nicht, interessiert ihn gar nicht. Er geht ausschließlich vom Standpunkt des subjektiv Befriedigenden an die Dinge heran.

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DIETRICH VON HILDEBRAND Das Vorziehen

Jeder Versuch, ein sittlich falsches Verhalten als das Vorziehen eines niedrigeren Gutes vor einem höheren zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt. Erstens kann man unmöglich behaupten, jede Handlung entspringe einem Akt des Vorziehens. Es gibt viele Fälle, in denen ein Ziel unter Mißachtung eines Wertes, ohne jede Rücksicht auf die Frage, was den Vorzug haben soll, gewählt wird. Jemand rächt sich z. B., indem er seinen Feind tötet; in dieser Tat mißachtet er den hohen Wert des menschlichen Lebens. Offenbar wäre es eine ganz und gar künstliche und falsche Auslegung, zu sagen, dieser Mann ziehe die Befriedigung seiner Rache dem Leben seines Feindes vor. Für ihn handelt es sich gar nicht um ein bewußtes Vergleichen, ein bewußtes Abwägen zweier Güter. Vielmehr faßt er den einfachen Entschluß, seine Rachgier zu stillen, ohne sich irgendwie um den Wert eines Menschenlebens zu kümmern. Sollte jemand behaupten, mit der Entscheidung, seinen Feind zu töten, habe dieser Mann implicite die Befriedigung seiner Rachsucht dem Leben seines Opfers vorgezogen, so müßten wir antworten, daß der Terminus „Vorziehen“ dann doppeldeutig gebraucht würde. Im ersten Fall wird er als bewußter Akt verstanden, in dem wir zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten wählen, sie in ihrer Bedeutsamkeit abwägen und einer von ihnen auf Grund ihrer höheren Bedeutsamkeit den Vorzug geben. Von diesem echten Sinn des Vorziehens findet sich in unserem Beispiel nichts. In dem anderen Fall meint man mit „Vorziehen“, daß jede Entscheidung faktisch viele andere Möglichkeiten ausschließt, ob wir sie kennen oder nicht, ob wir uns ihrer bewußt sind oder nicht. „Vorziehen“ wird hier in dem nur analogen Sinn gebraucht, in dem mein Verstand zwischen unbegrenzten Möglichkeiten wählt und ich durch die Versicherung, etwas sei ein Tisch, die Möglichkeit ausschalte, es sei ein Esel, ein Haus, ein Mensch usw. Dieser Gebrauch der Ausdrücke „wählen“ oder „vorziehen“ ist offenbar unkorrekt. Beschränken wir uns auf den authentischen Sinn von Vorziehen, so müssen wir zugeben, daß man den Ursprung einer Handlung, Entscheidung oder Antwort unmöglich in einem Akt des Vorziehens, wie wir ihn eben darlegten, suchen kann. Bei einem gewöhnlichen Diebstahl wird der Wert des Geldbesitzes nicht den geheiligten Eigentumsrechten vorgezogen, vielmehr beruht er auf einer Gleichgültigkeit gegenüber dem

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Wertgesichtspunkt als solchem; diese bedingt eine Indifferenz für den Wert des Eigentums, gekoppelt mit hemmungslosem Trachten nach dem subjektiv Befriedigenden. Im Konfliktfall, in dem ein Mensch zwischen der Versuchung zum Diebstahl und der Stimme des Gewissens schwankt, die ihn mahnt, das Eigentum seiner Mitmenschen zu achten, und ihn vor dem Unrecht des Stehlens warnt, kann es kein Abwägen beider Möglichkeiten vom selben Gesichtspunkt aus, kein Vergleichen auf Grund eines gemeinsamen Nenners geben, sondern nur einen ausgesprochenen Zusammenprall zweier verschiedener Gesichtspunkte: der beiden Richtungen des Lebens, von denen der hl. Augustinus spricht.15 Wäre es überdies wahr, daß im Vorziehen des niedrigeren Gutes vor einem höheren die Wahl auf einem gemeinsamen Nenner beruhte, nämlich auf dem Gesichtspunkt ihres Wertes, so könnte man unmöglich erklären, warum man sich für den niederen statt für den höheren entscheiden kann. Solange es sich wirklich um denselben Gesichtspunkt handelt, muß ein Grund da sein, warum das nach diesem Maßstab Mindere dennoch vorgezogen wird. Sooft sich jemand von ein und demselben Gesichtspunkt zwei Möglichkeiten zuwendet (z. B. wenn er für die gleiche Arbeitsart und -menge verschiedene Bezahlungen angeboten bekommt und die geringere davon wählt), suchen wir herauszufinden, welcher andere Beweggrund diese Wahl erklären könnte. Es scheint uns selbstverständlich, daß niemand sich aus demselben Gesichtspunkt heraus und nach dem gleichen Maßstab für das Geringere entschiede, bestände nicht die Möglichkeit, dieses Geringere von einem anderen Blickpunkt aus zu betrachten, oder – wie wir auch sagen können – wäre nicht ein anderer Gesichtspunkt für das Umschlagen der Waage maßgebend.

Vorziehen auf Grund von Verwechslungen Man mag einwenden, das Vorziehen des niederen Gutes beruhe auf einem Irrtum. Aus diesem Grund betrachtete Sokrates den Irrtum als Wurzel jedes moralischen Übels. Dagegen ist zu sagen, daß Irrtum in 15

De civitate Dei, XIV, 4.

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diesem Zusammenhang zwei verschiedene Bedeutungen haben kann. Der erste Irrtumstyp besteht im Verwechseln eines Objektes mit einem anderen oder im Nichterkennen seines wirklichen Wesens. Wir vertrauen einem Mann ein Kind an in der Annahme, er sei ein Heiliger, während er in Wirklichkeit ein Tartuffe ist.16 Wir bieten einem Freund giftige Pilze an, weil wir nicht wissen, daß sie giftig sind. Dieser Irrtumstyp ist jene Art Unwissenheit, die Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik mit Recht als eine Ursache unfreiwilliger Handlungen anführt.17 Doch diese Form des Irrens läßt uns etwas tun, was in Wirklichkeit von dem, was wir zu tun glauben und zu tun beabsichtigen, vollständig verschieden ist. Daher hebt sie die Verantwortung für unsere Handlung auf oder ändert sie entscheidend, falls der Irrtum eine Folge unserer Gedankenlosigkeit ist. Ein solcher Irrtum kann sogar die Wahl eines Übels statt eines Gutes in den Fällen begründen, in denen wir das Übel für ein höheres Gut halten; etwa wenn wir ein Kind einem Erzieher anvertrauen, den wir als Heiligen betrachten, obwohl er in Wirklichkeit ein Tartuffe ist, anstatt es einem zuverlässigen ehrlichen Mann zu geben, der allerdings kein Heiliger ist. Diese Art des Irrens ist aber offensichtlich nicht die Wurzel des sittlich Bösen; denn ein Mensch, der etwas objektiv Schlechtes infolge eines solchen Irrtums tut, handelt sittlich recht, soweit es seine Intention betrifft. Mit anderen Worten: Gemäß der Vorstellung von der Wirklichkeit, die er hat, wählte er in der richtigen Weise.

Vorziehen aus Wertblindheit Der zweite Irrtumstypus ist ganz anderer Natur. Er ist das Ergebnis dessen, was wir „Wertblindheit“ nennen können; sie liegt z. B. vor, wenn jemand erklärt: „Ich verstehe nicht, warum Unreinheit moralisch schlecht ist“ oder wenn einer für die Würde des menschlichen Lebens blind ist wie Raskolnikow in Dostojewskijs Schuld und Sühne. Diese Wertblindheit18 spielt tatsächlich als Ursache des sittlich Schlechten eine große Rolle und 16 17 18

Die Figur des Heuchlers in Molières gleichnamigem Schauspiel. 3. Buch, 1110a, u. f. Nik. Ethik 3. Buch, 1110b, 25-35. Vgl. auch meine Schrift: Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, 2. Aufl., Darmstadt 1969.

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ist häufig der wirkliche Grund, warum ein niedrigeres Gut einem höheren vorgezogen wird. Ein typisches Beispiel dieser Wertblindheit ist Patricius, der Vater des hl. Augustinus, der seinen Sohn in eine intellektuell hervorragende, aber sittlich gefährdende Schule sandte, weil er eine glänzende, geistige Ausbildung für ein höheres Gut hielt als sittliche Reinheit. Aber wie können wir für solche Wertblindheit verantwortlich sein? Wäre sie ein Unvermögen wie Farbenblindheit, die Folge einer bloßen Naturanlage, niemand wäre für sie und sein sittlich verkehrtes Handeln verantwortlich. Aber es handelt sich hier nicht um jene Art der Unwissenheit, die eine Tat zu einer unfreiwilligen Tat macht.19 Wertblindheit ist keineswegs die Folge einer bloßen Temperamentsanlage, sondern eine Auswirkung von Hochmut und Begehrlichkeit. Denn hier beherrscht ein anderer als der Wertgesichtspunkt das Verhalten zur Wirklichkeit, nämlich der: Was befriedigt Hochmut und Begehrlichkeit? Dieser macht uns für bestimmte Werte blind. Die Dualität der beiden Bedeutsamkeitsgesichtspunkte ist also tatsächlich notwendige Voraussetzung, um zu erklären, wie ein irriges Vorziehen gerade eines niederen Gutes vor einem höheren möglich ist. Das Problem der Wertblindheit wird uns später noch eingehender beschäftigen. Hier genügt seine bloße Erwähnung, um die Unhaltbarkeit jeder Theorie zu beweisen, die nur einen Bedeutsamkeitsnenner oder -gesichtspunkt anerkennt, also das subjektiv Befriedigende einfach als niedrigeren Wert interpretiert, oder die Verschiedenheit von Wert und nur subjektiv Befriedigendem zu einem bloßen Gradunterschied macht. Wenn wir auch sagten, Scheler habe versucht, die Divergenz beider Kategorien auf einen Rangunterschied zu beschränken, müssen wir doch hinzufügen, daß er wenigstens nie versucht hat, das in sich Bedeutsame zu

19

Der hl. Thomas unterscheidet diese beiden Irrtumsformen deutlich mit den Worten: „Wenn z.B. seine irrende Vernunft einen Mann veranlaßt, mit der Frau eines anderen zu schlafen, ist diese Tat böse, falls sie aus Unkenntnis eines göttlichen Gesetzes geschieht, von dem er wissen müßte; wenn er aber darin irrt, daß er meint, diese Frau sei wirklich seine eigene, sie begehre ihn und er sie, dann ist sein Wille schuldlos“. S. Th, Ia–II ae, q. 19, a. 6 resp.

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einem verfeinerten Typ des subjektiv Befriedigenden herabzudrücken, obwohl er das Angenehme als einen niedrigeren Werttyp deuten wollte.20

Schelers und Aristipps entgegengesetzte und ungleichartige Irrtümer Scheler versuchte, jede Bedeutsamkeit auf eine Bedeutsamkeit in sich, d. h. einen Wert zurückzuführen. Er übersah das nur subjektiv Befriedigende als selbständige Kategorie mit eigener ratio und erblickte den Ursprung jeglicher Motivation in einem Wert des Gegenstandes. In dieser Hinsicht vertritt er den genau entgegengesetzten Standpunkt wie Aristipp, der jede Art von Bedeutsamkeit außer der subjektiv befriedigenden leugnete und das in sich Bedeutsame für eine bloße Illusion erklärte. Dennoch kann man Schelers und Aristipps Irrtum nicht auf dieselbe Stufe stellen, obwohl beide versuchten, auf eine Kategorie zu reduzieren, was in Wirklichkeit zwei grundverschiedene Formen von Bedeutsamkeit sind. Ein Philosoph, der außer dem nur subjektiv Befriedigenden keine andere Bedeutsamkeitskategorie anerkennt, hat ein äußerst entstelltes Weltbild; er beraubt den Kosmos einer wesentlichen Substanz. Die entgegengesetzte Position Schelers, in der nur der Wert gesehen wird, entzieht dem Kosmos durchaus keine Substanz. Scheler verblieb trotz seines Irrtums in tiefer Konformität mit dem Bereich des Seienden, auf den es letztlich ankommt. Der Wert ist das Wahre, das Gültige, das objektiv Bedeutsame selbst. Er hat einen ganz anderen Platz in der Ordnung der fundamentalen Begriffe als das subjektiv Befriedigende. Wie wir noch im einzelnen sehen werden, gehört er zu jenen letzten Gegebenheiten und Begriffen wie: Sein, 20

Wenn auch der Irrtum einer falschen Identifikation begangen wurde, so kommt es immer noch sehr darauf an, welche Realitätsebene geopfert wird: Wenn z. B. jemand die Ungleichartigkeit zwischen apriorischer und empirischer Wahrheit leugnet, bleibt es immer noch von großer Wichtigkeit, ob er jeden kontingenten Sachverhalt für ebenso notwendig und intelligibel wie eine veritas aeterna, hält oder ob er erklärt, jede Wahrheit gehöre der empirischen Ordnung an. Zwischen einem extremen Rationalismus und einem radikalen Empirismus ist noch ein großer Unterschied, obwohl beiden gemeinsam ist, daß sie die wesenhafte Ungleichheit dieser beiden Erkenntnisformen übersehen.

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Wahrheit, Erkenntnis, die man weder definieren noch leugnen kann, ohne sie stillschweigend wieder einzuführen. Aus diesem Grund ist der Versuch Aristipps, jeden objektiven Maßstab zu beseitigen und nur eine subjektive Bedeutsamkeit anzuerkennen, in Wirklichkeit immer erfolglos. Nachdem er mit seltener Konsequenz alle anderen Maßstäbe außer den Graden der Lust ausgemerzt hat, warnt er davor, unseren Instinkten tierisch zu folgen, und rät uns, ein Ding zu prüfen, bevor wir es wählen, um zu sehen, ob es uns das intensivste und andauerndste Vergnügen sichert. Hier stellt er dem vernünftigen Trachten nach Lust stillschweigend ein unvernünftiges Sichausliefern an jede Verlockung oder Versuchung entgegen und behauptet, dies vernünftige Streben sei die weisere Haltung, die wir haben sollten. Warum sollen wir aber weise sein? Wenn das bloß subjektiv Befriedigende die Norm ist, warum sollte man dann einem Menschen widersprechen, der behauptet, er wolle lieber jedem Instinkt nachgeben, ohne sich darum zu kümmern, ob ihm etwas anderes mehr Vergnügen machen könnte? Offensichtlich setzt Aristippus außer der Lust stillschweigend noch eine andere, eine objektive Norm voraus: den Wert der Weisheit im Sinne eines vernunftgemäßen systematischen Strebens nach Lust, im Gegensatz zu dem tierischen und unvernünftigen triebhaften Jagen nach ihr. Diese Norm ist unabhängig von der Frage, ob sie mehr oder weniger subjektiv befriedigend sei. Also ist der Begriff des Wertes in einer ganz und gar allgemeinen, formalen Weise vorausgesetzt. Natürlich ist keine Rede von sittlichen Werten. Aber indem er das systematische, vernünftige Streben nach Lust als Ideal, als etwas, nach dem wir trachten sollten, empfiehlt, behauptet er implicite, es sei objektiv vorzuziehen, es sollte so und nicht anders sein; damit ist der Begriff des Wertes oder des in sich Bedeutsamen stillschweigend vorausgesetzt. Es ist von höchstem Interesse für die Ethik, den Wesensunterschied zwischen den beiden Bedeutsamkeitskategorien zu erfassen. Wenn auch der Wert der Inbegriff des letztlich objektiv Bedeutsamen ist, so muß auch die andere Kategorie, das subjektiv Bedeutsame, deutlich gesehen werden. Denn selbst das wahre Wesen des Wertes kann ohne ein klares Erkennen dieser anderen Kategorie nicht voll verstanden werden.

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DIETRICH VON HILDEBRAND Das subjektiv Befriedigende in unserer Motivation

Ferner gilt es zu sehen, daß die Kategorie des subjektiv Befriedigenden tatsächlich eine entscheidende Rolle in unserer Motivation spielt. Man kann unmöglich behaupten, immer wenn das Verhalten einer Person offensichtlich von einem subjektiv Befriedigenden motiviert wird, gehe die Motivation in Wirklichkeit von einem Wert aus. Unbestreitbar wird die Haltung der Person in vielen konkreten Situationen nicht vom Wertgesichtspunkt motiviert. Es gibt sogar gewisse Typen von Personen, die nur jene Art von Bedeutsamkeit kennen, die wir die bloß subjektiv befriedigende nannten. Der gänzlich von Hochmut und Begehrlichkeit beherrschte Mensch kennt keine andere Motivationsquelle, keinen Gesichtspunkt, nach dem etwas für ihn den Charakter des Bedeutsamen annehmen könnte, als allein das bloß subjektiv Befriedigende. Kain wie Jago, Richard III. wie Don Giovanni, jeder von ihnen betrachtet alles ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, ob es seinen Hochmut oder seine Begehrlichkeit befriedigen könne oder nicht. Die Frage, ob etwas einen Wert habe, ob es in sich bedeutsam sei oder nicht, interessiert sie nicht im geringsten. Sogar die Überlegung, ob etwas objektiv ein echtes Gut für sie sei, ob es ihrem wahren Interesse entspreche, beschäftigt sie nicht. Ihr Verhalten orientiert sich nicht einmal an dem objektiven Maßstab eines Gutes für sie selbst, sondern ausschließlich an ihrer subjektiven Befriedigung. Von einer objektiven Norm wird ihr Wille niemals motiviert, ihr Interesse nie entfacht. Es ist mir angenehm; es befriedigt meinen Hochmut, meine Begehrlichkeit; es sättigt meine Triebe und Gelüste, seien sie legitim oder nicht: dies ist die einzige Form von Bedeutsamkeit, die solche Menschen anerkennen. Wenn wir das Fehlen jeglicher objektiven Norm bei diesen Menschen betonen und sagen, sie kümmerten sich nicht einmal darum, ob etwas mit ihrem wahren Interesse übereinstimmt oder nicht, stoßen wir auf einen dritten fundamentalen Typ des bonum; und dieser muß sowohl von dem Wert als vom bloß subjektiv Befriedigenden abgegrenzt werden. Das Herausarbeiten dieses dritten Bedeutsamkeitstypus, der schon in sich von größter Wichtigkeit ist, wird die eben erörterte Frage noch weiter beleuchten.

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Das objektive Gut für die Person Beim Nachdenken über die Dankbarkeit und ihr wirkliches Objekt entdecken wir, daß die Wohltat, die uns jemand erwiesen hat, für die wir dankbar sind, weder zum Gesichtspunkt des nur subjektiv Befriedigenden noch zu dem des in sich Bedeutsamen gehört. Die Wohltat zeigt sich als ein objektives Gut für mich, als etwas, was objektiv in meinem wahren Interesse liegt, was einen wohltuenden Charakter für meine Person hat und in der Richtung auf „mein Gut“ liegt. Meine Dankbarkeit gilt auch der sittlich edlen Haltung meines Wohltäters, die sich im Spenden seiner Wohltat an mich kundtut. Meine Bewunderung oder Verehrung wird im Unterschied zur Dankbarkeit ausschließlich von etwas in sich Bedeutsamem motiviert: von dem sittlichen Wert der Tat des Spenders, von seiner Großmut und Güte. Bei der Dankbarkeit ist der sittliche Wert jedoch mehr eine notwendige Voraussetzung als ihr Formalobjekt. Ich kann die sittliche Gutheit eines Menschen, der einem anderen hilft, genauso bewundern, wie wenn seine Tat mir selbst zugute käme. Aber Dankbarkeit setzt voraus, daß die Hilfe mir oder jemandem zuteil wird, mit dem ich mich so tief solidarisch fühle, daß ich alles, was ihm geschieht, als meine eigene Angelegenheit betrachte. In diesem Fall handelt es sich um eine neue, eine dritte Kategorie von Bedeutsamkeit, die wir „objektives Gut für die Person“ nennen wollen. Wird jemand aus Lebensgefahr gerettet oder aus Gefangenschaft befreit, so beziehen sich seine Freude, seine Dankbarkeit gegen Gott eindeutig auf diese Bedeutsamkeitsart, die wir als objektives Gut für die Person bezeichneten. Was ihn bewegt, was sein Herz mit Dankbarkeit erfüllt, ist das Geschenk seines Lebens oder seiner Freiheit; und dies hat den Charakter eines objektiven Gutes für ihn. Es unterscheidet sich deutlich von dem in sich Bedeutsamen, dem Wert einerseits und dem nur subjektiv Befriedigenden andererseits. Das empfangene Geschenk, z. B. meine Freiheit, sehe ich nicht als etwas bloß subjektiv Befriedigendes, wie es einem Verbrecher erscheinen mag, dem es gelingt zu fliehen. Ich betrachte es im Gegenteil als etwas für mich objektiv Kostbares, seiner Natur nach Positives, was mein wahres Interesse fördert. Es hat den Charakter einer Manifestation der Güte und Liebe Gottes.

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Andererseits unterscheidet es sich auch klar von dem in sich Bedeutsamen. Leben und Freiheit werden hier nicht nur in ihrem inneren Wert, sondern ebenso als große Geschenke für mich gesehen. Wenn ich Gottes unendliche Güte und Barmherzigkeit anbete, die mir diese Güter verliehen, so antworte ich ohne Zweifel auf etwas in sich Bedeutsames, auf einen unendlichen Wert. Ähnliches geschieht, wenn mich die sittliche Güte eines menschlichen Wohltäters rührt. In diesen Fällen wende ich mich nicht einer subjektbezogenen, sondern der reinen Bedeutsamkeit in sich zu. In der Bedeutung, die mein Leben, meine Freiheit, meine Gesundheit für mich haben, liegt dagegen eine wesenhafte Relation auf meine eigene Person: sie sind objektiv bedeutsam für mich.

Das objektive Übel für die Person Die Eigenart dieses bonum mihi (für mich Guten) als einer sowohl von dem Wert wie von dem subjektiv Befriedigenden verschiedenen Bedeutsamkeitskategorie zeigt sich auch, wenn wir ihr negatives Gegenstück betrachten: das objektive Übel für die Person, z. B. das Formalobjekt des menschlichen Verzeihens. Jemand tat mir Unrecht, ein Freund betrog mich. Im Verzeihen ist mir klar bewußt, daß dieses sich nur auf das Unrecht bezieht, das er mir angetan hat. Es gilt dem objektiven Übel, das er mir zufügte, nicht dem sittlichen Unwert, der in seiner Haltung gleichsam verkörpert ist. Der sittliche Unwert, durch den er Gott beleidigte, ist niemals Gegenstand menschlichen Verzeihens. Ich kann nie den Unwert aufheben, sondern nur das mir zugefügte Unrecht. Ich sage vielleicht: „Ich verzeihe dir; möge Gott dir vergeben.“ Das Vergeben Gottes gilt der Schuld, die in dem sittlichen Unwert wurzelt. Mein Verzeihen richtet sich dagegen auf die Haltung des Beleidigers, sofern sie ein objektives Übel für mich ist. Dies zeigt sich auch darin, daß ich nur ein Unrecht verzeihen kann, das direkt oder indirekt mir angetan wurde; indirekt, wenn jemand einer Person Unrecht tut, die ich als in besonderer Weise mir verbunden betrachte. Ich kann nicht das Unrecht verzeihen, das einem anderen zugefügt wurde. Ich kann nicht Judas seinen Verrat an dem Herrn noch Kain die Ermordung Abels verzeihen.

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Wir empören uns vielleicht ebenso über das Unrecht, das unserem Nächsten angetan wird, wie über das uns selbst geschehene; denn die Empörung antwortet auf den sittlichen Unwert der Ungerechtigkeit. Aber unser Verzeihen ist nur möglich im Hinblick auf das uns zugefügte Unrecht, weil es sich auf die Ungerechtigkeit bezieht, sofern sie ein objektives Übel für uns ist.

Verzeihen und Vergeben Gegenstand menschlichen Verzeihens ist die uns zugefügte Unbill, das objektive Übel für uns; der sittliche Unwert der Ungerechtigkeit kann dagegen nur von Gott oder seinen Stellvertretern vergeben werden, denen Christus die Binde- und Lösegewalt verlieh. So betete der hl. Stephanus, den Märtyrertod sterbend, daß Gott seinen Mördern vergebe. Man mag einwenden, wir könnten einem anderen nur verzeihen, wenn er schuld daran ist, daß er uns Unrecht tat. Fügt er uns unfreiwillig ein objektives Übel zu, so haben wir nichts zu verzeihen. Er muß für das uns geschehene objektive Übel verantwortlich und seine Haltung muß also auch sittlich schlecht sein. Darum sei es falsch zu sagen, wir bezögen uns im Verzeihen nicht auf den sittlichen Unwert; denn dieser ist gerade vorausgesetzt, wenn das uns geschehene objektive Übel Gegenstand unseres Verzeihens werden soll. Gewiß setzt das Verzeihen Verantwortlichkeit der Person, die uns ein objektives Übel antat, voraus. Immer ist eine freiwillige und bewußte Haltung unseres Nächsten Gegenstand unseres Verzeihens; das ist so, unabhängig davon, ob das uns zugefügte Böse ausschließlich in einer unfreundlichen, feindlichen oder ungerechten Haltung oder in einer Handlung besteht, die ein greifbareres objektives Übel für uns im Gefolge hat. Aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß unser Verzeihen der Haltung unseres Beleidigers nur insofern gilt, als sie die negative Bedeutsamkeit eines objektiven Übels für uns hat, nicht aber, so fern sie eine negative Bedeutsamkeit als sittlicher Unwert hat, den Gott allein vergeben kann. Offensichtlich bezieht sich die Tilgung der Feindseligkeit oder Disharmonie, die unser Verzeihen bewirkt, nur auf die negative

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Bedeutsamkeit eines objektiven Übels für uns und nicht auf den sittlichen Unwert. Die in ihm enthaltene Disharmonie und Beleidigung Gottes ist dadurch, daß wir dem Übeltäter verzeihen, in keiner Weise hinweggenommen; seine Reue und die darauf folgende Vergebung Gottes dagegen bewirken zugleich eine Auflösung dieser Disharmonie. Die Tatsache, daß ein und dieselbe Haltung objektiv beide Bedeutsamkeiten besitzt – im Falle eines feindseligen Aktes einen Unwert und den Charakter des objektiven Übels für die Person –, hebt weder die Verschiedenheit zwischen beiden Bedeutsamkeitsdimensionen auf, noch ändert sie etwas daran, daß mein Akt des Verzeihens nur einer Art negativer Bedeutsamkeit gilt: dem objektiven Übel für mich. Die Verwirrung entsteht durch die notwendige Wechselbeziehung zwischen beiden Bedeutsamkeitsbereichen; denn diese Beziehung gründet in der Tatsache, daß Gegenstand unseres Verzeihens eine menschliche Tat ist. An diesem feindlichen, unfreundlichen, ungerechten Akt, der sich gegen das objektive Gut für einen Mitmenschen richtet, es mißachtet oder sogar zu verletzten oder zu zerstören sucht, haftet immer ein sittlicher Unwert. Im Verstehen seiner Ungerechtigkeit erfassen wir auch notwendig seinen sittlichen Unwert. Der Gegenstand unseres Verzeihens besitzt also nicht nur wesenhaft einen moralischen Unwert, wir sind uns seiner auch unbedingt bewußt. Dennoch betrifft unser Verzeihen die ungerechte Tat nur insofern, als sie uns zugefügt wurde und die Bedeutsamkeit eines objektiven Übels für uns hat, aber nicht, soweit sie einen sittlichen Unwert besitzt. Die vorausgegangenen Untersuchungen erhellen den wesenhaften Unterschied dieser beiden Bedeutsamkeitstypen.

Verknüpfung von Wert und objektivem Gut Die Analyse, die wir vom Objekt des Verzeihens gegeben haben, hat die Verschiedenheit des objektiven Gutes für die Person von der inneren Bedeutsamkeit des Wertes oder Unwertes klar zutage treten lassen. Sie ändert sich weder durch die Tatsache, daß beide an ein und demselben Akt

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auftreten, noch durch die tiefe und notwendige Verknüpfung, die zwischen ihnen besteht.21 Diese Koinzidenz ist jedoch nicht nur derart, daß ein und dasselbe Objekt zufällig Träger beider Bedeutsamkeitskategorien wird. Sie bestehen nicht unverbunden und unabhängig voneinander. Aber damit ist der Unterschied zwischen ihnen in keiner Weise ausgelöscht, er wird nicht einmal in seinem wesentlichen Sinn beeinträchtigt.22 Die traditionelle Auffassung des bonum kreiste meistens um die Bedeutsamkeitskategorie, die wir das „objektive Gut für die Person“ nannten, wenigstens soweit es sich um die Motivation handelt. Wenn Sokrates lehrte, daß es besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun23, so meinte er offenbar, daß Unrecht leiden besser für den Menschen sei. Er meinte nicht nur: das eine ist moralisch besser als das andere, denn das wäre eine Binsenwahrheit. Selbstverständlich ist Unrecht begehen sittlich böse, während Unrecht leiden in keiner Weise sittlich schlecht ist. Vom Gesichtspunkt des sittlichen Wertes ist das eine nicht etwa besser, vielmehr ist das eine schlecht, das andere keinesfalls schlecht. Der Komparativ, der einen gemeinsamen Nenner voraussetzt, um eines als ein größeres Übel ansehen zu können, schließt aber gerade den sittlichen Wert als möglichen gemeinsamen Nenner aus; denn Unrecht tun ist ein augenscheinliches 21

22

23

Den Unterschied zwischen dem objektiven Übel für die Person und dem Unwert hat der hl. Augustinus in seinen Bekenntnissen V, 12, deutlich gekennzeichnet: „Mein Herz haßte sie, aber nicht mit dem Haß der Vollkommenen (Ps 138, 22). Denn was ich von ihnen leiden sollte, haßte ich vielleicht mehr als das Unrecht, das sie jedem taten … Damals aber sträubte ich mich mehr meinetwillen, die Bösen zu ertragen, als daß ich Deinetwillen wollte, sie würden gut.“ Auch in vielen anderen Fällen finden wir eine so enge Verwandtschaft, daß wir sie nicht mit Identität verwechseln dürfen. Die Tatsache z. B., daß jeder Willensakt Erkenntnis voraussetzt, tilgt nicht die wesenhafte Verschiedenheit beider; und dies gilt in erhöhtem Maß von dem Unterschied zwischen den beiden Bedeutsamkeitstypen. Existenz setzt in jedem kontingenten Seienden die Wesenheit voraus, aber dies hebt keineswegs die Verschiedenheit beider auf. Ebensowenig wird der Unterschied von Akt und Potenz ausgelöscht, weil wir tatsächlich in allen kontingenten Dingen Akt und Potenz vorfinden und weil jede Potenz einen vor ihr bestehenden Akt voraussetzt. Diese These legt Platon dem Sokrates im Dialog Gorgias (469c) und in den beiden ersten Büchern des Staates in den Mund.

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sittliches Übel, während Unrecht leiden an sich außerhalb der sittlichen Sphäre liegt. Gewiß kann es gleichfalls Gegenstand der Ethik werden, wenn wir fragen, in welcher Weise wir das uns zugefügte Unrecht dulden. Aber dies ist nicht das Sokrates‘ These zugrunde liegende Problem. Der Sinn seiner Lehre beruht in der Einsicht: Es ist für den Menschen ein größeres Übel, sittlich schuldig zu werden als zu leiden. Der Maßstab für diesen komparativischen Grad „besser“ ist nicht der sittliche Wert, sondern die objektive Bedeutsamkeit eines Gegenstandes für den Menschen; wir nannten sie „das objektive Gut für die Person“. Sie besagt hier: Vom Standpunkt des letzten, wahren Interesses des Menschen ist es besser, Unrecht zu leiden als es zu begehen. Da wir erkannten, daß Sokrates‘ Feststellung nicht als ein Hinweis auf den Wert gedeutet werden kann – weder auf einen sittlichen Wert noch auf irgendeinen anderen Typus von Bedeutsamkeit in sich – ist jetzt leicht zu sehen, daß sie sich auch nicht auf das nur subjektiv Befriedigende bezieht.

Wesensunterschied zwischen objektivem Gut und bloß subjektiv Befriedigendem Aristippus würde Sokrates‘ Erklärung sicher nicht anerkennen. Er läßt als einzigen Maßstab das subjektiv Befriedigende oder die Lust gelten; das Erleiden einer Ungerechtigkeit würde er als Übel betrachten, während Unrecht tun kein Übel wäre, solange wir der Strafe entgehen könnten. Nach seiner Ansicht ist Unrecht dulden kein Übel der Ungerechtigkeit wegen, sondern ausschließlich, weil es mit Leiden verbunden ist. Zu Recht leiden, Schmerzen ertragen oder Lust entbehren wäre ein ebenso großes Übel. Für ihn ist es gleich, ob ein Leiden durch Ungerechtigkeit entsteht oder wohlverdiente Strafe ist. Das objektive Element im sokratischen Begriff des bonum fehlt in der hedonistischen Auffassung vollkommen. Für Aristippus ist es gleichbedeutend mit dem subjektiv Angenehmen oder Befriedigenden. Nur ein einziges Mal neigt er sich einer objektiven Ordnung zu: bei der Frage, ob man eine Lust in vernünftiger oder in unvernünftiger Weise sucht. Der Tor ergibt sich jeder Lust auf tierische, instinkthafte Art; der Weise dagegen wählt das subjektiv befriedigende Objekt gemäß den eben genannten Prinzipien der Intensität, Dauer usw.

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Nach sokratischer Auffassung kann der Begriff des bonum also nicht mit dem des bloß subjektiv Befriedigenden inhaltsgleich sein. Seine These wäre absurd, wenn Aristippus mit seiner Behauptung, es gäbe keine andere Art von Bedeutung als das Angenehme oder subjektiv Befriedigende, recht hätte. Der sokratische Begriff des Guten enthält, ungeachtet seiner Bezogenheit auf die Person, ein Element der Orientierung am Objektiven, das die Bestimmung des wirklichen Ranges eines Übels gestattet, unabhängig von der Frage, ob es Mißbehagen verursacht oder nicht. Ohne diesen objektiven, über das nur subjektiv Befriedigende hinausgehenden Maßstab würde Sokrates‘ These zusammenbrechen. Der Unterschied zwischen Aristipps Begriff des bonum und dem des Sokrates darf jedoch nicht mit der Verschiedenheit zwischen einem echten und einem nur scheinbaren Gut verwechselt werden. Bei jedem Seienden können wir zwischen seiner objektiven Realität und seiner bloß subjektiven Erscheinung unterscheiden. „Objektiv“ heißt, daß etwas in Wirklichkeit das ist, was es zu sein scheint; wir stellen diese objektive Realität einer bloßen Illusion entgegen, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Diese Unterscheidung gilt sowohl für das bloß subjektiv Befriedigende als für die objektiven Güter für die Person. Jemand meint vielleicht, eine Flasche Essig sei mit Wein gefüllt und betrachtet sie als etwas subjektiv Befriedigendes. Nur wenn er davon trinkt, wird er entdecken, daß dem nicht so ist. Es gibt Dinge, die uns wirklich Lust bereiten können, und andere, die es nur scheinbar vermögen, denn objektiv spenden sie keine Freude. Dieser Anschein kann durch einen Irrtum über das betreffende Seiende oder durch eine Illusion über die wirkliche Natur eines Seienden bedingt sein. Ein Kind hält Rauchen für etwas Angenehmes, doch beim Versuchen wird es krank und erlebt Unlust. Hier bezieht sich die Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv nicht auf die Art der Bedeutsamkeit, sondern nur auf die Frage, ob ein Gegenstand tatsächlich einen bestimmten Bedeutsamkeitstyp besitzt oder ob es nur so scheint. Wir können zwischen Dingen unterscheiden, die wirklich ein objektives Gut für uns sind, und solchen, die es nur scheinbar sind. Wenn es uns nicht gelingt, zu erreichen, was wir erstreben, meinen wir oft, dieser Fehlschlag sei ein großes objektives Übel für uns. Später werden wir vielleicht sehen, daß er in Wirklichkeit ein großes Gut für uns war. Ein Mensch wird von einem

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Freund getrennt, der großen Einfluß auf ihn hatte; er glaubt, dieser Verlust sei ein großes Unglück, ein objektives Übel für ihn. Später wird ihm klar, daß der Freund einen schlechten Einfluß auf ihn hatte und die Trennung von ihm tatsächlich ein objektives Gut für ihn war. Weil er das Wesen der Bedeutsamkeit selbst betrifft, fällt also der Unterschied zwischen bloß subjektiv Befriedigendem und objektivem Gut für die Person nicht mit der Verschiedenheit zwischen einem Objekt, das die eine oder andere Art der Bedeutsamkeit wirklich besitzt, und einem, das sie nur scheinbar hat, zusammen. Obwohl die von uns „objektives Gut für die Person“ genannte Bedeutsamkeit historisch im Begriff des bonum überwiegt, ist sie in Wirklichkeit hinsichtlich des datum des Wertes sekundär. Mit dem Wort „sekundär“ wollen wir nicht etwa andeuten, sie könne auf das in sich Bedeutsame zurückgeführt oder von ihm abgeleitet werden, sondern nur sagen: sie setzt schon den Wert voraus, und die Bedeutsamkeit in sich hat in jeder Hinsicht den absoluten Primat. Dies letztere zeigt sich auch darin, daß jedes objektive Gut für die Person notwendig das in sich Bedeutsame, den Wert, voraussetzt. Um festzustellen, daß eine sittliche Verfehlung ein größeres Übel für den Menschen ist als Unrecht dulden, muß der sittliche Wert schon erfaßt sein. Wie hätte Sokrates erklären können, eine sittliche Schuld zu tragen sei für den Menschen schlimmer als leiden, hätte er nicht schon die in sich ruhende Bedeutsamkeit des sittlichen Wertes gesehen? Hätte Sokrates argumentiert: Unrecht tun bringe uns in Schwierigkeiten, es würde vielleicht den Mann, dem wir es zufügten, zu unserem Feind machen oder könnte uns mit den Staatsgesetzen in Konflikt bringen, dann hätte er nicht der Einsicht in den sittlichen Unwert des Unrechts bedurft, um es für ein großes Übel für den Menschen zu halten. Aber Sokrates argumentiert nicht so. Nicht die utilitaristische Betrachtungsweise, die sich in dem Sprichwort: „Ehrlichkeit ist die beste Politik“, ausdrückt, liegt der sokratischen These zugrunde.“24 Nicht die möglichen Folgen unseres ungerechten Tuns, sondern die Unsittlichkeit der dahinterstehenden Haltung macht es für ihn zu einem größeren Übel.

24

Siehe vor allem die Beweisführung im Gorgias, 506, c. 59.

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Das objektive Gut setzt Wert voraus Weil Ungerechtigkeit als solche ein sittlicher Unwert ist, ist sie zugleich ein objektives Übel für die Person; nicht weil sie ein objektives Übel für die Person ist, wird sie auch sittlich schlecht. Um zu verstehen, daß Ungerechtigkeit etwas Negatives oder Schlechtes ist, brauchen wir uns nicht erst zu fragen, ob sie ein Übel für die Person ist oder nicht. Wir können dies unmittelbar erfassen, wenn wir das Wesen der Ungerechtigkeit erkennen. Aber um einzusehen, daß sie ein objektives Übel für die Person ist und sogar ein größeres als das offenkundige des Unrechtleidens, müssen wir schon den inneren Unwert der Ungerechtigkeit erfaßt haben. Die große Einsicht und der Erkenntnisbeitrag des Sokrates – eine Vorausahnung der Worte unseres Herrn: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet“ (Mt 16, 26) – ist gerade, gesehen zu haben, daß sittliche Integrität auf Grund ihres Wertes ein höheres Gut für die Person ist als der Besitz irgendeines anderen Lust oder Glück spendenden Gutes; oder, um in unmittelbarer Nähe der sokratischen These zu bleiben: sittlich schuldig sein ist ein größeres objektives Übel für die Person als jedes Leiden. Sokrates brennt darauf zu zeigen: Unrecht ist zu seinem inneren Unwert auch das größte objektive Übel für den Menschen und dies wegen seines inneren Unwertes.25 Wenn uns unser Gewissen nötigt, uns einer Ungerechtigkeit zu enthalten, so legt uns die in sich negative Bedeutsamkeit der Ungerechtigkeit und nicht das uns aus der Ungerechtigkeit erwachsende objektive Übel diese Verpflichtung auf. Mehr noch: Ungerechtigkeit ist ursprünglich und in sich böse; sie ist allein wegen ihres Unwertes ein objektives Übel für uns. Der Unwert des Unrechts ist das principium. Sollen wir verstehen, daß es ein objektives Übel für uns ist, so müssen wir zuerst seinen inneren Unwert erfassen. Die wesenhafte Verknüpfung zwischen dem inneren Unwert des Unrechts und seinem Charakter als objektives Übel für die Person ist das wahre Thema der sokratischen These und stellt seinen wirklichen philosophischen Beitrag dar.

25

Das ist Grundthema des Mythos am Ende des Gorgias.

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So sehen wir: Im Mittelpunkt der Erklärung des Sokrates steht ein Begriff des ¢gaqÒn, der sich bei genauerer Analyse als unser Bedeutsamkeitstypus „das objektive Gut für die Person“ erweist.26 Wie sich zeigte, weicht er von Aristipps bonum-Begriff, dem bloß subjektiv Befriedigenden, ab. Ebenso unterscheidet er sich von jenem Grundbegriff des bonum, den wir das Bedeutsame in sich oder den Wert nannten. Weil Sokrates diese drei wesenhaft verschiedenen Begriffstypen nicht voneinander abgrenzt, gelingt es ihm nicht, die spezifische Eigenart des bonum-Begriffs herauszuarbeiten, der tatsächlich für ihn im Mittelpunkt steht, nämlich den des objektiven Gutes für die Person.27 Die Bedeutsamkeitskategorie, die wir „das objektive Gut für die Person“ nannten, spielt in unserer Motivation eine besondere Rolle, sobald es um das Gut für eine andere Person geht. Wenn wir von der Bekehrung eines Sünders hören, sind wir in doppelter Weise beglückt. Wir freuen uns zuerst über die innere Gutheit der Bekehrung, über ihre Bedeutsamkeit in sich oder ihren Wert, der Gott verherrlicht; zweitens sind wir glücklich für den Menschen selbst, weil er tat, was in der Richtung auf sein wahres Gut liegt, und weil er in seiner Bekehrung ein unschätzbares Geschenk empfing. Wir könnten diese zweifache Richtung unserer Freude auch wie folgt ausdrücken: an erster Stelle eine Wertantwort; an zweiter eine Antwort auf ein objektives Gut für ihn. Daher geht unsere Freude auf der einen Seite aus unserer Liebe zu Gott und auf der anderen aus unserer Liebe zum Nächsten hervor. Tatsächlich besitzt also ein und derselbe Gegenstand die beiden Bedeutsamkeitsarten.28 26

27

28

Aristoteles‘ Begriff des Guten orientiert sich in ähnlicher Weise an dem objektiven Gut für die Person. Das zeigt sich deutlich in seiner Antwort auf die Frage, welches das höchste Gut sei. Da er die Glückseligkeit für das höchste Gut hält, geht es ihm offensichtlich um den Gesichtspunkt des objektiven Gutes für die Person. In den ,Prolegomena‘ zeigten wir, daß in der Geschichte oftmals ein datum implicite vorausgesetzt wurde, ohne daß eine philosophische prise de conscience stattfand. Diese Relation zwischen Wert und objektivem Gut für die Person besteht jedoch nicht in derselben Weise für jeden Typ von objektiven Gütern für die Person. Es gibt viele objektive Güter, in denen der Charakter des objektiven Gutes aus diesem selbst stammt und nicht daher, daß es mit einem Wert ausgestattet ist, wie wir später sehen werden.

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Die Rolle des objektiven Gutes für die Person tritt in unserer intentio benevolentiae29 gegenüber geliebten Personen evident hervor. Wir sehnen uns, den Geliebten glücklich zu machen, wir wollen ihn mit Wohltaten überhäufen und alles für sein Bestes tun. Wir fragen nicht, was ihn subjektiv befriedigen mag, sondern vielmehr, was objektiv gut für ihn ist. Hat er etwa einen unkontrollierbaren Hang zu alkoholischen Getränken, so werden wir ihm nicht Gelegenheit und Mittel verschaffen, diesem nachzugeben, obwohl es ihn subjektiv befriedigen würde. Es wäre eine falsche Liebe, die alles begünstigte, was für den Geliebten subjektiv befriedigend ist, ohne zu bedenken, ob es objektiv gut für ihn ist. Wahre Liebe wird immer diesen objektiven Maßstab des echten Gutes für den Geliebten vor Augen haben. Wenn der Geliebte eine Neigung zum Stolz hat, wenn er billige Schmeicheleien genießt, wird der wahrhaft Liebende diese Tendenz nicht unterstützen, seinen Stolz nicht befriedigen. Ist der Geliebte etwa rauschgiftsüchtig und muß sich einer Entziehungskur unterziehen, wird der Liebende ihm nicht heimlich die Injektionsnadel verschaffen, obwohl diese ihm eine subjektive Befriedigung brächte. Der Begriff des objektiven Gutes für die Person muß also nicht nur von dem Begriff des Wertes, sondern auch von dem nur subjektiv Befriedigenden unterschieden werden. Der Fall des Verzeihens, der uns früher half, das objektive Gut oder Übel für die Person von dem Wert oder Unwert abzugrenzen, zeigt ebenfalls klar die Verschiedenheit zwischen dieser Kategorie und dem bloß subjektiv Befriedigenden oder Unbefriedigenden. Solange die Haltung eines anderen Menschen ausschließlich den Charakter des Unangenehmen und Unbefriedigenden für uns hat, besteht weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit für uns, ihm zu verzeihen. Ein Freund macht uns einen gerechtfertigten Vorwurf, der objektiv hilfreich für uns ist; aber unser Stolz nimmt ihn übel, da er unangenehm und demütigend ist. Wir deuten ihn falsch und grollen unserem Freund. Wenn wir nachher unseren ichbezogenen Krampf überwinden, wird uns ganz klar, daß wir keinen wirklichen Anlaß für einen Akt des Verzeihens haben, 29

In meinem Buch Reinheit und Jungfräulichkeit, 3. Aufl., Einsiedeln 1950, I. Teil, wurde dieser Terminus eingeführt und erörtert. Vgl. auch meine Metaphysik der Gemeinschaft, 2. Aufl., Regensburg 1955.

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obwohl unser Freund etwas uns subjektiv Unangenehmes tat. Im Gegenteil, wir sind uns vielmehr bewußt, daß wir selbst Verzeihung brauchen, weil wir so verkehrt auf einen Vorwurf reagierten. Sobald etwas eine nur subjektiv negative Bedeutsamkeit hat, ohne gleichzeitig ein objektives Übel für uns zu sein, liegt keine Verpflichtung zu einem Verzeihensakt vor. Verzeihen setzt die Erkenntnis voraus, daß die Haltung eines anderen uns gegenüber die negative Bedeutsamkeit von etwas objektiv Ungerechtem oder Lieblosem hat. Gewiß sind viele für uns unangenehme Haltungen oder uns Unrecht zufügende Handlungen zugleich ein objektives Übel für uns. Die Intention, uns Schmerzen oder Unrecht um ihrer selbst willen zuzufügen, hat, außer daß sie unangenehm ist, immer die negative Bedeutsamkeit eines objektiven Übels für uns. Diese beiden Formen der Bedeutsamkeit hängen tief zusammen; denn objektives Übel-für-uns-Sein setzt hier voraus, daß es etwas Schmerzliches und Unangenehmes ist. Aber dies widerspricht nicht der Tatsache, daß die beiden Bedeutsamkeitstypen wesenhaft verschieden sind und daß wir eine Haltung nach dem einen Gesichtspunkt beurteilen, wenn wir nur feststellen, sie sei unangenehm, und nach dem anderen, wenn wir sie als objektives Übel für uns betrachten. Dasselbe gilt für die entsprechenden positiven Fälle: weder ist jedes subjektiv Befriedigende ein objektives Gut für uns, noch ist jedes objektive Gut für uns subjektiv befriedigend. Die Bedeutsamkeit des objektiven Gutes für die Person besitzt ein Element von Objektivität, die dem subjektiv Befriedigenden vollständig fehlt. Vom extremen Standpunkt des bloß subjektiv Befriedigenden besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Anblick eines leidenden Feindes, den ein Rachsüchtiger als befriedigend erlebt, und der legitimen Befriedigung beim Geldverdienen; kein Unterschied zwischen der sadistischen Lust, einen anderen zu quälen, und dem Vergnügen, einen guten Wein zu kosten; kein Unterschied zwischen dem Geldgewinn durch Lotteriespiel oder durch Diebstahl. Zusammenfassend können wir sagen: In unserer Motivation finden sich drei fundamental verschiedene Bedeutsamkeitskategorien. Sie sind nicht nur empirische Realitäten, die de facto in menschlichen Motivationen auftauchen; sie sind drei mögliche rationes, die die Bedeutsamkeit eines Objektes begründen können, drei wesentliche Gesichtspunkte für jede

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mögliche Motivation, sei sie die von Menschen oder die von Engeln. Es ist unerläßlich für uns, den fundamentalen und notwendigen Charakter dieser drei Bedeutsamkeitskategorien und ebenso ihre wesenhafte Verschiedenheit voll zu erfassen. So verschieden auch ihr Rang sein mag, so besitzen sie doch ohne jeden Zweifel alle drei ihr eidos, ihre intelligible Wesenheit. Darum ist ihre Entdeckung nicht das Ergebnis empirischer Beobachtung, sei sie psychologischer oder sonstiger Art, sondern einer philosophischen Einsicht, analog derjenigen, die die verschiedenen Kategorien der Prädikation voneinander abgrenzt.30 Wir sehen, besonders vom ethischen Gesichtspunkt aus wissen wir nur wenig, solange wir nur sagen, jeder Wille ist auf ein Gut gerichtet. Es kommt eben gerade darauf an, ob die motivierende Bedeutsamkeitskategorie der Wert, das objektive Gut für die Person oder das bloß subjektiv Befriedigende ist. Diese Einsicht wird sich später als außerordentlich bedeutungsvoll erweisen, denn sie wird auch die Unrichtigkeit der aristotelischen These aufdecken, nach der unsere Freiheit auf die Mittel und nicht auf die Ziele beschränkt ist. Der große und entscheidende Unterschied im sittlichen Leben eines Menschen liegt gerade darin, ob er die Welt vom Gesichtspunkt des Wertes oder des bloß subjektiv Befriedigenden betrachtet. Es ist die berühmte Unterscheidung, die der hl. Augustinus in De civitate Dei in die Worte faßt: „Doch es gibt nicht mehr als zwei Arten von menschlichen Gesellschaften, die wir gemäß der Schrift die beiden Staaten nennen können. Den einen bilden die Menschen, die nach dem Fleische, den anderen, die nach dem Geist leben.“31

Direkte und indirekte Bedeutsamkeit Aber dieses Thema werden wir später besprechen. Bevor wir jedoch die Sphäre der Motivation verlassen, müssen wir noch eine andere Unterscheidung im Bereich der Bedeutsamkeit erwähnen. Obwohl sie keine neue Bedeutsamkeitskategorie ist, spielt sie doch eine große Rolle, 30 31

Vgl. ‚Prolegomena‘, S. 10 ff. XIV, 1.

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die im Lauf der Philosophiegeschichte oft hervorgehoben wurde. Es ist die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter oder primärer und sekundärer Bedeutsamkeit. Tatsächlich ist es ein entscheidender Unterschied in der Bedeutsamkeit eines Objektes für unsere Motivation, ob es um seiner selbst oder um etwas anderen willen erstrebt wird. Diese Verschiedenheit spielt in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik eine überragende Rolle; sie ist für ihn sogar das bestimmende Merkmal des höchsten Gutes. Ein Gut wird um seiner selbst willen erstrebt, während alles übrige um dieses Gutes willen gewählt wird. Diese Distinktion entspricht der zwischen Mittel und Zweck. Wir interessieren uns für ein Medikament nicht um seiner selbst willen, sondern nur soweit es zur Wiederherstellung unserer Gesundheit oder Stillung eines Schmerzes dient. Ein guter Wein dagegen zieht uns um seiner selbst willen an. Das Medikament ist bloß ein Mittel, der gute Wein oder vielmehr sein Genuß ein Zweck. Ein Mensch ist in Lebensgefahr. Unser Zweck ist, ihn zu retten; er beschäftigt uns um seiner selbst willen. Das Seil mit dem wir ihn aus dem Wasser ziehen, hat nur als Mittel zu diesem Zweck eine Bedeutung. Dieser Unterschied zwischen Mittel und Zweck durchzieht unser ganzes Leben. Wir unterscheiden beständig zwischen Dingen, die um ihrer selbst, und solchen, die nur um etwas anderen willen erstrebt werden. Im zweiten Fall nehmen die Dinge den Charakter bloßer Mittel an; denn sie werden, abgesehen von jedem Wert, den sie in sich besitzen mögen, betrachtet. Es ist von großer Wichtigkeit zu verstehen, daß die in sich ruhende Bedeutsamkeit des Wertes nicht mit der Bedeutsamkeit inhaltsgleich ist, die alle ihrer selbst wegen erstrebten Dinge charakterisiert. Mit anderen Worten: ein Wert ist nicht dasselbe wie ein Zweck oder ein Objekt von direkter Bedeutsamkeit. Die in sich ruhende Bedeutsamkeit des Wertes bezieht sich auf die Natur der Bedeutsamkeit als solcher, während das Erstrebtwerden um seiner selbst willen – wir wollen es „direkte Bedeutsamkeit“ nennen – die Art bezeichnet, in der die Bedeutsamkeit einem Seienden anhaftet oder ihm eigen ist. Das seiner selbst wegen Begehrte ist direkt bedeutsam. Seine Bedeutsamkeit hängt nicht von einer finalen Verknüpfung mit etwas anderem ab. Bloße Mittel sind dagegen nur indirekt bedeutsam; sie borgen ihre Bedeutsamkeit gleichsam von der des Endzweckes, dem sie dienen. Ihre Eignung, der

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Verwirklichung eines wichtigen Zweckes zu dienen, verleiht ihnen eine sekundäre oder auxiliäre Bedeutsamkeit. Der Unterschied zwischen direkter und indirekter oder primärer und sekundärer Bedeutsamkeit findet sich sowohl bei den Werte tragenden Gütern, wie auch bei den objektiven Gütern für die Person und dem nur subjektiv Befriedigenden. Gesundheit ist ein objektives Gut für die Person. Penicillin hat eine indirekte oder sekundäre Bedeutsamkeit als ein Mittel, unsere Gesundheit wiederherzustellen.32 Weil es ein Mittel für ein objektives Gut der Person ist, nimmt es an dieser Bedeutsamkeit teil und ist so ein sekundäres objektives Gut für die Person. Penicillin ist tatsächlich ein großes objektives Gut für die Menschheit, jedoch offensichtlich ein indirektes. Wir sehen also: Der Wert, das objektive Gut für die Person und das bloß subjektiv Befriedigende stellen drei wesenhaft verschiedene Bedeutsamkeitstypen in unserer Motivation dar; der Unterschied zwischen direkter und indirekter Bedeutsamkeit betrifft dagegen ausschließlich die Frage, wie die Bedeutsamkeit einem Seienden zugehört. Offenbar überschneidet also eine Unterscheidung die andere. Die Verschiedenheit zwischen der Bedeutsamkeit des Zweckes und der der Mittel wurde oft gesehen und hervorgehoben. Aber sie führt nicht zu irgendeiner neuen Motivationskategorie, die als vierter Bedeutsamkeitstyp aufgezählt werden könnte. Sie geht vielmehr in eine gänzlich andere Richtung und durchschneidet die drei fundamentalen Bedeutsamkeitstypen, wie wir oben sagten. Es wäre darum ein vollendeter Irrtum, den Zweck mit einem Wert gleichzusetzen, also mit dem Charakter eines Seienden, das um seiner selbst willen erstrebt wird, weil man beide, Wert und Zweck, in sich selbst bedeutsam nennen kann. Dieser Terminus hat, wie wir sahen, in jedem Fall einen völlig verschiedenen Sinn.

32

Platon weist auf die Eigenart der indirekten Bedeutsamkeit hin, wenn er sagt: „Doch kenne ich vieles, was für Menschen nachteilig ist, Speisen, Getränke, Arzneien und anderes mehr in Unzahl, und Dinge, die vorteilhaft sind. Es gibt aber auch Dinge, die für die Menschen weder die eine noch die andere Bedeutung haben.“ Protagoras 334.

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DIETRICH VON HILDEBRAND […] 23. Kapitel Der Umfang der ersten Freiheitsdimension Die Wahlfreiheit ist nicht auf die Mittel beschränkt

Aristoteles sagt, unsere Wahlfreiheit sei auf die Wahl der Mittel beschränkt und beziehe sich nicht auf das Ziel,33 denn Ziel des Willens sei notwendig das Glück. Die Ungenauigkeit dieser Erklärung wird jedoch offenbar, sobald wir uns eine Wahl zwischen etwas nur subjektiv Befriedigendem (wie ein Bridgespiel) und etwas vorstellen, das einen Wert trägt (wie die Hilfeleistung für einen kranken Freund). Solche Wahl wird sicherlich nicht zwischen den Mitteln getroffen, noch gründet sich die Entscheidung auf die Frage: Welche dieser beiden Möglichkeiten wird uns glücklicher machen? Diese Situation ist völlig verschieden von einer, in der wir zu entscheiden haben, ob wir eine Stellung annehmen wollen, die unserem Ehrgeiz schmeichelt (aber finanziell ungünstig ist) oder eine andere, besser bezahlte, die weniger an unseren Stolz appelliert. In diesem Fall des Wählens sind wir tatsächlich mit der Frage beschäftigt, welche der beiden Möglichkeiten uns mehr Glück spende. Bei der ersten Wahl gibt diese Überlegung jedoch nicht den Ausschlag, denn das Bridgespiel zieht uns ja gerade vom Gesichtspunkt egozentrischen Glückes an, aber die Hilfeleistung für unseren kranken Freund spricht zu unserem Gewissen als etwas seiner selbst wegen Bedeutsames. Es erscheint daher angemessen und notwendig, zu überprüfen, ob unsere freie Wahl tatsächlich auf die Mittel beschränkt ist. Ist der Zweck wirklich immer derselbe und ist er seinem Wesen nach eine unveränderliche Gegebenheit? Nein, es ist nicht wahr, daß unser Wille in jedem Fall nach unserem eigenen Glück als seinem Ziel34 strebt und alles andere nur als Mittel zu 33 34

Nik. Ethik, III, 1113 b. In Wahrheit ist der Begriff „Glück“ kein univoker, sondern ein analoger. Wie wir schon im 3. Kap. sahen, gebrauchen wir diesen Ausdruck für ganz verschiedene Dinge, die nur ihren positiven Charakter gemeinsam haben. Vom sittlichen

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diesem Zweck betrachtet wird. Wenn wir uns entschließen, uns der Forderung einer sittlichen Verpflichtung zu unterwerfen, geht es uns nicht um unser Glück, sondern um den sittlichen Wert, dem wir uns um seiner selbst willen konformieren. Im Streben nach Gerechtigkeit ist unsere Haltung nicht notwendig von dem Glück motiviert, das daraus fließen kann; vielmehr suchen wir die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen. Aber noch mehr: gerade in diesem Fall hat unser Streben sein volle sittliche Bedeutung. Damit ist nicht gesagt, der Mensch strebe nicht als solcher notwendig nach Glück. Aber im genannten Fall ist das Glück gewiß nicht das Ziel und das Vollziehen der Gerechtigkeit nicht ein bloßes Mittel dazu. Die Beziehung zwischen ihnen ist keineswegs eine finale. Das Ziel ist wirklich die Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen. Das unbestimmte Innesein, daß die Zuwendung zur Gerechtigkeit auch der Weg zur wahren Glückseligkeit ist, oder das vielleicht klarere Wissen, daß eine ungerechte Tat zu wirklichem Unglück führt, hat den Charakter einer Begleiterscheinung. Es ist nicht das entscheidende Motiv für unseren Willen. Wenn wir dem Ruf der Gerechtigkeit um ihrer selbst willen folgen – sollten auch viele Mühen und Leiden damit verbunden sein –, haben wir nur die vage Vorstellung, daß wir trotz alledem auf dem Weg zum wahren Glück sind. Es wird später noch deutlicher werden, warum wahres Glück hier gar nicht als Ziel und Gerechtigkeit nur als Mittel wirken kann. Wir werden dann sehen, daß wir gerade, um echtes Glück zu verstehen, fähig sein müssen, uns einem werttragenden Gut um seiner selbst willen zuzuwenden. Vom sittlichen Standpunkt aus kommt es überdies darauf an, ob wir uns in unserer Wahl nach dem bloß subjektiv Befriedigenden oder nach sittlich bedeutsamen Werten richten. Es ist die alte Unterscheidung zwischen dem

Standpunkt aus ist es von entscheidender Bedeutung, welche Art von Glück zur Frage steht, ein Unterschied, der nicht nur für den sittlichen Wert unseres Willens wichtig ist, sondern auch die Rolle betrifft, die er im Vorgang der Motivation spielt. Der hl. Augustinus hatte dies klar vor Augen, als er sagte: „Nam illi qui beati sunt, … non propter ea sunt beati, quia beate vivere voluerunt; nam hoc volunt etiam mali: sed quia recte, quod mali nolunt.“ De lib. arb. I, 14, 30. (Denn die glückselig sind,… sind es nicht deshalb, weil sie glückselig leben wollen – das wollen auch die Bösen –, sondern weil sie recht leben wollen. Das aber wollen die Bösen nicht.)

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commodum und dem justum35, dem Angenehmen und Rechten; oder mit den Worten des hl. Augustinus: zwischen einem Leben nach dem Fleische (im biblischen Sinne) und einem Leben gemäß Gott.36 Diese Entscheidung, die wir in unzähligen Augenblicken des Lebens vollziehen müssen, ist frei. In konkreten Situationen liegt es in unserer Macht, ob wir uns der Lockung des nur subjektiv Befriedigenden überlassen oder uns statt dessen der unerbittlichen, aber niemals zwingenden Forderung der sittlich bedeutsamen Werte zuwenden. Die tiefste sittliche Verschiedenheit zwischen den Menschen besteht gerade hierin: Ihr überaktueller Wille ist entweder auf das in sich Bedeutsame gerichtet und erhebt dieses zum Generalnenner aller ihrer konkreten Entscheidungen, oder der überaktuelle Wille ist dem nur subjektiv Befriedigenden zugekehrt und macht dieses zum Generalnenner aller Entschlüsse. Das gilt für die Ziele wie für die Mittel. Jemanden aus Lebensgefahr retten, ist gewiß ein Ziel für unseren Willen und durchaus kein Mittel. Wenigstens ist das Leben einer anderen Person ein Ziel und kein Mittel. Wenn wir unseren Willen dagegen auf den Kauf einer Medizin lenken, um einem Kranken zu helfen, so ist dies Medikament ein bloßes Mittel. Bei dem Entschluß, die Medizin zu beschaffen, werden wir von dem Wert motiviert, den sie als Mittel zur Wiederherstellung der Gesundheit des Leidenden besitzt. Also ist hier die Gesundheit dieses Menschen das Ziel. Aristoteles' Neigung, alles in das Schema von Mittel und Ziel zu pressen, ist teilweise schuld an seiner Erklärung, die freie Wahl sei auf die Mittel beschränkt. In Wirklichkeit ist aber das Prinzip der Finalität eines unter vielen anderen, die eine bedeutungsvolle Funktion im Kosmos innehaben. Z. B. ist das Verhältnis zwischen sittlich bedeutsamen Werten im allgemeinen und ihrer konkreten Aktualisierung in einem realen Gut keine Finalitätsbeziehung, sondern eine völlig andere. Für Gott leben, bereit sein, uns in jeder einzelnen Situation nach ihm zu richten, tun, was ihm wohlgefällt, diese Grundrichtung des Lebens (um mit Augustinus zu sprechen) schließt durchaus nicht ein, daß wir einen konkreten sittlichen Wert in einer konkreten Situation als Mittel betrachten, das auf Gott als das Ziel bezogen wäre. Im Gegenteil, wir können das Verhältnis jedes sittlich 35 36

Anselm von Canterbury, De concordia, III, c. 11–13. De civ.Dei, XIV, 3.

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bedeutsamen Wertes zu Gott – der Quelle aller Gutheit, der unendlichen Güte selbst – mit dem Verhältnis eines Sonnenstrahls zur Sonne selbst vergleichen. Es ist eine besondere Widerspiegelung der unendlichen Güte Gottes. Indem wir wollen, was seinem Wesen nach gut ist – d. h. Gerechtigkeit, Reinheit, Demut, Wahrhaftigkeit und Liebe – finden wir in diesen Werten einen Abglanz der unendlichen Gerechtigkeit, Reinheit und Liebe Gottes. Indem wir auf sie antworten, sehen wir sie nicht als Mittel, um zu Gott zu gelangen; vielmehr konformieren wir uns ihnen um ihrer selbst willen und folgen dadurch auch letztlich Gott selbst, der Quelle aller Werte. Dies wird noch sichtbarer bei der Betrachtung der Handlungssphäre, z. B. wenn unser Wille danach strebt, das Leben unseres Nächsten oder seine sittliche Integrität zu retten oder wenn er sich auf eine Bekehrung richtet. In all diesen Fällen erblicken wir in den Zielen keine Mittel, Gott zu dienen, sondern wir finden Christus in unserem Nächsten; wir sind wirklich an ihm um seiner selbst willen interessiert. Die Verbindung mit dem absoluten Gut ist hier nicht eine von Mittel und Ziel. Dieses Streben ist in den Augen Gottes kostbar wegen seines echten sittlichen Wertes, und dieser bildet Gott in spezifischer Weise ab. Seine Beziehung zu Gott, die sich klar von Finalität unterscheidet, läßt sich auch so ausdrücken: Wenn wir uns diesen Gütern zuwenden, folgen wir zugleich auch Gott. Darüber hinaus kann das große Prinzip der sittlichen Sphäre: die Hingabe an Gott und an den echten Wert eines Gutes um seiner selbst willen (verkörpert in den Worten unseres Herrn: „Wer sein Leben verliert… wird es gewinnen“) – nicht im Sinn einer Finalität gedeutet werden. Glück ist ein Geschenk, das uns verliehen wird, wenn wir uns Gott um seiner selbst willen hingeben. Die Worte Christi: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dieses alles wird euch hinzugegeben werden“ weisen klar auf diesen Zusammenhang hin. Es wäre ein vollständiges Mißverständnis, aus diesem „Suchet das Reich Gottes“ ein Mittel zum Erreichen alles übrigen zu machen. Wiederum fehlt bei Aristoteles die klare Unterscheidung zwischen dem in sich Bedeutsamen und dem nur subjektiv Befriedigenden. Obwohl er mehrmals auf sie hinweist, wenn er von ehrenvollen oder edlen Dingen spricht, sie den nur lustspendenden gegenüberstellt und sagt, der gute

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Mensch wolle nicht nur das Gute, sondern freue sich auch darüber,37 bleibt diese Unterscheidung doch rein implizit. Niemals findet sie ihren Platz in seinen Folgerungen, besonders dann nicht, wenn er das letzte Ziel des Menschen erörtert. Folglich unterscheidet er nie ausdrücklich zwischen egozentrischem und wahrem Glück, das uns nur Güter, die einen echten Wert tragen, spenden können. Da er nicht erkennt, daß es wesenhaft verschiedene Typen positiver Bedeutsamkeit gibt, behandelt Aristoteles das positiv Bedeutsame oder das Gute (¢gaqÒn), ebenso wie das Glück, als einen eindeutigen Begriff. Wie wir schon sahen, setzt unser positiver Wille notwendig ein Objekt mit positiver Bedeutsamkeit voraus. Weder etwas Neutrales noch etwas negativ Bedeutsames vermöchte je als solches unseren Willen zu motivieren. Wir können niemals etwas ausschließlich deshalb wollen, weil es ein Übel ist oder negative Bedeutsamkeit hat. Da er die wesenhaft verschiedenen Bedeutungen des Terminus gut (¢gaqÒn) nicht erkannte und jede sie betreffende Beziehung als eine finale deutete, kam Aristoteles zu dem Schluß, unsere Wahlfreiheit erstrecke sich nur auf die Mittel; das Ziel, nämlich das Glück (oder, wie wir sagen: das positiv Bedeutsame), sei immer dasselbe und als unabänderliche Voraussetzung jedem Wollen vorgegeben. Sobald wir aber zwischen dem „Guten“ im Sinn des subjektiv Befriedigenden, im Sinn des Wertes und des objektiven Gutes für die Person unterscheiden, verstehen wir auch, daß die Hauptaufgabe der menschlichen Freiheit gerade in der Wahl zwischen dem bloß subjektiv Befriedigenden und dem Wert besteht.

Die freie Wahl der Ziele Diese entscheidende freie Wahl bezieht sich offenbar nicht nur auf die Mittel. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß die Finalität nicht die einzige Relation im Reich des Willens ist. Denn unsere Hingabe an ein Gut mit sittlich bedeutsamem Wert besagt nicht, wir sähen in ihm ein Mittel; vielmehr suchen wir es gerade um seiner selbst willen und als etwas mit 37

„Da bekanntlich wertvolle Handlungen edel sind und um des Edlen willen getan werden . . .“ Nik. Ethik, III, 1120 a.

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Gott – der Quelle und Summe aller Gutheit – Verbundenes, das zu ihm jedoch nicht in einer Finalbeziehung im engeren Sinn steht. Wenn wir dies erkannt haben, müssen wir zugeben, daß unsere Freiheit sich sowohl auf Ziele wie auf Mittel erstreckt. Sie umfaßt einmal unsere letzte Entscheidung zwischen dem Wert und dem bloß subjektiv Befriedigenden – beides allgemein genommen – als Norm unseres Lebens und insbesondere, in konkreten Situationen, unsere Wahl zwischen der Einladung des Angenehmen und der Forderung eines sittlich bedeutsamen Wertes. Dieser Konflikt kann zwischen zwei Zielen entstehen – z. B. dem Besuch einer amüsanten Geselligkeit und der Hilfeleistung an einen kranken Freund –, aber auch bei der Frage, ob ein Mittel zu einem bestimmten guten oder wenigstens neutralen Zweck sittlich bedenklich ist. Zusammenfassend können wir sagen: Der Konflikt des Wertes mit dem subjektiv Befriedigenden kann zwischen zwei oder mehreren möglichen konkreten Zwecken und ebenso zwischen gewissen Mitteln und ihrem Zweck eintreten. In beiden Fällen liegt es in unserer Freiheit, uns dem Wert oder dem subjektiv Befriedigenden zu konformieren. Hier gilt es zu betonen: Der sittliche Charakter unserer Wahl der Mittel hat nichts mit der Geeignetheit der Mittel zu tun, ein Ziel zu verwirklichen. Diese zu prüfen ist vielmehr Sache der menschlichen Intelligenz. Vom sittlichen Standpunkt aus bezieht sich unsere Wahl dagegen auf die Frage, ob ein Mittel sittlich anfechtbar ist oder nicht; ob es einen sittlich bedeutsamen Unwert trägt, ob es vom Gesichtspunkt sittlich bedeutsamer Werte aus neutral ist oder sogar einen sittlich bedeutsamen Wert besitzt. Um seine eigene These zu unterbauen, führt Aristoteles einen Arzt an, für den das Ziel, d. h. die Gesundheit des Patienten, außerhalb allen Wählens liegt und dessen Wahl folglich auf die Mittel beschränkt ist, die ihm das Erreichen seines Zieles ermöglichen sollen.38 Dieses Beispiel gibt jedoch offenbar nicht die typische Situation bei der sittlichen Wahl unseres Willens wieder. Der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Arzt ist keine primär sittliche Frage. Die Fähigkeit des guten, das wirksame Mittel zur Heilung seines Patienten zu finden, hängt in erster 38

„… Das Hin und Her unserer Überlegung richtet sich nicht auf das Ziel, sondern auf die Wege zum Ziel. Ein Arzt überlegt nicht, ob er heilen... soll. Sondern: das Ziel wird aufgestellt, und dann setzt das Überlegen ein, wie und auf welchen Wegen es erreicht werden kann.“ Nik. Ethik, III, 1112 b.

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Linie von seiner Intelligenz, seiner medizinischen Ausbildung und erst an zweiter Stelle von seiner sittlichen Haltung ab: von seinem Verantwortungsbewußtsein, seiner Opferbereitschaft usw. Im Bereich unserer beruflichen Tätigkeit ist das Ziel mehr oder weniger unbestritten, und der Nachdruck liegt auf den Mitteln, die wir wählen, es zu erreichen. Sobald wir aber den Arzt vom sittlichen Gesichtspunkt aus prüfen, müssen wir über die Sphäre der bloßen Mittel hinausgehen. Wir haben dann zuerst nachzusehen, ob er die Wiederherstellung der Gesundheit des Kranken wirklich um ihrer selbst willen erstrebt oder ob er vor allem Geld verdienen will, also die Behandlung des Kranken mehr oder weniger als Mittel zum Geldgewinn betrachtet. Diese Frage richtet sich aber gerade auf das gewählte Ziel und nicht auf die bloßen, zu ihm führenden Mittel. Zweitens müssen wir uns vergewissern, ob der Arzt ein echtes Verantwortungsbewußtsein hat und die medizinischen Mittel mit der notwendigen Vorsicht anwendet – stets des hohen Gutes bewußt, das ihm in seinen Patienten anvertraut wurde, in seinem Tun immer von einer wertantwortenden Haltung geleitet. Schließlich haben wir zu fragen, ob und in welchem Ausmaß er bereit ist, für die Behandlung seines Patienten persönlich Opfer zu bringen, ob er irgendwelchen unmoralischen Versuchungen, wie Euthanasie oder sogar brutalem Töten des Kranken erliegen würde, Situationen, in die unglücklicherweise viele Ärzte in unserer Zeit gestellt wurden. In diesen Fällen werden des Kranken Leben und Gesundheit nicht Mittel für ein anderes Ziel (z. B. Geldverdienen), vielmehr ist nackte Zerstörung an die Stelle der Erhaltung oder des Schutzes der Gesundheit des Kranken getreten. Mit anderen Worten: das normale vorgegebene Ziel ist in sein Gegenteil verkehrt worden. Wir sehen also: Selbst in unserem Beispiel aus dem Berufsleben gilt die These, daß unsere Wahl sich nur auf die Mittel und nicht auf die Ziele erstreckt, nicht mehr, sobald wir von sittlichen Standpunkten und nicht bloß von dem der immanenten beruflichen Vollkommenheit aus prüfen. Noch viel weniger gilt diese These für das Ganze unseres sittlichen Lebens, denn in ihm verdichtet sich die große Aufgabe der menschlichen Freiheit und das große sittliche Drama des Menschenlebens gerade in der Frage, ob der einzelne sich den sittlich bedeutsamen Werten und ihrer Forderung oder dem nur subjektiv Befriedigenden konformiert.

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Dies widerspricht keineswegs der Tatsache, daß in der Seele jedes Menschen eine „vage“ Sehnsucht nach Glück lebt. Niemand wird Unglück als letztes Ziel suchen; er kann es gar nicht. Noch mehr: der Mensch ist objektiv auf Glück hingeordnet; es gehört zum wahren Wesen und Sinn des Menschen, daß er glücklich sei. Seine objektive Bestimmung richtet sich eindeutig auf wahres Glück; das Glück als Gegenstand unserer Sehnsucht aber ist etwas so Vages, daß uns die Feststellung: alle Menschen streben nach ihm, keinerlei Aufschluß darüber gibt, von welcher Art es sei. Vom sittlichen Standpunkt aus ist gerade die entscheidende Frage, ob jemand primär echtes oder egozentrisches Glück sucht. Obwohl es also wahr ist, daß „jeder Mensch seiner Natur nach Glück erstrebt“, ist es irrig, anzunehmen, jeder begehre subjektiv dasselbe Glück. Außerdem kann nur das ichbezogene Glück direkt angestrebt werden. Echtes Glück kann dagegen seinem Wesen nach nicht Ziel unseres Tuns sein; es ist eindeutig eine Gabe, der wir teilhaft werden, wenn wir uns an ein Gut mit echtem Wert hingeben. Letztes echtes Glück kann nur Gegenstand eines allgemeinen Sehnens sein, aber nicht das primäre Motiv für unsere Handlungen und Wünsche. Es setzt gerade voraus, daß wir uns an ein Gut von echtem Wert um seiner selbst willen hingeben. Ferner ist es unmöglich, alle Objekte unseres Willens und unserer affektiven Antworten in einer finalen Verbindung mit dem letzten Ziel des Menschen zu sehen. Wie wir bereits zeigten, hat die Beziehung zwischen den einzelnen werttragenden konkreten Gütern und dem absoluten Gut, Gott, nicht den Charakter der Finalität, sondern einer anders gearteten, viel tieferen Verbindung. Wir sehen also: Trotz der Wahrheit der Erklärung, daß jeder Mensch nach Glück strebt, wäre es irrig, zu meinen, unsere Freiheit bezöge sich nicht auf die Wahl der Ziele, sondern nur auf die der Mittel. Wir müssen weiter feststellen: Das ureigene Wesen der Freiheit prägt sich nicht ausschließlich und nicht einmal primär in der Fähigkeit, frei zu wählen, aus. Denn auch in den Fällen, die keine Vielfalt von Gütern bieten, unter denen mein Wille wählen könnte, bleibt das Vermögen freien Wollens unverändert bestehen. In einer konkreten Situation müssen mich nicht immer zwei oder mehrere verschiedene Güter zwingen, zwischen ihnen zu wählen. Es muß weder eine Alternative zwischen verschiedenen werttragenden Gütern noch zwischen objektiven Gütern für mich, noch

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zwischen mehreren subjektiv befriedigenden Dingen gegeben sein. Tatsächlich braucht noch nicht einmal immer eine Wahl zwischen den einzelnen Bedeutsamkeitskategorien vorliegen. Wenigstens subjektiv fehlt diese Alternative oft, obwohl wir sagen können, objektiv schließe jede Entscheidung das Zurückweisen ungezählter Möglichkeiten ein. Aber das wäre ebenso künstlich, wie zu behaupten, in jedem positiven Urteil seien zahllose negative Urteile einbeschlossen, weil sie alle objektiv potentiell darin enthalten sind. Ich fühle Durst und beschließe, Wasser zu trinken, ohne an die Möglichkeit zu denken, etwas anderes zu trinken oder statt dessen etwas zu essen. Ich sehe jemanden in Lebensgefahr und entschließe mich frei, ihm zu helfen, ohne mir alle anderen Dinge zu vergegenwärtigen, die ich statt dessen getan haben könnte. Aber jemand wird vielleicht einwenden: In all diesen Fällen besteht immer die Alternative zwischen Tun und Unterlassen. Selbst wenn subjektiv keine verschiedenen Güter zur Wahl gegeben sind, bleibt stets noch die zwischen Handeln und Nichthandeln. Dies zeigt, daß selbst hier, wenn auch weniger offenkundig, mindestens zwei Güter imstande sind, meinen Willen zu motivieren: das eine drängt zum Tun, das andere zum Unterlassen. Auch dies letzte muß von einer der drei Bedeutsamkeitsarten motiviert werden. Darauf ist zu antworten: Sogar diese Art der Wahl muß nicht immer vorliegen. Die durchgehende allgemeine Intention des Willens kann so eindeutig auf die Welt der sittlich bedeutsamen Werte gerichtet sein, daß die Person, sobald es um einen sittlich bedeutsamen Wert geht, sich diesem Gut frei konformiert, ohne irgendwie die Möglichkeit, es nicht zu tun, zu erwägen. Sie wählt hier nicht, wie in anderen Fällen, zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Denn in ihrer Seele ist kein Kampf, nicht die leiseste Neigung anders zu handeln, keinerlei Überlegung, diese Tat etwa zu unterlassen. Obwohl objektiv immer mindestens zwei Möglichkeiten bestehen (das Zustimmen und das Nichtzustimmen), vollzieht sich in diesen Fällen doch keine wirkliche Wahl. Dennoch ist das „Ja“ unseres Willens nicht weniger frei als da, wo er wählen muß. Unsere Analyse hat klar gezeigt: Die erste Dimension der Freiheit ist nicht auf die Mittel beschränkt, sondern erstreckt sich gleicherweise auf die Ziele. Wir sahen, daß die sittlich entscheidende Wahl darum geht, ob

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wir uns von dem in sich Bedeutsamen oder von dem nur subjektiv Befriedigenden motivieren lassen. Nun müssen wir den Umfang der zweiten Dimension der Freiheit analysieren. Wir haben zu fragen: Wie weit reicht die freie Einwirkung des Menschen? Welche Dinge können von unserem freien Willen befohlen oder wenigstens beeinflußt werden und welche sind unserem freien Einfluß völlig entzogen?

MORITZ GEIGER PHÄNOMENOLOGISCHE ÄSTHETIK1 Über Methode zu reden – eine Methode zu propagieren ohne zeigen zu können, wie diese Methode zu konkreten Ergebnissen führt, ohne durch ihre Anwendung erweisen zu können, daß sie kein bloßes theoretisches Gespinst ist – das ist auf allen Gebieten der Wissenschaft gleich mißlich. Methoden wollen erprobt sein, Methoden wollen angewandt sein – sie sind leerlaufende Maschinen, wenn ihnen die Anwendung fehlt. Und so wäre es töricht der „Phänomenologischen Methode in der Ästhetik“ eine besondere Betrachtung zu widmen, wenn die phänomenologische Ästhetik ein bloßes Programm, ein bloßer Wechsel auf die Zukunft wäre. Das ist heute keineswegs mehr der Fall. Bei der Durchführung mehr als einer ästhetischen Untersuchung hat die phänomenologische Methode die Feuerprobe bestanden. Ja, so wenig ist sie heute mehr unbekannt, daß derjenige, der zu ihr gelangen will, sich durch einen Berg von Mißverständnissen hindurcharbeiten muß. Bald hält man die phänomenologische Methode für eine Methode, die nichts zu tun hat, als Begriffe zu spalten, die Bedeutung von Worten festzulegen, weshalb sie sich nur im L o g i s c h e n bewege und niemals an die Dinge selbst herankomme – Einwände, wie sie ihr zum Beispiel W u n d t gemacht hat. Dann wieder glaubt man im Gegenteil, sie solle g e n i a l i s c h e r I n t u i t i o n zum Hintergrund dienen, die sich die Begründung ihrer Behauptungen ersparen will – wie ihr zuweilen von neukantischer Seite vorgeworfen wurde. Positivistische Gedankengänge berufen sich ebenso auf sie wie verstiegene Metaphysik. Bei solchem Chaos entgegengesetzter Anschauungen mag es vielleicht doch gar nicht so unratsam sein, den Reigen ideen- und ergebnisreicher Vorträge durch einen zu unterbrechen, der nichts sein will als ein trockener methodischer Versuch, nichts sein will als eine Auseinandersetzung über die phänomenologische Methode in der Ästhetik. Die Diskussion über Prinzipienfragen der Ästhetik wäre um vieles 1

Moritz Geiger „Phänomenologische Ästhetik“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft XIX (1925). (Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin 16. – 18. Oktober 1924. Bericht.) S. 29-42.

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leichter, wenn man sich stets vor Augen halten wollte, daß der Name „Ästhetik“ nicht ein einheitliches Wissenschaftsgebiet umschließt, sondern daß „Ästhetik“ ein Sammelname ist für eine Reihe unter sich völlig heterogener Wissenschaften, die man dennoch alle wegen ihrer Beziehung auf den ästhetischen Gegenstand als Ästhetik zu bezeichnen pflegt. Da jedoch jede dieser Wissenschaften, die sich Ästhetik nennen, eine andersgeartete Beziehung zur phänomenologischen Methode hat, so ist es notwendig, sich zuerst über diese verschiedenen Disziplinen der Ästhetik kurz zu orientieren, um würdigen zu können, wie die phänomenologische Methode in jeder von ihnen wirksam wird. Dreierlei Arten heterogener Disziplinen werden unter dem gemeinsamen Namen „Ästhetik“ begriffen: 1. Ästhetik als a u t o n o m e E i n z e l w i s s e n s c h a f t , 2. Ästhetik als p h i l o s o p h i s c h e D i s z i p l i n und 3. Ästhetik als A n w e n d u n g s g e b i e t a n d e r e r W i s s e n s c h a f t e n . Von diesen drei Ausgestaltungen ästhetischer Wissenschaft hat lange Zeit die Ästhetik als p h i l o s o p h i s c h e D i s z i p l i n die beiden anderen überschattet und in die Ecke gedrängt. Noch für Schelling und Hegel, für Schopenhauer und Ed. von Hartmann war der philosophische Charakter der Ästhetik kein Problem. Erst als die Philosophie, nach dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems, ihre Grenzpfähle zurückstecken mußte, hat sie, seit F e c h n e r , ihre Führerrolle im Gebiet der Ästhetik an die P s y c h o l o g i e abgeben müssen. Aber auch damit war die Ästhetik noch nicht zur autonomen Einzelwissenschaft geworden. Da jedoch gerade sie es ist, die das Hauptanwendungsgebiet der p h ä n o m e n o l o g i s c h e n Methode bildet, so mögen die h i s t o r i s c h bedeutsamen Formen der Ästhetik – psychologische Ästhetik und philosophische Ästhetik – zunächst zurückgestellt und von der Ästhetik als a u t o n o m e r E i n z e l w i s s e n s c h a f t gesprochen werden. Jede Einzelwissenschaft – und demgemäß auch die Ästhetik als Einzelwissenschaft – wird in ihrer Einheit bestimmt durch ein Moment, das ihr Gebiet abgrenzt gegenüber den Gebieten anderer Wissenschaften. So ist für die Naturwissenschaften das Moment der Zugehörigkeit zur äußeren Natur einheitgebend, für die Geschichtswissenschaften das historische Geschehen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, w a s für die Ästhetik als autonome Einzelwissenschaft dasjenige Moment ist, das ihr Gebiet gegenüber anderen Gebieten umreißt: Es ist das Moment des

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ä s t h e t i s c h e n W e r t e s (wobei hier und im folgenden unter „ästhetischem“ Wert stillschweigend auch der „künstlerische“ miteinbegriffen sein soll). Alles, was den Stempel des ästhetischen Wertes tragen kann – alles, was als schön oder häßlich, originell oder trivial, sublim oder gemein, geschmackvoll oder kitschig, großzügig oder kleinlich bewertet werden kann – all das – Gedichte und Musikstücke, Gemälde und Ornamente, Menschen und Landschaften, Bauwerke, Gartenanlagen, Tänze – gehört in das Gebiet der Ästhetik als Einzelwissenschaft. Ästhetischer Wert und Unwert irgendeiner Modifikation aber kommt den Gegenständen nicht zu, insoweit sie r e a l e Gegenstände sind, sondern nur insoweit sie als P h ä n o m e n e g e g e b e n sind. Er haftet an den a n s c h a u l i c h e n Tönen einer Symphonie – den Tönen als Phänomenen – nicht daran, daß sie auf Luftschwingungen beruhen. Nicht als realer Block aus Stein ist die Statue ästhetisch von Bedeutung, sondern als das, was sie dem Beschauer g e g e b e n ist, als die Darstellung eines Menschen. Und ästhetisch ist es völlig gleichgültig, daß die Darstellerin des Gretchen alt und häßlich ist und nur Toilettenkünsten, Schminke und Rampenlicht den Schein frischer Jugend verdankt – auf das Aussehen, nicht auf die Realität kommt es an. Da so der ästhetische Wert oder Unwert nicht in der r e a l e n Beschaffenheit eines Gegenstandes, sondern in der p h ä n o m e n a l e n Beschaffenheit beruht, so ist damit die vornehmste Aufgabe der ästhetischen Einzelwissenschaft vorgezeichnet. Sie muß die ästhetischen Gegenstände zunächst nach ihrer phänomenalen Beschaffenheit untersuchen. Es mag trivial klingen, daß die Ästhetik in dieser Weise die Gegenstände als Phänomene zu analysieren habe. Aber die Betrachtung der Geschichte der Ästhetik – auch wenn man nur die Geschichte der Ästhetik als Einzelwissenschaft heranzieht – zeigt, daß ein solches Ausgehen von den Phänomenen keineswegs selbstverständlich ist. Weite Richtungen in der Ästhetik stellen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen den Gedanken, daß das Ästhetische S c h e i n , daß es Illusion sei. Aber im Augenblick, wo man den Gedanken des Scheins in die Ästhetik einführt, zergliedert man nicht einfach die ästhetischen Phänomene, sondern trägt Realitätsgesichtspunkte hinein. Nach der phänomenalen Seite hin ist der ästhetische Gegenstand nicht Schein. Beim Schein – etwa, wenn man den Mond für tellegroß hält – schreibt man dem Phänomen eine Realität zu, die es nicht

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besitzt. Beim Ästhetischen hingegen wird die Landschaft auf einem Gemälde nicht als Realität aufgefaßt, nicht als ein Wirkliches, das sich nachher als unwirklich herausstellt, sondern als eine d a r g e s t e l l t e Landschaft, als eine Landschaft, die als dargestellt gegeben ist. Sowie man den Illusionsgedanken, den Gedanken des Gegensatzes von gegebener Wirklichkeit und tatsächlicher Unwirklichkeit in die Ästhetik einführt, verläßt man das Gebiet des Phänomenalen. Oder ein anderes Beispiel: Ein großer Teil der psychologischen Ästhetik faßt das Kunstwerk als einen Komplex von Vorstellungen, das Gemälde etwa als eine Zusammenfügung von Farbenempfindungen, Formeindrücken, Assoziationen und Verschmelzungen von Eindrucken. Mit solcher Auffassung hat man die Einstellung auf die Phänomene aufgegeben. Gegeben sind keine Empfindungen, keine Assoziationen und keine Verschmelzungen – gegeben sind vielmehr O b j e k t e : Dargestellte Landschaften, Melodien, Menschen usw. Und wenn man etwa nach der Begründung des Wertes der Darstellung einer Landschaft fragt, so kann man sie in der Stimmung der Landschaft finden, in der Farbengebung, der Massenverteilung – in lauter Momenten also, die in den Phänomenen unmittelbar aufweisbar sind. Rein durch Rückgang auf die das Kunstwerk a l s P h ä n o m e n aufbauenden Momente sind also die Fragen der Ästhetik als Einzelwissenschaft lösbar. Damit ist aber auch – und das sei das dritte Beispiel einer antiphänomenologischen Einstellung – für die Ästhetik als Einzelwissenschaft jene Methode abgewiesen, die alle ästhetischen Fragen vom E r l e b e n her, durch Analyse des Erlebens zu entscheiden sucht: Man wolle etwa wissen, worin das Wesen des T r a g i s c h e n bestehe. Ist es wirklich auf diese Frage eine Antwort, wenn man mit Aristoteles (indem man aus Aristoteles nur das Psychologische herausnimmt und seine gegenständlichen Bestimmungen des Tragischen übersieht) angibt, das Tragische bewirke Furcht und Mitleid und durch sie eine Reinigung der Leidenschaften? Ist nicht eine solche Antwort derjenigen verwandt, die auf die Frage: Was ist das Wesen des Blitzes? antworten wollte: das Wesen des Blitzes bestehe darin, daß er Schrecken und Angst erzeuge, wenn er direkt neben jemandem in den Boden fährt! In beiden Fällen wird statt der Angabe, was eine Sache s e i , zur Antwort gegeben, wie sie p s y c h o l o g i s c h w i r k t . Was das Tragische, etwa bei Shakespeare, konstituiert, sind bestimmte

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Aufbaumomente des dramatischen Geschehens, also etwas im Objekt, nicht die psychische Wirkung. Diese Wirkung liegt außerhalb des Problembereichs der Ästhetik als Einzelwissenschaft. Es wäre natürlich töricht, die Augen gegenüber diesen Problemen der psychischen Wirkung ästhetischer Gegenstände, gegenüber den Problemen des Erlebens zu verschließen, all jene Verfeinerungen der Analyse des ästhetischen Erlebens, wie sie die letzten Jahrzehnte seit und durch Nietzsche gebracht haben, beiseite schieben zu wollen. Hier liegen wesentliche ästhetische Probleme – nur in die Ästhetik als Einzelwissenschaft gehören sie nicht. Sie und viele andere Probleme, wie die der Entstehung des Kunstwerks im Bewußtsein des Künstlers und des Aufnehmenden, der individuelle Unterschied in der Aufnahme des Kunstwerks, gehören vielmehr in die Ästhetik als A n w e n d u n g s g e b i e t d e r P s y c h o l o g i e . Und hier treten in der Tat neben der phänomenologischen Methode all jene empirischen und experimentellen Methoden in ihr Recht, wie sie die psychologische Forschung der letzten Generation ausgebildet hat. Innerhalb der Ästhetik als Einzelwissenschaft hingegen, wo es sich um die Struktur der ästhetischen und künstlerischen Gegenstände und ihre Wertbestimmtheit handelt, kann nur die Analyse der Objekte selbst zum Ziele führen. Die phänomenologische Ästhetik steht hier ganz auf dem Boden jenes O b j e k t i v i s m u s , den Dessoir vor einem Jahrzehnt programmatisch für die Ästhetik hervorgehoben, und dem Utitz eine eingehende Untersuchung gewidmet hat. In diesem Ausgehen vom Objekt begegnet sich die Ästhetik mit den Kunstwissenschaften. Ihnen hat es stets ferngelegen, das Erleben in den Vordergrund zu stellen oder das Objekt in Vorstellungen aufzulösen. Sie haben von jeher in der Zergliederung des phänomenalen Objekts ihre wesentlichste Aufgabe gesehen. Der Kunsthistoriker analysiert den Faltenwurf des Gewandes, den Ausdruck, das Antlitz einer Madonna, der Musikhistoriker den Aufbau eines symphonischen Werks usf. Allein nur der Ausgangspunkt vom Phänomen ist dem Historiker der Kunst und dem Ästhetiker gemeinsam. Nicht das einzelne Kunstwerk, nicht das Boticellische Gemälde, die Bürgersche Ballade, die Brucknersche Symphonie ist für den Ästhetiker von Interesse, sondern das Wesen der Ballade überhaupt, der Symphonie überhaupt, das Wesen der verschiedenen Arten der Zeichnung, das Wesen des Tanzes usw. Für

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a l l g e m e i n e S t r u k t u r e n interessiert er sich, nicht für einzelne Gegenstände. Und daneben für die a l l g e m e i n e n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n der ästhetischen Werte, für die prinzipielle Art, wie sie in ästhetischen Gegenständen ihr Fundament finden. Wie aber kann die Ästhetik aus der Zergliederung der Gegenstände heraus zu solchen allgemeinen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten vordringen? Jene Methode, die von oben her, aus einem einzigen obersten Prinzip, zu Ergebnissen zu gelangen suchte, etwa aus dem Prinzip: Kunst ist Nachahmung, oder: ästhetisch wertvoll ist Einheit in der Mannigfaltigkeit – diese Methode ist heute längst aufgegeben und braucht nicht mehr diskutiert zu werden. So liegt es nahe, den umgekehrten Weg zu versuchen, statt von oben, von unten her an das Problem heranzukommen, i n d u k t i v vorzugehen. Man sucht etwa, um das allgemeine Wesen des Tragischen festzustellen; das Tragische bei Sophokles, bei Racine, bei Shakespeare, bei Schiller usw. auf, und dasjenige, was sich überall und bei allen findet, das eben ist das Wesen des Tragischen. Allein dieser induktive Weg – so oft man ihn auch propagiert hat – ist ein Fehlschlag: Denn um das Tragische auch nur bei einem einzigen Dichter aufzeigen zu können, muß man schon implizite mit dem Wesen des Tragischen vertraut sein. Weshalb suchte man es sonst im Hamlet und Macbeth und nicht im Sommernachtstraum? Daß im einen Drama die Menschen am Leben bleiben und im anderen sterben, kann doch nicht hinlänglicher Grund dafür sein; man wird doch nicht etwa wegen ihres gewaltsamen Todes Polonius oder gar Rosenkranz und Güldenstern neben Hamlet als tragische Figuren gelten lassen. Also muß es möglich sein, schon im e i n z e l n e n Kunstwerk, nicht erst in der Abfolge der Dramen das Wesen des Tragischen zu finden. Es muß neben der Einzelanalyse des tragischen Kunstwerks, wie sie der Literarhistoriker vornimmt, auch noch die Möglichkeit bestehen, am Einzelkunstwerk das A l l g e m e i n e , das allgemeine Wesen des Tragischen zu entdecken. Das ist in der Tat der Fall. Es werde eine andere Wissenschaft zum Vergleich herangezogen: Der Mathematiker zeichnet zwei sich schneidende gerade Linien; dann mag er sich für diesen einzelnen Fall von Geradenpaaren interessieren, er mag etwa feststellen, in welchem Winkel sich diese beiden geraden Linien schneiden – gerade so wie der Literarhistoriker das einzelne Kunstwerk in seiner individuellen Beschaffenheit analysiert. Er kann aber auch an

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diesem einzelnen Beispiel sich den a l l g e m e i n e n Satz klar machen, daß zwei gerade Linien sich stets nur in einem Punkte schneiden können, er kann an diesem einzelnen Beispiel das Wesen der Beziehung von Punkt und Gerade im euklidischen Raum e r s c h a u e n . In ähnlicher Weise läßt sich auch an jedem einzelnen tragischen Kunstwerk das allgemeine Wesen des Tragischen erschauen: Das einzelne Kunstwerk wird gleichsam transparent. Man sieht durch es hindurch – es wird zum bloßen Symbol des Wesens des Tragischen, das man darin erfaßt. Das ist eine weitere Eigenart der phänomenologischen Methode: Daß sie weder aus einem obersten Prinzip heraus ihre Gesetzmäßigkeiten gewinnt, noch auch durch die induktive Häufung einzelner Beispiele, sondern dadurch, daß sie am e i n z e l n e n B e i s p i e l d a s a l l g e m e i n e Wesen, die allgemeine Gesetzmäßigkeit erschaut. Ein erstes Merkmal phänomenologischer Methode war, daß sie bei den Phänomenen stehen bleibt, daß es ihr um die Untersuchung der Phänomene zu tun ist. Ein zweites Merkmal bestand darin, daß sie diese Phänomene nicht in ihrer zufälligen und individuellen Bedingtheit, sondern in ihren Wesensmomenten zu erfassen strebt. Das dritte: daß dieses Wesen weder durch Deduktion noch durch Induktion, sondern durch I n t u i t i o n erfaßt werden soll. Allein – so hat man oft eingewendet – macht man es sich denn nicht gar zu leicht, wenn man die Forderung der intuitiven Wesenserfassung aufstellt? Solche Intuition scheint die bequemste Sache von der Welt zu sein. Kein langes Studium, keine großen Kenntnisse scheinen dazu erforderlich. Man sieht sich ein Kunstwerk an und erschaut darin das Wesen des Tragischen – man nimmt sich eine Zeichnung vor und erschaut daran das Wesen der Zeichnung. An Stelle der Forschung Intuition, an Stelle der Kenntnisse Intuition, an Stelle der Beweise Intuition. Solche Vorwürfe gehen nach zwei Richtungen an den Schwierigkeiten der Intuition vorbei: Man muß das O b j e k t in die richtige Verfassung gebracht haben, damit man an ihm ein allgemeines Wesen intuieren kann, und muß zuvor noch das untersuchende S u b j e k t in die richtige Verfassung gebracht haben, damit es überhaupt die richtige Intuition a u s ü b e n kann. Wenn man das Objekt – ein Kunstwerk – als Ganzes anschaut, so wird man nie imstande sein, darin irgendein Wesen zu erfassen. Man muß es

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a n a l y s i e r e n , damit solche Wesenserfassung gelingt. Das ist ein weiteres Moment der phänomenologischen Methode, daß sie nicht schlechthin Erschauung komplexer Gegenstände, sondern daß sie zugleich A n a l y s e bedeutet. So einfach, wie in jenem primitiven mathematischen Beispiel, bei dem man nur die Figur anzuschauen brauchte, damit der allgemeine Satz, daß zwei gerade Linien sich nur in einem Punkt schneiden, heraussprang, so einfach ist die Erfassung des Wesens ästhetischer Phänomene nicht. Man wird zum Beispiel nur in langsamer, mühseliger Arbeit herausanalysieren können, welches denn nun im Kunstwerk die Momente sind, die das Tragische aufbauen. Man wird das dramatische Geschehen gedanklich variieren müssen, um die Wesensmomente des Tragischen aufzufinden. Und man wird das Tragische in anderen Zeiten und bei anderen Völkern und in anderen Künsten, im historischen Geschehen und vielleicht auch in der Natur heranziehen müssen, um die Wesensmomente des Tragischen reinerfassen zu können. Sonst mag es geschehen, daß man etwa die besondere Ausprägung der Schillerschen Tragik für das Wesen des Tragischen ü b e r h a u p t ansieht. Wer wirklich nur das einzelne Kunstwerk oder die Werke des einzelnen Künstlers analysiert und andere Künstler und andere Zeiten vernachlässigt, gerät in die Gefahr, Zufälliges und Zeitbedingtes für ein Wesenhaftes und Allgemeingültiges zu halten. Und noch einer weiteren Gefahr droht man durch die Nichtbeachtung der Entwicklung zu erliegen: Der Gefahr, die aus der V i e l d e u t i g k e i t und dem W a n d e l des sprachlichen Ausdrucks kommt. Vielleicht haben andere Zeiten Anderes als tragisch bezeichnet, als wir heute tun. Hier muß festgestellt werden, ob sich hinter dem einheitlichen Namen des Tragischen nicht ganz Verschiedenartiges verbirgt, ob in der Antike und heute das Tragische wirklich dasselbe bedeutet, oder ob es sich um verschiedene Phänomene handelt, für die natürlich dann auch die Wesensanalyse verschieden ausfallen müßte. Das alles erfordert mehr als ein bloßes den Kopf-in-die-Hand-stützen und Anschauen – es erfordert umfassende Kenntnisse und umfangreiche Vorarbeiten. Allein diese Bedeutung der Hereinnahme historischer Fakten in die phänomenologische Methode ist rein negativer Natur: es sollen durch die Breite der historischen Basis Fehler im Erfassen des Wesens des Tragischen vermieden werden. Prinzipiell jedoch ist die Erschauung des Wesens des Tragischen am einzelnen Kunstwerk vollkommen sicher und

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eindeutig zu vollziehen, ohne Rücksichtnahme auf die historische Entwicklung. Hat jedoch das Historische wirklich einzig diese methodisch-negative Bedeutung innerhalb der phänomenologischen Methode? Richtet sich die phänomenologische Methode wirklich nur auf das immer gleichbleibende außerzeitliche Wesen? Mit dieser Frage sind wir auf ein vielumstrittenes Problem gestoßen; auf die Frage nach dem V e r h ä l t n i s v o n p h ä n o m e n o l o g i s c h e r M e t h o d e u n d G e s c h i c h t e . Von den bisher gewonnenen Gesichtspunkten aus kann das Verhältnis von Geschichte des Tragischen und dem Wesen des Tragischen nur im folgenden bestellen: Wie sich das immer gleiche Wesen des Dreiecks in einzelnen Dreiecken von ganz verschiedenen Seitenlangen konkretisiert, so konkretisiert sich das immer gleiche Wesen des Tragischen (oder die immer gleichen Wesen der verschiedenen Modifikationen des Tragischen) in den verschiedensten Formen bei Sophokles, bei Shakespeare, bei Racine, bei Schiller usw. Es ist die p l a t o n i s c h e I d e e , die dieser Konzeption des Wesens Pate gestanden hat, und bei Plato wie bei der Phänomenologie war das Vorbild der Mathematik mit ihren ahistorischen Begriffen ausschlaggebend für die Formung des Wesensbegriffs. Aber von dieser Auffassung des Wesens her gelangt man nicht zu einem Verständnis einer wirklichen historischen Entwicklung. Die Entwicklung des Tragischen bei Shakespeare, etwa von den Äußerlichkeiten der frühen Tragödien über Romeo und Julia zu König Lear, ist mehr als ein bloßer Sprung von einer Auffassung des Tragischen zu einer anderen, und mehr als bloße wechselnde Konkretisierung des immer gleichen Wesens des Tragischen, obwohl beides gewiß eine Rolle spielt. Allein wirkliche Entwicklung ist etwas anderes – etwas, dem man nicht mit einem s t a t i s c h e n Wesensbegriff nahe kommen kann, der in der Mathematik seinen Ursprung hat, sondern nur mit einem d y n a m i s c h e n . Ein biologisches Beispiel möge das verdeutlichen: Das Wickelkind, der Jüngling, der reife Mann, der Greis lassen sich alle gewiß als Ausgestaltungen des stets gleichen Wesens des Menschen auffassen, da sie ja alle Menschen sind; aber ist damit wirklich das Entscheidende gesagt? Muß hier nicht ein Wesensbegriff verwandt werden, der das Wesen des Menschen selbst als ein sich Entfaltendes, als ein sich Entwickelndes faßt?

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Entsprechend kann man der Entwicklung des Tragischen nicht gerecht werden, wenn man nur das immergleiche Wesen des Tragischen herausschält – das Tragische selbst muß als der Veränderung, der inneren Umgestaltung, der Entwicklung fähig angesehen werden. Erst wenn man das Wesen des Tragischen in dieser Weise flüssig gemacht hat, kann man die Entwicklung des Tragischen verstehen – erst dann wird der Wesensbegriff zum Hilfsmittel der historischen Betrachtung. Die platonische Idee, die starr platonische Auffassung des Wesens ist grundlegend für die ästhetische Prinzipienwissenschaft. Sollen jedoch die Ergebnisse der Ästhetik fruchtbar gemacht werden für die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung, so bedarf es einer Erweichung der platonischen Idee durch einen Zusatz Hegelschen Geistes. Aber all diese Scheidungen, Analysen und Erschauungen wird nur ein S u b j e k t vornehmen können, das genügend geschult ist. Es mag sein, daß diese Intuitionen, die nötig sind, um das Wesen zu erforschen, gar nicht mehr allzuschwer sind, wenn das Subjekt überhaupt erst einmal imstande ist, sie vorzunehmen. Aber hierzu ist ein langer Weg der Schulung in Wesensanalysen nötig – eine Erziehung, die anders ist als bei anderen Methoden, aber nicht weniger schwierig. Es gilt, wirklich die Momente, auf die es ankommt, heraussehen zu lernen, sich nicht durch Nebengesichtspunkte und durch Vorurteile ableiten zu lassen, sich wirklich an die Phänomene und nur an die Phänomene zu halten. Solche Schulung jedoch ist nicht zu gewinnen durch das Anhören ästhetischer oder psychologischer Vorlesungen, nicht durch Aneignung fremder Meinungen oder historischer Kenntnisse, sondern einzig durch S e l b s t t ä t i g k e i t , durch selbsttätige Analysen. Und insofern ist der Vorwurf, daß die phänomenologische Methode es sich allzuleicht mache, sicherlich nicht berechtigt. Freilich hängt mit dieser Notwendigkeit von Schulung und Begabung, um die Ergebnisse der phänomenologischen Methode einsehen zu können, ein übelstand der Methode zusammen, der sich nicht beseitigen läßt: Es gibt k e i n e o b j e k t i v e n K r i t e r i e n für die Richtigkeit der gefundenen Ergebnisse. Das besagt nicht, daß die Ergebnisse der Methode bloß subjektiver Natur seien – nur soviel, daß man keine objektiven Mittel hat, um sie dem Widerstrebenden aufzuzwingen. Wem der Blick verschleiert ist, wer nicht die nötige Schulung und Begabung besitzt, der wird nicht

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imstande sein, die Richtigkeit der gewonnenen Ergebnisse einzusehen. Man wird ihm nicht beweisen können, daß die Analysen richtig sind. Man wird einzig versuchen können, ihm die Augen zu öffnen; man wird ihn allmählich zu den Ergebnissen hinführen, ihn die richtige subjektive Einstellung gewinnen lassen; aber man kann die Ergebnisse nicht wie Pflanzen oder Steine oder wie physikalische Experimente jedermann vordemonstrieren. Wir sind durch den sozusagen demokratischen Charakter der Naturwissenschaft verwöhnt – wir glauben, sie müsse jedem zugänglich sein, der nur das nötige Sitzfleisch aufbringt und jene logische Begabung besitzt, die wir wenigstens prinzipiell als allgemeingültig voraussetzen. Solche Zugänglichkeit trifft schon für die Historie im echten Sinn nicht zu: Die geistige Aufnahme des Materials ist jedem erreichbar, aber einen komplizierteren menschlichen Typus wie den eines Wallenstein, eines Richelieu, eines Friedrich des Großen zu verstehen, ist den wenigsten gegeben. Wer nur in den gewöhnlichen oberflächlichen psychologischen Kategorien zu denken gewohnt ist, wird ihnen nicht nahe kommen – selbst dort, wo ein großer Historiker vorgedacht hat. In noch höherem Maße fast als die verstehenden Geisteswissenschaften sind die Wissenschaften, die sich auf die phänomenologische Methode stützen, aristokratischer Natur. Selbst die Wesensmomente, die andere bereits erschaut haben, wird derjenige nicht erschauen können, dem die Begabung hierzu fehlt. Dieser aristokratische Charakter der phänomenologischen Methode bedeutet eine Schwierigkeit für ihre Benutzung, aber keinen Einwand gegen ihre Richtigkeit. Ist sie die richtige, die dem Tatbestand angemessene Methode, so muß man alle Übelstände, die sich aus ihr ergeben, mit in den Kauf nehmen – man kann jedoch keinesfalls eine unangemessene Methode befolgen, nur weil ihre Ergebnisse, w e n n sie richtig wären, leichter demjenigen beweisbar wären, der sie nicht zugeben will. Daß in der Tat die phänomenologische Methode zum Ziele führt, das geht daraus hervor, daß letztlich alle Ergebnisse, die im Laufe der Geschichte an bleibenden kunstwissenschaftlichen und ästhetischen Einsichten gewonnen wurden, auf dem Wege phänomenologischer Versenkung in das Wesen der Tatsachen gefunden wurden, mögen auch die Entdecker dieser Einsichten sich dessen nicht bewußt gewesen sein und ganz andere, meist zeitbedingte Begründungen für ihre Ergebnisse

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herangeholt haben. Was an L e s s i n g s Trennung von Dichtkunst und bildender Kunst haltbar ist, das hat er durch die unbewußte Anwendung der phänomenologischen Methode gefunden. Dort, wo er sie, Analogien zwischen den beiden Kunstarten zuliebe, verläßt, dort beginnen seine Irrtümer, so wenn er etwa die Farben als Zeichen für die Gegenstände ansieht. So sind S c h i l l e r s Untersuchungen über Anmut und Wurde, über das Erhabene, über das Naive und Sentimentalische glänzende Beispiele phänomenologischer Analysen, soweit nicht Kantische Konstruktionen ihm das Konzept verderben. So sind, um nur noch ein Beispiel anzuführen, die besten Ergebnisse von F i e d l e r s und H i l d e b r a n d s Kunsttheorien trotz ihrer scheinbar ganz andersartigen Begründungen phänomenologische Einsichten. All solche Erkenntnisse sind weder durch Methode von oben gewonnen noch durch Methode von unten, sondern durch W e s e n s intuition. Gerade jedoch, daß solche Einsichten phänomenologisch gewonnen werden konnten, mitten in Zeiten, die prinzipiell anderen Methoden zugetan waren, zeigt, daß die phänomenologische Methode doch nicht so völlig abseits von den anderen Methoden ihren Weg sucht. Sie steht vielmehr in Wahrheit mitten inne zwischen der Ästhetik von unten und der Ästhetik von oben. Mit der Ästhetik von unten verbindet sie das Wertlegen auf die eingehendste Beobachtung, der Wille zur unkonstruktiven Beschreibung des Tatsächlichen. Aber dies Tatsächliche ist ihr nicht der Inhalt der zufälligen Einzelbeobachtung, sondern das Wesen, das im Einzelnen sich findet und realisiert. Und damit nähert sich die phänomenologische Ästhetik auch wiederum der Ästhetik von oben. Denn, wie hat die Ästhetik von oben ihre obersten Prinzipien gewonnen – etwa das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit? Nur scheinbar aus metaphysischen Überlegungen. In Wahrheit, indem sie an einer Reihe von Beispielen einsah, daß ästhetische Geltung auf einem solchen Prinzip beruhe. Ihr Fehler lag nur darin, daß sie das am einzelnen Beispiel Erschaute sofort verallgemeinerte, die Orientierung an der Einsicht in das Wesen der Tatsachen wieder aufgab und das einmal gewonnene Prinzip an den Anfang der Ästhetik stellte. So machte die Methode von oben, wenn sie das Prinzip „Kunst ist Abbildung“ zum Grundprinzip wählte, eine Einsicht, die wenigstens e i n e Seite von Malerei und Plastik erfaßte, nicht nur zum a l l e i n i g e n Prinzip von Malerei und Plastik, sondern übertrug es

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unbesehen auf alle Künste, auf Dichtkunst so gut wie auf Architektur und Ornamentik und Musik und führte es damit ad absurdum. Der Systemtrieb, der Wunsch, möglichst rasch zu einem geschlossenen System der Ästhetik zu kommen, hat ihr die Augen verschlossen gegenüber der Mannigfaltigkeit der Wertmomente und ästhetischen Gestaltungen. Auch die phänomenologische Ästhetik möchte keineswegs auf das S y s t e m verzichten, aber es kann bei ihr nicht am Anfang stehen. Zuerst muß sie das Einzelne untersuchen. In jeder Kunst und in jedem Naturgebiet müssen die Wertmomente und ihre wesentlichen Gestaltungen gesondert aufgesucht werden – dann wird sich sicherlich zeigen, daß sie nicht ein regelloses Durcheinander bilden, sondern daß eine kleine Zahl von ästhetischen Prinzipien sich immer wiederholt, die je nach Art und Struktur des Kunst- oder Naturgebildes in völlig verschiedener Weise Gestalt gewinnen. Das ist das Letzte, was die Ästhetik, als autonome Einzelwissenschaft, erreichen kann: Daß sie das ganze ästhetische Gebiet mit Hilfe einer kleinen Zahl von Wertprinzipien überspannt. Weiter kann die Ästhetik als Einzelwissenschaft nicht gehen – die Frage nach Bedeutung und Herkunft dieser Prinzipien überlaßt sie der Ästhetik als p h i l o s o p h i s c h e r Disziplin. Diese Ästhetik als p h i l o s o p h i s c h e D i s z i p l i n verhält sich zur Ästhetik als Einzelwissenschaft etwa wie die Naturp h i l o s o p h i e zur Naturw i s s e n s c h a f t . Die Naturwissenschaft setzt die Existenz der äußeren Natur voraus und erforscht deren Gesetze. So setzt die Ästhetik als Einzelwissenschaft die Tatsache des ästhetischen Wertes voraus und sucht deren Prinzipien zu erforschen. Die Naturphilosophie ihrerseits untersucht die E x i s t e n z dieser äußeren Natur, sie faßt sie realistisch oder idealistisch auf, als Erscheinung eines Dings an sich oder als Konstruktion aus den Wahrnehmungen, und die G e s e t z e dieser Natur sieht sie als Zusammenfassungen von Tatsachen an oder als Ausgestaltungen äußerer Gesetzmäßigkeiten – lauter Auffassungen, die für die Naturwissenschaft gänzlich irrelevant sind. Ähnlich stellt sich die philosophische Ästhetik zu den Grundlagen der einzelwissenschaftlichen Ästhetik, zum ästhetischen Wert und den ästhetischen Wertprinzipien. Sie macht sich Gedanken über den ästhetischen Wert – sie setzt ihn nicht voraus. Sie sieht ihn mit Platon an als eine Abspiegelung eines Überirdischen im Irdischen, mit Schelling

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als eine Darstellung des Unendlichen im Endlichen, oder sie vergleicht mit Kant den ästhetischen Wert mit anderen Wertkategorien, dem Guten und Angenehmen, und stellt seinen philosophischen Ort fest. Ich glaube nicht, daß bei der Beantwortung dieser philosophischästhetischen Aufgaben die phänomenologische Methode das letzte Wort zu sprechen hat, aber für bestimmte unumgängliche Vorfragen ist sie die notwendige Hilfe. Es sind ganz bestimmte philosophisch-ästhetische Problemgruppen, für die die phänomenologische Methode von Bedeutung ist: Die ästhetische Welt – ästhetische Gegenstände und ästhetische Werte – sind als Phänomene gegeben und werden in der einzelwissenschaftlichen Ästhetik nur als solche betrachtet. Aber man kann darauf reflektieren, daß sie a l s Phänomene eben Phänomene f ü r e i n Ich sind; daß es ein Ich ist, das auf der Leinwand die Landschaft sich gegenüberstellt, daß es ein Ich ist, das das Tragische aus sich heraussetzt, dem dramatischen Geschehen einlegt. Und da nun kann man auf die A k t e reflektieren, in denen solcher Aufbau der Phänomenwelt durch das Ich geschieht. Ziehen wir etwa das Verhältnis von Wort und Bedeutung als Beispiel heran. Blicken wir a u f d a s P h ä n o m e n hin, so müssen wir sagen: Das Wort h a t seine Bedeutung. Aber es läßt sich auch auf das Phänomen in sein er Abhängigkeit vom Ich reflektieren, darauf, daß ein Ich es ist, das dem Wort seine Bedeutung v e r l e i h t und erst dies Ineinander s c h a f f t , das man das Verhältnis von Wort und Bedeutung nennt. Man kann sich nun auch für die Akte interessieren, in denen durch das Ich dies Verhältnis geschaffen wird – im angeführten Beispiel also für die bedeutungverleihenden Akte – und sie nun weiter analysieren. Und auch bei solcher Untersuchung derjenigen Akte und Funktionen, in denen das Ich die ästhetische Welt aufbaut, handelt es sich nicht um zufällige individuelle Tatsachen, in unserem Beispiel nicht darum, daß zufällig der Mensch dieses Wort mit dieser Bedeutung verbindet. Sondern die w e s e n s m ä ß i g n o t w e n d i g e n Akte stehen in Frage, durch die das Wort überhaupt zu Bedeutungen g e l a n g t . Derartige K o n s t i t u t i o n s p r o b l e m e sind es, die nicht durch phänomenologische Wesensuntersuchungen entschieden werden können, und die in das Gebiet der Ästhetik als philosophischer Disziplin gehören. Allein das erste und wesentliche Problemgebiet der phänomenologischen Methode innerhalb der Ästhetik liegt in der Behandlung der

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Ästhetik als Einzelwissenschaft. Ja, in dieser einzelwissenschaftlichen Ästhetik liegt vielleicht das vornehmste Anwendungsgebiet der phänomenologischen Methode überhaupt. Sowie Realitätsfragen ins Spiel kommen, wie etwa in den Naturwissenschaften, oder Fragen schlußmäßig beweisbarer Abhängigkeiten, wie in der Mathematik, treten andere Methoden in den Vordergrund. Die ästhetische Wissenschaft ist eine von den wenigen Disziplinen, die nicht die reale Wirklichkeit ihrer Gegenstände erforschen will, sondern für die die phänomenale Beschaffenheit entscheidend ist. Wenn irgendwo, so wird gerade hier die phänomenologische Methode zu zeigen haben, was sie zu leisten vermag. Nicht, was diese Methode in der Ästhetik geleistet hat, sondern wie ihre Intentionen sind, und was sie glaubt leisten zu k ö n n e n – das in Kürze zur Diskussion zu stellen, war die Absicht dieses Vertrags. Ich bin mir, indem ich immer nur von Methode und niemals von Ergebnissen sprach, vorgekommen wie der Ausrufer vor den Jahrmarktbuden, der den Vorübergehenden anpreist, was sie alles in seiner Bude zu sehen bekommen würden, wenn sie sich nur entschließen könnten einzutreten. Man kann glauben, daß man das wirklich alles zu sehen bekommt, wenn man eintritt, man kann achselzuckend vorbeigehen – nur dem, der eintritt, kann sich zeigen, ob der Ausrufer zu viel des Merkwürdigen versprochen hat. So auch liegt die letzte Bewährung all dessen, was ich als wesentlich für die phänomenologische Methode aufgewiesen habe, nicht in methodischen Versprechungen, sondern in ihrer Durchführung an den einzelnen Problemen, die hier vorzunehmen nicht meine Aufgabe sein kann.

TEIL IV BESONDERHEITEN DER PHÄNOMENOLOGISCHEN METHODE

ROMAN INGARDEN DIE FRAGE ÜBERHAUPT UND IHRE EIGENSCHAFTEN1 § 1 Einleitung Mißverständnisse, die zwischen dem Leser und dem Verfasser entstehen, können einen zweifachen Grund haben: einerseits den, daß der Leser nicht fähig ist, dem Gedanken des Verfassers zu folgen, andererseits (was mit dem ersten zusammengehen kann) den, daß er dies aus dem Grunde nicht zu tun vermag, weil ihn der Verfasser unklar und mehrdeutig von dem Inhalte der Fragen unterrichtet, die den Ursprung und das Thema der Abhandlung bilden. Eine klare und eindeutige Fassung der Fragen, die man zu beantworten sucht, ist indessen viel wichtiger für den Gang der Untersuchung selbst, als für das Verständnis des schon fertigen Werkes. So wie die Urteile, so können auch die Fragen richtig und unrichtig, eindeutig und vieldeutig, klar und unklar sein. Wie die Frage aber, so die Antwort. Außerdem setzen die Fragen, obwohl sie nur „Fragen“ sind, durch ihren Inhalt oft sehr viel von den Gegenständen voraus, die sie betreffen. Jede Frage entsteht nicht bloß auf dem Grunde eines, wenn auch noch so primitiven, Kennens des betreffenden Gegenstandes und aus dem Bewußtsein der Unkenntnis irgendwelcher seiner Elemente, sondern sie enthält außerdem in ihrem Inhalt selbst (implizite oder explicit) eine Reihe von Kenntnissen von den Gegenständen, auf deren Hintergrunde sich das Problem abspielt, das den Gegenstand der Frage bildet. Die Frage selbst kann sonach eine falsche Auffassung des betreffenden Gegenstandes enthalten und dadurch zu ganz 1

Dieser Text ist ein Teilabdruck von Roman Ingarden, „Essentiale Fragen“, Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, VII, Hrsg. E. Husserl (Halle a. S., 1924), S. 125-304; wiederabgedruckt in: Roman Ingarden, Über das Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein, Band 18 (hrsg. von Peter McCormick), (Heidelberg: Winter Verlag, 2007). Es handelt sich um den vollständigen Abdruck von Kapitel 1 von „Essentiale Fragen“.

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falschen Antworten führen, sie kann verschiedenartige fiktive Schwierigkeiten aus sich entstehen lassen, die nur durch Korrektur der Frage selbst zu beseitigen sind, sie kann eine ganze Untersuchung auf völlig falsche Wege lenken und auf diese Weise lange Zeit hindurch die Entwicklung der Wissenschaft hemmen. Wir möchten diese Behauptung etwas genauer entwickeln. Hierzu brauchen wir aber manche Kenntnisse von den Grundeigenschaften der Frage als solcher. § 2 Die Frage und ihr Gegenstand Das Wort „Frage“ kann zweierlei bedeuten: 1. das Fragen im Sinne eines spezifischen Bewußtseinsaktes; 2. den Fragesatz, in dem das Fragen seinen Ausdruck und seinen Abschluß findet. Dabei wird in dem Fragesatz sowohl der intentionale Inhalt des Frageaktes, d.h. das, wonach wir fragen, wie das Faktum des Fragens selbst ausgedrückt. (Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, II. Bd., 6. Unters. § 68 bis 70.) In der folgenden Untersuchung beschränken wir uns ausschließlich auf die Analyse des Fragesatzes und seines intentionalen Gegenstandes. Die Fragesätze unterscheiden sich von den Urteilssätzen vor allem dadurch, daß in ihnen die verschiedenen Fragewörtchen, wie „ob“, „wann“, „was“, „wie“ usw. auftreten und eine besondere, den Satz eben zu einem Fragesatz stempelnde Rolle spielen. Es läßt sich nicht leugnen, daß solche Wörtchen auch in manchen Urteilen auftreten; sie haben aber dann eine völlig andere Bedeutung, oder sie sind dann jedenfalls ihrer Fragefunktion beraubt. Die Behauptungsform des Urteils schließt die Form der Frage aus. Andererseits kann es auch geschehen, daß wir bei der Stellung der Frage das entsprechende Fragewörtchen weglassen. Es ist aber klar, daß in diesen Fällen die Frage nur hinsichtlich ihrer wörtlichen Fassung verunstaltet und unvollkommen ist. Die fehlenden Worte sind da durch eine entsprechende Intonation der Aussprache vertreten. Die Unterschiede zwischen einer Frage und einem Urteil liegen aber in einer viel tieferen Schicht als in der Schicht der Worte. Frage und Urteil unterscheiden sich vor allem durch den Gegenstand, auf den sie sich beziehen. Um dies klarzumachen, muß man zuerst die verschiedenen

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Bedeutungen des Ausdrucks „der Gegenstand des Urteils“ voneinander trennen. 1. An erster Stelle muß da derjenige „Gegenstand des Urteils“ genannt werden, den jedes Urteil, wahres oder falsches, besitzt, nämlich der bloß intentionale Sachverhalt, der durch den Inhalt des Urteils vermeint wird. Er zeichnet sich dadurch aus, daß er hinsichtlich seiner Materie solche und nur solche Momente, bzw. Elemente besitzt, die ihm der Inhalt des Urteils zuweist; hinsichtlich der Form dagegen trägt er den Charakter eben dieses Existenzmodus an sich, der im Urteilsakte, bzw. in den entsprechenden Momenten des Inhalts und der Form des Urteils vermeint ist; zugleich existiert er aber dann und nur dann, wenn das entsprechende Urteil existiert. Er ist nur das intentionale Korrelat des Inhaltes und der Form des Urteils und kann als solches keinen Anspruch auf Seinsautonomie machen. Dabei kann er Momente enthalten, die sich gegenseitig ausschließen, sofern das entsprechende Urteil kontradiktorische Bedeutungselemente in seinem Inhalt enthält.2 Zur Bezeichnung dieses bloß intentionalen Urteilsgegenstandes benutzen wir den alten scholastischen Terminus: objectum formale des Urteils. 2. Von diesem bloß intentionalen Sachverhalte muß man den objektiven Sachverhalt unterscheiden, der unabhängig von dem Erkenntnissubjekte und dem Urteilssatze existiert. Er wird zum Gegenstande des Urteils, wenn zwischen ihm und dem objectum formale eines bestimmten Urteils die merkwürdige Beziehung der Identifizierung besteht; sie muß hinsichtlich aller Momente des intentionalen Urteilsgegenstandes – außer seinem bloß intentionalen Seinscharakter und der davon abhängigen Momente – bestehen, braucht aber nicht notwendig zu bestehen hinsichtlich aller Momente des objektiven Sachverhalts. Der letztere kann im Prinzip ein oder ein ganzes System von Momenten besitzen, dem kein Moment des formalen Urteilsobjekts entspricht. Diese Momente des objektiven Sachverhalts dürfen aber den übrigen Momenten, welche sich mit den Momenten des formalen Urteilsobjekts identifizieren lassen, nicht 2

Ob einem mehrdeutigen Urteil mehrere intentionale Sachverhalte entsprechen, oder nur einer, der sich durch eine merkwürdige Vielfachheit mancher, den mehrdeutigen Terminis des Urteils entsprechenden Elemente auszeichnet, sei hier dahingestellt. Wir glauben aber, daß man auch bei einem solchen Urteil notwendig die Existenz seines Gegenstandes in dem hier bestimmten Sinne anerkennen muß.

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widersprechen. Wir nennen diesen selbständig existierenden, zum Gegenstand eines Urteils gewordenen Sachverhalt das objectum materiale des Urteils. Jedes Urteil macht den Anspruch, sein objectum materiale zu haben (darin liegt das, was A. Pfänder in seiner Logik den „Anspruch auf Wahrheit“ nennt); sein Inhalt aber prätendiert durch die Bestimmung des formalen Urteilsobjektes, das objectum materiale aus der Gesamtheit der Sachverhalte einer Seinsregion zu wählen. Nicht jedes Urteil aber besitzt das objectum materiale. So hat kein objectum materiale jedes Urteil, dessen Inhalt mehrdeutig oder widerspruchsvoll ist. Ein Urteil nennen wir „wahr“, wenn alle Momente seines formalen Gegenstandes (außer seinem bloß intentionalen Seinscharakter und den daraus folgenden Eigenschaften) sich mit wenigstens einigen Momenten eines objektiven Sachverhaltes identifizieren lassen; ein Urteil nennen wir dagegen „falsch“, wenn diese Identifikation nicht besteht. Wenn man nur das objectum materiale für den Gegenstand des Urteils halten wollte, wären alle falschen Urteile gegenstandslos. (Wir verhehlen uns nicht, daß bei der hier angedeuteten Gegenüberstellung des formalen und materialen Gegenstandes des Urteils, sowie bei unserer Bestimmung der Wahrheit eines Urteils noch viele Probleme zu berücksichtigen und bedeutende Schwierigkeiten zu beseitigen sind. Zu den letzteren gehört z.B. das Problem, ob die negativen Sachverhalte existieren, wie das z.B. A. Reinach [vgl. über das sogenannte negative Urteil A. Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, Münchener Philos. Abhandlungen, S. 196 ff.] behauptet. Wenn dieses Problem eine verneinende Lösung finden sollte, dann würde unsere Bestimmung der Wahrheit eines Urteils nur in bezug auf die positiven Urteile gelten. Man müßte dann eine andere Bestimmung der Wahrheit des Urteils überhaupt suchen. Dieses, wie die anderen naheliegenden Probleme lassen sich aber nur in einer allgemeinen Urteilstheorie lösen. Außerdem spielen sie in unseren weiteren Betrachtungen keine Rolle.) 3. Endlich kann der Ausdruck „Gegenstand des Urteils“ auch zur Bezeichnung des „Subjektsgegenstandes“ (um mit A. Pfänder zu reden) verwendet werden. Auch in diesem Falle müßte man den formalen und den materialen Gegenstand, den Gegenstand, worüber geurteilt wird, unterscheiden.

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Wie jedes Urteil, so hat auch jede Frage ihren formalen Gegenstand, einen bloß intentionalen „Sachverhalt“ (um vorläufig dies nicht ganz passende Wort zu benutzen), der durch den Inhalt der Frage bestimmt wird. Um ihn genauer zu charakterisieren, stellen wir ihn dem formalen Gegenstande des Urteils gegenüber. Es bestehen zwischen beiden folgende zwei prinzipiellen Unterschiede: 1. Das objectum formale eines jeden eindeutig formulierten Urteils (und auf diese Gestalt läßt sich im Prinzip jedes Urteil bringen) ist so durch den Inhalt des Urteils bestimmt, daß jedes Moment seiner Materie eine „Bekannte“ ist. Sogar in solchen Fällen, wo der Prädikatsterminus negativ ist (z.B. „Die Tafel ist nicht weiß“ oder „Die Größe der irdischen Kohlenbestände ist unbekannt“), sind die entsprechenden Momente des formalen Gegenstandes genau bestimmt, eben als negative, bzw. solche, von welchen es bekannt ist, daß sie unbekannt sind. Man könnte auch sagen, daß das formale Urteilsobjekt in bezug auf alle seine materialen Momente bestimmt ist, daß diese Bestimmung vollzogen, entschieden ist. Bei dem formalen Gegenstande der Frage braucht es gar nicht so zu sein; im Gegenteil, bei den meisten Fragen verhalten sich die Sachen ganz anders. Wir sagen „bei den meisten“ und nicht bei allen Fragen, weil Fragen existieren, deren formaler Gegenstand hinsichtlich seiner Materie ebenso voll bestimmt ist, wie der formale Gegenstand eines Urteils. Wenn wir z.B. fragen: „Ist der Schwefel bei der Temperatur von 1000 °C flüssig?“ (A), so wissen wir freilich nicht, ob es sich so verhält oder nicht (vgl. unten, Punkt 2); der Gegenstand der Frage (das Flüssigsein des Schwefels bei der Temperatur von 1000 °C) ist aber hinsichtlich seiner Materie ebenso voll bestimmt, wie in dem Urteil: „Der Schwefel ist flüssig bei der Temperatur von 1000 °C“. Wenn wir dagegen fragen: „In welchem Aggregatzustand befindet sich der Schwefel bei der Temperatur von 1000 °C?“ (B), so ist der formale Gegenstand dieser Frage unbestimmt gerade hinsichtlich dieses seines Moments, das mit den Worten „in welchem Aggregatzustand“ bezeichnet ist; da steckt die „Unbekannte“. Es ist also hier nicht so, wie bei dem formalen Gegenstande mancher Urteile, wo der Gegenstand durch etwas Negatives oder Unbekanntes bestimmt ist. Aus demselben Grunde kann auch die Frage (A) durch ein kurzes „ja“ oder „nein“ vollständig ausreichend beantwortet werden; eine solche Antwort auf die Frage (B)

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wäre dagegen ganz sinnlos. Hier, bei der Frage (B), ist vor allem eine Ergänzung dessen, was fehlt, notwendig, eine Beseitigung des Mankos, eine Vollendung der Bestimmung des „Sachverhalts“, der den Gegenstand der Frage bildet, zu einem vollen, allseitig bestimmten Sachverhalt, der materialer Gegenstand eines Urteils sein könnte. Wenn der formale Gegenstand eines Urteils durch negative oder unbekannte Momente bestimmt ist, so stellt das einen gewissen Mangel, eine Unvollkommenheit des betreffenden Urteils dar; ein Urteil solcher Art tritt an Erkenntniswert vor einem entsprechenden Urteil zurück, in welchem die Stelle des negativen Bedeutungselementes ein entsprechendes positives einnimmt. Es ist dagegen keine Unvollkommenheit, kein Mangel der Frage, daß ihr Gegenstand eine „Unbekannte“ enthält. Im Gegenteil! Eine Frage, derer Gegenstand in jeder Hinsicht (also nicht bloß hinsichtlich seiner Materie) durch positive Momente vollkommen bestimmt wäre, ist überhaupt unmöglich. Sie wäre dann keine Frage mehr. Wir stoßen da auf ein Wesensmoment der Frage überhaupt, das sie vom Urteil unterscheidet. Ein Mangel, ein Fehler der Frage ist es nur, wenn – um es vorläufig nur anzudeuten – die Unbekannte in dem Gegenstand der Frage nicht eindeutig lokalisiert ist, wenn es nicht klar ist, was bestimmt und was unbestimmt ist. Andererseits ist eine Frage, deren Gegenstand aus lauter „Unbekannten“ bestehen würde, ebenfalls unmöglich. Die in dem Gegenstande einer Frage enthaltene „Unbekannte“ spielt in ihm eine besondere, für die Frage als solche charakteristische Rolle. Sie ist es eben, worauf der Nachdruck, das Gewicht der Frage liegt. Um ihre Entdeckung, Entschleierung und dadurch um ihre Beseitigung handelt es sich in der Frage. Das, was an ihre Stelle als schon bekanntes, bestimmtes Element gestellt werden soll, wird gesucht. Die Rolle, die sie in dem Gegenstande der Frage spielt, kann man am leichtesten erfassen, wenn man einer Frage ein entsprechendes Urteil mit einem ähnlichen Gegenstande gegenüberstellt. Z.B.: „Der Aggregatzustand des Schwefels bei der Temperatur von 1000 °C ist mir unbekannt“ und die Frage: „Welches ist der Aggregatzustand des Schwefels bei der Temperatur von 1000 °C?“. In beiden Fällen bildet der Aggregatzustand des Schwefels bei der angegebenen Temperatur etwas für mich Unbekanntes. Im ersten Falle wird aber seine Unbekanntheit einfach festgestellt, im zweiten dagegen fehlt gerade diese Feststellung; es wird sozusagen an ihr vorbeigegangen,

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um sofort nach dem Unbekannten zu „fragen“. Auf die Unbekannte wird da nur deswegen hingewiesen, um sie zu beseitigen, um das zu entdecken, was an ihre Stelle gestellt werden soll. Erst diese eigentümliche, in ihrer Reinheit nur zu erschauende Rolle der Unbekannten in dem Gegenstande der Frage ist es, die ihn von den Gegenständen andersartiger Sätze scharf unterscheidet. 2. Der formale Gegenstand eines jeden Urteils ist hinsichtlich des Seinscharakters dessen, was seine Materie ausmacht, eindeutig bestimmt. Dieser Seinscharakter hat einen mehrfachen Ursprung. Er stammt vor allem aus der Urteilsform – eben als Form eines Urteils, einer Behauptung – und hat seine letzte Quelle in dem Urteilsakte. Er ist das intentionale Korrelat der „Behauptungsfunktion“ der Kopula (vgl. A. Pfänder, Logik, S. 182). Er wird aber auch wesentlich mitbestimmt durch den Modus der prädikativen Funktion der Kopula (ob kategorisch, problematisch oder apodiktisch) und ist endlich von der Materie der beiden Urteilstermini, vor allem des Subjektsgegenstandes wesentlich abhängig. Einen solchen festbestimmten Charakter des Existenzmodus hat die Materie des formalen Gegenstandes einer Frage nicht. Wenn wir fragen, so vollziehen wir keinen Urteilsakt. Unsere Stellung dem gegenüber, wonach wir fragen, ist „unentschlossen“. Das Fragemoment des Fragesatzes drückt unter anderem auch diese Unentschlossenheit aus. Sie erschöpft natürlich das Wesen des Fragens noch nicht und bildet sogar nicht dasjenige Moment, welches das Fragen eben zum Fragen macht. Die „Unentschlossenheit“, das „Schwanken“ u. dgl. mehr ist ein psychischer Zustand, welcher für sich genommen nicht nur kein Fragen ist, sondern auch ebensowohl in dem Urteil „A ist b“, wie in dem Urteil „Ich weiß nicht, ob A b ist“, wie endlich in der Frage „Ist A b?“ terminieren kann. Der Zustand der Unentschlossenheit bildet aber eine der Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit es zu einem Fragen kommen kann. Das Fragen selbst dagegen ist kein Zustand, sondern ein besonderer Bewußtseinsakt; es ist ein Versuch, aus dem Zustande der Unentschlossenheit herauszukommen. Indem wir fragen, suchen wir die Sphäre unserer Subjektivität zu transzendieren. Das Fragen pocht an die Wirklichkeit, sucht ein Wissen von der Wirklichkeit mit Hilfe der Mittel zu erreichen, über die wir momentan verfügen, d. h. mittels der Kenntnisse, die wir von der betreffenden Angelegenheit besitzen, und mittels der Erfassung der Mängel, die diesen Kenntnissen anhaften. Diese Mittel sind

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aber zur Erreichung des gesuchten Wissens nicht ausreichend. Das Fragen ist eben ein Versuch, die unzureichenden Mittel zu transzendieren, sie durch etwas zu ergänzen, was wir selbst nicht erreichen können: durch die Antwort. Durch eine Antwort, die nicht nur die Mängel unseres Wissens, sondern auch den Zustand der Unentschlossenheit beseitigen soll, auf dessen Hintergrunde das Fragen entsteht. Das Fragen ist ein wesentlich an ein anderes Erkenntnissubjekt sich wendender und auf dem Wege über dieses Subjekt an die Wirklichkeit pochender, die Kenntnisse des anderen ausnützender Akt.3 Aber eben aus diesem Grunde, daß der Akt des Fragens an die Wirklichkeit nur „pocht“, daß er in ihr nichts setzt, noch zu setzen sucht, daß er selbst mit einem Moment des Wartens behaftet und mit einer wenigstens momentanen Urteilsenthaltung wesentlich verbunden ist, daß er auf dem Hintergrunde der Unentschlossenheit und des Unwissens entsteht, deshalb trägt auch das, wonach wir fragen, d.h. der formale Gegenstand der Frage, den Charakter der Unentschlossenheit hinsichtlich des Seins, oder besser einer Unbestimmtheit in dieser Hinsicht. (Man könnte versucht sein, hier von der Neutralitätsmodifikation des Seinscharakters – vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, §§ 109 bis 111 – zu reden. Indessen scheint uns hier der Seinscharakter nicht neutralisiert, sondern eben noch unbestimmt zu sein.) Doch – um Mißverständnissen vorzubeugen – ist hier sofort zu bemerken: Der formale Gegenstand der Frage existiert als ein bloß intentionales Korrelat der Frage dann und nur dann, wenn die Frage existiert. Wenn wir aber eine Frage stellen, so geht uns diese Existenz des formalen Gegenstandes als eines intentionalen Korrelats gar nichts an. Es ist auch nicht diese Existenz, die mit dem Charakter der Unbestimmtheit behaftet ist. Wie aber jedes Urteil den Anspruch erhebt, ein materiales Objekt zu haben, so zielt auch jede Frage in einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit, vermag ihn aber nicht zu erreichen und versieht den durch die Materie des formalen Gegenstandes teilweise bestimmten Sachverhalt mit dem Charakter der Unbestimmtheit hinsichtlich des Seins. Dieser Unbestimmtheitscharakter ist freilich ein formales Moment dem 3

Das schließt natürlich nicht aus, daß wir uns selbst fragen können. Aber gerade da tritt die Spaltung auf in dasjenige Ich, das fragt, und dasjenige, dem das erste die Frage stellt. Wir fassen uns selbst dann als einen anderen auf und fragen nur dann, wenn wir erwarten, daß der „Andere“ antworten kann.

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gegenüber, was mit ihm behaftet ist, d.h. was nach der Entscheidung der Frage als existierend oder nicht existierend hingestellt werden wird. Er gehört aber nicht zur Form, sondern zur Materie des formalen Gegenstandes der Frage. Insofern muß unsere früher ausgesprochene Behauptung, daß Fragen existieren, deren formaler Gegenstand hinsichtlich seiner „Materie“ ebenso voll bestimmt ist, wie wenn er formaler Gegenstand eines Urteils sein würde, korrigiert werden. Der Ausdruck „Materie des formalen Gegenstandes der Frage“ (in dem eben wiederholten Satze) hat eine engere Bedeutung als in unseren gegenwärtigen Erwägungen und umfaßt den eben besprochenen Unbestimmtheitscharakter hinsichtlich des Seins nicht. Der Charakter der Unbestimmtheit hinsichtlich des Seins ist ein Wesensmoment des formalen Gegenstandes jeder Frage; es treten da aber interessante Modifikationen bei verschiedenen Arten der Frage auf. Man muß nämlich zwischen existentialen und sachhaltigen Fragen unterscheiden. Existential nennen wir eine Frage, derer formaler Gegenstand in seiner Materie – im engeren Sinne, also ohne den Unbestimmtheitscharakter hinsichtlich des Seins genommen – keine Unbekannte enthält. Existential ist also für uns sowohl die Frage: „Ist der Schwefel bei der Temperatur von 1000 °C flüssig?“ oder „Ist Gott allwissend?“, als auch die Frage „Gibt es einen Gott?“. Sachhaltig dagegen nennen wir eine Frage, wenn ihr formaler Gegenstand in seiner Materie (im engeren Sinne genommen) eine Unbekannte enthält. Z.B.: „In welchem Aggregatzustande befindet sich der Schwefel bei der Temperatur von 1000 °C?“. In den Existentialfragen haftet der Unbestimmtheitscharakter am Seinsmoment des ganzen Sachverhalts, nach dem wir fragen. Die Frage geht eben auf das Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts. Es gibt aber auch einen Seinscharakter der Beziehung, die zwischen dem Korrelate des Subjektbegriffes und dem Korrelate des Prädikatbegriffes besteht. Im Urteilsgegenstande ist diese Beziehung das Korrelat dessen, was A. Pfänder die „Hinbeziehungsfunktion der Kopula“ nennt und was in der Hinbeziehung der Prädikatbestimmtheit auf den Subjektgegenstand besteht. Im Urteil ist diese Hinbeziehung vollzogen, die Beziehung ist als eine bestehende, vollzogene vermeint. Auch in der Frage gibt es eine Hinbeziehungsfunktion der Kopula, die sich aber prinzipiell von der im Urteil vorgefundenen unterscheidet. Sie besteht in der Frage nur in einem

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Ansatz einer Hinbeziehung, oder besser in einem Ansatz einer Zu- bzw. Aberkennung der Prädikatbestimmtheit bezüglich des Subjektgegenstandes, einem Ansatz, der sich nie in einen vollendeten Vollzug verwandeln kann, da er sofort durch die Fragefunktion der Frage unterbunden wird. Oder besser gesagt: die Fragefunktion besteht zum Teil eben darin, daß in dem Fragesatz sich nur ein Ansatz der Hinbeziehung der Prädikatbestimmtheit auf den Subjektgegenstand befindet. Dieser Ansatz ist wie ein Vorschlag, dessen Annahme erst in dem Antworturteil vollzogen werden kann. Deswegen fehlt in dem formalen Objekt der Frage das Moment des vollendeten Vollzuges der Beziehung zwischen dem Subjektgegenstand und der Prädikatbestimmtheit, das den formalen (bzw. den materialen) Gegenstand eines kategorischen Urteils auszeichnet. An seine Stelle tritt in dem formalen Gegenstande der Frage ein neues Unbestimmtheitsmoment auf, das mit dem oben besprochenen Seinsunbestimmtheitsmoment aufs engste zusammenhängt, das Moment der bloß angesetzten und in der Schwebe gelassenen Hinbeziehung der Prädikatbestimmtheit auf den Subjektgegenstand. Beide Unbestimmtheitsmomente – sowohl jenes, das das Sein des ganzen formalen Gegenstandes, wie auch jenes, welches die Beziehung zwischen der Prädikatbestimmtheit und dem Subjektgegenstand betrifft, treten in dem formalen Gegenstande jeder Frage auf. In den Existentialfragen aber tritt das Unbestimmtheitsmoment hinsichtlich des Seins, in den sachhaltigen Fragen dagegen das der in der Schwebe gelassenen Hinbeziehung der Prädikatbestimmtheit mehr in den Vordergrund. Beide Momente zusammen bilden den zweiten wesentlichen Punkt des Unterschiedes zwischen dem formalen Gegenstande der Frage und dem des Urteils und damit auch zwischen der Frage und dem Urteil selbst. Im Hinblick auf die beiden Unbestimmtheitsmomente, die in dem formalen Gegenstande der Frage auftreten, wäre es unrichtig, diesen Gegenstand einen „Sachverhalt“ zu nennen, was wir auch nur vorläufig und mit Vorbehalt getan haben. Denn in einem „Sachverhalt“, in dem Sinne genommen, in welchem wir diesen Ausdruck bei dem kategorischen Urteile verwenden, muß sowohl der Charakter des Existensmodus voll bestimmt werden, wie auch ein bestimmter Modus der Beziehung zwischen den einzelnen Elementen des Sachverhalts in vollzogenem Zustande wirklich bestehen muß. Aus diesem Grunde werden wir den

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formalen Gegenstand der Frage ein Problem nennen; indem wir es tun, glauben wir im Einklang zu sein mit der, übrigens unseres Wissens nirgends klar präzisierten, Intention, in welcher dieser Ausdruck in der Wissenschaft und in der Philosophie verwendet wird. Man muß bloß darauf achten, aus der Bedeutung des Wortes „Problem“ das öfters mitverflochtene logische Bedeutungsmoment zu eliminieren, das zu einer Identifizierung des Problems in unserem Sinne mit dem Fragesatz als einer logischen Gegenständlichkeit führt. § 3 Richtigkeit der Frage und ihre Bedingungen4 Im Zusammenhange mit dem eben besprochenen Unterschiede zwischen dem formalen Gegenstande des Urteils und dem Problem steht das Faktum, daß die Frage im Unterschiede zu dem Urteil nie einen materialen Gegenstand besitzen kann. Probleme existieren ja unabhängig von dem Fragesatze nicht, sie sind nichts als intentionale Korrelate des Inhaltes der Frage. In einem übertragenen und mittelbaren Sinne kann man aber auch bei der Frage von einem materialen Gegenstande reden und dadurch die „richtigen“ Fragen von den „unrichtigen“ unterscheiden. Es gibt Fragen, denen eine wahre Antwort entspricht, und auch solche, bei denen das nicht statthat, d.h. Fragen, die entweder keine wahre Antwort, oder mehrere wahre Antworten besitzen. Z.B. keine wahre Antwort besitzt die bekannte scholastische Frage „Wie viele Engel können sich an der Spitze einer Stecknadel befinden?“, oder die Frage „Welchen Intensitätsgrad besitzt ein quadratischer Kreis?“. Wenn ich dagegen frage: „Welchen Winkel bilden die Diagonalen eines Quadrats?“, dann existiert das Urteil: „Die Diagonalen des Quadrats bilden einen rechten Winkel“, das die wahre Antwort auf die vorgebrachte Frage bildet. Dann existiert ein objektiver Sachverhalt, der den materialen Gegenstand der Antwort bildet, und es besteht eine merkwürdige Beziehung zwischen diesem Gegenstande und dem Problem der genannten Frage: Die bekannten Elemente der Problemmaterie (in der engeren der gegenübergestellten Bedeutungen) lassen sich nämlich mit manchen Elementen der Sachverhaltsmaterie „identifizie4

Von der Richtigkeit bzw. Vernünftigkeit der Frage spricht gelegentlich E. Husserl in seinen Logischen Untersuchungen, beschäftigt sich aber nicht näher damit.

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ren“; die Unbekannte des Problems aber (in der Frage durch die Worte „welchen Winkel“ bezeichnet) findet in dem Urteilsgegenstande ihr bekanntes Korrelat. Wir sagen: Wenn zwischen einem Problem und dem materialen Gegenstande eines Urteils die eben genannte Beziehung besteht, so besitzt die Frage – in einem übertragenen und mittelbaren Sinne – einen materialen Gegenstand, das betreffende Urteil aber bildet die „Antwort“ auf die Frage. Eine solche Frage nennen wir „richtig“. Wo dagegen eine solche Beziehung zwischen einem Problem und dem materialen Gegenstande irgendeines Urteils überhaupt nicht besteht, sagen wir, daß die betreffende Frage unrichtig ist. Diese Bestimmung behält ihren guten Sinn auch in jenen Fällen, in welchen die Frage eine verneinende Antwort besitzt, oder die Problemmaterie – im engeren Sinne – keine Unbekannte enthält. Auch hier läßt sich nämlich (natürlich wenn wir zustimmen, daß es negative Sachverhalte gibt) eine vollkommene Identifikation zwischen der Problemmaterie und der Materie des objektiven Sachverhalts des betreffenden Urteils durchführen. Wenn es sich aber um eine Existentialfrage handelt, so findet die Unbekannte, die in diesem Falle in dem formalen Momente der Problemmaterie im weiteren Sinne enthalten ist, ihr Korrelat in der Form des materialen Gegenstandes des Urteils. Es entsteht die Frage nach dem Kriterium der Richtigkeit einer Frage und insbesondere das Problem, ob man das Bestehen dieser Richtigkeit erst dann feststellen kann, wenn man schon die wahre Antwort kennt, oder ob diese Feststellung auch ohne die Kenntnis der Antwort möglich ist. Auf den ersten Blick scheint es, daß dies nicht der Fall ist. Eine nähere Erwägung zeigt jedoch, daß man schon aus manchen Eigenschaften der Frage auf ihre Unrichtigkeit schließen kann, andererseits aber, daß die Erfüllung mancher Bedingungen durch die Frage es erlaubt, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Richtigkeit zu vermuten. Wir haben oben bemerkt, daß es unmöglich ist, daß die Problemmaterie ausschließlich Unbekannte enthält. Daraus müssen wir jetzt wichtige Konsequenzen ziehen. Es müssen nämlich in der Problemmaterie gewisse „Bekannte“ enthalten sein. Im Zusammenhange damit entstehen folgende zwei Fragen: 1. Welche Rolle spielen sie in der Frage in bezug auf deren Richtigkeit? 2. Welche Bedingungen müssen sie erfüllen, damit die Frage richtig sein kann?

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Eine Frage ist „richtig“, wenn eine wahre Antwort auf sie existiert. Dabei muß – wie oben erwähnt – zwischen den Bekannten der Problemmaterie und manchen Elementen des materialen Gegenstandes der Antwort die Beziehung der Identifizierung sich durchführen lassen. Indem wir eine Frage bilden, indem wir also die Begriffe wählen, welche die Bekannten der Problemmaterie bestimmen, wählen wir eo ipso aus allen möglichen Urteilen ein bestimmtes Urteil (bzw. eine ganze Gruppe von Urteilen) zur Antwort aus. Das auf diese Weise gewählte Urteil kann wahr oder falsch sein, die entsprechende Frage also richtig oder unrichtig. M. a. W.: von der Auswahl der Problembekannten – obwohl nicht nur von ihr – hängt die Richtigkeit der Frage ab. Welche notwendigen Bedingungen müssen von den die Bekannten des Problems bestimmenden Begriffen erfüllt werden, damit die Frage richtig sein kann? Darauf ist zu antworten: 1. Wenn ich z.B. frage: „Welchen Winkel bilden die Diagonalen eines Quadrats?“, so bestimmen die folgenden Begriffe die Bekannten des vorgelegten Problems: 1. das Quadrat, 2. die Diagonalen, 3. die Winkel, 4. bilden. Dem Inhalte jedes dieser Begriffe entspricht ein durch ihn bestimmter formaler Gegenstand. Es ist a priori möglich, daß außer den formalen auch die materialen Gegenstände dieser Begriffe existieren.5 So kann bei jedem Begriff die Frage vorgelegt werden, ob sein Inhalt auf solche Eigenschaften und Momente des materialen Gegenstandes hinweist, die ihm wirklich inhärieren, oder auf etwas, was der materiale Gegenstand des betreffenden Begriffes – falls er überhaupt existiert – gar nicht hat. M. a. W.: bei jedem Begriffe, dessen wir uns bedienen, entsteht die Frage nach seiner „Objektivität“. Dabei nennen wir einen Begriff „objektiv“, wenn sein formaler Gegenstand hinsichtlich aller seiner Eigenschaften und Momente, mit alleiniger Ausnahme jener, die ihn eben zu einem „formalen“ (also bloß intentionalen) Gegenstande machen, bzw. jener, die daraus folgen, sich mit einem von der Erkenntnis unabhängig existierenden Gegenstande hinsichtlich seines t… eϨnai und wenigstens mancher seiner Eigenschaften bzw. Momente identifizieren läßt. Einen Begriff dagegen 5

Über die Scheidung zwischen dem materialen und dem formalen Gegenstand des Begriffes vgl. u. a. A. Pfänder, Logik, S. 273. Übrigens ist diese Scheidung nicht neu.

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nennen wir „nichtobjektiv“, falls die eben genannte Beziehung nicht statthat, im Grenzfall also, falls der Begriff überhaupt keinen materialen Gegenstand besitzt. In dem allerletzten Falle sprechen wir von fiktiven Begriffen (Begriffen von Fiktionen). Wenn wir irgendeine, z.B. die oben genannte, Frage stellen, so halten wir die Begriffe, die als Bedeutungen der einzelnen Worte in der Frage auftreten und die Bekannten des Problems bestimmen, stillschweigend für objektiv, wenn natürlich kein spezieller Vorbehalt hinsichtlich der Objektivität der benutzten Begriffe gemacht wurde. Wenn also die betreffenden Begriffe de facto der Objektivität entbehren (wenn auch nur manche von ihnen!), so begehen wir dadurch, ohne es zu wissen, einen Fehler. Dieser Fehler kommt darin zum Ausdruck, daß das Urteil, das auf die so konstruierte Frage antwortet und das selbst die nichtobjektiven Begriffe enthält, falsch ist. Falls also in einer Frage die Begriffe, die die Bekannten des Problems bestimmen, nicht objektiv sind, so gibt es keine wahre Antwort auf diese Frage und somit ist die letztere unrichtig. Oder positiv ausgedrückt: Die erste Bedingung der Richtigkeit einer Frage besteht darin, daß die Begriffe, die die Bekannten ihres Problems bestimmen, sämtlich objektiv sind. Zur Entscheidung also, ob eine bestimmte Frage richtig oder unrichtig ist, ist die Untersuchung der Objektivität aller in Betracht kommenden Begriffe unentbehrlich. 2. Die eben aufgestellte Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Die Begriffe treten nämlich in der Frage nicht als voneinander unabhängige Entitäten auf, sondern als Elemente eines Ganzen, die sich gegenseitig bedingen und die zusammen die Beziehungen zwischen den einzelnen Bekannten des Problems bestimmen. Wenn wir z.B. fragen: „Welchen Winkel bilden die Diagonalen eines Quadrates?“, so präjudiziert diese Frage vor allem, daß die Diagonalen nicht Diagonalen irgendeines beliebigen Polygons, sondern gerade eines Quadrates sind; dies setzt aber die Existenz der konstitutiven Eigenschaften des Quadrates voraus und präjudiziert, daß es bloß zwei Diagonalen gibt, die sich gegenseitig halbieren, einander gleich sind und mit den Winkelhalbierenden der inneren Winkel identisch sind. Ihre vierte Eigenschaft aber bildet die Unbekannte des Problems. Auch aber die Art, bzw. der Bereich der Eigenschaften (bzw. Beziehungen), die wir in Erwägung ziehen müssen, um in der Antwort die die Unbekannte des Problems erfüllende

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Eigenschaft zu wählen, ist im Problem durch Bekannte bestimmt (daß es sich nämlich um die Größe des Diagonalenwinkels handelt). Dabei setzt die Frage durch ihre Bekannte voraus, daß die Diagonalen überhaupt einen Winkel bilden können. Natürlich ist das, was eine Frage voraussetzt, bzw. präjudiziert, nicht in der Frage selbst explicite enthalten; es ist eben eine Voraussetzung. Als Voraussetzung muß es aber bei der Konstruktion der Antwort auf die vorgelegte Frage nicht bloß berücksichtigt werden, sondern auch – wenn man so sagen darf – die Richtung der Frage eindeutig bestimmen. Die Antwort nämlich – wie das schon aus unserer Definition der Antwort als solcher folgt – muß von der Frage alle in ihrem Problem enthaltenen Bekannten und somit alles, was diese voraussetzen, übernehmen.6 Sie muß sich auf den von der Frage bestimmten Standpunkt stellen, und erst auf dieser Unterlage gibt sie an Stelle der Problemunbekannten die neue Bekannte an. Da aber alles, was die Frage voraussetzt, entweder ein Haben bestimmter Eigenschaften durch die materialen Gegenstände der in der Frage enthaltenen Begriffe, oder ein Bestehen irgendwelcher Verhältnisse oder Beziehungen zwischen diesen Gegenständen ist, so handelt es sich in jedem Falle um gewisse Sachverhalte, die unabhängig von der Erkenntnis existieren. (Soweit natürlich in der Frage selbst, oder in den Begleitumständen, in denen sie gestellt wird, kein anders lautender Vorbehalt enthalten ist.) Andererseits bedingen diese Sachverhalte den ganzen Bau des Problems und bestimmen dadurch den Bereich der Gegenstände, Eigenschaften und Beziehungen, die in der Antwort die Unbekannte des Problems erfüllen soll. Aus diesem Grunde nennen wir das, was eine Frage voraussetzt, den das Problem bedingenden Sachverhalt. Von dem letzteren müssen die hypothetisch angenommenen Sachverhalte unterschieden werden, die in den Gehalt mancher Fragen selbst eingehen und in dem Wortlaut der betreffenden Fragen explicite angegeben sind. Sie bilden dann gewöhnlich die Bedingungen dessen, was im Problem die Unbekannte darstellt. Z.B.: „Was für eine Erscheinung wird eintreten, wenn man durch einen Draht aus einem bestimmten Metall, von 6

Im täglichen Leben benutzen wir gewöhnlich einen viel weiteren Begriff von Antwort, so daß auch ein Satz, der eine vorgelegte Frage bloß korrigiert, schon als eine Antwort gilt. Ein so weiter Begriff kann aber für uns nicht maßgebend sein.

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einem angegebenen Durchmesser einen elektrischen Strom von einer angegebenen Stärke leiten wird?“ Die hier hypothetisch angenommenen Sachverhalte nennen wir die Bedingungen der Problemunbekannten. Jede Frage, soweit ihr keine anders lautenden Bemerkungen vorangehen, macht den Anspruch, objektive, das Problem bedingende, Sachverhalte zu haben. Nicht jede ist aber auf diese Weise formuliert, daß sie die genannten Sachverhalte wirklich besitzt, obwohl jede gewisse intentionale Sachverhalte voraussetzt. Die Frage z.B. „Welchen Intensitätsgrad besitzt ein quadratischer Kreis?“ besitzt keinen der objektiven Sachverhalte, welche sie intentional voraussetzt. Wenn jemand eine solche Frage ernst nimmt (und es müssen ja nicht so auffallend widersinnige Fragen als Beispiele genommen werden) und sie zu beantworten sucht, so sucht er offenbar einen objektiv existierenden und durch die angeblich existierenden Sachverhalte, welche die Frage voraussetzt, bedingten Sachverhalt. Es gibt aber natürlich einen solchen Sachverhalt nicht; somit gibt es auch keine wahre Antwort auf die gestellte Frage, die Frage ist also unrichtig. Die zweite notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Richtigkeit einer Frage liegt darin, daß die Begriffe, die die Bekannten des Problems bestimmen, so gewählt und so angeordnet werden müssen, daß die Frage lauter objektiv existierende, das Problem bedingende Sachverhalte voraussetzt. 3. Die Richtigkeit jeder Frage hängt weiter davon ab, welche Bedeutung das Wort besitzt, das die Problemunbekannte aufzeigt. Die das Problem bedingendem Sachverhalte bzw. die entsprechenden Termini der Frage bestimmen den Bereich der „Größen“ (wenn man uns diese mathematische Ausdrucksweise erlaubt), welche die Unbekannte erfüllen können. Es ist also notwendig, daß auch das Wort, welches die Unbekannte bezeichnet („ob“, „wie“, „wo“ usw.), so gewählt wird, daß es eine an den bestimmten „Größenbereich“ angepaßte Bedeutung besitzt. Das ist die dritte notwendige Bedingung der Richtigkeit einer Frage. Wenn z.B. jemand die Frage stellt: „Wohin Winkel bilden die Diagonalen eines Quadrates?“, so fragt er offenbar ganz unrichtig. Die hier besprochene Unrichtigkeit braucht wiederum nicht in jedem Falle so auffallend zu sein. Deswegen ist es in verwickelteren Fällen notwendig, vor der Beantwortung der Frage zu untersuchen, ob auch diese Bedingung der Richtigkeit erfüllt ist.

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4. Endlich kann natürlich nur eine solche Frage richtig sein, die eindeutig formuliert ist. Aus diesem Grunde müssen wir uns etwas mit der Ein- bzw. Vieldeutigkeit der Frage beschäftigen. Ob alle vier Bedingungen zusammengenommen ausreichend sind, die Richtigkeit der Frage zu verbürgen, möchten wir weiteren Untersuchungen vorbehalten. § 4 Eindeutigkeit bzw. Vieldeutigkeit der Frage Die das Problem bedingenden Sachverhalte machen nie eine hinreichende Bedingung für die Existenz des materialen Gegenstandes der Antwort aus. Denn bildeten sie eine solche Bedingung, dann gäbe es überhaupt kein Problem und es gäbe auch keinen Anlaß eine Frage zu stellen. Andererseits muß eine Frage so formuliert werden, daß sie implicite wenigstens einen Teil der das Problem bedingenden Sachverhalte enthält. Deswegen kann der Fall eintreten, daß der in einer bestimmten Frage eben vorausgesetzte Teil der bedingenden Sachverhalte die Existenz nicht einer, sondern mehrerer Unbekannten zuläßt, bzw. nach sich zieht. Wir sagen dann, daß das betreffende Problem nicht eindeutig bestimmt ist; die entsprechende Frage aber nennen wir nur dann mehrdeutig, wenn in ihr nicht alle der sich ergebenden Unbekannten angegeben sind. Das Problem ist dagegen eindeutig bestimmt, wenn es eine und nur eine Unbekannte enthält. Man muß dabei ein nicht eindeutig bestimmtes Problem von einem komplexen Problem (bzw. einer komplexen Frage) unterscheiden. Wenn ich z.B. frage: „Wann und zu welchem Zwecke ist Fritz in die Stadt gegangen?“, so enthält das Problem dieser Frage zwei Unbekannte; die Frage ist aber nicht mehrdeutig, sondern komplex und ebenso komplex ist ihr Problem. Die Analyse solcher Fragen würde uns hier zu weit führen. Es wird ausreichen, wenn wir bemerken, daß der Inhalt einer komplexen, aber nicht mehrdeutigen Frage deutlich auf mehrere Unbekannte hinweisen muß. Bei einer einfachen, aber mehrdeutigen Frage ist jene Vielheit der Unbekannten gewissermaßen verdeckt. Das nicht eindeutig bestimmte Problem enthält sozusagen nur eine Stelle, an welcher jedoch verschiedene Unbekannte auftreten können, weil der von der Frage vorausgesetzte Teil der das Problem bedingenden Sachverhalte eben gleichzeitig mehrere Unbekannte zuläßt, von welchen entweder die erste, oder die zweite, oder

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die dritte usw. die Unbekannte eines eindeutig bestimmten Problems sein kann. Um von einem nicht eindeutig bestimmten zu einem eindeutig bestimmten Problem überzugehen, müßte man in jedem einzelnen Falle durch Änderung des Inhaltes der Frage die entsprechenden bedingenden Sachverhalte ergänzen und auf diese Weise das eine nicht eindeutig bestimmte Problem in mehrere bestimmte verwandeln. Dadurch wird man eine Anzahl neuer Fragen erhalten, die von der hier besprochenen Vieldeutigkeit frei sein werden. In dem hier angedeuteten Sinne vieldeutig ist z.B. die Frage: „Welche Erscheinung tritt bei Regenwetter ein?“. Die Anzahl der in Betracht kommenden Erscheinungen ist offenbar sehr groß; solange man also die Frage nicht ergänzt, weiß man nicht, welche der möglichen Unbekannten gerade gesucht wird. Eine Frage kann aber auch aus einem anderen Grunde mehrdeutig sein. Die Worte nämlich, die die Bekannten des Problems bezeichnen, können mehrdeutig sein. Wenn dies der Fall ist, so können die das Problem, bzw. die Unbekannte bedingenden Sachverhalte und dadurch das Problem selbst nicht eindeutig bestimmt sein. Die betreffende Frage ist dann im Grunde unbeantwortbar. Endlich kann eine Frage durch die Vieldeutigkeit des die Unbekannte bezeichnenden Wortes vieldeutig sein. Z.B. in der Frage „Wer ist dieser Mann?“, kann der Ausdruck „wer ist“ einmal bedeuten „was für eine soziale Stellung nimmt er ein?“, das andere Mal „welches ist sein Beruf?“, „welchen Namens?“, „welcher Nationalität ist er?“ usw. In den hier besprochenen Fällen stammt die Vieldeutigkeit der Frage aus der Vieldeutigkeit der benutzten Worte, nicht aber aus der unvollkommenen Angabe der das Problem bedingenden Sachverhalte. Es ist aber möglich, daß bei der Beseitigung der hier besprochenen Vieldeutigkeit eo ipso manche neuen, das Problem bedingenden Sachverhalte implicite oder explicite angegeben werden, welche in der ursprünglichen Frage nicht mitgemeint wurden. Im Resultat: die Frage ist eindeutig formuliert, wenn 1. ihr Problem eindeutig bestimmt ist, und 2. wenn alle Termini, die in dem Gehalt des Fragesatzes auftreten, eindeutig sind. Eine mehrdeutige Frage ist unmittelbar nicht zu beantworten; man muß zuvor ihre Vieldeutigkeit beseitigen.

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§ 5 Essentiale Fragen als Thema der weiteren Untersuchung. Der einzuschlagende Weg Die bisherigen Erwägungen, so skizzenhaft und ergänzungsbedürftig sie auch sind, haben uns doch zum Bewußtsein gebracht, wie viele und wie mannigfaltige Bedingungen erfüllt werden müssen, damit eine Frage richtig und eindeutig sein kann. So fühlen wir jetzt schon besser als früher, wie viele Fragen, die wir gewöhnlich im Leben und in der Wissenschaft stellen, mangelhaft konstruiert sind und wie leicht es ist, durch unkritische Fragestellung auf Irrwege abgelenkt zu werden, verschiedenartige Probleme und sogar Problemgebiete zu vermengen und dadurch auf nicht existierende Schwierigkeiten zu stoßen. Es ist also für jede Wissenschaft, ganz besonders aber für die Philosophie unentbehrlich, die grundlegenden Fragen aufs peinlichste zu untersuchen, um dadurch einerseits die Schwierigkeiten, die auf Mißverständnis oder Vieldeutigkeit beruhen, zu beseitigen, andererseits aber die Abgrenzung der grundlegenden Problemregionen zu erreichen. Zu solchen vieldeutigen und oft unrichtig formulierten bzw. verstandenen Fragen gehören die, die wir „essentiale“ Fragen7 nennen. Mit diesem Namen umfassen wir vorläufig, d.h. ohne auf die nähere Analyse ihrer Bedeutungen einzugehen, die Fragen: „was ist das?“, „was ist x?“ und „was ist das, das X?“. Dabei nimmt das Zeichen „x“ die Stelle irgendeines Substantivs ein. (Konkret lautet also die zweite Frage z.B. „Was ist ein Quadrat?“, oder „Was ist ein Pferd?“.) Es sind Fragen, die wir betreffs fast eines jeden Untersuchungsgegenstandes in einem bestimmten Augenblicke stellen, und durch deren Beantwortung wir die endgültige Erkenntnis der uns interessierenden Gegenständlichkeiten zu erreichen hoffen. Haben wir aber ein klares Bewußtsein davon, wonach wir eigentlich fragen, wenn wir diese Fragen stellen? Und wissen wir, auf wie mannigfaltige Weise sie interpretiert zu werden pflegen, je nach den Interessen, je nach den Anschauungen, die wir gewöhnlich halbbewußt hegen, je nach den Zielen und Zwecken, die wir im gegebenen Augenblicke verfolgen? Wir fühlen nur unklar, daß es sich bei solchen Fragen um etwas sehr Wichtiges in den durch die Subjekte der genannten 7

D.h. „auf die essentia bezügliche“ Fragen.

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Fragen bezeichneten Gegenständen handelt, um etwas, was wir geneigt wären ein „Wesen“ zu nennen, wovon wir aber nur eine sehr unklare Anschauung besitzen. So wissen wir z.B. noch nicht, ob diejenigen Forscher recht haben, welche die Existenz eines „Wesens“ leugnen und in den genannten Fragen bloß Fragen nach dem Namen, oder nach einer Namenerklärung sehen, oder sie im besten Falle durch Angabe irgendwelcher, vom jeweiligen Gesichtspunkt und Interesse abhängigen Auswahl von Eigenschaften zu beantworten suchen. Auf all das können wir keine rechte und begründete Antwort geben, solange wir die verschiedenen Äquivokationen, die in den genannten Fragen enthalten sind, nicht scheiden und nach der vollzogenen Scheidung die Probleme der verschiedenen, sich da ergebenden Fragen, sowie die sie bedingenden Sachverhalte nicht genau analysieren. Natürlich würden uns die genannten Fragen nicht im entferntesten in dem Grade interessieren, wie sie es tatsächlich tun, wenn wir nicht das Bewußtsein hätten, daß gerade die Unklarheiten und Vieldeutigkeiten, die in den essentialen Fragen stecken, daran schuld sind, daß die Meinungen der Wissenschaftler und Philosophen betreffs dessen, was das Wesen eines Gegenstandes eigentlich ist, so auseinandergehen, und daß die Wesensprobleme fast durchweg in Probleme umgedeutet werden, die mit dem Wesen eines Gegenstandes nicht das mindeste zu tun haben, – ja noch mehr, daß die Wesensprobleme überhaupt als solche geleugnet werden. Die Aufdeckung aller dieser Unklarheiten und Vieldeutigkeiten der essentialen Fragen wird, wie uns scheint, auch die Mißverständnisse beseitigen, auf welche die Phänomenologen fast ausnahmslos stoßen, wenn sie einem Nichtphänomenologen eine essentiale Frage stellen („Was ist ein intentionales Erlebnis?“, „Was ist das Wesen des Gegenstandes als solchen?“, „Was ist das, die Wahrnehmung?“ usw.), die Mißverständnisse also, die einem Nichtphänomenologen den Weg zur Erfassung des Sinnes der ganzen phänomenologischen Methode so vollkommen versperren, daß er in den meisten Fällen der Phänomenologie ihr völlig fremde Ziele unterschiebt und dann gegen Behauptungen polemisiert, die gar nicht ausgesprochen wurden. Die genaue Analyse der essentialen Fragen ist es aber unmöglich durchzuführen, ohne positive Untersuchungen an dem Problem des Wesens selbst zu veranstalten. So hoffen wir andererseits durch unsere Betrachtungen auch auf das Wesensproblem und auf das Problem der Idee etwas Licht zu werfen und

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durch die Kontrastierung dieser Probleme mit den bei der Besprechung der essentialen Fragen gewöhnlich mit ihnen vermengten, ganz andersartigen Problemen die Scheidung zwischen grundverschiedenen Problemtypen zu vollziehen, sowie endlich die Berechtigung jedes dieser Problemtypen für sich zu erweisen. Das, was wir hier dem Leser über die essentialen Fragen und die damit verbundenen Probleme vorlegen, ist natürlich nur ein Anfang, der in der Zukunft in verschiedenen Richtungen zu ergänzen und wahrscheinlich auch zu berichtigen sein wird. Wir haben aber den Eindruck, daß schon die Berücksichtigung der bescheidenen Resultate, die zu erreichen uns gelungen ist, zur Aufklärung des Typus der Problematik in den besonderen Wissenschaften, wie in den einzelnen philosophischen Richtungen beitragen und dadurch zur Behebung der Mißverständnisse überall da verhelfen muß, wo die Richtungen sich gegenseitig bekämpfen, ohne sich die Unterschiede in den Grundfragen zum Bewußtsein gebracht zu haben. Vor Eintritt in die eigentlichen Untersuchungen möchten wir noch in einigen Worten den Weg kennzeichnen, den wir zur Lösung der uns gestellten Aufgabe gewählt haben. Wenn wir mit einem von uns selbst präzisierten Satze zu tun haben und uns auf irgendwelche Weise vor Mißdeutungen geschützt haben, dann ist die Aufgabe, seine Bedeutung genau anzugeben, sehr einfach und leicht; sie reduziert sich dann auf die Angabe der Bedeutungen der einzelnen Elemente des Satzes und auf die Festlegung der Beziehungen, welche zwischen diesen Elementen dank der besonderen Anordnung in dem betreffenden Satze bestehen. Die essentialen Fragen sind aber Sätze, die aus dem täglichen Leben genommen sind und in denen eine ganze Menge verschiedener Bedeutungen schillert, von welchen diese oder jene zum Vorschein kommt, je nach der Zusammenstellung mit anderen Sätzen, oder je nach den verschiedenen Lebensumständen und Zwecken, in welchen sie ausgesprochen werden. M. a. W.: die essentialen Fragen sind vieldeutig und als solche besitzen sie kein eindeutig bestimmtes Problem. Es ist also unmöglich, durch Analyse ihrer Probleme ihre Bedeutung aufzuklären. Den Weg, den der Psychologismus wählt, müssen wir zurückweisen, da er uns zu dem von uns gestellten Ziele nicht hinführen kann. Der Psychologismus nimmt nämlich die Sätze für etwas Psychisches, was sie für uns natürlich nicht sind. In diesem Punkt sind wir mit E.

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Husserl (vgl. Logische Untersuchungen, Bd. I) vollkommen einig und haben nicht die Absicht, hier die Diskussion darüber aufs neue zu eröffnen. Ein radikaler Psychologist kann also unsere Abhandlung ruhig beiseite legen, denn sie enthält nichts Interessantes für ihn. Aber auch der Weg, den der gemäßigte Psychologismus einschlägt, scheint uns nicht gangbar zu sein. Unter einem gemäßigten Psychologismus verstehen wir den Standpunkt, der zwar die Sätze als etwas von den psychischen Zuständen und Erlebnissen Verschiedenes betrachtet, der sie aber zugleich in erster Linie als Ausdruckserscheinungen nimmt, in welchen die psychischen Inhalte, die durch das psychische Individuum im Moment der Satzaussprache erlebt werden, geäußert werden. Jede Bedeutungsanalyse eines Satzes reduziert sich bei diesen Voraussetzungen auf eine Erzählung darüber, was sich in dem psychischen Individuum in einem bestimmten Augenblicke abgespielt hat, oder sich gewöhnlich abspielt. Es ist unmöglich hier auseinanderzulegen, in welchem Grade dieser Standpunkt mit dem entsprechenden Wesensverhalt in Widerspruch steht und zu welch absurden Konsequenzen er führt. Wir müssen uns hier mit der Bemerkung begnügen, daß wenn dieser Standpunkt richtig sein würde, es keinen einzigen Satz geben würde, der eine identische Bedeutung für zwei verschiedene psychische Subjekte (und sogar für ein und dasselbe Subjekt in zwei verschiedenen Zeitpunkten) hätte. Von dem Inhalte des Satzes könnte man dann nur wie von einem Individuum reden, oder man müßte darunter so etwas wie eine Durchschnittszahl verstehen, die aus den ähnlichen Momenten vieler individueller Inhalte der Satzindividuen kunstvoll berechnet ist. Man müßte dann die ganze Angelegenheit in psychologischen Instituten untersuchen, statistische Zusammenstellungen sammeln, die Durchschnittzahlen berechnen usw., um am Schluß der ganzen mühevollen, aber doch ein wenig stumpfsinnigen Untersuchung höchstens einen Beitrag zur Geschichte mancher Worte und Redewendungen in bestimmten Kreisen der Bevölkerung dieses oder jenes Landes in einer bestimmten Zeitperiode zu erhalten. Wir wollen die Liebhaber einer solchen Untersuchung bei ihrer Arbeit gar nicht stören, wir werden uns aber damit nicht beschäftigen. Wir nehmen die Sätze nicht als Ausdrucksweisen irgendwelcher konkreter psychischer Erlebnisse, noch als einen Ausdruck irgendwelcher „Gedanken“, die durch irgendein Subjekt im Moment der Aussprache des

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Satzes vollzogen werden, sondern wir nehmen sie als eine gewisse ideale begriffliche Einheit, die einem bestimmten Gegenstand (bei den Urteilen einem Sachverhalt, bei den Fragen einem Problem) zugeordnet ist. Indem wir diesen „Gegenstand“ analysieren, erreichen wir einerseits die Beseitigung der subjektiven Unterschiede, andererseits eine objektive Hinweisung darauf, welche Bedeutung ein Satz haben muß, wenn er adäquat den betreffenden „Gegenstand“ bezeichnen soll. Die Fragen, mit denen wir uns hier beschäftigen sollen, sind aber – wie schon bemerkt – vieldeutig, sie haben also kein eindeutig bestimmtes Problem. Auf jede dieser Fragen kennen wir indessen eine Reihe von „Antworten“. Indem wir die Gegenstände dieser „Antworten“ analysieren, legen wir den Sinn jeder von ihnen fest, um dann zu den Fragen zurückkehrend die verschiedenen möglichen Interpretationen zu präzisieren und zusammenzustellen. Anders gesagt: Die Aufklärung und die Begründung bestimmter logischer Angelegenheiten betreffs der essentialen Fragen wollen wir durch Aufklärung bestimmter ontologischer Sachlagen erreichen, die die Gegenstände wahrer und uns bekannter Beantwortungen der genannten Fragen bilden. Die nähere Begründung, warum wir gerade diesen Weg wählen, muß einer speziellen methodologischen Untersuchung vorbehalten bleiben.

ADOLF REINACH1 ÜBER PHÄNOMENOLOGIE2 [I.] Meine Herren! Ich habe mir nicht zur Aufgabe gestellt, Ihnen zu sagen, was Phänomenologie ist; sondern ich möchte versuchen, mit Ihnen phänomenologisch zu d e n k e n . Über Phänomenologie zu reden ist das Müßigste von der Welt, solange das fehlt, was allen Reden die konkrete Fülle und Anschaulichkeit erst geben kann: der phänomenologische Blick und die phänomenologische E i n s t e l l u n g . Denn das ist der wesentliche Punkt: Nicht um ein System von philosophischen Sätzen und Wahrheiten handelt es sich bei der Phänomenologie – um ein System von Sätzen, an welche alle glauben müßten, die sich Phänomenologen nennen, und die ich Ihnen hier beweisen könnte –, sondern es handelt sich um eine Methode des Philosophierens, die gefordert ist durch die Probleme der Philosophie, und die sehr abweicht von der An, wie wir uns im Leben umschauen und zurechtfinden, und die noch mehr abweicht von der Art, wie wir in den meisten Wissenschaften arbeiten und arbeiten müssen. So will ich denn heute eine Reihe philosophischer Probleme mit Ihnen berühren, in der Hoffnung, daß es Ihnen an dieser oder jener Stelle aufleuchtet, was das Eigenartige phänomenologischer Einstellung ist – dann erst ist die Grundlage für weitere Diskussionen gegeben. Es gibt vielerlei Arten, in denen wir uns zu Objekten verhalten – zu seienden oder nicht seienden Objekten. Wir stehen als praktisch handelnde Wesen in der Welt – wir sehen sie und sehen sie doch auch nicht, wir sehen sie mehr oder weniger genau, und was wir von ihr sehen, das richtet sich im allgemeinen nach unseren Bedürfnissen und Zwecken. Wir wissen, wie mühsam es ist, wirklich sehen zu lernen, welcher Arbeit es beispielsweise bedarf, um die Farben, an denen wir doch vorübergehen, die doch in unser Blickfeld fallen, wirklich zu sehen. Was hier gilt, gilt in noch 1

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Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in zwei Bänden. Bd. I. Hrsg. von Karl Schumann und Barry Smith. Philosophia Verlag, München und Wien, 1989, S. 531-550. Vortrag gehalten in Marburg im Januar 1914.

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erhöhtem Maße von dem Strome des psychischen Geschehens, von dem, was wir Erleben nennen, und das als solches uns nicht fremd gegenübersteht wie die sinnliche Welt, sondern seinem Wesen nach ichzugehörig ist, von den Zuständen, Akten, Funktionen des Ich. Dies Erleben, so gesichert es für uns seiner Existenz nach ist, so fern und schwer erfaßbar ist es uns in seiner qualitativen Struktur, in seiner Beschaffenheit. Was der normale Mensch von ihm erschaut, ja was er auch nur bemerkt, ist wenig genug; Freude und Schmerz, Liebe und Haß, Sehnsucht, Heimweh u. dgl., das stellt sich ihm wohl dar. Aber das sind schließlich nur grobgefaßte Ausschnitte aus einem unendlich nuancierten Gebiet. Auch das ärmste Bewußtseinsleben noch ist viel zu reich, als daß es sein Träger ganz erfassen könnte. Auch hier können wir schauen l e r n e n , auch hier ist es für den normalen Menschen in erster Linie die Kunst, die ihn erfassen lehrt, was er vorher übersehen hat. Nicht nur so ist es ja, daß durch die Kunst Erlebnisse in uns geweckt werden, die wir sonst nicht hatten; sondern auch das leistet sie, daß sie uns aus der Fülle des Erlebens das schauen läßt, was auch vorher schon da war, ohne daß wir doch von ihm wußten. Die Schwierigkeiten wachsen, wenn wir uns anderen Elementen zuwenden, die uns noch ferner stehen – der Zeit, dem Raum, der Zahl, den Begriffen, Sätzen u. dgl. Von all diesem reden wir, und wenn wir reden, sind wir auf es bezogen, wir m e i n e n es – aber in dieser Meinung stehen wir ihm noch unendlich fern – wir stehen ihm auch dann noch fern, wenn wir es d e f i n i t o r i s c h umgrenzt haben. Mögen wir auch die Urteilssätze abgrenzen, z.B. als das, was entweder falsch ist oder wahr – das Wesen des Satzes und des Urteilssatzes, das, was er ist, sein Was, ist uns dadurch nicht näher gekommen. Wollen wir das Wesen von Rot oder von Farbe erfassen, so brauchen wir schließlich nur hinzublicken auf irgendeine wahrgenommene oder phantasierte oder vorgestellte Farbe und an ihr, die uns als Einzelnes oder Wirkliches gar nicht interessiert, ihr So-Sein, ihr Was herauszuheben. Gilt es dann den Erlebnissen des Ich auf diese Weise näherzukommen, so sind die Schwierigkeiten erheblich größer – wir wissen wohl, es gibt so etwas wie Wollen oder Fühlen oder Gesinnungen, wir wissen auch, daß es, wie alles Seiende, zur adäquaten Erschauung gebracht werden kann – versuchen wir aber es zu erfassen, es in seiner spezifischen Eigenart uns nahezubringen, so weicht es zurück – es ist uns, als ob wir ins Leere griffen. Der Psychologe weiß, wie es

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jahrelanger Übung bedarf, um dieser Schwierigkeiten Herr zu werden. Vollends in den allerersten Anfängen aber stehen wir überall da, wo es sich um Ideelles handelt. Freilich – wir reden von Zahlen u. dgl., wir hantieren mit ihnen, und die Bezeichnungen und Regeln, die wir kennen, genügen uns durchaus, um die Ziele des praktischen Lebens zu erreichen. Aber ihrem Wesen stehen wir unendlich fern – und wenn wir ehrlich genug sind, uns nicht mit Definitionen zu beruhigen, die uns der Sache selbst um kein Haar näherbringen – dann müssen wir sagen, was der heilige Augustinus von der Zeit sagte: »Wenn du mich nicht fragst, was sie ist, dann glaube ich es zu wissen. Fragst du mich aber, dann weiß ich es nicht mehr.« Es ist ein schwerer und verhängnisvoller Irrtum, zu meinen, diese natürliche und so schwer zu überwindende Feme zu den Objekten werde aufgehoben durch die Wissenschaft. So ist es nicht. Manche Wissenschaften gehen ihrer Idee nach der direkten Wesensschau aus dem Wege – sie begnügen sich und dürfen sich begnügen mit Definitionen und Ableitungen aus den Definitionen; andere sind ihrer Idee nach zwar angewiesen auf eine direkte Wesenserfassung, aber sie haben sich in ihrer faktischen Entwicklung bisher dieser Aufgabe entzogen. Das prägnante, ja erschreckende Beispiel für die letzteren ist die Psychologie. Ich spreche nicht von ihr, sofern sie Gesetzeswissenschaft ist, insofern sie versucht, Gesetze des tatsächlichen realen Bewußtseinsablaufes aufzustellen – hier liegen die Dinge anders. Ich rede von dem, was man als deskriptive Psychologie bezeichnet, von der Disziplin, welche eine Inventarisierung des Bewußtseins erstrebt, eine Festlegung der Erlebnisarten als solcher. Es handelt sich dabei nicht um Existenzfeststellungen – das einzelne Erlebnis und sein Vorkommen in der Welt, an irgendeiner Stelle der objektiven Zeit, und seine Gebundenheit an einen räumlich lokalisierten Leib – das alles ist in dieser Sphäre gleichgültig. Nicht um Existenz, sondern um Essenz handelt es sich, um die möglichen Bewußtseinsarten als solche, gleichgültig, ob und wo und wann sie vorkommen. Gewiß wird man geltend machen, daß wir doch auch von den Erlebniswesenheiten nicht wissen könnten, wenn sie sich nicht in der Welt realisierten. Das ist nun in dieser Form nicht richtig, wir kennen ja doch auch Erlebnisarten, von denen wir wissen, daß sie sich in der von uns erfaßten Reinheit vielleicht nie in der Welt realisiert haben; aber selbst wenn es ganz richtig wäre, so könnte es uns doch nur daraufhinweisen, daß wir Menschen begrenzt sind

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in dem, was uns an Erlebnisarten zugänglich ist, begrenzt durch das, was uns selbst vergönnt ist zu erleben – aber eine Abhängigkeit der Wesenheiten selbst von ihrer eventuellen Realisation im Bewußtsein wird dadurch natürlich nicht statuiert. Blicken wir auf die faktisch vorliegende Psychologie, so sehen wir, daß es ihr noch nicht einmal gelungen ist, über ihre oberste und abgrenzende Wesenheit, über das Wesen des Psychischen selbst, zur Klarheit zu kommen. Es ist ja nicht so, daß sich der Gegensatz des Psychischen und Nicht-Psychischen erst konstituiert durch unser Bestimmen und Definieren, sondern es muß sich umgekehrt unser Bestimmen richten nach den letztgegebenen und vorgefundenen Wesensunterschieden. Seinem Wesen nach unterscheidet sich alles, was eingehen kann in den Strom unseres Erlebens, was dem Ich zugehört im eigentlichen Sinn, wie unser Fühlen, Wollen, Wahrnehmen u. dgl., von allem anderen, was dem Bewußtseinsstrome transzendent ist, was ihm ichfremd gegenübersteht, wie Häuser oder Begriffe oder Zahlen. Setzen wir den Fall, ich sehe einen materiellen farbigen Gegenstand in der Welt, dann ist der Gegenstand mit seinen Eigenschaften und Modalitäten etwas Physisches, meine Wahrnehmung des Gegenstandes aber, mein sich ihm Zuwenden und ihn Beachten, die Freude, die ich über ihn empfinde, meine Bewunderung, kurz alles, was sich darstellt als Betätigung oder Zuständlichkeit oder Funktion des Ich, alles das ist psychisch. Und nun die heutige Psychologie: sie behandelt Farben, Töne, Gerüche und dgl. – als ob wir es bei ihnen mit Bewußtseinserlebnissen zu tun hätten, als ob sie uns nicht ebenso fremd gegenüberstünden wie die größten und dicksten Bäume. Man versichert uns, Farben und Töne seien doch nicht wirklich, also subjektiv und psychisch; aber das sind doch nur dunkle Worte. Lassen wir die Wirklichkeit von Farben und Tönen dahingestellt – nehmen wir an, sie seien unwirklich –, werden sie etwa dadurch zu etwas Psychischem? Kann man den Unterschied von Essenz und Existenz so sehr verkennen, daß man das Absprechen der Existenz verwechselt mit einer Änderung der Essenz, der wesensmäßigen Beschaffenheit? Konkret gesprochen: Wird ein großes massives Haus mit fünf Stockwerken, das ich wahrzunehmen vermeine, dann, wenn sich diese Wahrnehmung als Halluzination herausstellt, wird dieses massive Haus etwa dann zu einem Erlebnis? So dürfen denn alle jene Untersuchungen über Töne und Farben und Gerüche usf. nicht als

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psychologische in Anspruch genommen werden – von den Forschem, die sich mit nichts anderem als mit den sinnlichen Qualitäten beschäftigen, muß man sagen, daß das eigentlich Psychische ihnen fremd geblieben ist, auch wenn sie sich Psycho-logen nennen. Freilich – das Sehen von Farben, das Hören von Tönen – das sind Funktionen des Ich, sie gehören zur Psychologie –, aber wie kann man das Hören von Tönen, das sein eigenes Wesen hat und seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, mit den gehörten Tönen verwechseln? Es gibt doch so etwas wie das undeutliche Hören eines starken Tones. Die Stärke gehört hier dem Tone zu, Deutlichkeit und Undeutlichkeit dagegen sind Modifikationen der Funktion des Hörens. Nicht alle Psychologen haben natürlich die Sphäre des Psychischen in dieser Weise verkannt – aber die Aufgaben der reinen Wesenserfassung sind nur von sehr wenigen begriffen worden. Man wollte von den Naturwissenschaften lernen, man wollte die Erlebnisse auf möglichst wenige »zurückführen«. Und doch ist schon diese Aufgabenstellung sinnlos. Wenn der Physiker Farben und Töne auf Schwingungen bestimmter Art zurückführt, so ist er auf reale Existenzen gerichtet, deren Tatsächlichkeit er erklären will. Lassen wir den tieferen Sinn des Zurückführens dahingestellt – auf Wesenheiten findet es gewiß keine Anwendung. Oder wollte man etwa das Wesen von Rot, das ich an jedem Fall von Rot erschauen kann, zurückführen auf das Wesen von Schwingungen, das doch ein evident anderes ist? Der deskriptive Psychologe hat es eben nicht mit T a t s a c h e n zu tun, nicht mit Erklärung von Existenzen und ihrer Rückführung auf andere. Vergißt er das, so entstehen jene Rückführungsversuche, die in Wahrheit eine Verarmung und Verfälschung des Bewußtseins sind. Dann kommt man dazu, als Grundwesenheiten des Bewußtseins etwa das Fühlen, Wollen und Denken hinzustellen oder das Vorstellen, Urteilen, Fühlen oder irgendeine andere unzureichende Teilung vorzunehmen. Und wenn man dann irgendeine Erlebnisart nimmt, eine von den unendlich vielen, die durch diese Einteilungen nicht gedeckt sind, dann muß sie umgedeutet werden in etwas, was sie doch nicht ist. Da haben wir etwa das Verzeihen, einen tiefliegenden und merkwürdigen Akt eigener Art – ein Vorstellen ist es gewiß nicht. Daher hat man versucht zu sagen, es sei ein Urteil – das Urteil, daß das zugefügte Unrecht doch nicht so schlimm oder überhaupt kein Unrecht sei –, also genau das, was ein sinnvolles Verzeihen überhaupt

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unmöglich macht. Oder man sagt, es sei das Aufhören eines Gefühles, das Aufhören des Zornes, als ob das Verzeihen nicht etwas Eigenes, Positives wäre, viel mehr als ein bloßes Vergessen oder Entschwinden. Deskriptive Psychologie soll nicht erklären und auf anderes z u r ü c k führen, sondern sie will a u f klären und h i n führen. Sie will das Was der Erlebnisse, dem wir an sich so ferne stehen, zur letzten anschaulichen Gegebenheit bringen, will es in sich selbst bestimmen und von anderem unterscheiden und abgrenzen. Damit ist freilich kein letzter Haltepunkt erreicht. Von den Wesenheiten gelten Gesetze, Gesetze von einer Eigenart und Dignität, die sie durchaus von allen empirischen Zusammenhängen und empirischen Gesetzmäßigkeiten unterscheiden. Die reine Wesenserschauung ist das Mittel, zur Einsicht und adäquaten Erfassung dieser Gesetze zu gelangen. Über sie aber möchte ich erst im zweiten Teil dieser Ausführungen reden. Wesenserschauung ist auch in anderen Disziplinen gefordert. Nicht nur das Wesen dessen, was beliebig oft sich realisieren kann, sondern auch das Wesen des seiner Natur nach Einzigen und Einmaligen erfordert eine Aufklärung und Analyse. Wir sehen den Historiker bemüht – nicht nur das Unbekannte ans Licht zu ziehen, sondern auch das Bekannte uns näher zu bringen, es seiner Natur nach zur adäquaten Anschauung zu bringen. Hier handelt es sich um andere Ziele und um andere Methoden. Aber wir sehen auch hier die großen Schwierigkeiten und die Gefahren des Ausweichens und des Konstruierens. Wir sehen, wie man immer wieder von Entwicklung spricht und die Frage nach dem Was dessen, was sich da entwickelt, außer acht läßt. Wir sehen, wie man ängstlich nach der U m g e b u n g einer Sache greift, um nur nicht sie selbst analysieren zu müssen, wie man die Frage nach dem Wesen einer Sache zu lösen glaubt durch Antworten über ihre Entstehung oder ihre Wirkung. Wie charakteristisch sind hier die häufigen Zusammenstellungen Goethe und Schiller, Keller und Meyer usf., charakteristisch für die hoffnungslosen Versuche, etwas durch das zu bestimmen, was es nicht ist. Daß eine direkte Erfassung des Wesens so ungewohnt und schwierig ist, daß sie für manchen unmöglich zu sein scheint, erklärt sich einmal aus der tiefeingewurzelten Einstellung des praktischen Lebens, die die Objekte mehr ergreift und mit ihnen hantiert, als daß sie sie kontemplativ anschaut und in ihr Eigensein eindringt. Es erklärt sich aber auch weiterhin daraus, daß manche wissenschaftlichen Disziplinen – im Gegensatz zu den bisher

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besprochenen – aller direkten Wesenserschauung p r i n z i p i e l l aus dem Wege gehen, und daß sie damit in allen, die sich ihnen widmen, eine tiefe Abneigung gegen jede direkte Wesenserfassung erzeugen. Ich nenne hier vor allem natürlich die Mathematik. Es ist der Stolz des Mathematikers, das nicht zu kennen, von dem er spricht – es seinem materialen Wesen nach nicht zu kennen. Ich zitiere Ihnen, wie David Hilbert die Zahlen einführt: »Wir denken ein System von Dingen, wir nennen diese Dinge Zahlen und bezeichnen sie mit a, b, c... Wir denken diese Zahlen in gewissen gegenseitigen Beziehungen, deren Beschreibung in den folgenden Axiomen geschieht« usw. »Wir denken ein System von Dingen, und wir nennen diese Dinge Zahlen, und wir geben dann ein System von Sätzen an, denen diese Dinge unterstehen sollen« – von dem Was, dem Wesen dieser Dinge ist keine Rede. Ja, sogar der Ausdruck »Ding« sagt noch zuviel. Er darf nicht im philosophischen Sinne genommen werden, in dem er eine bestimmte kategoriale Form bezeichnet; er steht nur für den allgemeinsten und absolut gehaltleersten Begriff des Etwas überhaupt. Von diesem Etwas wird nun allerhand ausgesagt, oder besser, es wird »angeschrieben«, z. B.: a + b = b + a, und aus diesem und einer Anzahl anderer Sätze wird nun, folgerichtig und zwingend, ohne jede Berührung mit dem Wesen von Gegenständen, in rein logischen Ketten ein System aufgebaut. Weiter kann man die Entfernung von den Objekten nicht treiben, als es hier geschieht -es wird prinzipiell verzichtet auf eine Einsicht in ihre Struktur, auf eine Evidenz für die letzten Grundgesetze – die Einsicht, die hier eine Rolle spielt, ist eine rein logische –, es ist die Evidenz etwa dafür, daß ein A, das B ist, C sein muß, wenn alle B C sind, ohne daß die Wesenheiten, die hinter dem A und B und C stehen, einer Untersuchung unterzogen werden. Die Axiome, die zugrunde gelegt werden, werden nicht in sich selbst geprüft und als bestehend verbürgt – das einzige Verbürgungsmittel der Mathematik, der Beweis, steht hier ja nicht zu Gebote. Es sind Ansetzungen, neben denen andere, entgegengesetzte möglich sind – man kann versuchen, auch auf den entgegengesetzten in sich widerspruchslose Systeme von Sätzen aufzubauen. Ja noch mehr. Der Mathematiker braucht die zugrunde gelegten Axiome nicht nur innerhalb seiner Disziplin nicht zu p r ü f e n – er braucht sie nicht einmal ihrem letzten materialen Gehalte nach zu verstehen. Was heißt denn eigentlich a + b = b + a, was ist der Sinn dieses

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Satzes? Der Mathematiker kann die Frage ablehnen. Die Möglichkeit der Zeichenkommutation genügt ihm. Erhalten wir darüber hinaus weitere Auskunft, so ist sie im allgemeinen nicht befriedigend. Auf die räumliche Anordnung von Zeichen auf dem Papier bezieht sich der Satz ja gewiß nicht. Aber auch auf die zeitliche Anordnung von psychischen Akten eines Subjektes kann er sich nicht beziehen – nicht darauf, daß es gleichgültig ist, ob ich oder irgendein Subjekt b zu a oder a zu b addiere. Denn wir haben da einen Satz, in dem von den Subjekten und ihren Akten und ihrem Verlauf in der Zeit in keiner Weise die Rede ist. Es handelt sich vielmehr darum, daß es gleichgültig ist, ob b zu a hinzutritt oder a zu b. Was aber dieses Hinzutreten bedeutet, da es doch kein räumliches oder zeitliches ist, das ist nun das Problem, ein Problem, das dem Mathematiker gleichgültig sein kann, das aber den Philosophen, der nicht bei den Zeichen bleiben darf, sondern vordringen muß zu dem Wesen dessen, was die Zeichen bezeichnen, auf das Intensivste beschäftigen muß. Oder nehmen Sie das Gesetz der Assoziation: a + (b + c) = (a + b) + c – der Satz hat doch einen Sinn, einen Sinn von äußerster Wichtigkeit sogar, und es handelt sich im letzten Grunde gewiß nicht darum, daß die Klammerzeichen verschieden angeschrieben werden können. Die Klammer hat doch eine Bedeutung, und diese Bedeutung muß erforschbar sein. Sie steht als Zeichen sicher nicht auf der gleichen Stufe wie das = oder das +; sie bedeutet keine Relation und keinen Vorgang, sondern gibt eine Anweisung in der Art und von dem Range, wie wir sie auch bei Interpunktionszeichen finden. Aber durch diese Anweisung, durch die Anweisung, bald dies, bald jenes zusammenzufassen und von anderem abzugrenzen, ändert sich doch die B e d e u t u n g des ganzen Ausdrucks, und gerade diese Bedeutungsänderung und ihre Möglichkeit gilt es zu begreifen, so fern ein solches Problem auch dem Mathematiker liegen mag. Das ist die Frage nach dem Sinn; daneben steht die Frage nach dem S e i n ; d.h. es gilt, sich zur Anschauung zu bringen und wenn möglich zur letztevidenten Einsicht zu bringen, ob die Ansetzung zu Recht besteht, ob das, was der Satz a + b = b + a zum Ausdruck bringt, sich als gültig und im Wesen der Zahlen gründend ausweisen kann. Gerade diese Erwägung liegt dem Mathematiker besonders fern. Er macht seine Ansetzungen und innerhalb verschiedener Systeme vielleicht widersprechende Ansetzungen. Er stellt etwa als Axiom auf, daß durch einen Punkt außerhalb einer

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Geraden eine und nur eine Gerade in derselben Ebene gezogen werden kann, die die erste Gerade nicht schneidet. Er könnte auch den Ansatz machen, daß durch den Punkt außerhalb der Geraden mehrere oder gar keine Gerade gezogen werden kann, und es läßt sich auch auf diesen Ansetzungen ein System in sich widerspruchsloser Sätze begründen. Der Mathematiker als solcher muß die Gleichwertigkeit aller dieser Systeme behaupten; für ihn gibt es nur die Ansetzungen und die logisch lückenlose und widerspruchslose Folge von Argumentationen, die sich auf ihnen aufbaut. Aber die Systeme sind nicht gleichwertig: Es g i b t ja so etwas wie Punkte und Geraden, wenn sie auch nicht realiter in der Welt existieren. Und wir können uns in Akten eigener Art diese Gebilde zur adäquaten Anschauung bringen. Tun wir es aber, dann sehen wir ein, daß durch einen Punkt außerhalb einer Geraden in der Tat eine Gerade in derselben Ebene gezogen werden kann, die die erste Gerade nicht schneidet, und daß es falsch ist, daß keine gezogen werden kann. Entweder also ist bei dieser zweiten Ansetzung mit den gleichen Ausdrücken etwas Verschiedenes verstanden. Oder es handelt sich um ein System von Sätzen, das auf einer nicht bestehenden Ansetzung aufgebaut ist, und das als solches natürlich auch einen Wert und besonders einen mathematischen Wert zu haben vermag. Versteht man unter Punkt und Gerade Dinge, die den betreffenden Axiomsystemen zu genügen haben, so ist nicht das geringste einzuwenden. Die Entfernung von jedem materialen Gehalt wird aber hier besonders deutlich. Aus der Eigenart der Mathematik wird die Eigenart des NurMathematikers begreiflich, der innerhalb der Mathematik gewiß Großes geleistet hat, der aber der Philosophie mehr geschadet hat, als es sich in kurzen Worten sagen läßt. Es ist der Typus, der nur ansetzt und aus den Ansetzungen beweist, und der damit den Sinn für das letzte und absolute Sein verloren hat. Er hat das Schauen verlernt, er kann nur noch beweisen. Gerade mit dem aber, was ihn n i c h t kümmert, hat es die Philosophie zu tun; darum auch ist eine Philosophie more geometrico beim Worte genommen ein absoluter Widersinn. Es kann ja im Gegenteil die Mathematik e r s t von der Philosophie her ihre letzte Aufklärung erfahren. In der Philosophie erst erfolgt die Erforschung der fundamentalen mathematischen Wesenheiten und der letzten Gesetze, die in ihnen gründen. Die Philosophie erst vermag dann auch von hier aus die Wege der

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Mathematik, die sich von dem anschaulichen Wesensgehalt so weit entfernen, um dann doch immer wieder zu ihm zurückzuführen, voll verständlich zu machen. Die erste Aufgabe für uns muß freilich sein, hier die Probleme erst wieder sehen zu lernen, durch das Dickicht der Zeichen und der Regeln, mit denen sich so trefflich hantieren läßt, vorzudringen zu dem sachlichen Gehalt. Über die negativen Zahlen z.B. haben die meisten von uns sich eigentlich nur als Kinder wirklich Gedanken gemacht – damals haben wir vor etwas Rätselhaftem gestanden. Dann hat man diese Zweifel beruhigt, zumeist mit recht anfechtbaren Gründen. Heute scheint bei vielen das Bewußtsein fast geschwunden zu sein, daß es zwar Zahlen gibt, daß aber der Gegensatz des Positiven und Negativen auf einer künstlichen Ansetzung beruht, deren Grundgesetz und Recht durchaus nicht leicht zu durchschauen ist – ähnlich wie die Ansetzung der juristischen Personen im bürgerlichen Recht. Wenn wir uns dazu bringen, wozu wir uns als Philosophen bringen müssen: durch alle Zeichen und Definitionen und Regeln durchzudringen zu den Sachen selbst, so wird sich uns sehr vieles anders darstellen, als man heute glaubt. Erlauben Sie mir, dafür ein einfaches und ziemlich leicht zu übersehendes Beispiel zu bringen. Die Einteilung der Zahlen in Ordinalund Kardinalzahlen ist heute allgemein akzeptiert – man ist nur darüber nicht einig, welches das Ursprüngliche ist, die Ordinalzahl oder die Kardinalzahl, oder ob wir überhaupt nicht die eine von ihnen als die ursprünglichere bezeichnen dürfen. Erklärt man die Ordinalzahl für das Ursprüngliche, so beruft man sich gewöhnlich auf Helmholtz und Kronecker, und es ist recht lehrreich für unsere Zwecke, dem nachzugehen, was diese Mathematiker eigentlich sagen. Kronecker führt aus, daß er den naturgemäßen Ausgangspunkt für die Entwicklung des Zahlbegriffes in den Ordnungszahlen findet, welche einen Vorrat geordneter Bezeichnungen darstellen, die wir einer bestimmten Menge von Objekten beilegen können. Es sei z.B. die Reihe der Buchstaben gegeben a, b, c, d, e; nun legen wir ihnen nacheinander die Bezeichnung als erster, zweiter, dritter, vierter und schließlich fünfter bei. Wollen wir die Gesamtheit der verwendeten Ordnungszahlen oder die Anzahl der Buchstaben bezeichnen, so benützen wir dabei die letzte der verwendeten Ordnungszahlen. Es sollte klar sein, daß Kronecker hier Zeichen einführt und nicht Zahlen. Und zwar führt er zunächst die Ordinalzeichen ein, weil er dann das letzte

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dieser Zeichen zur Bezeichnung der Anzahl verwenden kann. Für den Philosophen fangen die Probleme hier erst an. Wie ist es zu verstehen, daß das letzte Ordinalzeichen zugleich die Anzahl aller bezeichneten Etwasse angeben kann, was ist überhaupt die Ordinalzahl und was die Kardinalzahl? Gehen wir nun ein paar Schritte den Weg, der zu einer Aufklärung dieser Begriffe führt. Man hat die Frage nach dem Sinn der Zahlenaussage gestellt – genauer, man hat das Problem aufgeworfen, von wem wohl die Anzahl prädiziert wird. Es sind darauf sehr viele und sehr verschiedene Antworten gegeben worden – sehen wir uns einige derselben etwas näher an. Eine bedarf keiner langen Erwägung, das ist die Ansicht, die Mill aufgestellt hat: daß die Anzahl ausgesagt wird von den gezählten Dingen. Würde die Anzahl drei wirklich den gezählten Dingen zukommen, so wie etwa die rote Farbe ihnen zukommt, so wäre eben jedes von ihnen drei, so wie jedes von ihnen rot ist. Man hat daher gesagt: Nicht von den gezählten Dingen wird die Anzahl ausgesagt, sondern von dem Inbegriff, von der Menge, die sich aus den gezählten Dingen zusammensetzt, wird die Aussage gemacht. Aber auch das müssen wir bestreiten. Mengen können mancherlei Eigenschaften haben, je nach den Gegenständen, aus denen sie sich zusammensetzen, eine Menge von Bäumen kann einer anderen benachbart sein, eine Menge kann größere oder geringere Mächtigkeit besitzen, aber eine Menge kann nicht vier oder fünf sein. Gewiß – eine Menge kann vier oder fünf Gegenstände enthalten – dann wird aber doch dieses Enthalten der vier Gegenstände von ihr prädiziert, und nicht die Vier. Eine Menge, die vier Gegenstände enthält, ist ebensowenig vier, wie eine Menge, die lauter rote Gegenstände in sich enthält, darum selbst rot ist. Mag man die Vier der Menge zuordnen, wenn sie vier Elemente enthält -prädizieren kann man die Vier von ihr nicht; und da man sie, wie gezeigt, auch von den Gegenständen, die die Menge enthält, nicht prädizieren kann, kommen wir in eine schwierige Lage. Diese Schwierigkeiten haben Frege veranlaßt, die Anzahl aufzufassen als eine Aussage, die von einem B e g r i f f e gemacht wird. »Der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen«, das soll bedeuten, daß unter den Begriff der Pferde, die den Wagen des Kaisers ziehen, vier Gegenstände fallen. Natürlich wird dadurch nichts gebessert. Ausgesagt wird von dem Begriff, daß vier Gegenstände unter ihn fallen, nicht aber wird von ihm ausgesagt die Vier. Ein Begriff, der vier Gegenstände unter sich befaßt, ist

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ebensowenig vier, wie ein Begriff, der materielle Gegenstände unter sich befaßt, darum selbst materiell ist. Ich gehe auf die vielen anderen Versuche, das Problem zu lösen, nicht ein. In solchen Situationen ist für die Philosophie eine Frage selbstverständlich: Treten wir hier nicht schon an das Problem mit einem bestimmten Vorurteil heran? Zweifellos ist es hier so – das Vorurteil ist bereits in der Problemstellung als solcher enthalten. Man fragt nach dem Subjekt, von dem die Anzahl prädiziert wird -ja woher weiß man denn, daß die Anzahl überhaupt von etwas prädiziert wird –, kann man denn voraussetzen, daß jedes Element unseres Denkens prädizierbar sein muß? Sicher nicht. Wir brauchen nur ein einfaches Beispiel zu betrachten. Wir sagen z.B.: Nur A ist b – dem Nur entspricht in der Aussage ein wichtiges Element, aber es wäre offenbar durchaus verkehrt zu fragen, von wem das »nur« prädiziert wird. Das »nur« betrifft das A in bestimmter Weise, aber es kann weder von ihm prädiziert werden noch von irgendetwas anderem in der Welt. Und ebenso ist es, wenn wir sagen: Alle A sind b, oder: Einige A sind b usf. Alle diese kategorialen Elemente sind unprädizierbar; sie geben lediglich den Bereich eines Gegenständlichen an, welches von einer Prädikation, dem b-sein, betroffen wird. Von hier aus fällt auch Licht auf die Anzahl. Zweierlei gilt von ihr. Sie ist an und für sich unprädizierbar. Und ferner: Sie setzt eine Prädikation voraus, insofern sie den quantitativen Bereich von Etwassen, die Vielheit von Etwassen bestimmt, die von einer Prädikation betroffen werden. Die Anzahl antwortet nicht auf die Frage: wieviel, sondern auf die Frage: wieviel A sind b? Das ist für die Kategorienlehre von der äußersten Wichtigkeit. Insofern die anzahlenmäßige Bestimmtheit ein prädikatives Betroffensein von Etwassen voraussetzt, liegt sie in einer ganz anderen Sphäre als etwa die Kategorie der Kausalität – sie liegt in einer Sphäre, die wir später als die des Sachverhaltes kennenlernen werden. Im übrigen ergeben sich weitere Differenzierungen von hier aus sehr leicht. Z.B. ist es möglich, daß die Prädikation, um die es sich handelt, jeden einzelnen der Gegenstände trifft, deren Bereich sie bestimmt, oder diese Gegenstände nur insgesamt. Sagen wir, fünf Bäume sind grün, so ist gemeint, daß jeder einzelne der Bäume grün ist. Sagen wir dagegen: vier Pferde genügen, um den Wagen zu ziehen, so genügt gewiß nicht jedes Pferd. Solche Unterschiede können nur verständlich werden von der hier vertretenen Auffassung der Anzahl aus, nach der sie, wie gesagt, selbst nicht

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prädizierbar ist, aber die Prädikationsbetroffenheit von Etwassen voraussetzt, deren Bereich sie dann bestimmt. – Dies muß uns hier zur Bestimmung der Anzahl genügen. Nun aber soll es noch eine andere Art von Zahlen geben, die Ordinalzahlen; rücken wir nun auch denen etwas näher auf den Leib. Die Anzahl stellte sich als nicht prädizierbar heraus; dagegen scheint auf den ersten Blick die Prädizierbarkeit der Ordinalzahl keinem Zweifel zu unterliegen. Offenbar werden sie doch ausgesagt, und zwar immer von einem Gliede einer geordneten Menge, sie scheinen diesem Gliede seine Stelle innerhalb der Menge anzuweisen. Es liegt nahe, zu sagen: Die Ordinalzahl ist dasjenige, was die jeweilige Stelle von Elementen geordneter Mengen bestimmt. Aber gerade das hält nicht stand, wenn wir nun die Worte und Zeichen verlassen und uns den Sachen selber zuwenden. Wie steht es denn eigentlich mit den Gliedern der Reihe und ihrer Stelle? Wir haben zunächst das eröffnende Glied, das erste Glied der Reihe, und ihm korrespondierend das abschließende Glied, das letzte. Dann haben wir eines, das auf das erste folgt, dann eines, das auf das dem ersten folgende folgt usw. So läßt sich die Stelle eines jeden Gliedes bestimmen durch stete Rückbeziehung auf das die Reihe eröffnende Glied. Von einer Zahl oder etwas Zahlenmäßigem ist bis jetzt gar keine Rede, Man weise doch ja nicht darauf hin, daß wir von dem ersten Glied reden – das erste hat doch mit der eins genausowenig zu tun wie das letzte mit der Fünf oder Sieben. Und weiter: Es gibt doch absolut nichts mehr in der Reihe, keine Eigenart der Reihenglieder als solcher, nichts Zahlenartiges, was von uns noch herauszuholen wäre. Die Elemente haben ihre Stelle in der Reihe, diese Stelle läßt sich durch die Folgerelation auf das eröffnende Glied bestimmen - von Zahlen ist keine Rede. Aber wenn es so ist, wie kommen dann jene Ordinalbezeichnungen, die doch immerhin an Zahlen erinnern, zustande? Sehr einfach. Die Stellenbezeichnungen von vorhin waren ziemlich kompliziert. Schon das Glied c muß bezeichnet werden als das dem auf das erste Glied folgenden folgende Glied – das wird schließlich unerträglich, man muß auf eine bequemere Bezeichnungsweise sinnen. Nun bestehen natürlich Beziehungen zwischen der Menge und ihren Gliedern und den Anzahlen – wohlgemerkt den A n z a h l e n . Die Reihe enthält eine Anzahl von Gliedern und ebenso jeder Teil der Reihe. Das Glied c ist dasjenige Glied, bis zu dem die Reihe drei Glieder enthält, wir

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nennen es deshalb das dritte, ebenso ist d das vierte, und so können wir jedem Glied der Reihe eine solche Bezeichnung zuordnen, weil die Reihe bis zu jedem Glied eine bestimmte und immer verschiedene Anzahl von Gliedern enthält. Nun aber sehen Sie die Verwirrung, die das Verbleiben in den Zeichen angerichtet hat. Neben den Anzahlen, den Kardinalzahlen, soll es eine zweite Art von Zahlen, Ordinalzahlen, geben – wo sind die denn? -, wir können suchen, soviel wir wollen, wir werden sie nicht finden. Es gibt die Anzahlen und die Anzahlbezeichnungen, und es gibt ferner Ordinalbezeichnungen, welche mit Hilfe von Kardinalzahlen die Stelle von Elementen geordneter Mengen bestimmen können. Aber Ordinalzahlen gibt es nicht. Die Philosophie hat sich verblüffen lassen, weil sie mit blinden Augen den Zeichengebungen des Mathematikers folgte und damit Wort und Sache verwechselte. Ist man doch so weit gegangen, die Kardinalzahl aus der Ordinalzahl ableiten zu wollen, d.h. die Anzahl abzuleiten aus einer Bezeichnungsweise, welche zudem noch die Anzahl zur Voraussetzung hat. Was nun diese Bezeichnungsweise anbelangt, so darf man sich natürlich nicht verleiten lassen, die Wortbezeichnungen den Zifferbezeichnungen ohne weiteres gleich zu setzen. Die Wortbezeichnungen bedienen sich ja durchaus nicht durchgehend der Anzahl – das erste ist nicht das einste –, ob es eine sprachliche Bildung gibt, in der es zum Ausdruck gelangt, daß das eröffnende Glied zugleich dasjenige ist, bis zu dem die Reihe ein Glied enthält, weiß ich nicht. Auch das auf das erste folgende Glied braucht nicht mit Hilfe der Anzahl bezeichnet zu werden – wir sagen zwar das zweite, der Lateiner aber sagt secundus. Nicht alle Ordinalbezeichnungen sind also Ordinalzahlbezeichnungen – die weitere Untersuchung muß natürlich dem Sprachwissenschaftler überlassen bleiben. [II.] Wenn wir Wesensanalysen erstreben, so werden wir naturgemäß ausgehen von Worten und ihren Bedeutungen. Es ist kein Zufall, daß Husserls »Logische Untersuchungen« mit einer Analyse der Begriffe Wort, Ausdruck, Bedeutung usw. beginnen. Zunächst gilt es der kaum glaublichen Äquivokationen Herr zu werden, welche sich insbesondere in der philosophischen Terminologie finden. Husserl hat 14 verschiedene

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Bedeutungen des Begriffes Vorstellung herausgestellt, und er hat damit keineswegs alle erschöpft, welche in der Philosophie – meist ungeschieden – eine Rolle spielen. Man hat diesen Bedeutungsunterscheidungen den Vorwurf der Spitzfindigkeit und Scholastik gemacht; sehr mit Unrecht. Eine kleine und in sich selbstverständliche Scheidung kann dazu führen, ganze philosophische Theorien umzustürzen – wenn nämlich der betreffende große Philosoph sie nicht beachtet hat; gerade der Terminus Vorstellung oder auch der Terminus Begriff mit seinen zahlreichen und grundverschiedenen Bedeutungen sind lehrreiche Beispiele dafür. Ferner aber – und diesen Gesichtspunkt haben wir uns jetzt erarbeitet: Die Bedeutungsanalyse kann nicht nur dazu führen, Scheidungen zu machen, sondern auch dazu, ungerechtfertigte Scheidungen aufzuheben. Daß die junge Phänomenologie zuerst den unendlichen Reichtum dessen anstaunte, was man bisher weggedeutet oder übersehen hatte, das ist begreiflich. Sie wird aber in ihrem Fortgange auch manches fortzuschaffen haben, was man als Eigengebilde fälschlich in Anspruch nimmt – ein Beispiel dafür scheinen mir eben die Ordinalzahlen zu sein. Im übrigen brauche ich nicht mehr besonders zu betonen, daß die Wesensanalyse, die wir fordern, sich keineswegs in Bedeutungsuntersuchungen erschöpft. Auch wenn wir an Worte und Wortbedeutungen anknüpfen, soll uns das nur hinführen zu den Sachen selbst, die es aufzuklären gilt. Es ist aber auch der direkte Zugang zu den Sachen möglich, ohne die Anleitung durch die Bedeutung der Worte – es soll ja nicht nur das bereits Intendierte aufgeklärt, sondern es sollen auch neue Wesenheiten entdeckt und zur Erschauung gebracht werden. Es ist gewissermaßen der Schritt von Sokrates zu Platon, der hier in Frage steht. Bedeutungsanalyse hat Sokrates getrieben, wenn er in den Straßen Athens seine Fragen stellte: Du redest doch von diesem oder jenem; was meinst du damit? Hier gilt es, die Unklarheit und die Widersprüche des Bedeuteten aufzuhellen – ein Verfahren, das übrigens mit Definition oder gar mit Induktion wirklich nichts zu tun hat. Platon dagegen geht nicht aus von Wort und Bedeutung, sein Ziel ist die direkte Erschauung der Ideen, die unvermittelte Erfassung der Wesenheiten als solcher. Ich habe schon angedeutet, daß die Wesensanalyse kein letztes Ziel ist, sondern ein Mittel. Von den Wesenheiten gelten Gesetze, und diese Gesetze sind unvergleichlich mit allen Tatsachen und allen

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Tatsachenzusammenhängen, von denen uns die sinnliche Wahrnehmung Kunde verschafft. Sie gelten von den Wesenheiten als solchen, kraft ihres Wesens – in ihnen haben wir kein zufälliges So-Sein, sondern ein notwendiges So-sein-Müssen und dem Wesen nach Nicht-anders-seinKönnen. Daß es diese Gesetze gibt, gehört zum Wichtigsten in der Philosophie und – wenn wir es bis zum Ende durchdenken – zum Wichtigsten in der Welt überhaupt. Sie in ihrer Reinheit darzustellen, ist daher eine bedeutsame Aufgabe der Philosophie – aber es kann nicht geleugnet werden, daß sie diese Aufgabe nicht erfüllt hat. Wohl hat man das Apriori immer anerkannt – Platon hat es entdeckt, und seitdem ist es aus dem Blickfeld der Geschichte der Philosophie nicht mehr entschwunden; aber es ist mißverstanden und eingeschränkt worden, auch von denen, die seine Berechtigung vertreten haben. Zwei Vorwürfe müssen wir vor allem erheben: den der Subjektivierung des Apriori und den seiner willkürlichen Einschränkung auf wenige Gebiete, da doch sein Herrschaftsbereich sich auf schlechthin alle erstreckt. Von seiner Subjektivierung soll zunächst die Rede sein. In einem Punkte ist man stets einig gewesen: Apriorische Erkenntnisse sind nicht aus der Erfahrung geschöpft. Für uns ergibt sich das aus unseren früheren Erwägungen ohne weiteres. Erfahrung bezieht sich als sinnliche Wahrnehmung zunächst auf das Einzelne, auf das Diesda, und sucht es als dieses zu erfassen. Was erfahren sein will, das bemüht das Subjekt gleichsam zu sich heran: die sinnliche Wahrnehmung ist ja ihrem Wesen nach nur möglich von irgendeinem Punkte aus; und wo wir Menschen wahrnehmen, da muß dieser Ausgangspunkt der Wahrnehmung in der näheren Umgebung des Wahrgenommenen sich befinden. Bei dem Apriori dagegen handelt es sich um Wesensschau und Wesenserkenntnis. Um das Wesen zu erfassen aber, dazu bedarf es keiner sinnlichen Wahrnehmung, hier handelt es sich um anschauliche Akte ganz anderer Art, die jederzeit vollzogen werden können, wo immer auch das vorstellende Subjekt sich befinden mag. Davon, daß – um ein ganz einfaches und triviales Beispiel zu nehmen – Orange seiner Qualität nach zwischen Rot und Gelb liegt, kann ich mich jetzt in diesem Augenblicke mit aller Sicherheit überzeugen, wenn es mir nur gelingt, die entsprechenden Washeiten mir zur klaren Anschauung zu bringen, ohne daß ich angewiesen wäre auf irgendeine sinnliche Wahrnehmung, die mich an irgendeinen Ort der Welt führen müßte, wo ein

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Fall von Orange, Rot und Gelb zu finden wäre. Nicht nur darum handelt es sich – wie man so oft sagt –, daß man nur einen einzigen Fall wahrzunehmen braucht, um an ihm die apriorische Gesetzmäßigkeit zu erfassen; man braucht in Wahrheit auch den einzelnen Fall nicht wahrzunehmen, nicht »zu erfahren«, man braucht überhaupt nichts wahrzunehmen, die reine Imaginierung genügt. Wo auch immer in der Welt wir uns befinden, überall und immer steht uns der Zugang offen in die Welt der Wesenheiten und ihrer Gesetze. Gerade hier aber an diesem unbestreitbaren Punkte haben die verhängnisvollsten Mißverständnisse eingesetzt. Was uns nicht in der sinnlichen Wahrnehmung gleichsam von außen entgegentritt, scheint »im Innern« vorhanden sein zu müssen. So werden die apriorischen Erkenntnisse zu Besitztümern der Seele gestempelt, zum- wenn auch nur virtuell – Eingeborenen, auf welches das Subjekt nur den Blick zu richten braucht, um seiner mit zweifelloser Sicherheit inne zu werden. An Erkenntnisbesitz sind nach diesem eigenartigen und historisch so wirksamen Bild der menschlichen Erkenntnis alle Menschen im letzten Grunde gleich. Nur in der Art der Hebung des gemeinsamen Schatzes unterscheiden sie sich. Manche leben und sterben, ohne von ihrem Reichtum etwas zu ahnen. Wird aber eine apriorische Erkenntnis ans Licht gezogen, so kann sich niemand ihrer Einsicht entziehen. Ihr gegenüber gibt es Entdeckung oder NichtEntdeckung, niemals aber Täuschung und Irrtum. Für diesen Standpunkt ist das pädagogische Ideal der platonische Sokrates, so wie ihn die Aufklärungsphilosophie faßte: der dem Sklaven durch bloßes Ausfragen die mathematischen Wahrheiten entlockt, an die nur eine Erinnerung geweckt zu werden braucht. Ein Ausläufer dieser Auffassung ist die Lehre von dem consensus omnium als der unzweifelhaften Bürgschaft für die obersten Grundsätze der Erkenntnis. Ein Ausläufer von ihr ist ferner auch die Rede von den apriorischen Erkenntnissen als Notwendigkeiten unseres Denkens, als ein Ausfluß des So-denken-Müssens und Nicht-andersdenken-Könnens. Aber das alles ist grundfalsch – und der Empirismus hat solchen Auffassungen gegenüber einen leichten Stand. Apriorische Zusammenhänge bestehen, gleichgültig, ob alle oder viele oder überhaupt keine Menschen oder andere Subjekte sie anerkennen. Sie sind allgemeingültig höchstens in dem Sinne, daß jeder, der richtig urteilen will, sie anerkennen muß. Aber das ist nicht nur den apriorischen Wahrheiten,

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sondern allen Wahrheiten überhaupt eigentümlich. Auch die höchst empirische Wahrheit, daß irgendeinem Menschen in irgendeinem Zeitpunkt ein Stück Zucker süß schmeckt, auch diese Wahrheit ist allgemeingültig in diesem Sinne. Ganz und gar abweisen aber müssen wir den Begriff der Denknotwendigkeit als wesentliches Merkmal des Apriorischen. Wenn ich mich frage, was früher gewesen ist, der Dreißigjährige oder der Siebenjährige Krieg, so verspüre ich eine Notwendigkeit, den ersteren als früher zu denken, und doch handelt es sich um eine e m p i r i s c h e Erkenntnis. Dagegen hat, wer immer einen apriorischen Zusammenhang negierte, wer den Satz des Widerspruchs leugnete oder den Satz von der eindeutigen Bestimmtheit alles Geschehens nicht gelten ließ, offenbar keine Denknotwendigkeit verspürt. Was sollen denn alle diese psychologistischen Verfälschungen! Gewiß spielt die Notwendigkeit bei dem Apriori eine Rolle – nur ist es keine Notwendigkeit des Denkens, sondern eine Notwendigkeit des Seins. Blicken wir nun auf diese Seinsverhältnisse hin. Ein Gegenstand liegt irgendwo im Raum neben einem ändern – das ist ein zufälliges Sein, zufällig in dem Sinne, daß die beiden Gegenstände ihrem Wesen nach auch voneinander entfernt sein könnten. Dagegen aber: Die Gerade ist die kürzeste Verbindungslinie zweier Punkte – hier hat es keinen Sinn zu sagen, es könne auch anders sein; es gründet ja im Wesen der Geraden als Geraden, die kürzeste Verbindungslinie zu sein – wir haben hier ein notwendiges So-Sein. Das ist also das Wesentliche: Apriorisch sind die Sachverhalte, sie sind es, insofern die Prädikation in ihnen, das b-Sein etwa, gefordert ist durch das Wesen des A, insofern es in diesem Wesen notwendig gründet. Sachverhalte aber bestehen, gleichgültig, welches Bewußtsein sie erfaßt und ob überhaupt ein Bewußtsein sie erfaßt. Das Apriori hat an und für sich mit dem Denken und Erkennen auch nicht das mindeste zu tun. Das gilt es in aller Schärfe einzusehen. Hat man es aber eingesehen, dann kann man auch die Scheinprobleme vermeiden, die man beim Apriori aufgestellt hat, und die in der Geschichte der Philosophie zu den wunderlichsten Konstruktionen geführt haben. Apriorische Zusammenhänge finden Anwendung z.B. auf das Geschehen in der Natur. Faßt man sie als Denkgesetze auf, so fragt es sich, wie diese Anwendung möglich ist, wie es kommt, daß die Natur den Gesetzen unseres Denkens Folge leistet, ob wir hier eine rätselhafte prästabilierte Harmonie annehmen sollen, oder ob

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es etwa so ist, daß die Natur auf ein Eigen- und Ansichsein keinen Anspruch machen kann, ob sie in irgendeiner funktionellen Abhängigkeit von denkenden und setzenden Akten zu denken ist. In der Tat – warum Natur sich den Gesetzen unseres Denkens fügen sollte, ist nicht einzusehen. Aber um Gesetze des Denkens handelt es sich ja in Wahrheit gar nicht. Es handelt sich darum, daß es im Wesen von etwas gründet, so oder so zu sein oder sich zu verhalten – ist es dann wunderbar, daß alles, was teilhat an diesem Wesen, von derselben Prädikation getroffen wird? Sprechen wir konkret und möglichst einfach. Wenn es im Wesen der Veränderung gründet, in eindeutiger Abhängigkeit zu stehen von zeitlich vorangehenden Vorgängen – wenn wir es nicht so denken müssen, sondern wenn es so s e i n muß, ist es dann wunderbar, daß das nun auch von jeder einzelnen konkreten Veränderung in der Welt gilt? Ich denke, es wäre unbegreiflich, wenn es anders wäre, oder besser gesagt: es kann evidenterweise nicht anders sein. Wenn man die Eigenart apriorischer Zusammenhänge in sich selbst festgestellt hat – als Formen von Sachverhalten, nicht als Formen des Denkens –, dann erst kann man als zweites Problem die Frage aufwerfen, wie uns diese Sachverhalte eigentlich zur Gegebenheit kommen, wie sie gedacht oder besser erkannt werden. Man hat von der unmittelbaren Evidenz des Apriori gesprochen im Gegensatz zur Nicht-Evidenz des Empirischen. Aber dieser Gegensatz ist nicht haltbar. Was man will, ist ja klar. Daß das, was mir in der sinnlichen Welt als bestehend und existierend entgegentritt, wirklich besteht und existiert, dafür haben wir in dem Wahmehmungsakte selbst wohl einen Anhalt, aber keine unwiderlegliche Bürgschaft. Die Möglichkeit, daß die Häuser und Bäume, die ich wahrnehme, nicht existieren, bleibt diesem Wahrnehmen gegenüber immer offen – eine letzte absolute Evidenz gibt es hier nicht. Wenn man also sagen wollte, daß Urteile über reale Existenz des Physischen nicht auf letzte Evidenz Anspruch machen können, so hätte man ganz recht; aber man sagt es ganz allgemein von empirischen Urteilen, und da hat man unrecht. Nehmen wir einmal an, daß die Wahrnehmung des Hauses, von der ich eben gesprochen habe, eine Täuschung sei, daß das wahrgenommene Haus also nicht existiert, so bleibt es doch natürlich dabei, daß ich eine solche, wenn auch trügerische Wahrnehmung gehabt habe – wie könnte ich sonst von einer Täuschung überhaupt reden? Das

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Urteil »ich sehe ein Haus« besitzt im Gegensatz zu dem Urteil »dort steht ein Haus« letzte unwiderlegliche Evidenz; es ist selbstverständlich ein empirisches Urteil, es gründet ja nicht im Wesen des Ich, daß es ein Haus sieht – also ist mangelnde letzte Evidenz k e i n Kennzeichen empirischer Erkenntnisse. Nur das eine ist richtig, daß a l l e a p r i o r i s c h e n Erkenntnisse ohne Ausnahme einer unwiderleglichen Evidenz, d. h. einer letztgebenden Anschauung ihres Gehaltes fähig sind. Was im Wesen von Objekten gründet, kann in der Wesenserschauung zur letzten Gegebenheit gebracht werden. Gewiß gibt es apriorische Erkenntnisse, die nicht in sich selbst erkannt werden können, sondern einer Ableitung aus anderen bedürfen. Auch diese aber führen schließlich zurück auf letzte in sich selbst einsichtige Zusammenhänge. Man wird diese gewiß nicht blind hinnehmen, nicht auf einen fabelhaften consensus omnium bauen oder auf eine mystische Denknotwendigkeit – nichts liegt gerade der Phänomenologie ferner als das; sie müssen vielmehr zur Aufklärung gebracht werden, zur letztanschaulichen Gegebenheit, und gerade das betonen wir ja, daß es dazu einer eigenen Bemühung und Methodik bedarf. Aber mit aller Strenge müssen wir den Versuch bekämpfen, die letzten apriorischen Zusammenhänge wiederum rechtfertigen zu wollen, ihr Recht erweisen zu wollen aus anderem; den Versuch, die absolut klaren und einsichtigen Quellen der Erkenntnis durch den Hinweis auf uneinsichtige Fakta zu begründen, die doch selbst erst durch jene begründet werden können. Hier scheint mir wieder das sich geltend zu machen, wovon wir schon sprachen, die Angst davor, die letzten Zusammenhänge selbst ins Auge zu fassen, das blinde Greifen nach anderem, das es stützen soll – als ob nicht auch ein solcher Begründungsversuch, wenn er nicht ganz willkürlich sein soll, sich schließlich auf letzteinsichtige Zusammenhänge stützen müßte. Ich habe mich bisher gegen die Subjektivierung des Apriori gewandt – nicht weniger schlimm ist das, was ich vorhin die V e r a r m u n g des Apriori genannt habe. Es gibt wenig Philosophen, die die Tatsache des Apriori nicht in irgendeiner Weise anerkannt hätten, aber es gibt keinen, der sie nicht irgendwie reduziert hätte auf eine kleine Provinz ihres wirklichen Gebietes. Hume zählt uns einige Ideenrelationen auf – es s i n d apriorische Zusammenhänge; aber warum er sie auf R e l a t i o n e n beschränkt und noch dazu auf einige wenige, ist nicht ersichtlich. Und vollends die Eingeschränktheit, in der Kant das Apriori gefaßt hat, mußte

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der nachfolgenden Philosophie verhängnisvoll werden. In Wahrheit ist das Gebiet des Apriori unübersehbar groß; was immer an Objekten wir kennen, sie alle haben ihr »Was«, ihr »Wesen«, und von allen Wesenheiten gelten Wesensgesetze. Es fehlt jedes, aber auch jedes Recht dazu, das Apriori auf das Formale in irgendeinem Sinne zu beschränken, auch von dem Materialen, ja dem Sinnlichen, von Tönen und Farben gelten apriorische Gesetze. Damit öffnet sich der Forschung ein Gebiet, so groß und so reich, daß wir es heute noch gar nicht übersehen können. Lassen Sie mich nur einiges wenige erwähnen. Unsere Psychologie ist so stolz darauf, empirische Psychologie zu sein. Die Folge ist, daß sie den ganzen Bestand von Erkenntnissen vernachlässigt, der im Wesen der Erlebnisse, im Wesen des Wahrnehmens und Vorstellens, des Urteilens, Fühlens, Wollens usw. gründet. Stößt sie auf solche Gesetze, so werden sie zu empirischen mißdeutet. Ich nenne Ihnen als klassisches Beispiel David Hume. Da ist am Beginn seines Hauptwerkes von Wahrnehmung und Vorstellung die Rede, und es wird gesagt, daß jeder Wahrnehmung eine Vorstellung desselben Gegenstandes entspricht -das ist für Hume eine der Grundstützen seiner Philosophie. Aber wie sollen wir diesen Satz auffassen? Ist gemeint, daß in jedem Bewußtsein, in dem die Wahrnehmung eines Gegenstandes vollzogen wird, auch eine Vorstellung desselben Gegenstandes sich realisieren muß? Das wäre ein sehr bedenklicher Satz; wir nehmen doch sicher sehr vieles wahr, das wir dann nicht vorstellen, das möglicherweise überhaupt niemand jemals vorstellt; jedenfalls haben wir gar kein Recht dazu, das Gegenteil zu behaupten. Aber wie kommt dann Hume dazu, einen solchen Satz an die Spitze seiner Ausführungen zu stellen, woher erwächst dem Satz die überzeugende Kraft, die er doch h a t ? Natürlich ist es richtig, daß es zu jeder Wahrnehmung eine entsprechende Vorstellung gibt und umgekehrt – in dem Sinne etwa, wie es zu jeder Geraden einen Kreis gibt, dessen Radius sie ist. Nicht um reale Existenz handelt es sich, nicht um ein Vollzogenwerden im empirischen Bewußtsein, sondern um eine ideelle Zuordnung. Und so ist auch der Zusammenhang, den Hume als empirisch behauptet, in Wahrheit ein apriorischer, gründend im Wesen von Wahrnehmung und Vorstellung. Ähnlich steht es mit dem zweiten Satz, der ein Fundament der Humeschen Erkenntnistheorie bildet: daß jede Vorstellung ihren Elementen nach eine frühere Wahrnehmung desselben Subjektes voraussetzt, daß wir also nur das vorstellen können, was wir

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seinen Elementen nach bereits früher wahrgenommen haben. Der Satz führt auf schwierige Probleme – eines aber ist von vornherein sicher, er kann nicht e m p i r i s c h e r Natur sein. Wie wollen wir wissen, ob das neugeborene Kind zuerst Wahrnehmungen hat oder Vorstellungen? Man darf nicht sagen: S e l b s t v e r s t ä n d l i c h muß es erst wahrgenommen haben, bevor es vorstellen kann – gerade wo man solche »Selbstverständlichkeiten« in Anspruch nimmt, müssen wir einhaken, sie weisen allemal auf Wesenszusammenhänge hin, die nun der wissenschaftlichen Aufklärung harren. Bisher waren wir noch bei peripheren Erlebnissen, in den tieferen psychischen Schichten ist es aber nicht anders. Denken Sie vor allen Dingen an die Motivationszusammenhänge, denen wir im praktischen Leben und auch in den historischen Disziplinen mit solcher Selbstverständlichkeit nachgehen. Wir v e r s t e h e n es, daß aus dieser oder jener Gesinnung, aus diesem Erleben diese oder jene Handlung entspringen konnte oder entspringen mußte. Hier ist es doch nicht so, daß wir so und so oft die Erfahrung gemacht haben, daß Menschen bei gewissen Erlebnissen in dieser oder jener Intention gehandelt haben, und daß wir nun sagen: nun wird also vermutlich auch dieser Mensch so handeln. Wir verstehen doch, daß es so ist und so sein muß, wir verstehen es aus dem motivierenden Erlebnis heraus – bei einem nackten empirischen Faktum aber gibt es doch kein Verständnis. Der Historiker, der einem Motivationszusammenhang einfühlend nachgeht, der Psychiater, der einen Krankheitsprozeß verfolgt, sie alle verstehen – auch dann, wenn ihnen die betreffende Entwicklung zum ersten Male entgegentritt, sie lassen sich durch Wesenszusammenhänge leiten, auch wenn sie diese Wesenszusammenhänge nie formuliert haben und gar nicht formulieren können. Hier besteht der Zusammenhang zwischen Psychologie und Geschichte, von dem man so viel gesprochen hat – der Zusammenhang, der aber nicht die empirische Psychologie betrifft, sondern die apriorische, deren Inangriffnahme Sache der Zukunft ist. Die empirische Psychologie ist keineswegs unabhängig von der apriorischen. Die Gesetze, die im Wesen der Wahrnehmung und Vorstellung, des Denkens und Urteilens gründen, sie sind ständig vorausgesetzt, wenn der empirische Verlauf dieser Erlebnisse im Bewußtsein erforscht wird. Heute entnimmt der Psychologe diese Gesetze den dunklen Vorstellungen des natürlichen Lebens, sie gehören zu jenem

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Bereich von trüben Selbstverständlichkeiten, die ihn nicht weiter kümmern. Und doch könnte eine durchgeführte psychologische Wesenslehre für die empirische Psychologie eine ähnliche Bedeutung gewinnen, wie sie die Geometrie für die Naturwissenschaften besitzt. Denken Sie an die Assoziationsgesetze. Wie hat man ihren eigentlichen Sinn mißverstanden! Ihre Formulierung ist häufig ja direkt falsch. Es ist nicht richtig, daß, wenn ich zu gleicher Zeit A und B wahrgenommen habe, und ich nun A vorstelle, eine Tendenz besteht, auch B vorzustellen. Ich muß A und B zusammen wahrgenommen haben in einer phänomenalen Einheit – und sei es auch nur die loseste Beziehung, damit jene Tendenz verständlich wird. Wo immer zwei Gegenstände in einer Relation uns erscheinen, knüpft sich eine Assoziation; und weiter: Handelt es sich dabei um eine in den Ideen selbst gründende Relation wie Ähnlichkeit oder Kontrast, dann ist selbst ein solches vorhergehendes Erscheinen nicht notwendig, dann führt die Vorstellung eines A schon als solche zur Vorstellung des ihr ähnlichen oder kontrastierenden B, ohne daß ich jemals A und B zusammen wahrgenommen zu haben brauche. Es ist ganz willkürlich, wenn man der Assoziation ein paar bestimmte Relationen zugrunde legt, wie es heute geschieht, z.B. räumliche oder zeitliche Kontiguität oder Ähnlichkeit. Jede Relation ist ja fähig, Assoziationen zu stiften. Vor allem aber handelt es sich da nicht um empirisch aufgesammelte Fakten, sondern um verstehbare und im Wesen der Sache gründende Zusammenhänge. Freilich ist es eine neue Art von Wesenszusammenhängen, die uns hier entgegentritt, keine Notwendigkeits-, sondern Möglichkeitszusammenhänge. Es ist uns verständlich, daß die Vorstellung eines A zur Vorstellung eines ihm ähnlichen B führen kann, nicht daß sie führen muß. Ebenso sind ja auch die Motivationszusammenhänge zum großen Teil solche, bei denen es sich um ein dem Wesen nach So-sein-Können, nicht um ein So-sein-Müssen handelt. Wie eine Wesenslehre des Psychischen, so ist auch eine Wesenslehre der Natur gefordert; man muß freilich dabei die spezifisch naturwissenschaftliche Einstellung aufgeben, die ja ganz bestimmte Zwecke und Ziele verfolgt, so schwer uns das auch gerade hier fällt. Wir müssen es auch hier über uns gewinnen, die Phänomene rein zu erfassen, uns ohne Vorbegriffe und Vorurteile ihr Wesen zu erarbeiten – das Wesen von Farbe und Ausdehnung und Materie, von Licht und Dunkel und Tönen usf. Wir

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müssen auch die Konstitution der phänomenalen Dinge untersuchen, rein in sich selbst nach ihrer wesenhaften Struktur, in der z.B. die Farbe gewiß eine andere Rolle spielt als die Ausdehnung oder die Materie. Überall stehen Wesensgesetze in Frage, nirgends wird Existenz angesetzt. Damit arbeiten wir der Naturwissenschaft nicht entgegen, sondern wir schaffen die Grundlagen, von denen aus wir ihren Aufbau erst verstehen können. Ich kann darauf nicht näher eingehen. Die erste Bemühung der Phänomenologie ist es gewesen, auf den verschiedensten Gebieten die Wesensbeziehungen nachzuweisen, in der Psychologie und Ästhetik, der Ethik und der Rechtswissenschaft – überall eröffnen sich uns neue Gebiete. Aber sehen wir ab von den neuen Problemen – auch das, was uns die Geschichte der Philosophie an alten Fragen überliefert, erhält unter dem Gesichtspunkte der Wesensbetrachtung eine neue Beleuchtung, vor allem das Problem der Erkenntnis. Welchen Sinn soll es haben, Erkenntnis zu definieren, sie umzudeuten und zurückzuführen, sich von ihr nach Möglichkeit zu entfernen, um ihr dann etwas unterschieben zu können, was sie nicht ist? Wir reden ja alle von Erkennen und meinen etwas damit. Und wenn uns diese Meinung zu unbestimmt ist, dann können wir uns orientieren an irgendeinem Falle, in dem ein Erkennen vorliegt, ein sicheres und zweifelloses Erkennen, das unkomplizierteste, trivialste Beispiel ist gerade das beste. Denken Sie an den Fall, wo wir erkennen, daß ein Gefühl der Freude uns erfüllt, oder daß wir ein Rot sehen, oder daß Ton und Farbe verschieden sind oder etwas dgl. Auf die einzelnen Fälle des Erkennens und ihre Existenz kommt es auch hier nicht an, aber an ihnen erschauen wir, wie überall, das Was, das Wesen des Erkennens, das in einem Aufnehmen liegt, in einem Empfangen und sich zu eigen Machen eines sich Darbietenden. Auf dieses Wesen müssen wir zugehen, es müssen wir untersuchen; aber wir dürfen ihm nichts Fremdes unterschieben. Wir dürfen z.B. nicht sagen, daß das Erkennen in Wahrheit ein Bestimmen, ein Setzen oder etwas dgl. wäre, wir dürfen es nicht, weil man wohl Farben auf Schwingungen zurückführen kann, aber nicht Wesenheiten auf andere Wesenheiten. Wohl gibt es so etwas wie Setzen oder Bestimmen, und auch sein Wesen muß aufgeklärt werden. Wir haben da das Urteil, speziell die Behauptung, als einen spontanen, punktuellen, setzenden Akt; und wir haben gewisse Behauptungen, die sich als bestimmende Setzungen erweisen, so die Behauptungen der Form A ist b.

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Aber indem wir uns ein Bestimmen, das wir vollziehen, seinem Wesen nach näherbringen, sehen wir doch klar, daß es nicht identisch ist mit dem Wesen des Erkennens, ja noch mehr, wir sehen, daß jede Bestimmung ihrem Wesen nach zurückweist auf ein Erkennen, von dem sie erst ihre Berechtigung und ihre Beglaubigung erhalten kann. Mag man sagen, daß Menschen keine Erkenntnisakte vollziehen können, sondern nur bestimmende Akte – das wäre eine kühne Behauptung, die sich gewiß nicht halten ließe, aber sie wäre in sich selbst nicht sinnlos. Sagt man aber, Erkenntnis sei in Wahrheit Bestimmung, so steht das auf genau derselben Stufe, als wenn man sagen wollte, Töne seien in Wahrheit Farben. Freilich, die Wesensanalyse ist nicht erschöpft, sondern sie setzt erst an damit, daß sie alles das abscheidet, was mit dem zu Untersuchenden nicht verwechselt werden darf. Und das ist es überhaupt, was ich Ihnen in aller Schärfe einprägen möchte. Wenn wir in der Phänomenologie brechen wollen mit den Theorien und Konstruktionen, und wenn wir die Rückkehr zu den Sachen selbst anstreben, zur reinen, unverdeckten Intuition der Wesenheiten, so ist Intuition dabei nicht gedacht als eine plötzliche Eingebung und Erleuchtung. Ich habe es ja heute fortwährend betont; es bedarf eigener und großer Bemühungen, um aus der Fernstellung, in der wir an sich zu den Objekten stehen, herauszukommen zu ihrer klaren und deutlichen Erfassung – gerade mit Hinblick darauf reden wir ja von phänomenologischer Methode. Es gibt hier ein Näher- und immer Näherkommen, und es gibt auf diesem Wege auch alle die Täuschungsmöglichkeiten, die jedes Erkennen mit sich führt. Auch Wesenserschauungen müssen erarbeitet werden – und diese Arbeit steht unter dem Bilde, das Platon im Phädrus entwirft, von den Seelen, die mit ihren Gespannen den Himmel e r s t e i g e n müssen, um die Ideen zu schauen. In dem Augenblick, wo an Stelle der Einfälle die mühselige Aufklärungsarbeit einsetzt, ist die philosophische Arbeit aus den Händen der einzelnen in die der fortarbeitenden und sich ablösenden Generationen gelegt. Spätere Geschlechter werden es nicht verstehen, daß ein einzelner Philosophien entwerfen konnte, so wenig wie ein einzelner heute die Naturwissenschaft entwirft. Kommt es zu einer Kontinuität innerhalb der philosophischen Arbeit, so wird sich der welthistorische Entwicklungsprozeß, in dem sich eine Wissenschaft nach der anderen von der Philosophie ablöste, nun auch an der Philosophie selbst vollziehen. Sie

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wird zur strengen Wissenschaft werden – nicht indem sie andere strenge Wissenschaften nachahmt, sondern indem sie sich darauf besinnt, daß ihre Probleme ein eigenes Vorgehen verlangen, das zu seiner Durchführung der Arbeit der Jahrhunderte bedarf.

MAX SCHELER PHÄNOMENOLOGIE UND ERKENNTNISTHEORIE1 IV. PHÄNOMENOLOGISCHE PHILOSOPHIE UND THEORIE DES ERKENNTNIS 1. GRENZE UND AUFGABE DER ERKENNTNISTHEORIE In einem sehr wesentlichen Punkte hat die phänomenologische Philosophie mit den verschiedenen Richtungen der sog. «transzendentalen» Erkenntnislehre eine tiefe Verwandtschaft. Ihr Verfahren ist so beschaffen, daß ihre Resultate völlig unabhängig bleiben von der besonderen Organisation der menschlichen Natur, ja der faktischen Organisation der Träger der Akte, des «Bewußtseins von», das sie studiert. Bei jeder echt phänomenologischen Untersuchung sehen wir daher, indem wir die sog. «phänomenologische Reduktion» (Husserl) vollziehen, von zwei Dingen ab: Einmal vom realen Aktvollzug und all seinen Begleiterscheinungen, die nicht im Sinne und in der intentionalen Richtung des Aktes selbst liegen, sowie von allen Beschaffenheiten seines Trägers (Tier, Mensch, Gott). Sodann von aller Setzung (Glaube und Unglaube) der Besonderheit des Realitätskoeffizienten, mit dem in der natürlichen Anschauung und in der Wissenschaft sein Gehalt «gegeben» ist (Wirklichkeit, Schein, Einbildung, Täuschung). Dabei bleiben indes diese Realitätskoeffizienten selbst und ihr Wesen Gegenstand der Untersuchung; nicht sie – sondern ihre Setzung in ausdrücklichen oder unformulierten Urteilen, auch nicht ihre Setzbarkeit – sondern nur die Setzung eines besonderen Modus ihrer wird ausgeschaltet. Nur das, was wir dann noch unmittelbar vorfinden, d.h. in einem Erleben dieses Wesens von einem Gehalte dieses Wesens, ist Sache phänomenologischer Untersuchung. Was wir an Aktwesen und wesenhaften «Fundierungen» von Akten auseinander so finden, z.B. Wahrnehmen und Erinnern, das ist unabhängig von der besonderen Organisation ihrer Träger und würde auch bei beliebigen Variationen dieser Organisation bestehen bleiben. Desgleichen die Wesenszusammenhänge zwischen Aktwesen und Gehaltwesen, z.B. 1

Scheler, Max, Schriften aus dem Nachlaß. Bd. I. Zur Ethik und Erkenntnislehre. 2. Aufl. Franke Verlag, Bern, 1957. S. 394-419.

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Sehen und Farbe. Wir finden so die Strukturzusammenhänge eines Geistes, der zu jeder möglichen Welt gehört und der – obzwar wir ihn am Menschen studieren, wie auch das Prinzip der Energieerhaltung am Menschen studiert werden kann, ja sogar von Robert Mayer am Menschen gefunden wurde – doch von der menschlichen Organisation ganz unabhängig ist; der uns z.B. auch befugt, uns eine Idee «Gottes» zu bilden. Und auf der Gehaltseite finden wir eine Struktur der zu einer Welt gehörigen Wesen und ihrer Zusammenhänge, für die alle empirischen Fakta unserer Menschenwelt oder unseres empirischen Milieus nur exemplifikatorische Bedeutung haben. Diese Weltstruktur und diese Geistessttuktur aber bilden in allen ihren Teilen selbst einen Wesenszusammenhang – und es ist ausgeschlossen, die Weltstruktur als eine bloße «Formung» durch den Geist, oder als bloße Folge unserer Erfahrungsgesetze einer Welt oder der Erfahrungsgesetze durch einen Geist überhaupt anzusehen. Auch das «Ich» ist in jedem Verstande hier nur ein Gegenstand der Welt – eben das Konstituens der «Innenwelt», in keinem Sinne aber Bedingung oder Korrelat der Welt. Was sich nach sorgfältigster Vornahme der phänomenologischen Reduktion so als Wesenheit und als Wesenszusammenhang aufweisen und erschauen läßt, das ist durch alle mögliche empirische Forschung: alle Beobachtung, Beschreibung, Induktion, Deduktion und Kausalforschung (auf dem Gebiete des Realen), nicht zu bestätigen und nicht zu widerlegen, muß aber in allen empirischen Feststellungen geachtet sein. Die Methode aber, echte Wesenheiten und Wesenszusammenhänge zur Erschauung zu bringen, ist hierbei die folgende: Ist die Frage, ob ein Vorgegebenes eine echte Wesenheit ist, so ist evident, daß, wenn es eine solche ist, jeder Versuch, das Vorgegebene zu «beobachten», darum unmöglich ist, da – um der Beobachtung die Richtung auf das Objekt und seinen Sachverhalt zu erteilen – die exemplifizierende Schauung des Vorgegebenen an einem Objekt schon vorausgesetzt ist. «Daß etwas Farbe ist», «daß etwas räumlich ist», «daß etwas lebendig ist» – kann nicht beobachtet werden; wohl aber, daß diese farbige Oberfläche dreieckig ist, daß dieser Körper eiförmig ist, daß dieser lebendige Organismus vier Beine hat. Versuche ich das Erstgenannte zu beobachten, so finde ich, daß ich, um einen Kreis möglicher Objekte der Beobachtung zu umgrenzen, diesen Kreis nur so umgrenzen kann, daß ich hinsehe auf all das dieses

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Wesens, das dabei bereits erschaut ist. Handelt es sich andererseits um die Abgrenzung von Wesenheiten gegen bloße «Begriffe», so ist Wesen alles, was im Versuche einer Definition unweigerlich und aus der Sache selbst heraus in eine Zirkeldefinition verstricken würde. Eine Wesenheit als solche, als pure Washeit, ist hierbei an sich weder allgemein, noch individuell – Begriffe, die beide erst Sinn gewinnen für ihre Beziehung zu Gegenständen, ob die Wesenheit nämlich an einer Mehrheit von Gegenständen oder nur an einem in die Erscheinung tritt. Es gibt in diesem Sinne also auch Wesen von Individuen. Ein Wesenszusammenhang aber erweist sich dadurch als verschieden von jeder bloßen faktischen Verbindung, daß im Versuche, die faktische Relation festzustellen, ich mich der Erschauung des vorgegebenen Zusammenhangs bereits bedienen muß; als verschieden von einem erschließbaren Zusammenhang dadurch, daß jeder Beweisversuch unweigerlich das Vorgegebene als Gesetz, «wonach» bewiesen wird, voraussetzt, bzw. in einen Zirkelbeweis gerät, bei vorgeblichen Kausalzusammenhängen in eine Zirkelerklärung. Wesenszusammenhänge und Wesenheiten in diesem Sinne haben nun stets eine von Hause aus ontische Bedeutung. Und in diesem Sinne geht denn auch die Ontologie des Geistes und der Welt aller Theorie der Erkenntnis voran. Ein Problem der Erkenntnis sowie der Werthaltung erwächst erst daraus, daß die phänomenologische Reduktion Stück für Stück und nach fester Ordnung wieder aufgehoben wird und die Frage ergeht, welche Selektion das phänomenologisch Gegebene oder so Gebbare auf Grund der faktischen Organisation der Aktträger und ihrer besonderen Erkenntnisziele erfahren muß, und welche Ordnung der Daseinsrelativität und der Daseinsabsolutheit für die betreffenden Gegenstandsarten – und auf welchen Grundeigenschaften der Aktträger besteht. Nur soweit diese Grundeigenschaften der Aktträger (z.B. des Menschen) selbst wieder auf Wesenheiten beruhen (z.B. endliche Geister, Lebewesen überhaupt) und nicht auf empirischen Bestimmungen (wie Reizschwellen der Empfindung, Umfang der vom Menschen hörbaren Töne), gehört die Untersuchung zur Theorie der Erkenntnis – im Unterschied zur Erkenntnistechnik und Methodologie. So wird es zu einer Frage der Theorie der Erkenntnis, ob z.B. die Ähnlichkeit ebenso absolut daseienden Gegenständen zukommt wie die Identität und Verschiedenheit, oder ob sie nur den auf ein

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Lebewesen daseinsrelativen Gegenständen zukommt; ob Räumlichkeit ebenso absolut gegeben ist wie die pure extensive Rotqualität, oder ob sie daseinsrelativ auf äußere Wahrnehmung von Lebewesen ist. Erkenntnistheorie ist also eine Disziplin, die der Phänomenologie nicht vorhergeht oder zugrunde liegt, sondern ihr folgt In ihrem weitesten Umfang ist diese Theorie auch nicht auf Erkenntnis im Sinne von «Theorie» beschränkt zu denken, sondern ist Lehre von der Erfassung und der denkenden Verarbeitung objektiver Seinsinhalte überhaupt, also z.B. auch Lehre vom Werterfassen und von der Beurteilung von Werten, d.h. Theorie der Wertung und Bewertung. Jede solche Lehre setzt aber die phänomenologische Erforschung vom Wesen der Gegebenheiten voraus. Auch Erkenntnis und Wertung sind eben besondere Formen eines «Bewußtseins von etwas», die sich auf das unmittelbare Bewußtsem von Tatsachen, die in ihm selbstgegeben sind, erst aufbauen. Insofern hat es Erkenntnis – wenn das Wort sinnvoll gebraucht ist – stets mit einer bloßen Nachbildung und Selektion des Gegebenen in Gedanken zu tun, niemals mit einem Erzeugen, Gestalten, Konstruieren. Keine Erkenntnis ohne vorhergehende Kenntnis; keine Kenntnis ohne vorhergehendes Selbstdasein und Selbst-gegebensein von Sachen. Jede Theorie der Erkenntnis, nach der der Gegenstand erst in den Methoden des Erkennens bestimmt oder gar erzeugt werden soll, ist also etwas dem evidenten Sinn von Erkenntnis Widersprechendes. Desgleichen jede «Erkenntnistheorie», welche vor einer phänomenologischen Prüfung des Geistes und der Sachgegebenheiten und – wie es Erkenntnistheorie soll – vor der dogmatischen Ansetzung einer bestimmten, vom Erkennen unabhängigen Realitätswelt die Möglichkeit einer Erkenntnis und ihr Wie erst entscheiden will. Der alte, neuerdings von Nelson scharfsinnig formulierte Einwand, daß jede solche Erkenntnistheorie den Zirkel einschließt, die Möglichkeit von Erkenntnis und eine bestimmte Art derselben für die von ihr zu leistende Erkenntnis eines Erkenntnisvermögens vorauszusetzen, ist unwiderleglich. Wohl aber wird das Unternehmen sinnvoll, wenn unter Erkenntnistheorie lediglich eine Theorie über das Verhältnis des Denkbewußtseins im Sinne des Urteilsbewußtseins und einer durch prälogische Wesensgegebenheiten und deren Zusammenhänge bereits gebundenen Welteinheit verstanden wird – ohne daß hierbei eine bestimmte empirische

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Wirklichkeitsbeschaffenheit dieser Welt bereits vorausgesetzt ist. Dann ist die spezifische Aufgabe der Erkenntnistheorie, das, was im Gegebenen als Ansatzpunkt für die logische Bearbeitung fungiert, für alle Gegenstandsgebiete und für alle Arten von Erkenntnis herauszustellen. Nicht aber ist das Gegebene selbst nur «als» Ansatzpunkt für mögliches Denken gegeben (oder als Problem). Und nicht minder ist es widerspruchsvoll, das zuletzt Gesagte zuzugeben, daß also das Denken nicht einfach ein völlig ungegliedertes m¾ ×n (als bloßen Inbegriff aller «Probleme») vorfinde (wie z.B. Hermann Cohen von seinem Standpunkt aus konsequent behauptet), der Stellung der Probleme also eine «Deskription» der Gegebenheiten vorhergehen müsse – gleichzeitig aber zu behaupten, daß die zu «beschreibenden» Gegebenheiten selbst schon als unter der Herrschaft der «transzendentalen» Denkgesetze – die doch erst gewonnen werden sollen – stehend anzusehen seien. So erfreulich es an sich ist, daß so vorzügliche Forscher wie Nicolai Hartmann, Emil Lask, in einem wesentlich abweichenden Sinne Richard Hönigswald der Phänomenologie eine eigene Domäne, ja im Hause der Erkenntnistheorie selbst, zugestehen wollen, so scheinen sie sich doch nicht völlig zur Klarheit gebracht zu haben, daß sie mit diesen dem eigenen Ausgangsstandpunkt ursprünglich fremden Zugeständnissen auch das Recht verwirken, eine kritische Theorie des Erkennens der Phänomenologie vorangehen zu lassen2. Das peinliche m¾ ×n wird hierdurch nur in die Sphäre des dem Urteilsbewußtsein «Gegebenen» verlegt als ein durch die gegenständlichen Kategorien in ihm selbst Geformtes und Geordnetes – nicht aber als die absurde Folge eines falschen Ansatzes erkannt; wobei die Theorie der Erkenntnis als Nachbildung zwischen Urteilsbewußtsein und seinem Gegenstand doch erhalten bleibt. Nur die prinzipielle Einsicht daß alle Kriteriumsfragen das Erblicken dessen zum mindesten voraussetzen, von dem ein Kriterium gemacht wird, kann über jenen halben Standpunkt hinweghelfen. Gleichwohl verbleibt der Theorie der Erkenntnis eine große Fülle selbständiger Probleme. Ehe sie sich dazu wendet, den verschiedenen Gruppen der Wissenschaft eine Grundlegung zu geben, und deren Gegebenheiten und Grundbegriffe einmal mit den entsprechenden 2

Sehr treffend tritt dies auch in der Kritik hervor, die Ernst Cassirer an den letzten Arbeiten von Lask geübt hat.

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Tatsachengebieten der natürlichen Weltanschauung, deren «Formen» auch die Wissenschaft beibehält, ein andermal mit dem phänomenologisch reduzierten Gehalte des betreffenden Tatsachengebietes in Beziehung zu setzen, hat sie die Erkenntnismaßstäbe zunächst allgemein zu klären, die in jeder Theorie der Erkenntnis zur Verwendung kommen. 2. MASSTÄBE DER ERKENNTNIS Absoluter Maßstab jeder «Erkenntnis» ist und bleibt die Selbstgegebenheit des Tatbestandes – gegeben in der evidenten Deckungseinheit des Gemeinten und des genau so wie gemeint auch im Erleben (Erschauen) Gegebenen. Etwas, das so gegeben ist, ist zugleich absolutes Sein, und der Gegenstand, der nur Gegenstand eines solchen Seins ist, eines solchen puren Wesens, ist in idealem Maße adäquat gegeben. D.h. alles, was in natürlicher Weltanschauung und Wissenschaft als «Form», «Funktion», «Methode», «Selektionsmoment» usw., desgleichen als Aktualität, Aktrichtung füngiert und darum hier nie gegeben ist, ist in phänomenologischer Anschauung in einem Akte reiner, formloser Anschauung als Teilgehalt mitgegeben. Und eben solch ein Gegenstand, der nur in einem solchen puren Akte gegeben ist, so daß nichts an Form, Funktion, Selektionsmoment, Methode, geschweige eine Organisation des Aktträgers zwischen der puren Idee des Aktes und dem Gegenstande steht, ist und heißt «.absolutes Dasein». Relativ, und zwar daseinsrelativ heißen im Gegensatze hierzu alle Gegenstände, die nur in Akten einer gewissen «Form», desgleichen Qualität, Richtung usw. wesensmäßig gegeben sein können. Sie sind daseinsrelativ auf den zu jenen Formen usw. selbst wieder wesenhaft zugehörigen Träger jener erkennenden Akte. Schon der Begriff Erkenntnis setzt im Gegensatz zum Begriff des Gegenstandes den Bestand eines solchen Trägers irgendwelcher Wesensorganisation voraus. Wohl geht der Gehalt der Erkenntnis bei voller Adäquation und bei vollster Reduktion in den Gehalt der Selbstgegebenheit kontinuierlich über; gleichwohl bleiben beide wesensverschieden, insofern Erkenntnis nie Selbstsein des Gegenstandes werden kann, das doch in der Selbstgegebenheit gegeben ist. Es bildet nun aber die Daseinsrelativität der Gegenstandsarten trotz ihrer absoluten Unterscheidung von der Daseinsabsolutheit ein Stufenreich,

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das in der Theorie der Erkenntnis für alle Gegenstandsarten festzustellen ist; insbesondere auch für alle Gegenstände der Wissenschaft und der Wissenschaften. In der Erkenntnis dieses Stufenreiches findet die Theorie der Erkenntnis eine Aufgabe von fast unermeßlicher Ausdehnung, die bisher noch kaum in exakter Weise angegriffen worden ist. Die Stufen scheiden sich dadurch, daß die weniger relativen Gegenstände an immer weniger bestimmte und ihrem Wesen nach durch andere Wesenheiten einseitig fundierte Träger einer Organisation gebunden sind, wobei uns die Gottesidee als Grenzbegriff für den Träger der adäquaten Erkenntnis aller absoluten Gegenstände dienen darf. Wir vermögen so festzustellen, welche Gegenstände z.B. auf endliche Erkenntnisträger überhaupt relativ sind, und stellen diese Frage etwa für den Gegenstand «Gleichheit», für den Gegenstand «Gesetz» (einmal Gesetz = funktionelle Abhängigkeit, sodann Kausalgesetz im Sinne der Zeitfolge), für die Form des Dinges, das als Ding der Wahrnehmung nie selbstgegeben ist, für die Formunterschiede innerer und äußerer Wahrnehmung, für Räumlichkeit und Zeitlichkeit, für den Unterschied von wahr-falsch usw. Braucht beispielsweise auch «Gott» «Gesetze», oder fallen sie für ein allanschauendes Wesen weg, und sind solche nur für endliche Wesen besondere Gegenstände der Erkenntnis? Oder werden Gesetze, resp. eine bestimmte Abart ihrer, z.B. das mechanische Kausalgesetz, besondere Gegenstände erst für Erkenntnisträger, die Lebewesen sind und Leiber besitzen? Oder gar erst für Träger von der Art der menschlichen Organisation, wie der pure Nominalismus meint, der sogar nur eine Ersparnis menschlicher Sinneswahrnehmungen in ihnen sieht und sie durch eine (nur unökonomische) Häufung von Sinneswahrnehmungen ersetzbar denkt? Man sieht an diesen Beispielen: Die Fragen differenzieren sich hier fein und reich, und es kann nur leider hier nicht an einem Beispiel gezeigt werden, wie genau sie zu stellen und zu lösen sind. Auch für jeden Grundgegenstand der Mathematik, für Menge, Gruppe, Zahl, den Gegenstand der Geometrie, werden wir die Frage nach der Relativitätsstufe stellen, um vielleicht einmal zu entscheiden, ob Platon recht hat, wenn er sagt: qeÕs geometre‹. Als ganz besonders fruchtbar wird sich hierbei die Frage erweisen, was auf ein Lebewesen überhaupt, und nur auf ein solches, resp. für irgendein Ding, das Träger des Wesens «Lebensbewegung» und «Lebensform» (Leibheit) ist, daseinsrelativ ist. Ein solches Gegenstandsreich – wir haben

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gute Gründe, die gesamte Gegenstandswelt der mechanischen Physik und der strengen Assoziationspsychologie dafür zu halten – kann dessen ungeachtet völlig unabhängig von der Existenz des Menschen und seiner faktischen Organisation sein. Ja, da «Leben» selbst kein empirischer Begriff, sondern eine erschaubare Wesenheit ist, deren Erschauung an gewissen Gegenständen diese uns erst dem Organismenreiche zuzählen macht – und die daher a priori den materialen Wesenszusammenhängen dieses Seinsgebietes unterworfen sind –, kann ein solches Gegenstandsreich auch unabhängig von der Existenz aller irdischen und bestimmt organisierten Lebewesen überhaupt sein. Der ideale Gehalt dieser Gegenstandswelt, also eine vollendete Wissenschaft dieser Art, könnte völlig unabhängig von unserer sinnlichen Organisation da sein und prinzipiell in alle möglichen Sprachen sinnlicher Organisation übersetzbar sein – und doch wäre diese gesamte Gegenstandswelt gar kein absolutes Sein, auch kein daseinsrelatives auf einen reinen transzendentalen Verstand im Sinne Kants, sondern relativ auf die tätige Grundrichtung eines möglichen Lebens überhaupt. Nicht erst vor dem Blicke Gottes, schon vor dem Blicke eines endlichen Erkenntnisträgers, dessen Leib wir voll reduziert denken, würde diese ganze «Welt» verschwinden. Dieser Bestimmung der Schichten der Daseinsrelativität ist prinzipiell in der Richtung immer weiterer und weiterer Daseinsrelativitäten keine bestimmte Grenze gesteckt. So können wir auch Gegenstandsarten herausheben, die auf eine normale menschliche Organisation daseinsrelativ sind, wozu z.B. alle Inhalte der natürlichen Weltanschauung des Menschen gehören, das Sehding Mond und Sonne dort am Himmel, oder auch alle normalen Täuschungsgegenstände, wie die längere Vertikale in einem Quadrat. Ja wir sind genötigt, in dieser Richtung dann weiter und weiter zu gehen. Es gibt Gegenstände, die daseinsrelativ sind auf bestimmte Rassen – gründend in besonderen Auffassungsformen des Weltinhalts, der Innen- und Außenwelt, die uns besonders in der Phänomenologie des Baues der Sprachen kund werden; desgleichen Strukturen des Erlebens, die, auf bestimmte Kulturepochen beschränkt, alle Bildungen dieser Epoche einheitlich durchwalten und an diesen zu entdecken sind. Eine phänomenologische Weltanschauungslehre, wie sie Wilhelm Dilthey und seine Schule mit vorschauender Genialität als Grundlage aller Kulturwissenschaft aufzubauen versuchte, gewinnt auf

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dem Boden der phänomenologischen Untersuchung in diesem Zusammenhang erst ihre exakte Grundlage. Auch Gegenstände und ihnen entsprechende Erlebensstrukturen, die relativ auf Mann und Weib sind, wiederum solche der inneren und äußeren Wahrnehmung sowie der Leibgegebenheit, lassen sich so aufweisen. Ja endlich finden wir z.B. in einem halluzinierten Gegenstand einen Gegenstand, der relativ auf ein einziges Individuum während einer bestimmten Dauer ist. Daß diese Betrachtung auch für die Werte notwendig ist, habe ich anderenorts3 gezeigt. Es ist klar, daß diese Relativität der Gegenstände mit dem gemeinhin «.subjektiv» Genannten gar nichts zu tun hat, wie denn auch dieses gesamte Lehrstück mit Psychologie nicht das mindeste zu tun hat. Gilt doch die Stufenfolge der Daseinsrelativität genau so für die Gegenstände der Innenwelt und der Ichbetrachtung sowie des Sichselbst- und Fremderlebens, wie sie für die Gegenstände der Außenwelt oder die religiösen Gegenstände gilt. (Z.B. wirkliches Gefühl und Gefühlsillusion und -halluzination, eingebildeter Schmerz und wirklicher Schmerz.) Der Psychologe unterliegt genau so der Struktur des Erlebens von Innenwelt, die seiner Kulturepoche eigen ist, wie der Naturforscher ihrer Erlebnisstruktur von Außenwelt. Die Assoziationspsychologie des 17. und 18. Jahrhunderts ist mit der Herrschaft einer mechanistischen Naturmetaphysik zusammen die Folge einer phänomenologisch sehr genau faßbaren Struktur des Welterlebens dieser Epoche überhaupt, der auch wieder die mechanistischindividualistische Gesellschafts- und Geschichtsauffassung derselben Zeit und die Gestaltung, welche die religiöse Gegenstandswelt im Erleben des Deisten zeigt, aufweisbar entspricht. Es ist also von Wichtigkeit, daß bei der Durchführung des Lehrstücks von der Daseinsrelativität der Gegenstände die Relativität auf die menschliche Organisation keinerlei besonders ausgezeichnete Rolle spielt, sondern nur einen Durchgangspunkt bildet. Insbesondere wird jede Lehre, welche (wie z.B. jeder Agnostizismus, auch die kantische Lehre vom «Ding an sich» und den menschlichen Anschauungsformen, resp. die hierauf beruhende Scheidung von Schein – Erscheinung – Materie – Ding an sich) das Erkennbare überhaupt auf die zu einer menschlichen 3

Vgl. in «Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik».

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Organisation, ja überhaupt einem sog. transzendentalen Verstand relativen Gegenstände einschränken möchte, evident sinnlos. Von dem seinem Wesen nach durchaus erkennbaren absoluten Gegenstand (es sei hier dahingestellt, in welchem Maße von Adäquation auch die absoluten Gegenstände erkennbar sind) bis zum halluzinierten Gegenstand z.B. führt eine weitläufige Schichtung von Relativitätsstufen des Daseins der Gegenstände aller materialen Sachgebiete in Abständen verschiedener Art. Es gibt in diesem Sinne also keine sog. «Grenzen der Erkenntnis» überhaupt, sondern nur und allein Grenzen der Erkenntnis, die relativ auf eine bestimmte Erkenntnisart und -menge irgendwelcher Aktträger sind – wobei die phänomenologische Aufweisbarkeit dieser Erkenntnisart als solcher und eine nicht im selben Sinne und auf derselben Stufe «relative» Erkenntnis, schließlich also absolute Erkenntnis der die Aktträger konstituierenden Wesenheiten stets vorausgesetzt ist. Was also allein «relativ» ist, ist im strengen Sinne nie die Erkenntnis, sondern das Dasein ihrer Gegenstände und die Grenzen der Erkenntnis. Sie – also «die Grenzen», nicht die Erkenntnis, sind mehr oder weniger relativ. So gibt es sicher «Grenzen» der natürlichen Weifanschauung des Menschen – ihrem Gehalte nach. Ihre Gegenstände, die wir als «Umwelt» (Milieu) des Menschen bezeichnen, enthalten beispielsweise nichts von all den Strahlenarten, welche uns die Physik kennen lehrt. Niemals darf daher der besondere Gehalt dieser natürlichen Gegenstandswelt als Gegebenheit genommen werden, welche die Wissenschaft zu achten hätte. Auch die «Tatsachen» der Wissenschaft – nicht nur ihre «Dinge», Atome, Ionen, Elektronen und Konstanten, Kräfte und Gesetze – sind in den Tatsachen der natürlichen Weltanschauung nie enthalten oder daraus zu «abstrahieren», wie der ältere Empirismus annahm. Sie sind neue und neue «Sachverhalte», deren Auswahl aus allen auf die Sachverhaltsstufe reduzierten reinen oder phänomenologischen Tatsachen überhaupt nach bestimmten, der betreffenden Wissenschaft eigenen Selektionsprinzipien erfolgt. Diese Prinzipien bestimmen natürlich nie den Gehalt jener Sachverhalte, wohl aber bestimmen sie als innere Gesetze des «Beobachters», welche jener Sachverhalte zu Tatsachen dieser oder jener Wissenschaft werden; welche farbenbezüglichen Sachverhalte z.B. zu Tätsachen der Farbenphysik, welche zu Tatsachen der Farbenphysiologie, welche zu Tatsachen der Farbenpsychologie, welche zu Tatsachen der

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Geschichte des Farbensehens werden. Nie und nirgends geht die Wissenschaft hierbei etwa aus von der sog. «Empfindung», als hätte sie für sie Ursachen zu suchen, sondern stets von Sachverhalten. Empfindung ist dabei selbst nur eine einzige der wissenschaftlichen Erklärung anheimfallende Tatsache. Und ebensowenig geht sie, wie jener alte Empirismus meint, von dem Gehalt der Umwelt aus, der vielmehr für die Biologie noch durchaus zum «Problem» und zum declarandum wird. Schon darum, weil es ja durchaus noch erklärbar ist, warum wir z.B. gerade jenes optische Sehding am Himmel mit allen seinen besonderen Eigenschaften als die Sonne sehen, kann keine «Eigenschaft» dieses natürlichen Dinges als Tatsache angesehen werden, mit der als einem Gegebenen Wissenschaft erklären dürfte. Umgekehrt ist diese Tatsache noch eine solche, die sie erklärt – nicht anders, als sie z.B. den Regenbogen erklärt. Würden die Vertreter der Marburger Schule nichts als dieses meinen, wenn sie den Gehalt der natürlichen Weltanschauung und mit ihr die Einheiten der natürlichen Sprache (deren Besonderheit ja auch wieder die historische Philologie erklärt) als Behälter der «Tatsachen» der Wissenschaft zurückweisen, so dürften sie meines Einverständnisses versichert sein. Aber unbekannt damit, daß es jenseits der Tatsachen der natürlichen Weltanschauung und der auf bestimmte Wissenschaften relativen Tatsachen noch eine Sphäre reiner und purer Tatsachen gibt, die in sich ein wohlgegliedertes Reich bilden – und gar kein «Chaos» und noch weniger «Empfindungen» –, und aus deren Fülle sowohl die natürlichen Tatsachen als auch die wissenschaftlichen Tatsachen als ausgewählt zu gelten haben, vermeinen sie, die wissenschaftliche Tatsache werde erst im Fortgang der Forschung als Aufgabe, als zu bestimmendes X «erzeugt», sie sei der «Endpunkt» der Forschung, und es hänge auch ihr gesamter Gehalt ab von einer Erfüllungsfunktion, die ein ungegliedertes «Chaos» für vorgelegte «Probleme», «Fragen» gleichsam ausübe. Wobei der Ursprung der Probleme selbst natürlich völlig unbegreiflich ist – der wissenschaftliche Logos aber mit der Würde eines Schöpfergottes umkleidet erscheint, und die Prinzipien und Kategorien, nach denen die Bestimmung des «Unbestimmten», die Existentialisierung und «Setzung» des mit der «Bestimmtheit» auch Existenz entbehrenden m¾ ×n geschieht, selbst keinen anderen Ausweis besitzen, als daß sie auf reduktivem Wege

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sich als «Voraussetzungen», ja als «Grundlegungen» der betreffenden Wissenschaft erweisen lassen. Hierbei übersieht diese ganze Betrachtung, daß die gesamten Formen und Strukturen, die, unabhängig vom Denken im Sinne des Urteilens und unabhängig von den Gegenständen und Prinzipien reiner Logik und ihnen gegenüber völlig zufällig, an dem Gegenstandsbereich der natürlichen Weltanschauung haften, genau so auch in die wissenschaftliche Gegenstandswelt eingehen, ohne auch nur eine Spur ihres Wesens dabei abzulegen. Ding, Wirken, Kraft, Kausalität, Wirklich-Unwirklich, Raum und Zeit, die Sinnrichtung der Worte der natürlichen Sprache (die bei wechselndem definitorischem Bedeutungsgehalt, z.B. Sonne am Himmel und astronomische Sonne, dieselbe sein kann), in denen sich der Inhalt der natürlichen Anschauung, d.h. die Umwelt, gliedert (wie z.B. LebendigesTotes), bleibt alles durchaus erhalten. Und niemals vermag Wissenschaft auch noch diese Formen und Strukturen zu erklären. Das ist nur der Sondergehalt des Menschenmilieus, den sie «erklärt», im Gegensatz z.B. zu dem Sondergehalt der Milieus der verschiedenen Tierarten-niemals aber die Milieustruktur überhaupt, die eben nicht auf reines Denken und reines Anschauen, sondern auf Lebewesen relativ ist. Das Atom ist genau so «Körperding» wie jener Stuhl da und besteht aus denselben Schichten Sehding, Greifding, Materialität, Außereinander, Räumlichkeit, Zeitlichkeit wie jenes und dieses – ganz unabhängig davon, ob wir es auf Grund unserer Sinnesschwellen empfinden. Es ist ein Körperding, und kein Begriff. Die Empfindung, von der der Physiologe und Psychologe aussagt, sie besitze Intensität und Qualität, ist ein echtes Ding mit Eigenschaften, auch wenn sie noch so hypothetisch angenommen ist; und der Gegenstand des subtilsten Kraftbegriffes der Wissenschaft enthält dasselbe Phänomen des Wirkens in sich, das mir im Wasserfall in natürlicher Weltanschauung entgegentritt, wenn er auf Steinmassen aufschlägt. Keinerlei «Bestimmung», keinerlei Begriffsdefinition, kein Unterschied wieder zwischen «hypothetisch gegeben» und «beobachtet» ändert auch nur das mindeste an der Identität der Struktur und des konstitutiven Aufbaus beider Gegenstandsarten. Und niemals kann diese in Logik und Mathematik aufgelöst werden. Die Realwissenschaften bleiben wesensmäßig von den Ideenwissenschaften getrennt.

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Aber auch die natürliche Anschauung der idealen Gegenstände (Größen, Kontinuen, Zahlen, Raumfiguren) und die Wissenschaft von diesen, die positive Mathematik – die von Philosophie der Mathematik, d.h. der Wesenslehre von Zahl, Menge, Gruppe, Größe usw., völlig verschieden ist –, ist nicht nur Erkenntnis derselben Gegenstände, sondern die natürliche Anschauung folgt auch denselben Wesenszusammenhängen und Fundierungsgesetzen der Gegebenheit wie die wissenschaftliche Anschauung – wie unendlich auch die Mathematik die natürliche Anschauung an Bestimmtheit und Ausdehnung übertreffe. Und alle ihre Gegenstände sind vom Standort reiner Logik aus gesehen zufällig. Analog gibt es strenge Gesetze, die im Wesen «Zeichen» und der symbolischen Funktion überhaupt gründen, und die in den natürlichen Sprachen nicht weniger erfüllt sind als in den auf Konvention beruhenden Terminologien der Gelehrten – und die keine Psychologie «erklärt». Der Unterschied der Gegenstandswelt der natürlichen und der wissenschaftlichen Weltansicht besteht also nicht in jenen Formen und Strukturen, sondern allein in dem Gehalt und in der Relativitätsstufe des Daseins der beiderseitigen Gegenstände. Die Daseinsrelativität der Gegenstände der natürlichen Weltanschauung ist relativ auf die menschliche Organisation – dem rein phänomenologischen Gehalte jener Gegenstände nach. Das ist die Enge und Beschränktheit dieser «Weltanschauung», die selbst wieder nur den Rahmen abgibt von dem, was die Erlebnisstrukturen von Mann und Weib, der Rassen, der Kultureinheiten von Epochen den Gegenständen noch höherer Relativitätsstufen hineinzeichnen. Aber an «Fülle» des Gehalts jedes Gegenstandes solcher Relativität und der ihr entsprechenden «Adäquation» der Erkenntnis ist die natürliche Weltanschauung unendlich reicher als jene der Wissenschaft. Gleichzeitig ist sie wesensmäßig Anschauung einer menschlichen «Gemeinschaft», als welche wir eine Menschengruppe definieren, deren gegenseitiges Verstehen sich unabhängig von Beobachtung ihrer Körper, deren Bewegungen und Eigenschaften, und unvermittelt durch Schlüsse aus dem so Beobachteten auf bloßer Wahrnehmung der Ausdruckseinheiten ihrer leiblichen Ausdrucksäußerung und hierauf fundiertem Mitmeinen des in diesen Äußerungen gemeinten Sachverhalts aufbaut. Alle künstliche Terminologie und alle Verabredung von Konventionen setzt wesensmäßig dieses «Verstehen» und eine

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Gemeinschaftlichkeit der Gruppenexistenz überhaupt voraus. Die natürliche Sprache ist hierbei die wichtigste Art dieses natürlichen Ausdrucks, und ihre Worte und Syntax sind Einheiten ihres Ausdrucks und seiner Gliederung. Im Gegensatz hierzu ist die wissenschaftliche Weltbetrachtung auf Gegenstände gerichtet, die nicht relativ auf die Organisation der species homo sind, sondern – bezogen auf alle möglichen lebendigen Organisationen und ihre Organisationsdifferenzen – als «absolute» Gegenstände gelten dürfen. Sie sind daher in ihrem Dasein und ihrer Beschaffenheit weder abhängig von der besonderen Sinnes- und Bewegungsorganisation des Menschen, noch hat ihr Wirken auf den menschlichen Körper, das streng denselben Gesetzen folgt wie das Wirken auf alle anderen Körper, für das Empfinden und für die mögliche Bewegungsintention des Menschen in seiner Gesamtheit auch einen Reizwert. Eben darum sind dieselben Gegenstände nicht nur untereinander, sondern auch auf die Körper aller anderer Organisationen von Lebewesen nach denselben Gesetzen wirksam – freilich je und je mit ganz verschiedenartigen Systemen und Reizwerten für deren Empfinden und für deren Bewegungsakte. Sie sind denn auch auf Grund der Form- und Strukturprinzipien der natürlichen Weltanschauung und auf Grund der reinen Logik und Mathematik prinzipiell von jeder Organisation und deren besonderer Sinnes- und Bewegungseinrichtung aus zu gewinnen, und gleichsam in alle Sprachen der Sinne übersetzbar. Wir vermöchten prinzipiell von Sonne und Planeten eine Kenntnis zu gewinnen, auch wenn der Himmel stets mit Wolken bedeckt wäre. Und wie wir heute eine Menge über- und untersinnlicher Realitäten kennen, deren Wirken keinerlei Reizwert für unser Empfinden besitzt, ja daran sind, die Mechanik auf die Lehre von etwas zu gründen, das gar keinen Reizwert für uns hat, nämlich auf die Lehre von der Elektrizität, so ist es gewiß, daß wir auch diejenigen Gegenstände der Physik, deren Wirken auf uns einen Reizwert besitzt, prinzipiell hätten erkennen können, wenn sie zufällig diesen Reizwert nicht hätten. Dies alles schließt aber nicht im geringsten aus, daß dieser gesamte Gegenstandsbereich durchaus daseinsrelativ ist auf Leib und Leben und auf ein Empfinden, eine Sinnlichkeit sowie auf eine Lebensbewegung überhaupt. Da diese Begriffe aber Begriffe echter Wesenheiten sind, wie die Phänomenologie zeigt, nicht aber empirische

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Abstraktionen an den irdischen Organismen, so ist auch das Dasein der gesamten Welt der Physik und Chemie nicht notwendig an das Dasein dieser irdischen Organismenwelt selbst gebunden. Gleichwohl aber bleibt es gebunden an das Dasein von Gegenständen vom Wesen des Lebens. Dies alles macht die Weite und die Unbeschränktheit der wissenschaftlichen Weltanschauung aus. Die Wissenschaft befreit uns von den Schranken der menschlichen Umwelt. Andererseits aber bleibt das wissenschaftliche Weltbild an Adäquation der Erkenntnis und der ihr entsprechenden «Fülle» des Gehaltes der Gegenstände weit zurück. Es wird vielmehr im selben Maße bloß symbolisch, wie es jene Enge, wie es jene Relativität der Gegenstände auf die spezifisch menschliche Organisation überwindet. Beachten wir wohl: Adäquation und Inadäquation der Erkenntnis ist ein Maß der Erkenntnis, das völlig unabhängig ist einerseits von der Relativitätsstufe der Gegenstände der Erkenntnis, andererseits von aller Wahrheit und Falschheit der über die Gegenstände ergehenden Urteile sowie der «Richtigkeit» der Urteile im Sinne der reinen und sog. «formalen» Logik. Die eine Grenze der Adäquation jedes meinenden Aktes und die ihr entsprechende absolute Fülle des Gegenstandes ist seine Selbstgegebenheit. Das gilt gleichmäßig für alle Akte mit bildhaftem und mit bedeutungsmäßigem Gehalt; auch die letzteren Akte sind ja nicht rein signifikativ, sondern einer Erfüllung durch die bildlose und in diesem Sinne oft «unanschaulich» genannte «Bedeutung» fähig. Die andere Grenze ist die absolute Inadäquation des nur meinenden Aktes, in dem der Gegenstand als «nur gemeinter», als die bloß zugehörige Erfüllung eines Zeichens oder Symbols dasteht. Dazwischen liegen alle möglichen Grade der Adäquation. Ist nun gleich irgendein Maß solcher Adäquation erst durch Vergleich einer Mehrheit von Akten möglich, in denen dieselben Gegenstände mit verschiedenen Füllegraden gegeben sind, so kommt doch jedem Akte von Hause aus eine bestimmte Adäquation und eine bestimmte Fülle zu. Es ist nun erstens ganz ausgeschlossen, etwa die Relativitätsstufen der Gegenstände auf bloße Adäquationsunterschiede und ihnen entsprechende Fülleverschiedenheiten, in denen der absolute Gegenstand gegeben wäre, zurückzuführen; oder umgekehrt den Gegenstand reicherer Fülle als einen solchen zu bestimmen, der in den Relativitätsstufen der Gegenstände dem

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absoluten Gegenstande näher liegt. Vielmehr sind beide Erkenntnismaßstäbe völlig unabhängig variabel – und nur in der Selbstgegebenheit fallen absoluter Gegenstand und volle Adäquation der Gegebenheit zusammen. Es kann also z.B. ein relativer Gegenstand, der, wie jener einer Zwangsidee oder einer Halluzination, nur auf ein Individuum relativ ist, prinzipiell genau so alle Grade der Adäquation durchwandern und in allen Graden der Fülle gegenwärtig sein4. Das halluzinierende Individuum kann an einem halluzinierten Stuhl bald diesen, bald jenen Zug bemerken und beachten, mehr oder weniger von ihm in seine Anschauung aufnehmen, ja auch wieder in das zu ihm gehörige Sehding und Greifding sehend und greifend tiefer und weniger tief eindringen. Und so auf allen Stufen der Relativität und hinsichtlich aller materialen Arten der Gegenstandsgebiete. Apollon und Zeus sind religiöse Gegenstände relativ auf das griechische Volk. Aber sicher war unter den Griechen mannigfach verschieden der Grad der Adäquation der Anschauung dieser Götter und der Grad der Adäquation des Füh-lens von ihrer Heiligkeit, d.h. die Frömmigkeit der Griechen. Trotz dieser Unabhängigkeit der Variation eines Gegenstandes in Fülle und in der Stufe der Daseinsrelativität sind Fülle und Relativität des Daseins doch in einer anderen Richtung aneinander gebunden. Die Daseinsrelativität bringt ja als solche nichts hervor; sie ist im letzten Grunde ja nur Selektion des phänomenalen Gehaltes der absoluten Gegenstände. So sind z.B. die Umwelten der verschiedenen Arten der Lebewesen, darunter auch die Umwelt des Menschen, alle als in der absoluten Welt enthalten zu denken, sofern sie nur vollständig phänomenologisch reduziert gedacht werden. Sie alle stellen Auswahlreiche dar aus der phänomenologisch reduzierten Welt. Darum läßt sich sagen: Jede Stufe der Daseinsrelativität eines Gegenstandes enthält im Vergleich mit der weniger großen Daseinsrelativität desselben Gegenstandes eine geringere Fülle der ganzen Welt oder des Weltdinges; und jede Erkenntnis eines relativeren Gegenstandes ist weniger adäquate Erkenntnis der Welt als die Erkenntnis eines weniger relativen, dem absoluten Gegenstande näher 4

Bis zur Selbstgegebenheit, bei der das «ich halluziniere diesen Gegenstand» mit seiner gesamten Fülle anschaulicher Merkmale zum Totalgegenstand wird. Dieser Gegenstand ist dann durchaus «absoluter Gegenstand».

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liegenden Gegenstandes. Insofern läßt sich die ganze Stufenordnung der Daseinsrelativität auf Adäquationsver-schiedenheiten und ihnen entsprechende Fülleverschiedenheiten der Welterkenntnis und Weltfülle reduzieren5. Nicht weniger unabhängig aber ist Adäquation und Inadäquation einer Erkenntnis von der Wahrheit und Falschheit (und noch mehr der « Richtigkeit») des über einen Gegenstand ergehenden Urteils. Man kann nicht so, wie es Spinoza versuchte, den Gegensatz von wahr und falsch, der ein absoluter ist, graduieren und die wahre Erkenntnis der adäquaten, die falsche der inadäquaten gleichsetzen. Denn es ist klar, daß eine beliebig große Adäquation der Erkenntnis und Fülle des Gegenstandes sowohl mit wahren als falschen Urteilen verknüpft sein kann. Das Urteil ergeht nicht auf das, was vom Gegenstand gegeben ist, sondern über ihn selbst mit allen seinen Merkmalen. Nur im Falle der Selbstgegebenheit ist es nicht nur wahr, sondern auch einsichtig wahr. Sonst kann es auch falsch sein, und dies bei noch so hohem Grade der Adäquation. Und umgekehrt kann das Urteil auch wahr sein, wenn der Gegenstand als nur gemeinter und völlig leer an Fülle vor uns steht. Die Resultate der Operationen, die eine Rechenmaschine ausführt, sind so «wahr» wie das Urteil eines Menschen, das sich auf Grund seines Rechnens ergibt. – Genau ebensowenig aber läßt sich darum, wie die Anhänger des Kritizismus zu meinen scheinen, die wachsende Adäquation der Erkenntnis eines Gegenstandes auf eine Häufung wahrer Urteile über ihn zurückführen. Es läßt sich nur sagen, daß eine adäquatere Erkenntnis eines Gegenstandes und eine ihm entsprechende größere Fülle seiner sowohl zu wahren als falschen Urteilen mehr Gelegenheit gibt, resp. daß es eine größere Menge wahrer und

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Die Fülle eines Gegenstandes kann nicht etwa reduziert werden auf die Zahl von Beobachtungen, die wir an ihm machen, vielmehr hängt Inhalt und Zahl dieser ganz ab von der Fülle, in der er gegeben ist. Und noch weniger kann die Fülle zurückgeführt werden auf die Empfindungen, die wir von ihm haben. Vielmehr bestimmt die Fülle, mit der z.B. ein konkretes Körperding überhaupt gegeben ist, auch das mit, was an Fülle seiner in das zu ihm gehörige Sehding, Greifding, Hörding usw. eingeht. Und dieser Fülle entsprechend kann das Sehen und Hören des Dinges (oder Vorgangs) seinerseits, und bei denselben Empfindungen, wieder mehr und weniger adäquat sein.

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falscher «Sätze an sich» (im Bolzanoschen Sinne) über den füllehaltigeren Gegenstand «gibt». Es braucht kaum gesagt zu werden, daß Wahrheit und Falschheit auch mit der Relativitätsstufe des Gegenstandes nichts zu tun hat. Der Halluzinierende, der einen braunen Stuhl halluziniert und über ihn das Urteil fällt «dieser Stuhl ist gelb », oder der ihn unter den Begriff «Tisch » subsumiert, fällt ein falsches Urteil, wogegen er ein wahres Urteil fällt, wenn er urteilt, «dieser Stuhl ist braun», oder «dies ist ein Stuhl». Denn wiewohl in jedem Urteil die Existenz des Gegenstandes, d.h. seines Subjekts, mitgesetzt ist, so doch keineswegs auch die Relativitätsstufe seines Daseins. Wer wollte zweifeln, daß man in einer mythologischen Abhandlung über Zeus und Apollon sowohl wahre als falsche Urteile fällen kann? Und so ist es selbstverständlich, daß man über die Dinge der natürlichen Weltanschauung, die auf die menschliche Organisation relativ sind, ebenso wahre und falsche Urteile fällen kann wie über jene der physikalischen Wissenschaft, die dies nicht sind. Wer sagt, es sei «die Sonne schon aufgegangen», während sie noch nicht aufgegangen ist, fällt ein falsches Urteil – während er ein wahres fällt, wenn er sagt, sie sei nicht aufgegangen. Trotzdem gibt es in der Welt der Wissenschaft seit Kopernikus keine Sonne mehr, die auf- und untergeht, sondern nur eine Achsendrehung der Erdkugel. Wie unsinnig wäre es daher zu sagen, daß der Sinn der Worte «wahr» und «falsch» erst durch Hinblick auf die Wissenschaft und ihre Gegenstände und Methoden zu klären sei! Hieraus ist auch klar: Haben wir widersprechende Sätze der Form A = B, A = non B, so muß einer falsch sein nur unter der Bedingung, daß das A in beiden Sätzen den Gegenstand aufderselben Stufe der Daseinsrelativität bezeichnet. Sonst können beide Sätze «wahr» und beide «falsch» sein, ohne daß der Satz des Widerspruchs und der ihm zugrunde liegende Wesenszusammenhang von der Unverträglichkeit des Seins und Nichtseins eines Gegenstandes dadurch verletzt wäre. Ein Grundsatz, der für die Theorie der Erkenntnis von größter Wichtigkeit ist und den auch Kant in seinen Antinomien bereits richtig angewandt hat. Endlich werden wir jedes Vermeinen, ein Gegenstand A liege auf der Daseinsrelativstufe R, während er faktisch auf der mitgegebenen Daseinsrelativitätsstufe R-1 oder R+1, liegt (wobei - die gesteigerte, + die abnehmende Daseinsrelativität bedeutet), eine metaphysische Täuschung

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nennen; jedes Vermeinen aber, es sei selbstgegeben, was inadäquat gegeben ist, eine erkenntnistheoretische Täuschung; jedes Vermeinen, es sei ein Gegenstand A in derselben Fülle gegeben wie ein mitgegebener Gegenstand B, ob er zwar mit verminderter oder vermehrter Fülle gegeben ist, eine gewöhnliche Täuschung. Die gesamte Sphäre der Täuschung aber stellen wir jener möglichen Irrtums entgegen, der erst im Verhältnis der Urteile zu den Sachverhalten seinen Sitz hat. Dagegen liegt die Täuschung stets in der Art, wie Sachverhalte zur Gegebenheit kommen. Nun beachte man: «Wahr» schlechthin sind Urteile nur dann, wenn 1. keinerlei Täuschung stattfindet hinsichtlich ihres Gegenstandes; 2. der von ihnen gemeinte Sachverhalt besteht; 3. sie «richtig» sind, d.h. die Gesetze formaler Logik in ihnen geachtet sind. Und sie sind «falsch», wenn eine – gleichgültig welche – der drei Bedingungen in ihnen nicht erfüllt ist. Nur bei Nichtstattfinden der beiden letzten Bedingungen hat man das Recht, sinnvoll von «Irrtum» zu reden, und zwar von materialem Irrtum im ersten Falle, von formalem Irrtum im zweiten Falle. Ein Urteil, und ein ihm entsprechender «Satz», kann also sowohl auf Grund eines Irrtums als auch einer Täuschung falsch sein. Niemals aber kann eine Täuschung auf der Falschheit eines Satzes oder gar auf einem Irrtum beruhen, und ebensowenig durch Erkenntnis des Irrtums und Erkenntnis der Falschheit eines Satzes aufgehoben werden. Alle Täuschungen sind in diesem Sinne prälogisch und bestehen völlig unabhängig von der Urteilsund Satzsphäre. In einem Sinne aber beruht alle Falschheit auf Täuschung, alle Wahrheit, ja die Wahrheit, daß es «Wahrheit» gebe, selbst noch auf Einsicht, desgleichen beruht aller und jeder Irrtum noch auf Selbsttäuschung: nämlich auf der Selbsttäuschung, es bestehe für ein Urteil der von ihm gemeinte Sachverhalt, während er nicht besteht (materialer Irrtum), oder auf der Täuschung, es sei das unrichtige Urteil richtig (formaler Irrtum). Es sind nun nur die «gewöhnlichen Täuschungen» der relativen Adäquation, die, wie oben gezeigt, zu falschen Urteilen führen. Die metaphysischen Täuschungen- die Annahme z.B., es seien die Gegenstände der mechanischen Physik absolute Gegenstände – beeinträchtigen die Wahrheit und die Richtigkeit der Sätze dieser Wissenschaft in dem Sinne gar nicht, daß ihr logischer Gehalt geändert werden müßte, wenn die Täuschung durchschaut ist. Physikalisch bleibt so alles gleich, welche

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Stufe der Absolutheit der Physiker seinem Gegenstand zuschreibt, ob er beispielsweise – mit Poincarés hübschem Gleichnis zu reden – glaubt, es sei auch für Gott die Welt eine Partie «Billard», oder ob er (nicht weniger irrig) wie E. Mach seine Gegenstände als pure Symbole zur Vereinfachung von Empfindungskomplexen ansieht. Insofern erfreut sich der Vertreter positiver Wissenschaft durchaus der Unabhängigkeit seiner Resultate von philosophischem Streit. Aber er verkenne auch nicht, daß die Wahrheit seiner Sätze innerhalb der Stufe der Relativität seiner Gegenstände, über die er sich täuscht, seine fundamentale Täuschung über die Welt nicht aufhebt – und daß er sich prinzipiell mit dieser Wahrheit und Einstimmigkeit seiner gesamten Wissenschaft noch nicht vom Halluzinanten unterscheidet, der über seinen Gegenstand wahre und richtige Urteile innerhalb seiner halluzinierten Welt fällt. Man kann ein riesengroßer Gelehrter sein – und doch das Gegenteil eines Weisen, nämlich ein philosophischer Narr. Wir werden daher sagen müssen: Die Sätze eines solchen Physikers sind metaphysisch sämtlich falsch, mögen sie wissenschaftlich auch völlig wahr sein. Ja, seine «Wissenschaft» selbst in der Erkenntnisfunktion, die er ihr zuteilt, ist eine falsche Wissenschaft und wird wahre Wissenschaft erst durch Aufhebung jener Täuschung. Andererseits beruht jeder materiale Irrtum selbst auf einer metaphysischen Täuschung, nämlich auf der Täuschung, es bestehe der gemeinte Sachverhalt auf der Relativitätsstufe der Gegenstände, mit der es der Urteilende faktisch zu tun hat – gleichgültig, ob er sie als solche weiß oder nicht. Alle Sachverhalte sind ja im Sinne des Seins des Gemeinten, z.B. auch der Sachverhalt in der Täuschung selbst; aber nicht alle «bestehen». Und erst ihr «Bestand» – dessen Sein oder Nichtsein unverträglich nur für die Einheit einer und derselben Relativitätsstufe ist, gleichgültig welcher – macht die materiale Wahrheit des Urteils aus. Es ist also die Täuschung, man meine im Urteil einen Sachverhalt, der auf einer Seinsstufe «ist» und vermeint ist, die man im geistigen Auge hat, während er nicht auf ihr ist, die jeden materialen Irrtum fundiert. Irrtum aber im formalen Sinne beruht auf einer Art erkenntnistheoretischer Täuschung. Da Erfüllung der logischen Prinzipien und Sätze in allen Begriffen, Urteilen, Schlüssen eine von der materialen Wahrheit unabhängige Bedingung für die Wahrheit der betreffenden Sätze überhaupt ist, so können diese Prinzipien und Sätze selbst nicht mehr «wahr» im

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gleichen Sinne genannt werden, wie ihr Bestand Bedingung ist für wahre Sätze, und wie ihre Erfüllung im Denken eben Bedingung ist für die Richtigkeit des Urteils. Und doch sind sie noch «wahr» im schlichten Sinne des Wortes wahr – ein Sinn, der der Scheidung von materialer Wahrheit eines Satzes (= Bestand des von ihm gemeinten Sachverhalts) und Richtigkeit (= Erfülltheit der rein logischen Sätze in allen Einheiten der betreffenden logischen Gebilde) noch vorhergeht: Sie sind «einsichtig wahr», d.h. so, daß ihre Wahrheit in ihnen selbst gegeben ist. 3. DIE BEIDEN GRUNDPRINZIPIEN DER WISSENSCHAFTSLEHRE Kehren wir nun zurück zur «Wissenschaft» und ihren Gegenständen. Ihre Gegenstände, so sahen wir, sind auf einer anderen Relativitätsstufe als jene der natürlichen Weltanschauung. Sie sind «absolut da», nämlich in Hinsicht auf menschliche Organisation; aber sie sind relativ in Hinsicht auf Leben überhaupt. Wissenschaft überwindet den Gehalt der MenschenUmwelt, ja erklärt noch diesen Gehalt auf Grund von Tatsachen, die nicht in ihm enthalten sind. Aber sie tut dies relativ auf Leben und mit Festhaltung der Form- und Strukturgesetze einer Umwelt überhaupt. Wir können sie daher geradezu definieren: Wissenschaft ist Umwelterkenntnis. Und sie ist es im Gegensatz zur Philosophie, die Welterkenntnis (oder «Weltweisheit») ist. Und nun wird es verständlich sein, wenn ich sage: Die Adäquation der wissenschaftlichen Erkenntnis muß nach den dargelegten Beziehungen der Erkenntnismaßstäbe genau im selben Maße abnehmen, wie ihre Gegenstände unabhängig vom Gehalt der menschlichen Umwelt werden, d.h. sie wird im selben Maße Erkenntnis durch Symbole. Da Daseinsrelativität der Gegenstände überhaupt auf Fülle und Erkenntnisadäquation des Weltdinges zurückführbar ist, und die natürlichen Gegenstände füllehaltiger sind, so steht auch die natürliche Weltanschauung dem Weltding und seiner Fülle prinzipiell näher als die Wissenschaft: Es ist eine größere Fülle der Gesamtfülle des Weltdinges, die in ihren Gehalt eingeht – freilich diese Fülle ausgelesen nach den Selektionsgesetzen bloß menschlicher Organisation. Ihr Gegenstand ist menschliche Umwelt – aber in ihr der Gehalt der Welt. Der Gegenstand der Wissenschaft ist die unabhängig vom Menschen und seiner Organisation existierende Welt –

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aber von ihrer Fülle nur die Struktur einer Umwelt überhaupt. Hier eine enge und beschränkte «Tagesansicht», dort eine weite und unbeschränkte «Nachtansicht» – beides sicher nicht, was Philosophie, was Weltweisheit sucht. Denn dies ist weite und unbeschränkte Tagesansicht, freilich auch nur beschränkt auf Wesenheiten der Welt und Wesensstruktur des Seins der Welt. Die Welt schlechthin, in ihrer absoluten Gegenständlichkeit und in ihrer Fülle, bleibt der Erkenntnis endlicher und leiblicher Wesen transzendent. Sie ist – Gottes. Aber zur «Wissenschaft» gehört noch ein anderes. So wenig ihre Tatsachen aus der Tatsachensphäre der natürlichen Weltanschauung stammen, so wenig ihr begriffliches Rüstzeug aus der Bedeutungssphäre der natürlichen Sprache und ihrer Einheiten und Syntax. Es gehört vielmehr wesentlich zur Wissenschaft, daß künstliche Zeichen und Verabredungen über deren Bedeutung (Konventionen) aufgestellt werden, die so gewählt sind, daß erstens durch sie alle Tatsachen, die für sie relevant sind, eindeutig bezeichnet werden können (Prinzip der eindeutigen Bestimmbarkeit aller Tatsachen durch Zeichen); daß zweitens möglichst wenige solcher Zeichen und möglichst wenige Verbindungsformen ihrer gewählt werden, dies aber bei gleichzeitiger maximaler durch sie bezeichenbarer Menge von Tatsachen und Menge ihrer Verknüpfungen (Prinzip der Ökonomie). Die nach diesen Grundprinzipien der Verfassung der Institution, die wir «Wissenschaft» nennen, zu erfolgenden Verabredungen werden durch die Gelehrten getroffen, die als solche keinerlei Gemeinschaft, sondern eine künstliche Gesellschaft bilden, worunter ich jede Gruppe verstehe, deren Glieder ohne natürliches Verständnis füreinander (im früher bestimmten Sinne) erst auf Grund bestimmter Zeichen in ein Verhältnis des gegenseitigen Verstehens ihrer Urteile treten. Damit eine Tatsache eine wissenschaftliche Tatsache sei, dazu gehört daher nicht nur ihre Auswahl erstens nach den Strukturformen der natürlichen Weltanschauung, zweitens nach den besonderen «Prinzipien» der betreffenden Wissenschaft, sondern drittens auch ihre eindeutige Bestimmbarkeit durch diese Zeichen nach den obengenannten Grundregeln der wissenschaftlichen Institution. Auch darin besteht ein Wesensunterschied der wissenschaftlichen Erkenntnis im prägnanten Sinne einerseits von der Erkenntnis der natürlichen Weltanschauung, andererseits von der Philosophie, der selten

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genügend gesehen wird. Die philosophische Erkenntnis ist ihrem Wesen nach asymbolische Erkenntnis. Sie sucht ein Sein, so wie es in sich selbst ist, nicht wie es sich als bloßes Erfüllungsmoment für an es herangebrachte Symbole darstellt. So wird ihr auch die Zeichenfunktion selbst zum Problem. Sie darf daher sachlich weder den Bestand der natürlichen Sprache und ihre Bedeutungsgliederung, noch gar den Bestand irgendeines künstlichen Zeichensystems für ihre Untersuchungen voraussetzen. Nicht die beredbare. Welt, d.h. die Welt schon unterstellt der Verpflichtung, es müsse eine eindeutige Verständigung über sie möglich sein, es müsse eindeutige Bestimmung ihres Gehaltes in mehreren Akten eines Individuums und mehreren Individuen über sie geben, nicht der Weltinhalt schon ausgewählt und gegliedert nach und gemäß der Erreichung des Zieles einer «allgemeingültigen» Erkennbarkeit – sondern das Gegebene selbst, mit Einschluß aller möglichen Zeichen für es, ist ihr Gegenstand. Gewiß bedient die Philosophie sich in der Erreichung dieses Zieles auch der Sprache, sowohl im heuristischen Sinne als auch im Sinne der Darstellung – niemals aber, um mit ihrer Hilfe ihren Gegenstand zu bestimmen, sondern nur, um das durch alle möglichen Symbole wesenhaft Unbestimmbare, weil schon in sich und durch sich selbst Bestimmte, zur Erschauung zu bringen. Sie bedient sich der Sprache, um im Verlaufe ihrer Untersuchung alles wegzustreichen aus ihrem Gegenstande, was bloß als erfüllendes X eines Sprachsymbols füngiert und daher nicht selbst gegeben ist. Für die natürliche Weltanschauung ist nun geradezu die Welt gleichsam nur als Erfüllung möglicher Sprachsymbole gegeben. Indem der Philosoph einen resoluten Kampf gegen die Tendenz führt. Gegebenes nur als solche «Erfüllung» sich geben zu lassen, findet er das durch die Sprache gleichsam noch unberührte vorsprachlich Gegebene; und er sieht so noch, was vom Gegebenen als bloße Erfüllung der Sprache fungiert. Und gerade hierdurch entdeckt er die Macht der Sprache und ihre seligierende, gliedernde Gewalt. Noch weniger aber darf sich der Philosoph der künstlichen Sprache der Wissenschaft im Sinne der Wissenschaft und der Voraussetzung eindeutiger Bestimmbarkeit der Tatsachen durch ein künstliches Zeichensystem bedienen. Machen wir uns nun klar: Wie verhält sich der Satz eindeutiger Bestimmbarkeit aller Tatsachen, und der zweite Satz der Verfassung der wissenschaftlichen Institution zu den Erkenntnismaßstäben, die wir bisher

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kennenlernten: 1. Selbstgegebenheit, 2. Adäquation der Erkenntnis, 3. Relativitätsstufe des Daseins der Gegenstände, 4. schlichte WahrheitWahrsein, 5. materiale Wahrheit-Falschheit, 6. Richtigkeit-Unrichtigkeit? Die so sich folgenden Maßstäbe bilden eine Reihe, welche die Eigenschaft hat, daß der jeweilige Sinn des folgenden Maßstabes den Sinn der vorhergehenden voraussetzt: Der Begriff der Adäquation und Fülle gewinnt erst Sinn durch die Annäherung einer Erkenntnis an die Selbstgegebenheit. Die Daseinsrelativität eines Gegenstandes ließ sich auf wachsende und abnehmende Fülle des Weltdinges zurückführen. Das schlichte einsichtige Wahrsein ist Selbstgegebenheit der Deckung des im Urteil gemeinten, im Satz gesetzten Sachverhalts mit dem bestehenden Sachverhalt. Materiales Wahr-Falsch setzt das schlichte «einsichtige Wahrsein» voraus und geht auf das Verhältnis des schlicht wahren Satzes zum jeweiligen Gegenstand des Urteils. «Richtigkeit» dagegen kommt dem Verfahren des Subjekts zu: dem Urteilen, sofern es zu schlicht Wahrem führt. Nun ist aber klar, daß gegebene Erkenntnis nach allen diesen Maßstäben genau bestimmt sein kann, ohne daß indes das in ihr Erkannte auch eindeutig bestimmt und möglichst ökonomisch bestimmt sein kann. Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit der Bestimmtheit durch mögliche Zeichen (denn wo von Deutigkeit die Rede ist, da ist Zeichenfunktion, die selbst noch ein phänomenologisches Datum ist und ihre eigenen Wesensgesetze hat) ändert also an dem nach diesen Maßstäben zu eruierenden Wert der Erkenntnis sachlich nicht das mindeste. Darum sind jene Sätze streng genommen überhaupt keine Sätze der Theorie der Erkenntnis, sondern die auf der philosophischen Lehre vom Wesen der Zeichen beruhenden Grundartikel der Institution Wissenschaft. D.h. sie gehören nicht in die Erkenntnislehre, sondern in die Wissenschaftslehre: ein Anwendungsgebiet der Erkenntnislehre. Es könnte daher prinzipiell eine nach allen diesen Maßstäben vollendete Erkenntnis der Welt vorhanden sein – ohne daß auch nur einer der betreffenden Gegenstände und nur eine Tatsache eindeutig bestimmt wäre. Auch Begriffe, Gesetzesurteile haben ja mit der eindeutigen Bestimmung und Formulierung ihrer Gegenstände nicht das mindeste zu tun – und nur irriger Nominalismus verwechselt fortwährend die möglichst sparsame und eindeutige Bezeichnung der Begriffe und der Formulierungen der Gesetze

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mit diesen selbst; die Maßmethoden der Größen, die gebrauchten Maßeinheiten und deren Zahlungsart mit der Größenbestimmtheit der Sachen selbst; die Kleider, die ein logisches Prinzip z.B. in der symbolischen Logik annimmt, mit diesem selbst6; die Darstellung unserer mechanischen Erkenntnis in wenigen Grundsätzen und Grundgrößen und vielen und verwickelten Folgerungen, oder in mehreren unabhängigen Grundsätzen und in einfacheren Folgerungen, mit dem hiervon unabhängigen Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt. Freilich andererseits könnte in einem ungeheuren System von Zeichen nach konventionellen Regeln der Verbindung ihrer und der Elemente der komplexen Zeichen auch eine streng eindeutige Ordnung des Weltinhalts so stattfinden, daß wir durch die Verbindung dieser Zeichen jede Tatsache und alle Beziehungen der Tatsachen zueinander eindeutig bestimmen könnten – ohne daß doch in dem so gewonnenen «Bilde» der Tatsachen (im Sinne der mathematischen «Abbildung») irgendwelche Erkenntnis, gemessen an irgendeinem der genannten Maßstäbe, gelegen sein müßte. Eindeutig bestimmen und ökonomisch ordnen hat eben mit Erkenntnis von Hause aus nicht das mindeste zu tun. Ist der Weltinhalt in diesem Sinne eindeutig bestimmt und jede komplexe Tatsache und jede komplexe Relation der Tatsachen untereinander mit Hilfe der Zusammensetzung dieser Zeichen und ihrer Operationsgesetze, die analog den Spielregeln z.B. des Schachs fungieren, dargestellt, so ist damit die Erkenntnis der Welt in keiner Weise vergrößert. Wohl aber wäre hierdurch die Möglichkeit gegeben, von jeder praktisch hervorzubringenden komplexen Tatsache und deren Folgen vorher ein symbolisches Modell zu entwerfen und an ihm – wie es der Ingenieur und Architekt an seinem Plane tut – alles zu verbildlichen, was an Teilen in die Realisierung des Projekts eingehen soll, und vorherzusehen, wie es da wirken wird. D.h. es ergibt sich die Paradoxie: Für den praktischen Behuf, die Dinge zu beherrschen, wäre eine solche ideale eindeutige Ordnung des Weltinhalts und der ihm immanenten Beziehungen durch Symbole – und zwar für alle denkbaren Zwecke dieser Beherrschung – vollkommen genügend; so wie es bei guter Funktion der Signale für den Weichensteller genügt, bei Erscheinen dieses 6

Es ist insbesondere nicht etwa so, daß das «Prinzip der eindeutigen Bestimmbarkeit der Tatsachen durch Zeichen» mit dem Identitätsprinzip identisch wäre.

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oder jenes farbigen Signals diese oder jene Weiche zu stellen, ohne daß er zu wissen braucht, es fahre dieser oder jener Zug ein. Ein konsequenter «Pragmatist» könnte sich daher mit der Lösung dieser Aufgabe begnügen. Denn auch dies ist evident: Pure Erkenntnis (gemessen an den genannten Maßstäben) als solche ist für alles technische Handeln ganz ohne Bedeutung. Sie wird es nur, insofern die Gleichheit oder Verschiedenheit, oder sonstige Beziehungen des erkannten Gegenstandes, auch gleiche und verschiedene, resp. den Beziehungen entsprechend zugeordnet verschiedene Handlungsreaktionen setzt. Treten also an Stelle der erkannten Gegenstände und ihrer Beziehungen irgendwelche ihnen eindeutig zugeordnete Symbole der Gegenstände und Symbole der Beziehungen, so ist dies alles, was ein möglicher praktischer Zweck nur erheischen kann. Und doch enthielte dieses Symbolsystem gar nichts von Erkenntnis. Gewiß existiert ein solches Zeichensystem zur eindeutigen Ordnung der Welt nur als Ideal. Aber darauf kommt es hier nicht an. Hier galt es nur zu zeigen, wie grundverschieden und wie unabhängig voneinander die Aufgaben prinzipiell sind: Welt erkennen und Welt eindeutig ordnen. Als die größte aller Verkehrungen muß es nun dem Phänomenologen erscheinen, die beiden Artikel der Verfassung des Institutes «Wissenschaft», so wie es z.B. die konsequentesten Vertreter der Marburger Schule tun, an die Spitze der Theorie der Erkenntnis zu stellen und schließlich das Sein der Welt selbst dem durch Wissenschaft eindeutig Bestimmbaren gleichzusetzen. Geschieht ja damit nichts Geringeres, als daß ein Grundartikel der Institution Wissenschaft zur Bedingung des Seins selbst gemacht wird. Was in der Reihe der Erkenntnismaßstäbe an letzter Stelle kommt und für den Erkenntniswert eigentlich gar keine Rolle mehr spielt, sondern nur für die Zugehörigkeit der betreffenden Erkenntnis zur Wissenschaft, das nimmt jetzt die erste Stelle ein – und auch als Sein hat nichts zu gelten, was nicht als eindeutig Bestimmtes nachzuweisen ist. Kein Wunder auch, daß hier von einer Erzeugung des Seins im Denken gesprochen wird, und der Satz Kants, «es schreibe der Verstand der Natur seine Gesetze vor», noch gewaltig übersteigert wird. Denn nicht nur tritt an die Stelle des «Vorschreibens» ein «Erzeugen»; auch das, was Kant dem Denken als gegeben gegenüberstellt, die Formen der Anschauung und der materiale Faktor der Erkenntnis, soll erst als ein durch Denken zu

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Bestimmendes gelten. Beachten wir aber das Gesagte, so ergibt sich uns eine wesentlich andere Auffassung der Verhältnisse. Das einzige, dem eine Vorschrift – im strengen Sinne – erteilt werden kann, ist nicht, wie Kant sagt, «Natur» und überhaupt die Gegenstände und Tatsachen, sondern allein die von uns verwandten Zeichen für sie. Alles andere muß als «gegeben» angesehen werden. Der «Verstand» – mit Kant zu reden – schafft nichts, macht nichts, formt nichts. 4. APRIORI UND GEGEBENHEITSORDNUNG Das, was Kant als «Formen der Anschauung und des Verstandes» ansprach, das sind für die phänomenologische Erfahrung noch aufweisbare Gegebenheiten. Freilich es sind solche, die in der natürlichen Weltanschauung und in der Wissenschaft nie und nimmer «gegeben», wohl aber als Selektionsprinzipien und -formen in ihnen wirksam sind. Was besagt dies? Es besagt, daß es eine feste Ordnung der Fundierung gibt, nach der in beiden Arten der Erfahrung die Phänomene zur Gegebenheit kommen, so daß ein Phänomen B nicht gegeben sein kann, wenn nicht ein Phänomen A «zuvor» – in der Ordnung der Zeit – gegeben ist. Räumlichkeit also, Dinghaftigkeit, Wirksamkeit, Bewegung, Veränderung usw. werden nicht einem Gegebenen durch den sog. «Verstand» als Formen der Synthesis seiner beziehenden Tätigkeit hinzugefügt, ebensowenig abstrahiert – sondern all das sind materielle Phänomene eigener Art: jedes Gegenstand einer sorgfältigen und peinlichen phänomenologischen Untersuchung. Kein Denken und Anschauen kann sie «machen» oder «gestalten», sondern alle sind als Data der Anschauung vorgefunden. Aber so ist die natürliche Erfahrung geartet, daß diese Phänomene in ihr jeweilig schon gegeben sein müssen, damit andere Phänomene, z.B. Farben, Töne, Geruchs- und Geschmacksqualitäten, gegeben seien. So ist Räumlichkeit gegeben vor und unabhängig von Gestalten im Raum, vor und unabhängig von Ort und Lage irgendwelcher Dinge, erst recht vor und unabhängig von Qualitäten. So die Dingheit, Materialität, Körperlichkeit eines bestimmten Körperdings vor seiner Washeit und seinen material erfüllten Eigenschaften. So die unmittelbare Bewegungserscheinung vor einer Ortsverschiedenheit und mittelbaren Identifizierung des Bewegten, ja vor einer Erfassung des

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Bewegten auch nur als Körper oder als Ding oder als Sehding (z.B. Schatten, Lichtstreifen, der sich bewegt). So werden Gestalten unabhängig von den Relationen der in sie eingehenden Qualitäten und vor und unabhängig von diesen Qualitäten selbst als identisch und verschieden, ähnlich usw. gegeben sein (Bühler); so wieder anschauliche Relationen, wie «ähnlich», vor und unabhängig von den Trägern der Relation, wohl aber als Selektionsprinzip für das, was in den Gehalt der Anschauung der Träger eingeht – für das nämlich, was diese geschaute Ähnlichkeit fundieren kann. Ein ungeheures Feld der Untersuchung über das innere Bildungsgesetz der natürlichen Wahrnehmungsgegebenheit ist hier eröffnet – weit hinausgehend über das von Kant teils richtig, teils falsch Festgestellte, und viel tiefer ins Materiale hinabsteigend. Daß wir z.B. die Physik der Farbe an die Lehre vom Licht anknüpfen, hat sein letztes Fundament darin, daß die Erfahrung von Helligkeitswerten und wertverschiedenheiten der Erfahrung der Qualität der Farbe, und daß die Erfahrung der Einheit eines festen Dinges, für die Farbe nur als Symbol fungiert, daß endlich die Erfahrung räumlicher Ausdehnung (nicht der Ausdehnung selbst), d.h. einer Fläche, der Erfahrung der Farbenquales in der Ordnung der Gegebenheit vorausgeht. So erst wird es möglich – ich nannte nicht alle Voraussetzungen streng –, die Farbenerscheinungen in der Physik als Abhängige verschieden lichtbrechender fester Medien und verschiedener Strahlen mit verschiedenen Teilkomponenten anzusehen. «A priori» ist – wäre diese Selektionsordnung festgestellt – einfach jede Erkenntnis, deren Materie in der Ordnung der Gegebenheit gegeben sein muß, sofern der Gegenstand gegeben sein soll, in Hinsicht auf den jene Erkenntnis a priori ist: Geometrie und Zahlenlehre sind für alle Erkenntnis von Naturphänomenen, erst recht also auch für die gesamte Körperwelt a priori, weil die intuitive Materie, die beide Wissenschaften (über die Gegebenheit reiner Logik hinaus) zur Konstituierung ihrer Gegenstände voraussetzen, eine scharf bestimmte Stufe in der Bildung jeder möglichen Wahrnehmung, Vorstellung, auch Phantasievorstellung eines Körpers besitzt. Die Mengenlehre ist der Geometrie und Zahlenlehre gegenüber a priori, da in ihrer intuitiven Gegebenheit die bloßen Verhältnisse von Mehrheiten in einem puren Auseinander, dessen Räumlichkeit und Zeitlichkeit noch unbestimmt ist, Gegenstand der Untersuchung sind, diese Gegebenheit

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aber auch in aller Vielheit von Elementen in einer dieser spezielleren Arten des Auseinander nach der Ordnung der Gegebenheit drinsteckt – und die Ordnung der zeitlichen Mannigfaltigkeit die Zahl mitkonstituiert. Die Prinzipe der Mechanik sind durch Beobachtung von in Bewegung begriffenen Körpern darum nie verifizierbar und widerlegbar und für diese a priori, weil sie schon durch das pure Phänomen (toter) Bewegung – zu dessen Erfassung es eines Körpers oder Dinges nicht bedarf, sondern nur der unmittelbaren Identifizierung von «etwas, das fest ist», im umkehrbaren Wechsel der Raumerfüllung – erfüllbar sind, dieses Datum aber der Gegebenheit jeder beobachtbaren Bewegung von Körpern vorhergeht, unumkehrbarer Wechsel von etwas, das fest ist, gibt das Bild der Veränderung. Ich werde mir also auch in der Phantasie keine mögliche Beobachtung von Körperbewegungen vorstellen können, die, wäre sie vollzogen, je einen Grund abgeben könnte, die Sätze, die «Prinzipe der Mechanik» heißen, aufzugeben. Tote Bewegung hat zum Wesen, daß die in aller Bewegung liegenden Momente: 1. Tendenz und Erfüllung, 2. unmittelbare Identifizierung des logischen Gegenstandes, 3. Kontinuität der Ortsvariation, fundiert gegeben sind auf eine (also schon gegebene) Ortsvariation. Wir erfassen hier nicht, wie bei Lebensbewegung, jede Verschiedenheit der Ortsvariation aufgebaut auf eine zuvor gegebene Tendenzvariation, sondern umgekehrt jede Tendenzvariation und Richtungsvariation aufgebaut auf eine gegebene Ortsvariation. Der Gegenstand tendierte von Punkt A nach Punkt A1, weil er (als unmittelbar identifizierter) nach Verlauf einer bestimmten Zeit in A1 ist. Alle Richtungs- und Tendenzbestimmung erfolgt sozusagen post festum oder in der Rückschau von dem momentan gegebenen Ort. Dagegen folgen wir in der Anschauung bei Lebensbewegung primär der Tendenz und sehen noch, wohin sie den Gegenstand führt. Hier ist Ortsvariation als Anschauung «Folge» des Bewegens des «Sichbewegenden». Da unser Geist, dem Bewegten bei der toten Bewegung gleichsam voranschreitend, den Punkt zuerst ins Auge faßt, der im nächsten Stadium erfüllt wird, so hat dieses innere Gesetz der Auffassung toter Bewegungen auch bei faktischer Ruhe des in Bewegung Befindlichen keine Grenze. D.h. es muß für die Ruhe einen positiven Grund geben: eine die Fortbewegung hemmende Ursache. Darin ist ein Bestandteil des

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Trägheitsprinzips gegeben: Um einen in Bewegung begriffenen Körper in Bewegung zu erhalten, bedarf es keiner neuen Bewegungsursache, wohl aber einer solchen für seinen Übergang in Ruhe. Nicht das Prinzip des zureichenden, resp. des fehlenden Grundes also führt zu dem Satze, sondern erst die gegebene phänomenologische Einsicht dieses Prinzips. Die Geradlinigkeit der Bewegung, die das Prinzip ausspricht, ist wieder einsichtig: Baut sich die Bewegungserfahrung auf eine gegebene Variation des Ortes von etwas Festem auf, so muß die Bewegungstendenz in jedem Augenblick und jeder Phase eine geradlinige sein; denn zwei verschiedene Orte sind notwendig und stets durch eine Gerade verbindbar, d.h. durch eine Linie dieser Gestalteinheit. Wie immer also Körper sich faktisch nach unserer Beobachtung bewegen mögen: Da es zum Wesen des Phänomens der toten Bewegung gehört, daß die Bahn die einer Geraden sei, und zum Wesen einer Körpereinheit, die Einheit eines festen Dinges zu sein, so muß jede mögliche Körperbewegung so zerlegbar sein, daß dieser Satz erfüllt bleibt. Das gleiche gilt für die Richtungsidentität der toten Bewegung, die sich stets auf die Parallelität der durchlaufenen Strecken aufbaut. Endlich ist auch die Gleichförmigkeit, d.h. die Gleichheit der durchlaufenen Strecken in gleichen Zeiten, evident einsichtig aus dem Wesensbilde einer toten Bewegung. Jede gerade Strecke können wir in gleiche Teile teilen; dies ist geometrisch evident. Lassen wir den Punktabständen der Bahn, die diese gleichen Teile markieren, verschiedene Zeitabstände entsprechen, so läge einer und derselben Bewegung nicht mehr ein und derselbe Wechsel von Raumerfüllung durch das Quäle «Festes» zugrunde. Alle Bewegungserscheinung aber ist fundiert in der Erscheinung einer umkehrbaren Wechselvariation in der Mannigfaltigkeit des Außereinander. Und im Außereinander überhaupt ist das Gegebene, das bei unumkehrbarem Wechsel zur zeitlich qualitativen Veränderung eines Raumstückes wird, bei umkehrbarem Wechsel zur Bewegung eines Etwas im Raum, noch nicht in räumliche und zeitliche Mannigfaltigkeit geschieden. Jede identische Strecke kann noch Raum-und Zeitstrecke werden. Das heißt aber: Jeder Wechselphase entspricht, so sich Bewegung auf den Wechsel aufbaut, auch mindestens eine Bewegungsphase, in deren Teilen gleiche Raumstrecken an gleiche Zeitstrecken geknüpft sein müssen. Gar vieles noch läßt sich aus dem Wesensbild einer toten Bewegung herausschauen; ich gehe darauf nicht ein. Immer gilt: Was evident wahr ist

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für das Wesen der toten Bewegung selbst, ist a priori wahr für alle möglichen beobachtbaren Körperbewegungen, da deren mögliche Gegebenheit an die Gegebenheit dieses Wesens toter Bewegung geknüpft ist. Prinzipiell, haben wir gesehen, ist also das Apriori keine Zutat, kein Verknüpfungserzeugnis unseres Geistes, sondern allein eine Folge davon, daß die in der Welt enthaltenen Tatsachen – alle phänomenologisch reduziert gedacht – uns in einer festen Ordnung zur Gegebenheit kommen.

TEIL V KRITIK VERSCHIEDENER FORMEN DES REDUKTIONISMUS

EDMUND HUSSERL LOGISCHE UNTERSUCHUNGEN PROLEGOMENA ZU EINER REINER LOGIK1 SIEBENTES KAPITEL DER PSYCHOLOGISMUS ALS SKEPTISCHER RELATIVISMUS

§ 32. Die idealen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt. Der strenge Begriff des Skeptizismus Der schwerste Vorwurf, den man gegen eine Theorie, und zumal gegen eine Theorie der Logik, erheben kann, besteht darin, daß sie g e g e n d i e evidenten Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie ü b e r h a u p t verstoße. Eine Theorie aufstellen und in ihrem Inhalt, sei es ausdrücklich oder einschließlich, den Sätzen widerstreiten, welche den Sinn und Rechtsanspruch aller Theorie überhaupt begründen – das ist nicht bloß falsch, sondern von Grund aus verkehrt. In doppelter Hinsicht kann man hier von evidenten ,,Bedingungen der Möglichkeit“ jeder Theorie überhaupt sprechen. Fürs erste in s u b j e k t i v e r Hinsicht. Hier handelt es sich um die apriorischen Bedingungen, von denen die Möglichkeit der unmittelbaren und mittelbaren E r k e n n t n i s * und somit die Möglichkeit der vernünftigen R e c h t f e r t i g u n g jeder Theorie abhängig ist. Die Theorie als Erkenntnisbegründung ist selbst eine Erkenntnis und hängt ihrer Möglichkeit nach von gewissen Bedingungen ab, die rein begrifflich in der Erkenntnis und ihrem Verhältnis zum erkennenden Subjekt gründen. Z.B.: Im Begriff der Erkenntnis im strengen Sinne liegt es, ein Urteil zu sein, das nicht bloß den Anspruch erhebt, die Wahrheit zu treffen, sondern auch der Berechtigung dieses Anspruches gewiß ist und diese Berechtigung auch wirklich besitzt. Wäre der Urteilende aber nie und nirgends in der Lage, diejenige Auszeichnung, welche die Rechtfertigung des Urteils ausmacht, in sich zu 1

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Husserliana, Bd. XVIII. Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage. Bd. I. Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg. v. E. Holenstein, Den Haag, M.Nijhoff, 1975, S. 118-131. Ich bitte zu beachten, daß der Terminus Erkenntnis in diesem Werke nicht in der viel gebräuchlichen Einschränkung auf Reales verstanden wird.

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erleben und als solche zu erfassen, fehlte ihm bei allen Urteilen die Evidenz, die sie von blinden Vorurteilen unterscheidet, und die ihm die lichtvolle Gewißheit gibt, nicht bloß für wahr zu halten, sondern die ň ʼn Wahrheit selbst zu haben 2 – so wäre bei ihm von einer vernünftigen Aufstellung und Begründung der Erkenntnis, es wäre von Theorie und Wissenschaft keine Rede. Also verstößt eine Theorie gegen die subjektiven Bedingungen ihrer Möglichkeit als Theorie überhaupt, wenn sie, diesem Beispiel gemäß, jeden Vorzug des evidenten gegenüber dem blinden Urteil leugnet; sie hebt dadurch das auf, was sie selbst von einer willkürlichen, rechtlosen Behauptung unterscheidet. Man sieht, daß unter subjektiven Bedingungen der Möglichkeit hier nicht etwa zu verstehen sind reale Bedingungen, die im einzelnen Urteilssubjekt oder in der wechselnden Spezies urteilender Wesen (z.B. der menschlichen) wurzeln, sondern ideale Bedingungen, die in der Form der Subjektivität überhaupt und in deren Beziehung zur Erkenntnis wurzeln. Zur Unterscheidung wollen wir von ihnen als von n o e t i s c h e n Bedingungen sprechen. In o b j e k t i v e r Hinsicht betrifft die Rede von Bedingungen der Möglichkeit jeder Theorie nicht die Theorie als subjektive Einheit von E r k e n n t n i s s e n , sondern Theorie als eine objektive, durch Verhältnisse von Grund und Folge verknüpfte Einheit von W a h r h e i t e n bzw. S ä t z e n . Die Bedingungen sind hier all die G e s e t z e , w e l c h e r e i n i m B e g r i f f e d e r T h e o r i e g r ü n d e n – spezieller gesprochen, die rein im Begriffe der Wahrheit, des Satzes, des Gegenstandes, der Beschaffenheit, der Beziehung u. dgl., kurz in den Begriffen gründen, welche den B e g r i f f d e r t h e o r e t i s c h e n E i n h e i t w e s e n t l i c h k o n s t i t u i e r e n . Die Leugnung dieser Gesetze ist also gleichbedeutend (äquivalent) mit der Behauptung, all die fraglichen Termini: Theorie, Wahrheit, Gegenstand, Beschaffenheit usw. entbehrten eines k o n s i s t e n t e n S i n n e s . Eine Theorie hebt sich in dieser objektiv-logischen Hinsicht auf, wenn sie in ihrem Inhalt gegen die Gesetze verstößt, ohne welche Theorie überhaupt keinen „vernünftigen“ (konsistenten) Sinn hätte. Ihre logischen Verstöße können in den V o r a u s s e t z u n g e n , in den F o r m e n d e r t h e o r e t i s c h e n V e r b i n d u n g , endlich auch in der 2

ň

ʼn

A: halten .

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e r w i e s e n e n T h e s e selbst liegen. Am schroffsten ist die Verletzung der logischen Bedingungen offenbar dann, wenn es zum S i n n e der theoretischen These gehört, diese Gesetze zu leugnen, von welchen die vernünftige Möglichkeit jeder These und jeder Begründung einer These überhaupt abhängig ist. Und ähnliches gilt auch für die noetischen Bedingungen und die gegen sie verstoßenden Theorien. Wir unterscheiden also (natürlich nicht in klassifikatorischer. Absicht): falsche, absurde, logisch und noetisch absurde und endlich s k e p t i s c h e T h e o r i e n ; unter dem letzteren Titel alle Theorien befassend, deren Thesen entweder ausdrücklich besagen oder analytisch in sich schließen, daß die logischen oder noetischen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt falsch sind. Hiermit ist für den Terminus S k e p t i z i s m u s ein scharfer Begriff und zugleich eine klare Sonderung in l o g i s c h e n und n o e t i s c h e n S k e p t i z i s m u s gewonnen. Ihm entsprechen beispielsweise die antiken Formen des Skeptizismus mit Thesen der Art wie: Es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Erkenntnis und Erkenntnisbegründung u. dgl. Auch der Empirismus, der gemäßigte nicht minder als der extreme, ist nach unseren früheren Ausführungen* ein Beispiel, das unserem prägnanten Begriffe entspricht. Daß es zum Begriff der skeptischen Theorie gehört, w i d e r s i n n i g zu sein, ist aus der Definition ohne weiteres klar. § 33. Skeptizismus in metaphysischem Sinne Gewöhnlich wird der Terminus Skeptizismus einigermaßen vage gebraucht. Sehen wir von seinem populären Sinn ab, so nennt man skeptisch jedwede philosophischen Theorien, welche aus prinzipiellen Gründen eine erhebliche Einschränkung der menschlichen Erkenntnis dartun wollen, zumal wenn durch sie umfassende Sphären des realen Seins oder besonders wertgehaltene Wissenschaften (z.B. Metaphysik, Naturwissenschaft, Ethik als rationale Disziplinen) aus dem Gebiete möglicher Erkenntnis verbannt werden. Unter diesen unechten Formen des Skeptizismus pflegt hauptsächlich die eine mit dem hier definierten, eigentlich erkenntnistheoretischen Skeptizismus vermengt zu werden, bei welcher es sich um die *

Vgl. Kapitel V, Anhang zu den SS 25 und 26.

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Beschränkung der Erkenntnis auf psychisches Dasein und die Leugnung der Existenz oder Erkennbarkeit von „Dingen an sich“ handelt. Derartige Theorien sind aber offenbar m e t a p h y s i s c h e ; sie haben an sich mit dem eigentlichen Skeptizismus nichts zu tun, ihre These ist von allem logischen und noetischen W i d e r s i n n frei, ihr Rechtsanspruch ist nur eine Frage der Argumente und Beweise. Vermengungen und echt skeptische Wendungen erwuchsen erst unter dem paralogistischen Einfluß naheliegender Äquivokationen oder anderweitig geförderter skeptischer Grundüberzeugungen. Faßt z.B. ein metaphysischer Skeptiker seine Überzeugung in die Form: ,,Es gibt keine o b j e k t i v e Erkenntnis“ (sc. keine Erkenntnis von Dingen an sich); oder: „Alle Erkenntnis ist s u b j e k t i v “ (sc. alle TatsachenErkenntnis ist bloße Erkenntnis von Bewußtseinstatsachen), so ist die Verlockung groß, der Zweideutigkeit der Ausdrucksweise SubjektivObjektiv nachzugeben und für den ursprünglichen, dem eingenommenen Standpunkte angemessenen Sinn einen noetisch-skeptischen unterzulegen. Aus dem Satze: „Alle Erkenntnis ist subjektiv“ wird nun die total neue Behauptung: „Alle Erkenntnis als Bewußtseinserscheinung untersteht den ň ʼn Gesetzen menschlichen Bewußtseins 3; was wir Formen und Gesetze der Erkenntnis nennen, sind nichts weiter als „Funktionsformen des Bewußtseins“ bzw. Gesetzmäßigkeiten dieser Funktionsformen – psychologische Gesetze.“ Wie nun (in dieser unrechtmäßigen Weise) der metaphysische Subjektivismus den erkenntnistheoretischen empfiehlt, so scheint auch in umgekehrter Richtung der letztere (wo er als für sich einleuchtend angenommen wird) ein kräftiges Argument für den ersteren abzugeben. Man schließt etwa: „Die logischen Gesetze, als Gesetze für unsere Erkenntnisfunktionen, ermangeln der „realen Bedeutung“; jedenfalls könnten wir nie und nirgends wissen, ob sie mit den etwaigen Dingen an sich harmonieren, die Annahme eines „Präformationssystems“ wäre völlig willkürlich. Ist schon die Vergleichung der einzelnen Erkenntnis mit ihrem Gegenstande (zur Konstatierung der adaequatio rei et intellectus) durch den Begriff des Dinges an sich ausgeschlossen, so erst recht die Vergleichung der subjektiven Gesetzmäßigkeiten unserer Bewußtseinsfunktionen mit dem objektiven Sein der Dinge und ihren Gesetzen. Also wenn es Dinge an sich gibt, können wir von ihnen 3

ň

ʼn

A: Bewußtseinsgesetzen .

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schlechterdings nichts wissen.“ Metaphysische Fragen gehen uns hier nicht an, wir erwähnten sie nur, um gleich von vornherein der Vermengung zwischen metaphysischem und logisch-noetischem Skeptizismus zu begegnen. § 34. Der Begriff Relativismus und seine Besonderungen Für die Zwecke einer Kritik des Psychologismus müssen wir noch den Begriff des (auch in der besprochenen metaphysischen Theorie auftretenden) S u b j e k t i v i s m u s oder R e l a t i v i s m u s erörtern. Ein ursprünglicher Begriff ist umschrieben durch die P r o t a g o r e i s c h e Formel: ,,Aller Dinge Maß ist der Mensch“, sofern wir sie in dem Sinne interpretieren: Aller Wahrheit Maß ist der individuelle Mensch. Wahr ist für einen jeden, was i h m als wahr erscheint, für den einen dieses, für den anderen das Entgegengesetzte, falls es ihm ebenso erscheint. Wir können hier also auch die Formel wählen: Alle Wahrheit (und Erkenntnis) ist relativ – relativ zu dem zufällig urteilenden S u b j e k t . Nehmen wir hingegen statt des Subjektes die zufällige S p e z i e s urteilender Wesen als den Beziehungspunkt der Relation, so erwächst eine neue Form des Relativismus. Aller menschlichen Wahrheit Maß ist also der Mensch a l s s o l c h e r . Jedes Urteil, das im S p e z i f i s c h e n des Menschen, in den es konstituierenden Gesetzen wurzelt, ist – für uns Menschen – wahr. Sofern diese Urteile zur Form der allgemein menschlichen Subjektivität (des menschlichen ,,Bewußtseins überhaupt“) gehören, spricht man auch hier von Subjektivismus (von dem Subjekt als letzter Erkenntnisquelle u. dgl.). Besser wählt man den Terminus R e l a t i v i s m u s und unterscheidet den i n d i v i d u e l l e n und s p e z i f i s c h e n Relativismus; die einschränkende Beziehung auf die menschliche Spezies bestimmt den letzteren dann als A n t h r o p o l o g i s m u s . – Wir wenden uns nun zur Kritik, deren sorgsamste Ausführung durch unsere Interessen geboten ist. § 35. Kritik des individuellen Relativismus Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und, fast möchte ich sagen, frecher Skeptizismus, daß er, wenn überhaupt je, so gewiß nicht in neueren Zeiten ernstlich vertreten worden ist. Die Lehre ist, sowie

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aufgestellt, schon widerlegt – aber freilich nur für den, welcher die Objektivität alles Logischen einsieht. Den Subjektivisten, wie den ausdrücklichen Skeptiker überhaupt, kann man nicht überzeugen, wenn ihm nun einmal die Disposition mangelt einzusehen, daß Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn der Wahrheit gründen, und daß ihnen gemäß die Rede von einer subjektiven Wahrheit, die für den einen diese, für den ändern die entgegengesetzte sei, eben als widersinnige gelten müsse. Man wird ihn auch nicht durch den gewöhnlichen Einwand überzeugen, daß er durch die Aufstellung seiner Theorie den Anspruch erhebe, andere zu überzeugen, daß er also die Objektivität der Wahrheit voraussetze, die er in thesi leugne. Er wird natürlich antworten: Mit meiner Theorie spreche ich meinen Standpunkt aus, der für mich wahr ist und für niemand sonst wahr zu sein braucht. Selbst die Tatsache seines subjektiven Meinens wird er als bloß für sein eigenes Ich, nicht aber als an sich wahre behaupten.* Aber nicht auf die Möglichkeit, den Subjektivisten persönlich zu überzeugen und zum Eingeständnis seines Irrtums zu bringen, sondern auf die, ihn objektiv gültig zu widerlegen, kommt es an. Widerlegung setzt aber als ihre Hebel gewisse einsichtige und damit allgemeingültige Überzeugungen voraus. Als solche dienen uns Normaldisponierten jene trivialen Einsichten, an welchen jeder Skeptizismus scheitern muß, sofern wir durch sie erkennen, daß seine Lehren im eigentlichsten und strengsten Sinne widersinnig sind: Der Inhalt ihrer Behauptungen leugnet das, was überhaupt zum Sinn oder Inhalt jeder Behauptung gehört und somit von keiner Behauptung sinngemäß abtrennbar ist. § 36. Kritik des spezifischen Relativismus und im besonderen des Anthropologismus Können wir bei dem Subjektivismus zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten worden sei, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste *

Darin müßten ihm diejenigen recht geben, welche zwischen bloß subjektiven und objektiven Wahrheiten glauben scheiden zu dürfen, indem sie den Wahrnehmungsurteilen über die eigenen Bewußtseinserlebnisse den Charakter der Objektivität abstreiten: als ob das Für-mich-sein des Bewußtseinsinhalts nicht als solches zugleich ein An-sich-sein wäre; als ob die Subjektivität im psychologischen mit der Objektivität im logischen Sinne stritte!

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Philosophie dem spezifischen Relativismus und näher dem Anthropologismus in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte. Und doch ist auch sie eine skeptische in der oben fixierten Bedeutung des Wortes, also mit den größtmöglichen Absurditäten behaftet, die bei einer Theorie überhaupt denkbar sind; auch bei ihr finden wir, nur wenig verhüllt, einen evidenten Widerspruch zwischen dem Sinn ihrer These und dem, was von keiner These als solcher sinngemäß abtrennbar ist. Es ist nicht schwierig, dies im einzelnen nachzuweisen. l. Der spezifische Relativismus stellt die Behauptung auf: Wahr ist für jede Spezies urteilender Wesen, was nach ihrer Konstitution, nach ihren Denkgesetzen als wahr zu gelten habe. Diese Lehre ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sinne, daß derselbe Urteilsinhalt (Satz) für den einen, nämlich für ein Subjekt der Spezies homo, wahr, für einen anderen, nämlich für ein Subjekt einer anders konstituierten Spezies, falsch sein kann. Aber derselbe Urteilsinhalt kann nicht beides, wahr und falsch, sein. Dies liegt in dem bloßen Sinne der Worte wahr und falsch. Gebraucht der Relativist diese Worte mit ihrem zugehörigen Sinn, so sagt seine These, was ihrem eigenen Sinn zuwider ist. Die Ausflucht, es sei der Wortlaut des herangezogenen Satzes vom Widerspruch, durch den wir den Sinn der Worte wahr und falsch entfalteten, unvollständig, es sei in ihm eben von menschlich wahr und menschlich falsch die Rede, ist offenbar nichtig. Ähnlich könnte ja auch der gemeine Subjektivismus sagen, die Rede von wahr und falsch sei ungenau, gemeint sei „für das einzelne Subjekt wahr bzw. falsch“. Und natürlich wird man ihm antworten: Das evident gültige Gesetz kann nicht meinen, was offenbar widersinnig ist; und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit für den oder jenen. Widersinnig ist die offengehaltene Möglichkeit, daß derselbe Urteilsinhalt (wir sagen in ň ʼn gefährlicher Äquivokation 4: dasselbe Urteil) je nach dem Urteilenden beides, wahr und falsch, sei. Entsprechend wird nun auch die Antwort für den spezifischen Relativismus lauten: „Wahrheit für die oder jene Spezies“, z.B. für die menschliche, das ist – so wie es hier gemeint ist – eine widersinnige Rede. Man kann sie 4

ň

ʼn

A: Laxheit .

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allerdings auch in gutem Sinne gebrauchen; aber dann meint sie etwas total Verschiedenes, nämlich den Umkreis von Wahrheiten, die dem Menschen als solchem zugänglich, erkennbar sind. Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind. 2. Mit Rücksicht darauf, daß, was die Grundsätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten besagen, zum bloßen Sinn der Worte wahr und falsch gehört, ließe sich der Einwand auch so fassen: Sagt der Relativist, es könnte auch Wesen geben, welche an diese Grundsätze nicht gebunden sind (und diese Behauptung ist, wie leicht zu sehen, mit der oben formulierten relativistischen äquivalent), so meint er e n t w e d e r , es könnten in den Urteilen dieser Wesen Sätze und Wahrheiten auftreten, welche den Grundsätzen nicht gemäß sind; o d e r er meint, der Verlauf des Urteilens sei bei ihnen durch diese Grundsätze nicht psychologisch geregelt. Was das letztere anbelangt, so finden wir darin gar nichts Absonderliches, denn wir selbst sind solche Wesen. (Man erinnere sich an unsere Einwände gegen die psychologistischen Interpretationen der logischen Gesetze.) Was aber das erstere anbelangt, so würden wir einfach erwidern: Entweder es verstehen jene Wesen die Worte wahr und falsch in unserem Sinn; dann ist keine vernünftige Rede davon, daß die Grundsätze nicht gelten: sie gehören ja zu dem bloßen Sinn dieser Worte, und zwar ň ʼn wie w i r sie 5 verstehen. Wir würden in aller Welt nichts wahr oder falsch n e n n e n , was ihnen widerstritte. Oder sie gebrauchen die Worte wahr und falsch in einem anderen Sinne, und dann ist der ganze Streit ein Wortstreit. Nennen sie z.B. Bäume, was wir Sätze nennen, dann gelten die Aussagen, in die wir Grundsätze fassen, natürlich nicht; aber sie verlieren dann ja auch den Sinn, in dem wir sie behaupten. Somit kommt der Relativismus darauf hinaus, daß er den Sinn des Wortes Wahrheit total ändert, aber doch Anspruch erhebt, von Wahrheit in dem Sinne zu sprechen, der durch die logischen Grundsätze festgelegt ist, und den wir alle, wo von Wahrheit die Rede ist, ausschließlich meinen. In einem Sinne gibt es nur eine Wahrheit, 5

ň

ʼn

A: ihn .

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in äquivokem Sinne aber natürlich so viel ,,Wahrheiten“, als man Äquivokationen zu schaffen liebt. 3. Die Konstitution der Spezies ist eine Tatsache; aus Tatsachen lassen sich immer wieder nur Tatsachen ableiten. Die Wahrheit relativistisch auf die Konstitution der Spezies gründen, das heißt also ihr den Charakter der Tatsache geben. Dies ist aber widersinnig. Jede Tatsache ist individuell, also zeitlich bestimmt. Bei der Wahrheit gibt die Rede von zeitlicher Bestimmtheit nur Sinn mit Beziehung auf eine durch sie gesetzte Tatsache ň ʼn (falls sie eben Tatsachenwahrheit ist), nicht aber mit Beziehung auf sie 6 selbst. Wahrheiten als Ursachen oder Wirkungen zu denken, ist absurd. Wir haben davon schon gesprochen. Wollte man sich darauf stützen, daß doch wie jedes Urteil auch das wahre aus der Konstitution des urteilenden Wesens auf Grund der zugehörigen Naturgesetze erwachse, so würden wir entgegnen: Man vermenge nicht das Urteil als Urteilsinhalt, d.i. als die ideale Einheit, mit dem einzelnen realen Urteilsakt. Die erstere ist gemeint, wo wir von dem Urteil ,,2u2 ist 4“ sprechen, welches dasselbe ist, wer immer es fällt. Man vermenge auch nicht das wahre Urteil, als den richtigen, wahrheitsgemäßen Urteilsakt, mit der W a h r h e i t dieses Urteils oder mit dem wahren Urteilsinhalt. Mein Urteilen, daß 2u2=4 ist, ist sicherlich kausal bestimmt, nicht aber die Wahrheit: 2u2=4. 4. Hat (im Sinne des Anthropologismus) alle Wahrheit ihre ausschließliche Quelle in der allgemein menschlichen Konstitution, so gilt, daß wenn keine solche Konstitution bestände, auch keine Wahrheit bestände. Die Thesis dieser hypothetischen Behauptung ist widersinnig; denn der Satz „es besteht keine Wahrheit“ ist dem Sinne nach gleichwertig mit dem Satze „es besteht die Wahrheit, daß keine Wahrheit besteht“. Die Widersinnigkeit der Thesis verlangt eine Widersinnigkeit der Hypothesis. Als Leugnung eines gültigen Satzes von tatsächlichem Gehalt kann sie aber wohl falsch, niemals aber widersinnig sein. In der Tat ist es noch ň ʼn niemandem beigefallen, die 7 bekannten geologischen und physikalischen Theorien, welche dem Menschengeschlechte in der Zeitlichkeit Anfang und Ende setzen, als a b s u r d zu verwerfen. Folglich trifft der Vorwurf des Widersinns die ganze hypothetische Behauptung, da sie an eine dem Sinne 6 7

ň

ʼn

A: sich . ň ʼn A: den .

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nach einstimmige („logisch mögliche“) Voraussetzung eine widersinnige („logisch unmögliche“) Folge knüpft. Derselbe Vorwurf trifft dann den Anthropologismus und überträgt sich natürlich mutatis mutandis auf die allgemeinere Form des Relativismus. 5. Nach dem Relativismus könnte sich auf Grund der Konstitution einer Spezies die für sie gültige „Wahrheit“ ergeben, daß solch eine Konstitution gar nicht existiere. Sollen wir also sagen, sie existiere in Wirklichkeit nicht, oder sie existiere, aber nur für uns Menschen? Wenn nun alle Menschen und alle Spezies urteilender Wesen bis auf die eben vorausgesetzte vergingen? Wir bewegen uns offenbar in Widersinnigkeiten. Der Gedanke, daß die Nichtexistenz einer spezifischen Konstitution ihren Grund habe in dieser selben Konstitution, ist der klare Widerspruch; die wahrheitgründende, also existierende Konstitution soll neben anderen Wahrheiten die ihrer eigenen Nichtexistenz begründen. – Die Absurdität ist nicht viel kleiner, wenn wir Existenz mit Nichtexistenz vertauschen und dementsprechend an Stelle jener fingierten, aber vom relativistischen Standpunkte aus möglichen Spezies, die menschliche zugrunde legen. Zwar jener Widerspruch, nicht aber der übrige mit ihm verwobene Widersinn verschwindet. Die Relativität der Wahrheit besagt, daß, was wir Wahrheit nennen, abhängig sei von der Konstitution der Spezies homo und den sie regierenden Gesetzen. Die Abhängigkeit will und kann nur als kausale verstanden sein. Also müßte die Wahrheit, daß diese Konstitution und diese Gesetze bestehen, ihre reale Erklärung daraus schöpfen, daß sie bestehen, wobei die Prinzipien, nach denen die Erklärung verliefe, mit eben diesen Gesetzen identisch wären – nichts als Widersinn. Die Konstitution wäre causa sui auf Grund von Gesetzen, die sich auf Grund von sich selbst kausieren würden usw. 6. Die Relativität der Wahrheit zieht die Relativität der Weltexistenz nach sich. Denn die Welt ist nichts anderes als die gesamte gegenständliche Einheit, welche dem idealen System aller Tatsachenwahrň ʼn heit entspricht und von ihm untrennbar 8 ist. Man kann nicht die Wahrheit ň subjektivieren und ihren Gegenstand (der nur ist, wenn die Wahrheit ʼn9 besteht) als absolut (an sich) seiend gelten lassen. Es gäbe also keine 8 9

ň

ʼn

A: unabtrennbar . ň ʼn A: der nur in und vermöge der Wahrheit ist .

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Welt an sich, sondern nur eine Welt für uns oder für irgendeine andere ʼn zufällige 10 Spezies von Wesen. Das wird nun manchem trefflich passen; aber bedenklich mag er wohl werden, wenn wir darauf aufmerksam machen, daß zur Welt auch das Ich und seine Bewußtseinsinhalte gehören. Auch das „Ich bin“ und „Ich erlebe dies und jenes“ wäre eventuell falsch; gesetzt nämlich, daß ich so konstituiert wäre, diese Sätze auf Grund meiner spezifischen Konstitution verneinen zu müssen. Und es gäbe nicht bloß für ň diesen oder jenen, sondern schlechthin keine Welt, wenn keine in der ʼn Welt faktische 11 Spezies urteilender Wesen so glücklich konstituiert wäre, eine Welt (und darunter sich selbst) anerkennen zu müssen. Halten wir uns an die einzigen Spezies, die wir tatsächlich kennen, die animalischen, so bedingte eine Änderung ihrer Konstitution eine Änderung der Welt, wobei freilich, nach allgemein angenommenen Lehren, die animalischen Spezies Entwicklungsprodukte der Welt sein sollen. So treiben wir ein artiges Spiel: Aus der Welt entwickelt sich der Mensch, aus dem Menschen die Welt; Gott schafft den Menschen, und der Mensch schafft Gott. Der wesentliche Kern dieses Einwandes besteht darin, daß der Relativismus auch in evidentem Widerstreit ist mit der Evidenz des unmittelbar anschaulichen Daseins, d.i. mit der Evidenz der „inneren Wahrnehmung“ in dem berechtigten, dann aber auch nicht entbehrlichen Sinne. Die Evidenz der auf Anschauung beruhenden Urteile wird mit Recht bestritten, sofern sie intentional über den Gehalt des faktischen Bewußtseinsdatums hinausgehen. Wirklich evident sind sie aber, wo ihre Intention auf ihn selbst geht, in ihm, wie er ist, die Erfüllung findet. Dagegen streitet nicht die Vagheit aller dieser Urteile (man denke nur an die für kein unmittelbares Änschauungsurteil aufhebbare Vagheit der Zeitbestimmung und evtl. auch Ortsbestimmung). ň

§ 37. Allgemeine Bemerkung. Der Begriff Relativismus in erweitertem Sinne Die beiden Formen des Relativismus sind Spezialitäten des Relativismus in einem gewissen weitesten Sinn des Wortes, als einer 10 11

Zusatz von B. Zusatz von B.

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Lehre, welche die rein logischen Prinzipien irgendwie aus Tatsachen ableitet. Tatsachen sind „zufällig“, sie könnten ebensogut auch nicht sein, sie könnten anders sein. Also andere Tatsachen, andere logische Gesetze; auch diese wären also zufällig, sie wären nur r e l a t i v zu den sie begründenden Tatsachen. Demgegenüber will ich nicht bloß auf die apodiktische Evidenz der logischen Gesetze hinweisen, und was wir sonst in den früheren Kapiteln geltend gemacht haben, sondern auch auf einen anderen, hier bedeutsameren Punkt.* Ich verstehe, wie man schon aus dem Bisherigen entnimmt, unter rein logischen Gesetzen alle die Idealgesetze, welche rein im Sinne (im „Wesen“, „Inhalt“) der Begriffe Wahrheit, Satz, Gegenstand, Beschaffenheit, Beziehung, Verknüpfung, Gesetz, Tatsache usw. gründen. Allgemeiner gesprochen, sie gründen rein im Sinne d e r Begriffe, welche zum Erbgut aller Wissenschaft gehören, weil sie die Kategorien von Bausteinen darstellen, aus welchen die Wissenschaft als solche, ihrem Begriffe nach, konstituiert ist. Gesetze dieser Art darf keine theoretische Behauptung, keine Begründung und Theorie verletzen; nicht bloß weil sie sonst falsch wäre – dies wäre sie auch durch Widerstreit gegen eine beliebige Wahrheit – sondern weil sie in sich widersinnig wäre. Z.B. eine Behauptung, deren Inhalt gegen Prinzipien streitet, die im S i n n e der Wahrheit als solcher gründen, „hebt sich selbst auf“. Denn behaupten ist aussagen, daß der und jener Inhalt in Wahrheit sei. Eine Begründung, die inhaltlich gegen die Prinzipien streitet, die i m S i n n e der Beziehung von Grund und Folge gründen, hebt sich selbst auf. Denn begründen heißt wieder aussagen, daß diese oder jene Beziehung von Grund und Folge bestehe usw. Eine Behauptung „hebt sich selbst auf“, sie ist „l o g i s c h w i d e r s i n n i g “, das heißt, ihr besonderer Inhalt (Sinn, Bedeutung) widerspricht dem, was die ihm zugehörigen Bedeutungsk a t e g o r i e n allgemein fordern, was in ihrer allgemeinen Bedeutung allgemein gegründet ist. Es ist nun klar, daß in diesem prägnanten Sinne jede Theorie logisch widersinnig ist, welche die logischen Prinzipien aus irgendwelchen Tatsachen ableitet. Dergleichen streitet mit dem allgemeinen Sinn der Begriffe „logisches Prinzip“ und „Tatsache“; oder um genauer und allgemeiner zu sprechen: der Begriffe „Wahrheit, die in dem bloßen Inhalt von Begriffen gründet“ und „Wahrheit über *

Vgl. den einleitenden § 32 dieses Kapitels.

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individuelles Dasein“. Man sieht auch leicht, daß die Einwände gegen die oben diskutierten relativistischen Theorien der Hauptsache nach auch den Relativismus im allgemeinsten Sinne beträfen. § 38. Der Psychologismus in allen seinen Formen ein Relativismus Den Relativismus haben wir bekämpft, den Psychologismus haben wir natürlich gemeint. In der Tat ist der Psychologismus in allen seinen Abarten und individuellen Ausgestaltungen nichts anderes als Relativismus, nur nicht immer erkannter und ausdrücklich zugestandener. Es ist dabei ganz gleich, ob er sich auf „Transzendentalpsychologie“ stützt und als formaler Idealismus die Objektivität der Erkenntnis zu retten glaubt, oder ob er sich auf empirische Psychologie stützt und den Relativismus als unvermeidliches Fatum auf sich nimmt. Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf gewisse „ursprüngliche Formen“ oder „Funktionsweisen“ des (menschlichen) Verstandes, auf das „Bewußtsein überhaupt“ als (menschliche) „Gattungsvernunft“, auf die „psychophysische Konstitution“ des Menschen, auf den ,,intellectus ipse“, der als angeborene (allgemein menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung vorhergeht, u. dgl. – ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des spezifischen Relativismus. Alle Einwände, die wir gegen ihn erhoben haben, treffen auch sie. Selbstverständlich muß man aber die zum Teil schillernden Schlagwörter des Apriorismus, z.B. Verstand, Vernunft, ň ʼn Bewußtsein, in jenem natürlichen Sinne nehmen, der ihnen 12 eine wesentliche Beziehung zur menschlichen Spezies verleiht. Es ist der Fluch der hierhergehörigen Theorien, daß sie ihnen bald diese reale und bald eine ideale Bedeutung unterlegen und so ein unerträgliches Gewirr teils richtiger, teils falscher Sätze ineinander-flechten. Jedenfalls dürfen wir die aprioristischen Theorien, soweit sie relativistischen Motiven Raum gönnen, auch dem Relativismus zurechnen. Allerdings, wenn ein Teil der kantianisierenden Forscher einige logische Grundsätze als Prinzipien 12

ň

ʼn

A: ihr .

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„analytischer Urteile“ aus dem Spiel läßt, so beschränkt sich auch ihr Relativismus (sc. auf das Gebiet der mathematischen und Naturerkenntnis); aber den skeptischen Absurditäten entgehen sie dadurch nicht. Bleiben sie doch in dem engeren Kreise dabei, die Wahrheit aus dem allgemeinen Menschlichen, also das Ideale aus dem Realen, spezieller: die Notwendigkeit der Gesetze aus der Zufälligkeit von Tatsachen herzuleiten.

BALDUIN SCHWARZ DER IRRTUM IN DER PHILOSOPHIE1 2. Kapitel. Die allgemeinen Probleme des Irrtums im Bereiche der philosophischen Erkenntnis. “Est enim verum index sui et falsi.” Spinoza.2

1. VORBEMERKUNG BEZÜGLICH DES GANGES DER UNTERSUCHUNG. Die Frage, um deren Beantwortung es nunmehr geht, ist die, an welcher Stelle im Gesamtkomplex der beiden Formen philosophischer Erkenntnis der Irrtum jeweils sich einzuschleichen vermag, welche Strukturmomente im Aufbau – sowohl der unmittelbaren Einsicht als auch der schließenden Erkenntnis – unmittelbar durch diese Krankheit der Erkenntnis, die der Irrtum darstellt, befallen werden, und in welcher Weise diese Momente sich dabei verändern. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß es sich dabei noch nicht um eine Analyse der den Irrtum „auslösenden“ Faktoren handeln soll – nicht also um die Untersuchung derjenigen subjektiven Faktoren, die bestimmend sind für die Veränderungen der normalen Erkenntnis –, sondern um die Analyse dieser Veränderungen selber. Diese Analyse führt zu einem Punkt, wo die Eigenart des Irrtums nicht mehr allein aus der Analyse des Aktes zu verstehen ist, sondern wo die auf der Objektseite gelegenen Verhältnisse mit in Untersuchung gezogen werden müssen. An einem bestimmten Punkte führt die Irrtumsproblematik über den gnoseologischen Bereich hinaus in die Sphäre allgemeiner ontologischer Strukturprobleme. Erst nach der Untersuchung auch dieses zweiten Problembereichs ist die Basis gewonnen, um die auslösenden Faktoren, die „Motive des Irrens“ (sit venia verbo), herauszuarbeiten. Zunächst sei der Irrtum im Bereiche der unmittelbaren Einsiɫht in Untersuchung gezogen. 1

2

Balduin Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie, Verlag Aschendorff, Münster in Westfallen, 1934, S. 51-68. Epist. LXXVI. Opera Torn. IV, p. 320.

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BALDUIN SCHWARZ 2. DIE GEMEINSAMEN MOMENTE VON IRRTUM UND ERKENNTNIS.

Die Stelle, an der ein Erkenntnisakt verderbt werden kann und zum Irrtum umschlägt, ist nicht ohne weiteres auf den ersten Blick schon zu fassen. Da sich Erkenntnis und Irrtum nicht in toto voneinander unterscheiden, bedarf es einer genaueren Analyse jener verschiedenen Stadien im Erkenntnisprozeß, die im vorigen Kapitel untersucht wurden, um zu der entscheidenden Verzweigungsstelle zu gelangen. Es gilt, die partiale Identität und die restliche Divergenz von Erkenntnis und Irrtum – und zwar zunächst bei der unmittelbaren Einsicht – herauszuarbeiten. Zu den Momenten, die dem Irrtum mit der Erkenntnis gemeinsam sind, gehört zunächst das, was man „Erkenntnis-Situation“ nennen könnte. Auch beim Irrtum steht das Subjekt der Welt des Gegenständlichen gegenüber und richtet sich auf sie. Und zwar ist es bei dem Irrtum innerhalb des Bereiches der unmittelbaren Einsicht im besonderen die Welt der unmittelbar zugänglichen Wesenheiten und Wesenssachverhalte, die dem Subjekt „gegenüber“ steht. Es richtet sich auf sie auch beim Irrtum mit dem Organ seiner Einsicht, welches allein den geistigen Kontakt mit dieser Welt herstellen kann. Wo jener objektive Bereich und dieses Organ des Subjekts nicht miteinander in Berührung treten, kann niemals von einem Irrtum von dem zu untersuchenden Typus die Rede sein. Dabei kommt es für den vorliegenden Zusammenhang nur darauf an, daß t a t s ä c h l i c h das Organ der unmittelbaren Einsicht in Funktion gesetzt wird, was auch dann der Fall sein kann, wenn das Subjekt sich darüber, daß es dieses Organ in Funktion setzt, nicht klar ist. Die Herstellung des Gegenüber von Sein und Geist gehört also noch nicht zu jenen Momenten, in denen Irrtum und Erkenntnis sich unterscheiden. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß dieses Gegenüber im Vollzugsbewußtsein in beiden Fällen in gleicher Weise mitgegeben ist. Immer, wenn wir etwas in unmittelbarer Einsicht zu erfassen vermeinen, erleben wir uns als geistige Wesen angesichts eines unveränderlich Bestehenden. Auch da, wo die Reflexion auf dieses Vollzugsbewußtsein in der Charakterisierung des Verhältnisses von Geist und Sein fehlgeht, ist das Verhältnis dasselbe. Und es ist auch dasselbe unabhängig davon, ob der Akt, der sich aus diesem Gegenüber entfaltet, zu richtigen oder zu falschen Erkenntnissen führt.

Der Irrtum in der Philosophie

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Aber nicht nur dieses Moment der allgemeinen Erkenntnis-Situation liegt noch vor der Verzweigung des geistigen Aktes in Erkenntnis und in Irrtum. Auch das Moment, das als das wesentlichste im ganzen Komplex der unmittelbaren Einsicht anzusehen ist, findet sich sowohl bei der Erkenntnis wie auch beim Irrtum. Auch beim Irrtum wird dem Geiste etwas gespendet, er empfängt vom Gegenständlichen und nimmt Gegenständliches auf. Wo dieses Moment fehlt, wo etwa einer Hinwendung zur Sache keine Beeindruckung des Geistes durch das Bestehende folgt, tritt der einfache Ausfall des Erkennens, die ignorantia, ein. Sie ist aber im Vollzugsbewußtsein ganz wesentlich von allem echten oder vermeintlichen Erkennen, verschieden. Wer nichts von der Sache erfährt, wer keinerlei Moment im Gegenständlichen aufleuchten sieht, der kann auch nicht das Bewußtsein haben, daß er erkennt. Für den Irrtum aber ist ja, wie schon des öfteren unterstrichen wurde, die formale Gleichartigkeit des dabei im Vollzugsbewußtsein Gegebenen mit dem, was das Vollzugsbewußtsein beim echten Erkennen darbietet, wesentlich. Freilich sind das Empfangen von der Sache her und das Bewußtsein der Objektivität, d.h. das Bewußtsein, wirklich Bestehendes zu empfangen, Momente, die dem Irrtum nicht schlechthin zukommen. Nicht bei allen oben entwickelten Stufen der Gegebenheit sind die Bedingungen, die das Vorliegen eines Irrtums ermöglichen, vorhanden. Die höchste Stufe der Gegebenheit des Bestehenden nämlich, die Evidenz, liegt außerhalb des Bereiches des Irrtums. Wo vor dem Geiste das Bestehende schlechthin offen daliegt, vermag er es auch zu erfassen, kann also nicht irren. Also nur „unterhalb“ dieser höchsten Stufe ist das Erstreckungsfeld des Irrtums. Diese Tatsache hat zur Konsequenz, daß hinsichtlich der Gegebenheitsstufe der Bereich des I r r t u m s und der der i n a d ä q u a t e n E r k e n n t n i s identisch ist. Damit ergibt sich von selbst die Frage nach dem Verhältnis beider Erscheinungen zueinander, eine Frage, die für die gesamte Irrtumsproblematik von entscheidender Bedeutung ist. 3. IRRTUM UND INADÄQUATE ERKENNTNIS IN IHREN ALLGEMEINEN BEZIEHUNGEN ZUEINANDER. Es könnte angesichts der Tatsache der gemeinsamen Erstreckung der in Frage kommenden Gegebenheitsstufen zunächst scheinen, als ob der

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Irrtum überhaupt als inadäquate Erkenntnis zu interpretieren sei; es ist denn auch häufig eine solche These aufgestellt worden. Vor allem liegt es gewissen gemäßigten Strömungen innerhalb der Bewegung des historischen Relativismus nahe, alle Erkenntnisprozesse als Annäherungsversuche an eine niemals wirklich zu erreichende Wahrheit aufzufassen. Man sagt, es gäbe keine Erkenntnis, die wirklich zur absoluten Wahrheit führe, andererseits finde man auch niemals eine Erkenntnisbemühung, die nicht ein Körnchen Wahrheit enthalte. Auch das, was man in früheren „dogmatischen“ Zeiten Irrtum genannt habe, sei nichts als eine Annäherung an die Wahrheit und enthalte immer irgendetwas Wahres. Die oben aufgestellte These, daß bei jedem Irrtum nicht nur die allgemeine Erkenntnis-Situation mit der Situation bei der wahren Erkenntnis gleich sei, sondern daß auch das entscheidende Moment des eigentlichen Sachkontaktes beim Irrtum nicht fehle – daß auch beim Irrtum der Geist vom Gegenständlichen etwas empfange – scheint auf den ersten Blick in der Linie jener relativistischen Behauptung zu liegen. Es scheint, als ob schon damit der Irrtum als eine inadäquate Erkenntnis gedeutet wäre. Diese Folgerung darf jedoch keineswegs aus der oben aufgestellten These gezogen werden, vielmehr ist der Irrtum von der inadäquaten Erkenntnis trotz gewisser ähnlicher Züge streng zu trennen. Bei der inadäquaten Erkenntnis besteht eine wirkliche Entsprechung zwischen dem gegenständlichen Sachverhalt und der Erkenntnis. Nur ist die Erkenntnis, wie oben schon ausgeführt wurde, in extensiver oder in intensiver Hinsicht unvollständig. Es ist entweder nur ein Teilmoment der Sache erfaßt, zu dem noch andere Momente hinzutreten müssen, damit eine adäquate Erkenntnis zustande kommt, oder aber es ist nur eine relative Differenzierungsstufe erreicht, es ist gleichsam nur in grober Weise die innere Struktur des Gegenständlichen erfaßt, nur Ansätze zur Erkenntnis der inneren Wesensfülle sind zustande gekommen – die Sache zeigt ihre Wesenslinien in einer gewissen Verschwommenheit und Allgemeinheit. Durch Hinzufügung des Mangelnden und durch größere Differenzierung läßt sich eine inadäquate Erkenntnis in eine adäquate überführen. Beim Irrtum hingegen besteht eine wirkliche Inkongruenz. Die Sache verhält sich schlechthin anders als das Subjekt vermeint oder auch in einem Urteil formuliert. Die inadäquate Erkenntnis ist ergänzungs- und spezifizierungsb e d ü r f t i g , aber auch -f ä h i g , während beim Irrtum der

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Weg zur wahren und adäquaten Erkenntnis abgesperrt ist. Bei der inadäquaten Erkenntnis bleibt es noch übrig, weiter zu gehen, beim Irrtum ist es notwendig, umzukehren. Folgendes lediglich schematisch andeutende Beispiel möge das Verhältnis klären. Es handle sich um die oben in anderem Zusammenhang gestreifte Frage nach dem Verhältnis, in welchem die konkreten Dinge zu den ihnen entsprechenden idealen Gebilden, den Wesenheiten stehen. Eine wahre, aber inadäquate Erkenntnis würde es darstellen, wollte man sagen: Die konkreten Dinge stehen zu ihren Wesenheiten in einem nicht umkehrbaren Abhängigkeitsverhältnis. Es bedarf noch einer größeren Spezifizierung innerhalb der Klasse der nicht umkehrbaren Abhängigkeitsverhältnisse, um das Bestehende adäquat zu fassen. Hingegen würde es einen Irrtum darstellen, wenn man die These aufstellen wollte: Die konkreten Dinge stehen zu ihren Wesenheiten im Verhältnis kausaler Abhängigkeit. Während im ersten Falle durch die gewählte Allgemeinheit der Fassung jenes Verhältnisses der Weg zur Adäquation durch Differenzierung offen steht, ist er im zweiten Falle durch falsche Differenzierung abgeschnitten. 4. DIE BEDEUTUNG DER SPRACHLICHEN SPHÄRE FÜR DIE ABGRENZUNG DES IRRTUMS VON DER INADÄQUATEN ERKENNTNIS. Es ist der Fall denkbar und er wird in concreto sehr häufig sein, daß die Offenheit der inadäquaten Erkenntnis in der Richtung auf die Adäquation bei den sprachlich nicht formulierten Erkenntnissen, also beim reinen conceptus mentis, noch gegeben ist und erst durch die sprachliche Fixierung abgeschnitten wird; damit schlägt die inadäquate Erkenntnis in Irrtum um. Im Augenblicke des Eintritts in die sprachliche Sphäre kristallisiert gleichsam die Erkenntnisbemühung; der zuvor noch amorphe geistige Inhalt nimmt eine feste Form an. Im Wesen der Sprache liegt die Tendenz auf Festlegung. Ja die vergleichsweise speziellen Ausdrücke sind im allgemeinen im vorhandenen Sprachgut – mit welchem ja im Normalfalle das als bestehend Erfaßte nachgebildet wird – häufiger als die auf einer höheren Allgemeinheitsstufe stehenden Ausdrücke; nimmt doch die Entwicklung einer Sprache von der Bezeichnung der am meisten spezifisch differenzierten Einzelgegenstände ihren Ausgang und gelangt erst sehr allmählich im Verlaufe ihres Ausbildungsprozesses zu den

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allgemeineren Klassen. So hat etwa die deutsche Sprache, um bei dem oben angeführten Beispiel zu bleiben, für die allgemeine Klasse der nicht umkehrbaren Abhängigkeitsbeziehungen kein eigenes Wort, wohl aber für die Spezifizierungen eine Reihe von sprachlich einfachen Ausdrücken (Urbild – Abbild, Ursache – Wirkung, Grund – Folge usw.). Oft bietet es eine ganz besondere Schwierigkeit, durch den sprachlichen Ausdruck die Sache sowohl so vollständig und deutlich zu fassen, wie sie dem Subjekte zur Gegebenheit gekommen ist, als auch auf der anderen Seite sie n u r in diesem Maße zu fassen, nicht spezieller. Da für die genaue Abgrenzung von inadäquater Erkenntnis und Irrtum die sprachliche Sphäre von besonderer Wichtigkeit ist, sei eine allgemeine Bemerkung erlaubt. Die menschliche Sprache – vor allem die zur Bezeichnung allgemeiner und unsinnlicher Sachverhalte verwendete Sprache – führt gleichsam immer einen unformulierten Appell an den intentionsgerechten Mitvollzug, ein unsichtbares „Notabene“ mit sich. Sie ist immer nur eine Anweisung auf einen solchen Mitvollzug, bemüht sich mehr oder weniger erfolgreich, diesen Mitvollzug möglichst eindeutig festzulegen. Kein Urteil kann sich aus sich heraus gegen Mißdeutung sichern, denn im Medium der Sprache wird das Bestehende ja nicht wie in einem gegen das Auszudrückende an sich neutralen Material wiedergebildet – die vorhandene Sprache steht zum besonderen Inhalt nicht wie etwa der Marmor zum Bildwerk – sondern das in ihr Ausgedrückte wird in einer sehr viel intimeren Weise von der Sprache getragen. Die Sprache kann die Hinbewegung des Geistes zu dem in ihr Formulierten weder ersetzen noch auch nur einfach auslösen. Sie ist immer – und je schwerer zugänglich das Gemeinte ist, um so mehr – bis zu einem gewissen Grade auf den guten Willen und das geistige Vermögen des Hörenden oder Lesenden angewiesen, um die in ihr bereitliegende Funktion der Sachverhaltsvergegenwärtigung ausüben zu können. Die sprachlich formulierte inadäquate Erkenntnis ist nun diejenige, bei der die sprachliche Formulierung die Möglichkeit zu richtiger Auffassung offen läßt, ohne diese richtige Auffassung wirklich festzulegen. Es ist oft die Frage der o b j e k t i v e n I n t e r p r e t i e r b a r k e i t eines sprachlichen Ausdrucks, von deren Beantwortung es abhängt, ob noch inadäquate Erkenntnis oder schon Irrtum vorliegt. Vor allem bei Bildern und Gleichnissen, die ja im Bereiche der philosophischen Sprache eine völlig

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unersetzbare Funktion besitzen, kann erst der weitere Zusammenhang zeigen, ob eine falsche Festlegung erfolgt ist, oder ob die Richtung auf die Adäquation noch offen ist. So könnte man etwa im Falle des oben genannten Beispiels die Fassung der Beziehung, als Beziehung zwischen „Abbild“ und „Urbild“ solange als inadäquate Erkenntnis gelten lassen, als aus dem Bereiche dieses Gleichnisses keinerlei Züge beansprucht werden, die dem zu fassenden Sachverhalt nicht zukommen. Auf diese Probleme kann hier nur hingedeutet werden, sie werden in einem anderen Zusammenhang von neuem aufzugreifen sein. 5. DIE QUALITÄT DES VOLLZUGSBEWUßTSEINS BEI DER INADÄQUATEN ERKENNTNIS UND BEIM IRRTUM. Es bleibt noch die Frage offen, ob sich inadäquate Erkenntnis und Irrtum nur objektiv unterscheiden, d.h. in ihrem grundsätzlich verschiedenen Verhältnis zum Bestehenden, oder ob sie auch subjektiv, d.h. in der spezifischen Qualität, die das dem Akte anhaftende Vollzugsbewußtsein jeweils besitzt, verschieden sind. Während es zum Wesen des Irrtums gehört, daß das irrende Subjekt von der Inkongruenz zwischen der Erkenntnis und dem wirklich bestehenden Sachverhalt nichts bemerkt, ist es bei der inadäquaten Erkenntnis nicht nur möglich, sondern es stellt sogar den normalen Fall dar, daß das inadäquat erkennende Subjekt zugleich mitweiß, daß eine Komplettierung und Differenzierung noch zu leisten ist. Es wäre allerdings zuviel behauptet, wollte man sagen, daß in jedem Falle ein ausdrückliches und deutliches Bewußtsein von der Tatsache der Inadäquatheit vorliegen müßte. Es gibt hier eine ganze Skala von Abstufungen. Den Grenzfall gegen den Irrtum hin stellt es offenbar dar, wenn eine inadäquate Erkenntnis wie eine adäquate gewertet wird und nur tatsächlich die ständig lauernde Gefahr, sie in einen Irrtum umschlagen zu lassen, vermieden wird. Es ist eine inadäquate Erkenntnis denkbar, die nur zufällig (sowohl in mente als auch dem sprachlichen Ausdruck nach) für ihre Komplettierung bzw. Spezifizierung offen bleibt, ohne daß das erkenntnisbemühte Subjekt von dem gleichsam labilen Zustande seiner Erkenntnis etwas weiß. Der andere Grenzfall ist dann gegeben, wenn das erkennende Subjekt genau weiß, in welche Richtung die Adäquation seiner bislang noch

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inadäquaten Erkenntnis gehen müßte, ohne daß es imstande wäre, sich das Gegenständliche soweit zur Gegebenheit zu bringen, daß es diese Richtung schon wirklich verfolgen, den Weg zur Adäquation schon beschreiten könnte. Hier ist ein inhaltlich gefülltes Bewußtsein von der Stufe der Gegebenheit und damit von der Stufe der Adäquation der Erkenntnis vorhanden. Zwischen diesen beiden Polen liegen viele Zwischenstufen der Abschattung des Bewußtseins um die erreichte Adäquationsstufe. Wie es beim Gegenständlichen selber – wie oben gezeigt wurde – vom ersten Aufdämmern bis zur Evidenz eine Skala von Gegebenheitsstufen gibt, so gibt es eine solche Skala noch einmal hinsichtlich des Bewußtseins vom Grade der Adäquation. Einen wichtigen Einschnitt innerhalb dieser Skala stellt die Stufe des noch nicht inhaltlich gesonderten allgemeinen Bewußtseins der Unvollständigkeit und Vorläufigkeit der einem Erkenntnisakt zugrundeliegenden Gegebenheit dar, das undifferenzierte allgemeine Bewußtsein von der Inadäquatheit des Aktes. Auf dieser Stufe weiß das Subjekt, daß es einen allgemeinen Vorbehalt weiterer Komplettierung und Differenzierung machen muß, daß es gleichsam ein allgemeines „in gewisser Hinsicht“ neben seine Behauptungen schreiben muß, ohne die Richtung dieser Hinsicht irgendwie angeben zu können. Aber auch wenn das Bewußtsein der Inadäquatheit so weit zurücksinkt, daß es praktisch keine Rolle mehr spielt, geht damit allein – wie schon angedeutet – eine inadäquate Erkenntnis nicht in einen Irrtum über. Erst wenn objektiv die Hinzufügung eines adäquierenden Zusatzes, einer eindeutig machenden Erläuterung unmöglich gemacht wird, wenn der Erkenntnisgang in der Richtung dieses Zusatzes versperrt ist, erst wenn vom Ausgangspunkt einer inadäquaten Erkenntnis aus eine Komplettierung in einer falschen Richtung erfolgt erst dann beginnt der Bereich des Irrtums. Es ist dann jene Lage gegeben, in der nur noch das Umkehren, nicht mehr das Weitergehen zur Wahrheit führt. 6. DIE ROLLE DES INTELLECTUS AGENS BEI DER ENTSTEHUNG DES IRRTUMS. Es wurde oben hervorgehoben, daß auch beim Irrtum dem Geiste von der Sache her etwas gespendet wird, wenn auch nur Teilmomente. Da, wo

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die Sache alles, was sie zu sagen hat, sagt, wo sie sich ihrem vollen Sosein nach gibt, also im Falle der Evidenz, besteht nicht die Möglichkeit des Irrens. Also nur bei partieller Gegebenheit (in extensiver oder intensiver Hinsicht) ist Raum für den Irrtum. Andrerseits geht der Irrtum niemals auf Rechnung dessen, was wirklich gegeben ist, niemals führen die tatsächlich erfaßten Sachmomente als solche zum Irrtum. Aber auch die reine Abwesenheit einer Gegenstandsgegebenheit führt nicht zum Irrtum. Sie hat im radikalen Falle die pure Unwissenheit, die Abwesenheit von Erkenntnis, die ignorantia zur Folge. Im innersten Bereiche der Erkenntnis gibt es – wie schon Aristoteles hervorgehoben hat3 – lediglich ein Haben oder Nicht-Haben, ein Berühren oder Nicht-Berühren von Geist und Sein. In dieser Sphäre ist nur für Erkennen oder ignorantia Raum. Niemals also geht der Irrtum unmittelbar auf die Sache direkt zurück, er ist niemals eine direkte Funktion der Seinsspendung. D i e Q u e l l s p h ä r e d e s I r r t u m s ist vielmehr bei den aktiven Funktionen, die das Subjekt i n n e r h a l b d e s E r k e n n t n i s p r o z e s s e s b e s i t z t , z u s u c h e n 4. Hier setzt jene Veränderung des Prozesses ein, die dazu führt, daß das Subjekt irrt, statt zu erkennen. Während die actio bei der echten Erkenntnis im inneren Mitgehen mit dem Gestus des Seienden besteht und in jedem Schritte in genauer Abhängigkeit von der Sache steht, ist die actio des Irrens eine vom Seienden sich entfernende, eine eigenmächtige actio. Nicht ein Mitvollzug mit dem Bestehenden ist der Irrtum, sondern die im leeren Raum stattfindende, sachabgewandte Bewegung des intellectus agens. Während die inadäquate Erkenntnis im aktiven Mitvollzug des Bestehenden nur soweit geht, als dieses Bestehende dem Subjekt sich gibt füllt der Irrtum die Lücken der Gegebenheit selbständig aus. Schon im conceptus mentis kann eine solche actio das lückenhaft gespendete Bild des Seienden 3 4

Metaph. 4 . 10. 1051 b, 24. Vgl. auch unten S. 215. Auf diese Fundamentalthese weist in der einen oder anderen Form und von den verschiedensten Voraussetzungen aus fast jede der überlieferten Irrtumstheorien hin; die historische Übersicht wird den Nachweis dafür im einzelnen erbringen. An dieser Stellte, sei nur auf Thomas verwiesen: “Nec tamen res est hoc modo causa falsitatis in anima, quod necessario falsitatem causet, quia veritas et falsitas praecipue in judicio animae existunt, anima vero in quantum de rebus judicat, non patitur a rebus sed magis quodammodo agit.” (De verit. q. 1, art. 10.)

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selbständig ausgefüllt haben, vor allem aber wird diese actio ausdrücklich, wo sie das festgeformte Gebilde des sprachlichen Ausdrucks, das Urteil hervorbringt5. 7. DER „FIKTIVE SACHVERHALT“ ALS KORRELAT

DES IRRTUMS.

Das in einem solchen Urteil Formulierte findet sich nicht im Bereiche der bestehenden Sachverhalte. Das Urteil ist auch nicht so geartet, daß es wenigstens, wie es bei Urteilen, die aus einer inadäquaten Erkenntnis hervorgegangen sind, der Fall ist, mit einem wirklich bestehenden Sachverhalt in eine eindeutige Beziehung gebracht werden könnte, sondern hier besteht zunächst im Bereiche des Seienden keinerlei unmittelbares Korrelat. Andrerseits ist aber auch ein als Irrtum zu bezeichnendes Urteil nicht als eine sinnlose Häufung von Worten zu bezeichnen; das Formulierte besitzt die Gestalt eines Sachverhaltes. Das Vollzugsbewußtsein ist ja auch als ein Haben und Formuliererte von Sachverhalten bestimmt, da es sich durch seine Form von dem beim echten Erkennen auftretenden nicht unterscheidet. Während aber das Subjekt vermeint, wirklich bestehende Sachverhalte zu erfassen, ist es de facto mit einer Fiktion beschäftigt, mit einem Etwas, für das der Terminus „fiktiver Sachverhalt“6 im folgenden verwendet werden soll. Es wurde gesagt, daß die actio des Irrens eine vom Sein sich lösende, aus der innigen Einbettung in das Gespendete heraustretende actio ist. Aber sie ist dennoch keine völlig sachabgewandte. Nicht nur im Passiven, im Empfangen von Gegenstandsmomenten, ist der Irrtum Objekt-verbunden, auch bei den aktiven Elementen zeigt sich eine bestimmte partielle Sachverbundenheit. Schon die Tatsache, daß im Vollzugsbewußtsein sich diese actio als das erkennende Durchspielen und 5

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Die Festlegung der willkürlichen Ausfüllung, wie sie im Urteil erfolgt, ist wohl als der Grund zu betrachten, weshalb seit Aristoteles immer wieder betont wird, daß der Irrtum nur im Bereiche der U r t e i l e sich finde. Es sei erlaubt, hier von einer Fiktion zu sprechen, obgleich es sich bei der fraglichen Ansetzung nicht um eine solche handelt, deren Ansetzungscharakter dem Subjekt zum Bewußtsein kommt, wie es bei der Fiktion im üblichen Sinne des Wortes der Fall ist. Für diesen eigenartigen Fall der unbewußten Ansetzung hat die Sprache kein genau entsprechendes Wort bereit.

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sprachliche Nachbilden der objektiven, vorgefundenen Strukturen gibt, läßt erwarten, daß die Lösung vom Seienden keine absolute und radikale ist. Auch in der direkten Analyse der vorzufindenden Irrtümer ergibt sich, daß der Irrtum als ein Verweben von echten Sachmomenten mit fingierten, als ein partielles Leerlaufen des intellectus agens, als ein nicht voll an die Linien des Seins sich anschmiegendes, sondern stellenweise freischwebendes Denken zu betrachten ist – nicht aber als ein völlig willkürliches Fingieren. Während die inadäquate Erkenntnis das nicht Erfaßte offen läßt, füllt der Irrtum es mit sachfremden Elementen aus, aber er besteht nicht n u r aus „Unsachlichkeit“. 8. „FIKTIVER SACHVERHALT“ UND „OBJEKTIVER SCHEIN“. Nicht nur bei den passiven, sondern auch bei den aktiven Elementen herrscht beim Irrtum keine absolute Loslösung von der Sache; auch die Ausfüllung des Nichtgegebenen durch den intellectus agens ist nicht schlechthin willkürlich. Auch hier noch ist das Seiende in gewisser Weise tragend. Das Bewußtsein der Sachentsprechung, das dem Irrtum innewohnt, kann sich nur konstituieren, wenn das Subjekt seine actio für eine sachentsprechende halten k a n n . Ganz willkürlich fingierte Momente kann aber das Subjekt nicht für g e f u n d e n e , an der Sache abgelesene halten, sie würden schon im Vollzugsbewußtsein als e r f u n d e n e hervortreten. Es muß etwas auf der Seite des Objekts vorliegen, was als ein hinreichender Grund dafür zu fungieren vermag, daß die actio des Irrens gerade eine so geartete Bahn nimmt und nicht irgendeine beliebige andere. Hier tritt der entscheidende Begriff des „objektiven Scheins“, der in der Kantischen Kritik ein so große Rolle spielt, in sein Recht. A l l e r I r r t u m hat sein Fundament in einem solchen objektiven Schein i m B e r e i c h e d e s B e s t e h e n d e n 7. 7

Die Lehre vom objektiven Schein hat bei Jakob Friedrich Fries eine Formulierung gefunden, die weitgehend unbelastet ist von Momenten, die durch die besondere Funktion, die diese Lehre innerhalb des Systems des Idealismus besitzt, bedingt sind. In seinem „System der Logik“ schreibt er: „Ohne allen Schein kann niemand irren. Wir nennen einen Irrtum eine U n g e r e i m t h e i t oder abgeschmackt, wenn der Schein, der dazu verleitet, gar zu unbedeutend ist. Eine Ungereimtheit ist dies aber nie für den, der dadurch getäuscht wird, sondern nur für den unbefangenen

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Damit wird in bezug auf die „fiktiven Sachverhalte“ eine zusätzliche Bemerkung notwendig. Es genügt bei dieser Abhängigkeit des Irrtums von einem objektiven Schein offenbar nicht, daß überhaupt ein sachverhaltsartiges Gebilde vorliegt, das fiktiven Charakter trägt, um dem Akt, in dem es entworfen, dem Urteil, in dem es formuliert wird, schon den Charakter eines „Irrtums“ zu verleihen. Nicht jedes sachverhaltsartige Gebilde – d.h. ein Gebilde, das die formalen Eigenschaften eines Sachverhaltes besitzt – kann einem Subjekt als bestehend „erscheinen“, nicht bei jedem solchen Gebilde kann das Subjekt die Überzeugung gewinnen, es bestünde. Das Etwas, was in dem Satz „Urteile sind grün“ formuliert ist, ist zwar ein sachverhaltsartiges Gebilde, denn in diesem Satz wird ausgesagt, daß einem Gegenstande eine Eigenschaft zukomme, dieses sachverhaltsartige Gebilde ist auch als ein „fiktives“ anzusprechen, denn es besteht nicht – gleichwohl ist es auf den ersten Blick einleuchtend, daß ein Satz, in dem ein derartiger Zusammenhang formuliert wird, niemals das Ergebnis eines vermeintlichen Erkenntnisaktes, ein Irrtum sein kann. Was hier fehlt – die Kraßheit des Beispiels läßt es deutlich hervortreten – ist eben jener „objektive Schein“, von dem gesprochen wurde. Es stellt sich also die Frage, wie ein fiktiver Sachverhalt beschaffen sein muß, damit er für bestehend gehalten werden kann, oder anders ausgedrückt, damit er als Inhalt eines Irrtums zu fungieren vermag, die Frage also nach dem Verhältnis von fiktivem Sachverhalt und objektivem Schein. Der Irrtum entsteht – wie oben ausgeführt – in einer von der Sache sich lösenden actio des intellectus agens, die vom Subjekt für das gehalten wird, was beim wirklichen Erkennen die actio ausmacht: für das geistige Mitvollziehen der Struktur des Gegenständlichen. Damit nun bei diesem Agieren, welches ja mit dem passiven Empfangen – das immer echt, wenn auch nicht immer vollständig ist – Hand in Hand gehen muß, das Subjekt den Eindruck haben k a n n , es tue nur das, was beim wirklichen Erkennen Dritten, der die Sache von einer anderen Seite ansieht. Jeder wirkliche Irrtum muß vielmehr auf einem Schein beruhen, der im Stande ist, unser Urteil zu überwältigen, der also für den, der ihm unterliegt, im Augenblick nicht unbedeutend genannt werden kann. Hierdurch werden G r a d e der S c h e i n b a r k e i t einer irrigen Behauptung abgemessen, je größer der Schein ist, der zum Irrtum verführt, und die also um so größer sind, je weiter sich eine irrige Behauptung vom Ungereimten entfernt.“ (S. 342.)

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dem intellectus agens zukommt, muß der in dieser actio als unechtes Gebilde entstehende fiktive Sachverhalt zu einem wirklich bestehenden Sachverhalte, (u. U. auch zu mehreren) in einem bestimmten objektiven Verhältnis der Nähe sich befinden. Er muß mit dem, was wirklich besteht, eine partielle Ähnlichkeit besitzen. Je näher dieser fiktive Sachverhalt dem wirklich bestehenden steht, je verwandter er mit ihm ist, um so leichter bleibt die partielle Ablösung des Intellekts von der Sache unbemerkt, um so leichter kann das Subjekt vermeinen, seine actio sei die normale des intellectus agens und entferne sich nicht vom Objekt – besitze „Objektivität“. Das Vollzugsbewußtsein meldet dann nichts von dem verhängnisvollen Entfernen, sondern bleibt mit der Qualität erfüllt, die es beim echten Erkennen besitzt. 9. DER FIKTIVE SACHVERHALT ALS PRODUKT DES INTELLECTUS AGENS. Während bei der Erkenntnis der intellectus agens nichts erschafft, hat er beim Irrtum ein spezifisches Produkt, er erschafft etwas, wenn auch unbewußt, was nur von Gnaden seiner actio existiert. Beim Irrtum gewinnt der intellectus agens geradezu eine neue Stufe von Aktivität, er entfaltet eine Art „Überactio“. Daß er ihrer fähig ist, bedeutet allerdings keine seinsmäßige Vollkommenheit, sondern ist metaphysisch als der Fortfall einer Verbindung zu interpretieren, die zur eigentlichen Seinsvollkommenheit des Intellekts gehört8. Daß der intellectus agens sich aus dem strengen Sachkontakt zu lösen vermag, daß er gegenüber dem Sein unabhängig variabel ist, versetzt den Menschen in die Notwendigkeit, ihn mit dem Aufwand einer inneren Anstrengung im Kontakt mit der Sache zu halten, die Tendenz zur freischwebenden Tätigkeit zu bekämpfen durch volle Wachheit und durch jene geheimnisvolle aktive Bemühung um Passivität, um volle Hingabe an das, was außer und vor uns da ist, die in den höheren Regionen des menschlichen Lebens so wesentlich ist. Man kann nun den Irrtum nicht nur allgemein als eine Überactio des intellectus agens betrachten, eine solche, die den Rahmen der ihm angewiesenen actio überschreitet, sondern man kann diese actio des Irrens, 8

Thomas betont immer wieder den negativen metaphysischen Charakter des Irrtums, er nennt ihn eine privatio. Vgl. unten S. 243.

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ähnlich wie man es bei nach außen dringenden Tätigkeiten überhaupt kann, durch die besondere Natur der hervorgerufenen Resultate genauer charakterisieren. Zwar ist die „Quasi-Handlung“, die der Irrtum darstellt, eine innerlich ohnmächtige, sie dringt nicht wirklich bis in die Sphäre der Objekte vor, mit denen sie etwas vornimmt – die Objekte bleiben ebenso unberührbar und unveränderbar durch das Subjekt, wie sie es beim Erkennen sind, aber der Irrtum hat die Tendenz des Eindringens in den Bereich der Objekte und die Tendenz, mit den Objekten etwas vorzunehmen. Wenn z.B. der Irrtum darin besteht, daß ein Subjekt eine Eigenschaft A mit einer Eigenschaft B gleichsetzt so zwingt es in dieser Scheinsphäre, in der die actio des Irrens ihr Wesen treibt, gleichsam die objektiv getrennten Eigenschaften zusammen – „identifiziert“ sie (was ja zunächst auch dem sprachlichen Ausdruck nach als ein Tun erscheint), ohne natürlich wirklich die Macht zu haben, an jenen Eigenschaften, die ja als ideale, nicht real existierende Wesenheiten jedem Zugriff a priori entrückt sind, irgendetwas verändern zu können. Von solchen „Quasi-Handlungen“ nun gibt es nur eine endliche Anzahl. Sie sollen im künftigen als „Irrtumsformen“ bezeichnet werden. Einige dieser eigenartigen Quasi-Handlungen sollen in den nächsten Kapiteln herausgearbeitet werden, um auf diesem Wege dem Begriffe der „Irrtumsform“ eine größere inhaltliche Fülle zu geben. Dabei ist keineswegs an eine vollständige Kodifizierung der im Bereiche der Philosophie auftretenden Irrtumsformen gedacht. Vielmehr wird ein Paradigma mit größerer Ausführlichkeit untersucht werden, und zwar eben jene „Identifizierting“, von der soeben die Rede war. Ferner sollen einige andere Irrtumsformen in kurzer Skizzierung angedeutet werden; dabei handelt es sich in erster Linie darum, einen neuen Gesichtspunkt als solchen herauszuarbeiten, seine Durchführung bleibe späteren Arbeiten vorbehalten. Zuvor bedarf noch der beim schließenden Erkenntnisverfahren auftretende Irrtum der Untersuchung. Die Herausarbeitung seiner Eigenart wird zugleich eine wesentliche Vorarbeit für die Untersuchung des Wesens der Irrtumsform liefern.

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10. DER BEIM SCHLIEßEN AUFTRETENDE IRRTUM. Schließende Erkenntnis ist indirekte Erkenntnis. Der Sachverhalt, um den es geht, ist nicht unmittelbar zugänglich, er ist deswegen auch nicht unmittelbar zur Gegebenheit zu bringen; er kann nur als ein durch andere Sachverhalte verbürgter erkannt werden. Die Überzeugung von seinem Bestehen kann irrig sein einmal dann, wenn einer oder mehrere der zur Verbürgung herangezogenen Sachverhalte nicht bestehen – mit anderen Worten, wenn die Prämissen falsch sind – oder dann, wenn sie zwar bestehen, aber den in der conclusio formulierten Sachverhalt nicht zu verbürgen imstande sind, d.h. wenn bei den Schluß- oder den Substitutionsregeln ein Fehler liegt – sei es bei der Aufstellung oder der Anwendung dieser Regeln. Aber mit dem Vorliegen einer solchen Verderbnis, sei es bei den Prämissen, sei es beim schließenden Verfahren selber, ist noch nichts über das Bestehen oder Nichtbestehen des zu erkennenden Sachverhaltes, der conclusio, entschieden. Liegt bei den Prämissen ein Irrtum vor, so irrt das Subjekt in einem solchen Falle direkt nur bezüglich der V e r b ü r g t h e i t der conclusio, ob aber diese wirklich falsch ist, muß in jedem einzelnen Falle offen bleiben9. Es könnten ja andere Sachverhalte namhaft gemacht werden, durch die die conclusio, als bestehend zu erweisen wäre. Aber auch wenn solche Obersätze tatsächlich nicht gefunden würden, müßte immer offen gelassen werden, daß sie dennoch bestehen, es sei denn, die F a l s c h h e i t des vermeintlich erwiesenen Satzes, also das Nichtbestehen des vermeintlich verbürgten Sachverhaltes könnte direkt bewiesen oder durch unmittelbare Einsicht erfaßt werden. Aber nicht nur die Falschheit eines oder mehrerer, ja aller Obersätze führt nicht notwendig zu einer falschen conclusio, sondern auch ein bei den Operations- und Substitutionsregeln statthabender Irrtum – sei es bei Aufstellung oder bei Anwendung dieser Regeln – hat nicht notwendig eine Falschheit der conclusio, zur Folge. Auch hier ist nur der durch die 9

Vgl. dazu Aristoteles: ”Esti mvn o©n oÛtwj œcein ést' ¢lhqe‹j ewnai t¦j prot£seij di' ®n Ð sullogismÒj, œsti d' éste yeude‹j, œsti d' éste t¾n mvn ¢lhqÁ t¾n dv yeudÁ. tÕ dv sumpšrasma À ¢lhqvj À yeàdoj ™x ¢n£gkhj. ™x ¢lhqîn mvn o©n oÙk œsti yeàdoj sullog…sasqai, ™k yeudîn d' œstin ¢lhqšj. (Anal. prior. II, 53b, 4, vgl. 53b, 25). Vgl. dazu Pfänder, Logik, S. 339f.

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Schlußform mitbehauptete Verbürgenszusammenhang nicht bestehend. Würde man z.B. eine Operationsregel aufstellen, nach der die Wahrheit des partikular bejahenden Urteils „einige Elemente der Klasse K haben die Eigenschaft E“ die Wahrheit des Individualurteils „S (ein bestimmtes Element aus der Klasse K) hat die Eigenschaft E“ einschließt, so wäre nicht nur diese Regel falsch – der in ihr behauptete Verbürgenszusammenhang besteht nicht –, sondern auch jeder durch eine Anwendung dieser Regel entstehende Schluß wäre falsch. Nicht aber braucht jeder in einem solchen Syllogismus die Stelle der conclusio, einnehmende Satz falsch zu sein, wie ohne weiteres zu sehen ist; ja ein Teil der jeweils als conclusio, möglichen Sätze muß sogar im vorliegenden Falle notwendig wahr sein. Nur wenn eine Operationsregel aufgestellt würde, bei der die immanente Behauptung dahin ginge, daß ein (allgemeiner) Sachverhalt, der de facto das Nichtbestehen eines anderen Sachverhaltes verbürgt, das Bestehen desselben verbürge oder umgekehrt: daß ein allgemeiner Sachverhalt, der de facto das Bestehen verbürgt, das Nichtbestehen verbürge — wäre über die Falschheit der Conclusio etwas ausgemacht. Für eine solche Schlußform wäre folgendes ein Beispiel: Alle Individuen der Klasse K haben die Eigenschaft E Alle Individuen, die die Eigenschaft E haben, haben auch die Eigenschaft F ________________________________________________ Folglich hat k e i n Individuum der Klasse K die Eigenschaft F Eine solche Schlußfigur wird niemand aufzustellen versucht sein. Es dürfte überflüssig sein, auch noch für die falsche Anwendung einer richtigen Operationsregel, sowie für die falsche Aufstellung oder Anwendung der Substitutionsregeln den Nachweis zu erbringen, daß eine solche Falschheit immer nur den immanent mitbehaupteten Verbürgenszusammenhang betrifft, nicht aber etwas über die Falschheit der ɋonclusio ausmacht. Von einem Irrtum beim schließenden Verfahren kann man also unmittelbar immer nur in bezug auf den mitbehaupteten Verbürgenszusammenhang sprechen: Wir nennen einen Schluß dann falsch, wenn durch ihn das zu Erweisende nicht erwiesen ist. Bezüglich der conclusio

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selber kann erst auf Grund anderer, zu dem zu untersuchenden Schluß hinzutretender Erkenntnisoperationen etwas gesagt werden. Der falsche Schluß ist also eine hinreichende Bedingung nur für die M ö g l i c h k e i t der Falschheit der conclusio, er schließt in bezug auf diese nur das Irrtumsr i s i k o ein, nicht ist er eine hinreichende Bedingung für den Irrtum selber. Damit reduziert sich das Interesse, das die Irrtumstheorie an den falschen Schlüssen nimmt, auf die Falschheit der Prämissen und die Fehler im Schlußverfahren selber. Die Falschheit bei den Prämissen aber bietet nichts grundsätzlich Neues, da diese ja in anderen, dem Schlusse vorhergehenden Verfahren gewonnen sein müssen, z.B. durch unmittelbare Einsicht oder durch ein v o r h e r g e h e n d e s Schlußverfahren. Im ersten Falle gilt für sie das was oben über den Irrtum im Bereiche der unmittelbaren Einsicht gesagt wurde, im zweiten Falle ist es notwendig, bis zu der Stelle vorzudringen, wo entweder durch das schließende Verfahren die Falschheit entstanden ist (und das ist dann wiederum der noch zu untersuchende Fall) oder wo die nicht mehr bewiesenen ersten Voraussetzungen Irrtümer aus dem Bereiche der unmittelbaren Einsicht oder evtl. auch der Realitätserkenntnis darstellen. Es bleibt also der im schließenden Verfahren selber auftretende Irrtum, d.h. der Irrtum in bezug auf die Verbürgenszusammenhänge, als der für den Bereich der schließenden Erkenntnis in Sonderheit thematische. Dieser Irrtum, der die zwischen Sachverhalten bestehenden Verbürgenszusammenhänge betrifft, ist der auf seine Formen hin bisher am sorgfältigsten bearbeitete. Die durch Aristoteles begründete und durch die ganze logische Tradition weiter verfolgte Theorie der Trugschlüsse, die sog. Fallacia-Lehre, hat sich mit diesem Typus des Irrtums beschäftigt. 11. DIE BEDEUTUNG DER TRUGSCHLÜSSE FÜR DIE LEHRE VON DEN IRRTUMSFORMEN. Es könnte auf den ersten Blick scheinen, als ob die in dieser FallaciaLehre herausgearbeiteten fehlerhaften Schlußformen für die hier zu entwickelnde Irrtumslehre nun wiederum nur insofern von Belang seien, als die fälschlich angesetzten Verbürgenszusammenhänge inhaltliche Irrtümer – wenn auch sehr allgemeiner Art – aus dem Bereiche der

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Irrtümer der unmittelbaren Einsicht darstellten. Daß eine Verbürgensbeziehung von der allgemeinsten Art nur auf dem Wege der unmittelbaren Einsicht gewonnen werden kann, und auch die Regeln bezüglich ihres Anwendungsbereiches und die Regeln für ihre inhaltliche Ausfüllung (die Substitutionsregeln) nur in Akten der unmittelbaren Einsicht gewonnen und in Anwendung gebracht werden können, ist unbedingt zuzugeben. Z.B. der Verbürgenszusammenhang, der darin besteht, daß die Zugehörigkeit zu einer Unterklasse die Zugehörigkeit zu einer Oberklasse verbürgt, ist nur durch Einsicht erfaßbar und nur, wo man „einsieht“, daß ein solcher Fall gegeben ist, kann man die Regel anwenden. Und auch bei den falschen logischen Operationen liegen offenbar – was den einzelnen Schritt betrifft Irrtümer von der Art vor, wie sie bei sonstigen unmittelbaren Einsichten erfolgen können. Es würde mithin auch alles das, was oben über die besonderen Bedingungen für das Zustandekommen solcher Irrtümer gesagt wurde, auch in diesem Felde gelten, insbesondere, daß keine Fehloperation logischer Art ohne einen zugrundeliegenden objektiven Schein erfolgen könnte und dergleichen. Aber mit diesen Zusammenhängen ist das Interesse der Irrtumslehre an den von der Tradition behandelten Trugschlußformen nun keineswegs erschöpft. Obgleich hier „Formen“ von einer ganz anderen Allgemeinheitshinsicht untersucht wurden, Formen, die für die Irrtumslehre zunächst nur als Material, als inhaltlich besondere Fälle von konkreten Irrtümern zu fungieren imstande sind und damit nicht als das von ihr gesuchte Allgemeine – die von ihr herauszuarbeitende Formkategorie –, stellen sie dennoch von einer ganz anderen Seite aus eine wesentliche, ja die entscheidende Vorarbeit für die Irrtumsformen dar. Es zeigt sich nämlich, daß (zum mindesten in einer ganzen Reihe von Fällen) die jeweilige Irrtumsform in einer festen Verbindung mit einer der bekannten logischen Fehlerformen steht – freilich nicht in einer solchen Verbindung, daß man die Irrtumsform jeweils auf die entsprechende logische Fehlerform zurückführen könnte. Trotz der engen Verbindung führt die Untersuchung der Irrtumsform wesentlich tiefer als die der logischen Fehlerform zu führen vermag. Die enge Verbindung dieser beiden „Formen“ ist wahrscheinlich der Grund gewesen, warum bisher das, was hier Irrtumsform genannt wird, nicht nach seinem Eigenwesen erkannt und herausgearbeitet worden ist.

Der Irrtum in der Philosophie

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Die logischen Fehlerformen haben gleichsam die Irrtumsformen verdeckt und den Zugang zu ihnen versperrt. In der folgenden Untersuchung der „Identifizierung“, an der der Begriff der Irrtumsform geklärt werden soll, kommt die Bedeutsamkeit der logischen Fehlerformen schon dadurch im Aufbau zum Ausdruck, daß zunächst die mit der zu behandelnden Irrtumsform in jener angedeuteten Verbindung stehende logische Fehlerform in ihrem Eigenwesen entwickelt und gleichsam als der natürliche Zugang zur Irrtumsform benutzt wird. In der sich anschließenden Untersuchung wird sodann auf die Unterschiede zwischen der logischen Fehlerform und der Irrtumsform hinzuweisen sein, um das ganz Neue, das die Irrtumsform darstellt, und das bisher u. W. noch nicht herausgearbeitet worden ist, ins Licht zu setzen.

DIETRICH VON HILDEBRAND ÄSTHETIK* Die Objektivität der Schönheit “... outre qu’il m’importe fort peu, si je suis le premier ou le dernier à écrire les choses que j’écris, pourvu seulement qu’elles soient vraies ...”1

Wir wiesen schon in der Einleitung darauf hin, daß Schönheit ein Urphänomen von höchster Bedeutung und eine der großen Quellen tiefen Glückes ist. Blicken wir vorurteilslos auf das hin, was wir meinen, wenn wir von einem Gegenstand Schönheit aussagen, sei es von einer Melodie, einem Baum oder einem menschlichen Gesicht, so sehen wir klar, daß es eine Eigenschaft dieser Gegenstände ist, die sie in bedeutsamer Weise charakterisiert. Wir erfassen auch eindeutig, daß das, was wir mit dem Prädikat „schön“ bezeichnen, keine neutrale Eigenschaft ist, wie wenn wir sagen, eine Melodie sei lang, ein Gesicht rund oder ein Baum hoch, sondern daß wir damit auf einen bestimmten Wert dieser Objekte abzielen. Kurze Charakterisierung der drei Bedeutsamkeitskategorien Der Ausdruck Wert wird unglückseligerweise oft in äquivokem Sinn gebraucht. Darum ist es erforderlich, auf jenen Sinn des Terminus Wert hinzuweisen, den wir im Auge haben, wenn wir die Schönheit als Wert bezeichnen. In unserer Ethik haben wir versucht, das Wesen des Wertes im allgemeinen herauszuarbeiten. Als erstes muß der Charakter der Bedeutsamkeit betont werden, der das Wertvolle von allem bloß Neutralen *

1

Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Hrsg. von der Dietrich von Hildebrand Gesellschaft. Bd. V. Ästhetik. 1. Teil. Verlag Josef Habbel, Regensburg; Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1977, S. 25-34. „... außerdem liegt mir sehr wenig daran, ob ich der erste oder der letzte bin, der die Dinge sdireibt, die ich geschrieben habe, wenn sie nur wahr sind...“ Descartes von Jacques Chevalier, Plon, Paris 1921, p. 53 (Brief an Père Vatier am 22. Februar 1638).

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unterscheidet. Aber mit der Bedeutsamkeit im Unterschied zur Neutralität haben wir den Wert im eigentlichen Sinn noch nicht charakterisiert, denn es gibt noch andere Arten der Bedeutsamkeit: erstens das bloß subjektiv Befriedigende, zweitens das objektive Gut für die Person, drittens das in sich Bedeutsame. „Nehmen wir erstens an, jemand mache uns ein Kompliment. Wir merken vielleicht, daß wir es nicht ganz verdienen, aber es ist uns dennoch angenehm, es gefällt uns. Es ist nichts Neutrales und Indifferentes für uns, wie wenn uns jemand erklärt, sein Name beginne mit einem T. Vielleicht werden uns viele andere Dinge vor diesem Kompliment gesagt, Dinge von neutralem und indifferentem Charakter. Aber jetzt tritt das Kompliment gegenüber allen anderen Feststellungen in den Vordergrund. Es stellt sich uns als angenehm dar, ausgestattet mit den Merkmalen eines bonum, kurz als etwas Bedeutsames. Nehmen wir ferner an, wir seien Zeugen einer großmütigen Tat geworden, jemand habe ein schweres Unrecht verziehen. Auch hier fällt uns ein Unterschied zu neutralen Tätigkeiten auf, z.B. zu dem SichAnkleiden oder dem Anzünden einer Zigarette. Der Akt des großmütigen Verzeihens leuchtet in der Tat als etwas Edles und Kostbares auf; er trägt das Merkmal des Bedeutungsvollen. Er bewegt uns und erweckt unsere Bewunderung. Wir erkennen nicht nur, daß sich diese Tat ereignet, sondern daß es besser ist, sie ereignet sich und dieser Mensch handelt so und nicht anders. Wir sind uns bewußt, dieser Akt ist bedeutsam, er ist etwas, was sein soll. Vergleichen wir diese beiden Typen des Bedeutsamen, so entdecken wir sogleich die wesenhafte Verschiedenheit zwischen ihnen. Der erste – das Kompliment – ist nur subjektiv bedeutsam, der andere dagegen – der Akt des Verzeihens – in sich bedeutsam. Es ist uns ganz klar, das Kompliment trägt nur, soweit es uns Freude macht, den Charakter des Bedeutsamen. Seine Bedeutsamkeit zehrt ausschließlich von seiner Relation auf unsere Befriedigung; sobald es von dieser geschieden wird, sinkt es zurück in die Anonymität des Neutralen und Indifferenten. Im Gegensatz dazu erweist sich der großmütige Akt des Verzeihens als etwas in sich Bedeutsames. Wir sind uns deutlich bewußt, daß seine Bedeutsamkeit in keiner Weise von irgendeiner Wirkung abhängt, die er in uns hervorruft. Seine besondere Bedeutsamkeit zehrt nicht von

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irgendwelcher Beziehung zu unserem Vergnügen und unserer Befriedigung. Er steht vor uns als etwas wesenhaft und autonom Bedeutsames, das in keiner Weise von unserer Reaktion abhängig ist.“ „Der Wert ist das Wahre, das Gültige, das objektiv Bedeutsame selbst. Er hat einen ganz anderen Platz in der Ordnung der fundamentalen Begriffe als das subjektiv Befriedigende. Wie wir noch im einzelnen sehen werden, gehört er zu jenen letzten Gegebenheiten und Begriffen wie: Sein, Wahrheit, Erkenntnis, die man weder definieren noch leugnen kann, ohne sie stillschweigend wieder einzuführen. Aus diesem Grund ist der Versuch Aristipps, jeden objektiven Maßstab zu beseitigen und nur eine subjektive Bedeutsamkeit anzuerkennen, in Wirklichkeit immer erfolglos. Nachdem er mit seltener Konsequenz alle anderen Maßstäbe außer den Graden der Lust ausgemerzt hat, warnt er davor, unseren Instinkten tierisch zu folgen, und rät uns, ein Ding zu prüfen, bevor wir es wählen, um zu sehen, ob es uns das intensivste und andauerndste Vergnügen sichert. Hier stellt er dem vernünftigen Trachten nach Lust stillschweigend ein unvernünftiges SichAusliefern an jede Verlockung oder Versuchung entgegen und behauptet, dieses vernünftige Streben sei die weisere Haltung, die wir haben sollten. Warum sollen wir aber weise sein? Wenn das bloß subjektiv Befriedigende die Norm ist, warum sollte man dann einem Menschen widersprechen, der behauptet, er wolle lieber jedem Instinkt nachgeben, ohne sich darum zu kümmern, ob ihm etwas anderes mehr Vergnügen machen könnte? Offensichtlich setzt Aristippus außer der Lust stillschweigend noch eine andere, eine objektive Norm voraus: den Wert der Weisheit im Sinn eines vernunftgemäßen, systematischen Strebens nach Lust, im Gegensatz zu dem tierischen und unvernünftigen triebhaften Jagen nach ihr. Diese Norm ist unabhängig von der Frage, ob die Lust mehr oder weniger subjektiv befriedigend sei. Also ist der Begriff des Wertes in einer ganz und gar allgemeinen, formalen Weise vorausgesetzt. Natürlich ist keine Rede von sittlichen Werten. Aber indem er das systematische, vernünftige Streben nach Lust als Ideal, als etwas, nach dem wir trachten sollten, empfiehlt, behauptet er implicite, es sei objektiv vorzuziehen, es sollte so und nicht anders sein; damit ist der Begriff des Wertes oder des in sich Bedeutsamen stillschweigend vorausgesetzt.“2 2

Ethik, 2. Kapitel, S. 39 f., und 3. Kapitel, S. 53.

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Wert im eigentlichen Sinn ist nur das in sich Bedeutsame. Wenn wir dieses fundamentalste datum (Gegebene) des in sich Bedeutsamen als den eigentlichen Sinn des Terminus Wert bezeichnen, so ist dies einmal dadurch gerechtfertigt, daß man irgendwie, wenn auch in unklarer Weise, mit dem Terminus Wert darauf abzielt. Außerdem ist dieser Sinn von Wert gemeint, wenn jemand von einer Handlung sagt, sie sei edel, gut, oder wenn er von der Würde der Person spricht. Das ist sowohl bei Nietzsche, der den Terminus einführte, als vor allem bei Scheler der Fall. Obgleich Scheler die Verschiedenheit der Bedeutsamkeitskategorien nicht herausarbeitete, zielt er doch primär auf das in sich Bedeutsame ab. Schönheit ist ein objektiver Wert Daß Schönheit ein Wert ist und nicht nur etwas für mich Befriedigendes, drückt schon die Sprache deutlich aus. Das „für“, das sich organisch an etwas bloß Angenehmes anschließt, hätte einen ganz anderen Sinn, wenn man es dem Prädikat schön anfügen würde. Man sagt normalerweise: „Diese Farbe ist schön, diese Melodie ist schön“ und nicht: „für mich schön.“ Wenn man es ausnahmsweise sagt, so hat das „für“ nicht den Sinn, daß die Bedeutsamkeit der Farbe oder der Melodie von einer lustvollen Wirkung auf mich herrührt, sondern man meint: „Meiner Meinung nach sind sie schön.“ Das „für“ drückt dann eine Relation zu meinem Urteil aus, das die Schönheit feststellt. „Andere mögen sie nicht schön finden – wohl aber ich.“ Die im Terminus Schönheit ausgedrückte Bedeutsamkeit ist in keiner Weise durch das „für mich“ zum Ausdruck gebracht, wie wenn ich erkläre, etwas sei für mich befriedigend. Sagt jemand: „Für mich ist es sehr vorteilhaft, daß dieser Mann als Vorsitzender abgedankt hat“, so zielt er eindeutig auf eine Art von Bedeutsamkeit ab, die sich durch sein Interesse konstituiert. Es ist für ihn befriedigend. Doch ist damit nichts darüber ausgesagt, ob dieses Ereignis in sich bedeutsam ist, ob es durch seinen eigenen Gehalt aus der Indifferenz herausgehoben ist, ob es einen Wert hat und bejahendenfalls welchen. Kein Zweifel: Wenn wir beim Anblick einer Landschaft ausrufen: „Wie schön!“, meinen wir erstens eine Eigenschaft der Landschaft und nicht eine Wirkung auf uns. Aber vor allem weisen wir mit schön auf einen Wert, ein in sich Bedeutsames hin.

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Es ist leider ein weitverbreitetes Vorurteil, anzunehmen, alle Werte seien nicht Eigenschaften eines Objektes, sondern nur Gefühle bzw. Wirkungen, die ein Gegenstand in uns auslöst. Man behauptet, wir könnten die Werte, die wir einem Objekt zuschreiben, nicht an ihm erfassen, beobachten, feststellen wie neutrale Eigenschaften. Dieser verhängnisvolle Irrtum der Subjektivierung der Werte hat, wie so viele andere Irrtümer, besonders durch jenen Philosophen zahlreiche Anhänger erhalten, bei dem die Disproportion zwischen der Bedeutung, die er als Philosoph besitzt, und dem Einfluß, den er in der Geschichte der Philosophie ausgeübt hat, größer ist als bei irgendeinem anderen: David Hume3. Humes Theorie: Schönheit ist Wirkung auf unser Gemüt Hume sagt in An Enquiry Concerning the Principles of Morals, Euklid habe alle Eigenschaften des Kreises erschöpfend angegeben, aber in keinem Lehrsatz von seiner Schönheit gesprochen. Der Grund dafür sei evident. Die Schönheit sei keine Eigenschaft des Kreises, ... sondern nur eine Wirkung, die er auf unser Gemüt ausübe. Wir könnten die Schönheit weder durch unsere Sinne feststellen noch durch mathematisches Nachdenken.4 Diese Feststellung von Hume ist in dreifacher Hinsicht charakteristisch für seine leichtfertige Oberflächlichkeit. Erstens ist es durchaus nicht evident, daß der Grund, warum Euklid bei der Aufzählung aller 3

4

Hume war ein oberflächlichier Philosoph, ein in vieler Hinsicht mehr durch seine Skepsis und zynische Eleganz Eindruck machender Causeur, der fortwährend, ohne es zu merken, sich widersprechende Behauptungen als evident einführte. Dennoch war sein Einfluß auf einen Geist von so gewaltiger Potenz und Gründlichkeit wie Kant so groß, daß dieser von ihm sagte, er sei von ihm aus dem „dogmatischen Schlummer“ erweckt worden (Prolego-mena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Vorwort‘). Aber vor allem ist sein direkter Einfluß unverhältnismäßig stark. Er ist der Vater des Positivismus aller Spielarten, des Empiro-Kritizismus, des Psychologismus und vieler anderer unseliger philosophischer Verirrungen. Appendix I, III; Meiner, Leipzig 1913. Deutsche Übersetzung von C. Winckler: Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Anhang I ,Das moralische Gefühl‘, 3.; Meiner, Hamburg 1962.

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geometrischen Eigenschaften die Schönheit des Kreises nicht erwähnt, darin liegt, daß sie keine wirkliche Eigenschaft des Kreises sei. Denn die Tatsache, daß die Schönheit in einer geometrischen Analyse nicht zum Thema gehört, genügt vollkommen, um dies zu erklären. Das ist einer der vielen Fälle, in denen Hume etwas als evident einführt, was in keiner Weise evident ist. Zweitens folgt aus der Tatsache, daß die Schönheit zutiefst von neutralen Qualitäten verschieden, nämlich ein Wert ist, in keiner Weise, sie könne dem Gegenstand nicht objektiv zukommen. Drittens schließt Hume willkürlich durch eine falsche Alternative die Möglichkeit der Objektivität der Werte aus: Alles, was dem Gegenstand als wirkliche Eigenschaft zukomme, müsse, um bei dessen Betrachtung erkannt werden zu können, entweder ein Sinnesdatum sein oder aus Vernunftgründen abgeleitet werden können. Dies ist eine reine petitio principii5. Es ist auch eine unbewiesene und erst recht keine evidente Behauptung. Ja, sie ist sogar in sich widerspruchsvoll, denn sie ist selbst wieder eine Behauptung, die weder auf eine Sinneserfahrung zurückgeht noch auf einen analytischen Satz. Sie widerspricht also seinem eigenen berühmten Satz6, der selbst nicht in die beiden Kategorien paßt, sondern eine philosophische Behauptung ganz anderer Natur ist. Nach seinem eigenen Verdikt müßte also An Enquiry Concerning Human Understanding verbrannt werden. Die weitverbreitete These, wir könnten Werte nicht erfassen, nicht erkennen, sie seien vielmehr ein „Gefühl“, das wir anläßlich des Wahrgenommenen empfinden, ist völlig unbegründet, unbewiesen und erst recht nicht evident. Sie tritt in sehr verschiedenen Formen auf, aber immer wird der in etwas ganz anderes uminterpretierte Wert dem Faktum gegenübergestellt. 5

6

Fehlerhafter Schluß, in dem etwas erst zu Beweisendes als Voraussetzung gebraucht wird. D. Hrsg. „Greifen wir einen Band heraus... so sollten wir fragen: ,Enthält er irgendeinen Gedankengang über Größe oder Zahl?ǥNein. ,Enthält er irgendeinen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein?ǥ Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.“ Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hrsg. von Raoul Richter, Meiner, Leipzig 1911, S. 193. Englische Ausgabe: Meiner, Leipzig 1913, p. 176: ‘Of the Academical or Sceptical Philosophy’.

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Verschiedene Wahrnehmungsarten, der Unterschiedlichkeit der Gegenstände entsprechend Bevor wir auf einzelne typische Formen dieser Subjektivierung der Werte im allgemeinen und der ästhetischen im besonderen eingehen, möchten wir kurz die Berechtigung der Unterscheidung von Werten und Fakten untersuchen. Wenn man damit auf den Unterschied zwischen neutralen Tatsachen und der geheimnisvollen Bedeutsamkeit, die Objekte besitzen können – und zwar die Bedeutsamkeit in sich: den Wert –, hinweisen will, so ist nichts dagegen zu sagen. Selbstverständlich ist es ein großer Unterschied, ob ich nur feststelle, daß etwas existiert, oder ob ich von seinem Wert spreche. Offensichtlich ist es etwas ganz anderes, ob ich sage: „Dort ertönt Musik“ oder: „Dort ertönt schöne oder häßliche Musik.“ Erwähnt man den Wert einer Sache, sei es ganz allgemein, wie: „Gerechtigkeit ist sittlich gut“, oder im konkreten Fall, wie: „Die Haltung dieses Menschen ist edel“, so stellt man offenbar etwas fest, was in eine ganz neue Richtung geht, verglichen mit der Feststellung einer neutralen Tatsache, z.B.: „Dieses Zimmer ist fünf Meter lang.“ Die Feststellung eines Wertes ist eine ganz neue Dimension, ein ganz neues Thema. Aber dieser Unterschied beinhaltet in keiner Weise, daß ich aufhöre, ein Faktum festzustellen. Wenn ich den sittlichen Wert eines Verzeihensaktes oder den Wert der Würde des Menschen als geistiger Person erfasse, liegt eine analoge Erkenntnis vor, wie wenn ich erkenne, daß ein Baum grün oder ein Syllogismus (Schluß) falsch ist. Gewiß, die Art des Erkennens ist radikal verschieden, der Typus der Wahrnehmung, mit dem ich Werte erfasse, ist ein anderer als der, mit dem ich Farben sehe, eine Stimme erkenne oder einsehe, daß 7+5 = 12 ist. Aber die Verschiedenheit der Art des Erkennens von Werten und neutralen Fakten bedeutet nicht, daß die Wahrnehmung von Werten kein echtes Erkennen sei. Es gibt die größten Unterschiede in der Art unmittelbaren Erfassens – der Wahrnehmung im weiteren Sinn des Wortes – je nach der Art des erkannten Gegenstandes. Wir brauchen ein Organ, um Farben, ein anderes, um Töne zu erfassen; jene können wir nur sehen, diese nur hören. Die Erkenntnis von körperlichen Gegenständen ist ganz anderer Art als die Erkenntnis von Personen. Das Wahrnehmen einer Melodie erfordert viel

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mehr als das Hören der Töne. Ganz unmusikalische Menschen erkennen keine Melodie, obgleich sie nicht taub sind. Es ist eine der interessantesten, hinreißendsten Aufgaben für den Philosophen, die Korrelation von Erfassen und Objekt zu untersuchen und die Unterschiede in den Akten des Erfassens der verschiedenen Gegenstandstypen festzustellen; d.h. zunächst, welche Inhalte überhaupt jemals unmittelbar erfaßt werden können, welche nur durch Schlüsse, welche nur durch Mitteilung usw., und dann innerhalb der „Wahrnehmungsarten“ die je nach der Wesensart des Gegenstandes wechselnde Eigenart der Erkenntnis, mit der wir diesen Gegenstand allein erfassen können. Daß sich das Erfassen eines Wertes von dem eines neutralen Faktums unterscheidet, berechtigt uns aber in keiner Weise, zu behaupten, im ersten Fall läge überhaupt kein Erfassen im Sinn einer Wahrnehmung im weiteren Sinn des Wortes vor, kein klares, ausgesprochenes „Bewußtsein von“. Hören wir, daß jemand seine Frau betrogen hat, so ist uns der sittliche Unwert dieser Handlung unmittelbar gegeben. Wir erfahren zwar von der Handlung nur mittelbar – durch Mitteilung –, aber der sittliche Unwert, der eindeutig an der Handlung haftet, ist uns trotzdem unmittelbar gegeben. Uns ist nun vor allem wichtig, daß uns der Wert bzw. Unwert eindeutig auf der Objektseite stehend gegeben ist und ein deutliches „Bewußtsein von“ im Erfassen des Wertes vorliegt, dagegen nicht die unmittelbare Gegebenheit des sittlichen Unwertes im Gegensatz zu seinem Träger, der Handlung des Ehebruchs. „Frontales Bewußtsein von“ und „laterales“ Vollzugsbewußtsein Der größte Unterschied innerhalb des Erfahrens im allgemeinsten Sinn des Wortes ist der von „frontalem Bewußtsein von“ einerseits und „lateralem“ Erfahren von etwas andererseits. Alles, was nicht zu meiner eigenen Person gehört, ist mir nur gegeben in einem „Bewußtsein von“, als Objekt, das sich meinem Geist erschließt, das ich auf der Objektseite erfasse. Ob es eine Farbe, ein materieller Gegenstand, ein Sachverhalt oder eine fremde Person ist, immer liegt ein frontales „Bewußtsein von“ vor. Wenn ich mich hingegen freue oder begeistere, wenn ich weine oder trauere, liebe oder hasse, liegt kein „Bewußtsein von“ vor, sondern ein bewußt vollzogenes Sein, das mir nicht frontal gegenübersteht. Natürlich

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ist für die Freude und die Begeisterung immer ein „Bewußtsein von“ dem Objekt, über das ich mich freue und begeistere, vorausgesetzt. Aber die Antworten, die Akte der Freude und Begeisterung selbst, sind kein „Bewußtsein von“, sondern bewußt Seiende. Dahin gehören auch alle Akte des Erkennens selbst. Das Sehen ist mir nicht gegeben wie das Gesehene. Ich vollziehe das Sehen, bin mir bewußt, daß ich sehe, aber in einem lateralen, nicht in einem frontalen Bewußtsein. Von Erkenntnis kann man nur sprechen, wenn es sich um ein „Bewußtsein von“ handelt. Nicht jedes „Bewußtsein von“ ist ein Erkennen, es kann auch z.B. ein Vorstellen oder Wissen sein. Aber alles Erkennen im eigentlichen Sinn ist immer ein „Bewußtsein von“. Auch im Vollziehen der eigenen Akte lerne ich diese kennen. Wenn sich jemand verliebt, ist er zwar ganz auf den Menschen, in den er sich verliebt, gerichtet. Von ihm hat er ein „Bewußtsein von“, aber er lernt dabei doch kennen, was Verliebtheit ist. Das bewußt vollzogene Sein erschließt sich ihm in seiner Eigenart, obgleich nur in lateraler Weise. Wenn man dies ebenfalls Erkenntnis nennen will, so muß man sich klarmachen, daß die Erkenntnis dabei in keiner Weise Thema ist. Das Thema ist die Freude selbst, das Sich-Freuen, das bewußte Sein der Freude, das Erleben der Freude und nicht das Kennenlernen der Freude. Aber zugleich lernt man in ganz eigener Weise kennen, was Freude ist. Will man sie jedoch zum Erkenntnisthema machen, z.B. zum Objekt einer philosophischen Analyse, so macht man sie zum Objekt wie Gegenstände, die nicht ein Teil unseres bewußten Seins sind, und analysiert sie in einem „Bewußtsein von“; man blickt auf sie in frontaler Richtung. Sie hört dann natürlich auf, in diesem Moment selbst vollzogen zu werden. Das, was ich im Vollzugsbewußtsein von ihr kennenlernte, wird zum Gegenstand gemacht, und an die Stelle des bewußten Vollzuges tritt ein „Bewußtsein von“. Gewiß, eine unmittelbare Wahrnehmung der zum Objekt unseres Erkennens gemachten Freude ist nicht möglich. Eine Selbstgegebenheit der Freude, wie bei der Wahrnehmung einer Farbe, eines Baumes, ist unmöglich. Die Realberührung mit der Freude ist uns nur im lateralen Vollzugsbewußtsein gegeben. Sobald ich sie zum Gegenstand meines Erkennens mache, hört sie auf, in ihrer realen Form als bewußtes Sein, d.h. als Teil meines bewußten Seins, wenigstens aktuell zu existieren. Aber da die Freude eine intelligible Wesenheit ist, wird mir – auch wenn ich die

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mir durch den Vollzug bekannte Gegebenheit der Freude zum Objekt mache – ihr Wesen in einer geistigen Intuition wie alle echten Wesenheiten unmittelbar gegeben sein. Nach dieser kurzen Exkursion in das erkenntnistheoretische Gebiet können wir klar sehen, daß keinerlei Grund vorliegt, zu behaupten, man könne die Schönheit einer Melodie, weil sie ein Wert sei, nicht erkennen, sie könne nicht wie Fakten wahrgenommen werden. Da die Vertreter dieser Theorie das Faktum mit dem neutralen Faktum gleichsetzen, behauptet z.B. George Santayana7 in dogmatischer Weise, nur Fakten könnten wahrgenommen und festgestellt werden. Darum könnten Werte nicht erkannt oder festgestellt werden. Wir sahen schon, daß Werte genauso erfaßt werden können wie irgendein neutraler Gegenstand oder irgendein neutrales Faktum. Wenn ich eine Melodie höre, ist mir ihre Schönheit oder Unschönheit genauso unmittelbar, genauso selbstpräsent gegeben wie die Melodie; sie ist genauso auf der Objektseite als ein von mir verschiedenes Etwas und von allen lateralen Bewußtseinserfahrungen verschieden gegeben. Ich entdecke die Schönheit der Melodie als an der Melodie haftend. Mit dieser lerne ich auch ihre Schönheit kennen, stelle sie fest. Daß diese Werterkenntnis oder Kenntnisnahme der Schönheit eine andere Art des Erfassens ist, ein ganz anderer Typus von Wahrnehmung, der sich von den übrigen Typen noch viel mehr unterscheidet als das Sehen vom Hören, ändert nichts daran, daß diese Erkenntnis ein echtes „Bewußtsein von“ ist, eine echte Wahrnehmung im weiteren Sinn, die radikal verschieden ist von allen Arten des lateralen Vollzugsbewußtseins.

7

The Sense of Beauty, The Modern Library, Random House, New York 1955 (l. Auflage 1896); Part I, 2, p. 25 und 11, p. 51.

TEIL VI PHENOMENOLOGISCHE FORSCHUNGEN

ALEXANDER PFÄNDER MOTIVE UND MOTIVATION EINLEITUNG Mit dem Wort Motiv, das in der Psychologie und in der Ethik eine so wichtige Rolle spielt, werden unbemerkt sehr verschiedene Bedeutungen verbunden. Man hat die Tatsachen, auf die man dabei hinzielt, nur aus der Ferne nach ihrer ganz allgemeinen Ähnlichkeit erfaßt, ihre wesentlichen Unterschiede aber, die sich bei näherer Betrachtung deutlich herausstellen, völlig übersehen. Die Folge ist eine gedankliche Verwechslung und Vermischung und eine gleichnamige sprachliche Bezeichnung sehr verschiedener Gegenstände. Und dadurch ist dann in die Erörterung mancher Streitfragen, z.B. der Frage nach der Willensfreiheit und der Frage, ob nur das durch »Pflicht«, oder auch das durch »Neigung« bestimmte Handeln sittlich sein könne, eine fast unheilbar erscheinende Verwirrung gebracht worden, die jeden neuen Bearbeiter dieser Fragen umgarnt und vollständig zu ersticken droht. Im folgenden soll nun durch möglichst genaue Erfassung der Tatsachen und ihres Wesens dargelegt werden, daß der Willensgrund ebenso streng wie etwa der Erkenntnisgrund von der Ursache zu scheiden ist, daß die Begründung des Wollens etwas völlig anderes ist als die Verursachung des Wollens, und daß man daher beides gedanklich wohl auseinander halten muß. Es ist aber zweckmäßig, das Wort Motiv ausschließlich für jenen Willensgrund zu reservieren, und für alles andere, was nicht Willensgrund ist, sondern in irgendwelcher anderen Beziehung zum Wollen steht, auch andere Wörter zu gebrauchen. Welche außerordentliche Tragweite die Klärung in diesem Punkte für die Psychologie und die Ethik haben kann, soll jedoch nicht nachgewiesen werden. Daß sich außerdem durch die gewonnenen Erkenntnisse ein Ausblick auf eine neue Wissenschaft, nämlich auf eine der Logik analoge Lehre von den Voluntarien und ihrer zureichenden Begründung eröffnet, soll am Schluß nur kurz angedeutet werden. Nebenbei sei erwähnt, daß diese Darlegungen eine Fortführung und eine teilweise Korrektur dessen enthalten, was meine »Phänomenologie des Wollens« (1900) zu dem Thema beigebracht hat.

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Ich verdanke den eingehenden »Untersuchungen über den Begriff des Verbrechensmotivs« von A. Thomsen (1902) manche Anregung und den Anstoß zu erneuter Durchforschung der Willensmotivation. Meine jetzigen Ergebnisse stimmen nicht mit den seinigen überein. Leider gestattet es aber der beschränkte Raum nicht, daß ich auf seine Untersuchungen, so wie sie es verdienen, hier Bezug nehme. Einen Vorblick auf den Hauptgang der Darlegungen gibt folgende Überlegung. Das Tatsachengebiet, dem man sich zuwenden muß, um über die Motive als Willensgründe die gewünschte Aufklärung zu erhalten, ist das Gebiet des Wollens. In diesem Gebiete lassen sich nun alle die Vorgänge, die in dem rein inneren Willensakt, dem Akt der willentlichen Vorsetzung münden, unterscheiden von denjenigen, die zur willentlichen Ausführung des Gewollten gehören und die hier in ihrer Gesamtheit speziell als Willenshandlung bezeichnet werden sollen. Diese Unterscheidung zwischen Willensakt und Willenshandlung ist möglich auch in denjenigen Fällen, in denen auf den Willensakt ohne Zögern unmittelbar die Willenshandlung folgt. Die in der Willenshandlung auftretenden Willensimpulse sind zwar in gewissem Sinne auch Willensakte, aber sie sind doch verschieden von dem Akte der willentlichen Vorsetzung, dem sie zugleich untergeordnet sind: auf den fest- und durchgehaltenen Vorsatz hinzielend und darauf gestützt führt das Ich sukzessiv die Willensimpulse aus. Gründe gibt es nun sowohl für den Willensakt als auch für die Willensimpulse und die Willenshandlung. Im folgenden soll jedoch die Untersuchung beschränkt werden auf die Gründe des Willensaktes. Die Frage, ob ein Willensakt, als ein wirkliches Wollen, ohne eine unmittelbar oder überhaupt darauf folgende Willenshandlung stattfinden könne, ist zwar zu bejahen, wie in der psychologischen Literatur genügend nachgewiesen ist. In solchem Falle, wo die Willenshandlung nicht folgt, den Willensakt ein bloßes Wünschen zu nennen, ist weder sachlich noch sprachlich gerechtfertigt, da das Wünschen sich vom Wollen nicht wesentlich durch das Fehlen der unmittelbar darauf folgenden Handlung, sondern durch ganz andere Momente unterscheidet. Doch wie es sich auch damit verhalten möge, auf jeden Fall kann und muß man den Willensakt und seine Begründung zunächst für sich behandeln. Die Ergebnisse, die hierbei gewonnen werden, machen es dann leicht, die entsprechenden

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Fragen nach der Begründung der Willenshandlung und der Willensimpulse ebenfalls der Lösung entgegenzuführen, während umgekehrt, wenn man versucht, diese letzteren Fragen zuerst zu behandeln, man notwendig auf die Frage nach der Begründung des Willensaktes zurückgeführt wird. Das Wesen der Willensgründe kann nun nicht geklärt werden, ohne daß vorher das Eigenartige des Willensaktes selbst erkannt und festgehalten wird. Um dies zu erreichen, führt die Untersuchung zunächst in die psychischen Tatbestände des Strebens hinein, gegen die dann der Willensakt abgehoben und in seiner Eigenart charakterisiert wird. Hierauf werden die Beziehungen des Willensaktes zu dem, was ihm in verschiedenem Sinne »vorangeht«, aufgesucht, aus ihnen die spezifische Motivationsbeziehung herausgelöst und ihrem Wesen nach bestimmt. ERSTER ABSCHNITT DAS GEBIET DER STREBUNGEN 1. Allgemeine Analyse des Tatbestandes des Strebens Bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte oder Geschehnisse, die von einem menschlichen Individuum empfunden, resp. wahrgenommen, erinnert, vorgestellt oder bloß gedacht werden, erwecken in ihm bestimmte Strebungen oder Widerstrebungen. Diese Strebungen sind durchaus nicht immer, sondern nur äußerst selten auf oder gegen das Erleben von Lustoder Unlustgefühlen gerichtet. Es gibt ein Streben, etwas zu empfinden oder sinnlich wahrzunehmen, etwas zu beachten oder zu apperzipieren, etwas vorzustellen, etwas zu erkennen, zu erfahren, zu wissen, zu glauben, zu behaupten, zu folgern, zu begründen, zu beweisen, zu erklären; es gibt ebenso ein Streben, in bestimmte Stimmungen zu geraten, sie anwachsen, herabmindern oder andauern zu lassen. Ähnliche Strebungen richten sich auf das Analoge bei Gefühlen aller Art und bei Gesinnungen. Und endlich kann sich das Streben auch auf Verwirklichung oder Nichtverwirklichung von äußeren Gegenständen, Sachverhalten und Geschehnissen richten. In einem gegebenen Fall sei nun ein Gegenstand bewußt, der ein auf ihn selbst bezügliches Streben errege; eine Orange werde wahrgenommen und errege das Streben, sie zu essen. Dann liegt als erkennbarer Tatbestand zunächst ein bestimmtes Gegenstandsbewußtsein vor. Dieses enthält

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ALEXANDER PFÄNDER

jedenfalls ein bestimmtes Gegenüber, in welchem einem Ich als Subjekt ein Gegenstand als Objekt zunächst nur einfach bewußt gegenübersteht. Von dem Ich als Zentrum können dann aber verschiedene zentrifugale »Bewegungen« zum gegenüberstehenden Gegenstand gehen. Unter diesen zentrifugalen »Bewegungen« ist das Aufmerken, bildlich gesprochen: das zentrifugale Hinstrahlen des Bewußtseinslichtes, verschieden von dem Apperzipieren, d.h. von dem geistigen Hingreifen, Ergreifen, Herausgreifen, Abheben, Trennen und Zusammennehmen. Und zu beidem tritt, ebenfalls zentrifugal gerichtet, aber von beidem verschieden, unter Umständen das fragende und meinende Hinzielen, und dazu schließlich das Behaupten, das gedankenbildende geistige Hinaussetzen und Absetzen hinzu. Erregt nun der Gegenstand, dem das Ich im Gegenstandsbewußtsein irgendwie zentrifugal zugewandt ist, in dem Ich ein Streben, so wird dieses Erregen erlebt als ein zentripetales, vom bewußt gegenüberstehenden Gegenstand herkommendes, in seinem Verlauf dunkles und erst im Ich an einer bestimmten Stelle aufleuchtendes Entzünden eines treibenden Strebens. Oder aber der ganze Tatbestand hat mehr den Charakter einer Anziehung (resp. Abstoßung), die vom Gegenstand ausgeht, zum Ich zentripetal hingeht, hier an einer bestimmten Stelle angreift und zentrifugal zurückgeht. Außer dem zentrifugalen Gegenstandsbewußtsein und dem zentripetalen Erregen ist aber im Tatbestand des Strebens eben das Streben als eine neue und andersartige zentrifugale Zielung oder »Bewegung« vorhanden. Das Streben hat immer zentrifugale Richtung; es ist aber an sich blind, es ist nicht selbst ein Bewußtsein von einem bestimmten Ziele und enthält auch nicht notwendig ein solches Bewußtsein in sich. Für jedes Streben dagegen ist konstituierend eine ihm innere, gegensätzliche Dualität, d.h. in ihm ist eine zentrifugale Strömung mit einer ihr entgegengerichteten inneren Hemmung zu einer ursprünglichen Einheit von bestimmtem Spannungscharakter vereinigt (vgl. Lipps, Leitf. d. Psychol., 3. Aufl. S. 260). Außer dieser konstituierenden Dualität zeigt das Streben noch eine es spezifizierende Dualität, d.h. es ist entweder ein Hinstreben nach etwas oder ein Widerstreben gegen etwas. Im Hinstreben geht jene das Streben konstituierende Strömung auf Verringerung der ideellen Distanz zwischen Ich und Gegenstand, im Widerstreben dagegen geht sie auf eine

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Vergrößerung dieser Distanz. Und die das Streben mitkonstituierende Hemmung ist beim Hinstreben gegen die Vergrößerung der Distanz gerichtet. Im Gesamttatbestand des Strebens stehen nun jene drei, zwischen Ich und Gegenstand hin- und herlaufenden Zielungen oder »Bewegungen« in bestimmten Beziehungen zueinander. Das zentrifugale Gegenstandsbewußtsein stellt den Kontakt zwischen Gegenstand und Ich her, der dann dem Gegenstand ermöglicht, das Ich direkt anzugreifen und in ihm ein Streben zu erregen. Ist der Kontakt hergestellt, so ist das Entstehen des Strebens im Ich ein ohne Zutun des Ich stattfindendes Geschehen, das durch den gegenüberstehenden Gegenstand phänomenal bewirkt oder auch bloß erregt wird. An die zentrifugale Richtung des Gegenstandsbewußtseins setzt sich also im Gegenstand als Knickpunkt die zentripetale Richtung der Erregung an, die dann im Ich als Knickpunkt ein zentrifugales Streben hervorsprießen läßt. Ändert sich der Inhalt oder auch die Art des Gegenstandsbewußtseins, so werden die im Ich erregten oder bewirkten Strebungen immer andere und andere. 2. Phänomenale Quelle, phänomenale Ursache und reale Ursache des Strebens Bei diesen Strebungen muß man unterscheiden: die phänomenale Quelle des Strebens, die phänomenale Ursache des Strebens und die reale Ursache des Strebens. Erregt z.B. ein gehörtes Geräusch das Streben, an eine bestimmte Stelle des umgebenden Raumes hinzublicken, so ist die phänomenale Quelle dieses Strebens das Ich oder eine bestimmte Gefühlszuständlichkeit des Ich: ein Gefühl des Mangels, der Unzulänglichkeit oder der Unlust. Die phänomenale Ursache dieses Strebens dagegen ist das gehörte Geräusch, von dem dieses Streben erregt wird. Und die reale Ursache dieses Strebens ist ein umfangreicher Komplex von psychophysischen Bedingungen, die in dem psychophysischen Individuum und seiner augenblicklichen physischen Umgebung liegen. Weder die Quelle noch die phänomenale noch die reale Ursache noch auch ein Element der realen Ursache des Strebens sind als solche schon das, was später Motive genannt werden soll. Selbst dann, wenn die phänomenale Quelle des Strebens wieder ein anderes Streben ist, kann diese Beziehung

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des erlebten Hervorgehens des einen Strebens aus einem anderen Streben nicht als eine Motivationsbeziehung in dem später festzulegenden Sinne betrachtet werden. 3. Exzentrische und zentrale Strebungen Die im Ich entstehenden Strebungen und Widerstrebungen haben in diesem Ich doch nicht die gleiche Lage. Dieses Ich besitzt nämlich eine eigenartige Struktur: das eigentliche Ich-Zentrum oder der Ich-Kern ist umgeben von dem Ich-Leib. Und die Strebungen können nun zwar im Ich, aber außerhalb des Ich-Zentrums im Ich-Leib entstehen, also in diesem Sinne als exzentrische Strebungen erlebt werden. Beim erwachsenen Menschen haben wohl die meisten Strebungen und Widerstrebungen zunächst diese exzentrische Lage, deren Exzentrizität übrigens eine verschiedene Größe haben kann. Diese exzentrischen Strebungen haben nun, wie alle Strebungen, für sich eine zentrifugale, vom Ich weggehende Richtung. Zugleich aber haben sie die Tendenz, aus ihrer exzentrischen Lage in die zentrale überzugehen oder das Ich-Zentrum zu ergreifen und in sich hineinzuziehen. Diese Tendenz kann dann mehr oder weniger schnell zum Ziele führen, d.h. das Ich-Zentrum kann willenlos mehr oder weniger schnell jetzt von dieser, dann von jener exzentrisch auftauchenden Strebung ergriffen und festgehalten werden. Schließlich kann das Ich-Zentrum auch von vornherein willenlosnaiv in den entstehenden Strebungen darin sein, es können also die Strebungen in diesem Sinne originär-zentral sein. In allen diesen möglichen Fällen sei noch jedes eigentliche Wollen, von dem erst später die Rede sein soll, ausgeschlossen. Das erlebte Verhalten der exzentrischen Strebungen zum Ich-Zentrum ist ein phänomenales Wirken, nicht etwa schon ein Motivieren. Das Hineingezogen werden des IchZentrums in die Strebungen ist an sich kein Willensakt, das usurpatorischzentrale Streben ist also noch kein Wollen. Und das obengenannte originär-zentrale Streben ist wohl zu unterscheiden von einem willentlichen Streben, das in einem ganz anderen Sinne originär-zentral ist. Die Betrachtung des Ich-Zentrums, von dem hier gesprochen ist, ergibt, daß es in keiner Weise selbst identisch ist mit den jeweilig »stärksten« oder mit den »dauernden, konstanten« Strebungen, ja, daß diese, hier und da

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behauptete Identität unmöglich ist. Denn das Ich ist immer das Subjekt der Strebungen, niemals die Strebung selbst und erst recht nicht eine Summe von Strebungen. 4. Mehrheit gleichzeitiger Strebungen Tritt eine Mehrheit einander widerstreitender Strebungen im Ich gleichzeitig auf, und »siegt« nach längerer oder kürzerer Zeit eine der Strebungen über die widerstreitenden anderen, d.h. ist die »siegende« nicht nur die stärkere, sondern ergreift allein sie das Ich-Zentrum, zieht dieses in sich hinein und führt als usurpatorisch-zentrales Streben zur Verwirklichung des Erstrebten – führt z.B. das durch ein Geräusch erregte Streben, an eine bestimmte Stelle des umgebenden Raumes hinzublicken, trotz des Widerstrebens gegen die erwarteten Augenschmerzen, zu dem Hinblicken selbst – so ist dies alles an sich noch keinerlei Wollen, kann also prinzipiell auch beim Menschen ohne jeden eigentlichen Willensakt stattfinden. Hinsichtlich der »siegenden« Strebung kann man dann freilich nach ihrer phänomenalen Quelle, nach ihrer phänomenalen und ihrer realen Ursache und auch nach der Ursache ihres Sieges fragen. Aber eben das, was später als Motiv bezeichnet werden soll, nämlich der Willensgrund, ist von diesem allen verschieden und hier noch gar nicht vorhanden. »Siegt« das Streben im Kampf um das Ich-Zentrum über die ihm widerstreitenden anderen Strebungen (also etwa über jenes Widerstreben gegen die Augenschmerzen), so ist dieser Prozeß wesentlich verschieden von dem Prozeß, in welchem sich das Ich durch ein Motiv zu einem bestimmten Wollen bestimmen läßt. In jenem Fall ist das IchZentrum einfach der Zankapfel, der, wenn auch vielleicht zuschauend, so doch willenlos die Beute des Stärkeren wird. Im zweiten Falle dagegen tritt eben jenes fehlende Wollen als etwas völlig Neues dazwischen und steht sowohl zu seinem Motiv als auch zu dem ihm folgenden Verhalten des Ich in phänomenologisch völlig andersartigen Beziehungen, als diejenigen sind, in denen das Ich-Zentrum zu jener stärkeren Strebung und ihrem »Sieg« steht. Indem wir das eigentümliche Getriebe des Strebelebens, das bisher kurz beschrieben wurde, im Auge behalten, wenden wir uns nun dem Willensakt zu.

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ALEXANDER PFÄNDER ZWEITER ABSCHNITT DAS WESEN DES WILLENSAKTES

Der Willensakt ist gegenüber allen bloßen Strebungen und Widerstrebungen, gegenüber dem »Siegen der stärksten Strebung« und ihrem Usurpieren des Ich etwas völlig Neues. Er soll hier zunächst von anderen Tatbeständen unterschieden und dann seiner Eigenart nach charakterisiert werden. Mit seiner Eigenart hängt die Möglichkeit einer besonders gearteten Beziehung zusammen, in der er zu bestimmten bewußten Tatbeständen stehen kann, einer Beziehung, die allein als Motivationsbeziehung zu bezeichnen ist. 1. Unterscheidung des Willensaktes von anderen Tatsachen Der Willensakt ist zunächst, ebenso wie das Streben, verschieden vom bloßen Gegenstandsbewußtsein, vom Aufmerken, vom Apperzipieren, vom fragenden und vom meinenden Hinzielen. Er ist also kein bloßer Akt der Aufmerksamkeit, kein bloßer Akt der Apperzeption und keine bloße Voraussicht einer psychischen Wirkung. Denn alles dies kann gegebenenfalls vorhanden sein, ohne daß irgendein Willensakt vollzogen wird. Der Willensakt ist aber auch vom Streben verschieden. Vom exzentrischen Streben ist er dadurch verschieden, daß er immer zentral ist, d.h. vom Ich-Zentrum selbst vollzogen wird. Von dem oben genannten originär-zentralen Streben unterscheidet er sich außerdem dadurch, daß in ihm das Ich-Zentrum nicht nur Subjekt und Ausgangspunkt, sondern der originäre Vollzieher des Aktes ist. Der Willensakt stellt sich phänomenal eben nicht als ein von einer anderen Seite her verursachtes Geschehen, sondern als ein ursprünglicher Akt des Ich-Zentrums selbst dar. Stimmt der Willensakt auch mit dem Streben insofern überein, als er zentrifugale Richtung hat, so ist er doch ganz im Gegensatz zum Streben nicht an sich blind, sondern enthält in seinem Wesen ein Bewußtsein von dem Gewollten. Der Vollzug des Willensaktes freilich ist ein strebendes Tun, in welchem die in der konstituierenden Dualität enthaltene zentrifugale Strömung die innere Hemmung aus sich heraus überwindet. Dieser Vollzug kann daher mehr oder weniger schwierig sein. Was aber

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hier in diesem Vollzug getan wird, das unterscheidet sich wesentlich von allem, was sonst in einem strebenden Tun getan werden kann: es wird nämlich meinend ein praktischer Vorsatz gesetzt. Nun zeigt der Willensakt auch eine ihn spezifizierende Dualität, d.h. er ist entweder positiv oder negativ, entweder eine praktische Bejahung oder eine praktische Verneinung. Diese Dualität korrespondiert gewiß der Dualität des Hinstrebens und Widerstrebens, aber sie ist doch auch von ihr wesentlich verschieden. Sie ist nicht eine Dualität blinder Reaktionen, sondern eine Dualität sehender Akte. Vergleicht man also den Willensakt mit den Strebungen, so rückt er von ihnen ab in die Sphäre der geistigen Akte. Andererseits aber ist er nun doch auch von den rein theoretischen Akten verschieden. Der Willensakt ist nämlich nicht etwa selbst ein Urteilsakt darüber, daß etwas sei oder nicht sei, kein Urteilsakt darüber, daß etwas wertvoll oder nicht wertvoll sei, und auch kein Urteilsakt darüber, daß etwas sein solle resp. nicht sein solle. Der Willensakt ist, kurz gesagt, weder ein positiver noch ein negativer Urteilsakt über Sein, Wert und Sollen. Er mag solche Urteile implizieren. Aber keiner dieser Urteilsakte ist für sich schon ein Willensakt. In den Urteilsakten wird etwas behauptet oder erkannt, in den Willensakten dagegen wird etwas gewollt. Demnach ist der Willensakt auch keine bloße theoretische Bejahung oder Verneinung. Ebensowenig ist eine theoretische Zustimmung an sich schon ein Willensakt. Das Vollziehen von Seins-, Wert- und Sollens-Urteilen ist gewiß unter Umständen selbst eine Willenshandlung, aber deshalb sind diese Urteile selbst keine Willensakte. Die Urteile als theoretische Sätze sind keine praktischen Vorsätze. 2. Charakteristik des Willensaktes Der Willensakt ist nach dem oben Gesagten jener eigentümliche, rein innere Akt, der der Willenshandlung vorhergeht und unter Umständen den Anfang einer Willenshandlung bildet. Er kommt sprachlich zum Ausdruck in Sätzen von der Form: »Ich will P« und »Ich will nicht P«. Freilich kann man diese Sätze auch in einem anderen Sinne auffassen, nämlich in dem Sinne von Urteilen über das Ich und sein Wollen. Sie wären dann nur ein Spezialfall der allgemeineren Sätze: »S will P« und »S will nicht P«, und sie wären so der Ausdruck von theoretischen Urteilen, nur eben mit einem

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besonders gearteten Sachverhalt. In Wahrheit aber haben jene Sätze einen anderen Sinn: sie sind der Ausdruck von Vorsätzen oder Voluntarien; statt der Behauptungskopula der theoretischen Urteile haben wir hier die Willenskopula der praktischen Vorsetzungsakte. Während die Behauptungskopula dem entworfenen Sachverhalt Setzungsgepräge gibt, erteilt die Willenskopula dem entworfenen Sachverhalt Vorsetzungsgepräge. Im Vollzug des Willensaktes setzt sich das Ich selbst ein bestimmtes eigenes Verhalten vor, nämlich etwas zu tun oder etwas nicht zu tun. Das vorgesetzte Selbstverhalten soll hier das Projekt genannt werden. Dann gehört zum Vollzug des Willensaktes zunächst die auf ein bestimmtes zukünftiges Verhalten des eigenen Ich zielende Willensmeinung oder das Projektsbewußtsein. Das gemeinte Selbstverhalten ist dann aus irgendeinem Grunde fürwertgehalten, es ist also eine Werthaltung dessen vorhanden, worauf die Willensmeinung zielt. Zuweilen tritt noch ein Sollensbewußtsein hinzu, d.h. die Meinung oder die Erkenntnis, das gedachte Selbstverhalten solle sein. Dieses Sollen mag dann anerkannt und das projektierte Verhalten mag gebilligt werden, und beides in Akten der Anerkennung und Billigung, die beide keine Verstandesurteilsakte sind, geschehen, – solange nur die bis jetzt genannten Momente vorhanden sind, fehlt noch das Wesentliche und Entscheidende, um den ganzen Tatbestand zu dem Vollzug eines Willensaktes zu machen. Es fehlt nämlich noch die eigentümliche praktische Vorsetzung. Diese Vorsetzung geht vom IchZentrum aus, aber nicht als ein Geschehen, sondern als ein eigentümliches Tun, in dem das Ich-Zentrum aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt. Dieser Schlag tut mehr als bloß billigen. Mit ihm wird das gemeinte Selbstverhalten vorgesetzt, jedoch noch nicht wirklich ausgeführt. Der Willensakt bezieht sich auf das eigene Ich. Soll er nicht einer jener Scheinwillensakte sein, die sich auf ein losgelöstes Phantasie-Ich beziehen, soll er ein echter Willensakt sein, so muß das eigene Ich nicht bloß gedacht, sondern unmittelbar selbst erfaßt und zum Subjektsgegenstand der praktischen Vorsetzung gemacht werden. Zum Wollen, nicht aber zum Streben, gehört also das unmittelbare Selbstbewußtsein. Der Willensakt ist also ein mit einer bestimmten Willensmeinung erfüllter praktischer Vorsetzungsakt, der vom Ich-Zentrum ausgeht und, bis zum Ich selbst vordringend, dieses selbst zu einem bestimmten

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zukünftigen Verhalten bestimmt. Er ist ein Selbstbestimmungsakt in dem Sinne, daß das Ich sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Aktes ist. Nun ist der Willensakt entweder ein positiver oder ein negativer, d.h. es wird in ihm das eigene Ich als Subjektsgegenstand mit einem gemeinten selbsteigenen, zukünftigen Tun entweder willentlich in-Eins-gesetzt oder willentlich außer-Eins-gesetzt. In beiden Fällen hat die Willenskopula, ähnlich der Behauptungskopula bei Urteilen, eine Doppelfunktion, nämlich die Funktion der In-Eins-Setzung (resp. der Außer-Eins-Setzung) und die Funktion der Wollung, von denen die zweite der ersteren in Verschmelzung übergelegt ist. Die praktische Vorsetzung kann nun, wie beim Wünschen, eine problematische, oder wie beim hypothetischen Wollen eine hypothetische sein. Beim eigentlichen Wollen ist sie dagegen eine wirkliche und unbedingte Willenssetzung. Lösen wir aus dem Vollzug des Willensaktes vergedanklichend die Willensmeinung mit der Vorsetzungsfunktion vereinigt heraus, so erhalten wir den gefaßten Vorsatz oder das Voluntarium. Durch den Vollzug eines echten Willensaktes ist das Ich mit einem bestimmten Vorsatz geladen. Der Willensakt ist insofern also auch ein Selbstladeakt, das Ich lädt sich selbst mit einem Vorsatz. Die so selbstgeschaffene Geladenheit kann dann entweder durch neu hinzutretende Willensimpulse zu ihrer Entladung gebracht werden, oder sie kann unentladen aktuell fortdauern oder auch virtuell verharren, bis sie später entweder ihre erfüllende Entladung findet, oder sich unentladen verflüchtigt, oder aber willentlich wieder aufgehoben wird. 3. Der Wahlakt Der Wahlakt ist ein besonderer Fall des Willensaktes. Er ist weder einfach ein Streben, noch der »Sieg« eines Strebens. Statt eines Projektes stehen bei ihm mehrere, einander ausschließende Projekte vor Augen. Nach einer länger oder kürzer dauernden Überlegung hinsichtlich der objektiven und der subjektiven Möglichkeit, des Wertes und des Sollens dieser verschiedenen Projekte, und nach eventueller Wert- und Sollensabwägung der Projekte gegeneinander, kann dann der Wahlakt eintreten. Er trifft eins dieser Projekte und besteht ebenfalls in einem Akte

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der positiven praktischen Vorsetzung, in welchem das Ich sich selbst die Ausführung des einen Projektes vorsetzt; zugleich ist damit explizite oder implizite eine Mehrheit negativer praktischer Vorsetzungen in bezug auf die anderen Projekte verbunden. Der Unterschied zwischen einfachem Willensakt und Wahlakt hat mit der Anzahl der vorhandenen Motive gar nichts zu tun. Auch ein einfacher Willensakt ohne irgendwelche Wahl kann mehrere Motive haben. Da der Wahlakt ebenfalls ein Akt der praktischen Vorsetzung ist, so bedarf er nicht neben dem einfachen Willensakt der gesonderten Berücksichtigung, wenn die Natur der Motivationsbeziehung in Frage steht. Ist der Wahlakt wirklich ein Willensakt, dann darf man nicht schon die bloße Erkenntnis oder die Einsicht, daß das eine Projekt die anderen Projekte an Wert überrage oder daß es den anderen vorzuziehen sei, einen Wahlakt nennen. Ebensowenig ist schon die Anerkennung der Vorzüge und die Billigung des einen Projektes selbst ein Wahlakt. DRITTER ABSCHNITT DIE VERHÄLTNISSE DES WILLENSAKTES ZU DEM, WAS IHM »VORANGEHT« 1. Das Verhältnis des Willensaktes zu den Strebungen Ehe der Willensakt vollzogen wird und noch während seines Vollzuges können in demselben Seelenleben eine oder mehrere Strebungen vorhanden sein, die sich auf oder gegen die Ausführung des gemeinten Projektes richten. Es ist aus dem Vorausgehenden ersichtlich, daß keine dieser Strebungen, auch nicht diejenige, die über die widerstreitenden Strebungen den »Sieg« davonträgt, mit dem Willensakt selbst identisch sein kann. Die Verschiedenheit des Willensaktes von den Strebungen zeigt sich auch ferner in folgendem: Ein positiver Willensakt kann sich auf ein Projekt richten, gegen dessen Ausführung das Ich bis zuletzt ein Widerstreben in sich verspürt. Es gibt Fälle, in denen das Ich sich mit heftigem Widerstreben und trotz dieses Widerstrebens für etwas entscheidet. In solchen Fällen läßt sich in keiner Weise ein das heftige Widerstreben an Stärke überragendes und es besiegendes Hinstreben konstatieren. Jedenfalls liegt ein von dem genannten verschiedener Tatbestand vor, wenn der Willensakt in

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Übereinstimmung mit einem Hinstreben, das stärker ist als ein auch vorhandenes Widerstreben, vollzogen wird. Im letzteren Falle weist die Gesamtlage des Strebens trotz des vorhandenen Widerstrebens ja schon von selbst in die Richtung, die der Willensakt dann ebenfalls einschlägt. Es kann zweitens ein negativer Willensakt hinsichtlich eines Projektes vollzogen werden, auf dessen Ausführung das gegenwärtige positive Streben oder eine positive Strebungsresultante gerichtet ist. Trotz heftigen Hinstrebens entschließt sich das Ich gegen die Ausführung des Projektes. Auch in diesem Falle darf das Nicht-Wollen nicht mit einem Widerstreben verwechselt werden. Schließlich gibt es nach meiner und auch anderer Menschen Erfahrung Willensakte, bei deren Vollzug weder Hinstrebungen noch Widerstrebungen gegen die betreffenden Projekte zu entdecken sind. Es sind vor allem die Fälle, in denen man nach völlig ruhiger und vernünftiger Überlegung und Einsicht sich gemäß dieser Einsicht für oder gegen etwas entschließt. Ich muß es als ein Vorurteil zugunsten einer falschen Willenstheorie betrachten, wenn behauptet wird, die Strebungen, die man hier in keiner Weise auffinden kann, seien trotzdem vorhanden, und in ihrem »Sieg« bestehe der Willensentscheid. 2. Der Einfluß der Strebungen auf den Vollzug des Willensaktes Es ist jedoch zweifellos, daß die im gegebenen Moment in einem Ich vorhandenen Strebungen in größerem oder geringerem Maße das Ich bei seinem Vollzug von Willensakten beeinflussen können und in vielen Fällen tatsächlich beeinflussen. Die auftretenden Strebungen und Widerstrebungen sind zunächst für das willensfähige Ich Anreize, sich gegenüber diesen Strebungen willentlich zu betätigen. Darüber hinaus aber machen sie das Ich auch geneigt, sich zugunsten der gerade vorhandenen Strebungen zu entscheiden. Was nun das erstere betrifft, so ist sicher, daß das Ich sich im gegebenen Moment häufig gar nicht willentlich betätigen würde, wenn nicht gerade die bestimmten Strebungen oder Widerstrebungen in ihm aufträten. So würde ich mir jetzt nicht vorsetzen, Blumen zu kaufen, wenn nicht gerade jetzt der Anblick der Blumen ein Streben, sie zu besitzen, in mir erregt hätte. Das Ich, das freilich hier als ein willenfähiges vorausgesetzt ist, wird in

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solchen Fällen sicher durch die vorhandenen Strebungen zu einem Wollen »bestimmt« und nicht nur überhaupt zu einem Wollen, sondern auch zu dem Wollen bestimmten Inhalts wird das Ich durch sie »bestimmt«. Das Ich würde vielleicht nicht nur überhaupt nicht, sondern erst recht nicht in bezug auf diese Projekte sich willentlich entschieden haben, wenn nicht gerade diese Strebungen aufgetreten wären. Wenn nun allerdings soweit das Ich durch die Strebungen bestimmt wird, so braucht es deshalb doch nicht schon zu einem positiven oder zu einem negativen Willensakt »bestimmt« zu werden. Ist etwa ein positives Streben nach etwas vorhanden, so braucht der stattfindende Willensakt durchaus nicht ein positiver im Sinne dieses Strebens, d.h. durchaus nicht ein solcher zu sein, der die Befriedigung dieses Strebens mitsetzt. Wie oben schon hervorgehoben wurde, kann ein negativer Willensakt bei vorhandenem positivem Streben und trotz dieses Strebens gefällt werden. Die Beziehung der Strebungen zum Vollzug des Willensaktes ist in diesen Fällen eine phänomenale Wirkungsbeziehung, d.h. das Ich erlebt ein von der Strebung herkommendes Drängen oder Ziehen, das am IchZentrum angreift und es in die Strebung hineinzuziehen sucht. Zugleich tritt ihm ohne sein Zutun ein Projekt vor Augen, und eine Bereitschaft zu wollen, als ein bestimmter psychischer Zustand, wird durch die Strebung spürbar in ihm erregt. Auf jeden Fall sind diese Beziehungen der Strebungen zum Vollzuge eines Willensaktes verschieden von denjenigen Beziehungen, die im folgenden noch zur Betrachtung kommen und als Motivationsbeziehungen bezeichnet werden sollen. Auch stellt sich im unmittelbaren Erleben die Sache keineswegs so dar, daß die Strebungen von sich aus den Vollzug eines bestimmten Willensaktes einfach verursachten. Das ist schon durch das Wesen des Vollzugs eines Willensaktes ausgeschlossen. Im Erleben erscheint nämlich immer das Ich selbst als der Täter, der den Willensakt vollzieht. Niemals kann der Vollzug eines Willensaktes ein Geschehen sein, das von dem Ich erlitten wird, denn dann wäre das, was stattgefunden hätte, eben nicht mehr ein Willensakt. Es liegt in der eigentümlichen Natur des Willensaktes begründet, daß er phänomenal nur durch das Ich selbst vollzogen werden kann. Im Rückblick auf früher vollzogene Willensakte wird nun freilich das Ich manchmal konstatieren können, daß es sich damals zum Vollzug jener

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Willensakte durch die gerade in ihm vorhandenen Strebungen hat verleiten oder verführen lassen. (»Die Blumen waren gar nicht so schön, ich habe mich nur durch ein heftiges Verlangen nach ihnen verführen lassen, sie zu kaufen.«) Aber schon die Ausdrücke »verführen« und »verleiten«, die man gewöhnlich im Deutschen in solchen Fällen gebraucht, deuten darauf hin, daß auch hier die Strebungen nicht die Ursachen waren, die einfach den Willensentscheid herbeigeführt haben. Und worauf diese sprachlichen Ausdrücke hindeuten, das bestätigt die phänomenologische Betrachtung der psychischen Tatsachen selbst. Nur darf man hier nicht gegen feinere Nuancen der Tatsachen blind oder gegen ihre Anerkennung heimlich renitent sein. Strebungen, die zum Vollzug bestimmter Willensakte verführen oder verleiten, sind auch nicht als Motive der Willensentscheide anzusprechen, wenn man nur dasjenige ein Motiv nennt, das in der sogleich zu besprechenden und andersartigen Beziehung zu den Willensentscheiden steht. Es wird durch diese Entscheidung verständlich, warum bei Menschen mit empfindlichem Gewissen in allen Fällen, in denen ihr Willensentscheid in die Richtung einer vorhandenen Strebung fällt, so leicht das Bedenken entsteht, ob sie sich nicht, statt sich durch zureichende Motive bestimmen zu lassen, durch die vorhandene Strebung haben verleiten lassen. Auch der Gegensatz zwischen der Bestimmung des Willens durch Pflicht und der Bestimmung durch Neigung enthält den wesentlichen Unterschied zwischen Bestimmung durch Motive und Verleitung durch Strebungen. Hinsichtlich seines prinzipiellen Verhältnisses zu den vorhandenen Strebungen bietet der Wahlakt gegenüber dem einfachen Willensakt nichts wesentlich Neues. Auch der Wahlakt stimmt nicht immer überein mit dem jeweilig stärksten Streben, ja es braucht gar kein mit ihm übereinstimmendes Streben da zu sein. Der Wahlakt kann ebenfalls »veranlaßt« oder »bestimmt« sein durch vorhandene Strebungen, aber deshalb ist er nicht einfach die Wirkung dieser Strebungen und nicht durch sie motiviert.

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ALEXANDER PFÄNDER 3. Die Gründe des Willensaktes; die Willens gründe oder Motive

Es seien zuerst einige Beispiele angeführt, in denen etwas Grund eines Willensentscheides in einem ganz besonderen, von den bisher betrachteten Fällen verschiedenen Sinne ist. Diese Beziehung des Grundes zum Willensentscheid ist nicht vom außenstehenden Betrachter hineininterpretiert, sondern in dem Tatbestand selbst erlebt, also in ihm selbst phänomenal vorhanden. Ein Mensch betritt einen Raum, nimmt die darin herrschende Kälte wahr und beschließt auf Grund dieser wahrgenommenen Kälte, den Raum zu verlassen. – Ein Mensch empfängt von einem anderen ein bestelltes Arbeitsprodukt; er erkennt, daß dieses besonders sorgfältig gearbeitet ist, und er beschließt auf Grund der erkannten Tatsache, daß der andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, ihn besonders zu belohnen. – Ein Mensch erinnert sich, daß er sich allemal, wenn er in einer bestimmten Gegend lebte, sehr wohl befand, und er beschließt auf Grund dieser erinnerten Tatsachen, diese Gegend wieder aufzusuchen. – Ein vierter Mensch beschließt, eine Tat zu unterlassen auf Grund des Gedankens, ein anderer könnte sich durch diese Tat gekränkt fühlen. In allen diesen Fällen werden Willensakte vollzogen. Im ersten Fall ist außerdem wesentlich die Wahrnehmung der in dem Raum herrschenden Kälte. Aufmerksamkeit, Apperzeption und Seins-Erkenntnis mögen mit dieser Wahrnehmung vereinigt sein. Aber damit ist der Tatbestand nicht erschöpft; die bloße Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung und des Vollzuges des Willensaktes macht nicht die wahrgenommene Kälte zum Grunde des Willensaktes. Im zweiten Fall ist außer dem Vollzug des Willensaktes noch wesentlich vorhanden die Wahrnehmung des Arbeitsproduktes, dann eine Werterkenntnis in bezug auf dieses Produkt und die Seins-Meinung, der andere Mensch habe durch seine Sorgfalt dieses wertvolle Produkt geschaffen. Aber auch hier ist mit dem bloßen gleichzeitigen Dasein dieser Tatsachen der Tatbestand nicht erschöpft. Analog verhält es sich im dritten und vierten Fall. Zum Vollzug des entsprechenden Willensaktes tritt dort die Erinnerung an bestimmte Tatsachen, hier der Gedanke an eine zukünftige Möglichkeit hinzu; vielleicht sind auch Werterkenntnisse oder Wertmeinungen vorhanden.

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Aber bei allem dem fehlt noch die Beziehung des Willensaktes zu seinem Grund. Diese Beziehung, die in allen vier Fällen einen Wesensbestandteil der Tatbestände ausmacht, ist nun in ihrer Eigenart zu bestimmen. Dazu diene zunächst die Analyse des ersten Beispiels. a) Die phänomenale Verursachung des geistigen Hinhörens auf Forderungen. Die wahrgenommene Kälte wirkt zentripetal auf das Ich. Außerdem daß sie vielleicht Unlust und Widerstreben erweckt (was freilich im gegebenen Fall durchaus nicht nötig ist), bewirkt sie, daß das Ich-Zentrum sich nicht nur aufmerkend und apperzipierend, sondern auch innerlich oder geistig hinhörend ihr zuwendet. In diesem geistigen Hinhören ist enthalten eine fragende Zielung oder Haltung. Solcher fragenden Zielungen gibt es, aber, dem Frageinhalt nach, sehr verschiedene. (Vgl. Th. Lipps, Leitf. d. Psychologie. 3. Aufl. S. 26 u. 189.) In diesem Zusammenhang kommt nur diejenige Fragehaltung in Betracht, die auf eine begründete Direktive für das einzuschlagende Verhalten des Ich selbst geht und deren Sinn man in der Frage formulieren kann »Was soll ich tun?«. Die inhaltlich bestimmte Fragehaltung ist freilich keine ausdrücklich explizierende Stellung der soeben formulierten Frage. Sondern das Ich lebt einfach in dieser praktischen Fragehaltung. Die wahrgenommene Kälte erregt also zunächst zentripetal das zu ihr zentrifugal zurückgehende, mit einer bestimmten praktischen Fragehaltung erfüllte geistige Hinhören. b) Das Vernehmen der Forderung; ihre Anerkennung und Billigung. In dieses Hinhören hinein, also zentripetal und zugleich als Antwort der Fragehaltung zentripetal entgegengehend, ertönt dann die Forderung der Kälte und wird vom Ich-Zentrum vernommen. In diesem Vernehmen der Forderung eines bestimmten Verhaltens liegt eine gewisse Anerkennung der Forderung, aber zunächst bloß eine erkennende Anerkennung, nämlich die Erfassung eines ideellen Hinweises auf das, was ich tun soll. Und die wahrgenommene Kälte ist zunächst der Grund dieser Erkenntnis, insofern diese Erkenntnis sich stützt auf das Wahrgenommene. Auch dieses Sichstützen ist ein auf das Wahrgenommene hin gerichtetes Moment in dem phänomenalen psychischen Tatbestand. Hier ist nun der Grund freilich nicht Grund einer Seins-Erkenntnis, auch nicht Grund einer WertErkenntnis, sondern Grund einer Sollens-Erkenntnis.

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Hiermit aber ist die wahrgenommene Kälte noch nicht zum Grund eines Willensentscheides geworden. Denn der Willensentscheid ist keine bloße Sollens-Erkenntnis. Auch wenn die Billigung des anerkannten Sollens hinzutritt – auszudrücken etwa in der Form »Ja, ich sollte das eigentlich tun« – ist noch kein Willensakt vollzogen, und die wahrgenommene Kälte ist noch nicht Willensgrund geworden. c) Der Vollzug des Willensaktes und seine Stützung auf den Grund. Zu der erkennenden und der billigenden Anerkennung der inhaltlich bestimmten Forderung muß eine ganz andere, eine eigentlich praktische Anerkennung hinzutreten, wenn die wahrgenommene Kälte wirklich Willensgrund werden soll. Diese praktische Anerkennung besteht zunächst in dem Vollzug des Willensaktes, durch den das Ich das Geforderte sich vorsetzt. Aber diese Vorsetzung könnte geschehen, ohne daß die wahrgenommene Kälte den Grund dafür abgäbe. Auch wenn eine Forderung erkannt und gebilligt ist, und auch wenn die Vorsetzung stattfindet und tatsächlich als eine gewisse Erfüllung der Forderung gelten kann, braucht doch die Vorsetzung von dem Ich nicht auf Grund der Forderung zu geschehen. Dies gilt allgemein: mögliche Gründe für ein bestimmtes Wollen, selbst wenn sie und ihre Forderung dem Ich tatsächlich bewußt sind, brauchen nicht die Gründe zu sein, aus denen das Ich dann dieses bestimmte Wollen vollzieht, sie können beim Vollzug des Willensaktes sogar ausdrücklich als Gründe ausgeschaltet werden. Erst dann wird die wahrgenommene Kälte wirklich der Grund für den Willensakt, wenn das Ich sich beim Vollzug dieses Willensaktes auf die fordernde Kälte stützt, wenn es den Willensakt auf die Forderung gründet und ihn daraus reduziert. Damit erst ist die Begründungsbeziehung komplett. Das Ich hat dann die Forderung nicht mehr außer sich stehen lassen und sie bloß anerkannt und gebilligt, sondern sie in sich hereingelassen, sie sich einverleibt, dann, sich darauf rückstützend den Willensakt in Übereinstimmung mit der Forderung vollzogen und sie damit vorläufig ideell erfüllt. Dieses Sich-stützen auf etwas beim Vollzug eines Willensaktes ist ein eigentümliches geistiges Tun. Durch dieses geistige Stützen wird erst die Verknüpfung zwischen Grund und Willensakt hergestellt, und der mögliche Grund wird so erst zum wirklichen Willensgrund.

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Ganz ähnlich wie in dem betrachteten ersten Beispiel verhält es sich auch in den drei anderen Beispielen. Die erkannte Tatsache, daß der andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, fordert von dem hörbereiten Ich eine besondere Belohnung des anderen. Das Ich vernimmt diese Forderung und billigt sie, es vollzieht den Willensakt, den anderen besonders zu belohnen, indem es sich dabei auf die fordernde Tatsache stützt, und macht mit diesem gestützten Willensakt den ersten Schritt zur praktischen Anerkennung der Forderung durch die Tat. Im dritten Beispiel werden die erinnerten Tatsachen zum Grund gesetzt, und im vierten Beispiel fungiert der Gedanke an die Möglichkeit, ein anderer könne sich durch eine bestimmte Tat gekränkt fühlen, als Grund für den negativen Willensakt, jenes gemeinte Tun zu unterlassen. In allen diesen Fällen gebraucht man nun auch das Wort »Motiv«, um zu sagen, daß etwas Grund eines Willensentscheides war. Man nennt die wahrgenommene Kälte das Motiv für den Beschluß, den Raum zu verlassen; die erkannte Tatsache, daß der andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, das Motiv für den Beschluß, ihn besonders zu belohnen; die erinnerte Tatsache, daß ich mich allemal bei meinem Aufenthalt in einer bestimmten Gegend sehr wohl befand, das Motiv für den Beschluß, die Gegend wieder aufzusuchen; und den Gedanken, ein anderer könne sich durch mein Verhalten gekränkt fühlen, das Motiv für den Beschluß, dieses Verhalten zu unterlassen. Und in der Tat dürfte es zweckmäßig sein, das Wort Motiv nur in diesem Sinne des fordernden Willensgrundes zu gebrauchen, und demgemäß unter Motivation nur das eigentümliche Verhältnis zu verstehen, welches zwischen einem fordernden Willensgrund und dem darauf gestützten Willensakt besteht. VIERTER ABSCHNITT DIE UNTERSCHEIDUNG DER MOTIVATION VON ANDEREN BEZIEHUNGEN 1. Die Stellung von praktischen Forderungen und die Erregung von Strebungen Man könnte meinen, wenn von der wahrgenommenen Kälte gesagt wird, sie stelle die praktische Forderung, den Raum zu verlassen, so heiße das gar nichts anderes als: sie errege das positive Streben, den Raum zu

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verlassen. Diese Meinung könnte man durch den Hinweis darauf stützen, daß in beiden Fällen von der gegenüberstehenden Kälte zentripetal eine Erregung zum Ich hingehe. Aber obgleich dieser Hinweis richtig ist, so ist doch die Stellung von praktischen Forderungen wesentlich verschieden von der Erregung der Strebungen. Diese Verschiedenheit zeigt sich in folgendem: a) Die wahrgenommene Kälte kann ein Widerstreben in dem Ich erregen, ohne daß es gleichzeitig zu einer praktischen Forderung an das Ich kommt. Dies ist z.B. der Fall, wenn das Individuum konzentriert in geistiger Arbeit begriffen ist und nebenbei die im Raum herrschende Kälte wahrnimmt. Dann kann dauernd ein Widerstreben gegen die Kälte erregt werden und dieses Widerstreben gleichsam in einem abgelegenen Winkel des Ich verharren, ohne daß das Ich eine von der Kälte herkommende praktische Forderung vernimmt. Vielleicht erregt sogar die Kälte jenes früher erwähnte fragende Hinhören; aber dieses Hinhören geht dann gleichsam an der Kälte vorbei in falsche Richtung und empfängt keinerlei fordernde Antwort. Wenn aber hier Strebungen erregt werden können, ohne daß zugleich Forderungen gestellt werden, so ist beides notwendig voneinander verschieden. b) Verfolgt man das eben angeführte Beispiel weiter, so kann es geschehen, daß plötzlich die wahrgenommene Kälte in die Richtung des fragenden Hinhörens tritt und nun antwortend ihre praktische Forderung stellt. Hier scheidet sich deutlich die schon vorher vorhandene Erregung des Widerstrebens von der jetzt neu hinzutretenden Stellung einer praktischen Forderung. c) Die gleiche Verschiedenheit ergibt sich auch aus der Tatsache, daß die wahrgenommene Kälte, ohne irgendein Widerstreben oder ein Hinstreben zu erregen, die praktische Forderung stellen kann, den Raum zu verlassen. Ist die Kälte nicht sehr intensiv und wird sie sogleich beim Eintritt in den Raum wahrgenommen, so kann angesichts der Kälte das völlig strebungslose Bewußtsein entstehen: »Ich sollte eigentlich diesen Raum verlassen«, d.h. die Kälte stellt die Forderung den Raum zu verlassen, und das Ich vernimmt diese Forderung, ohne irgendein Streben dafür oder dagegen zu verspüren. Dies ist ein Fall der »rein vernünftigen Einsicht«, die sich ohne Strebungen vollzieht.

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d) Die wahrgenommene Kälte kann immer dieselbe praktische Forderung stellen, während gleichzeitig das erregte Widerstreben in seiner Intensität zunimmt oder abnimmt. Und sie stellt eine positive Forderung, während sie ein negatives Streben erregt. In anderen Fällen stellt etwas eine negative Forderung, während es zugleich ein positives Streben erregt. Dies alles deutet auf die Verschiedenheit hin, die zwischen der Stellung von praktischen Forderungen und der Erregung von Strebungen besteht. Die Verschiedenheit selbst läßt sich in folgender Weise charakterisieren. e) Das Erregen von Strebungen ist ein zentripetal verlaufendes, phänomenales Wirken, das Stellen einer praktischen Forderung dagegen geht in ein vom Ich entgegenkommendes Vernehmen hinein und ist ein ideelles Hinweisen. Die Strebungen sind reale Tatsachen, die Forderungen sind ideelle Hinweise. f) Die Erregung widerfahrt dem Ich, sie berührt oder ergreift das Ich. Und die erregten Strebungen erleidet das Ich wie einen Naturzwang. Die gestellten Forderungen dagegen vernimmt das Ich. Es wird nicht von ihnen bezwungen, sondern steht ihnen völlig frei gegenüber. g) Es sind verschiedene Partien der Seele, die in den beiden Fällen, der Erregung von Strebungen und der Stellung von Forderungen, in Anspruch genommen werden. Jene Erregung trifft gleichsam den »Seelenleib«, während jene Forderungsstellung sich an den »Seelengeist« und zwar gerade an jene Seite des Seelengeistes wendet, welche die praktischen Forderungen geistig zu hören vermag. Dieses geistige Gehör für praktische Forderungen kann in bestimmten Fällen taub, oder nur betäubt, es kann erschöpft, ermattet, oder es kann schließlich unwillkürlich oder willkürlich nur ausgeschaltet sein. Dann vernimmt das Ich keinerlei praktische Forderungen oder es hört sie nur undeutlich und schwach, während es gleichzeitig von heftigen und deutlich gespürten Strebungen und Widerstrebungen ergriffen sein kann. Schon aus dieser hier nachgewiesenen Verschiedenheit zwischen der Erregung von Strebungen und der Stellung von Forderungen folgt, daß etwas in keiner Weise Motiv sein kann, solange es bloß Strebungen erregt. Aber auch wenn nun etwas eine vom Ich vernommene praktische Forderung stellt, so ist es damit doch noch nicht wirkliches, sondern erst mögliches Motiv.

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ALEXANDER PFÄNDER 2. Die Motivation und die phänomenale Reizung. Motive und Reize

Die Erregung von Strebungen kann, wie schon früher gesagt, phänomenal einen verschiedenen Charakter haben, nämlich den einer anziehenden oder abstoßenden Reizung, oder den einer Auslösung hinoder wegzielender Triebe im Ich. Im ersten Fall erscheint der Gegenstand, der die Strebung erregt, als der Ausgangspunkt eines am Ich angreifenden Ziehens oder Abstoßens. Auch dieses phänomenale Ziehen und Abstoßen ist verschieden von jenem Stellen praktischer Forderungen. Es ist kein Motivieren, selbst wenn es den Erfolg hat, daß die Strebungen ihre Erfüllung finden. Motive sind daher von Reizen oder Anreizen in diesem phänomenalen Sinne wohl zu unterscheiden. Durch Motive bestimmt werden, ist etwas ganz anderes als durch Anreize angezogen oder abgestoßen zu werden. 3. Motive und Triebe Im zweiten Fall, wo die erregten Strebungen den Charakter von Trieben im Ich haben, erscheint als Ausgangspunkt des Strebens oder Widerstrebens eine exzentrische Stelle im Ich. Diese Strebungen mit Triebcharakter können sich nun unwillkürlich bis zu ihrer Erfüllung auswirken. Während z.B. ein Mensch in einem fesselnden Gespräch begriffen gerade seinem Partner antwortet, erweckt der Anblick einer kleinen Süßigkeit auf seinem Teller in ihm den Trieb, sie zu essen, er ergreift das Stückchen und verzehrt es. Hier ist der Trieb die phänomenale Ursache der Handlung, aber die Handlung ist keine Willenshandlung und der Trieb nicht als das Motiv der Handlung zu bezeichnen. Triebe als solche, sofern sie nicht praktische Forderungen stellen und nicht zu bewußten Stützen für einen Willensakt gemacht werden, mögen allerlei, phänomenal und vielleicht auch real, bewirken, aber sie motivieren dann nicht und sind daher von Motiven streng zu unterscheiden. Durch Motive bestimmt werden, ist nicht dasselbe wie von Trieben getrieben werden. Beides gehört völlig verschiedenen Sphären an.

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4. Motive und Quellen des Strebens Es gibt ein erlebtes Hervorgehen eines Strebens aus einem anderen seelischen Erlebnis, z.B. aus Lust oder Unlust, oder aus einem anderen Streben. So geht erlebbar aus dem Streben, Wasser zu trinken, das Streben hervor, das Glas, in dem das Wasser enthalten ist, zu ergreifen. Man kann, wie es schon oben geschehen ist, das, woraus das Streben im Erleben hervorgeht, die phänomenale Quelle des Strebens nennen. Dann ist dieses Hervorgehen eines Strebens aus seiner phänomenalen Quelle offenbar verschieden von jener oben charakterisierten Motivation eines Willensaktes durch bestimmte Motive. Und die Motive sind nicht mit bloßen Quellen eines Strebens oder Widerstrebens zu verwechseln. 5. Motive und Quellen des Wollens Die Quelle, aus der phänomenal der Vollzug des Willensaktes hervorgeht, ist immer das Ich-Zentrum selbst. Das liegt im Wesen des Wollens begründet. Wo dieses Hervorgehen aus dem Ich-Zentrum fehlt, da kann überhaupt kein Vollzug eines Willensaktes vorliegen. Die Motive können also nicht die phänomenalen Quellen des Wollens sein. Höchstens könnte man die Motive als die ideellen Quellen des willentlichen Vorsatzes bezeichnen. Aber die Willensprägung wird dem Vorsatz nicht von dem Motiv, sondern einzig und allein von dem Ich-Zentrum gegeben. 6. Motive und Ursachen des Wollens Mit den Ursachen des Wollens sind die Motive wohl am häufigsten verwechselt worden. Die Frage nach den Ursachen des Wollens kann zunächst phänomenologisch gemeint sein, d.h. sie kann erfragen, was im Vollzug eines Willensaktes als Ursache dieses Vollzuges erlebt wird. Auf diese Frage ist aber im Einzelfall evident die allgemeine Antwort zu gewinnen, daß niemals etwas außerhalb des Ich-Zentrums Liegendes, sondern immer nur das Ich-Zentrum selbst die phänomenale Ursache des Vollzugs eines Willensaktes ist. Das ganze Wesen dieses Wollens wäre sofort zerstört, wenn irgendeine phänomenale Ursache außerhalb des IchZentrums das vermeintliche Wollen bewirkte. Speziell ergibt die

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Betrachtung der phänomenalen Stellung, die das Motiv zu dem Vollzug des darauf gestützten Willensaktes einnimmt, die evidente Erkenntnis, daß das Motiv in keinem Falle diesen Vollzug verursacht. Ohne jene vom IchZentrum selbst ausgehende Stützung des Willensaktes auf das Motiv ist das mögliche Motiv im gegebenen Falle gar nicht wirkliches Motiv für diesen Willensakt. Mit dieser Stützung freilich wird es »bestimmend« für das Wollen. Aber die Bestimmung durch Motive ist eben gar keine phänomenale Verursachung durch Motive; Willensbegründung ist keine Verursachung des Wollens, und Motive sind keine phänomenalen Ursachen des Wollens. Es widerspricht daher den Tatsachen, wenn Schopenhauer behauptet, die Motivation sei die Kausalität von innen gesehen. (»Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«. Kap. VII § 43.) Denn was bei der Bestimmung des Wollens durch Motive »von innen gesehen« wird, ist völlig verschieden von einer Verursachung. Eine phänomenale Verursachung des Wollens in diesem Sinne gibt es überhaupt nicht. Das Wollen ist seinem Wesen nach phänomenal immer frei, d.h. nicht durch etwas vom Ich-Zentrum Verschiedenes verursacht. Jene Frage nach den Ursachen des Wollens kann aber einen anderen Sinn haben, sie kann nämlich die realen Ursachen des Wollens erfragen. Sie nimmt dann den Vollzug des Willensaktes als ein reales Ereignis in der Zeit und will die realen Faktoren wissen, durch deren Dasein gerade in dem bestimmten Zeitpunkt dieses reale Ereignis herbeigeführt worden ist. Auf diese Frage aber kann man nicht durch phänomenologische Untersuchung eine Antwort gewinnen. Sondern man muß auf Grund von anderweitigen Erfahrungen und von Induktionsprozessen im gegenwärtigen Falle die notwendigen und hinreichenden realen Bedingungen für den Eintritt des Wollens aufsuchen. Das Verhältnis von realer Ursache und Wirkung ist hier kein unmittelbar erlebtes Verhältnis. Was zur Ursache des Wollens gehört, braucht nicht notwendig dem Wollenden bewußt gewesen zu sein; es braucht auch nicht an das wollende Ich eine von diesem vernommene praktische Forderung zu stellen; sondern es muß nur überhaupt in dem bestimmten Momente realiter vorhanden gewesen sein. Schließlich gehört zum Wirklichsein eines Kausalverhältnisses auch nicht, daß dabei eine bewußte Stützung des Wollens auf das, was zur Ursache gehört, stattfindet.

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Alles dieses aber, was zu einem Kausalverhältnis nicht notwendig gehört, bildet die notwendigen und wesentlichen Bedingungen für eine Motivationsbeziehung. Also ist es sicher, daß die Motivationsbeziehung von dem Kausalverhältnis verschieden ist. Aber es könnte nun noch sein, daß die Motivationsbeziehung ein besonderer Spezialfall des Kausalverhältnisses wäre. Die Annahme, daß es so sei, wird ja auch vielfach gemacht. Wo man die reale Ursache eines Wollens aufsucht, pflegt man unbedenklich unter anderen Teilursachen, auch die Motive als Teilursachen des Wollens aufzuführen. Zuweilen definiert man geradezu die Motive als die bewußten Teilursachen des Wollens. So sagt man, die Motive seien zusammen mit dem Charakter die wirklichen Ursachen des Wollens. Daß aber in diesen Annahmen ein fundamentaler Irrtum vorliegt, daß die Motivationsbeziehung nicht eine Kausalbeziehung ist, und daß daher die Motive als Motive niemals unter die Ursachen des Wollens gemengt werden dürfen, ergibt sich aus folgendem: Was zur realen Ursache des Wollens gehören soll, muß notwendig etwas Reales sein. Dagegen braucht ein Motiv gar nichts Reales zu sein, vielmehr kann auch bloß Gedachtes, Ideelles Motiv eines Wollens sein. So kann z.B. die Wahrheit einer Behauptung das Motiv dafür sein, daß ich beschließe, die Behauptung bei bestimmter Gelegenheit auszusprechen. Außerdem muß eine Teilursache nicht nur überhaupt etwas Reales sein, sondern sie muß zudem in dem Zeitpunkt real sein, in welchem die Wirkung eintritt. Ist aber z.B. die Tatsache, daß jemand eine Arbeit besonders sorgfältig gemacht hat, oder die Tatsache, daß ich mich früher in einer bestimmten Gegend immer besonders wohl befand, Motiv für mein Wollen, so können diese Motive als vergangene Tatsachen jetzt nicht Teilursachen meines Wollens sein. Ebenso können zukünftige Tatsachen in der Voraussicht wirkliche Motive sein, aber solange sie noch der Zukunft angehören, können sie in keiner Weise Teilursachen sein. Freilich kann man das jetzt reale Denken an die vergangenen oder zukünftigen Tatsachen als Teilursache in Anspruch nehmen; aber gerade dieses reale »Denken« ist eben, nicht das Motiv meines Wollens. Schließlich ist durch unmittelbare Beobachtung zu erkennen, daß dasjenige Verhältnis des Motivs zu dem Willensakt, durch das jenes Motiv erst wirkliches Motiv ist, völlig verschieden ist von dem Verhältnis einer

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Teilursache zu der zugehörigen Wirkung. Das Motiv wirkt überhaupt nicht mit bei dem Vollzug eines Willensaktes, sondern bietet nur die ideelle Stütze für das allein den Willensakt vollziehende Ich-Zentrum. So dürfen denn die Ursachen des Wollens grundsätzlich nicht mit den Motiven des Wollens auf gleiche Stufe gestellt werden, wenn man die völlige Verwirrung vermeiden will, die durch Nichtbeachtung dieser Wesensverschiedenheit notwendig entstehen muß und die z.B. in den Untersuchungen über die Willensfreiheit wirklich herrscht. 7. Motive und leitende Grundsätze, Regeln, Vorbilder, Vorschriften, Gesetze, Gebote Es sei hier nur einfach darauf hingewiesen, daß es außer der Motivationsbeziehung noch andere eigenartige Beziehungen gibt zwischen dem Vollzug von Willensakten und dem, wodurch das Ich-Zentrum sich dabei bestimmen läßt. So kann sich das Ich bei der Bildung von Vorsätzen, ehe es ihnen die Willensprägung gibt, leiten lassen von allgemeinen Grundsätzen oder Regeln. In anderen Fällen führt es im Vollzug des Willensaktes eine Angleichung an bestimmte Vorbilder aus. Bestimmte Vorschriften befolgt das Ich willentlich, bestimmten Gesetzen oder Geboten gehorcht oder unterwirft sich das Ich in seinem Wollen. Dieses im Wollen Sich-leitenlassen, Sich-angleichen, Befolgen, Gehorchen, Sichunterwerfen ist jedesmal etwas Eigenartiges und etwas, das im psychischen Leben wirklich vorkommt. Die Wörter zwar hat man in der Psychologie vielfach gebraucht, aber ohne sich bewußt zu sein, daß sie keine leeren Redefloskeln sind, sondern wirklich etwas bedeuten. Das, was mit jenen Wörtern gemeint ist, muß man aber ausdrücklich in den Gesichtskreis der Psychologie ziehen und nicht immer nur stillschweigend im Dunkel mitführen. Eine Fülle von Aufgaben eröffnet sich hier der phänomenologischen Psychologie. Die Kinderfibelvorstellung, welche die Primitiven von der menschlichen Seele haben, muß man freilich schon weit hinter sich gelassen haben, um diese Aufgaben nur überhaupt sehen zu können. Jene oben genannten, von der Motivationsbeziehung verschiedenen Beziehungen sind auch unter sich verschieden. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß genau das Gleiche, das in der einen Beziehung, etwa

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einer Gehorsamsbeziehung, zum Wollen steht, auch in einer anderen, etwa der Motivationsbeziehung, zu ihm stehen kann.

FÜNFTER ABSCHNITT DIE MÖGLICHKEIT UND DIE NOTWENDIGKEIT DER MOTIVATION 1. Die Möglichkeit der Motivation Da die oben charakterisierte Motivationsbeziehung in sich schließt, daß ein Willensentscheid vollzogen und auch bewußt gestützt wird auf eine geistig gehörte Forderung, so ist die Möglichkeit einer Motivation in allen denjenigen Fällen ausgeschlossen, in denen auch nur eines dieser Momente fehlt. Kommt z.B. bei Tieren wirklich dasjenige nicht vor, was wir den Vollzug eines Willensaktes genannt haben, so darf man in der Tierpsychologie niemals davon sprechen, daß irgendein Tier aus Motiven etwas getan habe. Vielleicht darf man das schon deshalb nicht, weil möglicherweise den Tieren jenes »geistige Gehör« für Forderungen fehlt. Auf jeden Fall ist aber auch beim Menschen dann keinerlei Motivation vorhanden, wenn kein Willensentscheid von ihm vollzogen wird, oder wenn zwar ein Willensentscheid gefällt wird, aber dieser auf das, was wohl Motiv sein könnte und dessen praktische Forderung auch geistig gehört ist, nicht wirklich gestützt wird, oder schließlich, wenn die praktische Forderung dessen, was Motiv sein könnte, gar nicht geistig gehört worden ist. Diesen Folgerungen scheint es zu widersprechen, daß in manchen Fällen das wollende Individuum nicht anzugeben weiß, durch welche Motive es sich in seinem Wollen hat bestimmen lassen, und daß man von »unbewußten« Motiven des Wollens spricht. Aber man kann vieles wirklich tun, ohne nachher angeben zu können, was und wie man es getan hat, ja ohne nachher überhaupt noch zu wissen, daß man es getan hat. Das Wissen und Bemerken dessen, was man tut, braucht das Tun selbst durchaus nicht zu begleiten. Außerdem aber gibt es ein unwillkürliches vor sich selbst Verdrängen oder vor sich Verborgenhalten der wirklichen Motive und ein unwillkürliches Vorschieben oder Unterschieben von Scheinmotiven, auf die man vor sich selbst den Willensakt stützt. Nicht nur

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die vergessenen und die unbemerkten, sondern auch jene innerlich verborgenen Motive nennt man »unbewußte« Motive, obgleich sie natürlich nicht in jedem Sinne des Wortes »unbewußt« sind. Das, was im eigentlichen Sinne des Wortes »unbewußt« ist, kann überhaupt niemals Motiv sein. 2. Die Notwendigkeit der Motivation Die Verwechslung und Vermischung von Motiven und Ursachen des Wollens hat dazu geführt, zu behaupten, jedes Wollen habe notwendig ein Motiv, aus dem es notwendig hervorgehe. Über den ersten Teil dieser Behauptung, daß nämlich jedes Wollen notwendig einen Willensgrund habe, vermag ich noch nicht eine entschiedene Einsicht zu gewinnen. Auf jeden Fall darf die Behauptung nicht besagen wollen, jedes Wollen habe notwendig einen solchen Willensgrund, der außerhalb des vorgesetzten Tatbestandes liege. Denn häufig läßt sich, wenn überhaupt ein Motiv, so doch nur eines innerhalb des vorschwebenden Projektes selbst auffinden. Man kann etwas um seiner selbst willen wollen, ohne dabei durch irgendwelche außerhalb liegenden Motive bestimmt zu sein. Den zweiten Teil der obigen Behauptung, daß nämlich die Motive notwendig das Wollen herbeiführen, muß man jedoch in jeder Hinsicht als ungültig bestreiten, wenn man wirklich Motive und nicht Ursachen des Wollens meint. Zunächst gibt es, wie oben schon hervorgehoben, Fälle, in denen mögliche Motive bewußt sind, in denen auch ihre praktischen Forderungen geistig gehört werden, in denen aber entweder überhaupt kein Willensentscheid stattfindet, oder der Willensentscheid im Widerstreit zu dem möglichen Motiv geschieht, oder schließlich der Willensentscheid zwar in Übereinstimmung mit der praktischen Forderung dieses Motivs, aber nicht gestützt auf dieses, sondern auf ganz andere Motive gegründet vollzogen wird. Wenn nun endlich der vollzogene Willensakt wirklich auf das betreffende Motiv gestützt wird, so sind noch zwei verschiedene Fälle möglich. Das Motiv kann entweder ein völlig zureichendes, oder aber ein mehr oder weniger unzureichendes Motiv sein. Die Existenz unzureichend motivierter Willensentscheide zeigt allein schon, daß die Motive nicht die Ursachen des Wollens sind. Denn wenn die Motivierung eine

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Verursachung wäre, so könnten eben unzureichend motivierte Willensakte gar nicht wirklich vollzogen werden. Ist also für einen vollzogenen Willensakt nur ein unzureichendes Motiv vorhanden gewesen, so ist es ohne weiteres sicher, daß dieses Motiv nicht das Wollen ursächlich herbeigeführt hat. Aber auch wenn ein zureichendes Motiv für das Wollen vorlag, und das Wollen wirklich stattgefunden hat, dann hat doch dieses Motiv nicht das Wollen notwendig herbeigeführt, weil Motive überhaupt nicht verursachen, sondern begründen. Gewiß hat die Begründung durch ein zureichendes Motiv einen anderen Charakter als die durch ein unzureichendes Motiv. Die Forderung, die vom zureichenden Motiv in das geistige Hinhören hinein ertönt und vom Ich-Zentrum vernommen wird, ist eine eindeutige und entschiedene, und sie vermag den ihr gemäßen und auf sie gestützten Willensakt ganz allein zu tragen, d.h. eben, zureichend zu begründen. Das unzureichende Motiv dagegen stellt keine eindeutige oder entschiedene Forderung und ist aus sich selbst nicht tragkräftig genug für den ihm gemäßen Willensakt, wenn er darauf gestützt wird. Außerdem, jene vernommene entschiedene und eindeutige Forderung erlebt das Ich-Zentrum als eine verpflichtende geistige Bindung. Aber diese geistige Bindung ist kein wirkender Zwang. Wenn das Ich der geistigen Bindung sich unterwirft, indem es den geforderten Willensakt auf Grund der Forderung vollzieht, so hat dieser Prozeß phänomenal ein ganz anderes Aussehen, als wenn das Ich einem wirkenden Zwange unterliegt. Die Notwendigkeit, die auf einer Forderung beruht, ist etwas anderes, als die Notwendigkeit, die auf einem kausalen Wirken beruht. Bei einem zureichenden Motiv ist der geforderte Willensakt notwendig im Sinne des Sein-Sollens, aber nicht notwendig in dem Sinne, daß sein Vollzug durch das Motiv verursacht würde. Das zureichende Motiv macht also allerdings einen bestimmten Willensakt zu einen »notwendigen«, aber nicht den Vollzug des Willensaktes zu einem notwendig eintretenden. Auch das zureichende Motiv motiviert ja nur dann den Vollzug des Willensaktes, wenn das Ich-Zentrum es zur Stütze seines Wollens macht. Nur diejenigen möglichen Motive sind wirkliche Motive, durch die das Ich-Zentrum sich bestimmen läßt. In diesem Sinne steht das Ich auch völlig zureichenden Motiven frei wollend gegenüber. Ja es kann sogar zureichende Motive, deren Forderungen es vernimmt, von der Motivation ausschalten und die von ihnen geforderten Willensakte auf ganz andere Motive gründen und

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vollziehen. Läßt sich dagegen das Ich von dem zureichenden Motiv zum Vollzug des geforderten Willensaktes bestimmen, so ist dieses Sichbestimmen-lassen etwas durchaus Eigenartiges und von allem ursächlichen und notwendigen Wirken wesentlich verschieden. 3. Das Wollen folgt notwendig aus den jeweiligen Motiven und dem Charakter Der Satz, daß zwar nicht die Motive allein, wohl aber die Motive zusammen mit dem Charakter des Wollenden notwendig das Wollen zur Folge haben, erfreut sich einer weitverbreiteten Anerkennung, aber zugleich auch einer ebenso weitverbreiteten Mißdeutung. Da die Motive als Motive nicht wirken, so darf jener Satz gar nicht kausal verstanden werden. Er verdankt auch seine Überzeugungskraft durchaus nicht einer empirischen Kausalinduktion, sondern er ist im Grunde ein analytischer Satz, und die Notwendigkeit, von der er spricht, ist die analytische Notwendigkeit, mit der ein Metall von bestimmtem Schmelzpunkt auch wirklich bei diesem Schmelzpunkt schmilzt. Jener Charakter nämlich, von dem in jenem Satz die Rede ist, ist nicht etwa als eine bloße Beschaffenheit, mit der das wollende Ich einfach ausgestattet wäre, zu denken. Sondern er ist, oder er enthält wenigstens als wesentliches Moment in sich, die Art und Weise, wie das Ich sich willentlich entscheidet, wenn bestimmte Motive vorhanden sind. Einen Charakter in diesem Sinne können nur willensfähige Wesen haben. Daß nun aus diesem Charakter, also aus der bestimmten Art und Weise, wie das Ich bei bestimmten Motiven sich willentlich entscheidet, dann wenn diese bestimmten Motive nun wirklich in ihm vorhanden sind, auch notwendig das bestimmte Wollen folgt, ist natürlich eine selbstverständliche Sache, die jedoch über die reale Verursachung des Willensentscheides nicht das Geringste ausmacht. Vielmehr ist in dem Begriff des Charakters vorausgesetzt, daß das frei wollende Ich-Zentrum die letzte Ursache der einzelnen Willensentscheidungen sei. Denn der Charakter ist keine Sache von bestimmter Beschaffenheit, an der auf Grund ihrer Beschaffenheit bei bestimmten Einwirkungen bestimmte Wirkungen geschähen, vielmehr steht im Mittelpunkt des Charakters das aus sich heraus in bestimmter

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Weise wollende Ich-Zentrum, das der freie Täter und nicht der Erdulder des Wollens ist.

ANHANG Da es Motive und Motivation in dem oben bezeichneten Sinne gibt, und da die Begründung praktischer Vorsätze etwas anderes ist als die Begründung von Urteilen, so eröffnet sich die Aussicht auf eine der Logik analoge Wissenschaft von den praktischen Vorsätzen oder Voluntarien. Sie hätte das Wesen und die Struktur der Voluntarien überhaupt, dann die möglichen Arten von Voluntarien, außerdem die Arten der Motivation von Voluntarien und die Folgerungszusammenhänge zwischen verschiedenen Voluntarien zu bestimmen. Eine besondere Art von Voluntarien bilden die Imperative. Eine Imperativenlehre, von der ich eine noch unveröffentlichte Skizze entworfen habe, könnte meiner Meinung nach eine letzte Grundwissenschaft für die Ethik, die Rechtsphilosophie und die Pädagogik bieten. Hier kann ich jedoch diese Idee nicht weiter verdeutlichen, sondern muß mich mit dem bloßen Hinweis darauf begnügen.

ADOLF REINACH ZUR THEORIE DES NEGATIVEN URTEILS Die großen Schwierigkeiten, auf welche die Logik von Anfang an bei der Behandlung des negativen Urteils gestoßen ist, sind noch keineswegs befriedigend gelöst. Weitgehende Differenzen bestehen noch nach den verschiedensten Richtungen hin. Nur zum Teil liegen diese Schwierigkeiten an dem negativen Urteil als solchem, zum anderen Teil liegen sie daran, daß auch die Bestimmung des positiven Urteils noch nicht eindeutig gelungen ist. Solange der Urteilsbegriff überhaupt mit Äquivokationen und Unklarheiten behaftet ist, wird auch die Behandlung des negativen Urteils darunter zu leiden haben. Es soll im folgenden der Versuch gemacht werden, die Probleme des negativen Urteils – nicht etwa allseitig zu lösen, aber doch nach einigen Richtungen hin einer Lösung näher zu bringen. In der ganzen Problemlage ist es begründet, daß wir zuerst mit einigen Erörterungen über das Urteil überhaupt beginnen.1 I. Es ist von der äußersten Wichtigkeit, eine Äquivokation aufzudecken, welche im Terminus Urteil noch steckt, und die sich, wie mir scheint, in logischen Zusammenhängen sehr häufig in verwirrender Weise geltend macht. Unter »Urteil« wird einmal das verstanden, was man näher als »Überzeugung«, »Gewißheit«, »belief«, auch wohl als »Geltungsbewußtsein« zu charakterisieren pflegt. Andererseits aber begreift man darunter auch das »Setzen« oder »Behaupten«. Überzeugung und Behauptung nun stehen sicherlich in nahen Beziehungen zueinander, sie sind aber keineswegs identisch. Es ist kein Zweifel, daß man sprachgebräuchlich sehr wohl beide als »Urteil« bezeichnen kann. Umso genauer aber muß beachtet werden, daß sie – untereinander durchaus verschieden – zwei ganz verschiedene logische Sphären umgrenzen und somit das 1

Da ich mich hier auf die Darlegung des für meine Zwecke Allernotwendigsten beschränken muß, habe ich auf literarische Auseinandersetzungen fast ganz verzichtet. Im übrigen verweise ich auf die ausführlichere Darstellung in meiner Schrift »Urteil und Sachverhalt«, die ich in Kürze zu veröffentlichen hoffe.

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Gesamtgebiet der Urteilstheorie in zwei benachbarte, aber durchaus geschiedene Teilgebiete zerlegen. Das muß nun näher aufgewiesen werden; es gilt die beiden berührten Urteilsbegriffe zu trennen und sie zugleich von verwandten Gebilden abzuscheiden, mit denen sie verwechselt werden können und verwechselt worden sind. Wir knüpfen an einen Terminus an, welchem wir seit Franz Brentanos einflußreichen Untersuchungen in der Urteilstheorie häufig begegnen. Brentano hat das positive Urteil als ein »Anerkennen« bezeichnet und ihm das negative Urteil als ein »Verwerfen« gegenübergestellt. Zweifellos sind diese Termini nicht ohne weiteres und verständlich; die Forscher, welche sich ihrer bedient haben, haben sich denn auch keineswegs der in ihnen liegenden gefährlichen Vieldeutigkeit immer entzogen. Von Anerkennung und Verwerfung wird zunächst im Sinne einer w e r t e n d e n Zu-oder Abwendung gesprochen; so wird ein sittliches Tun anerkannt, ein unsittliches verworfen. Mit Recht haben Brentano2 und Marty3 betont, daß dieser Begriff »einer liebenden Wertschätzung« oder einer »Genehmhaltung im Gemüte« in der Urteilstheorie keine Stelle hat. Was sollte es auch heißen, daß im Urteil »2×2 = 4« die Gleichheit von 2×2 und 4 »geschätzt« oder im Urteil »2×2  5« die Gleichheit von 2×2 und 5 in diesem Sinne »gemißbilligt« werde? Die Gefahr einer solchen Vermengung ist nicht groß; viel näher liegt eine andere. Es gibt eine Anerkennung, welche von einer eigentlichen Schätzung nichts in sich trägt und genauer als eine Zustimmung charakterisiert werden kann. Ich höre etwa das Urteil »A ist B« aussprechen, verstehe es, überlege es mir und sage dann zustimmend »ja«. In diesem »ja« liegt ein Zustimmen, ein Anerkennen; aber auch hier ist das Anerkennen kein Urteil. Welches Urteil sollte es auch sein? Das Urteil »A ist b«? Gewiß nicht. Denn dieses Urteil bezieht sich ja evidentermaßen auf das b-sein des A, auf diesen Sachverhalt, die Anerkennung aber, die wir jetzt im Auge haben, bezieht sich auf das U r t e i l »A ist b«. Daß der Sachverhalt aber nicht dasselbe ist wie das Urteil, welches ihn setzt, braucht nicht besonders betont zu werden. Ich kann auf das gehörte Urteil auch erwidern: »Ja; A ist 2 3

Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, S. 56. Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. I, S. 233.

Zur Theorie des negativen Urteils

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in der Tat b.« Hier haben wir die Zustimmungsanerkennung und das Urteil in evidenter Verschiedenheit nebeneinander. Erst stimme ich in dem »Ja« dem gehörten Urteil zu, und dann urteile ich auch meinerseits »A ist b«. Dieses Urteil kann man nun ebenfalls als eine Anerkennung, und zwar als Anerkennung des Sachverhaltes »b-sein des A« bezeichnen. Und gerade hierin liegt die Gefahr der Verwechslung, von der wir sprachen. Zustimmungsanerkennung und urteilende Anerkennung sind, sowohl als Akte wie ihrer gegenständlichen Beziehung nach, grundverschieden. Wollen wir uns die hier liegende Äquivokation zunutze machen, so können wir sagen: die Zustimmungsanerkennung ist Anerkennung einer urteilenden Anerkennung.4 Manche Verwirrung in der Urteilstheorie erklärt sich daraus, daß man dem echten Urteil die zustimmende Anerkennung untergeschoben hat. Der Terminus Anerkennung verleitet dazu in hohem Maße, und ebenso oder in noch höherem Maße der Terminus »Billigung«, dessen sich Windelband zur Bezeichnung des Urteils bedient.5 Natürlich lassen sich für die Ausdrücke »verwerfen« oder »mißbilligen« ganz entsprechende Erwägungen durchführen. Nachdem wir so Anerkennung und Verwerfung im Sinne einer positiven bzw. negativen Wertschätzung und im Sinne der Zustimmung bzw. Ablehnung eines Urteils ausgeschaltet haben, gelangen wir zu der Frage, ob unsere Termini wenigstens innerhalb der Urteilssphäre selbst einen eindeutigen Sinn besitzen. Wir haben schon angedeutet, daß dies nicht der Fall ist. Vergegenwärtigen wir uns einen konkreten Fall: Es möge zwischen mir und einem anderen in Frage stehen, welche Farbe irgendein Gegenstand trägt. Ich trete vor ihn hin und sehe, er ist rot. Es ist mir hier gegeben das Rostein des Gegenstandes, und indem es mir zur Gegebenheit kommt, erwächst mir die diesbezügliche Überzeugung: es erwächst mir die Überzeugung davon oder der »Glaube« daran, daß der Gegenstand rot ist. Man kann dabei sehr wohl von einem Urteil reden. Wir haben in der Tat hier den Punkt, an dem sich der »belief«-Begriff der englischen Philosophie orientiert. 4

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Die Zustimmung bezieht sich freilich nicht nur auf das Urteil im Sinne des Urteilsaktes, sondern auch im Sinne des Urteilsgehaltes. Doch ist es nicht notwendig, diese etwas schwierige Unterscheidung hier durchzuführen. Vgl. bes. »Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil«, Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, S. 167 ff.

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Verfolgen wir den Fall noch eine Strecke weiter: Ich wende mich von dem Gegenstande ab, trete zu der anderen Person hin und sage: »Der Gegenstand ist rot.« Was liegt hier vor? Die vorher gewonnene Überzeugung kann fortdauern, ich kann sie festhalten, auch wenn der Gegenstand nicht mehr vor mir steht. Mit dieser Überzeugung wende ich mich zu dem anderen und spreche die genannten Worte aus. Aber es ist keineswegs so, als ob hier nun nichts weiter vorläge als die Überzeugung vom Sachverhalte und das Aussprechen bestimmter Worte. Indem ich die Worte ausspreche, meine ich mit ihnen etwas, meine ich das Gegenständliche, welches sie bezeichnen, und zwar meine ich es in setzender, in behauptender Weise. Dieses Setzen oder Behaupten stellt einen eigenen sehr bemerkenswerten Akt dar. Auch wenn ich sage: »Ist der Gegenstand rot?« ziele ich meinend ab auf Gegenständliches, und zwar auf dasselbe wie bei dem Satze: »Der Gegenstand ist rot«. Aber jetzt haben wir nicht, wie vorhin, ein behauptendes, sondern ein fragendes Abzielen. Es hebt sich bei der aufmerksamen Vergegenwärtigung der beiden Fälle das Spezifische des Behauptens mit aller Klarheit heraus. Oder man versetze sich in den Fall, in dem ein anderer die Behauptung »A ist b« ausspricht und ich diesen Satz verstehend wiederhole, ohne jedoch die Behauptung zu teilen. Genau der identische Sachverhalt ist hier beide Male gemeint, aber nur im ersteren Falle ist er b e h a u p t e n d gesetzt.6 Wie das verstehende Nachsprechen der Behauptung positiv zu charakterisieren ist, sei dahingestellt; von einem Behaupten kann jedenfalls keine Rede sein. So sehen wir, daß es eigentümliche Akte des Setzens oder Behauptens gibt; sie liegen in jedem positiven Urteile, dem wir Ausdruck verleihen, vor. Wir werden dieses Behaupten aufsuchen im a u s g e s p r o c h e n e n Urteil; aber wir müssen uns davor hüten, es auf rein Sprachliches reduzieren zu wollen. Man kann zugeben, daß ein Behaupten ohne sprachliche Einkleidung sich nirgends aufweisen läßt. Aber das bedeutet nicht, daß beides identisch ist. Sowohl beim eigentlichen, lauten als auch beim inneren, stillen Sprechen gibt es ein Behaupten. Das Sprechen ist in beiden Fällen ganz verschieden charakterisiert – freilich werden wir uns davor 6

Daß es nich angeht, die beiden Fälle als ein »bloßes Aussprechen« von Worten zu charakterisieren, bei dem nur das eine mal eine Ü b e r z e u g u n g zugrunde liegt, während sie das andere Mal fehlt, ergibt sich aus den folgenden Ausführungen.

Zur Theorie des negativen Urteils

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hüten, das innere Sprechen als bloße Sprach V o r s t e l l u n g bezeichnen zu wollen, da ja die Vorstellung eines lauten Sprechens und ein inneres Sprechen offenbar durchaus verschieden sind. Während so das Sprechen in eigenartiger Weise sich abwandelt, bleibt doch das Behaupten, welchem es Ausdruck gibt, sowohl bei der äußeren als der inneren Rede durchaus dasselbe. Wie auch jene Abwandlung sich näher charakterisieren mag: das spezifische Moment des Behauptens ist ihr gewiß nicht unterworfen, und dies zeigt zur Genüge, wie fehlerhaft es wäre, das Behaupten mit dem Sprechen zu identifizieren. Auch das Behaupten nun, welches sich uns allmählich herauszuheben beginnt, kann sprachgebräuchlich als ein Urteilen bezeichnet werden – so gut oder vielleicht noch besser als die Überzeugung. So sind wir also hier auf z w e i Urteilsbegriffe gestoßen, welche sich beide hinter dem vieldeutigen Terminus Anerkennung verbergen. Neben der anerkennenden Wertschätzung und der anerkennenden Zustimmung gibt es noch zwei Fälle u r t e i l e n d e r Anerkennung. Im Grunde scheint es zwar der Sprachgebrauch nur zu erlauben, das B e h a u p t e n als ein Anerkennen zu bezeichnen; insofern aber Behauptung und Überzeugung ständig konfundiert werden, wird zugleich die letztere unter jenem Terminus mitbefaßt. Die Urteilstheorie Brentanos gibt uns ein Beispiel dafür. Er spricht vom Urteil als Anerkennung, und das weist uns, wenn wir die überhaupt nicht in die Sphäre der Urteilstheorie gehörigen Bedeutungen ablösen, zunächst auf die Behauptung hin. Andererseits aber redet Brentano von einer Gradabstufung des Urteils, und das führt uns, wie unschwer ersichtlich, sofort in eine andere Sphäre. In seiner »Psychologie« hatte Brentano sogar von »Intensitäten« des Urteils gesprochen in Analogie zur Intensität des Gefühls.7 Das hat er später etwas modifiziert. »Es ist falsch..., so heißt es im Ursprung sittlicher Erkenntnis,2 daß der sog. Grad der Überzeugung eine Intensitätsstufe des Urteilens sei, welche mit der Intensität von Lust und Schmerz in Analogie gebracht werden könnte.« Aber Grade des Urteils will Brentano nach wie vor annehmen. Und ähnlich redet Windelband von einer graduellen Abstufbarkeit des »Überzeugungsgefühls« oder der »Gewißheit«.8 Auf die Behauptung angewandt ergibt 7 8

Empirische Psychologie, S. 292. A. a. O., S. 186.

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eine solche Annahme überhaupt keinen Sinn. Entweder wird etwas behauptet oder es wird nicht behauptet; Grade des Behauptens aber gibt es nicht. Gewiß kann man auch von einem zögernden, widerwilligen Behaupten reden; aber es ist klar, daß ein solches Behaupten darum nicht ein geringeres oder minderes Behaupten ist. Ganz anders steht es bei der Überzeugung. Hier hat es in der Tat einen guten Sinn, von Stufen oder Graden zu reden. Neben der Überzeugung gibt es die Vermutung und den Zweifel; mit ihnen sinkt der »Grad der Gewißheit« immer tiefer herab. In diesem Zusammenhange kann also Brentano das Urteil nicht im Sinne der Behauptung, sondern er muß es im Sinne der Überzeugung im Auge haben; ihm selbst drängt sich denn auch an der angeführten Stelle dieser Ausdruck auf. Die gefährliche Doppeldeutigkeit des Anerkennungsbegriffes zeigt sich hier überaus deutlich, wir wollen diesen Ausdruck daher im folgenden ganz vermeiden und bei dem »setzenden« Urteil stets von Behauptung reden. Zugleich hat sich jetzt ein erster fundamentaler Unterschied zwischen Überzeugung und Behauptung herausgestellt, den wir noch etwas weiter ausführen wollen. In psychologischen und logischen Betrachtungen finden wir häufig eine Zusammenstellung des Urteilens mit anderen mehr oder weniger nahe verwandten Bewußtseinsakten. Da wird das Urteil einmal gegenübergestellt dem Zweifel und der Vermutung, ein andermal der Frage oder Wunschaussage. Sehen wir näher zu, so zeigt sich, daß dabei der Terminus Urteil in dem doppelten, uns nun geläufigen Sinne figuriert. Es geht nicht an, Vermutung und Zweifel der Behauptung anzureihen; sie gehören vielmehr als verschiedene Gewißheitsabstufungen neben die Überzeugung. Andererseits haben die Akte, welche in den Worten »Ist A b?« oder »Wäre doch A b!« ihren Ausdruck finden, zweifellos nicht neben der Überzeugung, sondern neben der Behauptung ihre Stelle. Alles das sind nur indirekte Hinweisungen auf die Verschiedenheiten unserer beiden Urteilstypen. Die direkte und letzte Bestätigung kann uns hier, wie in anderen Fällen auch, nur die unmittelbare Wahrnehmung geben. Hier aber zeigt sich uns mit zweifelloser Deutlichkeit: Einerseits die Überzeugung, die uns angesichts der Gegenstände erwächst, etwas was man mitunter als Gefühl, mitunter wohl auch als Bewußtseinslage bezeichnet hat, jedenfalls eine Z u s t ä n d i g k e i t des Bewußtseins. Andererseits die Behauptung, welche uns nicht »erwächst«, sondern von

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uns »gefällt« wird, total verschieden von jedem Gefühl, von jeder Zuständlichkeit; viel eher zu charakterisieren als ein s p o n t a n e r Akt. Beide: Überzeugung sowohl als Behauptung, realisieren sich in der Zeit; es läßt sich der Zeitpunkt angeben, in welchem sie ins Dasein treten. Aber während wir von einer beliebigen Dauer der Überzeugung reden können, läßt die Behauptung ihrem Wesen nach eine zeitliche Ausbreitung nicht zu; sie v e r l ä u f t nicht in der Zeit, sondern hat ein gleichsam p u n k t u e l l e s Sein. Wir sind weit entfernt davon, eine absolute Beziehungslosigkeit zwischen Überzeugung und Behauptung zu statuieren; gerade weil sehr nahe Beziehungen zwischen beiden bestehen, hat man sie ständig konfundiert. Keine Behauptung ist möglich, die nicht von einer zugrunde liegenden Überzeugung begleitet wäre, wobei Überzeugung und Behauptung auf ein streng Identisches sich beziehen. Dagegen ist es durchaus nicht erforderlich, daß j e d e Überzeugung eine Behauptung fundiert, und es ist sogar ausgeschlossen, daß einer Überzeugung eine Behauptung zugrunde liegt. Man könnte unserem ersten Satze gegenüber hinweisen auf die Tatsache der Lüge, der es ja wesentlich ist, eine Behauptung ohne Überzeugung zu sein. Eine nähere Betrachtung zeigt, daß bei der Lüge von einem echten Behaupten überhaupt nicht die Rede sein darf. Es liegt hier eine eigentümliche Modifikation des Behauptens vor, ein Schein-Behaupten gleichsam, dem das eigentliche Leben fehlt, und für das wir eine Analogie finden können in der Scheinfrage, wie wir sie in konventioneller Unterredung häufig stellen. Das e c h t e Fragen schließt die Überzeugung vom Sein dessen, was in Frage gestellt wird, aus, genauso wie die echte Behauptung den Unglauben an das Behauptete ausschließt. Eine konventionelle Frage, bei der wir das, was wir fragen, ganz genau wissen, ist keine echte Frage; und ebensowenig ist die Lüge, bei der das nicht geglaubt wird, was man behauptet, ein echtes Behaupten. Wir gehen auf diese an sich nicht unwichtigen Zusammenhänge hier nicht weiter ein. Für uns haben sie lediglich die Funktion, die Trennung von Überzeugung und Behauptung noch einmal recht deutlich vor Augen zu führen. Solche Wesensbeziehungen sind ja offenbar nur dann möglich und nur dann verständlich, wenn es sich – nicht um ein nur verschieden ausgedrücktes I d e n t i s c h e s , sondern um zwei wohl geschiedene Gebilde handelt. Wir wollen den Unterschied der beiden noch ein Stück weiter verfolgen.

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Brentano hat bekanntlich Vorstellung und Urteil mit äußerster Schärfe voneinander getrennt, er hat sie aber gleichzeitig in nahe Beziehung zueinander gebracht, indem er den Satz von der notwendigen Vorstellungsgrundlage eines jeden Urteils aufstellte. Jedes Anerkennen und Verwerfen setzt nach ihm notwendig voraus die Vorstellung dessen, was anerkannt bzw. verworfen wird. Der geurteilte Gegenstand ist so doppelt ins Bewußtsein aufgenommen: einmal als vorgestellt und zum anderen als anerkannt oder verworfen. – Wenn wir nun unsererseits nach dem Verhältnis von Vorstellung und Urteil fragen, so müssen wir hier natürlich zwei Teilfragen unterscheiden; was von dem Urteil im Sinne der Überzeugung gilt, braucht keineswegs auch von dem Urteil als Behauptung zu gelten. Zunächst freilich läßt sich etwas angeben, was für beide in gleicher Weise zutrifft. Es ist keine Überzeugung und keine Behauptung möglich, die nicht Überzeugung und Behauptung »von etwas« wäre; die Beziehung auf ein Gegenständliches, welchem die Überzeugung gilt und auf welches sich die Behauptung bezieht, ist beiden wesentlich. Wir können hier von dem intentionalen Charakter der beiden Urteilsarten reden, aber wir müssen uns davor hüten, aus dieser Intentionalität voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Intentionalität eines Erlebnisses besagt, daß es eine »Richtung auf« Gegenständliches besitzt, und dies wiederum setzt voraus, daß das Gegenständliche für das Bewußtsein irgendwie »vorhanden« ist. Aber dies Vorhandensein im allerweitesten Sinne ist kein Vorgestelltsein oder braucht wenigstens kein Vorgestelltsein zu sein.9 Den Begriff der Vorstellung fest zu umgrenzen, ist freilich nicht leicht. Husserl hat gezeigt, mit wie großen Äquivokationen er behaftet ist.10 Sehen wir einmal ab von der häufigen Bedeutung, in welcher man von Vorstellung im Gegensatze zur Wahrnehmung spricht, so läßt sich von ihr in einem Sinne reden, der Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasie und andere verwandte Akte gleichmäßig in sich befaßt. Eine prägnante Fassung des Ausdrucks »VorStellung« dient uns zur Umgrenzung dieser sehr umfassenden Klasse von Akten. Als vorgestellt gilt uns danach alles Gegenständliche, welches wir 9

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Brentano allerdings spricht von Vorstellung »im allerweitesten Sinne des Wortes« a. a. O., S. 15. Log. Untersuchungen, Bd. II, S. 463ff.

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»vor« uns haben, oder um jedes anklingende räumliche Bild zu vermeiden, welches uns »präsent« ist, welches für uns »da« ist. Präsent ist mir das Blatt Papier, auf welches ich eben wahrnehmend hinblicke, präsent ist mir der Mailänder Dom, den ich mir vergegenwärtige, das vergangene Erlebnis der Trauer, an das ich mich erinnere, eine Landschaft, die ich in der Phantasie imaginiere. So grundverschieden alle diese Akte sind, so ist doch alles in ihnen Erfaßte für mich »da«, es steht gleichsam vor mir, ist in diesem prägnanten Sinne von mir »vorgestellt«. Dieser Begriff der Vorstellung erstreckt sich weit über die Sphäre der sinnlichen Gegenstände hinaus, in welcher er ursprünglich seine Stelle hat. Auch die Schönheit eines Kunstwerkes, die ich fühle, ist für mich da; und ebenso ist mir etwa die Zahl 2, deren Natur ich mir an zwei beliebigen einzelnen Gegenständen vergegenwärtige, in eben dieser Vergegenwärtigung präsent. Wir verkennen keineswegs die Fülle der Phänomene, welche hier zu unterscheiden sind. Nehmen wir allein die sinnliche Wahrnehmung, so ist ohne weiteres klar, daß das »eigentlich«, im Vordergrund Wahrgenommene ganz anders da ist als der mitgegebene Hintergrund, und daß beide wiederum anders da sind als der kleine Ausschnitt, mit welchem sich meine Aufmerksamkeit vorzugsweise beschäftigt. Aber von einem »Dasein« können wir doch offenbar in allen diesen Fällen sprechen,11 und ebenso steht es, wenn wir uns in die ganz andersartigen Sphären der vergegenwärtigten, erinnerten, phantasierten, gefühlten und (in der Weise der Zahlen) gedachten Gegenstände begeben. Sie alle sind für mich da, und das erlaubt es, die sie erfassenden Akte und alle anderen, deren intendierte Gegenständlichkeiten in demselben Sinne präsent sind, zu einer Gruppe zusammenzufassen. Man könnte die Frage stellen, ob mit dieser Bestimmung nicht überhaupt alle Akte umfaßt seien, welche sich auf Gegenständliches beziehen, ob nicht jeder so intendierte Gegenstand eben damit für mich »da sei«. So ist es aber keineswegs; indem wir nun eine Klasse intendierender Akte abgrenzen, deren gegenständliches Korrelat in

11

Freilich darf man dieses da-sein nicht verwechseln mit dem ausdrücklichen mir g e g e n ü b e r -sein, von dem bei der Hintergrundswahmehmung natürlich keine Rede sein kann. (Vgl. Th. Conrad, [»Wahrnehmung und Vorstellung«, Münchener Philosophische Abhandlungen,] S. 57).

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keinem Sinne vor-stellig ist, dürfen wir zugleich hoffen, die bisherigen Ausführungen in ein helleres Licht zu setzen. Wir orientieren uns an sprachlichen Ausdrücken. Ich zähle etwa die Gebirge Deutschlands auf, ich nenne sie einem anderen oder sage sie mir auch selber her. Ich spreche dabei, vielleicht rasch nacheinander, eine große Anzahl von Namen aus. Aber es liegt selbstverständlich viel mehr vor als ein bloßes Aussprechen; indem ich die Worte ausspreche, m e i n e ich etwas, ich meine eben die Gebirge, welche die Namen bezeichnen. Der absolute Sprachunkundige würde sich auf das Aussprechen der Worte beschränken, ohne sie zu verstehen, d.h. hier eben, ohne die den Worten zugeordneten Gegenstände mit den Worten zu meinen. Wer dagegen die Worte verstehend ausspricht, zielt mit ihnen oder durch sie hindurch ab auf etwas anderes, und dieses andere ist das, worauf es ankommt. Es liegen hier Akte vor mit einer spontanen Richtung auf Gegenständliches; es ist aber für jeden vorurteilslosen Betrachter nicht schwer einzusehen, daß von einer Präsenz dieser Gegenstände, von einer »Vorstellung« ihrer im oben umschriebenen Sinne keine Rede sein kann. Gewiß k ö n n e n sie präsent sein; ich kann ein Gebirge nennen und es gleichzeitig wahrnehmen oder erinnernd mir vergegenwärtigen. Hier ist es dann allerdings vorgestellt, aber man sieht sofort, daß diese begleitende Vorstellung gewöhnlich nicht vorhanden ist oder wenigstens nicht vorhanden zu sein braucht. Aber auch in den Fällen, wo der durch den Namen bezeichnete Gegenstand vorgestellt ist, müssen wir von der Vorstellung immer noch trennen den Akt des Meinens, der mit dem Aussprechen des Namens verbunden ist. Auch hier ist es ja nicht so, als ob nichts weiter vorhanden wäre als eine Vorstellung des Gebirges und das bloße Aussprechen eines Wortes. Vielmehr zeigt eine aufmerksame Beobachtung das Folgende: Die Vorstellung ist ein Akt eigener Art, ein schlichtes rezeptives »Haben« des Gegenstandes, das eine größere oder geringere Dauer besitzen kann. Tritt nun ein Aussprechen des Namens noch hinzu, so ist – wenn anders der Name v e r s t e h e n d ausgesprochen wird – damit verbunden einer jener eigentümlichen Akte, die wir als ein Meinen oder Abzielen-auf bezeichneten. N e b e n die Vorstellung also tritt ein Meinen, welches sich von dem Vorstellen schon dadurch unterscheidet, daß es stets sprachlich eingekleidet ist, und daß ihm eine Spontaneität der Richtung und eine zeitlich punktuelle Natur wesentlich sind. Vorstellen und Meinen sind in

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unserem Falle gewiß nicht beziehungslos. Genau derselbe Gegenstand, der vorgestellt ist, ist ja zugleich gemeint. Diese Identität des Beziehungspunktes der beiden Akte aber darf natürlich nicht dazu verleiten, sie zu identifizieren, indem man den unscheinbaren punktuellen Akt des Meinens aufgehen läßt in dem lang hingestreckten Akt des Vorstellens. Vielmehr sind beide nebeneinander vorhanden, und je nach den Umständen wird man der gesamten Sachlage dahin Ausdruck geben, daß der erst nur vorgestellte Gegenstand überdies noch in einem Akte des Meinens erfaßt wird, oder daß der zuerst bloß gemeinte Gegenstand überdies noch in einem Akte der Vorstellung zur Gegebenheit kommt. Indem wir die eigentümlichen Akte, welche wir herauszuheben suchen, als Akte des Meinens bezeichnen, verkennen wir nicht die Gefahren des Mißverständnisses, welche hierin eingeschlossen liegen. Einen Gegenstand meinen, auf ihn abzielen, das bedeutet ja auch sich ihm »zuwenden«, es auf ihn »absehen« oder welch andere Ausdrücke des pointierenden Interesses zu Gebote stehen mögen.12 Um ein Meinen in diesem häufig vorkommenden Sinne handelt es sich uns natürlich nicht. Dieses sich einem Gegenstand zuwendende Meinen setzt ja offenbar seinem Wesen nach die Präsenz des so »gemeinten« Gegenstandes voraus. Uns aber handelt es sich dagegen um jenes Meinen, dessen auszeichnende Eigentümlichkeit es gerade ist, seine Gegenstände weder vorzustellen noch ihr Vörgestelltsein vorauszusetzen. Es stehen uns für jene mit dem verstehenden Aussprechen von Worten verknüpften Akte, in denen wir auf unvorgestelltes Gegenständliches bezogen sind, keine anderen Ausdrücke zu Gebote als die des Meinens oder Abzielens-auf; und es bleibt uns nichts anderes übrig, als vor der Gefahr verwirrender Äquivokationen zu warnen und insbesondere jenes vorgestellte Gegenstände pointierende Meinen oder Abzielen als nicht hierhergehörig zur Seite zu schieben. Zugleich können uns diese Erwägungen dazu dienen, einen prinzipiellen Unterschied unseres Meinens von allem Vorstellen herauszuheben. Allem Vorgestellten können wir uns mit besonderem Interesse zuwenden, es herausheben aus seiner Umgebung, uns bevorzugend mit ihm befassen. In der Sphäre des Meinens in unserem Sinne gibt es diese Modifikationen nicht. Man 12

Vgl. dazu Theodor Lipps, Leitfaden der Psychologie2, S. 113ff.; Husserl, a. a. O., [Bd.] II, S. 129f.

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vergegenwärtige sich nur die Sachlage, wenn wir im Flusse der Rede sukzessive auf eine Reihe von Gegenständen abzielen. Von einem bevorzugenden, sich hinwendenden Meinen kann hier keine Rede sein. Gewiß ist es möglich, sich den zuerst bloß gemeinten Gegenständen dann auch zuzuwenden. Niemals aber kann das innerhalb des Meinens selbst geschehen, sondern dazu bedarf es eines eigenen neuen Aktes, welcher die gemeinten Gegenstände zur Vorstellung bringt; nur dem so Vorgestellten können wir uns beachtend zuwenden. In noch prinzipiellerer Weise zeigt sich der fundamentale Gegensatz zwischen Vorstellen und Meinen bei folgender Erwägung. Die Akte, in welchen Gegenstände vorgestellt werden, sind durchaus verschieden, je nach der Klasse von Gegenständlichkeiten, auf die sie sich richten. Farben werden gesehen, Töne werden gehört, Dinge der Außenwelt werden sinnlich wahrgenommen, Zahlen werden gedacht, Werte werden gefühlt usw. Es ist eine selbstverständliche Forderung, überall – auch bei Tönen und Farben – das Gegenständliche scharf zu scheiden von den Akten, durch welche es zur Vorstellung kommt. Alsdann aber ergibt sich, daß hier eine Fülle interessantester Wesensbeziehungen besteht, daß den verschiedenen gegenständlichen Typen verschiedene Typen vorstellender Akte mit Notwendigkeit entsprechen. Farben können eben n u r gesehen, Zahlen n u r gedacht werden. Man sieht sofort, daß dies sich bei dem Meinen ganz anders verhält. Man spreche verstehend von Farben, Tönen, Werten, Zahlen, Dingen, dann sind alle diese Gegenständlichkeiten gemeint, aber der qualitativen Verschiedenheit derselben entspricht hier keine korrelative Verschiedenheit der meinenden Akte. Gewiß u n t e r s c h e i d e t sich das Meinen einer Farbe und einer Zahl, eben dadurch, daß das eine Mal die Farbe, das andere Mal die Zahl gemeint ist, aber ein Meinen liegt doch eben in beiden Fällen vor; es gibt hier keinen Unterschied, der dem Unterschiede zwischen Sehen und Denken, wie wir ihn bei dem Vorstellen von Farben und Zahlen vorfinden, entspräche. Man wird unseren Unterschied zunächst identifizieren mit dem zwischen anschauungserfüllten und anschauungslosen Akten, welcher in der Logik und Psychologie der jüngsten Zeit, insbesondere im Anschluß an Husserls Logische Untersuchungen, viel erörtert worden ist. Akte, welchen die Anschauung fehlt – so wird man sagen –, sind eben das, was hier als Akte des Meinens herausgehoben worden ist. Eine solche Auffassung wäre

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indessen grundverkehrt; es handelt sich hier um zwei durchaus zu trennende Gegensatzpaare. Anschauungsfülle und Anschauungsleere gibt es sowohl bei dem Vorstellen als auch bei dem Meinen. Ein Vorstellen, dem die Anschauung fehlt, ist damit keineswegs zum Meinen geworden. Und umgekehrt haben wir in einem von Anschauung belebten Meinen durchaus kein Vorstellen zu sehen. Es bedarf nur des Hinsehens auf die in Frage kommenden Fälle, um das klar zu erkennen. Beschränken wir uns auf die Fälle des sinnlichen Vorstellens, so bietet uns die dingliche Wahrnehmung das beste Beispiel für eine Vorstellung, deren Anschauungsgehalt eine größere und geringere Fülle, Deutlichkeit und Klarheit aufweisen kann. Indem wir uns einem Dinge der Außenwelt nähern, wird der es repräsentierende Anschauungsgehalt immer reicher und klarer, immer neue Seiten des Dinges bieten sich mit immer größerer Deutlichkeit dar. Von Anfang an steht das Ding vor uns; und indem es uns vorstellig ist, nimmt die Anschauung immer andere und andere Formen an. Ein Mehr oder Minder der Anschauung gibt es nach verschiedenen Dimensionen hin, das Vörgestelltsein dagegen läßt keine Gradabstufungen zu. Man sieht hier ganz deutlich, wie genau wir den Begriff der Vorstellung, welche sich uns durch die Präsenz des vorgestellten Gegenständlichen charakterisiert, von dem Begriffe der bei konstanter Präsenz in weitem Umfange variierenden Anschaulichkeit unterscheiden müssen. So weit geht die Unabhängigkeit zwischen beiden, daß Gegenständliches vorgestellt werden kann, ohne daß die mindeste Spur direkt repräsentierender Anschauung konstatiert werden könnte. Man orientiere sich noch einmal an der dinglichen Wahrnehmung. Vor mir liegt ein Buch; dann ist mir das ganze Buch vors-tellig, und doch sind nur Teile von ihm anschaulich repräsentiert. Die Rückseite des Buches z.B. ist mir in keiner Weise anschaulich gegeben, weder nehme ich sie wahr, noch pflege ich normalerweise aus der Erinnerung oder Phantasie anschauliche Repräsentation zu schöpfen. Man ist vielleicht einen Augenblick versucht, in Hinblick auf diese Sachlage nur die anschaulich repräsentierten Teile des Buches vorgestellt zu nennen. Aber was vor mir sich befindet, ist doch das B u c h , der ganze Gegenstand und nicht ein Gegenstandstorso. Findet sich, daß die Rückseite eines vorgestellten Dinges, etwa eines Gefäßes, fehlt, so erleben wir eine Enttäuschung. Die auf den ganzen Gegenstand gerichtete Intention wird teilweise nicht erfüllt – eine solche

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Nichterfüllung, oder besser eine solche Enttäuschung, ist aber nur dann möglich, wenn die ursprüngliche Vorstellung ihre Intention auf den ganzen Gegenstand mit seiner anschaulich nicht gegebenen Rückseite erstreckte, und bei der Drehung des Gegenstandes dann ein Widerstreit stattfindet zwischen dem zuerst unanschaulich Vorgestellten und dem jetzt anschaulich Gegebenen. Innerhalb einer jeden Dingwahrnehmung finden wir in dieser Weise eine unanschauliche Vorstellungskomponente. Es ist nach einem früher von uns erwähnten Sprachgebrauche möglich, das betreffende Gegenstandsstück als unanschaulich mit-»gemeint« zu bezeichnen. Es braucht indessen kaum mehr betont zu werden, daß es sich dabei nicht um eine Meinung in dem von uns bevorzugten Sinne handelt. Für diese ist ja gerade das Nichtvorgestelltsein des gemeinten Gegenstandes wesentlich. Wir können uns einen Fall vergegenwärtigen, in dem die Akte dieses Meinens in beiderlei Sinne gleichzeitig vorhanden sind. Wir betrachten ein Ding, dessen Rückseite in unanschaulicher Vorstellung mit-»gemeint« ist, und gleichzeitig sprechen wir verstehend den Satz aus: »die Rückseite dieses Dinges ist...« Hier tritt zu der dauernden Mit-»meinung« ein ganz anders geartetes, sprachlich eingekleidetes, zeitlich punktuelles und selbständiges Meinen hinzu. Die wesentlichen Unterschiede der beiden Akte sind nicht zu verkennen; wir sehen hier auf das deutlichste, daß ein unanschauliches Vorstellen keineswegs identisch ist mit unserem sprachlich eingebetteten Meinen. In der Sphäre der Vorstellung ist es nicht ganz leicht, gänzlich unanschauliche Intentionen aufzufinden; in der Sphäre des Meinens dagegen drängen sich unanschauliche Akte zuerst und am häufigsten auf. In zusammenhängender Rede wird von beliebig vielen und komplizierten Gegenständlichkeiten gesprochen. Meinungsakt reiht sich an Meinungsakt in raschester Folge; auf alle durch die Worte bezeichneten Gegenständlichkeiten wird von uns abgezielt, von einer Anschaulichkeit dieses Abzielens oder Meinens ist aber bei vorurteilsloser Betrachtung in den meisten Fällen nichts zu bemerken.13 Hin und wieder freilich tauchen allerlei anschauliche »Bilder« auf, vage, unbestimmte Umrisse der Gegenstände, von denen die Rede ist, oder auch von anderen, mehr oder minder verwandten 13

Von den sog. »anschaulichen Wortvorstellungen« sehen wir dabei, da es sich nur um das Meinen selbst handelt, ganz ab.

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Gegenständen, bald beachtet, meist aber und normalerweise unbeachtet. Sie tauchen auf, überdauern häufig den Akt des Meinens, dem sie zugehören, und verschwinden wieder. Auf die sichere Folge der meinenden Akte scheinen sie nur geringen Einfluß zu haben; es ist wie Wellen gekräusel über einem dahinfließenden Wasser. Man kann die Akte des Meinens, welche in dieser Weise von »illustrierenden« Bildern begleitet sind, als anschauliche Akte bezeichnen, man darf aber nicht übersehen, daß die Anschaulichkeit hier einen ganz anderen Sinn besitzt als bei der Vorstellung. Es drängt sich vor allem auf, daß die Anschauung, welche wir in Akten des Meinens mitunter vorfinden, sich ihrer Funktion nach prinzipiell von der Anschaulichkeit der Wahrnehmung sowie aller vorstellenden Akte überhaupt unterscheidet. Bei jeder Vorstellung »repräsentiert« mir der anschauliche Gehalt den vorgestellten Gegenstand, er stellt ihn mir dar. In dem, was mir bei der sinnlichen Wahrnehmung anschaulich gegeben ist, steht der ganze Gegenstand vor mir, und ebenso wird der erinnerte oder phantasierte Gegenstand »in« dem jeweils vorhandenen Anschauungsgehalte erfaßt. Wie nun auch eine nähere Analyse diese recht schwierigen Verhältnisse darstellen mag: bei den meinenden Akten verhält es sich auf jeden Fall ganz anders. Wenn hier anschauliche Schemata auftauchen und niedersinken, dann fehlt ihnen jede repräsentierende Funktion. Sie stellen nichts »dar« oder »vor« – es ist ja beim Meinen gar nichts vorhanden, was vor-gestellt wäre –, sondern sie führen ein von dem gemeinten Gegenstande ganz losgelöstes Dasein. Sie gehören einer ganz anderen Schicht an als der Anschauungsgehalt der Vorstellung; sie sind dem Meinen nicht eigentlich immanent. Während wir von einer Anschaulichkeit des Vorstellens sprechen können, wird es beim Meinen besser sein, statt von s e i n e r Anschaulichkeit von den anschaulichen Bildern zu reden, welche es b e g l e i t e n . Unsre Analysen haben die absolute Verschiedenheit von Vorstellen und Meinen zur Genüge dargetan. Sie haben insbesondere deutlich gemacht, daß das anschauungslose Vorstellen keineswegs ein Meinen, und daß das anschauungs-begleitete Meinen keineswegs ein Vorstellen ist. Man hat in jüngster Zeit häufig die Frage erörtert, ob es absolut anschauungslose Bewußtseinsakte gibt. Man hat übersehen, daß es sich hier in Wahrheit um mindestens z w e i Fragen handelt: um die Frage nach anschauungslosem

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Vorstellen und nach anschauungsfreiem Meinen. Daß es ein anschauungsfreies Meinen gibt, scheint uns zweifellos. Dagegen ist es sehr fraglich, ob es absolut anschauungslose Vorstellungsakte gibt. Zwar haben wir darauf hingewiesen, daß die Rückseite eines jeden Dinges unanschaulich vorgestellt ist; aber es handelt sich dabei ja nicht um eine selbständige Vorstellung, vielmehr ist die Rückseite mit-vorgestellt in der Vorstellung des gesamten Dinges. Vielleicht läßt sich die Verschiedenheit der Ansichten in der genannten Frage teilweise auf die mangelnde Scheidung zwischen Vorstellen und Meinen zurückführen. Wir kehren zu der Frage zurück, ob jedes Urteil notwendig fundiert ist in einer Vorstellung. Die Frage läßt sich für die Behauptung ohne weiteres verneinen. Man beachte, wie in der Rede Behauptung auf Behauptung folgt, ohne daß doch das Behauptete jemals vorgestellt zu sein brauchte. Man darf sich nicht irre machen lassen durch den scheinbar selbstverständlichen Satz, daß ich nur dasjenige urteilen kann, von dem ich weiß, das ich »also« vorstelle. Gewiß ist es richtig, daß ich in bestimmter Weise bezogen sein muß auf das, was ich behaupte, um es behaupten zu können. Aber es ist falsch, daß nur die Vorstellung in unserem Sinne als diese Beziehung in Betracht kommen kann. Auch im nicht vorstellenden Meinen bin ich auf Gegenstände bezogen. Ein solches Meinen bildet in der Tat die notwendige Grundlage eines jeden Behauptens. Damit ist gesagt, daß in der Behauptung als solcher das Behauptete mir nicht präsent, nicht gegenwärtig ist, wenn auch jederzeit ein solcher vergegenwärtigender Akt zu dem Behaupten hinzutreten oder ihm nachfolgen kann. Es ist hier nicht der Ort, die erkenntnistheoretischen Konsequenzen aus dieser Sachlage zu ziehen. Für uns kommt nur in Betracht, daß die meinenden Akte in allerlei Qualifizierungen auftreten können. Wenn ich einmal sage: »Ist Ab?« und dann: »A ist b«, so ist beide Male etwas gemeint, und zwar identisch derselbe Sachverhalt, aber das eine Mal ist er in Frage gestellt, das andere Mal ist er behauptend gesetzt. Wir können innerhalb des Gesamtkomplexes, den wir als das Behaupten eines Sachverhaltes bezeichnen, das spezifische Behauptungsmoment und den Meinensbestandteil unterschei-

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den. Aus ihnen beiden baut sich das Behaupten auf.14 Durch den Meinensbestandteil gewinnt das Behauptungsmoment Beziehung auf den Sachverhalt; in ihm ist es notwendig »fundiert«. Dagegen ist es ausgeschlossen, daß eine Ü b e r z e u g u n g durch ein solches Meinen fundiert ist. Natürlich kann ich von einem Sachverhalte überzeugt sein und ihn gleichzeitig meinen – das ist ja nach unseren früheren Ausführungen stets der Fall, wenn ich ihn behaupte; dann ist aber das B e h a u p t e n in dem Meinen fundiert und nicht die zugrunde liegende Überzeugung. Es fragt sich nun, in welcher Weise die Ü b e r z e u g u n g Beziehung auf ihr gegenständliches Korrelat gewinnt. Wir erinnern an den Fall, von dem wir ausgegangen sind: Vor einer Blume stehend erschaue ich ihr Rotsein; und auf Grund dieses Erschauens erwächst in mir die Überzeugung von diesem Sachverhalt. Hier liegt der Überzeugung offenbar eine Vorstellung zugrunde in dem von uns bevorzugten prägnanten Sinne. Man könnte versucht sein, im Sinne Brentanos zu sagen, das Urteil sei durch eine Vorstellung fundiert. Zweierlei ist aber dabei wohl zu beachten: nicht um das Urteil überhaupt handelt es sich hier, sondern um das Urteil im Sinne der Überzeugung; und zweitens: von einer m ö g l i c h e n Fundierung des Urteils durch die Vorstellung könnte man hier reden, nicht aber von einer n o t w e n d i g e n (und damit überhaupt nicht von einer Vorstellungsgrundlage im Brentanoschen Sinne). Denken wir an den Fall, den wir früher erwähnten, wo wir uns von dem erschauten Sachverhalt wegwenden: Vorgestellt im eigentlichen Sinne braucht hier der Sachverhalt nicht mehr zu sein, die Überzeugung aber kann noch weiter fortdauern. Natürlich ist auch dann noch die Überzeugung auf den identischen Sachverhalt »bezogen«, aber dies Bezogensein ist eben nicht mehr durch ein Vorstellen des Sachverhaltes vermittelt. Allerdings geht es auch nicht an, hiervon einem Meinen zu reden. Dies ist ja seinem Wesen nach an sprachliche Ausdrücke geknüpft. Es gibt eben eine ganze Reihe möglicher Intentionen auf Gegenständliches,15 von denen wir hier nur zwei betrachten wollen, das 14

15

Daß, wo eine Behauptung in einem empirischen Bewußtsein vollzogen wird, noch gar viel mehr vorzuliegen pflegt als bestimmt qualifizierte Akte des Meinens, ist uns selbstredend nicht verborgen. So haben wir, um nur ein Beispiel herauszugreifen, hier von dem Meinen gesprochen, welches beim verstehenden A u s s p r e c h e n von Worten vorliegt, nicht aber von den Erlebnissen beim verstehen den V e r n e h m e n von Worten.

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Vorstellen, in welchem der Gegenstand »da« ist, in welchem wir ihn »haben« und bei absolut vollkommener Anschaulichkeit evtl. in nächster Nähe haben, und das Meinen, in dem wir uns spontan abzielend verhalten und die Gegenstände zu uns in äußerster Ferne stehen. Welcherlei Akte die nicht durch eine Vorstellung fundierte Überzeugung – die wir als Ganzes am besten als ein »Wissen um« bezeichnen werden – fundieren, lassen wir hier dahingestellt. Wir können es umso eher, als man dieses Wissen im allgemeinen nicht als ein Urteil bezeichnen wird, sondern nur die aus dem Erschauen eines Sachverhaltes erwachsende Überzeugung. Lediglich dies haben wir zeigen wollen, daß die Vorstellungsfundierung dieser Überzeugung keine notwendige ist. Wir sind damit zum Ende unserer allgemeinen urteilstheoretischen Ausführungen gelangt. Als Resultat wollen wir festhalten: Unter Urteil ist zweierlei zu verstehen: einmal die Behauptung, welche sich in anschauungsbegleiteten oder anschauungsfreien Akten des Meinens auf Gegenständliches bezieht, und ferner die Überzeugung, insoweit sie aus mehr oder minder anschaulichen Akten des Vorstellens erwächst. Es ergibt sich daraus, daß wir auch von dem negativen Urteil in doppeltem Sinne reden müssen; damit ist schon das P r o b l e m des negativen Urteils auf einen neuen Boden gestellt. II Von den Akten, in denen wir, wie bei der Vorstellung und Meinung, Gegenständliches habend oder abzielend e r f a s s e n , unterscheiden wir die Erlebnisse, in denen wir, wie bei der Überzeugung, e i n e S t e l l u n g z u e t w a s einnehmen. Wir kennen als solch letztere Akte z.B. das Streben nach etwas, die Erwartung von etwas und andere mehr. Durch diese Aktklasse zieht sich, im Unterschied zu der ersten, ein Gegensatz von Positivität und Negativität. Wir streben nicht nur positiv nach etwas, Diese können, da sie kein spontanes Abzielen auf, sondern ein rezeptives Empfangen darstellen, nicht als ein Meinen charakterisiert werden. Sie sind aber auch kein Vorstellen, da das Gegenständliche, das auf dieses Verstehen sich bezieht, nicht im prägnanten Sinne »da« ist oder wenigstens nicht da zu sein braucht.

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sondern können auch demselben Gegenständlichen widerstreben. Beide Male haben wir ein Streben, aber sozusagen mit entgegengesetztem Vorzeichen.16 Genau dasselbe nun finden wir bei der Überzeugung. Wir haben uns bisher natürlicherweise stets an der positiven Überzeugung orientiert; ihr steht aber eine negative völlig gleichberechtigt gegenüber. Nehmen wir an, es wird von irgendjemand behauptet, eine Blume sei rot, wir gehen an die Stelle, wo sie steht, um uns selbst zu überzeugen, und sehen, sie ist gelb. Mit der Frage, ob die Blume wohl rot sei, sind wir an sie herangetreten; jetzt erwächst uns diesem Sachverhalte gegenüber eine negative Überzeugung, ein »Unglaube«, daß die Blume rot ist. Positive und negative Überzeugung können sich auf denselben Sachverhalt beziehen; suchen wir nach umschreibenden Ausdrücken, so können wir sagen, die eine ist Überzeugungszuwendung, die andere Überzeugungsabwendung. Beide aber sind »überzeugte« Stellungnahme. Das Überzeugungsmoment ist beiden gemeinsam, so wie das Strebensmoment dem positiven Streben und Widerstreben; es trennt sie von anderen intellektuellen Stellungnahmen wie der Vermutung oder dem Zweifel. Es ist dasjenige, was erlaubt, sie beide als ein Urteil zu bezeichnen, während der polare Gegensatz, von welchem wir gesprochen haben, die eine zum positiven, die andere zum negativen Urteil stempelt. Positive und negative Überzeugung stehen, rein auf ihr deskriptives Wesen angesehen, einander gleichgeordnet gegenüber. Eine gewisse Verschiedenheit aber scheint sich herauszustellen, wenn wir die psychologischen Voraussetzungen ihres Entstehens beachten. Wenn wir uns umsehen in der uns umgebenden Welt, so treten uns eine Fülle von Sachverhalten entgegen, die wir erschauen, und auf welche sich dann unsere Überzeugung bezieht. Auf diese Weise können offenbar nur positive Überzeugungen erwachsen. Eine negative Überzeugung kann niemals so entstehen, daß Sachverhalte von außen einfach gleichsam abgelesen werden, sondern es ist stets vorausgesetzt, daß wir an einen bestehenden Sachverhalt mit einer intellektuellen Stellungnahme zu einem widerstreitenden Sachverhalt herantreten. Der widerstreitende Sachverhalt kann beispielsweise geglaubt, vermutet, bezweifelt, dahingestellt oder auch nur in Frage gestellt sein; indem wir den anderen Sachverhalt erschauen, 16

Vgl. Lipps, a. a. O., S. 230f.

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verwandelt sich die positive Überzeugung oder Vermutung, der Zweifel oder das Dahingestelltsein-lassen in eine negative Überzeugung, oder es findet die Frage in ihr ihre Antwort. Wir bemerken hier eine Eigentümlichkeit des negativen Urteils, der wir jetzt allerdings noch nicht ganz gerecht werden können. Neben der negativen Überzeugung von einem Sachverhalte gibt es die positive Überzeugung vom kontradiktorischen Sachverhalte. Beide Urteile, der Glaube, daß A nicht b ist, und der Unglaube, daß A b ist, stehen sich ihrem logischen Gehalte nach so nah als möglich. Indessen sind es durchaus verschiedene Urteile, die keineswegs identifiziert werden dürfen. Sowohl die »Bewußtseinsseite«17 als auch die gegenständliche Seite sind beide Male grundverschieden: dem Glauben steht der Unglaube, dem bsein des A das nicht-b-sein gegenüber. Der Unglaube einem Sachverhalte gegenüber verdient den Namen eines negativen Urteils in erster Linie. Da es indessen in der traditionellen Urteilstheorie durchaus üblich ist, die Urteile nicht nur nach ihrer Eigentümlichkeit als Urteile, sondern auch nach den Eigentümlichkeiten ihrer gegenständlichen Seite zu benennen, so wollen wir auch die positive Überzeugung von negativen Sachverhalten in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen. Hat man doch gerade bei der auf Negatives gehenden Überzeugung – welche man freilich nicht von der auf Positives gehenden negativen Überzeugung trennte – besondere Schwierigkeiten gefunden. Ihre Behandlung wird sich auch für unsere späteren Erwägungen als förderlich erweisen. Diese Schwierigkeiten haben ihren Ursprung in der etwas primitiven Auffassung, nach welcher sich das positive Urteil als ein Verbinden oder Vereinen darstellt (eine Auffassung, die, ob nun haltbar oder nicht, offenbar einen ganz verschiedenen Sinn hat, je nachdem sie sich an der Überzeugung oder an der Behauptung orientiert). Ein wahres Urteil liegt danach vor, wenn dem Akte des Vereinigens eine tatsächliche reale Vereinigung in der gegenständlichen Welt entspricht. Die analoge 17

Dieser Ausdruck für das Urteil als solches im Unterschiede zu dem Gegenständlichen, auf das es sich bezieht, ist ohne weiteres verständlich. Sachlich korrekter wäre es freilich, von der i n t e n t i o n a l e n Seite des Urteils zu reden. Ich muß hier auf die ausführliche Erörterung dieses wichtigen Punktes in meiner in Aussicht gestellten Schrift verweisen.

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Anwendung dieser Auffassung auf das negative Urteil mußte offenbar Schwierigkeiten begegnen. Man faßte das Urteil als ein Trennen auf, fragte dann aber vergebens nach dem realen Verhältnis, welches durch dieses Trennen wiedergegeben wäre. Was sollte es auch heißen – so betont Windelband mit Recht18 –, daß in dem schlichten Urteil »blau ist nicht grün« einer Trennung Ausdruck gegeben wäre? Und wenn gerade dieses Beispiel dazu verlocken könnte, etwa die Verschiedenheitsrelation als das hier in Betracht kommende reale Verhältnis zu betrachten, so wird schon die kurze Betrachtung eines Urteils wie »gewisse Funktionen sind nicht differenzierbar« von dem Vergeblichen eines solchen Versuches überzeugen. So kam man dazu, die Negation überhaupt als »kein reales Verhältnis«, sondern lediglich als eine »Beziehungsform des Bewußtseins«19 zu betrachten. Die Negation soll etwas rein Subjektives sein, nach Sigwart und einer Reihe anderer neuerer Logiker ein Akt des Verwerfens. Indessen wenn auch zugegeben werden kann, daß in der negativen Überzeugung von einem positiven Sachverhalt die Negativität rein der Bewußtseinsseite angehört, so scheitert doch jener Versuch an den Fällen, wo eine positive Überzeugung sich auf Negatives richtet. Die Möglichkeit solcher Fälle ist evident; die Logik hat nicht die Aufgabe, sie umzudeuten, sondern ihnen gerecht zu werden. Genauso wie die Behandlung des negativen Urteils eine Aufklärung des Urteilsbegriffes überhaupt zur Voraussetzung hatte, müssen wir jetzt das Wesen des gegenständlichen Urteilsk o r r e l a t e s überhaupt untersuchen, bevor wir uns über das n e g a t i v e Korrelat klar werden können. Wir werden auch jetzt diese Untersuchung nur so weit führen können, als es für unsere speziellen Zwecke unerläßlich ist. Wir wissen bereits, daß zwischen der »Bewußtseinsseite« des Urteils und dem Gegenständlichen, auf das sie sich bezieht, Wesenszusammenhänge bestehen der Art, daß keineswegs jeder intentionale Akt zu jedem beliebigen Gegenständlichen paßt, sondern daß beiderseits notwendige Zuordnungsverhältnisse vorhanden sind. So ist es evident unmöglich, daß sich eine Überzeugung auf einen Ton, eine Farbe, ein Gefühl oder ein Ding der Außenwelt bezieht; und ebenso unmöglich ist es, einen Ton oder ein 18 19

A. a. O., S. 169. A. a. O.

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Ding usw. zu behaupten. Oder wenn wir aus der Sphäre der realen Gegenstände in die der ideellen, d.h. der außerzeitlichen Gegenstände übergehen: Was sollte es heißen, eine Zahl oder einen Begriff oder etwas dgl. zu glauben oder zu behaupten? In welchem Sinne wir auch den Urteilsbegriff nehmen mögen, es kann sich wesensgesetzlich ein Urteil niemals auf diese Art von Gegenständlichkeiten beziehen, welche wir ganz verständlich als (reale oder ideelle) G e g e n s t ä n d e bezeichnen können. Brentano und seine Anhänger freilich scheinen anderer Ansicht zu sein. Nach ihnen kann jedes beliebige Gegenständliche geurteilt, d.h. »anerkannt« oder »verworfen« werden, ein Baum oder ein Ton oder dgl. Hier zeigt es sich, wie notwendig jene begrifflichen Sonderungen waren, welche wir im Beginne dieser Darlegungen vorgenommen haben. Solange man mit einem so vieldeutigen Terminus wie dem des Anerkennens operiert, ist es möglich, ihn beliebigem Gegenständlichem zuzuordnen. Es gibt ja in der Tat einen Sinn des Anerkennens oder Billigen», in dem es sich wertend oder zustimmend auf Gegenstände, auf Handlungen oder Sätze z.B., beziehen kann. Scheiden wir aber alle fremden Bedeutungen aus und heben das heraus, was wirklich als echtes Urteilen in Anspruch zu nehmen ist, die Überzeugung und das Behaupten, so wird sich niemand der Erkenntnis verschließen, daß diese intentionalen Gebilde ihrem Wesen nach niemals auf Gegenstände wie Farben oder Dinge oder Erlebnisse u. dgl. sich beziehen können. So stehen denn auch Brentano und seine Anhänger in dieser Hinsicht ziemlich allein. Herrschend in der Logik ist seit Aristoteles die Ansicht, daß Gegenstandsb e z i e h u n g e n im Urteile gesetzt werden. Und in der Tat liegt es ja sehr nahe: Wenn G e g e n s t ä n d e nicht geurteilt werden können, so scheinen nur R e l a t i o n e n von Gegenständen als Urteilskorrelate übrig zu bleiben. So verbreitet nun auch diese Ansicht ist, einer näheren Prüfung hält sie keineswegs stand. Wir brauchen dazu nicht in eine eigene Relationsuntersuchung einzutreten; es zeigt uns das schon eine kurze Erwägung. Nehmen wir Relationen wie die der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, des Links oder Rechts, so gibt es allerdings Urteile, in denen solche Relationen geglaubt bzw. behauptet zu werden scheinen; »A ist B ähnlich« oder »A ist links von B«. Daneben aber gibt es einen und gerade den häufigsten Typus von Urteilen, bei denen wir eine solche Relation auf der gegenständlichen Seite durchaus nicht finden können, so die Urteile der Form: »A ist b«.

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Nehmen wir als Beispiel das Urteil: »die Rose ist rot«. Hier müßte nach der traditionellen Lehre eine Relation zwischen der Rose und dem Rot geurteilt sein, offenbar aber ist das gar nicht der Fall. Natürlich gibt es solche Relationen, und sie können auch in Urteilen auftreten: »Die Rose subsistiert dem Rot«; »das Rot ist der Rose inhärent«. Hier haben wir die eigenartigen, konversen Relationen der dinglichen Subsistenz und Inhärenz. S i e werden aber in dem Urteil »die Rose ist rot« sicherlich nicht gesetzt. Man darf sich nicht täuschen lassen durch die nahe gegenseitige Verwandtschaft unserer drei Urteile. Gewiß liegt ihnen allen derselbe sachliche Tatbestand zugrunde, aber sie fassen diesen Tatbestand in verschiedener Weise und nach verschiedener Richtung auf. Daß bei der Existenz des zugrunde liegenden Tatbestandes alle drei verschiedenen Urteile möglich sind, ändert nichts an ihrer Verschiedenheit. Wie die Urteile »A ist links von B« und »B ist rechts von A« verschieden sind, wenngleich ihnen ein genau identischer Tatbestand zugrunde liegt, so die Urteile »die Rose subsistiert dem Rot« und »das Rot inhäriert der Rose«. Und beide wiederum sind bedeutungsverschieden von dem auf denselben Tatbestand gegründeten Urteil: »die Rose ist rot«. Nur in den beiden ersten Urteilen finden sich Relationen auf der gegenständlichen Seite; das dritte Urteil weist bei vorurteilsloser Betrachtung nichts von einer Relation auf.20 Wie aber läßt sich nun das gegenständliche Korrelat dieses Urteils, das

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Man könnte versuchen, sich statt an die Relationen der (dinglichen) Subsistenz und Inhärenz an die allgemeinere Relation der (dinglichen) Zugehörigkeit zu halten und sie unserem Urteil zuzuordnen. So meint Marbe (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band 34, S. 5), das Urteil »die Rose ist rot« beziehe sich auf die Zugehörigkeit von Rose und Rot. Aber wiederum müssen wir einwenden, daß die Urteile »die Rose ist dem Rot zugehörig« und »die Rose ist rot« bedeutungsv e r s c h i e d e n sind. So ist das erste umkehrbar (»das Rot ist der Rose zugehörig«), das zweite nicht. Mag man auch solche Bedeutungsunterschiede als u n e r h e b l i c h bezeichnen, so macht doch diese Unerheblichkeit aus der Bedeutungsv e r s c h i e d e n h e i t keine Bedeutungsi d e n t i t ä t . Wir sind der sicheren Überzeugung, daß man derartige Bedeutungsverschiebungen, so unerheblich sie in anderen Problemzusammenhänge tatsächlich sein mögen, auf das genaueste beachten muß, wenn die Fragen, die wir hier behandeln, einer Lösung zugeführt werden sollen.

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»rot-sein der Rose« – welches wir als Beispiel für die Form »b-sein des A« einsetzen können –, näher bestimmen? Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß wir das Rotsein der Rose scharf unterscheiden müssen von der roten Rose selbst. Die Aussagen, die von dem einen gelten, gelten nicht von dem anderen. Die rote Rose steht im Garten, sie kann welken; das Rotsein der Rose steht weder im Garten, noch hat es Sinn, von seinem Verwelken zu reden. Man ist sehr geneigt, hier von bloß sprachlichen Argumentationen zu reden und den Vorwurf zu erheben, Eigentümlichkeiten der Sprache seien verwechselt mit Eigentümlichkeiten der Sachen. Es liegt uns sehr ferne, solche Verwechslungen, wo sie wirklich vorliegen, zu verteidigen. Immerhin sollte man mit solchen Vorwürfen etwas vorsichtiger sein, man sollte sie insbesondere niemals erheben, bevor man sich überlegt hat, was »bloße Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauches« eigentlich sind. Kant spricht davon, daß er irgendein Problem »vor« unberechtigt halte, heute verbietet uns das der Sprachgebrauch. Nehmen wir an, jemand handle diesem oder anderen Geboten des Sprachgebrauches zuwider. Dann würde man ihm allenfalls vorwerfen, daß er sich sprachungebräuchlich ausdrücke, niemals aber würde das, was er sagt, um des ungebräuchlichen Ausdruckes willen falsch seih, wenn es sonst richtig ist, oder richtig, wenn es sonst falsch ist. Die Bedeutung der Sätze wird ja durch den Ausdruck nicht berührt, es handelt sich hier wirklich nur um einen »bloßen Unterschied der Worte«. Ganz anders liegt die Sache, wenn wir die Urteile »die rote Rose steht im Garten« und »das Rot-sein der Rose steht im Garten« einander gegenüberstellen. Um »sprachliche« Unterschiede handelt es sich da wirklich nicht. Das erste Urteil ist wahr, das zweite ist falsch, ist sogar unsinnig. Das Rotsein einer Rose kann a l s s o l c h e s nicht im Garten stehen, genauso wie etwa mathematische Formeln als solche nicht wohlriechend sein können. Damit ist aber gesagt, daß das Rotsein der Rose so gut wie eine mathematische Formel etwas ist, das seine Forderungen und Verbote stellt, von dem Urteile gelten und nicht gelten. Will man da wirklich mit Unterschieden des Sprachgebrauches kommen, will man wirklich sagen, zwischen dem Rotsein der Rose und der roten Rose bestehe ein »bloßer Unterschied von Worten«; es sei nur »sprachungebräuchlich« zu sagen, das Rotsein der Rose stehe im Garten? Was soll denn das für ein merkwürdiger Sprachgebrauch sein, der einen Ausdruck wie das Rotsein der Rose

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allgemein zuläßt und ihn nur dann verbietet, wenn er als Subjekt gewisser Urteile auftritt? Und vor allem: wie kann die Verletzung des Sprachgebrauches ein sonst richtiges Urteil zu einem falschen oder gar unsinnigen machen? Es bedarf hier wirklich keiner weiteren Argumentationen mehr, soviele auch zu Gebote stehen mögen: Der Satz »die rote Rose steht im Garten« ist richtig, der Satz »das Rotsein der Rose steht im Garten« ist falsch, mag er nun in deutscher, französischer oder chinesischer Sprache ausgedrückt sein. Damit ist aber bewiesen, daß die Subjektsgegenständlichkeiten in den beiden sonst gleichen Urteilen verschieden sein müssen, m. a. W., daß die rote Rose etwas anderes ist als das Rotsein der Rose. Im Grunde finden wir darin nur eine Bestätigung für das, was wir früher bereits festgestellt haben: Da Dinge niemals behauptet oder geglaubt werden können, und da andererseits im Urteil »die Rose ist rot« das Rotsein der Rose als gegenständliches Korrelat fungiert, so muß dieses Korrelat etwas anderes sein als die rote Rose selbst, dieses Ding der Außenwelt. Wir wollen es künftig als einen S a c h v e r h a l t bezeichnen. Dieser Name hat sich uns bisher schon ganz ungezwungen eingestellt; er ist auch in der Tat am besten geeignet, für gegenständliche Gebilde der Form »b-sein des A« verwendet zu werden.21 So haben wir also von den 21

Bezüglich dieses Begriffes hat sich eine Kontroverse entsponnen; Literaturangaben finden sich bei Meinong (Über Annahmen2, S. 98ff.). In der Abhandlung über »Erscheinungen und psychische Funktionen« bemerkt Stumpf, Brentano habe bereits vor drei Dezennien in logischen Vorlesungen scharf hervorgehoben, daß dem Urteil ein spezifischer Urteilsinhalt entspreche, der vom Vorstellungsinhalt (der Materie) zu scheiden sei und sprachlich in »Daß-Sätzen« oder in substantivierten Infinitiven ausgedrückt werde. Stumpf selbst gebraucht, wie er mitteilt, für diesen spezifischen Urteilsinhalt den Ausdruck Sachverhalt in seinen Vorlesungen bereits seit 1888. Es ist uns nicht bekannt, wie Brentano und Stumpf den Begriff des Urteilsinhaltes bzw. Sachverhaltes näher ausgestalten. Der Begriff des Urteilsinhaltes, so wie er sich bei Marty (vgl. bes. Untersuchungen zur Grundlegung usw.) findet, weicht von dem des Sachverhaltes in u n s e r e m Sinne in allen wesentlichen Punkten ab. Wir knüpfen hier an Husserls Logische Untersuchungen an, in welchen die Eigenart und Bedeutsamkeit des Sachverhaltsbegriffes zum ersten Male in der Literatur klar und nachdrücklich hervortritt. Unsere Bestimmungen decken sich teilweise mit denen, welche Meinong und seine Schüler dem Objektivbegriffe geben; zum anderen Teile finden sich erhebliche Abweichungen. Der fundamentalste Einwand, den man gegen Meinong erheben muß, scheint mir der zu sein, daß

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Gegenständen in einem engeren Sinne, seien sie nun realer Natur, wie Dinge, Töne, Erlebnisse, oder ideeller Natur, wie Zahlen oder Sätze oder Begriffe, als eine Gegenständlichkeit ganz anderer Natur die Sachverhalte zu unterscheiden. Wir kennen bisher nur eine Eigentümlichkeit der Sachverhalte: sie sind im Gegensatz zu den Gegenständen dasjenige, was im Urteil geglaubt bzw. behauptet wird.22 Wir wollen dem noch ein paar weitere Bestimmungen hinzufügen. Der Unterschied zwischen der Beziehung von Grund und Folge und der zwischen Ursache und Wirkung ist heute Gemeingut in der Philosophie geworden. Es ist aber zu beachten, daß es sich hier nicht nur um einen Unterschied der beiderseitigen Relationen handelt, sondern daß auch eine prinzipielle Verschiedenheit der Glieder besteht, welche in den Relationen stehen. Die Bewegung einer Kugel ist Ursache der Bewegung der zweiten; hier fungiert ein dingliches Geschehen als Ursache eines anderen. Dagegen können Dinge, dingliche Vorgänge oder Zustände niemals in der Eigenschaft von Grund und Folge auftreten. Man kann sogar ganz allgemein sagen: Gegenstände überhaupt können niemals Grund und Folge sein. Ein Ding oder ein Erlebnis oder eine Zahl etwa kann unmöglich etwas begründen, aus ihm kann nichts folgen. Allenfalls kann die Existenz eines Dinges oder Erlebnisses als Grund fungieren. Die Existenz eines Gegenstandes ist aber offenbar selbst kein Gegenstand, sondern ein Sachverhalt. Stets sind Sachverhalte und können n u r Sachverhalte Grund und Folge sein. Daß etwas so oder so sich »verhält«, ist Grund für einen

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sein Objektivbegriff die durchaus verschiedenen Begriffe von Satz (im logischen Sinne) und Sachverhalt ungeschieden enthält. Es genügt nicht, wie Meinong es tut, den Satz als ein »erfaßtes, womöglich sogar ausgesprochenes, mindestens sozusagen in Worten formuliert vorliegendes Objektiv« zu bezeichnen (a. a. O., S. 100). Indessen müssen wir zur Begründung dieser These auf spätere Ausführungen verweisen. Im folgenden beschränken wir uns darauf, die Stellen kurz zu bezeichnen, an denen wir mit Husserls oder Meinongs Ausführungen in übereinstimmendem oder abweichendem Sinne zusammentreffen. Ebenso, allerdings ohne innerhalb des Urteils die Überzeugung und die Behauptung zu unterscheiden, Husserl (a. a. O., [Bd.] I, S. 12; [Bd.] II, S. 48, S. 378, S. 416f. usw.) und Meinong (Über Annahmen2, S. 44, 46 usw.).

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anderen Sachverhalt, der daraus folgt; daraus daß alle Menschen sterblich sind, folgt die Sterblichkeit des Menschen Caius. So gewinnen wir als eine weitere Bestimmung der Sachverhalte, daß sie und ausschließlich sie in der Beziehung von Grund und Folge stehen.23 Alles, was uns in der Wissenschaft oder im täglichen Leben als Begründungszusammenhang entgegentritt, ist ein Zusammenhang von Sachverhalten. Das gilt auch für die Zusammenhänge, welche man unter dem Namen der Schlußgesetze zusammenzufassen pflegt: Sie sind, richtig aufgefaßt, nichts anderes als allgemeine gesetzmäßige Beziehungen von Sachverhalten. Die fundamentalen Folgen, welche aus dieser Einsicht für den Aufbau der Logik erwachsen, liegen auf der Hand. In diesem Zusammenhang geht unser Interesse nach einer anderen Richtung.24 Die verschiedenartigen Schlußgesetze, welche die traditionelle Logik herauszuheben pflegt, müssen, wenn die Schlußgesetze als Sachverhaltszusammenhänge aufzufassen sind, in der Verschiedenartigkeit der Sachverhalte ihren Grund haben. Nach zwei Seiten wollen wir solche Verschiedenartigkeiten betrachten. Sachverhalte können sich zunächst unterscheiden nach der Modalität. Neben dem schlichten Sachverhalt bsein des A gibt es ein wahrscheinlich b-sein des A, ein möglicherweise bsein des A usw. Wir können hier auf die eigentümliche Natur dieser Modalitätsunterschiede nicht eingehen. Das für uns Wichtige ist, daß es wiederum Sachverhalte und nur Sachverhalte sind, welche solche Modalitäten annehmen können.25 Ein G e g e n s t a n d kann schlechterdings nicht wahrscheinlich sein, eine solche Prädikation hätte bei ihm keinen Sinn, und wo man trotzdem von einer solchen Wahrscheinlichkeit, etwa einer Wahrscheinlichkeit von Dingen, redet, so ist das nichts als ein inadäquater Ausdruck. Man hat die Wahrscheinlichkeit der E x i s t e n z von Dingen oder der E x i s t e n z gewisser dinglicher Vorkommnisse im Auge, d.h. aber nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit von Sachverhalten. Ein wahrscheinlicher Baum dagegen oder eine unwahrscheinliche Zahl sind evidentermaßen unmöglich, und zwar nicht, weil es sich gerade um einen Baum oder eine Zahl handelt, sondern weil die Gegenstandsform als solche 23

24 25

Vgl. Meinong, a. a. 0., S. 21 Anm. 6, S. 216 usw.; vgl. auch bereits Husserl, a. a. 0., [Bd.] I, S.242, [Bd.] II, S. 36f. usw. Vgl. weiter unten S. 251 [der Orig.-pag.]. Vgl. Meinong, a. a. O., S. 80ff.; auch schon Husserl, a. a. O., [Bd.] I, S. 13f., S. 16.

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Modalitäten ausschließt, wogegen die Sachverhaltsform ganz allgemein und wesentlich sie zuläßt. Nach einer anderen Richtung hin unterscheiden sich. die Sachverhalte in positive und kontradiktorisch-negative. Auch das ist ein Unterschied, wie wir ihn in der Welt der Gegenstände niemals antreffen können. Neben dem b-sein des A gibt es ein nicht-b-sein des A. Beide Sachverhalte sind einander kontradiktorisch; der Bestand des einen schließt den Bestand des anderen aus. Dagegen gibt es neben dem Ton c keinen Ton nicht-c und neben einem Rot kein negatives Rot. Allerdings redet man von negativen Stellungnahmen. Aber positive und negative Stellungnahme, Liebe und Haß z.B., sind einander zwar entgegengesetzt, jedoch nicht kontradiktorisch-widersprechend. Nur wenn dasselbe Subjekt derselben Sache gegenüber entgegengesetzte Stellungnahmen vollzieht, können wir von einer inneren Uneinstimmigkeit oder einem »sich Widersprechen« dieses Subjekts reden. Hier ist aber von Widerspruch in einem offensichtlich anderen Sinne die Rede. Das uns hier interessierende Verhältnis logischkontradiktorischer Positivität und Negativität gibt es allein in der Sphäre der Sachverhalte.26 Positiver und negativer Sachverhalt sind einander durchaus koordiniert. Existiert irgendwo eine rote Rose, dann sind mit der Existenz dieses Dinges beliebig viele – positive und negative – Sachverhalte gegeben. Die rote Rose existiert, die Rose ist rot, das Rot inhäriert der Rose; die Rose ist nicht weiß, nicht gelb usw. Die rote Rose, dieser dingliche Einheitskomplex ist der allen diesen Sachverhalten zugrunde liegende Tatbestand. Bei ihm reden wir von Existenz, bei den auf ihm basierten Sachverhalten besser von Bestand.27 E s i s t z u b e a c h t e n , d a ß i m 26

27

Von »kontradiktorischen Sachverhalten« bzw. »kontradiktorisch entgegengesetzten Objektiven« reden auch Husserl (a. a. O., [Ed.] I, S.91, 92) und Meinong (a. a. O., S. 93). Ebenso Husserl in terminologischer Fixierung a. a. O., [Bd.] II, S. 598. Auch Meinong redet bei seinen Objektiven von einem Bestände, aber auch bei G e g e n s t ä n d e n , wie Zahlen, Gestalten usw., bei welchen wir von einer, wenn auch ideellen E x i s t e n z sprechen würden (a. a. O., S. 63, 74). Daß Meinong unter bestimmten Voraussetzungen auch von Wahrheit und Falschheit von Objektiven reden will, erklärt sich aus seiner schon berührten Konfundierung von Sachverhalt und Satz. Sachverhalte bestehen oder bestehen nicht. Sätze sind wahr oder falsch.

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Begriffe des Sachverhaltes sein Bestand keineswegs als w e s e n t l i c h e s M o m e n t e i n g e s c h l o s s e n l i e g t . Genauso wie wir die (realen oder ideellen) Gegenstände von ihrer (realen oder ideellen) Existenz trennen und ohne weiteres anerkennen, daß gewisse Gegenstände, wie goldene Berge oder runde Vierecke, nicht existieren oder sogar überhaupt nicht existieren können, so trennen wir auch die Sachverhalte von ihrem Bestand und reden von Sachverhalten, wie dem golden-sein von Bergen oder dem rund-sein von Vierekken, die nicht bestehen oder nicht bestehen können.28 Insofern liegt eine weitgehende Analogie zwischen Gegenstand und Sachverhalt vor; dann aber tritt sofort eine fundamentale Verschiedenheit hinzu: wo ein Sachverhalt nicht besteht, da besteht notwendig sein kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalt. Für nichtexistierende G e g e n s t ä n d e dagegen gibt es entsprechende gegenständliche Existenzen nicht. Das Verhältnis kontradiktorischer Positivität und Negativität mit allem, was in ihm gesetzmäßig gegründet ist, hat eben nur im Gebiet der Sachverhalte seine Stelle. Bis jetzt gelten uns die Sachverhalte als das, was im Urteil geglaubt und behauptet wird, was im Zusammenhang von Grund und Folge steht, was Modalitäten besitzt und was im Verhältnisse kontradiktorischer Positivität und Negativität steht. Diese Bestimmungen reichen insofern aus, als jedes Gebilde, für welches sie zutreffen, notwendig einen Sachverhalt darstellt. Schulgemäße Definitionen des Sachverhaltes sind sie freilich nicht, aber es fragt sich, ob Definitionen für solche letzte gegenständliche Gebilde,29 wie Sachverhalt, Ding oder Vorgang, überhaupt möglich sind, und was sie,

28

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Husserl hat die Bezeichnungen wahr und falsch, die er im ersten Bande seines Werkes noch mitunter auf Sachverhalte angewandt hat, im zweiten fallen lassen, nachdem sich die Scheidung zwischen Satz und Sachverhalt bei ihm durchgesetzt hat. Aber auch der Ausdruck »Gültigkeit«, dessen er sich dort noch bedient, würde besser vermieden, da er ebenfalls im Gebiet der Sätze seine eigentliche Stelle hat. Volle Klarheit über die Termini Wahrheit, Bestand und Sein bringt erst S. 597f. Daß wir in der gewöhnlichen Rede unter Sachverhalt nur »tatsächliche Objektive«, d.h. b e s t e h e n d e Sachverhalte zu verstehen pflegen (Meinong, a. a. O., S. 101), scheint mir kein hinreichender Grund zu sein gegen die Beibehaltung eines Terminus, der, wie Meinong selbst ausführt, den Vorzug hat, »eine lebendige Bedeutung mitzubringen«. (»Über Urteilsgefühle« usw., Archiv für die gesamte Psychologie, 6. Band, S. 33.) Unter »gegenständlichen Gebilden« und »Gegenständlichkeiten« verstehen wir in dieser Abhandlung sowohl Gegenstände als Sachverhalte.

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falls sie möglich wären, zu leisten vermöchten. Das, was uns in solchen Problemzusammenhängen einzig zu fördern vermag, ist, daß wir solche Gebilde aus der Sphäre bloßen Meinens oder inadäquaten Vorstellens heraus uns so nah als möglich rücken. Das führt uns auf die Frage, wie eigentlich Sachverhalte uns zur Gegebenheit kommen. Zunächst ergeben sich hier ja offenbar eigentümliche Schwierigkeiten. Nehmen wir unser Beispiel von dem Rotsein der Rose. Ich sage doch, und jedermann sagt es ebenso, daß ich das Rotsein der Rose »sehe«, und ich meine damit – nicht etwa, daß ich die Rose oder das Rot sehe, sondern ich meine das von der roten Rose evident Verschiedene, welches wir als den Sachverhalt bezeichnen. Aber hier stellen sich uns Bedenken entgegen, sobald wir versuchen, uns von der Berechtigung dieser Redeweise zu überzeugen. Ich sehe vor mir die Rose, ich sehe auch das Rotmoment, welches an ihr sich befindet. Aber damit scheint doch erschöpft zu sein, was ich sehe. Ich mag meine Augen noch so scharf anstrengen, ein Rotsein der Rose kann ich auf diese Weise nicht entdecken.30 Und noch weniger kann ich negative Sachverhalte sehen, das nicht-weiß-sein der Rose oder dgl. Und doch meine ich etwas ganz Bestimmtes, wenn ich sage, »ich sehe, daß die Rose rot ist« oder »ich sehe, daß sie nicht weiß ist«. Das ist ja keine leere Redensart, sondern stützt sich auf Erlebnisse, in denen uns solche Sachverhalte wirklich gegeben sind. Allerdings müssen sie in anderer Weise gegeben sein als die Rose und ihr Rot. So ist es in der Tat. Indem ich die rote Rose sehe, »erschaue« ich ihr Rotsein, wird es von mir »erkannt«. G e g e n s t ä n d e werden gesehen oder geschaut, S a c h v e r h a l t e dagegen werden erschaut oder erkannt. Man darf sich nicht beirren lassen durch die Redeweise, welche auch Gegenstände erkannt sein läßt, etwa »als« Menschen oder Tiere. Hier hegt eine leicht zu durchschauende Äquivokation zugrunde. Dieses Erkennen im Sinne der begrifflichen Fassung ist etwas ganz anderes als das Erkennen im Sinne des Sachverhalts-Erschauens. Auch in den angeführten Fällen werden keineswegs die Gegenstände in unserem Sinne erkannt, sondern allenfalls das Menschsein oder Tiersein dieser Gegenstände. Diese Erwägungen gestatten ohne weiteres eine Verallgemeinerung auf alle Urteile, die auf Grund sinnlicher Wahrnehmung gefällt werden. Ob 30

Vgl. dazu Husserl, a. a. O., [Bd.] II, S. 416. Ferner S. 609.

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hier von Sichtbarem, Hörbarem oder Riechbarem die Rede ist, die entsprechenden Sachverhalte werden nicht gesehen oder gehört oder gerochen, sondern sie werden erkannt. Aber auf diese Sphäre von Urteilen brauchen wir uns keineswegs zu beschränken. Nehmen wir ein beliebiges anderes Urteil, etwa »2×2 = 4«, so müssen wir auch hier unterscheiden, wie uns die im Urteil vorkommenden Gegenstände, die 2 und die 4 etwa, gegeben sind, und die Art und Weise, wie uns der ganze Sachverhalt gegeben ist. Zahlen werden sicherlich nicht sinnlich wahrgenommen, aber es ist darum doch voreilig, ihnen jede wahrnehmungsmäßige oder, um einen sachgemäßeren Ausdruck zu wählen, jede anschauliche Gegebenheit abzustreiten. Auch Zahlen können uns ja vorstellig werden. Ich kann mir an zwei beliebigen einzelnen Gegenständen klar machen, was die Zahl zwei ist; ich blicke dann auf die Zweiergruppe hin, aber meine Intention gilt letztlich nicht ihr selbst, vielmehr bringe ich mir an ihr die Zwei zur anschaulichen Gegebenheit. Wir können diese sehr wichtigen Fälle anschaulichen Vorstellens ideeller Gegenstände hier nicht näher untersuchen. Husserl hat sie eingehend besprochen und bei ihnen von einer »kategorialen Anschauung« geredet.31 Wie von der sinnlichen, so müssen wir auch von der kategorialen Vorstellung von Gegenständen das echte Erkennen von Sachverhalten unterscheiden. Es ist ja ohne weiteres klar: Die Art, wie uns die Zwei und die Vier gegeben sind, ist eine ganz andere als die, in der wir das Gleichsein von 2×2 und 4 erfassen. Den Sachverhalt erkennen wir; die Zahlen werden geschaut, können aber ihrer Natur nach niemals erkannt werden. Wir können ganz allgemein sagen: Das Gegenständliche, welches die Elemente der Sachverhalte bildet, wird wahrgenommen, wird gesehen, gehört oder kategorial erfaßt. Und auf Grund dieser »Vorstellungen« werden die Sachverhalte selbst in eigentümlichen neuen Akten erkannt. Die dem Erkennen zugrunde liegenden Vorstellungen sind verschieden je nach der Art des betr. Gegenständlichen. Das auf ihnen aufgebaute Erkennen der Sachverhalte aber läßt eine Differenzierung dieser Art nicht zu. So haben wir eine weitere Bestimmung für Sachverhalte gewonnen: sie und nur sie werden erkannt in dem eigentümlichen, von uns erörterten Sinne. Es soll damit nicht gesagt sein, daß ein Sachverhalt uns nicht anders 31

A. a. O., [Bd.] II, S. 600ff.

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vorstellig werden könne als da, wo ein Akt des Erkennens vorliegt. Wir wollen im Gegenteil noch besonders hervorheben, daß es ein bloßes Vergegenwärtigen von Sachverhalten gibt, welches von keinem Erkennen begleitet ist. Ich kann mir aus der Erinnerung das Rotsein der Rose vergegenwärtigen, ohne daß ich die Rose selbst wahrnehme. Wie das Erkennen des Sachverhaltes sich gründet auf eine echte Wahrnehmung des Dinges, so gründet sich diese Vergegenwärtigung des Sachverhaltes auf eine bloße Vergegenwärtigung desselben Dinges. In der Vergegenwärtigung des Dinges an sich habe ich noch nicht die des Sachverhaltes. Wir haben ja gelernt, Dinge und Sachverhalte durchaus zu scheiden, und wir wissen, daß zu demselben Dingtatbestand eine ganze Fülle bestehender Sachverhalte gehört. Auf Grund der Vergegenwärtigung desselben Dinges kann ich mir das Rotsein einer Rose, das nicht-gelb-sein derselben Rose usw. vergegenwärtigen.32 Es handelt sich offenbar wieder um das, was Husserl eine kategoriale Anschauung nennt, d.h. um eine anschauliche Vorstellung, die selbst keine sinnliche ist, wohl aber in einer sinnlichen letztlich ihre Fundierung findet. Daß die Sachverhaltsvergegenwärtigung kein Erkennen ist, ist unmittelbar evident. Sie spielt indessen doch in erkenntnistheoretischer Beziehung eine wichtige Rolle, insofern es ihr häufig zukommt, das Satz-»Verständnis« und damit in vielen Fällen die Sachverhaltserkenntnis zu vermitteln. Wir können diese Zusammenhänge hier nicht weiter verfolgen; uns kommt es nur darauf an, den Akt des Erkennens von allen anderen Akten, in denen wir uns auf Sachverhalte intentional beziehen, zu trennen.33 Erkennen ist nicht das Vergegenwärtigen, es ist aber selbstverständlich auch nicht das Behaupten eines Sachverhaltes. Dem Erkennen ist es ja wesentlich, daß in ihm der korrekte Sachverhalt für uns da ist im 32

33

Ob es neben der Sachverhaltsv e r g e g e n w ä r t i g u n g auch die W a h r n e h m u n g eines bestehenden Sachverhaltes gibt, ohne daß zugleich ein Erkennen vorliegt, ist eine Frage, deren Erörterung hier zu weit führen würde, die aber wohl zu bejahen ist. Wir können nach dem obigen Meinong keineswegs darin zustimmen, daß »Objektive« nur durch Urteile und Annahmen »erfaßt« werden können (Über Annahmen, S. 131ff.). Es gibt vielmehr ein (kategorial) Vergegenwärtigen, ein Meinen, ein Erkennen und noch eine Reihe anderer Akte, welche sich auf Sachverhalte »erfassend« beziehen.

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prägnanten Sinne, im Behaupten dagegen ist er bloß vermeint. Das Erkennen ist sehend, das Behaupten als solches ist blind. Die deskriptive Verschiedenheit beider Akte ist zu unmittelbar deutlich, als daß wir näher darauf einzugehen brauchten. Näher liegen könnte vielleicht auf den ersten Blick eine Verwechslung des Erkennens mit der Überzeugung. Auch bei der Überzeugung, soweit sie für uns in Betracht kommt, ist ja der geglaubte Sachverhalt vorstellig. Aber gerade die letzten Erwägungen, welche wir angestellt haben, zeigen uns deutlich die absolute Unterschiedenheit der beiden. Nehmen wir an, ich vergegenwärtige mir das Rotsein einer Rose, das ich früher einmal erkannt habe. Ich bin von ihm genauso wie früher überzeugt; hier ist die Überzeugung von einem vorstellig gemachten Sachverhalte vorhanden, aber ein Erkennen liegt jetzt gewiß nicht vor. Aber auch da, wo Erkennen und Überzeugung nebeneinander vorhanden sind, ist ihre Verschiedenheit unverkennbar. Ich erkenne das Rotsein der Rose; in der Erkenntnis präsentiert sich mir der Sachverhalt, und auf Grund der Erkenntnis erwächst in mir die Überzeugung, der Glaube an ihn. Die Überzeugung ist in diesem Falle in der Erkenntnis fundiert; sie ist meine Stellungnahme zu dem — meine Quittung sozusagen ü b e r das, was mir die Erkenntnis darbietet. Über die deskriptive Verschiedenheit der beiden klärt im übrigen schon die Beobachtung auf, daß die Gewißheitsabstufungen, welche von der Überzeugung zu dem Zweifel führen, bei dem Erkennen überhaupt keine Stelle haben, und daß ferner das Erkennen, genauso wie das Behaupten, im Gegensatze zu der zuständlichen Überzeugung durchaus punktueller Natur ist. Behauptung und Überzeugung tragen den Namen des Urteils. Wir sehen jetzt, daß wir Urteilen und Erkennen auf das schärfste voneinander scheiden müssen.34 Und wir sehen ferner, daß die einem vorgestellten Sachverhalte gegenüber erwachsende Überzeugung, welche wir früher als 34

Es ist demnach nicht zulässig, wenn Meinong das Erkennen als ein seiner Natur nach wahres Urteil bestimmt (Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, S. 18). Eine sich auf einem Akte des Erkennens aufbauende »wahre« Überzeugung ist selbst kein Erkennen. Und andererseits muß nicht jedes Erkennen ein »wahres« sein. Wenn ich von weitem das Herannahen eines Radfahrers erschaue, so liegt, rein deskriptiv gesprochen, ein Erkennen vor, auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht um einen Radfahrer, sondern um eine Kuh handelt.

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einen Typus des Urteils von anders gearteten Überzeugungen abgeschieden haben, sich des näheren als eine im Erkennen von Sachverhalten fundierte Überzeugung charakterisiert. Daß der Sachverhalt dasjenige ist, was geglaubt und behauptet wird, war die erste, daß er das ist, was erkannt wird, ist die letzte Bestimmung, die wir ihm geben. Im Streite, ob beliebige Gegenständlichkeiten, oder ob nur Relationen geurteilt werden können, haben beide Parteien Unrecht. Man hat jenes dritte Gebilde verkannt – den Sachverhalt –, welches weder Gegenstand ist noch Relation, und welches wesensgesetzlich allein das intentionale Korrelat für Urteile abgeben kann. Man wird nun fragen, wie es denn mit Urteilen steht wie »A inhaliert dem B« oder »A ist dem B ähnlich«. Wenn auch zugegeben wird, daß in dem Urteil »A ist b« keine Relation geurteilt wird, so scheint es doch in diesen Fällen sich anders zu verhalten. Es ist nicht schwer, solche Zweifel zur Entscheidung zu bringen. Das ähnlichsein von A und B ist etwas, das behauptet, geglaubt, erkannt werden kann, das Modalitäten annehmen kann usw. Es ist also sicherlich ein Sachverhalt. Bezeichnet man es und andere Sachverhalte gleicher Form als Relationen, so ist zu sagen: Es gibt Sachverhalte, die Relationen sind, und andere, wie das b-sein eines A, welche es nicht sind. Demgemäß gehen auch die Urteile bald auf Relationen, bald auf Nichtrelationen; aber auch da, wo sie auf Relationen gehen, wird diese intentionale Beziehung dadurch, daß diese Relationen S a c h v e r h a l t e sind, und nicht dadurch, daß sie R e l a t i o n e n sind, vermittelt. Ein Wort ist hierzu allerdings noch zu sagen. Der Terminus Relation ist keineswegs eindeutig. Sowohl das links und rechts, oben und unten usw. wird so genannt als auch das links-sein, das oben- und unten-sein usw. Beides aber ist grundverschieden. Nur das zweite ist ein – allerdings ergänzungsbedürftiger – Sachverhalt; das erste verhält sich zu ihm wie das Rot zum Rotsein. Weder das Rot noch das links kann negiert werden oder Modalitäten annehmen, wohl aber das Rotsein und das Linkssein. Bei gewissen Relationen, wie der Ähnlichkeits- oder der Inhärenzrelation, wird dieser Unterschied verdeckt durch die zweideutigen Namen Ähnlichkeit und Inhärenz. Die Ähnlichkeit und Inhärenz können einmal bedeuten das ähnlich-sein und inhärent-sein (= inhärieren); in diesem Sinn reden wir davon, daß eine Ähnlichkeit von A und B behauptet oder geglaubt wird. Oder sie können das bedeuten, wodurch das »Sein« im Sachverhalte

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(welches selbstverständlich nicht mit seinem Bestand verwechselt werden darf35) zum Ähnlichsein oder Inhärentsein bestimmt wird, also das »ähnlich« oder »inhärent«. In diesem Sinne reden wir davon, daß A mit B Ähnlichkeit hat. Genauso wie wir den Satz »A ist rot« umwandeln können in den anderen »A hat Röte«, wobei Röte durchaus nicht Rotsein bedeutet, sondern nichts weiter ist als die Substantivierung von Rot, so können wir auch den Satz »A ist dem B ähnlich« umwandeln in den anderen »A hat mit B Ähnlichkeit«; und auch hier bedeutet Ähnlichkeit nicht ähnlich-sein – was sollte es auch heißen, daß das A ein Ähnlichsein habe –, sondern es ist die einfache Substantivierung des »ähnlich«. So sehen wir: Es gibt Relationen in zweierlei Sinne; nach dem einen sind die Relationen zugleich Sachverhalte, nach dem zweiten sind sie es niemals. Wir wollen hier unentschieden lassen, welcher Sinn dem Ausdruck zweckmäßiger zuzuordnen ist.36 Nur für unseren Gedankenzusammenhang wollen wir die Konsequenz ziehen: Nehmen wir Relation im zweiten Sinne, so können Relationen niemals geurteilt werden, da sie dann ja niemals Sachverhalte sind. Man könnte dann die Sachverhalte einteilen in solche, in denen Relationen als gegenständliche Elemente enthalten sind – wie das Ähnlichsein von A und B –, und solche, bei denen das nicht der Fall ist – wie das Rotsein einer Rose.37 35

36

37

So grundverschieden ist beides, daß die Bestimmung, welche Ameseder (»Beiträge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie« in den Untersuchungen zur Gegenstandstheorie usw., S. 54f.) und Meinong (Über Annahmen, S. 61) dem Objektiv geben: es sei etwas, was »Sein ist und Sein hat«, unserer Meinung nach nur Verwirrung stiften kann. Übrigens lassen sich auch nicht alle Sachverhalte ohne Künstlichkeit als ein »Sein« darstellen. Man denke an die Sachverhalte, welche den Urteilen »es wird getanzt« oder »mich friert« entsprechen. Ameseder, a. a. O., S.72 schlägt für die Relationen im zweiten Sinne die Bezeichnung »Relate« vor. Vgl. im übrigen Husserl, a. a. O., S. 609; Meinong, a. a. O., S.57f. Die Aufstellung Ameseders: »jedes positive Soseinsobjektiv ist eine Relation« (a. a. O., S. 75) ist demnach in keinem Sinne haltbar. Aber man muß noch einen Schritt weitergehen. Nicht nur, daß es »Soseinsobjektive« (Sachverhalte der Form b-sein des A) gibt, welche keine Relationen sind, es gibt auch Sachverhalte, die statt zwei oder drei gegenständlicher Glieder nur ein einziges aufzuweisen haben. Bei ihnen ist es auf den ersten Blick einleuchtend, daß von einer Relation keine Rede sein kann; zugleich zeigen sie, daß Meinongs Einteilung der Sachverhalte in solche der

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Wir haben nun die Mittel gewonnen, um unsere Ausgangsfrage zu beantworten. Wir gingen aus von der positiven Überzeugung, welche sich auf Negatives richtet, und sprachen von den Schwierigkeiten, die man hier gefunden hat. Diese Schwierigkeiten sind unvermeidlich für die traditionelle Auffassung, welche Relationen als intentionale Korrelate von Urteilen fungieren läßt. Diese Ansicht konnte sich so lange behaupten in der Sphäre des P o s i t i v e n , weil einerseits manche Sachverhalte in der Tat als Relationen betrachtet werden können, und andererseits bei den übrigen, wie etwa dem Rotsein einer Rose, die Umdeutung in eine Relation zwar irrig, aber doch mangels näherer Analyse möglich ist. Ganz anders bei dem Negativen; hier ist es ja gar zu deutlich, daß mit dem nicht-b-sein des A keine Relation zwischen A und b geurteilt wird. So ist es ganz verständlich, daß einsichtige Logiker bemüht waren, die Negation von der gegenständlichen Seite in die »Bewußtseinsseite« zu verlegen. Wir haben gesehen, daß dieser Versuch an der positiven Überzeugung von Negativem scheitert. Für uns ist es nun nicht schwer, dieser Sachlage gerecht zu werden. Das Negative, worauf sich die positive Überzeugung vom nicht-bsein eines A bezieht, ist allerdings weder ein Gegenstand noch eine Relation, sondern es ist ein negativer Sachverhalt. Die negativen Sachverhalte bestehen genau in demselben Sinne und genau mit derselben Objektivität wie die positiven Sachverhalte. Eine subjektivierende Umdeutung der Negativität ist hier weder notwendig noch möglich. Neben der negativen Überzeugung von positiven Sachverhalten steht nun in gleicher Berechtigung die positive Überzeugung von negativen Sachverhalten; beide können den Namen negatives Urteil tragen.38

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Form »A ist« und »A ist B« (a. a. O., S. 72) keine echte Disjunktion darstellt. Als Beispiele mögen dienen die Sachverhalte »wann-sein«, »glatt-sein« und dgl., die keineswegs in »Seinsobjektive« (Existenz der Wärme) oder gar in zweigliedrige »Soseinsobjektive« (Warmsein irgendeiner Sache) umgedeutet werden dürfen. Diese eingliedrigen Sachverhalte können geglaubt und behauptet werden. Wir erhalten auf diese Weise die Urteile »es ist warm« und »es ist glatt«. Von hier aus löst sich gleichsam mit einem Schlage die alte vielverhandelte Frage nach dem Wesen der impersonalen Urteile. Die Durchführung dieses Gedankens behalten wir einer späteren Arbeit vor. Eine Logik, welche den Unterschied zwischen Urteil und geurteiltem Sachverhalt konsequent durchführt, wird allerdings kaum mehr dazu neigen, die Urteile nach den Sachverhaltseigentümlichkeiten zu klassifizieren.

Zur Theorie des negativen Urteils

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Negative Überzeugung von positiven Sachverhalten und positive Überzeugung von negativen Sachverhalten sind nach den bisherigen Ausführungen der positiven Überzeugung von positiven Sachverhalten durchaus koordiniert. Blicken wir aber auf die Voraussetzungen, unter denen sie erwachsen, so zeigen sich bei beiden negativen Urteilen bemerkenswerte Eigentümlichkeiten gegenüber dem positiven. Wir haben diese Verhältnisse bisher nur gestreift; wir müssen sie jetzt etwas näher beleuchten. Positive Sachverhalte können, wie wir uns früher einmal ausgedrückt haben, »abgelesen« werden. Auf der sinnlichen Wahrnehmung eines Dinges z.B. baut sich das Erkennen eines ihm zugeordneten Sachverhaltes und die positive Überzeugung auf. In dieser Weise kann niemals ein negativer Sachverhalt abgelesen werden noch eine negative Überzeugung entspringen. Betrachten wir zunächst die negative Überzeugung. Sie hat, wie wir früher bereits ausgeführt haben, zur psychologischen Voraussetzung eine intellektuelle Stellungnahme zu dem Sachverhalt, auf den sie sich bezieht, mag diese Stellungnahme nun in einer positiven Überzeugung, einer Vermutung, einer Frage oder dgl. bestehen. Mit ihr treten wir an einen dem ersten Sachverhalt widerstreitenden Sachverbalt heran. Indem wir nun diesen erkennen und zugleich seinen Widerstreit mit dem ersten Sachverhalt erfassen, steht dieser erste Sachverhalt uns in einer ganz neuen Weise vor Augen, für die wir keinen passenden Ausdruck besitzen und aufweiche wir zunächst nur hinweisen können. Der z w e i t e Sachverhalt, welcher erkannt wird, steht uns in einer Weise gegenüber, die man als seine Evidenz charakterisieren kann: I m E r k e n n e n wird uns dieser Sachverhalt evident.39 Erfassen wir nun den Widerstreit, in dem der erste Sachverhalt mit ihm steht, so gewinnt dieser jenes eigentümliche Ansehen, welches wir am verständlichsten wohl als negative Evidenz bezeichnen können. Erst auf Grund dieser negativen Evidenz erwächst in uns die diesbezügliche negative Überzeugung. Denken wir ein Beispiel durch. Indem wir die uns umgebende Welt durchmustern, werden wir zwar zu der positiven Überzeugung kommen 39

Unter Evidenz verstehen wir hier nicht ausschließlich den idealen Fall absoluter Selbstgegebenheit, sondern jede Gegebenheit von Sachverhalten in erkennenden Akten.

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können, daß ein Gegenstand rot ist, aber nie zu der negativen, daß er nicht gelb ist. Für dies letztere ist Voraussetzung, daß ich den Sachverhalt in irgendeiner Weise, sei es fragend oder zweifelnd oder dgl., in Erwägung gezogen habe. Was geht nun vor, wenn wir aus dieser erwägenden Stellung zu einer abschließenden Überzeugung gelangen? Wir treten vor den Tatbestand in der existierenden Welt und erkennen, daß der Gegenstand rot ist. Indem dieser Sachverhalt uns dabei positiv evident ist; erfassen wir den Widerstreit, in welchem der in Erwägung gezogene Sachverhalt, das Gelbsein des Gegenstandes, zu ihm steht, und damit gewinnt dieser zugleich jenes eigentümliche Gesicht, welches wir, um eine Benennung dafür zu haben, als negative Evidenz bezeichnet haben. Jetzt erst erwächst uns der Unglaube an diesen Sachverhalt. Die negative Überzeugung steht also unter zwei Voraussetzungen: Es muß eine intellektuelle Stellungnahme zu dem zugehörigen Sachverhalte vorangehen; und es muß ferner das Erkennen eines widerstreitenden Sachverhaltes und das Erfassen dieses Widerstreites stattfinden. Mit dem Ersten ist die Einstellung bezeichnet, welche Voraussetzung des Zustandekommens des Urteils ist. Es ist von spezifisch psychologischem Interesse. Das Zweite ist dasjenige, aus dem die negative Überzeugung ihre Gewißheit und ihre Berechtigung schöpft. Es ist von spezifisch erkenntnistheoretischem Interesse; wir wollen es als das F u n d a m e n t des negativen Urteils bezeichnen. Wenden wir uns nun der positiven Überzeugung von negativen Sachverhalten zu. Auch sie steht unter ganz besonderen Voraussetzungen. Würden wir uns darauf beschränken, die Sachverhalte abzulesen, welche die Welt der realen und ideellen Gegenstände uns gibt, so würde uns niemals ein negativer Sachverhalt vorstellig werden. Gewisse intellektuelle Stellungnahmen sind auch hier Vorbedingungen. Ich muß dem negativen Sachverhalt als solchem mein Interesse zuwenden, ihn bezweifeln, in Frage stellen oder dgl., um ein Urteil über ihn zu gewinnen. Daß wir überhaupt zu dieser Stellungnahme kommen, ist verständlich, sobald einmal eine negative Überzeugung von einem positiven Sachverhalt vorhanden ist. Mit der positiven Überzeugung von einem negativen Sachverhalte ist diese ja so nah verwandt, daß psychologisch die eine sehr wohl an die Stelle der anderen treten kann.

Zur Theorie des negativen Urteils

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Viel wichtiger als diese psychologischen Vorbedingungen ist die Tatsache, daß auch hier der Überzeugung ein kompliziertes Fundament zugrunde liegt. Wie die negative Überzeugung vom positiven Sachverhalt, so setzt auch die positive vom negativen Sachverhalt das Erkennen eines anderen Sachverhaltes voraus. Die Überzeugung, daß 3 nicht kleiner ist als 2, kann nur erwachsen auf Grund des Erkennens, daß 3 größer ist als 2. Gerade hier läßt sich nun aber auch die Verschiedenheit dieses Falles von dem früheren deutlich bemerken. Früher wurde ein Sachverhalt erkannt, der mit dem geurteilten positiven in Widerstreit stehen mußte. Jetzt steht umgekehrt der geurteilte negative Sachverhalt – das nicht-kleiner-sein der 3 – mit dem erkannten Sachverhalte – dem größer-sein der 3 – in einem Verhältnis notwendiger Verknüpfung derart, daß mit dem Bestehen des einen unmittelbar auch das Bestehen des anderen verbunden ist. Dementsprechend ist der ganze Aufbau in unserem Falle ein anderer als früher. Indem wir die notwendige Verknüpfung des negativen Sachverhaltes mit dem erkannten positiven Sachverhalte erfassen, wird auch dieser negative Sachverhalt erkannt, und auf den erkannten bezieht sich nun die positive Überzeugung. Früher war der (positive) Sachverhalt, auf den sich die (negative) Überzeugung bezog, negativ evident, insofern er im Widerstreite stand zu dem anderen, positiv evidenten Sachverhalte. Jetzt ist der (negative) Sachverhalt, auf den sich die (positive) Überzeugung bezieht, positiv evident, da er ja in notwendiger Verknüpfung steht zu dem anderen, positiv evidenten Sachverhalte. Es gibt nun natürlich auch eine negative Überzeugung von einem negativen Sachverhalt, also ein in doppelter Hinsicht negatives Urteil. Psychologische V o r b e d i n g u n g ist hier eine intellektuelle Stellungnahme zu dem betr. negativen Sachverhalte. Dem F u n d a m e n t e nach liegt der negativen Überzeugung von ihm – wie in allen diesen Fällen – das Erkennen eines positiven Sachverhaltes zugrunde. Wie im ersten Falle, so muß auch hier dieser Sachverhalt dem geurteilten widerstreiten, aber es liegt hier ein besonders ausgezeichnetes Verhältnis des Widerstreites vor: die zwei Sachverhalte sind einander kontradiktorisch.40 40

Zu beachten ist, daß es sich bei diesen Ausführungen lediglich um u n m i t t e l b a r e s Erkennen und u n v e r m i t t e l t e Evidenz handelt. Bei negativen Urteilen, die auf Grund von Schlüssen gewonnen werden, liegen die Verhältnisse ganz anders.

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Selbstverständlich handelt es sich hier überall nicht um empirische Zufälligkeiten, sondern um apriorische Wesenszusammenhänge. Wir können einigen derselben folgende vorläufige Formulierung geben: Jede positive Überzeugung von einem positiven oder negativen Sachverhalt setzt erkenntnismäßig voraus deren positive Evidenz. Jede negative Überzeugung von einem positiven oder negativen Sachverhalt setzt voraus deren negative Evidenz. Die positive Evidenz eines negativen Sachverhaltes setzt voraus die positive Evidenz eines notwendig mit ihm verknüpften positiven Sachverhaltes. Die negative Evidenz eines positiven oder negativen Sachverhaltes setzt voraus die positive Evidenz eines widerstreitenden positiven Sachverhaltes, welcher, wenn es sich um die negative Evidenz eines negativen Sachverhaltes handelt, allemal kontradiktorisch-widerstreitend ist. Alle diese teilweise nicht einfachen Verhältnisse bedürfen noch näherer Untersuchung. III Den Unterschied von Überzeugung und Behauptung haben wir gesichert. Auf dem Erkennen von Sachverhalten baut sich die Überzeugung auf. Sie überdauert das Erkennen; sie kann sogar fortdauern, wenn der Sachverhalt gar nicht mehr gegenwärtig ist. Verschwindet sie, so hinterläßt sie das, was man als inaktuelles Wissen zu bezeichnen pflegt. Andererseits kann aber auch der Sachverhalt, dem die Überzeugung gilt, noch einmal in einem Akte des Behauptens gesetzt werden. Jeder Behauptung liegt, wie wir bereits gesehen haben, eine Überzeugung zugrunde. Diesen Satz können wir nun näher präzisieren. Die der Behauptung zugrunde liegende Überzeugung muß stets eine positive und kann niemals eine negative sein. Es liegt im Wesen des behauptenden Setzens, daß das in ihm Behauptete »geglaubt« wird; ist also in der Sphäre der Überzeugung ein »Unglaube« erwachsen, so muß er sich erst in einen Glauben an den kontradiktorischen Sachverhalt verwandeln, bevor eine Behauptung aus ihm entspringen kann. Wie bei der Überzeugung, so können auch bei der Behauptung nur Sachverhalte als gegenständliches Korrelat fungieren. Allerdings, diese

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Sachverhalte sind bei der Erkennensüberzeugung vorstellig,41 in der Behauptung dagegen bloß gemeint. Damit hängt noch eine andere wichtige Eigentümlichkeit zusammen. In der erkennenden Überzeugung steht der Sachverhalt simultan, in einem Schlage gleichsam mir gegenüber; wir haben keine Folge sukzessiv erfassender Akte, sondern einen einzigen Akt, in dem der Sachverhalt ergriffen wird. Ganz anders bei der Behauptung. Sage ich setzend: die Rose ist rot, so finden wir hier eine Reihe von Akten, in denen die Elemente des Sachverhaltes sukzessive gemeint sind. Nicht in einem Schlage ist der Sachverhalt gemeint, so wie er bei der erkennenden Überzeugung in einem Schlage gegenwärtig ist, sondern er baut sich in einer Reihe von Akten sukzessive auf, analog wie die Elemente einer Melodie sich aufbauen in sukzessiven Erlebnissen des Hörens. Freilich, diese Akte des Meinens stehen nicht beziehungslos nebeneinander – ebensowenig wie die Erlebnisse des Hörens bei der Melodie. Wie hier die Einheit der Elemente die vielen Erlebnisse vereinigt zu dem Gesamthören der Melodie, so vereinigt die Einheit der Elemente des Sachverhaltes die Akte des Meinens zu einem Gesamtmeinen des ganzen Sachverhaltes. Dieses Gesamtmeinen ist in unserem Falle durchwaltet von dem spezifischen Behauptungsmomente, so wie es in anderen Fällen durchwaltet sein kann von dem Spezifischen des Fragens. In diesem behauptenden Gesamtmeinen erhält der Sachverhalt, welcher in der erkennenden Überzeugung simultan vor uns stand, eigentümliche Formungen und Gliederungen seiner sich nun sukzessive aufbauenden Elemente. Eine Reihe von kategorialen Formen, welche man oft als »bloß grammatisch« bezeichnet, obwohl sie über die sprachliche Sphäre hinaus in das Gebiet des Logischen reichen, haben hier ihre Stelle. Eine weitere Verfolgung dieses Punktes würde uns jedoch hier zu weit führen.

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Handelt es sich um das Erkennen von »Relationen« (im Sinne von Relationssachverhalten), so braucht allerdings, wie Brunswig eingehend darlegt (Das Vergleichen und die Relationserkenntnis), das eine der in Relation stehenden Glieder keineswegs vorstellig zu sein. Es kann vielmehr in eigenartigen Erlebnissen, welche Brunswig als »Richtung auf« bezeichnet, und die weder ein Vorstellen noch ein Meinen in unserem Sinne sind, erfaßt werden.

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Wie bei der Überzeugung, so haben wir auch bei der Behauptung positives und negatives Urteil zu scheiden. Dem Urteil »A ist b« steht das andere »A ist nicht b« zur Seite. Die traditionelle logische Theorie pflegt hier dem Anerkennen ein Verwerfen, dem Behaupten ein Leugnen, dem Bejahen ein Verneinen entgegenzustellen, oder wie man sonst diesen angeblichen Gegensatz bezeichnen mag. Derselbe Sachverhalt wird danach in dem positiven Urteil behauptet oder bejaht, im negativen geleugnet oder verneint, ganz entsprechend wie in der anderen Urteilssphäre auf denselben Sachverhalt eine positive oder eine negative Überzeugung sich bezieht. So selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Auffassung nun keineswegs. Eine Schwierigkeit scheint man dabei vor allem übersehen zu haben. Positive und negative Überzeugung sind beide Ü b e r z e u g u n g , wenn auch Überzeugung mit entgegengesetztem Vorzeichen. Dies erlaubt es, sie beide als Urteil in eines zusammenzufassen. Was ist es aber, was Behaupten und Leugnen, Bejahen und Verneinen gemeinsam haben und was sie beide zum Urteile macht? Diese Frage ist offenbar nicht ohne weiteres zu beantworten. Positives und negatives Urteil weisen ja auch in der Behauptungssphäre sicherlich eine nahe deskriptive Verwandtschaft auf. Der Versuch Lotzes,42 eine Dreiteilung zu proponieren und Bejahen, Verneinen und Fragen als gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, scheitert an dieser innigen Gemeinsamkeit des positiven und negativen Urteils der Frage gegenüber. Umso drängender wird für die traditionelle Ansicht die Verpflichtung, aufzuweisen, was eigentlich diese Gemeinsamkeit konstituiert. Wie man diese Frage auch lösen mag, als Problem ist sie für die Vertreter dieser Ansicht nicht zu umgehen. Daß man sie bisher nicht gelöst hat, soll kein Einwand gegen die Ansicht sein. Wir wollen lediglich darauf hinweisen, daß für sie, die zunächst so klar und selbstverständlich erscheint, hier eine Aufgabe und Schwierigkeit liegt. Entscheidend in solchen Fragen kann nur das unmittelbare Ins-Auge-Fassen der Phänomene sein; nur es kann uns endgültig darüber belehren, ob dem Behaupten in der Tat ein Leugnen gleichwertig gegenübersteht. Wir müssen zunächst wieder unsere gewohnte Frage stellen, ob der Terminus negatives Urteil in der Behauptungssphäre überhaupt einen 42

Logik2, S. 61.

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eindeutigen Sinn besitzt. Bei der Überzeugung haben wir zwei Arten negativer Urteile unterschieden; dasselbe müssen wir nun hier tun, wenngleich der Unterschied vielleicht nicht ganz so unmittelbar ins Auge springt wie dort. Betrachten wir das Urteil »der König war nicht energisch« in zwei verschiedenen Zusammenhängen. Das eine Mal spreche es ein Historiker aus, der sich gegen die Ansicht wendet, der König sei energisch gewesen. Das andere Mal trete es rein darstellend im Flusse der historischen Erzählung auf. Man darf den ganz verschiedenen Aspekt, den das Urteil in beiden Fällen besitzt, nicht übersehen. Das erste Mal die Wendung gegen das widersprechende positive Urteil: »der König war nicht energisch«. Das andere Mal die schlichte Darstellung: »In dieser Zeit blühte das Land neu auf. Der König war nicht eben energisch, aber...« Man mag über solche »unerheblichen« Unterschiede hinwegsehen. Das ist uns sehr gleichgültig, solange man sie nur als Unterschiede zugibt. Und dem wird man sich angesichts der evidenten Sachlage nicht entziehen können: einmal die polemische Richtung, gegen ein anderes Urteil, und dann die schlichte Setzung. In dem ersten Falle hat die traditionelle Anschauung, wonach das negative Urteil sich als ein Leugnen oder Verwerfen darstellt, den Schein durchaus für sich, dagegen liegt es im zweiten Falle bei vorurteilsloser Betrachtung viel näher, von einem Setzen oder Behaupten zu reden. Jedenfalls ist es nun klar geworden, daß diese ganze Frage, weit entfernt davon, selbstverständlich zu sein, einer näheren Untersuchung bedarf. Wir beginnen mit einer Analyse dessen, was im Worte »nicht« zum Ausdruck kommt; dieses ist es ja offenbar, was schon äußerlich das negative Urteil von dem positiven unterscheidet. Wir haben bereits oben von »Worten« gesprochen und von den eigenartigen Akten des auf Gegenständliches gerichteten Meinens, welche beim verstehenden Aussprechen von Worten vorliegen. Husserl redet hier von bedeutungverleihenden Akten, insofern sie es ausmachen, daß wir nicht an dem bloßen Wortlaut als solchem haften bleiben, sondern dieser für uns »Bedeutung« gewinnt. So berechtigt nun auch dieser Begriff der bedeutungverleihenden Akte ist, und so wichtig er ist zur Orientierung des fundamentalen Begriffes der (idealen) Bedeutung als solcher – von der wir hier nicht weiter zu reden haben –, so muß doch betont werden, daß wir nicht an jedes Wort den Unterschied von gegenständlichem Meinen und

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gemeintem Gegenständlichen anknüpfen können. Wir erinnern an Worte wie »und«, »aber«, »auch«, »folglich«, »nicht« usw., welche beim verstehenden Aussprechen von Sätzen verstanden werden, ohne daß wir doch sagen könnten, sie seien von dem Meinen von Gegenständlichem begleitet, so wie etwa die Worte »Sokrates« oder »Baum«. Zweifellos ist, wenn ich im Satzzusammenhange verstehend eines dieser Worte ausspreche, über das Aussprechen hinaus etwas vorhanden – den verschiedenen Worten »non«, »o੝«, »nicht« usw. entspricht ja eine identische Funktion –, aber ebenso zweifellos kein Abzielen auf Gegenständliches in unserem früheren Sinne. Was sollte auch dieses Gegenständliche sein, welches dem »auch« oder »aber« entspräche? Umso dringender wird aber damit die Frage, was solchen »gegenstandslosen« Ausdrükken in Wirklichkeit entspricht. Wir wollen dabei nur von dem »und« und »nicht« reden. Eigentlich kommt es uns nur auf das »nicht« an. Das Heranziehen des anderen, neutralen Beispiels wird uns aber förderlich sein. Wenn ich sage: »A und B sind c«, so ziele ich an der Subjektsstelle ab auf das A und auf das B, nicht jedoch auch auf ein »und«. Trotzdem ist mit dem Abzielen auf A und B nicht alles erschöpft, was hier vorliegt. A und B werden nicht nur gemeint, sondern sie werden gleichzeitig miteinander v e r b u n d e n . Dieses Verbinden ist das, was dem »und« entspricht. Das »und« also verbindet, es faßt zusammen.43 Und zwar kann es immer nur zweierlei zusammenfassen. Will man A, B, G zusammenfassen, so sind zwei solcher verbindender Funktionen erforderlich: A und B und C sind d. Zwar kann man stattdessen auch sagen: A, B und C sind d, oder gar: A, B, C sind d, aber das Wegfallen des Ausdrucks besagt nicht das Wegfallen der Funktion. Es ist offensichtlich, daß die Und-Funktion auch in diesen Fällen doppelt vorhanden ist. A, B, C werden eben nicht beziehungslos gemeint, sondern im verbindenden Meinen verknüpft. Von dem Verbinden, welches wir dem »Und« zuschreiben, müssen wir auf das schärfste scheiden, was sich im verbindenden Meinen für uns konstituiert: der »Inbegriff« oder das »Zusammen« von A und B. Diese – gewiß sehr vieldeutigen – Termini dürfen nicht mißverstanden werden. 43

Es sei gestattet, statt: die Funktion, die mit dem Aussprechen des »Und« vollzogen wird, abkürzend zu sagen: das »Und«.

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Das Zusammen »A und B«, welches sich im Funktionieren des Und konstituiert, ist vor allen Dingen kein räumliches oder zeitliches Aneinander, es ist überhaupt keine durch irgendwelche, und sei es die entfernteste sachliche Verwandtschaft bedingte Einheit. Das Allerheterogenste kann ja miteinander durch das Und verbunden werden. Ebensowenig darf die Funktion des Verbindens verwechselt werden mit der synthetischen Apperzeption, in der wir vorgestelltes Gegenständliches zu einer Einheit zusammenfassen.44 Die Und-Funktion findet sich ja in der Sphäre des Meinens, in welcher Gegenständliches überhaupt nicht vorstellig ist. Näher bezeichnen kann man das Zusammen, von dem wir hier reden, wohl kaum. Man kann nur auffordern, hinzusehen und sich von seiner Einzigkeit zu überzeugen. Beim verstehenden Aussprechen des Satzes ist es keineswegs vorstellig, ebensowenig wie es nach unseren früheren Untersuchungen die gemeinten Gegenstände als solche sind. Wenn ich sage: A und B und C und D sind e, so sind eine Reihe von Verbindungsfunktionen vorhanden, aber der Inbegriff, der dabei erwächst, ist mir nicht präsent. Was für dies Zusammen von vielen Gegenständen gilt, gilt auch für ein solches von zwei. Natürlich steht es mir frei, mir den Inbegriff jederzeit vorzustellen. Dann erkenne ich ihn mit Sicherheit als dasjenige, was sich im verbindenden Meinen konstituiert hat. Ohne diese Sicherheit könnten wir ja von einer Konstitution durch die Funktion gar nicht reden. Aber im Flusse der Rede selbst findet eine solche Vergegenwärtigung normalerweise nicht statt. Wir finden hier einen anderen Gegensatz als unseren früheren zwischen Meinen und Vorstellen. Dem »Und« entspricht ja kein Meinen, sondern eine Funktion, speziell ein Verbinden.45 Dieses Verbinden scheiden wir grundsätzlich von dem Vorstellen dessen, was in ihm sich konstituiert. Dem Gegensatz von Meinen und Vorstellen desselben Gegenständlichen steht nun also gegenüber der ganz andere Gegensatz des Vollziehens einer Funktion und des Vorstellens dessen, was sich in ihrem Vollzug konstituiert. Gewiß gibt es auch ein Abzielen auf die Funktion; wir nehmen es ja eben vor, wenn wir von ihr reden. Und davon wieder ist zu 44 45

Vgl. Lipps, a. a. O., S. 119. Von »Denkfunktionen« hat Pfänder unter speziellem Hinweis auf das »Und« in einer Vorlesung über Logik schon im W. S. 1905/06 gesprochen.

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unterscheiden das Vorstellen der Funktion, das man etwa vornimmt, wenn man unsere jetzigen Ausführungen sich verständlich zu machen sucht. Andererseits ist es möglich, abzuzielen auf das in der Funktion Konstituierte, so wenn wir von dem Inbegriffe »A und B« reden, und im Gegensatz dazu auch diesen Inbegriff sich vorstellig zu machen. Das sind jeweils unsere alten Gegensätze von Meinen und Vorstellen. Was uns neu aufgefallen ist, ist der andere Gegensatz zwischen dem Vollzug der Funktion einerseits und dem Vorstellen des in der Funktion sich Konstituierenden andererseits. Unsere Absicht geht im Grunde nicht darauf, das »Und«, sondern das »Nicht« zu klären. Seine Besprechung war aber vorteilhaft, insofern die Verhältnisse bei ihm weniger kompliziert liegen und zugleich doch zu dem »Nicht« in mehrfacher Parallele stehen. Auch wenn ich sage »A ist nicht b«, ist es nicht angängig, von einem Abzielen auf ein »Nicht« zu reden in dem Sinne, in dem man doch von einem Abzielen auf das A oder b sprechen kann. Auch hier finden wir eine Funktion vor; bei dem »Und« sprachen wir von einem Verbinden, hier liegt etwas vor, das wir als ein »Negieren« bezeichnen können. Während aber zum Verbinden mindestens zweierlei gehört, das verbunden wird, betätigt sich die Negierungsfunktion an e i n e m Gegenständlichen. Ihr Ort läßt sich ganz genau bestimmen. Weder das A noch das b kann negiert werden, sondern allein das b - s e i n des A; in unserem Beispiel bezieht sich also die Negierungsfunktion speziell auf das »ist« und dadurch zugleich auf den ganzen in dem Urteil sich aufbauenden, gegliederten und geformten Sachverhalt: A ist b. Insofern ist der alte scholastische Satz durchaus im Recht: in propositione negativa negatio afficere debet copulam. Auch hier freilich müssen wir einen Unterschied machen zwischen der F u n k t i o n , dem woran sie sich b e t ä t i g t , und dem was in dieser Betätigung e r w ä c h s t . Indem das »ist« im Sachverhalte negiert wird, erwächst der kontradiktorisch-negative Sachverhalt. Es ist nicht ganz leicht, sich die Sachlage hier deutlich zu vergegenwärtigen. Sicher zu erfassen ist die Negierungsfunktion, welche dem »nicht« entspricht, sicher zu erfassen ist auch, daß sie sich an dem Elemente des Sachverhaltes, welches in dem »ist« seinen Ausdruck findet, betätigt. Dieses »ist« wird negiert und zu einem »ist nicht« gestempelt. So ersteht vermittelst der Negierungsfunktion der negative Sachverhalt. Er ist uns im Vollzug des

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Denkens selbst keineswegs gegenwärtig; der Fortgang des Meinens läßt ihn gleichsam hinter sich. Aber es steht uns jederzeit frei, ihn vorstellig zu machen und als das zu erkennen, was in der Negation sich uns konstituiert hat. Wir haben das Meinen und Vorstellen der Negierungsfunktion, und wir haben ferner das Meinen und Vorstellen des negativen Sachverhaltes, welcher sich in ihr konstituiert. Und schließlich haben wir den Gegensatz, auf den es uns hier ankommt: zwischen dem Vollzug der Negierung und dem Vorstellen des dadurch konstituierten negativen Sachverhaltes. Der Ausdruck Konstitution darf nicht mißverstanden werden; er soll natürlich nicht besagen, daß durch die Negierungsfunktion negative Sachverhalte »erzeugt«, sozusagen hergestellt würden. Wir wissen ja, negative Sachverhalte bestehen, genauso wie positive, ganz gleichgültig, ob sie von jemandem vorgestellt, erkannt, geglaubt, gemeint und behauptet werden oder nicht. Daß 2×2 nicht gleich 5 ist, dieser Sachverhalt besteht ganz unabhängig von jedem ihn erfassenden Bewußtsein, ebensogut wie das positive Gleichsein von 2×2 und 4. So werden auch negative Sachverhalte genauso wie die positiven, wenn auch auf Grund des E r k e n n e n s von positiven Sachverhalten, erkannt, und in diesem Erkennen gründet die urteilende Überzeugung von ihnen. Werden die so geurteilten Sachverhalte dann noch einmal in Akten des Behauptens »hingestellt«, so bauen sich dabei die p o s i t i v e n Sachverhalte in Akten gegenständlichen Meinens auf. Die n e g a t i v e n Sachverhalte dagegen bedürfen zu ihrem Aufbau in dieser Sphäre einer Funktion, welche gewisse gemeinte Elemente negiert. Das also ist der Sinn des Ausdrucks Konstitution: nicht daß Sachverhalte an sich durch die Funktion erzeugt würden, sondern daß sie sich vermittelst der Negation im Meinen und für das Meinen aufbauen. Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück. Da nach unseren Darlegungen im negativen Urteil ein Negieren oder Verneinen auftritt, so könnte man sagen: demgemäß ist das negative Urteil ein Verneinen, und wir haben selbst unsere anfänglichen Bedenken gegen diese These beseitigt. Indessen, dies hieße die Sachlage durchaus verkennen. Die Einteilung der Urteile in Bejahungen und Verneinungen will doch gar viel mehr besagen, als daß es Urteile mit und ohne Verneinungen gibt. Man will zugleich sagen, daß durch die Verneinung das Wesen des negativen Urteils auch als U r t e i l vollkommen bezeichnet ist, daß es genügt, etwas

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als verneinend zu kennzeichnen, um es gleichzeitig als Urteil zu qualifizieren, und gerade das ist es, was wir in Zweifel setzen mußten. Diese Zweifel finden durch unsere Funktionsanalysen volle Bestätigung. Es ist nicht wahr, daß das Verneinen das spezifisch Urteilsmäßige ausmacht; es gibt Gebilde, in welchen es vorkommt, ohne daß sie doch Urteile wären. Setzen wir den Fall, daß ich auf ein Urteil »A ist nicht b« erwidere: »A ist nicht b, das bezweifle ich sehr«. Ein Verneinen ist in dieser Erwiderung gewiß vorhanden, aber von einem wirklichen Urteil »A ist nicht b« – das dann etwa im zweiten Satzteile zurückgenommen würde – kann man nicht ernstlich reden. Ein echtes, volles Behaupten liegt im Vordersatz evidentermaßen nicht vor. Also haben wir hier eine Verneinung, aber kein Urteil. Die Beispiele lassen sich vermehren: »Ist A nicht b?«, »Angenommen A wäre nicht b« usw. Überall finden wir Verneinungen, ohne daß doch Urteile vorlägen. Nun wird man wohl sagen, so habe man Verneinung nicht gemeint. Im Satze »A ist nicht b, das bezweifle ich sehr« und in den anderen angeführten Sätzen liege gar kein Verneinen vor. Es müsse noch etwas anderes hinzukommen, damit der Satz zu einer urteilenden Verneinung werde. Dem können wir nur zustimmen. Aber was soll noch hinzukommen? Vergleichen wir unseren Satz mit dem Urteil: »A ist nicht b«, so sehen wir es ganz deutlich. Was dort, ohne es ehrlich zu behaupten, bloß wiederholend und nachfühlend hingestellt wurde, wird hier wahrhaft behauptet. Das Behauptungsmoment also ist es, was das negative Urteil so gut wie das positive allererst zum Urteile macht. Wir werden also sagen: es gibt Behauptungen, in denen keine Negierungsfunktion vorkommt – das sind die sog. positiven Urteile. Und es gibt Behauptungen, in denen die Kopula des Sachverhaltes und damit der ganze Sachverhalt negiert wird. In der Verneinungsfunktion konstituiert sich hier ein negativer Sachverhalt, und dieser so konstituierte negative Sachverhalt ist es, welcher in der negativen Frage in Frage gestellt, in der negativen Annahme angenommen und im negativen Urteil endlich behauptet wird. Dagegen gibt es keinen »Akt« des Bejahens, und ebensowenig gibt es einen »Akt« des Verneinens, in dem wir das Wesen des negativen Urteils zu erblicken hätten. Vielmehr stellt sich das positive Urteil wie das negative als ein Behaupten dar; und nur dadurch unterscheidet sich das negative Urteil von dem positiven, daß in ihm das

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Behaupten auf einen in der Negierungsfunktion sich konstituierenden negativen Sachverhalt geht. Diese Negierungsfunktion macht das negative Urteil zum n e g a t i v e n Urteil, das Behauptungsmoment macht es zum negativen U r t e i l .46 Wir haben anfangs von der Schwierigkeit für die gegnerische Auffassung gesprochen, das Moment aufzuweisen, welches die angeblichen Akte des Bejahens und Verneinens beide zu Urteilen macht. Für uns bestehen solche Schwierigkeiten nicht. Positives und negatives Urteil sind Urteile, insofern sie beide das spezifische Behauptungsmoment aufweisen. Der Name positives Urteil besagt nicht etwa das Vorhandensein eines besonderen Bejahungsaktes oder einer besonderen Bejahungsfunktion, sondern lediglich das Fehlen der Negationsfunktion. Eine willkommene Bestätigung dafür gibt uns die Tatsache, daß die Sprache zwar ein »nicht« als Ausdruck der Negierung aufweist, daß aber im positiven Urteil keine Partikel vorkommt, welche dort einer entsprechenden Bejahungsfunktion Ausdruck gäbe. Auch für diese sprachliche Erscheinung vermag uns die übliche Auffassung des positiven und negativen Urteils keine Erklärung zu geben. Unsere Auffassung leuchtet durchaus ein bei den schlichten negativen Urteilen. Wie aber steht es mit den polemisch negativen, welche wir oben von ihnen gesondert haben? Wenn ich mich gegen einen anderen, der das b-sein eines A behauptet hat, wende mit den Worten: »(Nein.) A ist n i c h t b«, so scheint doch kaum bestritten werden zu können, daß hier ein Verwerfen oder Verneinen eine wesentliche Rolle spielt. Wir wollen dies auch gar nicht leugnen. Aber wir müssen darauf dringen, daß Verschiedenes hier streng auseinandergehalten wird. An dem polemischen Urteile fällt zunächst das auf, was wir als seine Betontheit bezeichnen wollen. Im Gegensatze zu dem schlichten negativen Urteile ist hier das »nicht« betont. Es wäre recht oberflächlich gedacht, wenn man diese Betontheit der rein sprachlichen Sphäre zuschieben wollte. 46

Kurz hinweisen wollen wir noch auf folgendes. Wie das Erkennen den erkannten Sachverhalt in seinem Bestand erfaßt, so stellt das Behaupten den behaupteten – positiven oder negativen – Sachverhalt in seinem Bestand hin, es fixiert gleichsam diesen Bestand. Man muß sich davor hüten, diese Fixierung des Bestandes eines Sachverhaltes mit der P r ä d i z i e r u n g des Bestandes von einem Sachverhalte zu verwechseln.

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Gewiß gibt es auch ein Betonen im Sprechen, welches sich rein auf die Wortlaute bezieht, aber diese Betonung ist nur Ausdruck für die Betonung in unserem ersten, logisch bedeutsamen Sinne. Was das rein lautliche Betonen hier leistet, das leistet bei dem gedruckten oder geschriebenen Satze der fette oder gesperrte Druck oder der Strich unter dem Wort. All das sind ganz verschiedene Ausdruckszeichen, aber sie alle geben dem Gleichen Ausdruck, und auf dieses Gleiche kommt es uns hier an. Das findet eine Bestätigung auch darin, daß das sprachliche Betonen desselben Wortes der logisch bedeutsamen Betonung von Verschiedenem zum Ausdruck dienen kann. Man nehme das Urteil »A i s t b«, das einmal der Behauptung »A war b«, ein andermal der Behauptung »A ist nicht b« entgegentreten mag. Durch das Betonen desselben Wortes »ist« hindurch wird im ersten Falle das in ihm zum Ausdruck gelangende zeitliche Moment, im zweiten die Positivität des »ist« im Gegensatze zum »ist nicht« betont. Sicherlich ist dies zweite Betonen etwas Letztes, nicht weiter Zurückführbares. Es hat nichts zu tun mit der Konstitution des betonten Gegenständlichen; es muß aber auch sehr genau geschieden werden von allem »Beachten« oder »Apperzipieren«, welches ja nicht in der Sphäre des Meinens, sondern des Vorstellens seine Stelle hat. Wir können hier auf die bemerkenswerten Probleme des Betonens und auf die Gesetzlichkeiten, denen es untersteht, nicht eingehen, wir heben nur das für unsere Zwecke Unerläßliche heraus. Es gibt eine Betonung bei dem schlichten Meinen: »die R o s e (nicht die Tulpe) ist rot«. Wir finden sie auch bei dem, j was wir Funktionen nannten: »A und B (nicht A allein) sind c«. Hier haben wir ein betonendes Verbinden; das, was in ihm sich konstituiert, näher das spezifische Zusammenhangsmoment des Inbegriffes, erfährt in ihm die Betonung. Genauso finden wir neben dem schlichten Negieren ein betonendes Negieren; das, was hier betont wird, ist die Negativität des in ihm sich konstituierenden negativen Sachverhaltes. Alle diese eine Betonung tragenden Urteile setzen etwas voraus, dem gegenüber die Betonung stattfindet. Die Negationsbetonung speziell richtet sich notwendig gegen ein anderes kontradiktorisches Urteil oder einen kontradiktorischen Satz,47 47

K o n t r a d i k t o r i s c h heißen solche Urteile und Sätze, denen kontradiktorische Sachverhalte zugehören, analog wie man Sätze und Urteile bezüglich ihrer

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welche der betonend Urteilende verwirft. In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich also das polemisch negative von dem schlicht negativen Urteil: Es setzt ein kontradiktorisch-positives Urteil (oder einen kontradiktorisch-positiven Satz) voraus, gegen den sich der polemisch Urteilende wendet, den er verwirft; und es findet sich, was eng damit zusammenhängt, bei seiner Negationsfunktion eine Betonung, durch welche der Negativitätscharakter des Sachverhaltes dem entgegenstehenden positiven Sachverhalt gegenüber herausgehoben wird. Die Verwerfung richtet sich gegen das fremde Urteil, die Betonung bezieht sich auf den selbstgesetzten negativen Sachverhalt.48 Durch diese Unterscheidungen ist die anfangs problematische Sachlage nun geklärt. Auch das polemisch negative Urteil muß zweifellos als ein Behaupten charakterisiert werden; daran kann dadurch nichts geändert werden, daß die Negierungsfunktion dank der Betonung stärker heraustritt als im schlicht negativen Urteil. Es gibt ja auch andere Gebilde, die nicht Urteile sind, und in denen doch die Negierungsfunktion dieselbe hervorragende Rolle spielt (während allerdings die vorausgehende Verwerfung eines Kontradiktorischen bei ihnen fehlt). Man denke an die Annahme: »Angenommen A wäre n i c h t b«. Fragen wir, was diese Annahme von dem entsprechenden Urteil unterscheidet, so können wir nur auf das Moment des Behauptens auf der einen und des Annehmens auf der anderen Seite hinweisen. Daß man diese Sachlage mißverstanden hat, ist sehr begreiflich. Einmal konnte man das Behauptungsmoment über der, durch die Betonung heraustretenden, negierenden Funktion leicht übersehen, und sodann – und dies ist wohl das Wichtigere – lag es nahe, die dem negativen Urteil vorausgehende Verwerfung des kontradiktorischen positiven Urteils für das negative Urteil selbst zu halten. So sehen wir, daß auch bei den polemischen Urteilen das Behauptungsmoment den Urteilscharakter als solchen ausmacht. Damit ist mit dem alten logischen Dualismus gebrochen, welcher die einheitliche Behauptung

48

M o d a l i t ä t unterscheidet, obwohl die Modalitäten eigentlich nur den zugehörigen Sachverhalten innewohnen. Die Notwendigkeit unserer früheren Unterscheidung zwischen »Verwerfung eines Urteils« und »negativem Urteil« zeigt sich hier sehr deutlich, wo wir beides nebeneinander haben.

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in zwei ganz verschiedene Akte zerspalten möchte, die dann – man weiß nicht recht warum – beide den Namen Urteil führen sollen. Wir können daher Th. Lipps durchaus zustimmen, wenn er sagt: »Wie das positive, so ist auch das negative Urteil ein Akt der Anerkennung«49 – in unserer Terminologie ein Akt der Behauptung.50 Zugleich haben wir innerhalb der negativen Behauptung – so dürfen wir wohl abkürzend die Behauptungen nennen, in denen sich ein Negieren findet – einen fundamentalen Unterschied gefunden: den zwischen schlicht und polemisch negativen Urteilen. Die Logiker haben zumeist nur die polemisch negativen Urteile behandelt, was umso näher lag, als diese um vieles häufiger gefällt werden und speziell in wissenschaftlichen Zusammenhängen – mit Ausnahme der historischen – fast allein vorzukommen pflegen. Idealiter gesprochen aber entspricht einem jeden polemisch negativen Urteil ein schlicht negatives und umgekehrt. Dieselbe Unterscheidung läßt sich auch bei der positiven Behauptung durchführen. Dem schlichten Urteil »A ist b« steht gegenüber das polemische »A i s t b«, welches sich gegen ein kontradiktorisch-negatives Urteil oder einen kontradiktorisch-negativen Satz wendet und durch die Betonung des »ist« die Positivität des zugehörigen Sachverhaltes heraushebt. Die Verhältnisse liegen hier dem negativen Urteile ganz analog; nur daß dort die polemisch negativen, hier dagegen die schlicht positiven Urteile bei weitem häufiger realiter vorkommen. So können wir also bei allen Urteilen überhaupt, insofern sie nicht Überzeugungen, sondern Behauptungen sind, den Unterschied zwischen schlichten und polemischen Urteilen durchführen. Die Bedeutung des »nicht« erschöpft sich nicht darin, einer Negierungsfunktion Ausdruck zu geben. Auch andersartige Funktionen können mit ihm verknüpft sein, ohne aber ihrerseits das Urteil zu einem negativen zu stempeln. Dessenungeachtet muß eine Theorie des negativen Urteils ihrer Erwähnung tun, sei es auch nur, um ihre Konfundierung mit 49 50

A. a. O., S. 168. Nur dadurch kann es auch verständlich werden, daß einem jeden Urteil in unserem jetzt maßgebenden Sinne eine p o s i t i v e Überzeugung zugrunde liegt. Wäre das negative Urteil ein »Leugnen«, so müßte es aus einer n e g a t i v e n Überzeugung von dem geleugneten Sachverhalt entspringen.

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dem echten Negieren zu verhüten. Man braucht nur zwei Urteile wie »A ist nicht b« und »A ist – nicht b (sondern c)« ins Auge zu fassen, um sofort einen fundamentalen Unterschied zu entdekken. Zunächst wird man diesem Unterschied wohl dahin Ausdruck geben, daß im ersten Fall das »nicht« sich auf das »ist«, im zweiten auf das b bezieht, so daß nur das eine Mal die Kopula, das andere Mal aber das Prädikatsglied affiziert würde. Dabei können wir uns nun freilich nicht beruhigen. Es fragt sich, ob die Art dieser Affizierung beide Male dieselbe ist. Das ist nun zweifellos nicht der Fall. Das eine Mal findet ein Negieren statt; das »Sein« im Sachverhalte wird verneint, und es konstituiert sich dadurch das »Nichtsein«. Dagegen kann in dem anderen Fall nicht davon geredet werden, daß das b verneint würde» und daß sich in dieser Verneinung ein »nicht-b« konstituierte. Es gibt überhaupt keine sich in einer Verneinung konstituierenden negativen Gegenstände. Genauso verhält es sich in dem Urteil »Nicht A ist b (sondern C«. Auch hier haben wir ein »Nicht«; aber auch hier kann keine Rede davon sein, daß ein Verneinen stattfände, in dem sich etwa ein nicht-A konstituierte. Eine Funktion liegt freilich auch hier vor, aber kein Negieren, sondern das »Wegschieben« oder »Zurückweisen« eines im Russe der Rede gemeinten Gegenständlichen. Wir haben früher davon gesprochen, wie sich in der Behauptung der Sachverhalt sukzessive aus seinen Elementen aufbaut. Gewöhnlich nun geht dieser Aufbau ungestört vonstatten; die Sachverhaltselemente folgen sich und ergänzen einander, ähnlich wie die Töne einer Melodie. Es kommt aber auch vor, daß ein sich einstellendes Element zurückgewiesen wird – das sind die Fälle, in denen das »nicht« fungiert, von dem wir jetzt reden. Bei dem echten negativen Urteil dagegen ist von einem Wegschieben oder Zurückweisen keine Rede. Es gibt nun sehr verschiedenartige Sachverhaltselemente, notwendige und unwesentliche. Sachverhalte, wie sie in der Behauptung sich konstituieren, können ja nicht aus beliebigen Elementen sozusagen zusammengestoppelt werden, sondern unterstehen bestimmten Konstitutionsgesetzen. Insbesondere wenn der Aufbau eines Sachverhaltes einmal begonnen hat, kann er nicht beliebig abgebrochen oder vollendet werden, sondern fordert bestimmte, nicht dem Inhalt, aber der Form nach gesetzlich umschriebene Elemente hinzu, ganz entsprechend den Verhältnissen bei dem Aufbau einer Melodie. Es kann z.B., wenn ein Sachverhalt mit »die Rose ist«

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begonnen hat, nicht hier beliebig abgebrochen werden, sondern irgendein Element etwa der Form b muß ergänzend hinzutreten und ist insofern ein notwendiges Sachverhaltselement. Und ebenso ist die Rose in demselben Sachverhalt ein notwendiges Element, da es nicht gestrichen werden kann, ohne durch ein anderes Element der Form A ersetzt zu werden. Dagegen ist in dem Urteile »der Wagen ist schnell gefahren« das »schnell« kein notwendiges, sondern ein für die formale Konstitution des Sachverhaltes unwesentliches Element. Sachverhaltselemente nun, welche durch das »nicht« zurückgewiesen werden, bedürfen, wenn sie notwendige sind, des Ersatzes durch andere der Form nach gleiche Elemente: Nicht A ist b, sondern C; A ist – nicht b, sondern c. Dagegen ist bei unwesentlichen Sachverhaltselementen eine Zurückweisung ohne Ersatz möglich; Der Wagen ist – nicht eben schnell – gefahren. Wir werden die Urteile, in denen eine Zurückweisungsfunktion auftritt, selbstverständlich nicht als negative Urteile bezeichnen, da in ihnen ja weder ein Negieren vorhanden ist, noch – was damit zugleich gesagt ist – in ihnen ein negativer Sachverhalt behauptet wird, sondern nichts weiter vorliegt als das Zurückweisen eines Elementes aus dem sich aufbauenden Sachverhalt. Im Urteile »A ist – nicht b, sondern c« wird ein p o s i t i v e r Sachverhalt, das b-sein des c, behauptet; daß innerhalb dieses Behauptens das Wegschieben eines Sachverhaltselementes stattfindet, kann daran nichts ändern. Die Hauptbegriffe, welche wir in diesem Abschnitt neu eingeführt haben, haben lediglich in der Sphäre des Behauptens, nicht in der der erkennenden Überzeugung ihre Stelle. Das gilt vor allem für den Begriff der Funktion. Während wir in der Behauptung »A ist b und c« kraft der Verbindungsfunktion einen einzigen Sachverhalt setzen, sind in der Sphäre der erkennenden Überzeugung, in der es kein Verbinden gibt, z w e i Sachverbalte vorstellig. Analog verhält es sich bei den übrigen Funktionen. Sie alle tauchen nur in der Sphäre des Meinens auf. Freilich ist ihre Verwendung keine beliebige, sondern sie muß in den Sachverhalten selbst und ihren Verhältnissen eine Stütze und Berechtigung finden. Nur wenn ein negativer Sachverhalt besteht, darf innerhalb des behauptenden Meinens eine Negierungsfunktion sich betätigen. Nur wenn Sachverhalte in bestimmten Begründungs- oder Gegensatzverhältnissen stehen, haben die Funktionen des »folglich« und »aber« eine Berechtigung, usw. Auch

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die Unterschiede des Betont- und Unbetontseins, der schlichten und polemisch negativen Urteile, der negativen und der ein Sachverhaltselement bloß wegschiebenden Urteile haben nur in der Sphäre des Meinens und nicht in der des Erkennens ihre Stelle. Hat man das einmal klar gesehen, so kann man nicht mehr daran zweifeln, daß mit der Scheidung des Urteils in erkennende Überzeugung und Behauptung die ganze Urteilstheorie in zwei sehr verschieden zu behandelnde Teile zerfällt. IV. Wir wollen kurz Stellung nehmen zu einigen hauptsächlichen Problemen, die sich in der historischen Entwicklung der Logik an die negativen Urteile geknüpft haben, und damit die wichtigsten unserer Resultate noch einmal beleuchten. Viel bestritten ist die Frage nach dem Orte der Negation. Ist sie ein »reales Verhältnis« oder etwas »bloß Subjektives«? Auf eine so vieldeutige Frage kann nicht in einem Satze geantwortet werden. Geht sie dahin, ob die Negation auf der »Bewußtseins-« oder der gegenständlichen Seite des Urteils zu suchen ist, so ist zu sagen: Von einer Negativität läßt sich auf beiden Seiten reden. Es gibt in der Sphäre der erkennenden Überzeugung den Unglauben, also eine negative Überzeugung, und es gibt feiner in der Sphäre der Behauptung die Negierungsfunktion. Beide sind »subjektiv«, insofern sie der Bewußtseinsseite angehören. Aber neben dem negativen Unglauben finden wir den positiven Glauben an Negatives, an negative Sachverhalte; und ebenso konstituieren sich in der Negierungsfunktion negative Sachverhalte, auf welche sich die Behauptung bezieht. Hier haben wir die Negativität offenbar auf der gegenständlichen Seite des Urteils, sie ist insofern »objektiv«. Aber die Rede von der angeblichen Subjektivität der Negation hat, mit dem ersten konfundiert, noch einen ganz anderen Sinn. Zugegeben daß Negatives als gegenständliches Korrelat von Überzeugung und Behauptung fungieren kann, so wird man doch sagen, daß dies Negative nichts »Reales« ist, daß es, wenn auch nicht auf der Bewußtseinsseite befindlich, doch etwas vom Bewußtsein wesentlich Abhängiges ist und insofern kein objektives Sein besitzt. Eine solche Meinung aber müssen wir auf das allerschärfste abweisen. Gewiß wird im negativen Urteil kein reales

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»Verhältnis« gesetzt, aber im positiven braucht es ebensowenig der Fall zu sein. Positive und negative Urteile gehen vielmehr auf Sachverhalte. Diese Sachverhalte zerfallen in positive und negative, und beide wiederum in bestehende und nicht bestehende. Besteht ein Sachverhalt, so ist sein Bestand unabhängig von allem Bewußtsein; es fehlt jede, aber auch jede Berechtigung, gerade die n e g a t i v e n Sachverhalte für bewußtseinsabhängig zu erklären. Einen objektiven Bestand von Sachverhalten ü b e r h a u p t abzuleugnen, das ist der widersinnige Standpunkt des absoluten erkenntnistheoretischen Skeptizismus; denn Sachverhalte sind j a das, was erkannt und geurteilt wird. Teilt man diesen Skeptizismus aber nicht, so darf man auch den negativen Sachverhalten den Bestand nicht absprechen wollen. Der objektive Bestand beider ist ja gesetzmäßig miteinander verknüpft, wie es mit voller Wucht die logischen Grundsätze aussprechen: Von zwei kontradiktorischen Sachverhalten muß entweder der positive oder der negative bestehen. Und: Besteht ein positiver Sachverhalt nicht, so besteht notwendig der kontradiktorisch-negative Sachverhalt.51 Die Frage nach dem Orte der Negation ist noch nach einer anderen Dimension hin als der eben besprochenen strittig. Angesehene Logiker 51

Man sieht, diese Sätze beziehen sich auf Sachverhalte und ihren Bestand; dasselbe gilt für die anderen Grundsätze der traditionellen Logik. Man hat sie gewöhnlich auf Urteile bezogen, z.B.: Zwei kontradiktorische Urteile können nicht beide richtig sein. Dieser Satz ist gewiß unanfechtbar, aber er ist nicht ursprünglich, sondern derivativ. Ein Urteil ist richtig, wenn der zugehörige Sachverhalt besteht; und zwei kontradiktorische Urteile können nicht beide richtig sein, weil zwei kontradiktorische Sachverhalte nicht beide bestehen können. Das Urteilsgesetz findet also seine Begründung in dem Sachverhaltsgesetz. – Von anderer Seite her hat man versucht, jenes Gesetz statt auf die Urteile auf die S ä t z e zu beziehen. Zwei kontradiktorische Sätze – so heißt es nun – können nicht beide wahr sein. Wir erkennen den Unterschied von Urteil und »Satz an sich« durchaus an; aber wie den Satz vom Urteil, so muß man ihn auch vom Sachverhalte scheiden. Ein Satz ist wahr, wenn der zugehörige Sachverhalt besteht. Und zwei kontradiktorische Sätze können nicht beide wahr sein, weil zwei kontradiktorische Sachverhalte nicht beide bestehen können. So führt auch hier das Satzgesetz auf ein Sachverhaltsgesetz zurück. Zugleich haben wir hier ein Beispiel dafür, in welchem Sinne wir oben gemeint haben, daß große Teile der traditionellen Logik sich ihrem Fundamente nach als allgemeine Sachverhaltslehre herausstellen werden.

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haben erklärt, daß die Negation im Urteil nicht die Kopula affiziere, sondern sich auf das Prädikat beziehe. Unter dem Prädikat ist dabei im Urteil: »A ist nicht b« nicht etwa das b-s e i n , sondern das b selbst verstanden. Wir halten diese Auffassung für durchaus irrig. Sie ist ganz haltlos in der Sphäre der erkennenden Überzeugung. Wenn ich auf Grund des Erschauens des Rotseins einer Rose erkenne, daß sie nicht weiß ist, und meine Überzeugung sich auf diesen Sachverhalt bezieht, so haben wir überhaupt keine Funktion, kein »nicht«, welches sich, sei es an einem Prädikat, sei es an einer Kopula betätigen könnte, sondern erkannt von uns wird der schlichte negative Sachverhalt. Erst in der Behauptungssphäre tritt eine Negationsfunktion auf; da aber betätigt sie sich an dem »ist« und nicht etwa an dem b. Das wird umso klarer, wenn wir an den Fall denken, wo das »nicht« wirklich auf das Prädikat geht: »A ist – nicht b, sondern c«. Hier wird das Prädikatselement in der Tat »affiziert«, aber diese Affektion ist ein Wegschieben und kein Negieren. Hat man einmal eingesehen, daß die Negierungsfunktion sich nur auf die Kopula beziehen kann, so wird auch die Rede vom limitativen Urteil und von den propositiones infinitae überhaupt hinfällig. Hier sollen negative Gegenstände als Prädikat oder Subjekt positiver Urteile fungieren: »die Rose ist nicht-rot«; oder: »die Nichtraucher steigen in jenes Abteil«. Man hat sich hier durch den sprachlichen Ausdruck täuschen lassen. Ein negatives Rot oder einen negativen Raucher gibt es nicht. Heben wir die hier vorliegenden sprachlichen Abkürzungen auf, so lauten unsere Urteile: »die Rose ist etwas nicht-Rotes (d.h. etwas, das nicht rot ist)« und: »die nichtrauchenden (d.h. die, welche nicht rauchen)...« Beide Male sind es Sachverhalte, die negiert werden, allerdings Sachverhalte, welche in den betreffenden Urteilen nicht selbst behauptet werden, sondern an der Subjekts- bzw. Prädikatsstelle eine eigentümliche – hier nicht zu erörternde – Umformung erhalten haben. Werfen wir nun noch einen Blick auf die besonders seit Sigwarts Ausführungen viel erörterte These, daß das negative Urteil stets ein vollzogenes oder versuchtes positives Urteil zur Voraussetzung habe, und

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daß es sich seinem Wesen nach als eine Verwerfung dieses positiven Urteils darstelle.52 In dieser Ansicht sind, wie uns scheint, allerlei richtige und falsche Beobachtungen zusammengemengt. Man kann zunächst an unsere Feststellung denken, daß jede erkennende negative Überzeugung und jede erkennende positive Überzeugung von einem Negativen das Erkennen eines positiven Sachverhaltes zur Voraussetzung hat. Von der Voraussetzung eines positiven U r t e i l s aber kann man hier nicht reden, da das Erkennen eines positiven Sachverhaltes nicht dasselbe ist wie die Überzeugung von ihm. Man kann ferner daran denken, daß beide, die negative Überzeugung und die Überzeugung vom Negativen, gewisse intellektuelle Stellungnahmen zur psychologischen Voraussetzung haben. Aber nur bei der negativen Überzeugung richtet sich diese Überzeugung auf einen positiven Sachverhalt. Zudem kann sie wohl eine Überzeugung, also ein Urteil über den positiven Sachverhalt sein, aber ebensowohl eine Vermutung, ein Zweifel oder dgl.53 So müssen wir also die These, jedes negative Urteil setze ein positives voraus, einschränken auf einen Fall, der lediglich bei der negativen Überzeugung – nicht eintreten muß, aber eintreten kann. Ganz abzuweisen dagegen ist in dieser Sphäre die weitere Ansicht, das negative Urteil sei unmittelbar und direkt ein Urteil über jenes versuchte oder vollzogene positive Urteil.54 Nicht auf ein Urteil bezieht sich ja die negative Überzeugung, sondern auf einen Sachverhalt. Gerade diese zweite Ansicht weist nun allerdings darauf hin, daß dabei die Orientierung nicht mehr an der Überzeugungs-, sondern an der Behauptungssphäre genommen ist. Dort gibt es ja, wie wir wissen, in der Tat negative Urteile, welche sich gegen kontradiktorisch-positive Urteile wenden und sie verwerfen. Freilich, gegenständliches Korrelat des negativen Urteils ist auch hier der negative Sachverhalt; immerhin kann man hier mit gutem Sinne sagen, das negative Urteil setze ein positives voraus, gegen das es sich wende. Wir haben dagegen nur einzuwenden, daß damit nicht das negative Urteil überhaupt, sondern nur die negative 52

53 54

Ähnlich z.B. Erdmann, Logik I2, S. 504ff.; Bergson, L’évolution créatrice, S. 311 ff.; Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, S. 272ff. Vgl. auch Windelband, a. a. O., S. 177. Sigwart, Logik I, S. 159 (dritte Auflage).

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B e h a u p t u n g getroffen ist, und auch da lediglich die negativ p o l e m i s c h e Behauptung.55 Das s c h l i c h t e negative Urteil hat, wie wir gesehen haben, kein positives zur Voraussetzung, das es verwirft. Es spielt zudem besonders in Beschreibungen und Erzählungen eine so große Rolle, daß es eine durchaus einseitige Auffassung des negativen Urteils bedeutet, wenn man wie Kant und viele andere der Meinung ist, die verneinenden Urteile hätten »das eigentümliche Geschäft, lediglich den Irrtum abzuhalten«.

55

Auch hierin liegt freilich keine Eigentümlichkeit des negativen Urteils als solchen, da es ja p o s i t i v polemische Urteile in genau entsprechendem Sinne gibt.

ADOLF REINACH DIE APRIORISCHEN GRUNDLAGEN DES BÜRGERLICHEN RECHTES Einleitung §1 Die Idee der apriorischen Rechtslehre Das positive Recht befindet sich in ständigem Flusse und ständiger Entwicklung. Rechtsinstitute entstehen und vergehen und verändern sich. Kaum eine Bestimmung eines positiven Rechtes ist zu finden, die nicht in irgendeinem anderen Rechte fehlte, und schlechthin keine ist zu finden, die nicht als in einem anderen fehlend gedacht werden könnte. Maßgebend für die Rechtsentwicklung sind die jeweiligen sittlichen Anschauungen und in noch höherem maße die ständig wechselnden wirtschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse. So unterscheiden sich die positiv-rechtlichen Sätze ganz wesentlich von den Sätzen der Wissenschat. Daß 2×2 = 4 ist, das ist ein Zusammenhang, der von machen Subjekten vielleicht nicht eingesehen wird, der aber unabhängig von allem Einsehen besteht, unabhängig von der Setzung der Menschen und unabhängig von dem Wechsel der Zeit. Daß dagegen Forderungen durch den Gläubiger ohne Mitwirkung des Schuldners abgetreten werden können, ist ein Satz unseres heutigen Rechtes, welcher in anderen Rechtsperioden keine Gültigkeit besaß. Von einer Wahrheit und Falschheit, die dem Satz als solchem immanent wäre, hier zu reden, hat offensichtlich keinen Sinn. Bestimmte wirtschaftliche Bedürfnisse haben die Rechtgebenden Faktoren veranlaßt, ihn zu setzen. Mag man ihn als zweckmäßig und in diesem Sinne »richtig« bezeichnen. Zu anderen Zeiten aber kann der gegenteilige Satz »richtig« gewesen sein. Von solchen Gesichtspunkten aus ist die Auffassung des positiven Rechtes begreiflich, die wir heute wohl als die allgemeine bezeichnen dürfen. An sich bestehende, zeitlos geltende rechtliche Gesetze, im Sinne etwa der Mathematik, gibt es schlechthin nicht. Gewiß ist es möglich, die allgemeinen Grundgedanken eines positiven Rechtes aus seinen einzelnen Bestimmungen durch eine Art Induktion zu gewinnen. Aber auch diese

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Grundgedanken können in einer neuen Periode anderen Platz machen. Gewiß ist es möglich, für die Entwicklung des Rechtes, neue Richtlinien vorzuschlagen. Aber diese Sätze einer Rechtspolitik gelten nur, solange die Zeitverhältnisse bestehen, auf welche sie sich gründen. Es mag schließlich möglich sein – hier werden freilich schon starke Zweifel geltend gemacht –, gewisse Gesetze aufzustellen, denen jedes Recht als Recht, unabhängig von den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen, unterworfen sein muß. Aber diese Gesetze können in jedem Fall doch nur formale sein. Den stetig wechselnden Inhalt schöpft das Recht notwendig aus dem Inhalte seiner Zeit. Wie die Rechtssätze selbst, so sind auch ihre Elemente, die R e c h t b e g r i f f e nach dieser Auffassung g e s c h a f f e n durch die rechtsetzenden Faktoren, es hat keinen Sinn, von einem Sein ihrer unabhängig von dem jeweiligen positiven Rechtssystem, in welches sie eingehen, zu reden. Gewiß kommt es vor, daß Gegenstände der physischen Natur in die Rechtssätze hineingenommen werden. In unserer Gesetzgebung ist von Waffen und gefährlichen Werkzeugen die Rede, von Gesinnung, Vorsatz, Irrtum und dgl. Hier haben wir außerrechtliche Begriffe, deren das Recht bedarf. Wo aber spezifisch rechtliche Begriffe in Frage stehen, Eigentum, Anspruch, Verbindlichkeit, Vertretung und dgl., da hat sie das Recht nicht etwa vorgefunden und übernommen, sondern selbst er zeugt und geschaffen.1 Es gab Rechtsperiode, die den Begriff der Vertretung nicht kannten. Wirtschaftliche Verhältnisse haben gezwungen, ihn zu erzeugen. Sehen wir von allem positiven Rechte ab, so bleibt nach dieser Auffassung für die rechtliche Betrachtung nichts weiter übrig als die Natur da draußen und der Mensch mit seinen Bedürfnissen, seinem Begehren, Wollen und Handeln. Gewisse Sachen mögen seiner Herrschaft unterstehen. Vielleicht haben ihm seine Stärke und sein Mut dazu verholfen. Aber so weit kann die Stärke des einzelnen nie reichen, um ihn gegen alle Gefahren und Eingriffe zu sichern, welche ihm von seiten begehrlicher Mitmenschen drohen. Hier nun entsteht eine neue Aufgabe, die Aufgabe der Gesamtheit, den Herrschaftsbereich des einzelnen über die Sachen abzugrenzen und zu schützen; das positive Recht tritt auf den Plan. Die von ihm geschützte Herrschaft des Menschen über eine Sache wird 1

Vgl. vor allem Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, S. 17.

Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes

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Eigentum genannt. So ist beides Produkt des positiven Rechtes: das Eigentum selbst und die Sätze, welche die Voraussetzung seines Entstehens und die Art und Weise seiner Ausübung regeln.2 Wo zwei Sachen im Herrschaftsbereiche zweier Personen stehen und jede von ihnen die im Bereiche des anderen stehende Sache begehrt und um ihretwillen auf die eigene zu verzichten bereit ist, ist der sofortige Austausch beider Sachen das gegebene Mittel, um dem Begehren beider Erfüllung zu bieten. Ähnlich steht es mit dem Austausch von Diensten oder von Sachen und Diensten und dgl. mehr. Wie ist es aber, wenn die eine Leistung sofort erfolgen kann, die andere aber erst später möglich ist? Soll hier auf jeden Austausch verzichtet werden? Das würde eine unerträgliche Verkehrsbeschränkung bedeuten. Andererseits aber wäre die Lage der einen Partei, welche ihre Leistung bereits vollzogen hat und nun die Gegenleistung erwartet, auf das äußerste gefährdet. In den meisten Fällen wohl würde sich die Gegenpartei, deren Begehren nun erfüllt ist, um jenes Begehren wenig kümmern. Auch hier ist Hilfe nur von der Setzung des positiven Rechtes zu erwarten. Die einzelnen Menschen werden gezwungen, die in Aussicht gestellten Leistungen zu vollziehen. Das positive Recht erzeugt durch seine alles ergreifende Macht einen Anspruch der einen und eine Verbindlichkeit der anderen Partei. Darin und nur darin liegt die bindende Kraft der Verträge, daß das positive Recht ihre Erfüllung erzwingt. Das Problem, welches das alte Naturrecht darüberhinaus noch in der Bindung durch Versprechungen und Verträge gesehen hat, ist nach dieser Anschauung in Wahrheit ein leeres Scheinproblem.3 In dieser Weise hat man versucht, das Entstehen der rechtlichen Begriffe und rechtlichen Normen verständlich zu machen. Man hat es auch in anderer Weise versucht. Der wesentliche Punkt aber, über den allgemeine Einigkeit zu herrschen scheint, ist der: daß alle Rechtssätze und –begriffe S c h ö p f u n g e n der rechterzeugenden Faktoren sind, daß es 2

3

Daß das Eigentum sich als positiv-rechtlich sanktioniertes Machtverhältnis darstellt, daß es jedenfalls etwas ist, das sich erst auf Grund eines positiven Rechtes konstituierten kann, darf als die gemeine Meinung bezeichnet werden. Vgl. unter den Philosophen etwa Hume, Traktat über die menschliche Natur (herausgegeben von Th. Lipps), Bd. 2, S. 234ff. oder Schuppe, Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie, S. 295ff. Vgl. z.B. von Jhering, der Zweck im Recht, Bd. I, S. 266f.

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keinen Sinn hat, von einem Sein ihrer, das unabhängig von allem positiven Recht bestünde, zu reden. Dieser Auffassung nun, so bestechend sie auf den ersten Blick sein mag, glauben wir eine fundamental andere entgegensetzen zu müssen. Wir werden zeigen, daß die Gebilde, welche man allgemein als spezifisch rechtliche bezeichnet, ein Sein besitzen so gut wie Zahlen, Bäume oder Häuser; daß dieses Sein unabhängig davon ist, ob es Menschen erfassen oder nicht, daß es insbesondere unabhängig ist von allem positiven Rechte. Es ist nicht nur falsch, sondern im letzten Grunde sinnlos, die rechtlichen Gebilde als Schöpfungen des positiven Rechtes zu bezeichnen, genauso sinnlos, wie es wäre, die Gründung des Deutschen Reiches oder einen anderen historischen Vorgang eine Schöpfung der Geschichtswissenschaft zu nennen. Es liegt wirklich das vor, was man so eifrig bestreitet: das positive Recht findet die rechtlichen Begriffe, die in es eingehen, vor; es e r z e u g t sie m i t n i c h t e n . Wir werden von hier aus weitergehen müssen. Rechtliche Gebilde, so sagten wir, Ansprüche und Verbindlichkeiten z.B., haben ihr unabhängiges Sein, wie Häuser und Bäume. Von diesen letzteren gilt allerlei, was wir in Akten sinnlicher Wahrnehmung und Beobachtung aus der Welt da draußen ablesen können: Irgendein Baum wird’s als blühend erfaßt, irgendein Haus ist weiß gestrichen. In der Beschaffenheit von Baum und Haus als solchen gründen diese Prädikationen nicht. Bäume brauchen nicht zu blühen, Häuser können andere Farben tragen – es sind keine notwendigen Sachverhalte, welche wir in jenen Wahrnehmungen erfassen. Es sind auch keine allgemeinen Sachverhalte, insofern die beiden Prädikationen nur dem einzelnen Baume und dem einzelnen Hause zukommen, ohne daß wir das Recht haben, sie auf alles auszudehnen, was Baum ist oder Haus. Ganz anders steht es um die Sätze, welche von jenen rechtlichen Gebilden gelten. Hier gibt es keine Welt, vor der wir stehen, und aus der wir allerlei Sachverhalte herauszulesen vermögen; hier steht uns eine andere, tiefere Möglichkeit zu Gebote. Indem wir uns in das Wesen dieser Gebilde vertiefen, erschauen wir, was streng gesetzlich von ihnen gilt, erfassen wir in analoger Weise Zusammenhänge wie durch die Vertiefung in das Wesen von Zahlen und geometrischen Gebilden: Das So-Sein gründet hier im Wesen des So-Seienden. Es handelt sich demzufolge nicht mehr um einzelne und zufällige Sachverhalte wie vorhin. Auch wo ich dem

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einzelnen rechtlichen Gebilde, das in irgendeiner Zeit real existiert, eine Prädikation zuerteile, kommt sie ihm nicht als diesem einzelnen zu, sondern als einem Gebilde solcher Art. Damit aber ist gesagt, daß sie a l l e m s c h l e c h t h i n zukommt, welches so geartet ist, und daß sie ihm als solchem n o t w e n d i g zukommt, nicht etwa in irgendeinem einzelnen Falle auch einmal nicht zukommen könnte. Daß irgendeinem Gegenstände in der Welt nebeneinander liegen, ist ein einzelner und zufälliger Sachverhalt. Daß ein Anspruch durch einen Akt des Verzichtes erlischt, gründet im Wesen des Anspruches als solchem und gilt daher notwendig und allgemein. V o n d e n r e c h t l i c h e n G e b i l d e n g e l t e n a p r i o r i s c h e S ä t z e . Diese Apriorität soll nicht Dunkles und Mystisches besagen, sie ist an den schlichten Tatsachen orientiert, die wir erwähnt haben: jeder Sachverhalt, der im angegebenen Sinne allgemein ist und notwendig besteht, wird von uns als ein apriorischer bezeichnet.4 Wir werden sehen, daß es eine reiche Fülle solcher apriorischer Sätze gibt, streng formulierbar und evident einsichtig, unabhängig von allem erfassenden Bewußtsein, unabhängig auch vor allen Dingen von jedem positiven Recht, genauso wie die rechtlichen Gebilde, von denen sie gelten. Wir kennen die allgemein verbreiteten Vorurteile, welche dieser Auffassung, insbesondere bei Juristen, entgegenstehen. Wir verstehen auch sehr wohl, wie es zu diesen Vorurteilen kommen mußte. Aber wir bitten darum, daß man versuche, sich aus der altgewohnten Einstellung herauszubegeben und mit ungetrübtem Blick an die Sachen selbst heranzutreten. Vor allen Dingen wehren wir von Anfang an das Mißverständnis ab, mit welchem wir wohl an schwersten zu kämpfen haben werden: daß wir für den apriorischen Charakter positiv-rechtlicher 4

Ein näheres Eingehen auf die problemreiche Theorie des Apriori ist in diesem Zusammenhange nicht erforderlich. Nur das eine sei besonders betont, daß die Apriorität primär weder den Sätzen noch dem Urteil noch dem Erkennen zukommt, sondern dem »gesetzten«, geurteilten oder erkannten S a c h v e r h a l t . Demzufolge ist auch bei der Art apriorischer Zusammenhänge, die hier allein in Frage steht, nicht das Urteil oder das Erkennen notwendig, sondern das geurteilte oder erkannte So-Sein. Und die »Allgemeinheit« soll nichts weiter sagen, als daß dieses So-Sein, welches im Wesen des Subjekgegenstandes gründet, v o n a l l e m s c h l e c h t h i n gilt, welches teilhat an diesem Wesen.

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Sätze einzutreten gedächten. Davon sind wir weit entfernt; eine solche Auffassung wäre für uns sogar sehr viel sinnloser als für viele Juristen und Philosophen. Denn wir leugnen durchaus, daß positive Rechtssätze als Urteile irgendeiner Art betrachtet werden dürfen. Der Unterschied des Apriorischen und Empirischen hat bei ihnen überhaupt keine Stelle. Daß das positive Recht seine Bestimmungen in absoluter Freiheit trifft, rein auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse, auf die jeweiligen sittlichen Anschauungen u. dgl. fußend, ungebunden durch die Sphäre apriorischer Gesetze, welche wir im Auge haben, erkennen wir natürlich vollkommen an. Das positive Recht kann nach Belieben abweichen von den Wesensgesetzlichkeiten, welche von den rechtlichen Gebilden gelten – wobei es freilich ein eigenes Problem ist, die Möglichkeit solcher Abweichungen verständlich zu machen. Nur das eine behaupten wir – und darauf legen wir allerdings das großte Gewicht: Die sog. spezifisch rechtlichen Grundbegriffe haben ein Außerpositiv-rechtliches Sein, genauso wie die Zahlen ein Sein unabhängig von der mathematischen Wissenschaft besitzen. Das positive Recht mag sie ausgestalten und umgestalten, wie es will: sie selbst werden von ihm vorgefunden, nicht erzeugt. Und ferner: Es gelten von diesen rechtlichen Gebilden ewige Gesetze, welche unabhängig sind von unserem Erfassen, genauso wie die Gesetze der Mathematik. Das positive Recht kann sie in seine Sphäre übernehmen, es kann auch von ihnen abweichen. Aber selbst wo es sie in ihr Gegenteil verkehrt, vermag es ihren Eigenbestand nicht zu berühren.5 Gibt es in dieser Weise an sich seiende rechtliche Gebilde, so eröffnet sich hier der Philosophie ein neues Gebiet. Als Ontologie oder apriorische Gegenstandslehre hat sie sich mit der Analyse aller möglichen Gegenstandsarten als solcher zu befassen. Wir werden sehen, daß sie hier auf eine ganz neue Art von Gegenständen trifft, auf Gegenstände, welche nicht nur Natur im eigentlichen Sinne gehören, die weder physisch noch psychisch sind, und die sich zugleich auch von allen ideellen Gegenständen durch ihre Zeitlichkeit unterscheiden. Auch die Gesetze, welche von diesen Gegenständen gelten, sind von höchstem philoso5

Wir beschränken uns im folgenden auf die Darlegung einiger apriorischer Grundlagen des bürgerlichen Rechtes. Wir sind aber der Überzeugung, daß auch die anderen rechtlichen Disziplinen, insbesondere Strafrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, einer solchen Grundlegung fähig und bedürftig sind.

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phischen Interesse. Es sind apriorische Gesetze, und zwar, wie wir hinzusetzen können, apriorische Gesetze synthetischer Natur. Konnte schon bisher kein Zweifel darüber herrschen, daß Kant die Sphäre dieser Sätze viel zu eng begrenzt hat, so wird dieser Zweifel durch die Aufdeckung der apriorischen Rechtlehre durchaus bestätigt. Neben reiner Mathematik und reiner Naturwissenschaft gibt es auch eine reine Rechtswissenschaft, wie jene zusammengefügt aus streng apriorischen und synthetischen Sätze, und als Grundlage dienend für nichtapriorische, ja sogar außerhalb des Gegensatzes von Apriorischem und Empirischem stehende Disziplinen. Ihre Sätze werden freilich nicht wie die Sätze der reinen Mathematik und Naturwissenschaft unverändert übernommen. Sie machen zwar unser positives Recht und unsere positive Rechtswissenschaft allererst möglich, aber nur umgestaltet und modifiziert vermögen sie, in sie einzugehen. Wie die Selbständigkeit des positiven Rechtes der apriorischen Rechtslehre gegenüber, so müssen wir auch deren Unabhängigkeit gegenüber dem positiven Rechte auf das schärfste betonnen. Es gibt ja weite Gebiete des sozialen Lebens, die unberührt sind von jeder positivrechtlichen Normierung. Auch in ihnen treffen wir jene gewöhnlich als spezifisch-rechtlich bezeichneten Gebilde an, deren Unabhängigkeit vom positiven Rechte wir behaupten, und auch hier gelten dann selbstverständlich jene apriorischen Gesetze. Wie ihre Form von Interesse ist für Gegenständs- und Erkenntnistheorie, so wird hier ihr Inhalt bedeutsam für des sozialen Verkehres dar, auch für Sphären, die außerhalb jeder positiv-rechtlichen Regelung stehen. Die rechtlichen Gebilde bestehen unabhängig vom positiven Rechte, sie werden aber von ihm vorausgesetzt und benutzt. So kann ihre Analyse, die rein immanente, intuitive Klärung ihres Wesens, von Bedeutung werden für die positiv-rechtlichen Disziplinen. Aber auch die Gesetze, die in ihrem Wesen gründen, spielen innerhalb des positiven Rechtes eine weit größere Rolle, als man ahnen mag. Man weiß, wie häufig in der Jurisprudenz von Sätzen die Rede ist, die, ohne geschriebenes Recht zu sein, sich »von selbst verstehen« oder »sich aus der Natur der Sache ergeben« und was dergleichen Wendungen mehr sind. In den weitaus meisten Fällen handelt es sich dabei nicht, wie man gemeint hat, um Sätze, deren Zweckmäßigkeit oder deren Gerechtigkeit ohne weiteres einleuchtet, sondern um

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Gesetzmäßigkeit der apriorischen Rechtslehre. Es sind wirklich Sätze, die sich aus der »Natur« oder dem »Wesen« der in Frage stehende Begriffe ergeben. Daß das positive Recht sich von dem Apriori der allgemeinen Rechtslehre in voller Freiheit emanzipieren kann, haben wir bereits betont; auch diese Möglichkeit werden wir auf Grund apriorischer Gesetze verständlich machen. Aber in der tatsächlichen Rechtsentwicklung finden wir häufig die Tendenz, an ihnen festzuhalten; die dem positiven Rechte immanente Freiheit wird nicht von Anfang an mit voller Kraft betätigt. Die Langsamkeit und Schwierigkeit, mit der sich gewisse Rechtsinstitute entwickelt haben, scheint uns nur von hier aus verständlich zu werden. So dürfen wir hoffen, daß die apriorische Rechtslehre auch der Rechtsgeschichte hier und da einen klärenden Beitrag zu liefern vermag. Ganz unentbehrlich aber scheint sie uns zu sein für das Verständnis des positiven Rechtes als solchen. Solange man daran glaubt, daß alle rechtlichen Begriffe selbst erzeugt, muß man hier vor einem Rätsel stehen. Die Struktur des positiven Rechtes kann erst die Struktur der außerpositivrechtlichen Sphäre verständlich werden. Wir werden im folgenden vor allem die apriorische Rechtslehre als solche behandeln und ihre Anwendung auf spezifisch juristische Fragen zurückstellen müssen. Wir dürfen dabei auf Grund der bisherigen Ausführungen verlangen, daß man uns nicht mit Einwänden zuvorkommt, welche gegen die philosophische Behandlung rechtlicher Probleme bis zum Überdruß erhoben worden sind, mit der – wirklich nicht allzu fern liegenden – Betonung der ständigen Entwicklung und der unbegrenzten Veränderungsmöglichkeiten des positiven Rechtes. Wir haben ja die Absicht, gewisse Linien der Rechtsentwicklung aus der apriorischen Sphäre heraus verständlich zu machen. Dann darf man uns nicht eben diese Entwicklung als Einwand entgegenhalten. Lange genug schon hat man sich durch die starre Einstellung auf diesen Punkt der Blick in eine schöne und reiche Welt verschlossen.

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1. Kapitel Anspruch, Verbindlichkeit und Versprechen §2 Anspruch und Verbindlichkeit Es sei zunächst ein Einzelproblem aus dem großen Gebiete der apriorischen Rechtslehre behandelt. An seiner Hand wollen wir uns den ersten Zugang zu dieser Sphäre verschaffen und dann erst einen Überblick über sie zu gewinnen suchen. Ein Mensch erteilte einem anderen ein Versprechen. Eine eigenartige Wirkung geht von diesem Vorgang aus, eine ganz andere, als wenn etwa ein Mensch dem anderen eine Mitteilung macht oder eine Bitte ausspricht. Das Versprechen schafft eine eigentümliche Verbindung zwischen zwei Personen, kraft deren, um es zunächst ganz roh auszudrücken, die eine etwas verlangen darf und die andere verpflichtet ist, es zu leisten oder zu gewähren. Diese Verbindung erscheint als F o l g e , als P r o d u k t gleichsam des Versprechens. Sie läßt ihrem Wesen nach eine beliebig lange Dauer zu, andererseits aber scheint ihr die Tendenz immanent zu sein, ein Ende und eine Auflösung zu erfahren. Wir sehen verschiedene Wege, die zu einem solchen Ende führen können. Der Versprechensinhalt wird g e l e i s t e t ; hiermit scheint jenes Verhältnis sein natürliches Ende zu finden. Der Versprechensempfänger v e r z i c h t e t ; der Versprechende w i d e r r u f t . Auch hierdurch kann unter Umständen ein Erlöschen eintreten, wenn auch in einer Weise, die uns weniger naturgemäß erscheint. Diese ganze Sachlage kann uns selbstverständlich oder mehrwürdig vorkommen, je nach der Einstellung, in der wir an sie herantreten. Sie ist »selbstverständlich«, insofern es sich hier um etwas handelt, das jeder kennt, an dem man tausendmal vorübergegangen ist, und an dem man jetzt auch zum tausendundeinsten Male vorübergehen kann. Wie es aber auch sonst vorkommt, daß uns vor einem längst bekannten Gegenstände auf einmal die Augen aufgehen, daß wir das, was wir unzählige Male schon gesehen haben, nun zum ersten Male wirklich sehen, in seiner ganzen Eigenart und eigentümlichen Schönheit, so kann es auch hier geschehen. Da ist etwas, das wir als Versprechen kennen oder doch zu kennen

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glauben. Wird dieses Versprechen vollzogen, so tritt mit ihm etwas Neues ein in die Welt. Es erwächst ein Anspruch auf der einen, eine Verbindlichkeit auf der anderen Seite. Was sind das für merkwürdige Gebilde? Sie sind gewiß nicht n i c h t s . Wie könnte man ein Nichts aufheben durch Verzicht oder durch Widerruf oder durch Erfüllung? Aber sie lassen sich auch unter keine der Kategorien bringen, die uns sonst geläufig sind. Sie sind nichts Physisches oder gar Physikalisches; das ist sicher. Eher möchte man versucht sein, sie als etwas Psychisches zu bezeichnen, als Erlebnisse dessen, welcher den Anspruch oder die Verbindlichkeit hat. Aber können ein Anspruch oder eine Verbindlichkeit nicht jahrelang unverändert dauern? Gibt es derartige Erlebnisse? Und weiter: Sind Ansprüche und Verbindlichkeiten nicht auch dann da, wenn das Subjekt keine Erlebnisse hat oder zu haben braucht, im Schlafe oder in tiefer Ohnmacht? Man hat neuerdings begonnen, neben dem Physischen und Psychischen die Eigenart ideeller Gegenstände wieder anzuerkennen. Aber das Wesentliche dieser Gegenstände, der Zahlen, Begriffe, Sätze u. dgl., ist ihre Außerzeitlichkeit. Ansprüche und Verbindlichkeit dagegen entstehen, dauern eine bestimmte Zeitlang und verschwinden dann wieder. So scheinen sie denn zeitliche Gegenstände einer ganz besonderen, bisher nicht beachteten Art zu sein. Wir sehen, daß von ihnen bestimmte unmittelbar einsichtige Gesetze gelten: Ein Anspruch auf eine bestimmte Leistung erlischt in dem Augenblicke, da die Leistung geschehen ist. Das ist kein Satz, den wir aus vielen oder allen bisher beobachteten Erfahrungsfällen gewonnen haben könnten, sondern es ist ein Gesetz, welches allgemein und notwendig im Wesen des Anspruchs als solchem gründet. Es ist ein apriorischer Satz im Sinne Kants und zugleich ein synthetischer. Denn »im Begriffe« des Anspruchs ist davon, daß er unter bestimmten Umständen erlischt, in keinem möglichen Sinne etwas »enthalten«. Das Gegenteil unseres Satzes wäre zwar gewiß falsch, aber einen logischen Widerspruch würde es nicht implizieren. Noch viele andere synthetische Sätze a priori gelten von Anspruch und Verbindlichkeit, in einer Sphäre also, in der man sie gewiß nicht vermutet hätte. Aber ich denke, dieser vorläufige Überschlag genügt, um unserem Ausgangspunkte jeden Anschein von Selbstverständlichkeit zu nehmen. Daß die Philosophie mit dem Staunen vor dem anscheinend Selbstverständlichen beginnt, pflegt ja bereitwillig zugestanden zu werden.

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Und es ist ganz und gar nicht einzusehen, weshalb man dieses Staunen auf das beschränken sollte, was die Geschichte der Philosophie als staunenswert empfiehlt. So wichtig auch die Einstellung ist, in der man Altbekanntes zum ersten Male in seiner Eigenart erschaut, so ist damit doch noch nichts Erledigendes geschehen. Es gilt, das Eigenartige klarzustellen, es von anderem abzuscheiden und in seinen wesentlichen Zügen festzulegen. In unserem Falle gilt es, Klarheit darüber zu schaffen, was ein Versprechen ist – gestehen wir offen, daß wir das durchaus noch nicht wissen; ferner darüber, wann und wie dieses Versprechen Anspruch und Verbindlichkeit erzeugt, was Anspruch und Verbindlichkeit, näher betrachtet, eigentlich sind und welche Schicksale sie erleiden können. Die Betrachtung wird dann weiterzugehen haben. Das Versprechen ist nicht die einzig mögliche Quelle von Anspruch und Verbindlichkeit. Auch aus gewissen Handlungen können sie unter bestimmten Voraussetzungen entspringen. So erwächst aus der Wegnahme einer Sache, welche einem anderen gehört, wesensgesetzlich die Verbindlichkeit und der Anspruch auf die Rückgabe der Sache. Man sieht, wie die Betrachtung dieses Falles sofort auf neue Probleme führt. Wir sprechen von der Sache, welche einem anderen »gehört«; wir können stattdessen auch sagen: welche im Eigentum eines anderen steht. Wir haben auch hier ein eigenartiges Verhältnis, freilich nicht von Person zu Person, sondern von Person zu Sache. Auch dies Verhältnis muß seine Quelle haben, auch hier walten apriorische Gesetzmäßigkeiten. So ist es a priori ausgeschlossen, daß das Gehören so wie Anspruch und Verbindlichkeit seine Quelle in einem Versprechen haben kann.6 Hier sind andere Quellen vorausgesetzt, z.B. die Akte, die wir später unter dem Namen der Übertragung näher betrachten werden. 6

Welchen Inhalt sollte dies Versprechen auch haben? A kann dem B versprechen, eine Sache, die ihm gehört, ihn zu übertragen. Dann erwächst dem B daraus kein Gehören, sondern ein Anspruch auf Übertragung. Oder A verspricht dem B, ihn wie einen Eigentümer verfahren zu lassen. Auch dadurch konstituiert sich lediglich ein entsprechender Anspruch des B gegen A, keinesfalls jenes Gehörensverhältnis zwischen B und der Sache. Man sieht hier deutlich, daß es sich um wesensgesetzliche Zusammenhänge handelt, und nicht um Bestimmungen eines zufälligen positiven Rechtes. Jene dem Juristen selbstverständlichen Sätze erhalten damit eine ganz neue philosophische Bedeutung.

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Vorläufig wollen wir lediglich Anspruch und Verbindlichkeit untersuchen, und auch das nur insoweit, als sie aus Versprechungen entspringen. Von einem positiven Rechte wissen wir noch nichts. Wir wählen unsere Beispiele mit Absicht aus einer Sphäre, die ihm nicht untersteht; es liegt alles daran, unsere Sphäre in ihrer vollen Reinheit zu erfassen. Es verspreche der A dem B, mit ihm spazieren zu gehen, und B nehme das Versprechen an. Es entsteht eine entsprechende Verbindlichkeit des A und ein Anspruch des B. Vielleicht wird das an dieser Stelle noch bestritten. Dann setzt ein solches Bestreiten doch voraus, daß man unter Anspruch und Verbindlichkeit etwas Bestimmtes versteht, und das kann uns vorläufig genügen. Wir wollen ja nur dem, was jene Worte bedeuten, näherkommen. Daß es sich hier um zeitliche Gegenstände einer eigenen, außerphysischen und außerpsychischen Art handelt, haben wir bereits gesehen. Es ist besonders wichtig, sie von den Erlebnissen abzutrennen, in denen sie uns gegenwärtig sind und mit denen sie verwechselt werden können. Es gibt ein Bewußtsein von Anspruch und Verbindlichkeit, ähnlich wie es ein Bewußtsein von Zahlen oder Sätzen gibt. Wir können von einem schlichten Wissen um sie reden; dieses Wissen bleibt rein als Bewußtseinsweise genommen durchaus unverändert, ob es sich auf eigene oder fremde Ansprüche und Verbindlichkeiten bezieht. Es ist ferner durchaus unabhängig davon, ob seine gegenständlichen Korrelate existieren oder nicht, ebenso wie auch umgekehrt Ansprüche und Verbindlichkeiten existieren können, ohne Gegenstand eines solchen Wissens zu sein. Von diesem kalten Wissen ist ein anderes hierher gehöriges sehr wohl zu unterscheiden: das Sichberechtigt- oder Sichverbindlichf ü h l e n , welches im Gegensatze zum Wissen nur bei eigenen Ansprüchen und Verbindlichkeiten möglich ist. Die Eigenart dieser Bewußtseinsweise ist wohl zu beachten. Von einem Fühlen kann man auch bei den Erlebnissen reden, in welchen W e r t e zur Gegebenheit kommen. Während hierbei aber eine scharfe Abhebung stattfindet zwischen dem Werte, auf welchen sich das Fühlen richtet, und diesem Fühlen selbst, welches von ihm Kenntnis nimmt, läßt ein Sicherberechtigtfühlen eine solche Abhebung nicht zu. Der Anspruch ist hier nicht Gegenstand eines mehr oder minder klaren, evtl. sogar evidenten intentionalen Fühlens; wir haben vielmehr ein phänomenal durchaus einheitliches Erlebnis, welches, ohne selbst ein klares Erfassen

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des Anspruches zu sein, vielmehr ein solches Erfassen zur Voraussetzung hat, wenn seine Gültigkeit ausgewiesen werden soll. Die Eigenart dieser Erlebnisse ist noch zu untersuchen. Hier interessiert uns vor allem ihre absolute Unabhängigkeit von den in ihnen in bestimmter Weise sich auswirkenden Ansprüchen und Verbindlichkeiten. Nichts ist ja sicherer, als daß ich mich sehr wohl verbindlich fühlen kann, ohne daß eine Verbindlichkeit wirklich besteht, und daß ich andererseits sehr wohl einen Anspruch haben kann, ohne mich in jedem Augenblicke, in dem ich ihn habe, berechtigt zu fühlen. Hier ist es nun vollkommen klar geworden, wie haltlos jede Theorie ist, welche versucht, Anspruch und Verbindlichkeit als etwas Psychisches zu betrachten. Da wir fast immer Ansprüche oder Verbindlichkeiten irgendeiner Art zu haben pflegen, müßten wir fast immer entsprechende Erlebnisse haben. Solche Erlebnisse aber vermögen wir nicht aufzufinden. Es läßt sich auch von vornherein sagen, daß es sie nicht geben kann. Denn um es nochmals hervorzuheben: Anspruch und Verbindlichkeit können jahreland unverändert dauern, Erlebnisse dieser Art aber gibt es nicht. Anspruch und Verbindlichkeit setzen allgemein und notwendig einen T r ä g e r voraus, eine Person, deren Ansprüche und Verbindlichkeiten sie sind. Und ebenso ist ihnen ein bestimmter I n h a l t wesentlich, auf den sie sich beziehen und dessen Verschiedenheit verschiedenartige Ansprüche und Verbindlichkeiten voneinander unterscheidet. Beides ist unmittelbar einsichtig, bedarf aber noch einer näheren Betrachtung. Die Fundiertheit in einem tragenden Subjekt ist unseren Gebilden gemeinsam mit E r l e b n i s s e n jeglicher Art, die ja ebenfalls stets ein Subjekt voraussetzen, dessen Erlebnisse sie sind. Aber der Kreis möglicher Träger ist hier sehr viel weiter gezogen. Auch Tiere können ja Erlebnisträger sein, aber sie können niemals Träger von Ansprüchen oder Verbindlichkeiten sein. Hier sind Wesensgesetzlich P e r s o n e n als Träger vorausgesetzt; selbstverständlich ist aber nicht jedes Subjekt oder Ich eine Person. Auch der Inhalt von Anspruch und Verbindlichkeit läßt eine nähere Umgrenzung zu. Jede Verbindlichkeit geht auf ein k ü n f t i g e s V e r h a l t e n ihres Trägers, gleichgültig ob dies Verhalten in einem Tun, einem Unterlassen oder einem Dulden besteht. Wohl kann ich die Verbindlichkeit tragen dafür, daß etwas in der Welt geschehe; aber nur dann hat diese Verbindlichkeit einen Sinn, wenn sie die nähere

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Präzisierung zuläßt, daß etwas durch mich und mein Verhalten geschehe. Wohl kann ich verbindlich dafür sein, daß etwas durch einen anderen geschehe. Aber auch hier muß mein Verhalten es sein, welches dazu bestimmt ist, zu dem Verhalten des anderen zu führen. Überall also ist das eigene Verhalten der unmittelbare Inhalt unserer Verbindlichkeiten. Nicht immer aber ist es ihr einziger und letztlicher Inhalt. Wir unterscheiden die Verbindlichkeiten, welche lediglich auf ein Verhalten tendieren und in ihm ihre endgültige Erfüllung finden, und solche, welche durch ein Verhalten hindurch die Realisierung eines Erfolges bezwecken. Nur im ersten Falle handelt es sich notwendig um b e s t i m m t e Verhaltungsweisen; im zweiten pflegt es nur der E r f o l g zu sein, der bestimmt ist, und dessen Realisierungsweise dem Belieben des verbindlichen Subjektes überlassen werden kann. Das Verhalten, welches den Inhalt der Verbindlichkeit bildet, kann den Träger des entsprechenden Anspruches zum Zielpunkte haben, notwendig ist das aber keineswegs. Ich kann dazu verbindliche sein, dem B, welcher den entsprechenden Anspruch hat, hundert Mark zu zahlen. Diese Zahlung kann aber auch an einen beliebigen Dritten gehen, ohne daß B darum aufhören müßte, der Anspruchsträger zu sein. Die Verbindlichkeit, einem gegenüber etwas zu leisten, ist etwas anderes als die Verbindlichkeit einem gegenüber, etwas zu leisten. Wir unterscheiden also zwischen dem Inhaltsadressaten der Verbindlichkeit und dem Verbindlichkeitsadressaten selbst. Jede Verbindlichkeit, derart wie wir sie jetzt betrachten, hat als solche einen Gegner, insofern sie jemand voraussetzt, dem gegenüber sie besteht. Der Verbindlichkeitsgegner ist zugleich der Träger eines inhaltsidentischen Anspruches; auch dieser Anspruch hat notwendig seinen Gegner, der zugleich der Träger der Verbindlichkeit ist. So besteht eine eigenartige Korrelativität zwischen Anspruch und Verbindlichkeit, eine Identität des Inhaltes und ein wechselseitiges streng gesetzliches Verflochtensein von Trägerschaft und Gegnerschaft. Der Inhalt aber kann eine beliebige Adressierung haben, ja sogar einer Adressierung völlig ermangeln. Einen Träger und einen Inhalt fordern Anspruch und Verbindlichkeit mit Notwendigkeit. Die Richtung gegen eine andere Person ist dagegen nicht notwendig mit ihnen verknüpft. Zwar gilt das Gesetz, daß ganz allgemein jede Verbindlichkeit, die einem anderen gegenüber besteht,

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einen entsprechenden Anspruch dieses anderen fordert, und umgekehrt jeder relative Anspruch eine relative Verbindlichkeit. Aber die Relativität von Anspruch und Verbindlichkeit selbst ist nichts Notwendiges, es gibt absolute Verbindlichkeiten und absolute Ansprüche oder, wie wir lieber sagen wollen, absolute Rechte. Ebenso wie A dem B versprechen kann, etwas zu tun, und damit eine Verbindlichkeit in seiner Person und einen Anspruch in der Person eines anderen schafft, kann auch B dem A eine Verbindlichkeit auferlegen, und A kann sie auf sich nehmen, ohne daß diese Verbindlichkeit dem B oder irgendeiner anderen Person gegenüber bestünde und ohne daß, was damit zugleich gesagt ist, auf seiten des B oder einer anderen Person ein Anspruch dem A gegenüber bestünde. Es ist nicht ganz leicht, Realisierung solcher absoluter Verbindlichkeiten im praktischen Leben zu finden. Wir erinnern vorläufig an gewisse öffentlichrechtliche Verbindlichkeiten. Der Staat ist zu bestimmten Verhaltungsweisen verbindlich, ohne daß doch diese Verbindlichkeit irgendwelchen Personen gegenüber besteht. Man kann darüber streiten, ob im einzelnen Falle absolute Verbindlichkeiten gegeben sind. Daß sie wesensgesetzlich möglich sind, ist zweifellos. Neben sie stellen wir die absoluten Rechte, welche ebenfalls nur eine Person als Träger voraussetzen, aber keine zweite, der gegenüber sie bestehen. Dagegen unterscheiden sich Verbindlichkeiten und Rechte in einem wesentlichen Punkte: Während Verbindlichkeiten ihrem Wesen nach nur auf ein eignes Verhalten gehen können, gleichgültig ob sie absolut oder relativ bestehen, haben wir bei den Rechten zwei Fälle zu unterscheiden. Relative Rechte können sich nur auf fremdes Verhalten beziehen, absolute Rechte dagegen nur auf das eingene. Rechte auf eigenes Tun, die nur einer bestimmten Person gegenüber bestehen, scheinen uns ebensowenig möglich zu sein,7 als Rechte auf ein fremdes Verhalten, die nicht der fremden Person gegenüber bestünden. Es ist von der größten Wichtigkeit, die absoluten und relativen Verbindlichkeiten wie die absoluten und relativen Rechte (welch letztere wir stets als Ansprüche bezeichnen werden) von den sittlichen Verpflichtungen und sittlichen Berechtigungen zu unterscheiden. Auch diese besitzen zwar notwendig Träger und Inhalt, auch sie lassen die 7

Daß absolute Rechte von einer bestimmten Person a b g e l e i t e t , etwa übertragen sein können, ist eine davon wohl zu unterscheidende Tatsache.

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Einteilung in absolute und relativ zu, im übrigen aber sind sie grundverschieden, nicht nur in Rücksicht auf den spezifisch sittlichen Charakter, den sie tragen, sondern auch bezüglich der Gesetzmäßigkeiten, welche von ihnen gelten. Während jene anderen Gebilde aus freien Akten von Personen entspringen können, relative Verbindlichkeiten und Ansprüche z.B. aus erteilten oder empfangenen Versprechen, absolute Rechte aus einem Akte der Übertragung, absolute Verbindlichkeiten aus einem Akte der Übertragung, absolute Verbindlichkeiten aus einem Akte der Übernahme, ist dies bei den entsprechenden sittlichen Gebilden ausgeschlossen. Eine absolute sittliche Berechtigung, das Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit z.B., kann seinen Ursprung in der Person als solcher haben, eine relative sittliche Berechtigung, etwa der Anspruch auf die Hilfe eines Freundes, kann aus dem Verhältnis entspringen, in dem die berechtigte Person zu der anderen steht. Aber in willkürlichen Akten als solchen können sie niemals ihren Grund haben. Während ferner jene früher behandelten absoluten Rechte und Ansprüche ihrer Natur nach sehr wohl auf andere Personen übertragen werden können, ist es ausgeschlossen, daß eine Person ihre sittliche Berechtigung auf freie Entfaltung oder ihren sittlichen Anspruch aus dem Freundschaftsverhältnis auf eine fremde Person überträgt. Schließlich kann der Inhaber absoluter Rechte und relativer Ansprüche durch eigenen Akt wirksam auf seine Rechte verzichten. Der Inhaber der sittlichen Berechtigungen dagegen vermag wohl ihre Ausübung zu unterlassen, er kann aber das, was im Wesen einer Person oder in ihrem Verhältnis zu anderen Personen gründet, nicht durch einen willkürlichen Akt aus der Welt schaffen. Nur was aus freien Akten entspringt, vermag durch freie Akte wieder aufgehoben zu werden. Ähnlich liegt die Sache bei Situation V e r p f l i c h t u n g e n . Auch sie können niemals aus Akten als solchen entspringen. Jede sittliche Verpflichtung hat zur notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingung die sittliche Rechtheit von Sachverhalten, sie setzt speziell voraus, daß die Existenz des V e r h a l t e n s einer bestimmten Person, welches den Inhalt ihrer Verpflichtung bildet, an sich oder infolge der

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Rechtheit anderer, damit verknüpfter Sachverhalte sittlich recht ist.8 Das gilt sowohl für die a b s o l u t e n Verpflichtungen, welche man gewöhnlich schlechthin als Pflichten bezeichnet, wie auch für die den relativen sittlichen Berechtigungen entsprechenden r e l a t i v e n sittlichen Verpflichtungen, welche von der Ethik bisher nicht beachtet worden zu sein scheinen. Jene anderen Verbindlichkeiten dagegen erwachsen, ohne Ansehung ihres Inhaltes, aus freien Akten von Personen, aus einer Übernahme etwa oder aus einem Versprechen. Sowenig sittliche Berechtigung übertragen, sowenig können sittliche Verpflichtungen von anderen Personen übernommen werden. Auch dies kann nur mit den außersittlichkeiten geschehen. Und während schließlich jede relative Verbindlichkeit durch einen Verzicht des Gegners erlöschen kann, kann der Gegner einer sittlichen Verpflichtung zwar die Geltendmachung seines sittlichen Rechtes unterlassen, aber er vermag niemals durch einen freien Akt eine sittliche Verpflichtung zu annullieren. Möglicherweise läßt ein solcher Akt das vorher gebotene Verhalten nun als nicht mehr geboten erscheinen, so daß keine sittliche Verpflichtung mehr besteht. Stets aber muß der g e s a m t e T a t b e s t a n d auf seine sittliche Bedeutsamkeit hin geprüft werden. Sowenig freie Akte als solche sittliche Verpflichtungen erzeugen können, sowenig können sie sie vernichten. Man wird einwenden, daß doch auch bei einem Versprechen oder bei der Übernahme einer Verbindlichkeit eine sittliche Verpflichtung zur Realisierung ihres Inhaltes bestehe. Das ist sicher richtig, und ist zugleich besonders geeignet, die Verschiedenheit, die wir hier betonen, ins Licht zu rücken. Weil aus jenen Akten Verbindlichkeiten entspringen, besteht eine sittliche Verpflichtung, ihren Inhalt auszuführen. Es gilt als Wesensgesetz, daß die Erfüllung absoluter und relativer Verbindlichkeit sittliche Pflicht ist. Man sieht wie hier Verbindlichkeit und sittlich Verpflichtung nebeneinander 8

Von dem sittlichen Werte von Personen, Handlungen, Akten suf. unterscheiden wir auf das strengste die sittliche Rechtheit, welche Sachverhalten und nur Sachverhalten zukommen kann. Zwei Sphären der Ethik werden dadurch abgegrentzt, welche untereinander durch unmittelbar einsichtige Wesenszusammenhänge verknüpft sind. So ist es sittlich recht, daß ein sittlich wertvoller Gegenstand existiert, der kontradiktorische Sachverhalt ist sittlich unrecht usf. Ferner ist die Realisierung eines ethish rechten Sachverhaltes sittlich wertvoll, seine Unterlassung sittlich unwert usw.

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bestehen, die zweite aber dabei das Bestehen der ersten voraussetzt. In anderen Fällen besteht die unabhängig von jedem Akte und von jeder darin gründenden Verbindlichkeit. Niemals aber darf beides miteinander verwechselt werden. Wir sind durch die letzten Überlegungen schon gezwungen gewesen, einen Blick auf den Ursprung von Rechten und Verbindlichkeiten zu werfen. Wir müssen nun in eine genauere Analyse eintreten und beschränken uns dabei unserem Plane gemäß, zunächst auf Anspruch und relative Verbindlichkeit. Wir stellen zuerst ein allgemeines, in sich selbst einsichtiges Gesetz auf: Kein Anspruch und keine Verbindlichkeit beginnt ohne »Grund« zu existieren oder erlischt ohne einen solchen Grund. Es ist ja ohne weiteres klar: Soll ein Anspruch erwachsen oder erlöschen, so muß in dem Augenblick, in dem er erwächst oder erlischt, irgendetwas eingetreten sein, a u s dem und d u r c h das er erwächst. Und wir können sogleich hinzufügen: Immer wenn genau dasselbe Geschehen wieder eintritt, muß auch der entsprechende Anspruch wieder erwachsen (erlöschen). Er ist durch das Geschehen notwendig und hinreichend determiniert. Dieser Satz von der eindeutigen Determination zeitlicher Existenzen ist uns gewiß vertraut. Bemerkenswert ist nur, daß wir hier eine neue und eigenartige Sphäre seiner Geltung gefunden haben. Wir müssen uns freilich davor hüten, alles was wir von der notwendigen Determination auf anderen Gebieten, etwa bei dem äußeren Naturgeschehen, wissen oder zu wissen glauben, ohne weiteres, mit blinden Augen, auf unsere Sphäre zu übertragen. Ein durchgeführter Vergleich würde uns dazu zwingen, allzu weit auf die Betrachtung der kausalen Verhältnisse in der Natur einzugehen. Wir beschränken uns daher darauf, auf einige wesentliche Punkte aufmerksam zu machen. Als allgemein zugestanden darf es gelten, daß es sich bei den kausalen Beziehungen des äußeren Geschehens nicht um u n m i t t e l b a r e i n s i c h t i g e u n d n o t w e n d i g e Wesenszusammenhänge handelt. Mögen wir, um mit Hume zu reden, wie immer zu dem Satze gekommen sein, daß das Feuer Rauch erzeugt, so liegt es doch gewiß nicht im Wesen des Feuers einsichtig begründet, daß es so ist, so etwa wie es im Wesen der Zahl 3 liegt, größer zu sein als die Zahl 2. Daß die kausale Relation keine

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n o t w e n d i g e »I d e e n r e l a t i o n « ist, steht außer Zweifel.9 Es wäre aber verfehlt, diesen Satz auf jede Zusammenhangsbeziehung zwischen zeitlich Existierendem auszudehnen. Der Fall, welcher uns hier beschäftigt, ist der beste Beweis dafür. Ein »Grund« der Anspruch und Verbindlichkeit erzeugen kann, ist das Versprechen. Aus ihm gehen – wie wir noch näher zeigen werden – Anspruch und Verbindlichkeit hervor; wir können uns das zur Einsicht bringen, indem wir uns in aller Klarheit vergegenwärtigen, was ein Versprechen ist, und nun erschauen, daß es im Wesen eines derartigen Aktes gründet, unter bestimmten Umständen Anspruch und Verbindlichkeit zu erzeugen. So ist es also keineswegs die Erfahrung, welche uns über die Existenzialverknüpfung dieser Gebilde belehrte oder auch nur eine mitwirkende Rolle hätte; es handelt sich vielmehr um einen unmittelbar einsichtigen und notwendigen Wesenszusammenhang. Das Erwachsen eines Anspruchs oder einer Verbindlichkeit bedarf wie das Eintreten einer Veränderung in der äußeren Natur eines zureichenden Grundes. Wir haben bisher gesehen, daß nur im ersten Falle eine unmittelbar einsichtige und notwendige Wesensbeziehung zwischen »Grund« und »Folge« besteht. Wir werden jetzt auf einen weiteren Unterschied aufmerksam, der wohl noch eigentümlicher erscheinen mag. Ist die Folge in der äußeren Natur einmal da, so kann sie uns – idealiter gesprochen – jederzeit zur selbständigen Gegebenheit kommen. Die durch den Stoß mit der Stange verursachte Bewegung der Kugel kann ich für sich wahrnehmen, ohne daß ich noch einmal in der Wahrnehmung oder in Gedanken auf den Stoß zurückzugehen brauchte. Wenn wir beachten, daß jedem Gegenständlichen ein bestimmt gearteter Akt zugeordnet ist, in dem es zur Selbstgegebenheit zu kommen vermag, so können wir sagen: Der Akt, in welchem die Wirkung zur Gegebenheit kommt, bedarf keiner Fundierung durch einen die Ursache erfassenden Akt. Dagegen ist es nicht möglich, einen Anspruch oder eine Verbindlichkeit selbständig in ihrer Existenz zu erfassen. Will ich mich von der Existenz der Bewegung überzeugen, so brauche ich nur die Augen aufzumachen. Bei Ansprüchen oder Verbindlichkeiten aber ist es unumgänglich, immer wider auf ihren »Grund« zurückzugehen. Erst dadurch, daß ich die Existenz des 9

Inwieweit andersartige Wesensbeziehungen hier eine Rolle spielen können, bleibe dahingestellt.

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Versprechens noch einmal feststellen, kann ich die Existenz dessen, was aus ihm folgt, feststellen. Einen selbständigen existenzfeststellenden Akt, der inneren oder äußeren Wahrnehmung vergleichbar, gibt es hier nicht. Das ist sicherlich eine sehr merkwürdige Tatsache, aber es ist eben eine Tatsache. Eine Analogie für sie können wir auf einem sonst wenig verwandten Gebiete finden. Der Sachverhalt, den ein mathematischer Lehrsatz ausspricht, besteht, und dies Bestehen hat seinen Grund in einer Anzahl anderer Sachverhalte, aus denen er folgt. Auch hier liegt eindeutige Determination vor; freilich sind es nicht existierende Gegenstände, sondern bestehende Sachverhalte, welche in der Determination stehen, und die Beziehung des Begründetseins dieser Sachverhalte ist eine ganz andere als die des Erzeugtwerdens von Anspruch und Verbindlichkeit durch das Versprechen.10 Uns kommt es aber auf die Analogie an, die hier ungeachtet aller Verschiedenheiten vorhanden ist. Ein durch andere Sachverhalte begründeter Sachverhalt besteht auf Grund dieser Sachverhalte, entsprechend wie ein Anspruch, der aus einem Versprechen erwächst, eben dadurch existiert. Wenn ich aber den Bestand des Sachverhaltes neu erfassen will, so steht mir kein frei- und selbsterfassender Akt zur Verfügung. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als auf die begründenden Sachverhalte zurückzugehen und ihn aus diesen nochmals abzuleiten, genauso wie ich auf das zugrunde liegende Versprechen zurückgehen muß, um die Existenz des Anspruchs abermals festzustellen. Man hat – ob mit Recht, oder Unrecht, sei dahingestellt – oft den Satz ausgesprochen, daß, wie gleiche Ursachen gleiche Wirkungen, so auch gleiche Wirkungen stets gleicht Ursachen haben. Der Satz ist bestritten worden. Für die Sphäre der Begründungszusammenhänge von Sachverhalten wird die Ungültigkeit eines analogen Satzes jedenfalls allgemein anerkannt werden. Ein Sachverhalt kann aus sehr verschiedenartigen Sachverhaltsgruppen folgen und gefolgert werden. Auch in diesem Punkte weist das Gebiet, welches uns hier speziell beschäftigt, die größere Verwandtschaft mit der Sachverhaltssphäre auf. Der gleiche Anspruch und die gleiche Verbindlichkeit können aus sehr verschiedenen Quellen 10

Vgl. dazu meine Abhandlung »Zur Theorie des negativen Urteils« in den Münchener philosophischen Abhandlungen, S. 220ff. [der Orig. -pag.].

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entspringen. So kann ich meinen Anspruch auf die Rückgabe einer mir gehörigen Sache einmal ableiten aus dem Versprechen der Rückgabe, welches der gegenwärtige Inhaber der Seche mir gemacht hat. Oder ich kann ihn ableiten aus dem eigenartigen Verhältnisse, in dem ich zu der Sache stehe, daraus, daß die Sache mir gehört. Wir haben uns vorgenommen, hier nur von einer einzigen Anspruchsund Verbindlichkeitsquelle zu reden: von dem Versprechen. Untersuchen wir diese Quelle und ihre Beziehung zu dem, was aus ihr erwächst, so stellen sich Schwierigkeiten heraus, von denen man nichts ahnt, solange man zu der »Selbstverständlichkeit«, daß ein Versprechen Anspruch und Verbindlichkeit erzeugt, in der Fernstellung des gewöhnlichen Lebens steht. W a s i s t e i g e n t l i c h e i n V e r s p r e c h e n ? Die gemeinübliche Antwort darauf lautet: Das Versprechen ist eine Willenserklärung; spezieller, es ist die Äußerung oder Kundgabe der Absicht, im Interesse eines anderen, dem gegenüber die Äußerung geschieht, etwas zu tun oder zu unterlassen. Inwiefern diese Äußerung verbindlich machen und berechtigen soll, leuchtet dabei freilich wenig ein. Es ist ja sicher, daß die bloße Absicht, etwas zu tun, noch keine derartige Wirkung hat. Gewiß, eine eigenartige psychologische Bindung, eine innere Tendenz, vorsatzgemäß zu handeln, pflegt sich aus jedem Entschluß, den ich fasse, zu ergeben. Aber diese innere psychische Tendenz ist gewiß keine objektive Verbindlichkeit, und noch weniger hat sie etwas zu tun mit dem objektiven Anspruch eines anderen. Aber wenn es so ist, was kann dann an diesem Tatbestande dadurch geändert werden, daß ich meinen Entschluß kundgebe, daß ich einem anderen gegenüber es zum Ausdruck bringe, daß ich dieses oder jenes für ihn tun will? Es ist doch auch sonst nicht so, daß mir aus der Äußerung eines Willensvorsatzes ohne weiteres eine entsprechende Verbindlichkeit erwächst. Warum soll es nun gerade in dem einen Falle so sein, wo der Inhalt meines Wollens einen Vorteil für einen anderen bedeutet? Man hat zahlreiche Versuche gemacht, diese problematische Bindung durch Versprechungen zu »erklären«. Man hat etwa geleugnet, daß eine solche Bindung natürlicherweise überhaupt bestehe, und sie auf künstliche Veranstaltung, welche der Staat oder die Gesellschaft aus Zweckmäßigkeitsgründen getroffen habe, zurückgeführt. Oder man hat an dem psychologischen Bindungserlebnis, welches jeder Entschluß erzeugt,

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angesetzt und zu zeigen gesucht, wie dieses Erlebnis durch die Kenntnisnahme des anderen eine Modifizierung und Objektivierung erfahrt. Oder man hat aus den Konsequenzen argumentiert. Weil derjenige, welcher Kenntnis von dem Entschluß erhält, im Vertrauen darauf allerlei tun wird, und weil er dann durch die Nichtausführung des Entschlusses Schaden erleiden könnte, ist jeder, der sein Vorhaben anderen kundgibt, an diesen Entschluß gebunden.11 Wir werden später Gelegenheit haben, die Haltlosigkeit aller dieser Theorien aufzuweisen. Vorläufig sei nur bemerkt, daß schon die Grundlage, von denen sie und andere Theorien ausgehen, verfehlt ist. Keineswegs ist das Versprechen nichts weiter als die schlichte Kundgabe eines Willensentschlusses. Halten wir uns streng an den Fall, wo ich den Vorsatz fasse, für einen anderen etwas zu tun, und wo ich ferner diesem anderen mitteile, daß ich diesen Vorsatz gefaßt habe, so ist damit durchaus kein Versprechen erteilt. Eine Vorsatzmitteilung und ein Versprechen sind grundverschiedene Dinge, darüber darf man sich nicht dadurch hinwegtäuschen lassen, daß sich beide unter Umständen des gleichen sprachlichen Ausdrucks bedienen. Übersieht man das, so muß man sich freilich in aussichtslosen Konstruktionen erschöpfen, um Anspruch und Verbindlichkeit aus der Vorsatzäußerung abzuteilen. Unsere erste Aufgabe ist es demgemäß, klarzustellen, was ein Versprechen eigentlich ist. Hierzu müssen wir etwas weiter ausholen. Es ist notwendig, einen fundamentalen neuen Begriff einzuführen. §3 Die sozialen Akte Aus der unendlichen Sphäre möglicher Erlebnisse heben wir eine bestimmte Art heraus: die Erlebnisse, die nicht nur dem Ich angehören, sondern in denen sich das Ich a l s t ä t i g e r w e i s t . Wir wenden uns einem Dinge zu, wir fassen einen Vorsatz; das sind Erlebnis, die nicht nur im Gegensatz stehen zu den Fällen, wo sich uns etwas, ein Geräusch etwa 11

Über andere Vertragstheorien vgl. Stammler im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl. Bd. 8, S. 334f.

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oder ein Schmerz, aufdrängt, sondern auch zu den Fällen, in denen von einer eigentlichen Passivität des Ich nicht gesprochen werden kann: wenn wir etwa heiter oder traurig sind, wenn wir uns über etwas begeistern oder empören, wenn wir einen Wunsch oder Vorsatz haben und in uns tragen. Wir wollen jene Erlebnisse als s p o n t a n e A k t e bezeichnen: die Spontaneität soll dabei das innere Tun des Subjektes bezeichnen. Es wäre ganz verfehlt, diese Erlebnisse durch ihre I n t e n t i o n a l i t ä t kennzeichnen zu wollen. Intentional ist auch das Bedauern, das in mir aufsteigt, der Haß, der sich mir aufdrängt, insofern sie beide sich auf irgendetwas Gegenständliches beziehen. Spontane Akte aber weisen n e b e n ihrer Intentionalität noch ihre Spontaneität auf, dies eben, daß in ihnen das Ich sich als der phänomenale Urheber des Aktes erweist. Auch von der A k t i v i t ä t in ihren vielen möglichen Bedeutungen ist die Spontaneität durchaus zu trennen. So kann ich eine Empörung, die von mir ausgeht, als aktiv bezeichnen, im Gegensatz zu der Betrübnis, die mich beschleicht oder plötzlich überfällt. Oder ich nenne das Haben eines Vorsatzes aktiv, insofern ich es bin, der den Vorsatz trägt. Von dem H a b e n eines Vorsatzes aber, sei es nun aktuell oder inaktuell, unterscheiden wir das F a s s e n des Vorsatzes, von dem Zuständlichen das punktuelle Erleben, das ihm vorausgegangen ist oder vorausgegangen sein kann; und hier erst, in dem Vorsatzf a s s e n , haben wir das, was wir meinen: ein Tun des Ich und damit einen spontanen Akt. Beispiele solcher spontanen Akte stellen sich sofort in Fülle ein: das Sichentschließen, das Vorziehen, das Verzeihen, Loben, Tadeln, Behaupten, Fragen, Befehlen usf. Sieht man diese Fälle etwas näher an, so fällt sofort ein wesentlicher Unterschied auf; auf diesen Unterschied kommt es uns hier an. Der Akt des Sichentschließens ist ein interner. Er wird vollzogen, ohne daß er verlautbart wird, oder ohne daß er doch verlautbart zu werden braucht. Gewiß kann sich der Entschluß in Mienen oder Gesten ausprägen; ich kann ihn auch nach außen kundgeben, ihn anderen mitteilen, wenn ich will. Aber notwendig, dem Akte als solchem wesentlich ist das natürlich nicht. Er kann sehr wohl rein innerlich verlaufen, er kann beruhigt in sich selbst bleiben, ohne in irgendeinem Sinne eine Äußerung zu erfahren. Man sieht sofort, daß sich das bei bestimmten anderen spontanen Akten anders verhält. Ein Befehl oder eine Bitte u. dgl. kann sich offenbar nicht rein innerlich vollziehen.

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Betrachten wir einen dieser eigenartigen Akte etwas näher. Das Befehlen ist zweifellos ein spontaner Akt, insofern es sich als ein Tun des Subjektes darstellt. Aber es setzt im Unterschiede zu anderen spontanen Akten, wie der Zuwendung oder dem Vorsatzfassen, neben dein vollziehenden noch ein zweites Subjekt voraus, auf welches sich der Akt, den das erste Subjekt vollzieht, in eigenartiger Weise bezieht. Es gibt Erlebnisse, in denen das vollziehende und das Bezugssubjekt identisch sein können, es gibt eine Selbstachtung, einen Selbsthaß, eine Selbstliebe u. dgl. Anderen Erlebnissen dagegen ist ein fremdes Bezugssubjekt wesentlich; wir nennen sie f r e m d p e r s o n a l e Erlebnisse. Ich kann mich nicht selbst beneiden, mir nicht selbst verzeihen u dgl. m. Es ist ohne weiteres klar, daß der Akt des Befehlens als ein fremdpersonaler Akt zu charakterisieren ist.12 Aber auch damit ist seine Eigenart noch nicht erschöpft. Es springt sofort in die Augen, daß er sich in einem wesentlichen Punkte von anderen fremdpersonalen Akten, dem Verzeihen etwa, unterscheidet. Er hat nicht nur eine notwendige Beziehung auf ein fremdes Subjekt, sondern er w e n d e t s i c h a u c h a n e s . Wie das Fassen eines Vorsatzes, so kann auch der Akt, der sich verzeihend auf eine andere Person richtet, rein innerlich und ohne Kundgabe nach außen verlaufen. Der Befehl dagegen gibt sich, in seiner Wendung an den anderen, k u n d , e r d r i n g t i n d e n a n d e r e n e i n , es ist ihm die Tendenz wesentlich, von dem anderen v e r n o m m e n z u w e r d e n . Wir werden niemals einen Befehl vollziehen, wenn wir bestimmt wissen, daß das Subjekt, an das wir uns befehlend wenden, unfähig ist, seiner innezuwerden. Der Befehl ist seinem Wesen nach v e r n e h m u n g s b e d ü r f t i g . Wohl kommt es vor, daß Befehle erteilt, aber nicht vernommen werden. Dann haben sie ihre Aufgabe verfehlt. Sie sind wie geschleuderte Speere, welche niederfallen, ohne ihr Ziel zu erreichen. Wir bezeichnen die spontanen und vernehmungsbedürftigen Akte als s o z i a l e Akte. Daß nicht alle fremdpersonalen Akte vernehmungsbedürftig sind, haben wir bereits am Beispiele des Verzeihens gesehen. 12

Mir selbst kann ich nur dadurch etwas befehlen, daß ich mir mein Selbst künstlich als etwas anderes und Quasi-Fremdes gegenüberstelle. Der Selbstliebe dagegen haftet diese Künstlichkeit nicht an.

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Wir werden später sehen, daß auch nicht alle vernehmungsbedürftigen Akte fremdpersonale sind. Einzig au der Vernehmungsbedürftigkeit wird der Begriff der sozialen Akte von uns orientiert. Man muß sich davor hüten, diese neue Sachlage durch das Hineintragen der altgewohnten Vorstellungen zu verfälschen. Ein Befehl ist weder eine rein äußerliche Handlung, noch ist er ein rein innerliches Erlebnis, noch ist er die kundgebende Äußerung eines solchen Erlebnisses. Die letzte Möglichkeit liegt wohl am nächsten. Aber es ist leicht zu sehen, daß es beim Befehl gar kein Erlebnis gibt, das da geäußert wird, evtl. aber auch nicht geäußert werden könnte, und ferner, daß es bei ihm nichts gibt, was wirklich als reine Kundgabe eines internen Erlebnisses aufgefaßt werden könnte. Vielmehr ist das Befehlen ein Erlebnis eigener Art, ein Tun des Subjektes, dem neben seiner S p o n t a n e i t ä t , seiner I n t e n t i o n a l i t ä t und F r e m d p e r s o n a l i t ä t die V e r n e h m u n g s b e d ü r f t i g k e i t wesentlich ist. Was hier für den Befehl ausgeführt wurde, gilt auch für das Bitten, Ermahnen, Fragen, Mitteilen, Antworten und noch vieles andere. Sie alle sind soziale Akte, welche von dem, der sie vollzieht, i m V o l l z u g e s e l b s t einem anderen zugeworfen werden, um sich in seine Seele einzuhaken. Die Kundgabefunktion der sozialen Akte könnte sich unter Menschen nicht erfüllen, wenn die Akte nicht in irgendeiner Weise in die Erscheinung treten. Wie alle anderen fremden Erlebnisse, so können auch die sozialen Akte nur durch Physisches hindurch erfaßt werden; sie bedürfen einer Außenseite, wenn sie vernommen werden sollen. Erlebnisse, welchen keine Wendung nach außen wesentlich ist, können abkaufen, ohne irgendwie in die Erscheinung zu treten. Die sozialen Akte dagegen haben eine innere und eine äußere Seite, gleichsam eine Seele und einen Leib. Der Leib sozialer Akte kann bei identischer Seele in weitem Ausmaße variieren. Der Befehl kann in Mienen, in Gesten, in Worten in Erscheinung treten. Man darf die Äußerung sozialer Akte nicht verwechseln mit der unwillkürlichen Weise, in der allerlei innere Erlebnisse, Scham oder Zorn oder Liebe, sich nach außen hin spiegeln können. Sie ist vielmehr durchaus willkürlicher Natur und kann, je nach den Verständnisfähigkeiten des Adressaten, mit größter Überlegung und Umsicht ausgewählt werden. Auf der anderen Seite darf sie aber auch nicht verwechselt werden mit der Konstatierung von Erlebnissen, die gerade

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stattfinden oder soeben stattgefunden haben. Sage ich: »Ich fürchte mich« oder »ich will das nicht tun«, so haben wir da eine äußernde Bezugnahme auf Erlebnisse, welche auch ohne eine solche Bezugnahme hätten verlaufen können. Der soziale Akt dagegen, wie er von Mensch zu Mensch vollzogen wird, scheidet sich nicht in einen selbständigen Aktvollzug und eine zufällige Konstatierung, sondern bildet eine innige Einheit aus willkürlichem Vollzug und willkürlicher Äußerung. Das Erlebnis ist hier ja nicht möglich ohne die Äußerung. Die Äußerung ihrerseits ist nichts, was zufällig hinzutritt, sondern steht im Dienste des sozialen Aktes und ist notwendige, um seine kundgebende Funktion zu erfüllen. Gewiß gibt es auch für soziale Akte zufällige Konstatierungen: «Ich habe soeben den Befehl erteilt«. Diese Konstatierungen beziehen sich dann aber auf den ganzen sozialen Akt mit seiner Außenseite, welche demnach auf keinen Fall mit der Konstatierung ihrer selbst verwechselt werden darf. Ein wichtiger Punkt darf bei diesen Überlegungen nicht übersehen werden. Die Wendung an ein anderes Subjekt, die Vernehmungsbedürftigkeit, ist für jeden sozialen Akt absolut wesentlich. Daß er in äußere Erscheinung tritt, ist nur deshalb und nur da erforderlich, wo die Subjekte, innerhalb deren die sozialen Akte sich vollziehen, psychische Erlebnisse nur auf physischer Grundlage erfassen können. Denken wir uns eine Gemeinschaft von Wesen, die imstande sind, ihre gegenseitigen Erlebnisse direkt und unmittelbar wahrzunehmen, so werden wir anerkennen müssen, daß in einer solchen Gemeinschaft soziale Akte, welche nur eine Seele und keinen Leib besitzen, sehr wohl vorkommen können. So verzichten wir Menschen in der Tat darauf, unsere sozialen Akte in äußere Erscheinung treten zu lassen, sobald wir annehmen, daß das Wesen, an welches wir sie richten, unser Erleben direkt zu erfassen vermag. Man denke an das stumme Gebet, welches sich an Gott wendet und sich ihm kundzugeben tendiert, welches demnach als ein rein seelischer sozialer Akt betrachtet werden muß. Wir treten in eine nähere Analyse einzelner sozialer Akte ein. Zunächst die Mitteilung. Ich kann ü b e r z e u g t sein von irgendeinem Sachverhalte und diese Überzeugung in mir verschlossen halten. Ich kann der Überzeugung auch Ausdruck geben in einer B e h a u p t u n g . Auch hier haben wir noch keine Mitteilung. Ich kann die Behauptung für mich aussprechen, ohne jedes Gegenüber, an das sie sich wendete. Der

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M i t t e i l u n g aber ist diese Wendung immanent. Es liegt in ihrem Wesen, sich an einen anderen zu wenden und ihren Inhalt ihm kundzutun. Geht sie an einen Menschen, so muß sie in die Erscheinung treten, um dem Adressaten zu ermöglichen, ihres Inhaltes innezuwerden. Mit diesem Innewerden ist das Ziel der Mitteilung erreicht. Die Reihe, welche mit dem Herausschleudern des sozialen Aktes eröffnet wird, ist hier bereits abgeschlossen. Bei anderen sozialen Akten ist die Sachlage etwas komplizierter. Greifen wir zunächst die Bitte und den Befehl heraus. Es sind ziemlich nahe verwandte Akte; ihre Verwandtschaft spiegelt sich in der weitgehenden Ähnlichkeit ihrer äußeren Erscheinung wider. Dieselben Worte können Ausdruck eines Befehls und einer Bitte sein; nur in der Art des Sprechens, in Betonung, Schärfe und ähnlichen schwer fixierbaren Faktoren prägt sich der Unterschied aus. Befehl und Bitte haben ihren Inhalt, so gut wie die Mitteilung auch. Aber während bei dieser in der Regel n u r der Inhalt dem Adressaten kundgegeben werden soll und nicht die Mitteilung als solche, sollen bei jenen der Befehl und die Bitte als solche erfaßt werden. Und auch mit diesem Innewerden ist die eröffnende Reihe erst zu einem vorläufigen Abschlusse gelangt. Wir haben hier soziale Akte, welche, im Gegensatz zu der Mitteilung, ihrem Wesen nach auf korrespondierende oder besser auf respondierende Betätigungen hinzielen, mögen diese Betätigungen auch realiter nicht zustande kommen. Jeder Befehl und jede Bitte zielt ab auf ein in ihnen vorgezeichnetes Verhalten des Adressaten. Erst die Realisierung dieses Verhaltens schließt endgültig den Kreis, welcher durch jene sozialen Akte eröffnet ist. Auch das Fragen ist ein sozialer Akt, welcher ein respondierendes Tun verfangt, und zwar keine äußere Handlung, sondern wiederum einen sozialen Akt, die »Antwort« im engeren Sinne. Wir haben in der Antwort einen sozialen Akt, welcher kein nachfolgendes Tun fordert, sondern ein solches – und zwar stets einen sozialen Akt – v o r a u s s e t z t . So unterscheiden wir schlichte soziale Akte, soziale Akte, welche andere soziale Akte voraussetzen, und schließlich soziale Akte, welche auf nachfolgende soziale Akte oder andere Betätigungen hinzielen. Wir haben die sozialen Akte auf das strengste geschieden von allen Erlebnissen, welche der Kundgabefunktion entbehren. Wir haben jetzt die bemerkenswerte Tatsache zu verzeichnen, daß alle sozialen Akte solche

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Innenerlebnisse v o r a u s s e t z e n . Jeder soziale Akt hat wesensgesetzlich ein Fundament in einem bestimmt gearteten inneren Erlebnis, dessen intentionaler Inhalt mit dem intentionalen Inhalte des sozialen Aktes identisch ist oder doch in irgendeiner Weise mit ihm in Verknüpfung steht. Das M i t t e i l e n setzt eine Ü b e r z e u g u n g von dem Mitteilungsinhalte voraus. Das F r a g e n schließt eine solche Überzeugung seinem Wesen nach aus und fordert eine U n g e w i ß h e i t in bezug auf seinen Inhalt. Bei der B i t t e ist der W u n s c h Voraussetzung, daß das Erbetene geschehe, näher, daß es durch denjenigen realisiert werde, an welchen sich die Bitte richtet. Der B e f e h l hat zu seinem Fundamente nicht den bloßen Wunsch, sondern den W i l l e n , daß der Adressat das Befohlene ausführt usw.13 Man wird diese Zusammenhänge vielleicht bestreiten. Man wird etwa auf die konventionellen Fragen hinweisen, die sich sehr wohl mit einem Wissen um den in Frage gestellten Inhalt vertragen, auf die heuchlerische Bitte, welche dem eigenen Wunsche zuwider vollzogen wird usf. Daß es das alles gibt, ist nicht zu bezweifeln. Aber man muß beachten, daß es sich dabei um kein echtes, vollerlebtes Fragen und Bitten handelt. Es gibt eine eigenartige Modifikation sozialer Akte, neben ihrem vollen Vollzug steht ein Scheinvollzug, ein abgeblaßtes, blutloses Vollziehen – der Schatten gleichsam neben dem körperlichen Ding.14 Man darf nicht glauben, daß in solchen Fällen bloß die Worte gesprochen würden, welche gewöhnlich den Vollzug der Akte begleiten. Es ist mehr vorhanden als das. Die Akte werden vollzogen, nur ist es ein S c h e i n v o l l z u g ; das vollziehende Subjekt sucht sie als echte hinzustellen. Soziale Akte, welche in dieser Modifikation auftreten, setzen die oben angeführten Innenerlebnisse nicht voraus; ja in ihrer Eigenschaft als Scheinakte schließen sie sie sogar aus. Der Scheinmitteilung kann keine echte Überzeugung, der Scheinfrage keine echte Ungewißheit, der Scheinbitte und dem Scheinbefehl kein echter Wunsch und kein echter Wille zugrunde liegen. Nur in dem ersten Falle redet man von Lüge. Man kann, mit einer Ausdehnung dieses Begriffes, die ganze Reihe dieser Fälle als die Sphäre der sozialen Lügenhaftigkeit oder Heuchelei bezeichnen, insoweit sich in ihnen 13

Wenn wir in dieser Weise Wunsch und Wille gegenüberstellen, so ist dabei freilich eine bestimmte Bedeutung dieser so vieldeutigen Termini vorausgesetzt. 14 Vgl. »Zur Theorie des negativen Urteils«, S. 202f. [der Orig. –pag.].

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fälschlicherweise die vollziehende Person als »wirklich« befehlend, bittend u. dgl. nach außenhin gibt. Es gibt noch eine Reihe weiterer Modifikationen, welche die sozialen Akte aufzuweisen haben. Wir unterscheiden zunächst die Unbedingtheit und die Bedingtheit sozialer Akte. Es gibt ein Befehlen und ein Bitten schlechthin, und es gibt ein Befehlen und Bitten »für den Fall daß«. Nicht alle sozialen Akte freilich sind dieser Modifikation unterworfen; so ist eine Mitteilung »für den Fall daß« nicht in dem gleichen Sinne möglich. Verständlich wird dies erst, wenn wir bedenken, daß von bestimmten sozialen Akten eine Wirksamkeit ausgeht. Ist ein Befehl oder eine Bitte vollzogen, so hat sich damit etwas geändert in der Welt. Ein bestimmtes Verhalten steht nun als Befohlenes oder Erbetenes da, und falls gewisse, wesenhaft fixierbare Voraussetzungen gegeben sind, wenn beispielsweise der Befehlsadressat dem Adressanten gegenüber einen sozialen Akt der Unterwerfung vollzogen hat, so erwachsen auf seiner Seile Verbindlichkeiten bestimmter Art. Die Mitteilung, welche eine solche Wirksamkeit nicht besitzt, läßt eine Bedingtheit nicht zu. Bei den bedingten Befehlen und Bitten aber wird die Wirksamkeit abhängig gemacht von einem künftigen Ereignis. Bedingte soziale Akte werden vollzogen, aber im Vollzuge selbst wird ihre Wirksamkeit gebunden an etwas später Eintretendes. Man darf diesen bedingten Vollzug selbstredend nicht verwechseln mit der Ankündigung eines eventuellen späteren Vollzugs. Von einem solchen späteren Vollzuge ist ja in unseren Fällen gar keine Rede. Mit dem Eintritt des Ereignisses ist es – ohne jedes Zutun des Trägers des bedingten Aktes – in bezug auf die Wirksamkeit genauso, als ob ein unbedingter Akt jetzt eben vollzogen worden wäre. Von dem Augenblicke an, da der Nichteintritt des Ereignisses feststeht, ist es, als ob überhaupt kein Akt jemals vollzogen worden wäre. Es ist wesensgesetzlich gefordert, daß das Ereignis, von welchem die Wirksamkeit des Aktes abhängig gemacht wird, eintreten kann, aber es ist ausgeschlossen, daß es eintreten muß.15 Nur im ersten Falle hat die Bedingtheit einen Sinn. Im zweiten Falle wäre nur ein unbedingter sozialer Akt mit befristetem Inhalte möglich: Ich befehle dir (unbedingt), in dem 15

Natürlich vom Zeitpunkte des Aktvollzuges aus gesehen.

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Augenblicke, wo das Ereignis eintritt, dies oder jenes zu tun. Hier haben wir keine Modifikation des Aktes, sondern eine solche des Inhaltes. Neben der B e f r i s t e t h e i t gibt es auch eine B e d i n g t h e i t dieses Inhaltes. Die Inhaltsbedingtheit nun ist von der Aktbedingtheit aufs strengste zu unterscheiden. Der u n b e d i n g t e B e f e h l m i t b e d i n g t e m I n h a l t stellt sogleich als gefordert hin, daß ein bestimmtes Verhalten bei dem Eintritt eines möglichen Ereignisses realisiert werde. Er erzeugt – unter bestimmten Voraussetzungen – sogleich die Verbindlichkeit, etwas bei dem Eintritte des Ereignisses zu tun oder zu unterlassen: der Eintritt des Ereignisses macht diese Verbindlichkeit lediglich aktuell. Der b e d i n g t e B e f e h l m i t u n b e d i n g t e m I n h a l t dagegen läßt erst mit dem Eintritt des Ereignisses das Verhalten als gefordert erscheinen und erzeugt erst in diesem Augenblicke die auf ein sofortiges Tun oder Unterlassen sich richtende Verbindlichkeit. Bei unbedingten Akten mit bedingtem Inhalte können wir ferner von der aufschiebenden Bedingung die auflösende unterscheiden. Der Befehl, eine Sache so lange zu tun, bis ein bestimmtes Ereignis eintritt, bringt sofort eine Verbindlichkeit hervor, welche mit dem Eintritt des Ereignisses erlischt. Bei dem bedingten Befehle aber hat dieser Unterschied zwischen aufschiebender und auflösender Bedingung offenbar gar keine Stelle. Alle diese Unterschiede, w e l c h e r e i n i m W e s e n d e r A k t e gründen und mit empirischen Feststellungen nicht das m i n d e s t e z u t u n h a b e n , sind für die Sphäre der sozialen Beziehungen von der größten Wichtigkeit. Soziale Akte können eine Mehrheit von Adressanten und eine Mehrheit von Adressaten haben. Die zweite Eigentümlichkeit findet sich nur bei ihnen, die erste auch in der Sphäre der bloß äußeren Handlungen und bloß inneren Erlebnisse. Ich kann einen Befehl an zwei oder mehrere Personen »zusammen« richten. Ein einziger sozialer Akt hat dann mehrere Richtungssubjekte, an die er sich wendet. Die Wirkungen eines solchen Aktes sind notwendig andere, als wenn ebensoviele soziale Akte als Adressaten vorhanden wären. Während in diesem Falle der Zahl der Adressaten entsprechend mehrere Verbindlichkeiten entstünden – unbeschadet des gleichen Inhaltes –, entsteht dort nur eine Verbindlichkeit, an der alle Adressaten teilhaben. Ich befehle dem A und dem B insgesamt, mir irgendetwas zu besorgen. Dann erwächst eine einzige Verbindlichkeit,

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deren Inhalt die Besorgung bildet, und mit welcher A und B zusammen belastet sind. Schwieriger und interessanter ist die Sachlage, wenn mehrere Personen zusammen einen sozialen Akt vollziehen. Jede der beiden Personen voll sieht den Akt, befiehlt z.B., und bei beiden tritt dieser Vollzug in äußere Erscheinung. Aber jede vollzieht den Akt »zusammen mit der anderen«. Wir haben hier einen sehr eigenartigen »Zusammenhang«. Er darf nicht reduziert werden auf Inhaltsund Adressatenidentität oder gar auf bewußte Gleichzeitigkeit des Vollzugs; in diesen Fällen hätten wir stets mehrere selbständige Akte. Hier aber haben wir den Fall, wo jeder der Adressanten den Akt »im Verein« mit dem anderen vollzieht, wo er von der Teilnahme des anderen weiß, den anderen teilnehmen läßt und selber teilnimmt: wir haben einen e i n z i g e n Akt, der von zwei oder mehr Personen zusammen vollzogen wird, einen Akt mit mehreren Trägern. Dementsprechend modifizieren sich die Wirkungen des Aktes. Nehmen wir wieder an, der Adressat (oder die Adressaten) haben sich den Befehlen der vollziehenden Personen unterworfen. Dann erwachsen aus den Befehlen entsprechende Ansprüche und Verbindlichkeiten. Dem Befehl e i n e r Person entspricht ein Anspruch. Den m e h r e r e n Befehlen m e h r e r e r Personen entsprechen m e h r e r e Ansprüche. Dem e i n e n Befehle, der von m e h r e r e n Personen im Verein erteilt wird, entspricht ein e i n z i g e r A n s p r u c h , an dem diese Personen zusammen teilhaben. So sehen wir, wie aus der Idee von sozialen Akten, die jeweils von mehreren Personen zusammen vollzogen werden, und die an mehrere Personen zusammen gerichtet werden, die Idee von Ansprüchen und Verbindlichkeiten erwächst, welche jeweils mehrere Subjekte zu Trägern bzw. Gegnern haben. Auch bei äußeren Handlungen ist es möglich, von mehreren Realisierungssubjekten einer und derselben Handlung zu reden. Es gibt ein Handeln »im Verein«. An diesem Punkte wird sich, wie uns scheint, der strafrechtliche Begriff der »Mittäterschaft« zu orientieren haben, und auch für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht sind solche Gesamthandlungen von Bedeutung. Doch können wir darauf in diesem Zusammenhang nicht eingehen. Als vierte Modifikation in unserer Sphäre heben wir den Unterschied der sozialen E i g e n a k t e und der v e r t r e t e n d e n sozialen Akte heraus.

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Es gibt einen Befehl, eine Mitteilung, eine Bille und dgl. »im Namen eines anderen«. Wieder bietet sich uns hier eine sehr eigenartige Sachlage dar, die man in keiner Weise umdeuten kann; wir wollen zunächst versuchen, sie kurz zu skizzieren. Ein Befehl im Namen eines anderen ist ein eigener Befehl und doch kein eigener Befehl. Genauer gesagt: Es wird von dem Vertreter höchstpersönlich ein Akt vollzogen, aber er wird im Vollzuge selbst hingestellt als letztlich ausgehend von einer anderen Person. Es ist etwas absolut davon Verschiedenes, wenn »im Auftrage« oder »im Interesse« eines anderen befohlen wird. Hier geht der Befehl von demjenigen aus, welcher den Akt vollzieht; daß er ihn mit Wissen oder auf den Auftrag oder im Interesse eines anderen vollzieht, kann daran nichts ändern. Selbst der Befehl auf Grund eines Befehles ist ein Eigenbefehl. Nur der Befehl »für« oder noch prägnanter »im Namen« eines anderen setzt seinen letzten Ausgangspunkt in dessen Person. Von vertretenden Akten in der rechtlichen Sphäre wird noch ausführlich die Rede sein. Hier sei nur noch erwähnt, daß der Eigenart des Aktes selbstredend eine Eigenart der Wirkung entspricht. Ein Befehl, den A im Namen des B dem C erteilt, verpflichtet den C nicht dem A, sondern dem B gegenüber und berechtigt den B und nicht den A. Diese Wirksamkeit ist nun freilich an eine d o p p e l t e Voraussetzung gebunden: Der Befehl als solcher muß dem C gegenüber wirksam sein, und der vertretende Akt muß dem B gegenüber wirksam sein. Über die zweite Voraussetzung wird später zu sprechen sein. Zu der ersten sei nur das eine bemerkt, daß der Unterwerfungsakt, der auch hier den Befehl wirksam machen kann, diesmal nicht dem (in Vertretung) Befehlenden, sondern dem im Befehl Vertretenen gegenüber vollzogen sein muß. Wir wenden uns wieder zu unserem Ausgangspunkte, dem Versprechen. Es bedarf keiner weiteren Ausführung mehr, daß wir in ihm einen fremdpersonalen sozialen Akt zu erblicken haben. Es eröffnet, ähnlich wie der Befehl und anders wie die Mitteilung, einen Kreis weiteren Geschehens. Auch es zielt ab auf ein Verhalten, freilich nicht auf ein Tun des Empfängers, sondern des Versprechenden selbst. Dieses Tun braucht, anders als bei der Frage, kein sozialer Akt zu sein. Wie alle sozialen Akte setzt auch das Versprechen ein inneres Erlebnis voraus, welches sich auf seinen Inhalt intentional bezieht. Es handelt sich, wie bei dem Befehl, um den W i l l e n , daß etwas geschehe, freilich nicht

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durch den Adressaten, sondern durch den Versprechenden selbst. Jedes Versprechen, sich in dieser oder jener Weise zu verhalten, setzt notwendig den eigenen, auf dies Verhalten gerichteten Willen voraus. Wir sehen jetzt klar, wie gänzlich schief und unhaltbar die übliche Auffassung des Versprechens als einer Vorsatz- oder Willensäußerung ist. Eine Willensäußerung lautet: Ich will. Sie kann sich an jemanden wenden, dann ist sie eine Mitteilung, ein sozialer Akt zwar, aber kein Versprechen. Und auch dadurch wird sie natürlich nicht zum Versprechen, daß sie sich an denjenigen wendet, in dessen Interesse das vorgesetzte Verhalten liegt. Das Versprechen ist weder Wille noch Äußerung des Willens, sondern es ist ein selbständiger spontaner Akt, der, nach außen sich wendend, in äußere Erscheinung tritt. Diese Erscheinungsform mag Versprechenserklärung genannt werden. Eine Willenserklärung ist sie nur mittelbar, insofern dem spontanen Versprechungsakte notwendig ein Wollen zugrunde liegt. Will man das Versprechen selbst als »Willenserklärung« bezeichnen, so muß man genauso die Frage eines Zweifels- und die Bitte eine Wunscherklärung nennen. Das Irrefühlende aller dieser Bezeichnungen leuchtet ein. Nicht durch ohnmächtige Erklärungen des Willens konstituiert sich – wie man geglaubt hat – die Welt der rechtlichen Beziehungen, sondern durch die streng gesetzliche Wirksamkeit sozialer Akte. Nur indem man an der Außenseite des Versprechens haften blieb, ohne sich in es selbst zu vertiefen, konnte man es mit der mitteilenden Äußerung eines Willensvorsatzes verwechseln. Dieselben Worte »ich will das für dich tun« können ja als Versprechensäußerung und als mitteilende Willensäußerung fungieren. Es ist auch sonst so, daß verschiedene soziale Akte sich derselben Erscheinungsform bedienen können, es ist insbesondere so, wenn die begleitenden Umstände dein Adressaten keinen Zweifel über die Natur des in ihr erscheinenden sozialen Aktes lassen. Man wird im allgemeinen mit Sicherheit wissen, ob hinter jenen Worten ein Versprechen oder eine Mitteilung steckt. Und wenn auch, wie manche Streitigkeiten und Prozesse zeigen, hier Mißverständnisse möglich sind, so ändert das doch selbstverständlich nichts daran, sondern liefert vielmehr die Bestätigung dafür, daß mitteilende Willensäußerung und Versprechen grundverschiedene Akte sind.

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Von hier aus fällt volles Licht auf die Schwierigkeiten, welche man in der »Bindung« durch Versprechungen gefunden hat. Daß die mitteilende Äußerung eines Willensvorsaties eine Verbindlichkeit erzeugt, ist frei lieh unbegreiflich. Wir aber haben in dem Versprechen einen Akt e i g e n e r A r t gefunden, und wir behaupten, daß es im Wesen dieses Aktes gründet, Ansprüche und Verbindlichkeiten hervorzubringen. Das Versprechen läßt als sozialer Akt alle Modifikationen zu, welche wir oben besprochen haben. Es gibt Versprechungen, welche an mehrere Personen insgesamt gerichtet sind oder von mehreren Personen insgesamt vollzogen werden. Aus innen entspringen Ansprüche, an denen mehrere Personen zusammen teilhaben, bzw. Verbindlichkeiten, welche mehrere Personen zusammen belasten. Es gibt ferner ein bedingtes Versprechen, welches wir von dem unbedingten Versprechen mit bedingtem Inhalte sehr wohl unterscheiden werden. Aus dem einen entspringt erst mit Eintritt der Bedingung ein Ansprach und eine Verbindlichkeit, da erst dann das Versprechen seine eigentliche Wirksamkeit entfaltet.16 Aus dem anderen entspringen Anspruch und Verbindlichkeit sofort. Der Versprechensempfänger hat hier sogleich den Anspruch darauf, daß der Versprechende sich bei dem Eintritte des Ereignisses in bestimmter Weise verhält, in dem ersten Falle hat er erst bei dem Eintritte des Ereignisses den Anspruch darauf, daß der Versprechende sich sofort in bestimmter Weise verhält. Dort ist vor dem Eintritte des Ereignisses ein Verzicht auf den Anspruch möglich. Hier ist zunächst nichts vorhanden, auf das verzichtet werden könnte.17 Nur ein bedingter Verzicht wäre möglich: ein Verzicht für den Fall, daß (beim Eintritte des Ereignisses) ein Anspruch entsteht. Dort ist der Verzicht sofort wirksam und der Eintritt der Bedingung von keiner Bedeutung mehr. Hier bringt der Eintritt der Bedingung den Ansprach hervor und damit den Eintritt der zweiten Bedingung, welche den Verzicht wirksam macht und den Anspruch sofort erlöschen läßt. Das Ins-Lehen16

Ganz ohne Wirksamkeit ist auch das bedingte Versprechen nicht. Es erzeugt einen Zustand der Gebundenheit beim Versprechenden, der sich darin dokumentiert, daß er es nicht mehr hindern kann, daß durch den Eintritt der Bedingung eine Verbindlichkeit in seiner Person entsteht. 17 Vor allem ist der Zustand der Gebundenheit nichts, auf das verzichtet werden kann, da er kein Recht des Versprechensempfängers darstellt. Nur von einer B e f r e i u n g des Versprechenden durch den Versprechensempfänger kann die Rede sein.

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Treten des Anspruches ist hier der unmittelbare Grund seines Todes. Ein streng gesetzlicher Mechanismus des sozialen Geschehens bietet sich uns hier dar; es handelt sich um unmittelbar einsichtige Wesenszusammenhänge und wahrlich nicht um »Schöpfungen« oder »Erfindungen« irgendeines positiven Rechtes. Neben dem Eigenversprechen gibt es ein Versprechen im Namen eines anderen, ein vertretendes Versprechen. Ein Versprechensakt wird von der Person vollzogen, aber nicht sie selbst ist es, die verspricht; vielmehr läßt sie eine andere versprechen, oder genauer: sie verspricht für eine andere. Wo im Interesse eines anderen, im Auftrage eines anderen, »statt« eines anderen versprochen wird, liegt ein Eigenversprechen vor, und die Verbindlichkeit erwächst auf seiten des Versprechenden. Auch den Fall müssen wir ausscheiden, in dem jemand auf Grund eines Versprechens verspricht. A kann dem B versprechen, dem C dien Übereignung einer Sache zu versprechen. Dann hat B den Anspruch darauf, daß A dem C verspricht, und mit und durch die Erfüllung des Anspruches erwächst dem A die Verbindlichkeit dem C gegenüber, die Sache zu übereignen. Oder B verspricht dem A, ihm eine Sache zu verschaffen, und läßt sich von C die Sache versprechen. Dann sind in der Person des B gleichzeitig vorhanden der Anspruch auf Übereignung dem C gegenüber und die Verbindlichkeit einer Übereignung derselben Sache dem A gegenüber. In allen diesen Fällen ist von einem Versprechen des B an C im Namen des A keine Rede. Nur hier aber liegt Vertretung vor und zugleich die eigentümliche Wirkung der Vertretung. Durch das Versprechen in Vertretung entsteht, genau wie beim Eigenversprechen, ein Anspruch des C; dieser Anspruch aber richtet sich gegen A und nicht gegen B; und zugleich entsteht entsprechend eine Verbindlichkeit in der Person des A. Freilich steht diese Wirksamkeit unter bestimmten Voraussetzungen. Wir werden darüber in einem eigenen Paragraphen zu handeln haben. Nicht der dem Juristen so geläufige Inhalt dieser Sätze, sondern ihre streng apriorische Form ist es, welche das philosophische Interesse in hohem Maße beanspruchen muß. Das Versprechen in Vertretung setzt offenbar, anders als das Eigenversprechen, keinen Willen voraus, das Versprochene selbst zu tun. Allenfalls kann es so sein, daß der Vertretene diesen Willen hat oder doch haben würde, wenn er in Kenntnis aller Umstände wäre, welche der Vertreter kennt. Bei diesem selbst kann es sich nur um den Willen handeln,

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daß dem Vertretenen aus seinem Versprechen eine Verbindlichkeit desselben Inhaltes erwächst. Auch diese Beschränkung kommt in Fortfall bei der letzten Modifikation des Versprechens, welche wir betrachten wollen: dem Scheinversprechen. Wie alle sozialen Akte weist auch das Versprechen jene schattenhafte und unechte Daseinsweise auf, hinter der kein ehrlicher Wille steht, das Versprochene zu tun. Das Scheinversprechen wendet sich an eine zweite Person wie das echte Versprechen auch; und es ist ihm wesentlich, in derselben Erscheinungsform aufzutreten wie dieses. Wer zum Scheine verspricht, gibt sich alt Echtversprechender und tritt als solcher auf.18 Es fragt sich, ob aus diesem Scheinversprechen Anspruch und Verbindlichkeit ebenso entspringen wie aus dem echten.19 Ohne diese Frage mit Sicherheit entscheiden zu können, wollen wir nun klarstellen, in welcher Weise Anspruch und Verbindlichkeit aus dem echten Versprechen entspringen.

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Dadurch unterscheidet sich das Scheinversprechen von dem Versprechen, welches nicht auf Ernstnehmung rechnet, wie das Scherzhafte Versprechen, die höfliche Redensart, die marktschreierische Reklame oder das einen ganz eigenartigen Fall darstellende Versprechen auf der Bühne usf. Wir wagen es nicht, diese Frage mit Sicherheit zu beantworten. Mag auch ein positives Recht das Scheinversprechen, welches dem Adressaten gegenüber sich als Ernst ausgibt, ohne daß dieser den Mangel an Ernst bemerkt, wie ein echtes behandeln; es kann daraus kein Argument für unsere außerpositiv-rechtliche Sphäre gezogen werden. Nur das eine sei bemerkt, daß in dienen und anderen Fällen bei der juristisch sogenannten Nichtübereinstimmung von »Wille« und »Willensklärung« zunächst eine Nichtübereinstimmung des soziales Aktes und seiner Erscheinungsweise in Frage steht, sekundär erst die zwischen Erscheinungsweise und Willensvorgang, niemals aber eine zwischen Willensvorgang und sozialem Akt. Diese Unterscheidung scheint uns von Bedeutung für die Analyse der sog. »Willensmängel« zu sein. So sind eine Täuschung, auf Grund deren ich etwas w i l l , was ich sonst nicht wollen würde, eine Täuschung, auf Grund deren ich etwas v e r s p r e c h e , was ich zwar an sich will, aber ohne die Täuschung nicht versprechen würde, und eine Täuschung, auf Grund deren ich meinem Versprechen eine andere E r s c h e i n u n g s f o r m gebe, als ich sie ohne die Täuschung geben würde, sehr wohl zu unterscheiden und von verschiedener rechtlicher Bedeutung.

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§4 Das Versprechen als Ursprung von Anspruch und Verbindlichkeit Stellen wir uns auf die Seite des Versprechensadressanten, so sehen wir, daß ein echten Versprechen vollzogen werden und in die Erscheinung treten kann, ohne das Subjekt, auf welches es gerichtet ist, zu treffen. Solange dies nicht geschieht, kann von Anspruch und Verbindlichkeit nicht die Rede sein. Es genügt auch nicht, daß der Adressat die äußeren Erscheinungen wahrnimmt, daß er z.B. die Worte hört, ohne sie zu verstehen. Er muß durch sie hindurch das erfassen, dessen Erscheinung sie sind, er muß Kenntnis nehmen von dem Versprechen selbst, er muß, wie wir etwas genauer sagen wollen, des Versprechens innewerden. Zu dem, dessen er so innewird, kann der Adressat sich in verschiedener Weise verhalten. Er kann sich innerlich dagegen wehren, er kann es auch innerlich akzeptieren, es »sich gefallen lassen«. Die innere Ablehnung kann sich in einem Akte des Zurückweisens äußern, die innerliche Akzeptierung in einem Akte der Annahme. Wird ein Versprechen schlicht vernommen, so entsteht auf seiten des Vernehmenden der Anspruch und auf seiten des Versprechenden die Verbindlichkeit. Der Akt der Annahme kann lediglich als bestätigende Instanz dienen; zur Wirksamkeit verhilft er dem Versprechen nur dann, wenn es »für den Fall« einer Annahme erteilt ist. Ein Akt der Zurückweisung dagegen läßt weder Anspruch noch Verbindlichkeit zur Entstehung kommen. Es wird – besonders von denen, welche gewohnt sind, in den Bahnen unseres positiven Rechtes zu denken – die Frage gestellt werden, ob nicht das bloße Innewerden des Versprechens unzureichend ist, ob es nicht vielmehr zu seiner Wirksamkeit jederzeit einer Annahme bedarf. Wir müssen daraufhin vor allem die Unklarheit und Vieldeutigkeit des Begriffes Annahme geltend machen. Wir notieren fünf verschiedene Bedeutungen. Annahme kann zunächst gefaßt werden als die positive Antwort auf eine Proposition, auf ein »Angebot« beliebiger Art. In diesem sehr formalen Sinne kommen soziale Akte verschiedenster Art als Annahme in Betracht, ein Versprechen z.B. ebensogut wie seine Akzeptierung. Sagt A auf die Bitte des B, ihm etwas Bestimmtes zu versprechen, »ja«, so haben wir in diesem »ja« ebensowohl eine Annahme

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im formalen Sinne, als wenn A auf das Versprechen des B mit »gut« antwortet. Materialiter aber schließt das »ja ein V e r s p r e c h e n in sich und das »gut« die A n n a h m e eines Versprechens in einem ganz neuen Sinne. Diese materiale Annahme bezieht sieh nur auf Versprechungen. Wir müssen aber innerhalb ihrer noch Verschiedenes unterscheiden. Zunächst gibt es die Annahme als rein inneres Erlebnis, ein inneres »Jasagen«, eine innere Zustimmung zu dem vernommenen Versprechen. Davon unterscheiden wir die Annahme in dem Sinne der Annahmeä u ß e r u n g , wie sie in Handlungen vorliegen kann, aber auch in Worten. Etwas Neues tritt hinzu, wenn die Annahmeäußerung mitteilende Funktion gewinnt, wenn sie an irgendeine Person gerichtet wird. Als fünften und wichtigsten Begriff heben wir schließlich die Annahme als einen eigenen, nicht als Mitteilung zu betrachtenden sozialen Akt heraus. Man begegnet eigenartigen Schwierigkeiten, wenn man diese Trennung durchführen will. In anderen Fällen ist es viel leichter, den sozialen Akt von der mitteilenden Äußerung des ihm notwendig zugrunde liegenden inneren Erlebnisses zu unterscheiden, weil Akt und Erlebnis grundverschieden sind; nur infolge des Mangels jeder phänomenologischen Analyse konnte es geschehen, daß Versprechen und mitteilende Willensäußerung verwechselt worden sind. In unserem Falle aber besteht eine Gleichartigkeit zwischen innerem Erlebnis und sozialem Akt. Es gibt ein rein innerliches »Annehmen« oder Akzeptieren, und es gibt dementsprechend natürlich die mitteilende Äußerung dieses Erlebnisses. Dem »ich will« entspricht ein »ich nehme an«. Hier wird man sich viel schwerer dazu entschließen können, daneben noch einen eigenen sozialen Akt des Annehmens anzuerkennen, der sich hinter denselben Worten bergen kann, von der Äußerung aber wohl zu unterscheiden ist. Und doch ist diese Scheidung unvermeidlich. Die Annahmeä u ß e r u n g kann sich an jede beliebige Person richten, sie ist eine Mitteilung, die jedermann gegenüber geschehen kann. Die Versprechensannahme als sozialer Akt dagegen hat einen streng vorgeschriebenen Richtungspunkt. Sie kann sich nur auf die Person oder die Personen richten, von welchen das Versprechen ausgegangen ist. Ferner: Die mitteilende Äußerung des Annahmeerlebnisses kann beliebig oft wiederholt werden, allen möglichen Personen gegenüber. Der soziale Akt des Annehmens ist nur einmal sinnvoll vollziehbar. Seine Wirkung ist mit dem einmaligen Vollzug vollendet –

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vorausgesetzt, daß die Gegenpartei seiner innegeworden ist. Eine Wiederholung wäre wirkungslos und hätte daher keinen Sinn. Drittens: Die mitteilende Äußerung kann sich auf ein gegenwärtiges, vergangenes oder künftiges Annahmeerlebnis beziehen. Sie kann deshalb in Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsform auftreten. Der soziale Akt des Annehmens dagegen läßt nur die Gegenwartsform zu. Dem »ich habe innerlich zugestimmt« und »ich werde zustimmen« steht starr gegenüber das »ich nehme hiermit an«. Die eigenartige Funktion des »hiermit« darf nicht übersehen werden. Es weist hin auf einen Vorgang, der eben jetzt mit dem Vollzug des Aktes geschieht, eben auf das »annehmen«, welches sich hier gleichsam selbst bezeichnet. Dagegen hat es nicht den mindesten Sinn zu sagen: ich erlebe hiermit eine innerliche Zustimmung. Hierin es eben nicht so, daß in und mit der Äußerung sich das erleben vollzieht. Die Scheidung, welche wir fordern, ist damit, wie uns scheint, durchaus gesichert. Es ist nun klar, wie vieldeutig die Frage ist, ob ein Versprechen zu seiner Wirksamkeit der Annahme bedarf. Orientiert wird diese Frage zunächst an dem Grundsatze des positiven Rechtes sein, daß einseitige Willensakte in der Regel Anspruch und Verbindlichkeit nicht begründen, daß es dazu vielmehr regelmäßig einer »Willenseinigung« bedarf, d.h. wenn wir es in unserer Sprache ausdrücken dürfen, einer Einigung, welche sich in gegenseitigen sozialen Akten konstituiert.20 Diese Akte stellen sich, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, als »Angebot« und »Annahme« dar. Es handelt sich dabei um die Annahme in unserem ersten formalen Sinne. Diesen Gesichtspunkt nun müssen wir hier ausschalten. Wir haben unser Problem mit Absicht eng begrenzt. Es handelt sich uns lediglich darum, ob das V e r s p r e c h e n zu seiner Wirksamkeit einer (materialen) Annahme bedarf. Aber auch der Begriff der materialen Annahme ist, wie wir gesehen haben, noch vieldeutig genug. Man kann zunächst denken an das Erlebnis 20

Auf die interessante und schwierige Phänomenologie des Vertrages einzugehen, ist uns in diesem Zusammenhang nicht möglich. Daß der Vertrag ohne den Begriff der sozialen Akte nicht verstanden werden kann, daß er sich insbesondere nicht aus »Willensäußerungen« zusammensetzt, und daß für seinen Aufbau speziell die b e d i n g t e n sozialen Akte von Bedeutung sind, dürfte jetzt schon einleuchtend sein.

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des inneren Jasagens. Es ist nicht einzusehen, inwiefern ein solches Erlebnis von Einfluß sein sollte auf das Entstehen von Anspruch und Verbindlichkeit. Die sozialen Beziehungen rechtlicher Art konstituieren sich, wie wir immer mehr einsehen werden, in sozialen Akten. Die Freude und Trauer des Einzelnen, seine Zufriedenheit und sein Bedauern, sein inneres Jasagen oder Neinsagen sind ohne Einfluß darauf. Ist es aber so, dann muß es auch ohne Einfluß bleiben, ob das innere Erlebnis geäußert wird oder nicht, und ferner, ob diese Äußerung als Mitteilung an irgendeine Person fungiert oder nicht. Nur der fünfte Annahmebegriff kann also in Frage kommen: die Annahme als eigener sozialer Akt. Man könnte versuchen, die Notwendigkeit eines solchen Annahmeaktes durch die Betrachtung anderer, dem Versprechen nebengeordneter sozialer Akte deutlich zu machen. Wir sind ja, innerhalb unserer Sphäre, in der Lage, auch solche Akte heranzuziehen, welche für das bürgerliche Recht nicht in Frage kommen.21 Man könnte darauf aufmerksam machen, daß eine Bitte der Annahme bedarf, wenn eine Verbindlichkeit des Gebetenen entstehen soll, daß auch der Befehl, vorausgesetzt daß ihm kein Unterwerfungsakt des Adressaten vorangegangen ist und daß dieser überhaupt nicht in einem Unterwerfungsverhältnisse zu dem Adressanten sieht, nur dann eine Verbindlichkeit begründet, wenn er angenommen wird. Und man könnte daraus den analogen Schluß ziehen, daß wohl auch bei dem Versprechen eine solche Annahme erforderlich wäre. Aber wir dürfen mit dem Worte Annahme nicht spielen. Die Annahme der Bitte und des Befehls stelle materialiter ein »sich bereit Erklären«, ein Geloben oder Versprechen dar, der Bitte oder dem Befehl zu willfahren. Die Annahme eines Versprechens kann aber selbst kein Geloben oder Versprechen sein. Wir würden dann ja auch zu einem fehlerhaften Regressus in infinitum geführt, insofern dies Versprechen abermals der Annahme bedürfte usf. An diesem Punkte wird auch klar, wie ganz verschieden die angeführten angeblichen Analogien liegen. Bei ihnen handelt es sich darum, daß dem Adretten des sozialen Aktes eine Verbindlichkeit zugemutet wird, und 21

Damit ist nicht gesagt, daß diese Akte für das Recht überhaupt nicht in Frage kommen. So scheint uns z.B. eine phänomenologische Analyse der Erlaubnis oder des Befehles und der in ihnen gründenden apriorischen Gesetzlichkeiten für eine philosophische Grundlegung des Staats- und Verwaltungsrechtes durchaus erforderlich zu sein.

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dazu bedarf es allerdings einer Bereiterklärung. Beim Versprechen aber nimmt der Adressant selbst eine Verbindlichkeit auf sich; auf seiten des Adressaten entstehen nur Ansprüche, und wir sehen nicht, daß es dazu eines sozialen Aktes von seiner Seite bedarf. Wir werden also sagen dürfen: Anspruch und Verbindlichkeit gründen in dem Versprechen als solchem. Für die Entstehung beider ist Voraussetzung, daß der Adressat des Versprechens innewird. Einer Annahme in irgendeinem Sinne scheint es nicht zu bedürfen. Wir stellen das Wesensgesetz auf, daß der Anspruch mir in der Person des Versprechensadressaten entstehen kann. Es ist a priori ausgeschlossen, daß eine Person, an die das Versprechen sich nicht richtet, aus dem Versprechen einen Anspruch erwirbt. Freilich kennt das positive Recht Verträge zugunsten Dritter und damit auch Versprechungen, aus welchen nicht nur der Adressat, sondern ein Dritter neben ihm oder auch allein den Anspruch auf das versprochene Verhallen erhält. Aber es wäre ein sehr oberflächlicher und undurchdachter Einwand, wenn man auf Grund solcher positiven Bestimmungen die Geltung unmittelbar einsichtiger Wesenszusammenhänge bezweifeln wollte. Wir werden später das Verhältnis beider ausführlich zu behandeln haben. Vorläufig sei nur das eine bemerkt, daß es gewiß kein Zufall ist, daß sich die Verträge zugunsten Dritter in manchen Rechten so spät oder überhaupt nicht durchgesetzt haben. Mit der Kenntnisnahme des Versprechens entstehen – streng gleichzeitig – Anspruch und Verbindlichkeit. Ihre Träger und Gegner stehen in der früher schon gekennzeichneten Beziehung. Wir wollen das ganze auf Grund des Versprechens sich entfaltende Verhältnis als eine obligatorische Beziehung bezeichnen. Wir sahen schon früher, daß die obligatorische Beziehung keine befriedigt in sich selbst ruhende ist, so wie etwa das Eigentum. Wie das Versprechen selbst, tendiert sie auf die Realisierung ihres Inhaltes durch den Versprechensträger. Sie trägt damit die Bestimmung in sich, aufgelöst zu werden. Zu jedem Anspruch und zu jeder Verbindlichkeit »gehört« die Realisierung ihres Inhaltes, nicht in dem Sinne, daß mit ihrer Existenz notwendig die Existenz einer Realisierungshandlung gegeben wäre, so wie mit der Existenz des vernommenen Versprechens die Existenz von Anspruch und Verbindlichkeit gegeben ist, sondern in dem Sinne etwa, wie zu dem schönen Kunstwerk die Bewunderung und zu der schlechten

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Handlung die Empörung »gehört«. Bleibt die Realisierungshandlung zu der Zeit, da sie geschehen sollte, aus, so vollzieht sich damit eine Änderung in dem obligatorischen Verhältnis: der Anspruch ist »verletzt«. Es ist ferner denkbar, daß die Erfüllung des Anspruches unmöglich wird, sei es, daß Verbindlichkeitsträger außerstande ist, das versprochene Verhallen zu vollziehen, oder sei es – bei Verbindlichkeiten, welche letztlich, auf einen zu realisierenden Erfolg tendieren –, daß eine Unmöglichkeit eingetreten ist, daß durch irgendein Verhalten der tendierte Erfolg herbeigeführt wird. Man wird nicht sagen können, daß Anspruch und Verbindlichkeit dadurch erlöschen.22 Wohl aber entstellt eine eigenartige Antinomie zwischen der Tendenz des obligatorischen Verhältnisses auf Erfüllung und der tatsächlichen Erfüllungsunmöglichkeit. Dem obligatorischen Verhältnis erwächst dadurch eine Sinnlosigkeit ganz eigener Art. Anspruch und Verbindlichkeit sind unheilbar krank geworden. Das Normale ist, daß Anspruch und Verbindlichkeit und damit das ganze obligatorische Verhältnis durch die Leistung des Versprechensinhaltes – welche sich phänomenal nicht als Erfüllungshandlung zu charakterisieren braucht – erlöschen. Daneben gibt es noch eine zweite Erlöschensart durch V e r z i c h t . Wie es a priori im Wesen des Anspruches gründet, durch Erfüllung zu enden, so auch, daß er durch Verzicht des Anspruchsträgers erlöschen kann. Dieser Verzicht ist ein sozialer Akt, als dessen Adressat der Verbindlichkeitsträger fungiert. Zum ersten Male begegnen wir hier einem sozialen Akte, der der Fremdpersonalität entbehrt. Der Verzieht bezieht sich lediglich auf das, worauf verzichtet wird, hier also auf den Anspruch, er richtet sich nicht auf eine Person. Wohl aber muß er einer Person eröffnet werden – in unserem Falle dem Verbindlichkeitsträger –, um wirksam zu sein; die Vernehmungsbedürftigkeit ist ihm wesentlich. In dem Augenblicke, da Kenntnis von ihm genommen wird, sind Anspruch und Verbindlichkeit erloschen. Wir haben an dieser Stelle Einwände zu erwarten. Ist wirklich jeder Anspruch verzichtbar, kann also die Person, welcher eine Leistung zugesichert ist, sich ganz nach Willkür weigern, diese Leistung in Empfang zu nehmen? Man mag an Fälle denken, in denen jemand ein Versprechen zuerst zurückweisen wollte und erst auf langes Bitten sich dazu verstand, es 22

Wie das positive Recht sich dazu stellt, ist in unserer Sphäre natürlich gleichgültig.

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anzunehmen. Darf er sich dann der Leistung des anderen durch Verzicht entziehen? Gerade dieser Fall stellt die Verwechslung klar, die hier vorliegt. Es wird vorausgesetzt, daß eine Verbindlichkeit besteht, die versprochene Leistung entgegenzunehmen. Es ist aber unmittelbar einsichtig, daß eine Verbindlichkeit zwar aus einem Versprechen, niemals aber aus der schlichten Versprechensannahme oder gar aus dem bloßen Innewerden eines solchen entspringen kann. Nun aber haben wir – bei Bitte und Befehl – gesehen, daß hinter dem dunklen Ausdruck Annahme sieh sehr wohl auch ein Versprechen bergen kann. An solche Fälle ist hier gedacht. Wird ein Versprechen auf dringende Bitten hin angenommen, so liegt in der Annahme, die hier zugleich der Bitte gilt, ein eigenes Versprechen, die Leistung anzunehmen. Es ist falsch, zu sagen, es könne alsdann auf den Anspruch nicht verzichtet werden, denn die Verzichtbarkeit gründet unwandelbar im Wesen des Anspruchs. Wohl aber bleibt, selbst wenn auf den Anspruch verzichtet ist, aus dein zweiten Versprechen immer noch eine Verbindlichkeit des ursprünglichen Anspruchsträgers zurück. Die Verbindlichkeit aber schließt ihrem Wesen und Sinne nach aus, daß ein Akt des Verzichtens sich auf sie richtet. Bei dem Vollzug der Akte im realen Leben mag vieles schwer feststellbar sein, manche Vollzugserlebnisse mögen auch vage und verschwommen in sich selbst sein und ununterscheidbar ineinander übergehen. Die Akte selbst aber unterscheiden sich in äußerster Schärfe; in ihren reinen Ideen gründen sichere und unwandelbare Gesetze. Verbindlichkeiten schließen ihrem Sinne nach einen Verzicht aus, lassen aber eine Aufhebung zu. Es fragt sich, welcher Art diese Aufhebung ist, und unter welchen Bedingungen sie wirksam ist. Es gibt einen Widerruf des Versprechens. Ist es gültig widerrufen, so sind eben damit Verbindlichkeit und Anspruch aufgehoben. Der Widerruf ist ein sozialer Akt, dem jedoch, wie dem Verzicht, die Fremdpersonalität fehlt. Sein intentionales Korrelat ist das Versprechen, sein Adressat der Versprechensadressat. Widerruf und Verzicht unterscheiden sich in allen wesentlichen Punkten. Während die Verzichtbarkeit im Wesen des Anspruchs liegt, liegt die Widerruflichkeit keineswegs im Wesen des Versprechens. Das Versprechen ist als solches unwiderruflich, ebenso unwiderruflich, wie beispielsweise der Widerruf selbst und der Verzicht es sind. Natürlich ist es jederzeit möglich, Widerrufsakte zu vollziehen, genauso wie Akte des

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Verzichts. Während diese aber ohne weiteres wirksam sind, sind jene an sich unwirksam. Betrachten wir diese Sachlage vom Standpunkte des Widerrufenden und Verzichtenden selbst, so läßt sich sagen: Beide Akte können jederzeit vollzogen werden. Aber nur der verzichtende Anspruchsträger kann durch seinen Akt das obligatorische Verhältnis aufheben, der widerrufende Verbindlichkeitsträger kann es nicht ohne weiteres. Dem in beiden Fällen vorhandenen natürlichen Können entspricht nur in dem einen Falle ein Können mit Wirksamkeit auf die rechtlich soziale Beziehung oder, wie wir kürzer sagen wollen, ein rechtliches Können.23 So sicher nun dies alles ist, so sicher ist auch, daß ein Widerruf unter Umständen wirksam sein kann, daß also auf seiten des Widerrufenden ein rechtliches Können vorzuliegen vermag. Es fragt sich, was ihm diesem Können verschafft. Auch dies läßt sich rein a priori ausmachen; eine Bezugnahme auf irgendein positives Recht ist durchaus überflüssig und würde uns auch für unsere Problemeinstellung nichts lehren können. Es ist zunächst klar, daß nur der Anspruchsträger dem Widerrufenden ein rechtliches Können zu verschaffen vermag, denn die Aufhebung seines Anspruches steht in Frage. Es ist ferner klar, daß wir hier mit unseren bisher vorgekommenen sozialen Akten nicht ausreichen. Wesensgesetzlich ausgeschlossen ist es z.B., daß der Anspruchskläger durch ein V e r s p r e c h e n jenes rechtliche Können erzeugt. Er könnte versprechen, für den Fall eines Widerrufs auf den Anspruch zu verzichten. Dann würde der Widerruf einen Anspruch auf Verzicht zur Folge haben, aber nicht das direkte Erlöschen des Anspruchs. Es sind ganz andere Akte, die hier in Frage kommen. Das rechtliche Können oder auch das Recht auf den Widerruf muß dem Versprechenden »eingeräumt«, »verliehen« werden. Und dieses Einräumen des Rechtes oder des rechtlichen Könnens – ein fremdpersonaler sozialer Akt, den wir später noch genauer kennenlernen weiden – wird von dem Anspruchsträger an den Versprechenden gerichtet. In dem Augenblicke, da dieser seiner innewird, erwächst ihm die rechtliche Macht zu widerrufen. Ob der Machthaber den Akt vollzieht oder nicht, ist seine Sache. Jedenfalls ist die Grundlage geschaffen, welche einen 23

Daß es sich hier nicht um ein p o s i t i v -rechtliches Können handelt, bedarf wohl keiner Erwähnung mehr.

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vollzogenen Widerruf wirksam macht, d.h. das obligatorische Verhältnis zum Erlöschen bringt. Wir werden später Gelegenheit haben, diese Ausführungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Es wurde schon erwähnt, daß man sich, in Philosophie und Rechtslehre, die «Bindung durch Versprechen« schon längst zum Problem gemacht hat. Es ist nicht allzu schwer, die zahlreichen Konstruktionen, in die man sich da verloren hat, zurückzuweisen. Wir wollen hier drei Theorientypen besprechen, welchen besondere Bedeutung beizumessen ist. Es handelt sich dabei in erster Linie darum, unsere bisherigen Ausführungen zu ergänzen und in ein klareres Licht zu setzen. […] §6 Die rechtlichen Ursprungsgesetze Es ist ein Zeichen philosophischer Unbildung, Definitionen da zu verlangen, wo sie nicht möglich sind oder nichts zu leisten vermögen. Wir haben das Versprechen als sozialen Akt bestimmt und haben seine ihm eigentümlichen Voraussetzungen und Wirkungen dargelegt. Was aber das Versprechen als solches von anderen sozialen Akten, wie dem Befehl oder der Bitte, unterscheidet, das kann man wohl versuchen zu erschauen und anderen zur Erschauung zu bringen, es läßt sich aber ebensowenig definieren, wie man etwa das, was das Rot von anderen Farben unterscheidet, definieren kann. Auch bei dem Gehören konnten wir von wesensgesetzlichen Voraussetzungen und Wirkungen reden; wir haben es als ein Verhältnis bezeichnet, das zwischen Person und Sache besteht, und aus dem alle denkbaren Rechte an der Sache entspringen. In es selbst aber näher einzudringen, etwa durch die Angabe irgendwelcher immanenter Elemente, ist nicht möglich, da es sich hier um etwas Letztes, nicht weiter Zusammengesetztes handelt. Es ist, wie Descartes vortrefflich bemerkt, »vielleicht zu den hauptsächlichsten Irrtümern, die man in den Wissenschaften nur begehen kann, der derer zu zählen, die das definieren wollen, was sich nur erschauen läßt«. Man flüchtet, sobald die Frage nach dem Wesen solcher letzter Elemente aufgeworfen wird, aus Scheu, sie direkt zu erschauen, zu irgendwelchen außerhalbliegenden Elementen, zu

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denen man wohlweislich in Fernstellung bleibt, und macht so den hoffnungslosen Versuch, das, was selbst zur Gegebenheit gebracht werden mußte, durch die Heranziehung fremder, ebenfalls, noch ungeklärter Elemente aufzuklären. So verzichten wir denn auch auf den Versuch, den Begriff von Rechten und von Verbindlichkeiten zu definieren. Daß die üblichen Bestimmungen des »subjektiven Rechtes« für unsere Zwecke nichts zu leisten vermögen, ist nicht schwer zu sehen. Wie sollen wir z.B. die Rechte als ein »Wollendürfen« bestimmen können, da sie sich ja offenbar nicht auf das W o l l e n , sondern auf das V e r h a l t e n von Personen beziehen, und da der Begriff des Dürfens sicherlich um nichts klarer ist als der Begriff des Berechtigtseins. Oder wie könnten wir die Bestimmung »Recht ist Willensmacht oder Willensherrschaft« akzeptieren, da es doch innerhalb der apriorischen Rechtslehre gilt, daß nicht der Wille, sondern die P e r s o n Macht hat, und daß diese ferner ihre Macht nicht durch ihr Wollen, sondern durch soziale Akte realisiert, und daß schließlich die in sozialen Akten sich realisierende Macht der Person keineswegs i d e n t i s c h ist mit ihrer Berechtigung, sondern nur einer gewissen Art von Rechten – wie dem Recht auf Widerruf – immanent. Es ist wohl zu beachten, daß die meisten, wenn nicht alle Begriffsbestimmungen des subjektiven Rechtes zugeschnitten sind auf die von der positiven Rechtsordnung verliehenen Rechte, welche wir selbstverständlich von den – für die apriorische Rechtslehre allein maßgebenden – aus freien Willensakten wesensgesetzlich einspringenden Rechten auf das genaueste unterscheiden werden. So ist überhaupt die große Mehrzahl der vielen tiefdringenden Untersuchungen über die subjektiven Rechte für die apriorische Rechtslehre nicht verwertbar. Das subjektive Recht im juristischen Sinne mag abhängig sein und in mannigfach komplizierten Beziehungen stehen zu dem »objektiven Recht« oder dem »objektiven Rechtswillen«, einer Macht und Autorität, von der wir noch nichts wissen. Uns handelt es sich darum, hinabzusteigen zu den letzten rechtlichen Elementen, welche jene Macht nicht hat »schaffen« können, und zu den wesensgesetzlichen Zusammenhängen, an die sie sich zwar nicht zu binden braucht, deren ewiges Sein sie aber nicht anzutasten vermag. Die Struktur der »subjektiven Rechte« und ihre möglichen Artungen erschöpfend zu analysieren, sei späteren Untersuchungen überlassen. An

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dieser Stelle ist es – zum Verständnis der folgenden Ausführungen – nur erforderlich, von dem Begriffe des Rechtes einen anderen Begriff schärfer abzuheben, als es bisher von uns geschehen ist. Wir wissen, daß Rechte sich ebensowohl als absolute auf eigenes Verhalten, wie als relative auf fremdes Verhalten beziehen können. Wir scheiden auf das strengste von ihnen das rechtliche K ö n n e n , welches sich nur auf ein eigenes Verhalten beziehen kann. Ein Können dokumentiert sich darin, daß das Verhalten, auf das es sich bezieht, eine unmittelbare rechtliche Wirkung erzeugt, z.B. Ansprüche oder Verbindlichkeiten entstehen läßt, modifiziert oder aufhebt. Dem Rechte dagegen, auch wo es als absolutes sich auf ein eigenes Verhalten bezieht, ist eine unmittelbare rechtliche Wirkung dieses Verhaltens durchaus n i c h t wesentlich; man denke nur an alle absoluten Sachenrechte. Erst der Begriff des rechtlichen Könnens erlaubt uns, den Ursprung der absoluten Rechte und Verbindlichkeiten und ihre Wanderung von Person zu Person zu verstehen. Eines läßt sich ohne weiteres sagen: Absolute Rechte und Verbindlichkeiten können niemals aus V e r s p r e c h u n g e n entspringen, da allen durch diese erzeugten rechtlichen Gebilden eine Relativität wesenhaft zukommt. Es müssen also andersartige Akte sein, denen sie wesensgesetzlich ihr Entstehen verdanken. Gehen wir zunächst von der Annahme aus, ein absolutes Recht sei in einer Person b e r e i t s v o r h a n d e n , ohne vorläufig nach seinem Ursprünge zu fragen. Dann vermag, wenn bestimmte, noch zu erwähnende Voraussetzungen erfüllt sind, die Person es an eine z w e i t e z u ü b e r t r a g e n . Diese Übertragung stellt einen eigenartigen Akt dar, einen f r e m d p e r s o n a l e n zunächst, da jede Rechtsübertragung notwendig Übertragung an einen andern ist, sodann aber, und vor allen Dingen, einen s o z i a l e n , da die Vernehmungsbedürftigkeit ihr wesentlich ist. Anders als das Versprechen stellt die Übertragung kein ferneres Verhalten des Übertragenden in Aussicht, mit dem sich erst die von ihm eingeleitete Entwicklungsreihe vollendete. Sie erreicht vielmehr rein durch sich selbst und ohne ein noch folgendes Tun der aktvollziehenden Person den letztlich von ihr erstreben Zweck: das Entstehenlassen des übertragenen Rechtes in der Person des Gegners. Versprechen sowohl wie Übertragung sind soziale Akte mit unmittelbarer rechtlicher Wirksamkeit. Nur die Übertragung aber hat mit dieser Wirksamkeit ihr letztes Ziel erreicht.

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Damit hängt eine weitere wichtige Tatsache zusammen. Der Übertragung liegt nicht wie dem Versprechen (und dem Befehl) das Wollen eines eigenen (oder Fremden) späteren Verhaltens notwendig zugrunde. Während sie also sehr wohl als bedingter oder vertretender oder von einer Mehrzahl von Personen vollzogener Akt auftreten kann, ist jene Modifikation bei ihr ausgeschlossen, bei der sich eine versprechende oder befehlende Person nach außen als ein Verhalten wollend gibt, welches sie in Wahrheit doch nicht will. Immerhin dürfen wir nicht übersehen, daß auch die Übertragung als Scheinakt aufzutreten vermag. Es liegt ihr, wenn sie voll und ehrlich vollzogen wird, der Wille zugrunde, daß die fremde Person Inhaber des zu übertragenden Rechtes werde. Auch dieser Wille kann fehlen oder unecht sein; der Übertragungsakt wird alsdann in jener schattenhaften, unechten Weise vollzogen, von der wir oben gesprochen haben. Vielleicht will sich die Person nur nach außen hin als übertragend geben; vielleicht beabsichtigt sie eine Täuschung des Aktadressaten oder dritter Personen. Auch hier erhebt sich dann das Problem, ob aus einem solchen Scheinvollzug des Aktes, wenn er vom Gegner vernommen und für echt gehalten ist, dieselben Wirkungen entspringen wie aus der echt und ehrlich vollzogenen Übertragung. Diese Wirkungen sind auch bei den echten Übertragungsakten nicht ohne weiteres verständlich. Nicht jeder natürlich kann beliebig übertragen in der Weise, wie ein jeder beliebig versprechen kann. Vorausgesetzt ist das Vorhandensein des spezifischen Ubertragenk ö n n e n s bzw. des ein Können einschließenden Übertragungsr e c h t e s . Orientieren wir uns speziell an den Fällen, wo absolute Rechte an Sachen von dem Eigentümer eingeräumt sind, so ist es durchaus nicht so, daß der Inhaber ohne weiteres diese Rechte an dritte Personen weiterübertragen könnte. Ihm und n u r ihm sind sie ja verliehen. Eine besondere Verleihung des Übertragenkönnens von seiten des Eigentümers ist hier erforderlich. Dieses Können gehört natürlich nicht zum I n h a l t e des verliehenen Sachenrechtes. Wer berechtigt ist, eine Sache zu benutzen und dies Nutzungsrecht an andere zu übertragen, ist Inhaber zweier Berechtigungen, von denen die zweite an der ersten besteht. Das Übertragenkönnen bzw. das Übertragungsrecht ist ein Können bzw. Recht am e i g e n e n R e c h t e . Es ist ferner a priori durchaus möglich, daß jemand das absolute Recht eines anderen an einen Dritten überträgt. Natürlich muß ihm dieses

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Können eigens verliehen sein, etwa von der das absolute Recht und zugleich das Übertragungsrecht an ihm besitzenden Person. Die so ermöglichte Übertragung des Rechtes einer anderen Person ist sehr wohl zu unterscheiden von dem Falle, in dem jemand in V e r t r e t u n g eines anderen dessen Recht überträgt. Hier handelt es sich um eine Übertragung im Namen eines anderen, dort um einen sozialen Eigenakt. Nicht überall haben diese beiden rechtlichen Kategorien eine Stelle. So ist bei dem Versprechen, wenn es lediglich einen a n d e r e n verpflichten soll, nur ein v e r t r e t e n d e r Akt möglich. Denn Jedem Eigenversprechen, auch wenn es das Verhalten eines anderen zum ausdrücklichen Inhalte hat, entspringt wesensnotwendig eine auf dieses Verhalten bzw. auf seine Herbeiführung bezügliche Eigenverbindlichkeit des Versprechenden. Der Satz »nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet« spricht natürlich eine apriorische Wahrheit aus. Unsere bisherigen Überlegungen setzen uns instand, ihn nach zwei Richtungen hinzu ergänzen: Sowenig man an und für sich Rechte übertragen kann, welche man nicht besitzt, sowenig kann man a l l e Rechte übertragen, welche man besitzt. Es muß das Übertragenkönnen n e b e n dem Rechte vorhanden sein. Ist diese Voraussetzung aber erfüllt, so können auch fremde Rechte, Rechte also, die man n i c h t besitzt, übertragen werden. Von der Rechtsübertragung unterscheiden wir den ebenfalls fremdpersonalen und sozialen Akt der Rechtse i n r ä u m u n g . Er kann genau die gleichen Beziehungsobjekte haben wie die Übertragung und unter genau gleichen Umständen erfolgen; das Recht, eine Sache zu gebrauchen, kann von seinem Inhaber einem anderen sowohl übertragen als auch eingeräumt werden. Trotzdem dürfen beide Akte nicht verwechselt werden; das wird besonders klar in den Fällen, wo zwar von einer Einräumung, nicht aber von Übertragung geredet werden kann. Das Widerrufenkönnen wird von dem Versprechensempfänger, das Übertragenkönnen eines fremden Rechtes wird von dem Rechtsinhaber e i n g e r ä u m t , nicht übertragen. Denn in jeder Übertragung konstituiert sich der Übergang eines vorher bereits in der Person des Übertragenden Existierenden zu einem neuen Träger. Das Widerrufenkönnen aber hat niemals den Versprechensempfänger zum Inhaber gehabt. Das Übertragenkönnen ist im Gegensatz dazu zwar in der Person des Rechtsinhabers vorhanden, aber es wandert nicht in die Person des anderen

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hinüber; es ist ja zweifellos, daß der ein Übertragenkönnen gewährende Inhaber dabei das eigene Übertragenkönnen nicht einzubüßen braucht. Freilich ist auch das Einräumenkönnen an bestimmte Schranken gebunden; auch es muß fundiert sein in einem genau Fixierbaren Machtbereich. Wenn auch der Anspruchsträger mit dein Widerrufenkönnen etwas einräumt, was er selbst nicht hat, so darf man doch nicht übersehen, daß dieses Einräumenkönnen nur dadurch möglich ist, daß der Anspruchsinhaber freie Macht hat über seinen Anspruch; wie er ihn aufheben kann durch eigenen Verzicht, so kann er eine Aufhebungsmöglichkeit schaffen durch Einräumung des Widerrufenkönnens. Nur kraft seiner rechtlichen Macht über Existenz und Nichtexistenz seines Anspruches vermag er anderen Personen entsprechende Macht zu verleihen. Und ebenso vermag er das Übertragenkönnen anderen nur deshalb einzuräumen, weil er selbst die Übertragungsmacht besitzt. So können wir ein neues rechtliches Axiom dahin formulieren: daß niemand mehr an rechtlichem Können einzuräumen vermag, als er selbst besitzt. Von den Fällen, in welchen das eingeräumte Können in Akten realisiert wird, welche auch die einräumende Person vollziehen konnte (wie bei der Übertragung), unterscheiden wir die anderen, in denen der spezielle Akt seinem ganzen Sinne nach ihr nicht zustehen konnte (wie bei dem Widerruf). Gemeinsam aber ist beiden Fällen, im Gegensatze zur Übertragung, daß der Machtbereich, welcher die Einräumung allererst ermöglicht, durch die Einräumung nicht aufgehoben zu werden braucht. Der Anspruchsträger, welcher anderen ein Widerrufenkönnen einräumt, vermag immer noch beliebig auf seinen Anspruch zu verzichten. Auch Rechte, welche kein rechtliches Können in sich schließen, die sich also auf ein rechtlich nicht weiter bedeutsames Eigenverhalten des Inhabers beziehen, können anderen eingeräumt werden. Wo eine Rechtsübertragung möglich ist, ist auch eine Rechtseinräumung wesensgesetzlich gewährleistet. Niemand kann anderen Rechte einräumen, die er nicht besitzt, oder mehr einräumen, als er besitzt. Zweierlei ist hier zu unterscheiden: Der Inhaber von Rechten kann durch Einräumungsakte M i t b e r e c h t i g u n g e n schaffen – ein Fall, für den es bei der Übertragung keine Analogie gibt; und er kann Rechte schaffen »an seiner Statt«. Im ersten Falle hat dann der Gegner teil an dem e i n e n R e c h t e , welches der Inhaber vorher allein besaß und jetzt mit ihm zusammen

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besitzt.24 Im zweiten Falle, der mit der Rechtsü b e r t r a g u n g die größere Ähnlichkeit hat, schafft die Einräumung in der Person des Gegners ein genau gleichartiges Recht, wie es der Einräumende besessen hat, und läßt zugleich dieses letztere untergehen. Bei der Übertragung dagegen wechselt das numerisch selbe Recht einfach seinen Inhaber. Auch hier noch erweist sich die Scheidung zwischen Einräumung und Übertragung als bedeutsam. Gegen das Dogma von den »Willenserklärungen«, durch die sich die rechtlichen Beziehungen konstituieren sollen, haben wir uns schon früher gewandt. Seine Haltlosigkeit ist nun nach jeder Richtung bin deutlich geworden. Konnte das Versprechen, welches auf ein späteres Verhalten des Versprechenden abzielt und einen auf dieses Verhalten gerichteten Willen zur Voraussetzung hat, mit der Äußerung dieses Willens verwechselt werden, so ist bei sozialen Akten, wie der Übertragung und der Einräumung, dem Verzicht und dem Widerruf, ein auf späteres Verhalten gehender Wille gar nicht vorhanden. Wie soll es überhaupt hier möglich sein, von einer Willenserklärung im strengen Sinne zu reden? Denkt man an einen etwaigen vorangehenden Willen zu übertragen oder zu verzichten? Aber man kann doch die Willenserklärung »ich will übertragen« oder »ich will verzichten« unmöglich mit der A u s f ü h r u n g dieses Willens, der Übertragung und dem Verzichte selbst, verwechseln. Oder denkt man au einen auf die unmittelbare Wirkung des Aktes gerichteten Willen, an den Willen also, daß das eigene Recht zum Recht des anderen werde oder untergehe? Gewiß gibt es die Erklärung »ich will, daß ein anderer mein Recht innehat« oder »ich will, daß es untergeht«. Aber was hat das mit dem Verzicht und der Übertragung zu tun – die Erklärung eines Willens mit den Akten, deren Vollzug das Gewollte herbeiführt? In dem Maße, als sich uns die Sphäre eigenartiger sozialer

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Davon sehr wohl zu unterscheiden ist die Einräumung eines vom Hauptrecht abgespalteten Rechtes. Wer berechtigt ist, eine Sache zu benutzen, kann anderen das Recht einräumen, sie zu gewissen Zeiten oder in bestimmtem Umfang zu benutzen. Hier erwächst dem Gegner ein selbständiges Recht, er nimmt nicht teil an dem Rechte des Einräumenden; zugleich büßt dieser letzere sein Recht ein, soweit es nicht mit dem Recht des anderen zusammen bestehen kann.

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Akte erweitert, sinkt jenes Dogma zu absoluter Bedeutungslosigkeit herab.25 Übertragene und eingeräumte Rechte können ihren Ursprung abermals in Übertragungs- oder Einräumungsakten haben. Geht man in dieser Kette immer weiter zurück, so muß man schließlich zu anderen Ursprungsarten gelangen, deren wichtigste das Eigentum ist. Da in ihm alle denkbaren Sachenrechte gründen, vermag sie der Eigentümer – bei absoluter Konstanz des Gehörens selbst – an andere zu übertragen oder anderen einzuräumen. Wir wissen und verstehen es, daß der Verzicht eines Rechtsinhabers nicht etwa dem zwischen dem Eigentümer und ihm stehenden früheren Rechtsinhaber zugute kommt, sondern allein dem Eigentümer. Von einem Zurückwandern des Rechtes werden wir allerdings nicht reden dürfen, sondern von einer Wiedererzeugung kraft der »Elastizität« des Eigentums. Auch das Eigentum kann übertragen werden. Seine Sonderstellung zeigt sich indessen auch hier. Übertragen wird eine Sache »in das Eigentum eines anderen«; das ist mehr als eine bloße sprachliche Wendung. Es ist tatsächlich so, daß das tragende Glied der Gehörensrelation durch eigenen Akt die Relation in der Weise modifiziert, daß es selbst aus ihr ausscheidet, eine andere Person an seine Stelle tritt, Sache und Relation aber im übrigen ganz identisch bleiben. Auch die Übertragung des Eigentums setzt ein Übertragenkönnen voraus, eine eigene Einräumung dieses Könnens aber hätte hier keinen Sinn. Denn insofern im Gehören wesensgesetzlich das Recht gründet, in j e d e r Weise mit der Sache zu verfahren, ist auch das Übertragenkönnen der Sache in das Eigentum anderer Personen mit ihm gegeben. Wie wir im Verzichtenkönnen ein auf das eigene Recht bezügliches und in ihm gründendes Können hatten, so haben wir hier ein auf das eigene rechtliche Verhältnis bezügliches und a u s i h m s e l b s t s i c h e r g e b e n d e s Können.26 Eine Sache kann natürlich auch an meutere insgesamt übertragen weiden. Wie der eine soziale Akt dann mehrere Adressaten hat, so hat das 25

Die B e z e i c h n u n g rechtlich-sozialer Akte Willenserklärungen wird sich nicht mehr verdrängen lassen. Man sollte sich aber durch dieses Wort das Dasein und das Wesen jener Akte nicht länger verschleiern lassen. 26 Einen Fall, in dem dieses Können einer anderen Person eingeräumt wird, stellt, wie bereits erwähnt, das Pfandrecht i. e. S. dar.

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aus ihm erwachsende eine Eigentum mehrere Träger; es ist Eigentum »zur gesamten Hand«. Soll dieses Eigentum alsdann weiterübertragen werden, so ist ein sozialer Übertragungsakt erforderlich, der die Träger des Eigentums zu gemeinsamen Adressanten hat. Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn der Eigentümer einer Sache sie an mehrere Personen zu verschiedenen Wertteilen überträgt. Hier sind ebenso viele Übertragungsakte als Adressaten erforderlich, und es erwachsen aus ihnen ebenso viele Gehörensverhältnisse. Jedem der Adressaten gehört dann die Sache zu einem bestimmten Teile ihres Wertes, und jeder kann sie ohne Mitwirkung der anderen zu diesem oder einem geringeren Teile ihres Wertes in das Eigentum anderer Personen übertragen. Wir haben hier nicht weiter zu verfolgen, in welcher Weise das positive Recht diese rechtlichen Kategorien und Grundsätze benutzt und ausgestaltet hat. Wird das Eigentum an einer Sache übertragen, so erhebt sich die wichtige Frage nach dem Schicksal etwa vorhandener absoluter Sachenrechte dritter Personen. Es scheint, daß an sich die Existenz dieser Rechte durch den Trägerwechsel der Gehörensrelation unberührt gelassen wird. Wenn ein aus dem Eigentum entspringendes Recht durch den Eigentümer weiterübenragen und damit ausgeschieden ist, so kann das Eigentum nur in diesem gehemmten Zustande weiterübenragen werden. Jenes Recht, welches an sich auch jetzt noch aus dem Gehören entspringen würde, besteht in der Person eines Dritten, und es ist nicht der mindeste Grund zu sehen, weshalb es durch den Trägerwechsel des Eigentums zurückfallen sollte. Ein solcher Grund muß vielmehr eigens geschaffen sein. Er kann vor allen Dingen darin liegen, daß der Träger des Eigentums nur für die – unbestimmte – Zeit seines Eigentums das Recht übertragen hat. Dann handelt es sich um ein auflösend bedingtes Recht; mit der Übertragung des Eigentums erlischt das Recht und entspringt im selben Augenblicke neu in der Person des jetzigen Eigentümers. Man kann die Eigenschaft absoluter Sachenrechte, auch bei einem Trägerwechsel des Eigentums an der Sache haften zu bleiben, als ihre »Dinglichkeit« bezeichnen. Wir müssen allerdings beachten, daß dieser Begriff im juristischen Sprachgebrauch sehr verschiedene und, wie uns scheint, nicht immer scharf geschiedene Bedeutungen hat. Heben wir nur einige heraus. Das dingliehe Recht wird zunächst in Gegensatz gestellt zu dem obligatorischen, das Recht auf ein Eigenverhalten in Gegensatz zu

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dem Rechte auf ein Fremdverhalten; es gilt hier als a b s o l u t e s Recht in unserer Terminologie. Es wird weiterhin auf dasjenige Verhalten eingetränkt, welches sich an Sachen betätigt. Dann bedeutet es ein Sachenrecht in unserem Sinne. Es wird drittens beschränkt auf solche Sachenrechte, die den Eigentümerwechsel überdauern, die also ohne Rücksicht auf die Person des jeweiligen Eigentümers an der Sache haften bleiben. Die Dinglichkeit in diesem dritten Sinne ist, wie wir gesehen haben, an und für sich bei allen absoluten Sachenrechten vorhanden. Dinglich heißen viertens diejenigen Sachenrechte, aus deren Beeinträchtigung oder Störung nach den Vorschriften des positiven Rechtes Ansprüche gegen jeden Dritten auf Beseitigung der Beeinträchtigung oder auf Unterlassung usf. erwachsen. Diese Orientierung scheidet für uns, die wir von einem positiven Rechte noch nichts wissen, selbstverständlich aus.27 Ferner nennt man auch Verträge dinglich, insofern die Rechte, welche aus ihnen entspringen, dinglicher Natur in einer der angegebenen Bedeutungen sind. Verträge, in denen lediglich, etwas versprochen wird, werden also niemals dinglich sein. Aber auch A n s p r ü c h e , also relative Rechte, werden als dinglich bezeichnet, insofern sie aus dinglichen Rechten entspringen. So bezeichnet man den dem Eigentümer aus der Wegnahme der ihm gehörigen Sache entspringenden Anspruch auf Rückgabe als einen dinglichen. Bei näherem Zusehen ergibt sich freilich, daß, ganz abgesehen von dem dinglichen Ursprung, die Struktur dieses Anspruchs eine ganz eigenartige ist; in ihr orientiert, erwächst hier eine siebente Bedeutung der Dinglichkeit. Der Herausgabeanspruch, von dem wir sprachen, richtet sich als Anspruch gegen eine zweite Person, ist aber offenbar nicht an diese bestimmte Person gebunden. Er richtet sich vielmehr jeweils gegen diejenige Person, welche die Sache gerade »hat«, d. h. welche zu ihr in jener Gewaltrelation steht, die wir als Besitz bezeichnet haben. Es fehlt hier die ausschließliche Bestimmtheit der persönlichen Beziehung, welche den Ansprüchen, die aus einem Versprechen entspringen, eigen ist. Von einer Dinglichkeit des Anspruchs zu reden, empfiehlt sich freilich hier besonders

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Eine Frage der apriorischen Rechtslehre ist es freilich, ob aus der Verletzung von Rechten wesensgesetzlich Ansprüche irgendeiner Art gegen den Verletzenden entspringen. Wir lassen das Problem hier unerörtert.

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wenig; eher könnte man von der Variabilität seiner persönlichen Richtung sprechen.28 Die Wichtigkeit dieser Scheidungen wird sich später erweisen. Wir haben bisher von dem Ursprung der absoluten Sachenrechte gesprochen, der in dem Übertragungs- oder Einräumungsakte des Eigentümers liegt. Wir berühren jetzt die schwierige Frage nach dem Ursprung des Eigentums selbst. Wir müssen dabei zunächst mit aller Entschiedenheit festhalten: diese Frage ist keine entwicklungsgeschichtliche, keine psychologische und keine ethische. Wir wollen nicht wissen, wie sich die Institution des Eigentums in der Geschichte der Menschheit allmählich herausgebildet hat, es ist für uns auch gleichgültig, welche psychischen Faktoren im Menschen der Anerkennung und Ausbildung des Eigentumsbegriffes tatsächlich zugrunde liegen. Es geht uns vor allen Dingen nichts an, ob sich das Eigentum, oder welche Form des Eigentumes sich sittlich rechtfertigen, und wie sie sich sittlich rechtfertigen läßt. Hier handelt es sich darum, welche Bedingungen vorliegen müssen, damit ein Gehören sich in der Weise wesensgesetzlich konstituiert wie etwa ein Anspruch durch das Versprechen. Die Theorie des Eigentums hat unter der Vermengung dieser vier Fragestellungen sehr gelitten; sie zu scheiden ist die elementarste Forderung, welche man hier überhaupt stellen kann. Am schwersten wird vielleicht die Unterscheidung der dritten und vierten Frage fallen. Aber es ist zu bedenken, daß durch die Aufstellung der apriorischen Gesetze, nach welchen sich ein Gehören konstituiert, über dessen Wert und Seinsollen noch nichts entschieden ist. Man muß zunächst den Wert des Eigentums ganz unabhängig von der Ursprungsfrage in Betracht ziehen. Das Gehören weist an und für sich einen Eigenwert auf n e b e n dem Werte der gehörenden Sache und u n a b h ä n g i g von ihm. Es gibt weiterhin Wesensgesetze, welche den Wert des Gehörens in Beziehung setzen zu dein Werte der Sache: je höher der Sachwert ist, desto höher der Wert des Gehörens. Eine neue Frage ist es, ob es sittlich richtig ist, daß ein solches – an sich wertvolles – Gehören innerhalb der menschlichen Gemeinschaft existiert und anerkannt wird, ob es, spezieller 28

Variabel in diesem Sinne ist u. a. auch das »dingliche« Vorkaufsrecht an Grundstücken (BGB § 1094ff.) insofern es den jeweiligen Eigentümer des Grundstücks zum Vollzugadressaten hat, während das »obligatorische« Vorkaufsrecht eine konstante persönliche Richtung besitzt. (Wiederum ein neuer Begriff der Dinglichkeit erwächst, wenn man sich an § 1098 orientiert).

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gesprochen, in bestimmten Zeitperioden, an bestimmten Punkten der Welt, unter bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen richtig ist. Der Wert des Eigentums an sich schließt eine solche sittliche Unrichtigkeit natürlich nicht aus, insofern die Unwerte, welche innerhalb einer sozialen Gemeinschaft durch die Anerkennung des Eigentums entstehen mögen, jenen Wert überwiegen könnten. Es kann ferner die Frage aufgeworfen werden, welche Form des Eigentums sittlich zu fordern ist, ob es sich zum Beispiel empfiehlt, bei Sachen, welche bestimmte wirtschaftliche Funktionen erfüllen – bei den Produktionsmitteln etwa oder bei Grund und Boden –, niemals einen Einzelnen, sondern stets die Gesamtheit Träger der Gehörensrelation sein zu lassen usf. Von allen diesen und ähnlichen Problemen sieht unsere Frage nach dem wesensgesetzlichen Ursprung des Eigentumes vollständig ab. Von e i n e r Ursprungsart des Gehörens haben wir bereits gesprochen, von der Übereignung der Sache durch den früheren Eigentümer. Hierbei ist stets vorausgesetzt, daß irgendwo in der Welt eine Relation des Gehörens bereits bestanden hat; wie sie aber zuerst und ursprünglich in die Weil tritt, das ist eine weit schwierigere Frage. Wir haben bei Anspruch und Verbindlichkeit gesehen, daß diese nicht zur physischen oder psychischen »Natur« gehörenden Gebilde durch ein natürliches Geschehen, den Vollzug eines sozialen Aktes, entstehen können. Wir werden uns auch bei dem Eigentum nach einem solchen natürlichen Geschehen als dem letzten Ursprung umsehen müssen. Auch hier muß die Heraushebung einiger Linien genügen: nicht eine ausführliche Lehre vom Eigentum haben wir ja zu geben, sondern lediglich den Nachweis, daß innerhalb des großen Gebietes der apriorischen Rechtslehre auch die verschiedenen Eigentumskategorien und die von ihnen geltenden Wesensgesetzlichkeiten eine Stelle haben. Im positiven Recht ist von den »originären Erwerbsarten« des Eigentums die Rede, von der Art, wie sich durch Okkupation, Spezifikation, Usukapion und dgl. ein Gehören konstituiert. Daß dabei Wesenszusammenhänge obwalten, steht zu vermuten; freilich ist es hier besonders schwer, unter Ausschaltung aller psychologischen Tendenzen, Zweckmäßigkeitserwägungen und ähnlichem eine reine Wesensintuition zu erreichen. Immerhin sind gewisse Einsichten bei vorurteilsloser Prüfung auch hier ohne weiteres zu erzielen. Es ist z.B. sofort klar, daß die Usukapion, so unentbehrlich sie für das positive Recht sein mag, k e i n e n

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wesensgesetzlichen Ursprung des Eigentums darstellt. Eine Sache, welche zwei oder drei oder zehn Jahre von mir – sei es gut- oder Schlechtgläubig – besessen worden ist, kann unmöglich dadurch plötzlich in ein Gehörensverhältnis zu mir treten. Hier können es nur Zweckmäßigkeitsgründe sein, welche das positive Recht veranlassen, eine solche Eigentumsentstehung zu bestimmen. Ganz anders steht es offenbar, wenn etwa eine Sache, die von jemand hergestellt wird, in das Eigentum des Herstellers tritt. Sehen wir ganz ab von den Fällen, denen jemand die Sache eines anrieten verändert oder zu einer neuen Sache umgestaltet, und halten wir uns an den viel einfacheren und klareren Fall, in dem jemand eine Sache s c h a f f t aus Materialien, die zuvor in keines Menschen Eigentum gestanden haben. Hier erscheint es als ganz selbstverständlich, daß die Sache von ihrer Geburt an dem gehört, der sie geschaffen hat. Machen wir uns diese »Selbstverständlichkeit« für ein etwas näheres Eindringen in dieses Gebiet zunutze. Sowenig es im Wesen des Besitzern oder Benutzens einer Sache gründet, daß ein Gehörensverhältnis sich aus ihm entwickelt, sosehr gründet es im Wesen des Schaffens, daß die geschaffene Sache dem Schallenden gehört. Daß dieses Schaffen nicht mit der Bearbeitung oder Veränderung einer schon bestehenden Sache verwechselt werden darf, haben wir schon betont. Wichtiger ist ein zweiter Gesichtspunkt. Man hat häufig den Grundsatz aufgestellt, daß Eigentum nur auf Grund von A r b e i t erwachsen dürfe. In dem Worte »dürfen« kommt es schon zum Ausdruck, daß es sich hier um ein ethisches Postulat handelt, welches die Eigentumsverhältnisse in einer Gemeinschaft in sittlich befriedigender Weise regeln will, nicht um einen schlichten wesensgesetzlichen Seinszusammenhang. Die These, die wir hier aufstellen, darf daher mit jener nicht verwechselt werden. Mag auch in dem Schaffen von Sachen Arbeit stecken, so gründet das Eigentum an der Sache doch nicht darin, daß eine gewisse Arbeit aufgewendet ist – in dem Transport einer Sache von einem Orte zum anderen mag ebensoviel Arbeit stecken –, sondern in dem Schauen als s o l c h e m . Das Schaffen ist weder ein fremdpersonaler noch ein sozialer Akt. Zum ersten Male sehen wir, daß ein rechtliches Verhältnis sich in einem der Vernehmung nicht bedürftigen Tun des Subjektes konstituieren kann. Immerhin gibt es für dies Tun Modifikationen, wie wir sie früher bei den sozialen Akten gefunden haben, und diese Modifikationen haben a priori zu erfassende Konsequenzen. Es

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gibt ein g e m e i n s a m e s Schaffen mehrerer Personen; dieselbe Sache kann von mehreren »insgesamt« geschaffen werden: dann haben diese Mehreren »zusammen« ein Eigentum an der geschaffenen Sache. Ob man innerhalb unserer Sphäre auch von einem Schaffen »in Vertretung« einer anderen Person reden kann, so daß aus einem solchen vertretenden Tun der vertretenen Person unmittelbar Eigentum erwüchse, wagen wir nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfte klar geworden sein, was wir zeigen wollten: daß eine eigene Untersuchung des wesensgesetzlichen Ursprungs des Eigentums möglich ist. Nachdem wir die Frage nach dem Ursprung der absoluten Rechte und des Eigentums aufgeworfen haben, müssen wir auch den Ursprung absoluter V e r b i n d l i c h k e i t e n kurz erörtern. Selben wir den Fall, daß eine absolute Verbindlichkeit bereits besteht, so gibt es eine Übernahme der Verbindlichkeit durch einen Dritten und eine korrelative Übergabe von seiten des Trägers, entsprechend der Übertragung absoluter Rechte. In Übergabe und Übernahme haben wir neue soziale Akte zu sehen, die wiederum in keiner Weise als die Erklärung irgendeines Willens betrachtet werden dürfen. Selbstverständlich kann niemand mehr Verbindlichkeiten von einem anderen übernehmen oder einem anderen übergeben, als in der Person des Übergebenden existieren. Von dem Übernehmen und Übergeben schon bestehender Verbindlichkeiten unterscheiden wir das Auferlegen und Aufsichnehmen von Verbindlichkeiten, die auf seiten des Auferlegenden nicht zu bestehen brauchen. Das Auferlegen von Verbindlichkeiten steht offenbar in Analogie zu dem Einräumen von Rechten. Während aber diese Einräumung ein Vorhandensein gleichartiger Rechte in der Person des Einräumenden voraussetzte, gilt Entsprechendes bei der Auferlegung von Verbindlichkeiten nicht. Niemand braucht die Verbindlichkeiten, die er anderen auferlegt, selbst zu haben. Kraft der Auferlegung und des Aufsichnehmens durch den anderen treten neue, bisher nicht existierende Verbindlichkeiten in die Welt ein. Im praktischen Leben wird uns freilich diese Erzeugung absoluter Verbindlichkeiten nur selten begegnen. Wo eine Person der anderen eine Verbindlichkeit auferlegen will, wird sie sich den betreffenden Inhalt v e r s p r e c h e n lassen und dadurch erreichen, daß die Verbindlichkeit ihr selbst gegenüber, und daß damit auf ihrer eigenen Seite ein entsprechender Anspruch entsteht. Sie wird diesen Weg der – wesensgesetzlich stets gewährleisteten

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– anderen Möglichkeit vorziehen, lediglich eine absolute Verbindlichkeit in der Person des anderen zu erzeugen und dabei selbst eines Anspruches zu entbehren. Indessen zeigt uns das praktische Leben eine Realisierung auch dieses Falles. Wir erinnern an die »Auflage« unseres positiven Rechtes. »Der Erblasser kann durch Testament den Erben oder einen Vermächtnisnehmer zu einer Leistung verpflichten, ohne einem anderen ein Recht auf die Leistung zuzuwenden.« (BGB § 1940; § 2194 gibt keinen Anspruch im bisherigen Sinne.) Über das Entstehen r e l a t i v e r Verbindlichkeiten und Ansprüche haben wir in unserem ersten Kapitel gesprochen. Wie sieht es mit ihrer Verpflanzung von einer Person zur anderen? Für die apriorische Rechtslehre erhebt sich hier vor allem das Problem: Kann der Inhaber des Anspruchs diesen durch einen sozialen Akt ohne weiteres an einen anderen übertragen? Wir glauben diese Frage unbedingt verneinen zu müssen, so seltsam das zunächst für Juristen auch klingen mag. Es gilt, sich auch hier von den gewohnten positiv-rechtlichen Anschauungen freizumachen und vorurteilslos auf die Sachen selbst zu sehen. Es ist zunächst zuzugeben, daß der Anspruchsinhaber in bezug auf seinen Anspruch wertgehende Machtbefugnisse hat; wir wissen, er kann beliebig auf ihn verzichten und ihn damit aus der Welt schaffen. Während bei den vom Eigentümer eingeräumten absoluten Sachenrechten, welche wir früher betrachtet haben, ein Verzicht das Recht in der Person des Inhabers zwar erlöschen, in der Person des Eigentümers aber wieder aufleben läßt, ist der A n s p r u c h kraft des Verzichtes spurlos aus der Welt verschwunden. Hier nun könnte man versucht sein anzusetzen: Wenn der Anspruchsinhaber diese absolute rechtliche Macht über Sein und Nichtsein des Anspruchs besitzt, sollte er da nicht auch die Macht haben, ihn in die Person eines anderen zu verpflanzen, d.h. ihn einem anderen zu übertragen? Einer solchen Möglichkeit steht zunächst die Ansprüchsrelativität entgegen. Jeder Anspruch besteht, wie wir wissen, einer anderen Person gegenüber, und diese andere Person hat selbst eine inhaltsidentische Verbindlichkeit gegenüber dem Ansprüchsträger. Eine Anspruchsverpflanzung würde also gleichzeitig eine Verbindlichkeitsmodifizierung bedeuten: es würde ihr dadurch notwendig ein anderer Gegner erwachsen. Hier aber findet die rechtliche Macht des Anspruchsinhabers ihre Grenzen. Niemand wird

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zunächst daran zweifeln, daß irgendeine ganz fremde Person an der Verbindlichkeit einer anderen nicht das geringste ändern kann, daß sie insbesondere nicht in der Lage ist, der Verbindlichkeit einen neuen Gegner zu gehen. Nur der Träger der Verbindlichkeit selbst, er, der allein sie übernehmen oder auf sich nehmen kann, vermag ihr auch eine neue Richtung zu geben. Das ist auch dann so, wenn es sich nicht um eine absolut fremde Person, sondern um den Verbindlichkeitsgegner selbst handelt. Über den eigenen Anspruch besitzt er weitgehende Macht, nicht aber über die fremde Verbindlichkeit. Jede Modifizierung des Anspruchs also, welche zugleich eine Verbindlichkeitsmodifizierung bedeuten würde, ist für ihn unmöglich. Von hier aus gesehen ist es ausgeschlossen, daß ein Anspruch, ohne Mitwirkung des Gegners, von dem Inhaber allein an einen Dritten übertragen werden kann. Man könnte nun in Erwägung ziehen, ob eine Übertragung nicht wenigstens durch die Mitwirkung des Verbindlichkeitsträgers ermöglicht werden kann. Im Anschluß an früher angestellte Erwägungen liegt folgender Gedankengang nahe: Der Verbindlichkeitsträger, der imstande war, die Verbindlichkeit durch einen freien sozialen Akt zu schaffen, muß auch imstande sein, die Richtungsänderung, welche der Gegner vornehmen will, zu ermöglichen. Das Übertragenkönnen des Anspruches, welches der Inhaber zunächst nicht besitzt, weil es eine Richtungsänderung der Verbindlichkeit zur Folge haben würde, kann ihm durch den Träger der Verbindlichkeit verliehen werden. Diese Verleihung kann zu beliebiger Zeit geschehen, in dem Augenblick des Versprechens selbst etwa oder in dem Augenblick, da der Anspruchsträger die Anspruchsübertragung will. Verspricht B dem A 100 Mark, mildem Hinzufügen, daß er mit der Übertragung des dadurch entstehenden Anspruches einverstanden sei, oder stimmt B einem konkreten Übertragungsakte, den A dem C gegenüber vornehmen will, zu, so ist eben dadurch der Übertragungsakt wirksam geworden: der Anspruch, dessen Träger zuerst A war, existiert nun in der Person des C. Diese Erwägung übersieht den wichtigsten Punkt, auf den hier alles ankommt. Zugegeben selbst, daß mit Einwilligung des Verbindlichkeitsträgers der Anspruch übertragen zu werden vermag, so wäre damit noch keineswegs erreicht, was man mit der Übertragung erreichen möchte, daß nämlich der neue Inhaber Anspruch darauf hat, daß ihm die Summe

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ausgezahlt wird. Wir haben früher die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit- bzw. Anspruchsadressaten einerseits und Inhaltsadressaten andererseits auf das bestimmteste betont. Die Übertragung eines Anspruches, wenn sie durch die Einwilligung des Gegners ermöglicht wird, ändert den Verbindlichkeitsadressaten; sie kann aber niemals das erreichen, was mit ihr erstrebt wird: eine Änderung des I n h a l t s adressaten der Verbindlichkeit. A hat den Anspruch darauf, daß B i h m (dem A) 100 Mark zahlt; vermag er diesen Anspruch an C zu übertragen, so gewinnt C den Anspruch darauf, daß B dem A 100 Mark zahlt; nicht im mindesten aber ist einzusehen, inwiefern C durch die Übertragung des Anspruches den inhaltlich ganz neuen Anspruch gewinnen könnte, daß an ihn seihst (den C) die Summe ausbezahlt werden sollte. So sind wir zu einem überaus merkwürdigen Resultate gelangt. Die Frage, ob eine Übertragung des Anspruches ohne Mitwirkung des Gegners möglich sei, ist unter allen Umständen zu verneinen. Daß eine Übertragung mit Einwilligung des Gegners möglich ist, kann zugestanden werden. Fassen wir aber »Übertragung« im ursprünglichen und genauen Sinne, so muß bei allen Ansprüchen, welche einen Inhaltsadressaten überhaupt besitzen,29 sehr wohl beachtet werden, daß der Inhaltsadressat bei einer Übertragung derselbe bleibt. Sind, wie es der häufigste Fall zu sein pflegt, Anspruchsträger und Inhaltsadressat ursprünglich dieselbe Person gewesen, so besteht nach der Übertragung nunmehr in dem neuen Anspruchsträger der Anspruch, daß an den früheren Anspruchsträger, als noch jetzt fungierenden Inhaltsadressaten, die Leistung vollzogen werde. Das, was man allgemein und was insbesondere das positive Recht unter Übertragung versteht, erstrebt indessen viel mehr: hier soll der neue Anspruchsträger zugleich neuer Inhaltsadressat werden. Wo der Anspruch keinen Inhaltsadressaten besitzt, kommt dieses weitergehende Postulat nicht in Frage; und ebensowenig, wenn eine dritte Person als Inhaltsadressat fungiert. Wenn A den Anspruch darauf, daß B dem D etwas leistet, dem C überträgt, so gewinnt nun C den Anspruch darauf, daß B an denselben D dieselbe Leistung vollzieht. Sobald aber die Leistung nach dem Inhalte des Anspruches statt an D an A zu erfolgen hat, verlangt man 29

Wir haben früher schon erwähnt, daß manche Ansprüche, etwa der Anspruch darauf, daß der andere spazieren geht, eines Inhaltsadressaten durchaus ermangeln.

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etwas ganz Neues. Obwohl es auch hier natürlich denkbar wäre, daß eine Übertragung im bisherigen Sinne stattfände, mit der Wirkung, daß nunmehr C den Anspruch darauf hätte, daß an A geleistet wird, und obwohl solche echte Übertragungsfälle im realen Leben sicherlich mitunter stattfinden, pflegt man regelmäßig – wohl ohne es selbst zu bemerken – unter der Übertragung einen Vorgang zu verstehen, in dessen Wirkung eine Änderung des Inhaltsadressaten zugunsten des neuen Anspruchsträgers liegen soll. Eine solche qualifizierte Übertragung durch einen freien Akt des ursprünglichen Anspruchsträgers ist offensichtlich unmöglich; genauer gesagt handelt es sich hier gar nicht um etwas, das man noch als Übertragung im ursprünglichen Sinne bezeichnen dürfte. Diese Übertragung setzt eine strenge Identität des Übertragenen voraus. Zwar wechselt bei der echten Übertragung der Anspruch seinen Gegner, aber es ist im strengsten Sinne derselbe Anspruch, welcher diese Modifikation erleidet, genauso wie das im strengsten Sinne »selbe« Ding etwa seine Farbe verändern kann. In dem fall aber, den das positive Recht, und den man auch sonst gewöhnlich bei der Anspruchsübertragung im Auge hat, erleidet der Anspruch seinem Inhalte nach eine derart fundamentale Änderung, daß von einem bloßen Stellenwechsel eines sonst genau identischen Anspruches nicht die Rede sein kann. Von einer »Selbigkeit« des Anspruches bann man zwar immer noch reden, ähnlich wie jenes Stück Wachs bei Descartes, dessen Farbe, Temperatur, Duft, Geschmack, Gestalt und Größe sich geändert hat, immer noch «dasselbe«, wenn auch qualitativ fast in jeder Hinsicht verschiedene Wachs ist. Es ist immer noch der aus dem Versprechen erwachsene Anspruch, der seinen Träger und seinen Inhalt in wesentlichen Funkten geändert hat. Von der schlichten Übertragung eines qualitativ bis auf den Trägerwechsel identisch Bleibenden kann aber hier nicht mehr die Rede sein. Darum kann auch nicht – so wie vorhin – eine Einräumung des Übertragenkönnens von seiten des Verbindlichkeitsträgers diese qualifizierte Übertragung möglich machen. Es ist ja wesensgesetzlich ausgeschlossen, daß jene Inhaltsmodifikation auf Grund eines schlichten Übertragenkönnens zustande zu kommen vermag. Man kann die Frage aufwerfen, ob die erstrebten Wirkungen der qualifizierten Übertragung auf anderem Wege erreicht werden können. A kann dem C versprechen, ihm das zu leisten, was B ihm zu leisten

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schuldet; dann erwächst daraus ein neuer Anspruch des C gegen A, aber nicht gegen B. Und ferner bleibt der erste Anspruch hier bestehen. Oder – wenn wir B mit hineinziehen –; A kann dem B versprechen, auf seinen Anspruch zu verzichten, wenn B dem C dieselbe Leistung verspricht. Dann erwächst daraus ein bedingter Anspruch des B gegen A. Tritt die Bedingung ein, so erwächst damit dem C der gewünschte Anspruch gegen B, und der Anspruch des B, daß A auf seinen Anspruch verzichtet, ist aktuell geworden. Der Ansprach des A gegen B aber besteht weiter, solange der Anspruch des B gegen A (auf Verzicht) nicht erfüllt ist. Man kann diese letzte Konsequenz vermeiden, indem man A dem B gegenüber direkt verzichten läßt, «für den Fall«, daß B dem C die Leistung verspricht. Verspricht nun B, so scheint das erreicht zu sein, was die qualifizierte Übertragung erreichen sollte: Der Anspruch des A gegen B ist nicht mehr da, und C hat den Anspruch gegen B auf eine gleiche Leistung an ihn selbst. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied. Es ist nicht »derselbe« Anspruch, den früher A gegen B besaß, und den nun – mit geänderter Trägerschaft und modifizierter Inhaltrichtung – C gegen B besitzt: Der Anspruch des C gegen B ist ja viel jünger, er ist erst aus dem Versprechen, welches B dem C erteilt hat, erwachsen und nicht etwa aus einem Versprechen des B an A. Hat dieser Anspruch irgendeinen Fehler oder Mangel,30 so hilft die Makellosigkeit des früheren Anspruches des A gegen B nichts. Und umgekehrt: War dieser Anspruch mangelhaft, so leidet der neue Anspruch in keiner Weise darunter.31 So sehen wir: Auf keinem dieser Wege kann es gelingen, die angestrebte Übertragung und gleichzeitige Inhaltsmodifikation eines und desselben Anspruches zu erreichen. Es bleibt noch zu erwägen, ob nicht eine besondere Gestaltung des den Anspruch begründenden Aktes dazu verhelfen kann. A kann dem B die Erklärung abgeben: Ich verspreche dir oder dem, den du bestimmen wirst, eine bestimmte Summe an dich zu zahlen. Hier wird zugleich mit dem Versprechen dem B (und nur ihm) ein Übertragenkönnen an eine beliebige Person erteilt. Es ist ferner der Fall 30

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Die Frage nach den Mängeln der Rechte und ihrer wesensgesetzlichen Fundierung bleibt von uns in diesen Ausführungen unerörtert. Man lege sich hier noch einmal vorurteilslos die Frage vor, welchen Sinn es haben kann, diese auch dem Nichtjuristen mit unmittelbarer Evidenz einleuchtenden Sätze als »willkürliche Satzungen des positiven Rechtes« zu bezeichnen!

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denkbar, daß B mit dem Anspruch auch das Übertragenkönnen in der Weise weiterübertragen kann, daß das Können dem Ansprüche sozusagen ein für allemal mit auf den Weg gegeben wird. Hier könnte man, wenn man die Sachlage adäquat zum Ausdrucke bringen will, etwa die Worte gebrauchen: »Ich verspreche dir und jedem anderen, den du oder deine Nachfolger bestimmen werden …«. Zu beachten ist dabei allerdings, daß es nicht etwa das V e r s p r e c h e n ist, aus welchem dem zweiten und dritten Inhaber der Anspruch erwächst. Nur dem ersten Inhaber entspringt aus dem Versprechen der Anspruch und dank der besonderen Form des Versprechens gleichzeitig ein Übertragenkönnen und schließlich ein Übertragenkönnen dieses Übertragenkönnens. Dies erst ist die wesensgesetzlich Unterlage, auf Grund deren der Anspruch eine weitere Wanderung antreten kann. Vor allem aber ist mit Bestimmtheit daran festzuhalten, daß in allen diesen Fällen der Anspruch immer auf die Leistung an den ersten Anspruchsinhaber geht. Es ist bisher in keiner Weise verständlich geworden, wie jenes Ziel der qualifizierten Übertragung erreicht werden kann: daß die Leistung an den j e w e i l i g e n Inhaber des Anspruches zu gehen hat. Um die Möglichkeit der hier geforderten Inhaltsmodifikation begreiflich zu machen, stellen wir folgende Erwägung an. Ein Versprechen kann sich nicht nur auf einen Inhalt beziehen, sondern zwei verschiedene Verhaltungsweisen alternativ in Aussicht stellen. Die Wahlentscheidung (und damit die Konsolidierung des Inhaltes zu einer der beiden Verhaltungsweisen) kann dabei in das Belieben des Versprechenden oder des Versprechensempfängers gestellt werden: Ich verspreche dir, dir nach meiner Wahl (nach deiner Wahl) dieses oder jenes zu leisten. Die eigenartige Struktur solcher »Wahlobligationen« muß natürlich in der apriorischen Rechtslehre genau analysiert werden. Hier soll ihre Erwähnung nur zur klaren Abhebung einer verwandten rechtlichen Erscheinung dienen. Es ist ein Versprechen möglich, welches sich auf ein bestimmtes Verhalten richtet, dem Versprechenden oder Versprechensempfänger aber das Können bzw. das Recht verleiht, diesen bestimmten Inhalt abzuändern. Hier liegt keine gleichgewichtige Alternativität, sondern von vornherein eine Konsolidiertheit des Anspruchsinhaltes vor, nur daß er jederzeit d u r c h e i n e n a n d e r e n e r s e t z t b z w . g e ä n d e r t werden kann. Diese Änderung kann sowohl den Inhalt im

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engeren Sinn als auch die Inhaltsrichtung betreffen. Es ist eine Erklärung möglich: »Ich verspreche dir, 100 Stück der Sorte A an dich zu leisten (e v e n t u e l l 150 Stück der Sorte B)« und: »Ich verspreche dir, 100 Stück der Sorte A an dich zu leisten (e v e n t u e l l an einen anderen, den du bestimmst).« Hier ist evidentermaßen das möglich, was wir suchen: die Veränderung des Inhaltsadressaten durch freien Akt des Anspruchsinhabers. Zugleich haben wir das Moment, auf das wir so großes Gewicht legen, ganz rein herausgestellt: Es liegt eine Inhaltsmodifizierung des Anspruchs ohne Trägerwechsel, ohne eine echte Übertragung vor. Nun ist es nicht mehr schwer, das Ganze, nach welchem wir suchen, zu erfassen. Die qualifizierte Übertragung ist da möglich, wo ein Versprechen gleichzeitig mit dem Übertragenkönnen (und eventuell dem Übertragenkönnen dieses Übertragenkönnens) erteilt ist und z u g l e i c h die rechtliche Macht eingeräumt ist, die Inhaltsrichtung des Anspruchs bei der jeweiligen Übertragung so zu ändern, daß der neue Inhaber an Stelle des früheren als Inhaltsadressat fungiert. Vielleicht gibt es im praktischen Leben Versprechungen mit diesen oder doch ähnlichen Intentionen; man denke etwa an das Versprechen des Akzeptanten eines Wechsels. Sicher aber ist, daß, wo ein schlichtes, nur an eine Person sich wendendes und nur ihr ein bestimmtes Verhalten in Aussicht stellendes Versprechen vorliegt, die qualifizierte Übertragung wesensgesetzlich ausgeschlossen ist. Das BGB freilich, bestimmt: Eine Forderung kann von dem Gläubiger durch Vertrag mit einem anderen auf diesen übertragen werden (§ 398), und mißt dabei der Übertragung stillschweigend eine die persönliche Richtung des Inhaltes ändernde Wirksamkeit bei. Wiederum haben wir einen der – überaus zahleichen – Fälle, in denen die Sätze des positiven Rechtes dem, was wir als strengen, wesensgesetzlichen Zusammenhang in Anspruch nehmen, zu widersprechen scheinen. Wir verweisen auch hier die – recht naheliegende – Einwände auf unsere späteren Ausführungen; zur Erwägung aber möchten wir jetzt schon geben, daß die langsame Durchsetzung der Anspruchszession im römischen Recht ein Vorgang ist, der einer Erklärung dringend bedarf. Noch auf einen zweiten Punkt ist hier hinzuweisen. Daß wir die absolute Unmöglichkeit einer qualifizierten Anspruchsübertragung ohne jede Mitwirkung des Anspruchsgegners so klar und zweifellos einsehen,

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zeigt, daß nicht, wie psychologischer Dilettantismus so leicht sagen wird, die »G e w o h n h e i t « es ist, welche uns bei der Aufstellung angeblich a priori geltender Gesetze leitet. Auch wenn wir ganz davon absehen, daß Gewohnheit uns vielleicht dazu bringen kann, einen oft gehörten Satz endlich blind z u g l a u b e n , niemals aber, ihn in aller Klarheit e i n z u s e h e n , so sollte der eben besprochene Fall eines Besseren belehren. Hätte Gewohnheit wirklich einen Einfluß auf die Aufstellung unserer Wesensgesetze, so würde sie uns auf Grund der Erfahrungen, die unser positives Recht uns hat machen lassen, dazu führen, die Möglichkeit einer Anspruchszession ohne weiteres zu behaupten. Nicht die Gewohnheit also verleitet zur Aufstellung apriorischer Sätze, sondern die klare Einsicht in die apriorischen Wesenszusammenhänge zerstört den blinden, gewohnheitsmäßigen Glauben. Der Anspruchsübertragung steht die Auferlegung von Verbindlichkeiten zur Seite. Auch sie ist ohne Mitwirkung des Verbindlichkeitsgegners nicht möglich, insofern ja ein Inhaberwechsel der Verbindlichkeit zugleich einen Wechsel des Gegners des gegenüberstehenden Anspruches und damit eine M o d i f i k a t i o n des Anspruches bedeutet, welche bei einer Ausschaltung des Anspruchsinhabers nicht möglich ist. Räumt der Inhaber des Anspruches von vornherein oder im konkreten Falle das Auferlegenkönnen ein, so ist die echte, schlichte Auferlegung der Verbindlichkeit an einen Dritten und die Übernahme durch diesen Dritten möglich. Unter »Schuldübernahme« versteht das positive Recht diesen schlichten Vorgang und nicht einen qualifizierten, wie bei der »Forderungsubertragung«. Wenn B dem C seine Verbindlichkeit, an A etwas zu leisten, auferlegt, so soll die Inhaltsadressierung dieser Verbindlichkeit selbstverständlich die gleiche bleiben.32 Wie bei der schlichten Forderungsübertragung ist es auch bei der Schuldübernahme an sich möglich, daß die Auferlegungsbefugnis von Anfang an dem Verbindlichkeitsträger in unbeschränkter und selbst übertragbarer Weise gewährt wird, obwohl diese a priori gewährleistete Möglichkeit sich im praktischen Leben aus leichtverständlichen Gründen kaum jemals realisieren wird. 32

Daß mit dem Übergang der Verbindlichkeit zugleich der Inhaltsa d r e s s a n t wechselt, ist selbstverständlich, weil jede Verbindlichkeit ihrem W e s e n nach auf ein Verhalten des Verbindlichkeitsträgers sich beziehen muß.

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Daß es auch bei dem rechtlichen Können – welches stets ein absolutes sein muß – eine Übertragung und Einräumung gibt, welche unter analogen Gesetzen steht wie die Übertragung und Einräumung absoluter Rechte, haben wir bereits ausgeführt. Wie für die absoluten Sachenrechte bildet auch für gewisse Arten des Könnens das E i g e n t u m einen letzten Stützpunkt. Wir wiesen, daß in ihm das Können gründet, die aus ihm entspringenden Rechte anderen Personen zu übertragen oder einzuräumen. In ähnlicher Weise ist mit jedem Rechte das Verzichtenkönnen auf es selbst gegeben usf. Hier ist es indessen notwendig, noch einen Schritt weiter zurückzugehen. Soziale Akte, wie die des Einräumens oder Übertragens u. dgl., können unmöglich als letzte Quelle des Könnens fungieren, da sie, soweit sie eine unmittelbare rechtliche Wirkung besitzen, allemal selbst ein darauf bezügliches Können voraussetzen, und dies Können schließlich eine andere Wurzel haben muß, wenn ein fehlerhafter Regressus in infinitum vermieden werden soll. Eine solche letzte Wurzel ist in der Tat in der Person als solcher vorhanden. Eine Person kann versprechen, Verbindlichkeiten auferlegen, übernehmen u. dgl. mehr. Daß sie diese Akte zu vollziehen imstande ist, ist freilich nicht das Wesentliche; denn nicht auf dies natürliche Können kommt es hier an, sondern darauf, daß durch den Vollzug unmittelbar rechtliche Wirkungen eintreten, Ansprüche, Verbindlichkeiten u. dgl. entstehen. Hierin dokumentiert sich ein rechtliches Können, welches nicht weiter ableitbar ist, sondern in der Person als solcher seinen letzten Ursprung hat. Wir können hier von dem rechtlichen Grundkönnen der Person reden. Dies Grundkönnen ist unübertragbar. Insofern es im Wesen der Person als solcher gründet, ist es unabtrennbar von ihr; es bildet den letzten Untergrund, welcher die Konstitution rechtlich-sozialer Beziehungen überhaupt erst möglich macht. Auch die sittlichen (absoluten oder relativen) Berechtigungen und Verpflichtungen, die wir von den Verkehrsrechten und Verbindlichkeiten auf das strengste geschieden haben, und welche sich nicht in freien sozialen Akten konstituieren können, sondern das Sein bestimmter andersartiger Tatbestände voraussetzen, vermögen ihren Ursprung in der Person als solcher zu haben. Man spricht von dem Rechte der freien Entfaltung der Persönlichkeit; lassen wir dahingestellt, in welcher Weise und in welcher Formulierung sich ein solches Recht in der Tat aufstellen läßt: jedenfalls haben wir hier ein Beispiel für den Typus derjenigen

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absoluten sittlichen Berechtigungen, welche in der Person als solcher gründen. Korrelate Fälle gibt es in großer Anzahl; auch sie können im positiven Recht eine Rolle spielen. Wir erinnern nur an die »Grundrechten« in manchen Verfassungen, welche zum Teil als absolute, vom positiven Recht anerkannte sittliche Berechtigungen, die der Person als solcher zukommen, au charakterisieren sind, und an die sog. »Persönlichkeitsrechte« des bürgerlichen Rechtes. Wir haben früher erwähnt, daß andere sittliche Berechtigungen und Verpflichtungen aus bestimmten Verhältnissen entspringen können, in denen Personen zueinander stehen, Freundschaft, Liebe usf. Auch sie spielen im positiven Rechte eine Rolle; man denke an die Verpflichtungen der Ehegatten untereinander, an ihre Verpflichtungen den Kindern gegenüber. Von ihnen allen gilt, daß sie nicht übertragbar sind.33 Was in der Person als solcher oder in bestimmten Verhältnissen von Personen zueinander gründet, kann von diesem Grunde nicht losgelöst werden. Es ist hier ganz anders wie bei den Rechten und Verbindlichkeiten der Verkehrs, die, aus freien sozialen Akten entspringend, durch freie soziale Akte weiterverpflanzt werden. Von unübertragbaren Rechten und Verbindlichkeiten spricht man freilich sowohl hier wie dort. Aber wir werden den Fall, i n d e m a n s i c h ü b e r t r a g b a r e R e c h t e o d e r a n s i c h a u f e r l e g b a r e Verbindlichkeiten in concreto mangels eines Übertragen- oder Auferlegenkönnens nicht übertragen werden können, sehr wohl von der Unübertragbarkeit unterscheiden müssen, welche an sich und wesenhaft den sittlichen Berechtigungen, welche im Wesen der Person als solcher gründen und demzufolge von ihr unabtrennbar sind; bei den sittlichen Berechtigungen, die aus bestimmten objektiven Tatbeständen entspringen, an denen die Person beteiligt ist, und welche von der Person unabtrennbar sind, solange diese Tatbestände dauern; und schließlich bei Rechten, welche durch soziale Akte in der Person entstanden sind und von ihr, weil ihr ein Übertragenkönnen fehlt, nicht weiterübertragen werden können. Von einer, auch nur zeitweiligen Unabtrennbarkeit von der Person kann hier

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Übertragbar sind höchstens die aus bestimmten sittlichen Berechtigungen, etwa der Berechtigung der Kinder auf Unterhalt, in sehr eigenartiger Weise sich entwickelnden Außersittlichen Ansprüche auf bestimmte Geldleistungen.

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überhaupt keine Rede sein, insofern die Verzichtbarkeit im Wesen dieser Verkehrsrechte gründet.

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§3 Das Wesen der Bewegung 1. Relative und absolute Bewegung Während andere Wissenschaften die Dinge unter bestimmten Gesichtspunkten und in einer durch Zwecke geleiteten Auswahl erfassen, geht die philosophische Betrachtung auf das reine Wesen der Sachen selbst. Was Bewegung in sich selbst ist, wollen wir wissen, nicht wie das Dasein und die Maße bewegter Körper in der realen Welt festgestellt werden können oder wie sie aufeinander wirken oder dergl. mehr. So werden die philosophischen Ergebnisse vielfach von den Überlegungen gerade der neuesten Wissenschaft erheblich abweichen müssen, ohne daß damit sachliche Gegensätze gegeben wären. Solche scheinen nur dann vorzuliegen, wenn man die definitorisch umschreibend oder uneigentlich gemeinten wissenschaftlichen Ausdrücke als auf das Wesen der Sache selbst gehend auffaßt. Gegenüber der naturwissenschaftlichen Behauptung, daß alle Bewegung relativ wäre, stellen wir die philosophische auf, daß a l l e B e w e g u n g a b s o l u t i s t ; oder besser, daß alle Bewegung eben B e w e g u n g ist, und daß in ihr selbst ein Gegensatz zwischen Absolutem und Relativem überhaupt keine Stelle hat. Setzen wir in anschaulicher Vorstellung einen beliebigen Körper als bewegt an – und das können wir genausogut, wie wir in anschaulicher Vorstellung eine Gerade oder ein System von Punkten ansetzen können –, so haben wir da einen Körper, der mit beliebig anzusetzender Geschwindigkeit und Richtung einen anschaulich mitgegebenen Raum durchmißt. Die Bewegung ist Bewegung dieses Körpers und sonst nichts, genauso wie wir in Erweiterung der Ansetzung andere sich in anderer Richtung und mit anderer Geschwindigkeit bewegende oder auch ruhende Körper ansetzen können und dabei wiederum in Bewegtheit und Ruhe nichts anderes als Zuständlichkeiten der jeweiligen Körper haben.

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Eine von Grund auf verschiedene Sachlage haben wir, wenn wir von dieser Ansetzung beliebiger Elemente übergehen zu einer Ablesung der in der realen Welt vorhandenen Elemente. Wohl scheine ich, indem ich einen Gegenstand auf meinem Tisch an eine andere Stelle rücke, Bewegung dieses Gegenstandes vorzufinden in Gegensatz zu dem in Ruhe verbleibenden Tische selbst. Aber wer verbürgt mir, daß dieser Tisch »wirklich« ruht? Freilich ist mir seine etwaige Bewegtheit in einem Sichentfernen von mir oder anderen Gegenständen gegeben. Aber vielleicht bewege ich mich und die Gesamtheit der meiner Wahrnehmung zugänglichen Dinge mit ihm in gleichem Sinne. Eine solche Bewegtheit wäre von mir nicht zu erfassen und stelle sich mir fälschlich als Ruhe dar. Und nehmen wir gar noch an, daß der Tisch und ich selbst uns mit der gleichen Geschwindigkeit, aber in entgegengesetzter Richtung bewegen wie der von mir fortgerückte Gegenstand auf dem Tische, dann ergibt sich das Resultat, daß der scheinbar sich bewegende Gegenstand »in Wahrheit« ruht, der scheinbar ruhende sich »in Wahrheit« bewegt. Da in dieser Weise die Bewegtheit von Körpern sich nur in Rückbeziehung auf ruhende Körper oder auf ein körperlich ruhendes Ich als wirklich ausweisen kann, diese Ruhe aber selbst wieder einer Ausweisung durch Rückbeziehung auf ruhende Gegenstände bedarf und so ins Unendliche weiter, so scheint es nicht möglich zu sein, in irgendeinem Fall der realen Welt die tatsächliche Bewegtheit oder Unbewegtheit eines Körpers festzustellen. Es ist durchaus willkürlich und kann sich nur durch Zweckmäßigkeitsgründe rechtfertigen lassen, wenn man irgendeinen Gegenstand oder ein System von solchen als ruhend annimmt und dann die Bewegtheit oder Ruhe der übrigen danach bemißt, ob sie sich von ihm entfernen oder nicht. Insofern also ist alle von uns im praktischen Leben oder in der Wissenschaft angenommene Bewegung relativ (und subjektiv), als sie sich nach einer bestimmten in sich selbst nicht zu bewahrheitenden Annahme in bezug auf andere Körper richtet. In keiner Weise aber darf, was für die F e s t s t e l l u n g von Bewegung und Ruhe in der realen Welt gilt, auf das Wesen der Bewegung und Ruhe selbst übertragen werden. Die Bewegung selbst ist ihrem Wesen nach, und demnach auch in ihrer Realisiertheit in der Welt, in keiner Weise relativ, ja der Gegensatz zwischen Absolutheit und Relativität gibt gar keinen »ontischen« Sinn, da alle Körper auch in der realen Welt entweder in Bewegung oder in Ruhe

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sind und keine dieser Zuständlichkeiten sich durch Rückbeziehung auf andere Körper irgendwie modifiziert oder gar konstituiert. Der durchaus uneigentlich gemeinte Ausdruck »relativ Bewegung« darf nicht dazu verführen, die im Wesen der Bewegungsf e s t s t e l l u n g gründende Relativität (= notwendige Rückbeziehung auf andere Körper) und Subjektivität (= Willkür in der Annahme der Zuständlichkeit dieser Körper) mit einer bei näherer Betrachtung ganz haltlosen Relativität und Subjektivität der Bewegung selbst zu verwechseln. Schließen wir doch auch nicht daraus, daß wir niemals einwandfrei feststellen können, ob der Umriß eines Gegenstandes in der realen Welt genau kugelförmig ist, daß eine »absolute Kugel«, sei es im Sinne der Begrenzung eines realen Körpers, sei es als ideeller geometrischer Gegenstand unmöglich sei. Sowenig lassen sich aus der Relativitätslehre Schlüsse auf einen relativen Charakter der Bewegung ziehen, daß die ganze Rede von der Relativität und Subjektivität der Bewegungsfestellung ihrem Sinne nach den absoluten Charakter der Bewegung selbst (d.h.: daß Eigenbewegung von Gegenständen der Idee nach und in der realen Welt möglich ist) zur Voraussetzung hat. Der der Bewegungsfeststellung im Gegensatz zu anderen Wirklichkeitsurteilen eigentümliche M a n g e l ergibt sich ja erst im Hinblick auf die in sich klare, uns aber unzugängliche Sachlage selbst. So ist denn auch nur selten in der Philosophie mit klarem Bewußtsein und in klaren Ausdrücken die Relativität als eine der Bewegung selbst einwohnende Eigentümlichkeit behauptet worden. (Von dem zweiten Bestandteil der Relativitätstheorie – der Subjektivität – hier zu reden, ergäbe offensichtlich überhaupt keinen Sinn.) Wo eine solche Behauptung dennoch gewagt wird – wie bei Berkeley –, erweist sie sich leicht als haltlos. »Es scheint mir« – so meint er in den »Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« – »keine Bewegung eine andere als eine relative sein zu können, so daß wir, um uns Bewegung vorzustellen, uns zum mindesten zwei Körper vorstellen müssen, deren Abstand oder gegenseitige Lage sich ändert. Hiernach könnte, wenn überhaupt nur ein Körper existierte, dieser unmögliche in Bewegung sein. Dies scheint einleuchtend zu sein, sofern die Idee, die ich von Bewegung habe, notwendig eine Beziehung in sich schließt.« Wir setzen in der Vorstellung eine Bewegung an, lassen den bewegten Körper die verschiedensten Bahnen beschreiben, die Geschwindigkeit

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beliebig ändern – alles das können wir bequem vollziehen, ohne einen zweiten Körper ansetzen zu müssen, in Bezug auf den sich der erste bewegt oder seine Geschwindigkeit oder Richtung ändert. Der Körper beschreibe eine Ellipse – will man ernstlich behaupten, hier die Abstandsänderung zu einem zweiten mit vorstellen zu müssen? Und wenn es selbst Menschen gäbe, die aus irgendwelchen empirisch-psychologischen Gründen genötigt wären, in ihrer Vorstellung einen zweiten Körper mit auftauchen zu lassen, so wäre das in keiner Weise beweisend. Denn es handelt sich ja nicht um ein bloßes Zusammen-Vorstellen der beiden Körper, sondern darum, ob die Bewegung des einen ihrem Wesen nach einen zweiten fordert, in Bezug auf den sie stattfindet, so wie jede Veränderung in der Natur ihrem Wesen nach ein Geschehen voraussetzt, durch das sie ausgelöst worden ist – ganz unabhängig davon, ob ein solches Geschehen in der Vorstellung der Veränderung mit vorgestellt wird oder nicht. Von einer solchen Forderung der Bewegung kann aber keine Rede sein. Was Berkeley hier offenbar im Auge hat, ist nicht Bewegung, sondern E n t f e r n u n g (»Entfernung« als Tätigkeit, nicht als Abstand genommen). Beides ist durchaus voneinander zu unterscheiden: Ein Körper kann sich von einem andern nur entfernen, wenn er sich bewegt – Entfernung hat also Bewegung zur Voraussetzung. Dabei sind verschiedene Fälle möglich: a kann sich von b entfernen, indem es sich bewegt, und b von a (wobei der Körper, von dem sich der andere entfernt, ruhen oder sich in gleicher Richtung mit geringerer Geschwindigkeit bewegen kann); es können sich auch beide voneinander entfernen, indem sie sich mit gleicher oder auch mit verschiedener Geschwindigkeit in verschiedener Richtung bewegen. Andererseits ist es möglich, daß ein Körper sich bewegt, ohne sich von einem anderen zu entfernen (z.B. wenn beide sich in gleicher Richtung mit gleicher Geschwindigkeit bewegen). Die Entfernung ist von Bedeutung für die Feststellung von Bewegung. Die Entfernung zweier Gegenstände ist uns mit diesen selbst unmittelbar gegeben. Damit ist aber auch das Vorhandensein von Bewegung gewährleistet (auch wenn man annimmt, daß sie selbst nicht unmittelbar gegeben sein könne), da sie ja Entfernung erst möglich macht. Wenn uns aber nur Entfernung – und nicht Bewegung – gegeben ist, indem wir den Abstand von a und b größer werden sehen, so können wir noch nicht sagen, welches von beiden sich

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entfernt und bewegt. Wir bemerken nur, daß Entfernung vorliegt und daß daher auch Bewegung vorliegen muß. Was nun die angebliche »Relativität der Bewegung« angeht, so ergibt sich: Fassen wir die Idee eines Sichentfernens oder Sichannäherns, so ist darin außer der Idee des sich entfernenden oder sich annähernden Körpers die eines zweiten eingeschlossen, bezüglich dessen Entfernung und Annäherung stattfinden. Und zugleich werden uns Sätze einleuchtend wie die: daß ein Sichentfernen eines Körpers von einem andern die Bewegung mindestens e i n e s der beiden Körper fordert, dagegen eine gleichgerichtete und mit gleicher Geschwindigkeit erfolgende Bewegung beider Körper ausschließt; daß ein Sichnähern eine entgegengesetzt gerichtete Bewegung der beiden Körper ausschließt und dgl. mehr. Indem wir uns diese einfachen Zusammenhänge vergegenwärtigen, ist uns in aller Klarheit gegeben einerseits das »relative« Sichentfernen und -nähern von Körpern, an das Berkeley gedacht haben mag, und andererseits die Bewegung von Körpern, die ihnen durchaus eigen ist, die ohne jede Bezugnahme auf umgebende Körper an ihnen erfaßt werden kann und die alle Entfernungsund Näherungsrelationen allererst fundiert. 2. Die Bewegung und ihr Träger Daß jede Bewegung unselbständig ist, d.h. daß sie einen voraussetzt, dessen Bewegung sie ist, erscheint selbstverständlich. Ganz einleuchtend kann allerdings dieser Satz erst werden, wenn wir gewisse im Bewegungsbegriff liegende Zweideutigkeiten aufgeklärt haben werden. Nicht verwechseln dürfen wir freilich diesen »ontischen« Satz mit dem andern »noematischen«, den Linke daraus folgert, daß Bewegung und nur als Bewegung eines sich Bewegenden gegeben sein könne.1 Wir sind mit Linke darin einig, daß die Beachtung von Wesensgesetzlichkeiten von großer Wichtigkeit für die Psychologie ist, und wir denken dabei vor allen Dingen an alle Zusammenhangsgesetze, die im Wesen von Erlebnissen gründen und zu denen sich selbstverständlich keine empirische Beobachtung in Widerspruch setzen kann. Nicht aber sind wir damit einverstanden, daß ontische Zusammenhänge ohne weiteres auf die Akte 1

Jahrbuch für Philos. und phänomenol. Forschung, Bd. II, S. 12ff.

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übertragen werden, in denen die Elemente dieser Zusammenhänge erfaßt werden. Dies kann nun auch in dieser Allgemeinheit niemandes Meinung sein. Ich kann von Bewegung reden und damit »meinend« auf Bewegung abzielen, ohne zugleich ein sich Bewegendes mitzumeinen. Erst wo an Stelle des bloßen Gemeintseins ein Präsentsein und noch spezieller ein anschauliches Gegebensein tritt, kann jene Meinung überhaupt in Frage kommen. Wo also Gegenständliches durch Wesenszusammenhänge verknüpft ist, soll man jener Meinung eines ohne das andere nicht in Anschauung gegeben sein können. Eine solche Behauptung müßte entweder bewiesen werden oder selbst als ein letzter Wesenszusammenhang unmittelbar einsichtig sein. Aber es ist leicht zu zeigen, wie wenig jener Satz zutrifft. Obwohl jede Veränderung ihrem Wesen nach ein Geschehen fordert, mit dem sie kausal verknüpft ist, ist es doch möglich, eine Anschauung irgendeiner Veränderung zu gewinnen, ohne daß in dieser Anschauung ein verursachendes Geschehen mitgegeben sein müßte. Wiederum also ist eine Einschränkung des Satzes notwendig, welche etwa dahin gehen würde, daß nur d i e Wesenszusammenhänge sich in jeglicher Anschauung als solche auswiesen müßten, in denen Elemente zu einem gegenständlichen Ganzen verknüpft werden, nicht solche indessen, wo, wie bei dem eben erwähnten, zwei gegenständliche Ganze in Beziehung stehen. Aber auch hier kann von einer wesensgesetzlichen Einsicht keine Rede sein. Warum sollte uns nicht der unselbständige Teil eines Ganzen in irgendeiner Weise gegeben sein, etwa aufleuchten, vorüberhuschen u. dgl. mehr, ohne daß das Ganze, dessen Teil er ist, mitgegeben wäre? So können wir ja auch einen Farbeneindruck haben, ohne daß doch die Ausdehnung und Gestalt des vorüberhuschenden Dinges mitgegeben wären, obwohl es sich hier zweifellos um unselbständige Elemente eines Ganzen handelt. In dieser Weise sind zweifellos auch Bewegungsimpressionen möglich,2 ohne daß das sich Bewegende mit aufgefaßt wäre. Aber auch wenn wir von der Gegebenheitsfrage absehen, können wir Linkes Auffassung vom Verhältnis der Bewegung zu ihrem Träger nicht zustimmen. Nach seiner Ansicht ist Bewegung nicht nur Bewegung eines 2

Hier bricht die Ausarbeitung mitten im Satz ab. Sicherlich sollte die Möglichkeit einer Anschauung von Bewegung ohne Mitauffassung ihres Trägers noch näher erläutert werden. E. S.

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Etwas, sondern es muß bei der Bewegung (wie bei der Verwandlung) das Bezogensein auf ein i d e n t i s c h e s Etwas vorhanden sein; es soll nach ihm genauso wichtig, genauso »konstitutiv« für Bewegung sein wie ihre zeitliche und räumliche Kontinuität.3 Es scheint ja in der Tat über alle Zweifel hinaus einleuchtend zu sein, daß bei der Bewegung eines Gegenstandes von A nach B Identität des sich Bewegenden vorausgesetzt ist; Linke weist zudem darauf hin, daß diese Voraussetzung für die Empirie die allerfundamentalste sei: Nur wenn ich mich berechtigt glaube, den schmalen Streifen am Horizonte mit dem Schiffe, das heute den Hafen verließ, zu identifizieren, d.h. eben auf ein und dasselbe zu beziehen, werde ich mich genötigt finden, dessen Bewegung anzunehmen. Von hier aus gelangt Linke auch dazu, der Identifizierung die entscheidende Rolle im Aufbau der »gesehenen« Bewegung zuzusprechen. Indessen müssen bestreiten, daß man Identität als Konstituens der Bewegung in Anspruch nehmen darf. Eine Vertiefung in das Wesen dieser Kategorie wird das unschwer zeigen. Vor allen Dingen müssen wir fordern, eine grundsätzliche Mehrdeutigkeit des Identitätsbegriffes aufzuheben, welche besonders dann zum Ausdruck kommt, wenn man von dem Identitätssatze als einem logischen Grundgesetze redet. Identitas ist dem ursprünglichen Sinne nach »Selbigkeit«; als Selbigkeit ist sie auch vermeint, wenn als Voraussetzung der Bewegung Identität angegeben wird. Diese Selbigkeit, wenn wir sie nur streng ins Auge fassen, ist unmöglich als eine Kategorie anzusehen, die im Wesen eines Gegenstandes als solchen gründet. Wo ein Gegenstand rein als solcher in Betracht kommt, verliert die Rede von einer Selbigkeit sogar jeden Sinn. Selbigkeit setzt mindestens zwei »Andersheiten« voraus, als deren Korrelat sie erst erwächst, Andersheiten des Orts, der Zeit, der erfassenden Akte, der erfassenden Iche usf. Andersheit ist durchaus zu scheiden von qualitativer Verschiedenheit, und zwar ist Verschiedenheit in Andersheit, nicht Andersheit in Verschiedenheit fundiert. Ziehen wir allerdings die E r f a ß b a r k e i t der Andersheit herein (im Gegensatz zu der Frage, was Andersheit ist), so gilt, daß Andersheit nicht direkt faßbar zu denken ist wie etwa Röte, sondern daß sie unter allen Umständen eines

3

A. a.O., S. 11.

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Anhaltspunktes bedarf, an dem sie erfaßt wird; und wo Verschiedenheit vorliegt, da ist ein solcher Anhaltspunkt gegeben. Es ist wichtig, nun auch terminologisch zu unterscheiden. Von reiner Andersheit reden wir, wenn absolut gleiche Gebilde doch voneinander geschieden sind; von qualitativ fundierter Andersheit in den anderen Fällen. Bei Gegenständen, denen reine Andersheiten gegenüberstehen können, reden wir von Pluralisierbarkeit (oder Iterierbarkeit). Fragen wir nun, welche Gebilde pluralisierbar sind und was für ihre Pluralisierbarkeit vorausgesetzt ist, so finden wir: Pluralisierbar sind ausgedehnte Gebilde, insofern sie in der Ordnung des räumlichen Auseinander stehen; Erlebnisse eines Ich, insofern sie in der Ordnung des zeitlichen Nacheinander stehen; Erlebnisse, insofern sie verschiedenen Ichen angehören; Personen, insofern jede ein eigenes Ich bildet. Bei dem Ich selbst ist nicht von einer Pluralisierbarkeit zu reden, da der qualitative Boden fehlt, der wiederholt werden könnte. Hier können wir nur sagen: es gibt unendlich viele Iche, deren jedes einzig ist. Qualitäten, Sachverhalte, Sätze sind ihrem Wesen nach nicht pluralisierbar. Prüfen wir nun die Selbigkeit. Wir stellen die These auf: Die Selbigkeit kommt einem Gebilde gegenüber einer Mehrheit von Funktionen dieses Gebildes zu. Ein Gegenstand verändert sich. Es ist derselbe, der erst so, dann anders ist. Ontologisch betrachtet sind Andersheiten vorausgesetzt: es ist dasselbe, das vorhin von mir betrachtet wurde und jetzt von mir betrachtet wird. Verschiedenheit scheint nicht vorausgesetzt zu sein. Zwei Ansichten derselben Lampe können durchaus gleich sein – wie es scheint; es sind nur andere Ansichten, insofern sie in einem zeitlichen – nicht räumlichen – Auseinander stehen. Daneben sind verschiedene Erscheinungsweisen möglich, in denen dasselbe Ding erscheint, ferner verschiedene Zustände desselben Dinges usf. Nun muß man sagen: denken wir eine absolut starre konstante Welt – gäbe es in ihr eine Selbigkeit? Man könnte antworten: ja, insofern es Realisierungen derselben Qualität gäbe – oder auch nur, insofern als bei vielen Dingen doch immer dieselbe Dingkategorie realisiert wäre. Ja, man könnte den Spieß umkehren: setzt jede Andersheit nicht eine Identität voraus? Eine andere Röte, z.B., daß dieselbe Röte sich an zwei Stellen realisiert? Hier sehen wir uns allerdings genötigt, innerhalb der Selbigkeit weitere Scheidungen vorzunehmen; wo etwas dasselbe bleibt in immer

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wechselnden Zuständen, da können wir von o n t i s c h e r S e l b i g k e i t reden. Wird dasselbe in einer Mehrheit von Akten von mir oder anderen wahrgenommen oder auch vorgestellt, so sprechen wir von i n t e n t i o n a l e r S e l b i g k e i t . Und wo dieselbe Idee sich in mehreren Realisierungen findet, da liegt i d e e l l e S e l b i g k e i t vor. Man wird sagen können, daß jede ontische oder intentionale Selbigkeit ideelle Selbigkeit voraussetzt. Von diesem ontischen Verhältnis ist die Frage nach der E r f a s s u n g von Selbigkeit und Andersheit zu unterscheiden. Es ist bei der Erfassung der Selbigkeit eine Gegebenheit der Andersheit möglich, die keine Gegebenheit einer weiteren Selbigkeit voraussetzt. Wenn mir in zwei Ansichten dasselbe Ding erscheint und a l s dasselbe in anderer Ansicht erscheint, so sind mir die Ansichten nicht als Ansichten gegeben. Oder wenn mir dasselbe hier und dort gegeben ist, kann die Andersheit der Stellen schon erfaßt sein, ohne daß sie als Stellen erfaßt wären. Und wenn man selbst die Ansicht vertreten wollte, daß das Mehrere, das uns eine Selbigkeit darstellt, immer als Spezialisierung eines Selbigen zuvor aufgefaßt sein müßte, so wäre doch auch diese Auffassung nur möglich unter Voraussetzung der Erfassung der Andersheit. Wohl kann ich Röte erfassen. Aber die Selbigkeit der Röte besteht nur und dokumentiert sich nur gegenüber mehreren Realisierungen oder Erfassungen. Es ist sodann folgendes zu beachten: wenn ich einen Menschen in ein Haus hineingehen und dann heraustreten sehe, so nehme ich denselben Menschen wahr. Denselben Menschen wahrnehmen – das unterscheiden wir natürlich von: die Selbigkeit wahrnehmen. Wir unterscheiden es aber auch von dem: für denselben nehmen. Wir scheiden also: 1. Derselbe sein in dieser oder jener Wahrnehmung usf. 2. Einen für denselben nehmen; für einen andern nehmen. 3. Die Selbigkeit erfassen, »einsehen« (Hier werden wir vor allem an Fälle denken, in denen wir uns fragen: ist er derselbe oder nicht?) Es ist recht interessant, wie hier Wahrnehmung und Erkenntnis sich voneinander abheben. Es liegt diese Abhebung wohl daran, daß zur Selbigkeit und ihrer Konstatierung kein direkter Zugang führt wie etwa zum Rot, aber auch nicht so wie zur Ähnlichkeit. Es fungieren hier Anzeichen, die direkt zu einer Selbigkeitshaltung führen können, die aber auf eine Frage hin sich eine erkenntnismäßige Prüfung gefallen lassen müssen. Freilich gibt es hier einen Unterschied: Fälle, in denen die

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erkenntnismäßige Nachprüfung sehr zweckmäßig erscheint, und andere, in denen sie für den praktisch gerichteten Menschen sinnlos wäre, und in denen nur der Theoretiker Interesse haben kann, eine unzweifelhafte Selbstnehmung auf ihre erkenntnismäßige Zusammenhänge hin nachzuprüfen.4 Ferner, was die Fundierungsgesetze betrifft: Es gibt in den Qualitäten ein Näher- und Fernstehen – Stufen der Verschiedenheit, die wir angeben können und die in der einen Dimension schließlich zur Gleichheit führen können. Davon ist bei Andersheit und Selbigkeit keine Rede. Man kann sagen: Wenn sich ein Ding verändert oder sich bewegt, so ist es immer dasselbe Ding, was in verschiedenen Zuständen oder an verschiedenen Orten sich befindet. Man kann nicht sagen: Wenn ein Ding seinen Ort wechselt, so »entsteht« eine Selbigkeit; trotzdem besteht eine Selbigkeit hinsichtlich der sukzessive entstehenden Andersheiten – eine Selbigkeit, in der die Weltlage zum Ausdruck kommt, die die Weltlage fixiert. Wenn zwei Dinge vor mir stehen und ich mich vom einen zum zweiten wende, so wird in dieser Wendung das zweite für ein anderes genommen. Und es wird, wenn ich mich von einem Ding wegwende und mich dann wieder ihm zuwende, es für dasselbe genommen. Man muß aber wohl weiter sagen: Diese »Nehmung« ist berechtigt, weil wirklich das einemal Andersheit, das anderemal Selbigkeit besteht. In einem Auseinander z.B. weist sich eine Andersheit aus. Und ebenso kann sich eine Selbigkeit, wenn auch auf kompliziertem Wege, ausweisen. Aber die Selbigkeit gehört nicht zum Material der Welt; sie ist unsachhaltig, sie stellt nur eine Orientierungsfixation dar. Begnügen wir uns für unseren Zweck mit diesen Feststellungen und behalten wir vor allem im Auge, daß Selbigkeit und Andersheit nicht im Begriff eines Gegenstandes schlechthin gründen, so sehen wir, daß der Satz der Identität, wenn er auf Selbigkeit abzielt, sinnlos oder nichtssagend ist. Sinnlosigkeit liegt vor, wenn man von jedem Gegenstand die Selbigkeit behauptet. Nichtssagend sind Formulierungen wie » A ist identisch mit A, insofern es sich um dasselbe A handelt« und »jeglicher Gegenstand ist 4

Vgl. folgende Ausführung: sehr wichtig ist die einzig dastehende Möglichkeit, etwas als dasselbe oder als ein anderes zu nehmen, ohne dabei eine Andersheit oder Selbigkeit gegenständlich zu erfassen.

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derselbe wie der jeweils selbige Gegenstand«. Gewiß erweist sich der Stuhl, der da vor mir steht, wenn ich ihn mit demselben Stuhl vergleiche, als derselbe Stuhl. Jegliches ist dasselbe als es selbst, nicht anders als jegliches dem ähnlich ist, dem es ähnlich ist. Statt ein Grundgesetz des Denkens zu sein, erweist sich der streng auf die Selbigkeit bezogene Satz der Identität als ein Spezialfall des allgemeinen Satzes, der es gestattet, die attributive Bestimmung von Gegenständen ihnen auch prädikativ zuzusprechen, und der, wenn er überhaupt etwas besagen soll, in eine Lehre von den rein formalen Gesetzen der Bedeutungsvariation bei identischer Gegenständlichkeit gehört und nicht über die Gesetze der – sei es materialen, sei es formalen – gegenständlichen Welt belehrt. Es leuchtet ein, daß die Tendenz des Grundgesetzes der Erkenntnis, dessen Anerkennung durch die Jahrhunderte hindurch es von dem Verdacht entfernt, bloße Phrase zu sein, auf etwas anderes als auf Selbigkeit gehen muß. In der Tat läßt sich sagen, daß Jegliches es »selbst« ist und mit dieser Aussage ein guter, wenn auch fundamental neuer Sinn verbinden. Hier wird nichts zueinander in Beziehung gesetzt, vielmehr gilt es von jedem Gegenstande rein isoliert, er selbst oder wohl prägnanter ein »eigener« zu sein. Diese Prädikation ist unabhängig von allen Gegenstandsqualitäten, sie gilt von jedem Etwas als solchem, unangesehen seiner Beschaffenheit. Ebensowenig wie sie vorausgesetzt wird, wird irgendeine besondere Qualität in dem Satze gefordert. Er besagt nicht, daß die Eigenheit, die von jeglichem Etwas als solchem gilt, zugleich eine Eigenart dieses Etwas zur Folge habe, die dann in qualitativen Besonderheiten irgendwelcher Art zum Ausdruck kommen könne. Es sind vielmehr gerade die instruktivsten Fälle diejenigen, in denen wir es mit Mehrerem, der Qualität nach absolut Übereinstimmendem zu tun haben und nun doch mit der größten Eindringlichkeit es sich geltend macht, daß jedes dieser Etwasse eben ein e i g e n e s ist. Es ist eine allgemeine logische Ansicht, daß Selbigkeit und Identität wohl zu scheiden sind. Sicher ist, daß bei realen Dingen gewisse Schichten von Andersheiten sind, in denen sich Selbigkeit konstituiert, die bei anderen Gebilden, z.B. Zahlen, nicht möglich sind. Es fragt sicher aber, ob das sich Konstituierende selbst etwas ist, das sich wesenhaft von Identität unterscheidet. Man könnte sagen: Jegliches Etwas ist als dieses erfaßbar,

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ist erfaßbar in seinem Eigensein. Ist es aber erfaßbar, so ist es beliebig oft erfaßbar und damit als Selbiges konstituierbar. Wo Wesensgesetze herausgestellt werden, heftet sich ihrer Entdeckung leicht der Charakter des Selbstverständlichen an. Wenn Prädikationen nicht aufgesucht werden müssen durch ein Sichhinbemühen, durch ein eventuell mit viel Mühe und Arbeit verbundenes Erfahrungssuchen, wenn sie in einem Gegenstande als einem so gearteten gründen, da mögen sie auch vor der eigentlichen Heraushebung dunkel vorgeschwebt haben; und gerade den im tiefsten Sinne Unphilosophischen, die den abgründlichen Unterschied zwischen dunklem Gerede und evidenter Einsicht nicht verstehen, mag der Schritt gering scheinen, der von einer instinktiven Ahnung und instrumentaler Kenntnis zur Entdeckung führt. Wo aufklärende Arbeit in kontinuierlichen Schritten zu den Sachen selbst führt, sehen sie nur gleichwertige Formulierungsunterschiede innerhalb der Sphäre der Dunkelheit und Wirrnis, die ihre unverlierbare Heimat ist. Sie finden nur, was sie zuvor schon »hatten«, was sich ihnen auch ohne äußeren Anstoß von selbst verstand. Es gibt verschiedene Schichten dieser Selbsverständlichkeiten, je nachdem das gegenständliche Material, um das es sich handelt, mehr oder minder vertraut, schwerer oder leichter zugänglich ist. An der äußersten Grenze aber befinden wir uns offenbar hier, wo es sich um Sätze handelt, die von jedem Etwas als solchem, unangesehen der Qualität, gelten. Zugleich ist die Schwierigkeit der klaren Herausstellung hier sehr gesteigert. Wo sonst ein b-sein im Wesen eines A gründet, ist die Hervorhebung dieses Sachverhalts durch den Vergleich mit Gegenständen C, deren Wesen mit b-sein unverträglich ist, erleichtert; hier ist solche Kontrastierung offensichtlich nicht möglich. Insofern nichts in der Welt auffindbar oder auch nur denkbar ist, welches nicht ein »eigenes« wäre, sind wir hier in der Sphäre des Allerselbstverständlichsten und zugleich des Allerdunkelsten, durch Fälle anderer Art nicht Erhellbaren. Zugleich ist das, was dem Etwas zukommt, die »Eigenheit«, wie sie nicht in Qualitäten des Etwas gründet, so auch nicht selbst eine Qualität, ein Konstituens, das allen Etwassen – im Gegensatz zu anderen Konstituentien wie Ausdehnung oder Gestalt oder Intentionalität – gemeinsam wäre. Sie bereichert nicht die Welt durch ihr Vorhandensein und erweist sich gerade darin als echte kategoriale Bestimmtheit. Andererseits sind wir weit davon entfernt, sie als Denkbestimmung in Anspruch zu nehmen oder sie irgend

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sonst zu subjektivieren. Was jegliches Etwas als solches notwendig betrifft, kann nicht – in welch mysteriöser Weise auch immer – in es hineingetragen werden. Sowenig ist die Eigenheit Produkt des Erkennens, daß ohne sie Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre. Machen wir von den gewonnenen Unterscheidungen für unseren Fall der Bewegung Gebrauch, so sehen wir: Insofern Bewegung Bewegung eines Etwas ist, ist auch die »Eigenheit« dieses Etwas vorausgesetzt, ohne daß sie doch notwendig erfaßt sein müßte, wo Bewegung erfaßt wird. Dagegen ist die Selbigkeit des Bewegten nicht vorausgesetzt, und erst recht nicht ihre Erfassung. Von Selbigkeit in der Bewegung (oder Veränderung) ist – bei der Wahrnehmung einer Bewegung oder Veränderung eines Dinges – keine Rede, sondern nur von der Bewegung oder Veränderung dieses Dinges. Erst wenn man Etappen ins Auge faßt, kommt man weiter: Ein Ding nimmt jetzt diesen Ort ein, ein gleichbeschaffenes vorhin jenen – es ist dasselbe Ding. Einem allumfassenden Bewußtsein wird niemals eine Selbigkeit erscheinen, es sei denn, daß es in das Vergangene hineinlangte. Daß D0 und D1 dasselbe Ding sind, wird evident in der Bewegungsgegebenheit. Verfolgen wir aber eine Bewegung, so bedarf es einer ganz eigenartigen geistigen Hantierung, um überhaupt zur Frage der Selbigkeit zu kommen. Wir vergleichen doch nicht ein Ding mit einem andern – dann könnte nie Selbigkeit erfaßt werden, es sei denn, daß eine Täuschung über die Andersheit sich auflöste. Sondern wir sind gerichtet auf ein Ding, das wir als früher an einem bestimmten Orte befindlich vorstellen, und auf ein Ding, das wir jetzt wahrnehmen, und erkennen: das ist dasselbe Ding oder es kann dasselbe sein. Selbigkeit ist eine zum Sein der Welt führende, aber nicht der Welt angehörige Kategorie (»Orientierungskategorie«). Sie würde für ein Bewußtsein, welches in steter Gegenwart das All des Weltgeschehens umfaßte, nicht existieren. Erst wo Stücke des Weltgeschehens aufgefaßt werden – ein Ding hier und ein Ding dort –, kann sich ihre Selbigkeit ergeben, die, wenn man die Geschichte der Welt dann wieder lückenlos werden läßt, ihren Wert verliert.

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ADOLF REINACH 3. Bewegung und Raumdurchmessung

Um dem Wesen der Bewegung näherzukommen, müssen wir nun eine Scheidung durchführen, die wir bisher außer acht gelassen haben: Die Bewegung eines Körpers dokumentiert sich in Raumdurchmessung, sie i s t nicht Raumdurchmessung. Wie die Richtung des sich Bewegenden sich in gewissen Beschaffenheiten der durchlaufenen Bahn dokumentiert, ohne natürlich diese Beschaffenheit zu sein, und wie sich die Geschwindigkeit dokumentiert in dem Verhältnis des durchlaufenen Weges zu der beanspruchen Zeit, ohne ein solches Verhältnis zu sein, so findet auch die Bewegung selbst in der Raumdurchmessung ihre Objektivierung: Sie ist eine Befindlichkeit eines Etwas, kraft deren es den Raum durchmißt. Das erweist sich klar darin, daß nicht a l l e Bewegung sich in Raumdurchmessung objektiviert. Wir erinnern zunächst an die Achsendrehung einer Kugel. Mag man auch geltend machen, daß jedes wenn auch noch so kleine Stück der Kugel den Raum durchmißt, so ist es doch unmöglich, von einer Raumdurchmessung der ganzen realen als solcher zu reden. Natürlich liegen hier mancherlei Probleme. Von einer Geschwindigkeit dieser Bewegung kann man reden; von einer Richtung auch bei jedem Stück der Kugel, und zwar von einer ständig wechselnden Richtung. Die Kugel als Ganzes aber scheint in ihrer Bewegung keine bestimmte Richtung aufzuweisen, obwohl man von einer verschiedenen Weise ihrer Bewegung um sich selbst sprechen muß. Jedenfalls unterscheidet sich hier die fortschreitende von der ortsverharrenden Bewegung. Noch ein zweiter Gesichtspunkt läßt Raumdurchmessung und Bewegung auseinandertreten. Ein Körper kann zweifach in Bewegung sein. Er ist dann in Bewegung als ganzer; aber es lassen sich zwei Bewegungen hier unterscheiden, eine Bewegung nach einer Richtung und eine nach entgegengesetzter. Es handelt sich nicht darum, daß zwei Kräfte auf den Körper wirken, von denen jede eine bestimmte Bewegung erzeugt hätte, und die nun vereint eine dritte erzeugen, sondern darum, daß gleichzeitig zwei Bewegung vorhanden sind. Wir setzen eine schräge Holzplatte an, die sich um damit jedes Stück von ihr vorwärts bewegt; auf der Holzplatte ein Stück Holz, das sich mitbewegt. Nun bewege sich das Stück Holz zugleich rückwärts. Muß man hier nicht von zwei Bewegungen reden?

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Zum besseren Verständnis kann folgende Betrachtung dienen: jegliches Räumliche hat einen Ort und nimmt, wenn es ruht, diesen Ort ein. Das sich Bewegende nimmt keinen Ort ein, sondern durchmißt den Raum. Von dem »Ort« ist der »Platz« zu unterscheiden. Es gibt ein »Platzeinnehmen«, bestimmt durch räumliche Deckung, ein Aufeinanderliegen von räumlichen Gebilden. Innerhalb eines solchen Systems dokumentiert sich Bewegung durch Platzveränderung. Ein Schifft z.B. bewegt sich und entfernt sich dabei von dem Wasser, in dem es ruhte. Bewegt sich das Wasser, so bewegt sich das Schiff nicht bezüglich des Wassers, sondern bezüglich des Flußbettes, das sein und des Wassers Platz ist. Bewegt sich ein Körper mit dem bewegten Schiff fort, ohne sich in bezug auf das Schiff zu bewegen, so haben wir Ortsveränderung ohne Platzveränderung (Wasser und Flußbett sind hier als ruhend angenommen.) Bewegt sich der Körper mit gleicher Geschwindigkeit und in entgegengesetzter Richtung gegen das Schiff, so haben wir Platzveränderung ohne Ortsveränderung. Vielleicht würde der Physiker sagen: hier sei der Körper in Ruhe. Das geht jedoch nicht an: Nimmt man den Körper als Menschen, so ist ihm Bewegung mitsamt ihrer Geschwindigkeit und Richtung evident gegeben. Ruhe erfasse ich im Hinblick auf Bleiben an demselben Ort oder Nichtverlassen des Platzes. Erfahre ich, daß der Platz den Ort wechselt, so nehme ich objektive Bewegung an. Ich kann also nie mit Sicherheit erfassen: 1. ob ein Körper sich bewegt bzw. ruht; 2. ob ich ein bestimmtes Stück des Raumes erfasse oder immer neuen und wechselnden Raum (da Erfassung eines bestimmten Raumstückes Erfassung der Ruhe voraussetzt). In unserem ersten Beispiel nimmt die Kugel ein Stück Raum ein und bewegt sich innerhalb dieses Raumstückes, ohne es zu verlassen – im Gegensatz zu ihren Teilen, die dabei Raum durchmessen. Wir unterscheiden also rotierende und raumdurchmessende Bewegung. Die wesenhafte Verschiedenheit wird klar, wenn wir uns einen Übergang denken. Oder besser: während eine raumdurchmessende Bewegung Geschwindigkeit und Richtung beliebig ändern kann, kann sie nicht übergehen in eine rotierende Bewegung. Soll in einem Zeitpunkt die eine

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nicht mehr sein und die andere sein, so muß die fortschreitende aufhören und die andere beginnen. Schalten wir die Rotation aus, so lassen sich für das Verhältnis von Bewegung und Raumdurchmessung folgende Gesetze aufstellen: 1. Jeder Körper, der sich in Bewegungszuständlichkeit befindet, ohne Raum zu durchmessen, befindet sich in mehreren Bewegungszuständlichkeiten. 2. Eine raumdurchmessende Bewegung ist dabei als fundierend vorausgesetzt. 3. An der fundierenden Bewegungszuständlichkeit nimmt der Körper teil, ohne doch den Raum mit zu durchmessen (da ja noch die andere Bewegungszuständlichkeit besteht). Wenn also nur e i n Körper in der Welt existierte, der in Bewegungszuständlichkeit wäre, so wäre nicht abzusehen, wie er nicht Raum durchmessen sollte. Es muß ein zweiter existieren, dessen Bewegung er mitmacht, abgesehen von der selbständigen, die ihm zuerteilt wird.

ALEXANDER KOYRÉ BEMERKUNGEN ZU DEN ZENONISCHEN PARADOXEN Dem Andenken A d o l p h R e i n a c h s gewidmet §1 Einleitung Wie die Diskussion aller wirklichen philosophischen Probleme wird wohl auch die der Zenonischen Argumente oder besser der Zenonischen Paradoxe niemals abgeschlossen sein. Wenn wir unseren Versuch, diese mehr als zweitaufend Jahre alte Frage einer erneuten Prüfung zu unterziehen, noch rechtfertigen müßten, so brauchten wir nur auf ein Wort Victor Brochards hinzuweisen, der mit einer meisterhaften Studie1 am meisten dazu beigetragen hat, das Problem wieder auf die Tagesordnung zu setzen und den alten Argumenten (wer wollte sie jetzt noch »Sophismen« nennen!) neues Leben einzuflößen. »Die Argumente des Zeno«, sagt er, »sind oft diskutiert worden. Wenn das ein Grund wäre, nicht noch einmal auf sie zurückzukommen, welches wesentliche Problem der Philosophie verdiente dann nicht das gleiche Schicksal?« Wir nehmen das Studium dieser so oft debattierten Frage nicht deshalb wieder auf, um für die Argumente des eleatischen Dialektikers eine neue Interpretation zu suchen, noch auch den unzähligen historischen Widerlegungsversuchen eine ebensowenig glückliche hinzuzufügen. In dieser kleinen Abhandlung soll nichts weiter gesagt werden, als daß das durch Zeno inaugurierte Problem keineswegs der Bewegung allein eigentümlich ist. Daß es sich nur insofern auf Zeit, Raum und Bewegung bezieht, als in ihnen die Momente der Unendlichkeit und der Kontinuität impliziert liegen. Das Problem kehrt notwendig in allen Gebieten wieder, in denen diese beiden Momente irgendeine Rolle spielen, und besitzt also eine weit allgemeinere Bedeutung, als man gewöhnlich annimmt. Alle Widerlegungen, die sich auf das Problem der Bewegung allein beziehen, schlagen deshalb von vorne herein einen falschen Weg ein. Das ist unserer 1

Vgl. Brochard, Essais de phil. ancienne et de phil. moderne, Paris 1907.

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Meinung nach der Fall bei Noel, bei Bergson und – von einem andern Standpunkt her – auch bei Evellin. § 2. Die Zenonischen Argumente. Der lichtvollen Fassung Brochards zufolge, auf dessen Abhandlung wir für alles, was die Interpretation angebt, verweisen, stellen sich die vier Zenonischen Argumente in der Form eines Dilemmas dar. Zwei von ihnen (Achill mit der Schildkröte und die Dichotomie) richten sich gegen die Auffassung der Kontinuität und der unendlichen Teilbarkeit der Zeit und des Raumes; die beiden anderen (der Pfeil und das Stadion) gegen die Endlichkeitshypothese, die den Raum und die Zeit als aus unteilbaren letzten Elementen zusammengesetzt aussaßt. Wir bringen nunmehr die Argumente selbst: 1. Die Dichotomie. Bewegung ist unmöglich. Denn bevor das Bewegungsobjekt an dem Ziel seiner Bahn anlangt, muß es die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben, und so weiter ins Unendliche, was in moderner Ausdrucksweise besagt, daß Bewegung die Summe oder die Synthese einer unendlichen Anzahl von Elementen voraussetzt. 2. Achill und die Schildkröte. Bewegung ist unmöglich. Denn der schneller Laufende kann nie den langsamer Laufenden erreichen. Wenn nämlich der Langsamere im Anfang der Bewegung einen Vorsprung vor dem Schnelleren besitzt, muß der Schnellere, bevor er ihn erreicht hat, notwendig zuerst den Punkt erreichen, an dem der Langsamere am Anfang seiner eigenen Bewegung war, und so weiter ins Unendliche. Der Vorsprung wird sich zwar immer mehr verringern; nie aber kann er Null werden. In moderner Terminologie heißt das: 1. Jeder Körper muß eine Unendlichkeit von Punkten durchlaufen (was sich in einer einfachen Formel ausdrücken läßt). 2. Da jedem Punkt der Bahn des Achill ein Punkt der Bahn der Schildkröte entspricht, und umgekehrt, so muß ihre Zahl notwendigerweise gleich sein. Es ist deshalb nicht möglich, daß der von Achill in der gleichen Zeit zurückgelegte Weg größer sei als der von der Schildkröte zurückgelegte.

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3. Der Pfeil. Der fliegende Pfeil ist in jedem Moment und jedem Punkt seiner Bahn bewegungslos. Wenn man nämlich nach der finitistischen Hypothese die Sache so ansieht, daß jede Dauer und jede Ausdehnung aus unteilbaren Elementen (Punkten) zusammengesetzt ist, so muß notwendig der Pfeil stets in Ruhe fein. Denn in diesen unteilbaren Momenten und Punkten ist keine Bewegung möglich. 4. Das Stadion. Drei Linien von gleicher Größe (zusammengesetzt aus der gleichen Anzahl unteilbarer Elemente) befinden sich in einem Stadion. Die eine ist unbeweglich, die beiden anderen bewegen sich parallel zu der ersten, aber in umgekehrter Richtung. In diesem Fall muß – nach der finitistischen Hypothese – »die Hälfte gleich dem Ganzen sein«, wie Zeno sagt. Denn in einem bestimmten, als unteilbar vorausgesetzten Moment muß ein und dasselbe Raumelement ein sowohl wie zwei Raumelemente passieren und folglich einem sowohl als zwei solchen Elementen gleich sein. § 3. Gleichwertigkeit der möglichen Interpretationen Wir folgten im vorigen der Interpretation Brochards. Aber wir wollen uns keineswegs auf dieselbe festlegen. Wir wollen nicht behaupten, daß wir den einzig möglichen Sinn der Zenonischen Argumente gefaßt haben oder daß wir Zenos Gedanken in authentischer Weise wiedergaben. Und das um so weniger, als nach unterer Meinung alle vier Argumente, ohne etwas von ihrer Bedeutung zu verlieren, in zweifacher Weise interpretiert werden können – je nachdem man sich auf den Boden der Endlichkeitsoder der Unendlichkeitshypothese stellt. 1. Wenn wir nämlich die unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Zeit annehmen, so bleibt es im Fall des fliegenden Pfeils dennoch wahr, daß jedem Zeitmoment ein durchlaufener Raumpunkt entsprechen muß, jedem Augenblick also eine ganz bestimmte Raumlage des Pfeils. Und da dieser Hypothese zufolge weder das Raummoment, noch das Zeitmoment ausgedehnt ist – beides sind ja nur geometrische Punkte –, so erhalten wir auch hier das Resultat, daß der Pfeil sich in diesen unausgedehnten

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Momenten nicht bewegen kann. Und weiter: Da der gegenwärtige Augenblick immer nur ein Grenzpunkt ist zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, so müßte sich der Pfeil in diesem einzig und allein reellen Gegenwartsaugenblick bewegen. Und also überhaupt nicht. Wir erhalten eine Unendlichkeit von Raumlagen in einer Unendlichkeit dazu korrelativer Zeitmomente, aber keine Bewegung und selbst – solange wir die Synthese dieser Unendlichkeit von Einzelmomenten nicht vollzogen haben – keinen durchlaufenen Weg. 2. Betrachten wir jetzt das Stadion. Die unendliche Teilbarkeit der Zeit und des Raumes hebt die paradoxe Tatsache keineswegs auf, ja läßt sie sogar in besonderer Reinheit hervortreten, daß in einem bestimmten Augenblick ein und nur ein einziger Punkt der Linie B und ein solcher der Linie C vor einem bestimmten Punkt der, Linie A passieren, wie ebenso auch vor einem solchen der Linie C resp. der Linie B. Einem Punkt O der Linie B entsprechen in jedem. Augenblick ein und nur ein einziger Punkt der Linie A, wie ebenso ein und nur ein einziger Punkt der Linie C – und trotzdem passiert die Linie C als ganze vor O, die Linie A aber nur zur Hälfte. »Die Hälfte ist also gleich dem Ganzen.« 3. Untersuchen wir jetzt umgekehrt das Argument des Achill unter der Annahme, daß Zeit und Raum aus einer endlichen Zahl letzter Elemente zusammengesetzt sind. Auch jetzt bleibt es nicht weniger wahr, daß in jedem gegebenen Augenblick einem bestimmten Punkt der Bahn des Achill ein Punkt der Bahn der Schildkröte eindeutig und wechselseitig korrespondieren muß. Und man kann noch weniger als in der Unendlichkeitshypothese verstehen, wie aus einer gleichen Anzahl identischer Elemente verschiedene Summen resultieren können. 4. Die Dichotomie endlich läßt unter dem Aspekt der finitistischen Hypothese eine Schwierigkeit hervorspringen, die ähnlich der des Stadions ist. Betrachten wir nämlich das letzte noch ausgedehnte Element, das also als solches noch teilbar und zwar aus zwei unausgedehnten Elementen zusammengefetzt ist. Dieser Raum stellt das Minimum dar, in dem Bewegung überhaupt noch möglich ist; denn es ist klar, daß sich im Unausgedehnten nichts bewegen kann. Das Bewegungsobjekt wird diese Minimalstrecke in einem Zeitraum durchlaufen, der in einem einzigen unteilbaren Augenblick besteht. Aber da wie das Recht haben, den Raum zu teilen, so können wir die Frage stellen: In welchem Augenblick wird

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das Bewegungsobjekt die Hälfte dieser Strecke zurücklegen? Es wird also notwendig werden, den einen der Voraussetzung nach unteilbaren Augenblick in zwei solche zu teilen. Wir sehen die Argumentation des Zeno als absolut stringent an. Bewegung setzt eine unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Zeit voraus und impliziert also die Summe einer aktuellen Unendlichkeit von Elementen und Momenten. Ein in Bewegung befindlicher Körper passiert in einem endlichen Raum und einer endlichen Zeit eine unendliche Anzahl von Punkten. Und ebenso zeigt uns ein durchaus strenges Beweisverfahren, daß zwei Körper, die sich mit verschiedener Schnelligkeit bewegen, in derselben Zeit Wege zurücklegen, die aus einer gleichen Zahl von Elementen zusammengesetzt sind. Später werden wir sehen, inwieweit diese Schlüsse als Einwände gegen die Möglichkeit der Bewegung betrachtet werden können. Jetzt wollen wir erst den Wegen nachgehen, auf denen man versucht hat, den Schlüssen des Zeno zu entgehen. § 4. Die finitistische Hypothese von Evellin. Die Interpretation des Stadions, die wir in unserem 2. Paragraphen gebracht haben, wurde von Noël2 als ein unwiderlegliches Argument gegen die finitistische Theorie aufgeteilt und provozierte deshalb eine Antwort von dem hauptsächlichsten Vertreter dieser Theorie, Evellin,3 in der der letztere durch sehr subtile und geistreiche Betrauungen den Einwänden zu entgehen versucht. Evellin nimmt die Analyse des Stadions noch einmal auf: a' . . . an . . . b' . . . bn . . . c' . . . c n . . .

A B C

Nehmen wir irgend zwei Punkte a und b. In einer unteilbaren Bewegung und also einem unteilbaren Zeitmoment wird sich das Element bn, welches 2 3

Revue de Met. Et de Mor. 1892. Ibidem.

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dem Element an zugeordnet war, unter das Element an — 1 setzen und ebenso alle anderen Punkte. Vergleichen wir nun die Punkte bn und cn, die den beiden sich in entgegengesetzter Richtung bewegenden Linien angeboren. In einem unteilbaren Zeitmoment wird sich das der Linie B (die sich z.B. nach links bewegt) angehörige Element bn an die Stelle von bn — 1 setzen, welche derjenigen von an — 1 entspricht; zu gleicher Zeit wird das Element bn — 1 an die Stelle von bn — 2 rücken. Das Element c n dagegen rückt im gleichen Augenblick an die Stelle von cn — 1 und n + 1 an die von cn + 2. Da sich die Bewegung der Voraussetzung nach in einem einzigen unteilbaren Zeitmoment vollzieht, so muß dieser Platzwechsel momentan und sozusagen »mit einem Sprung« geschehen, der keinerlei wirkliches Passieren in sich schließen kann und also die Zenonischen Paradoxe nicht impliziert. Obgleich das Element cn in cn + 1 einrückt und oberhalb seiner nunmehr den Punkt bn + 2 vorfindet, obwohl es also faktisch an zwei Elementen von B vorüberkam, hat es doch diese Strecke nicht im eigentlichen Sinne zurückgelegt, sondern gewissermaßen übersprungen. Die finitistische Hypothese geht also allen Schwierigkeiten aus dem Wege. Diese Analyse ist geistreich, aber auch nicht mehr als das. Aus dem Prinzip von Evellin würde folgen, daß ein beliebiges Element n in einem einzigen unteilbaren Augenblick sich zwischen beliebigen zwei Punkten des Raumes bewegen könnte (z.B. von der Stelle aus, die a1 entspricht bis zu der, die a n – 1 entspricht und also auch b n – 1, c n – 2, usw., ohne an irgendeinem dieser auseinanderfolgenden Punkte wirklich zu passieren und ohne in irgendeine spezielle Raumrelation mit ihnen zu treten). Eine Folge, der man nur entgehen kann, wenn man die Teilbarkeit des angeblich unteilbaren Zeitmomentes annimmt. Die anderen Einwände von Evellin scheinen nicht glücklicher. So sagt er z.B., indem er den Begriff der Bewegung an sich selbst analysiert: «Das Bewegungsobjekt bewegt sich nur deshalb Punkt für Punkt von dem Ort fort, von dem es ausgegangen ist, weil es an diesem Punkt nicht ist, nicht mehr ist; es bewegt sich also nicht an der Stelle, von wo es ausgegangen ist.« Wir wollen die Richtigkeit dieser Bemerkung nicht bestreiten, aber wir machen auf folgendes aufmerksam: da das Ende der Bewegung ihrem Anfang dem Prinzip nach entsprechen muß, so kann sich das Bewegungsobjekt im Augenblick und an der Stelle der Ankunft nicht mehr bewegen, da es hier schon ist. Da es sich folglich weder in seinem Ausgangspunkt, noch in seinem Ankunfts-

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punkt bewegt, noch auch dazwischen, da es zwischen zwei letzten Raumelementen der Hypothese nach keinen Zwischenraum gibt – so kann er sich überhaupt nicht bewegen. Wir können aus der vorigen Darlegung umgekehrt auf die Exaktheit und Wohlgegründetheit der Zenonischen Einwände gegen die finitistische Hypothese schließen und diese letztere als endgültig widerlegt ansehen, um so mehr als sie gewisse Konsequenzen mit sich bringt, die zwar nicht widerspruchsvoll in sich selbst, doch nichts destoweniger sachlich kaum aufrecht zu erhalten sind. Sie impliziert nämlich: 1. ein Maximum an Geschwindigkeit (nicht als faktisch realisierbar, aber als wesenhaft vorhanden), 2. die Unmöglichkeit einer ununterbrochenen Bewegung (eine wesenhafte Unmöglichkeit), 3. eine endliche Anzahl möglicher Geschwindigkeiten, die unter sich in endlichen numerischen Beziehungen stehen. § 5. Noëls materielle Kritik. Die Kritik Evellins war eine formale Kritik, insofern sich der letzere auf den Boden der Argumente Zenons selbst stellt und ihre Nichtschlüssigkeit durch den Aufweis eines formalen Irrtums in der Argumentation zu zeigen versucht. Ganz anders gehen Noël und Bergson vor. Sie lassen sich auf das Zenonische Dilemma überhaupt nicht ein. Sie versuchen auf irgendeine Weise die Schwierigkeit zu umgeben und die Frage durch eine immanente Analyse der Bewegung zu lösen. Indem er einen schon von Aristoteles ausgesprochenen Gedanken wieder aufnimmt, zeigt Noël in seiner Abhandlung der »Revue de Métaphysique et de Morale« 1883, daß die unendliche oder endliche Teilbarkeit, die Zenon auf die Bewegung anwenden will, sich nur auf den vom Bewegungsobjekt durchlaufenen Raum anwenden läßt und auch hier nur als potentielle, nicht als aktuelle Teilbarkeit. Jedenfalls ist sie auf die Bewegung selbst nicht übertragbar, die im Gegenteil als e i n e und u n t e i l b a r e angesehen werden muß und als solche unmöglich in zwei Bewegungen zerlegt, noch aus zwei Bewegungen zusammengesetzt werden kann.4 Bewegung ist nicht eine 4

Rev. d. M. et de M. 1883.

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bloße Ortsveränderung. Die Ortsveränderung ist eine notwendige Folge der Bewegung, darf mit ihr jedoch nicht identifiziert werden. In sich selbst betrachtet ist Bewegung eine im Bewegungsobjekt wirksame innere Tendenz, Kraft oder Energie, die nur nach außen hin als Ortsbewegung erscheint, in dieser Form gewissermaßen in den Raum hineinprojiziert. Das sich Bewegende ist, so könnte man sagen, von der Bewegung im eigentlichen Sinne des Wortes beseelt. Die Bewegung oder vielmehr die bewegende Kraft ist dem Bewegungsobjekt als ein Attribut oder als eine Qualität zu eigen. Sie inhäriert ihm, ist fein Zustand analog zum Zustand der Ruhe – weshalb auch die Physik durchaus ein Recht hat, von beiden in genau korrelativem Sinne zu sprechen.5 Das Bewegungsobjekt bewegt sich in jedem Punkt seiner Bahn. Es nimmt und passiert nacheinander alle Raumstellen, die seine Bahn konstituieren, aber in jedem Punkt ist es in Bewegung, in jedem Punkt ist es ein sich Bewegendes. Deshalb eben kann man die Bewegung nicht mit der Reihe der auseinanderfolgenden Positionen identifizieren: weil das sich Bewegende total anders an jeder dieser Positionen teilnimmt als ein in ihnen Ruhendes. Es handelt sich sozusagen um einen qualitativen, nicht um einen bloßen Gradunterschied. Wenn man das Bewegungsobjekt »von innen« fassen könnte, so müßte man infolgedessen, möchten wir hinzufügen, auch dann unterscheiden können, ob man es mit einem in Bewegung oder in Ruhe befindlichen Körper zu tun hat, wenn man ihn sich als mathematischen Punkt denkt und nur in einem einzigen Punkt seiner Bahn erfaßt. Wenn aber die Bewegung überhaupt nicht in eine endliche oder unendliche Anzahl von Elementen zerlegbar ist, so sind auch die Zenonischen Argumente auf sie nicht anwendbar. Der durchlaufene Weg zwar ist wirklich ins Unendliche teilbar; aber die Schwierigkeiten, von denen Zeno spricht, würden nur dann entstehen, wenn das Bewegungsobjekt die auseinanderfolgenden Punkte oder Positionen seiner Bahn gewissermaßen »abzählen« würde; und das gerade tut es nicht. Es passiert sie einfach und überläßt uns die Mühe, so gut wir können, den Weg, den es in einer einfachen und kontinuierlichen Bewegung durchlaufen hat, hinterher in so viele Abschnitte zu zerlegen, als uns gefällt. Die Bewegung 5

Man erkennt leicht Ähnlichkeit dieser Vorstellungsweise mit der von Leibniz, Galilei und Hobbes.

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ist aktuell, die Teilungen dagegen sind nur potentiell und beziehen sich außerdem nicht auf die Bewegung, sondern nur auf den Weg. §6. Bergson. Bergson nimmt in seiner »Evolution créatrice« die Diskussion der Zenonischen Argumente wieder auf, indem er die Analyse der Idee der Bewegung weiter entwickelt und vertieft.6 Die Schwierigkeit ist nach ihm nur eine scheinbare, die deshalb als solche entsteht, weil das Problem von vorne herein falsch gestellt ist. Sie entsteht im Grunde durch den unberechtigten Versuch, den Standort der äußeren, der rein begrifflichen (»kinematographischen«) Anschauung an die Stelle einer unmittelbaren und direkten Anschauung zu setzen. Wenn man die Bewegung aus Lageveränderungen und Raumstellungen rekonstruieren will, das Wesen der Bewegung also mit Begriffen, die aus der Sphäre des Unbeweglichen stammen, zu fassen versucht, so ist das Mißlingen der Analyse kein Wunder. Man unterschiebt der Bewegung des sich Bewegenden den durchlaufenen Weg, ohne die radikale Heterogenität dieser beiden Dinge zu beachten. Ruch für Bergson ist die Bewegung eine und unteilbar. Es hat keinen vernünftigen Sinn, sie teilen zu wollen – so wie man die Strecke der durchlaufenen Bahn teilt. Aus zwei aneinander gereihten Bewegungen – von a nach b und von b nach c – kann man niemals die eine Bewegung von a nach c zusammensetzen. Wenn man es vermeidet, der Bewegung die Strecke, der Dauer den Raum unterzuschieben, so sieht man alsbald, daß eine solche Zusammensetzung völlig sinnlos ist. Die Bewegung ist eine innere Einheit, eine Einheit der Intensität, nicht der Extensität. Sie ist etwas den Phänomenen des Lebens oder der Psyche Vergleichbares. Sie ist eine Art organischer Einheit und besitzt als solche notwendig Dauer; ihr Anfang und ihr Ende sind zu einer unteilbaren Einheit verbunden und enthalten sich und fordern sich gegenseitig. Bewegung ist ein innerer Energiezustand des sich Bewegenden, den wir bei jedem in Bewegung befindlichen Körper sehr wohl mitfassen. Sie hat Ortsveränderung zur gewöhnlichen 6

Was er schon in dem »Essai sur les données immédiates de la conscience« getan hatte.

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Konsequenz, ist mit derselben aber so wenig zu identifizieren, daß wir uns den Fall einer reellen und absoluten Bewegung ohne Ortsveränderung sehr wohl denken können. Wir brauchen nur an den uns so vertrauten und auf innere und unmittelbare Weise gegebenen Fall der Bewegung unseres eignen Körpers und seiner Teile zu denken. Stellen wir uns vor, daß, während wir den Arm heben, unser Körper durch einen kunstreichen Mechanismus eine Reihe von genau entsprechenden Bewegungen in entgegengesetzter Richtung macht: im Sinne des Physikers hätte sich dann unser firm nicht bewegt, weil er seine Lage im Raum nicht veränderte – aber doch wird niemand bestreiten, daß wir eine reelle und als solche absolute Bewegung ausgeführt haben. Wenden wie jetzt die in unserer Analyse erhaltenen Resultate auf die Zenonischen Probleme an, insbesondere auf das des Achill. Nach Bergson verschwinden alle Schwierigkeiten sofort, weil sie eben Scheinschwierigkeiten waren. Sowohl die Bewegung des Achill wie die der Schildkröte vollziehen sich in unteilbaren Akten. Achill braucht durchaus nicht alle Punkte zu berühren, die eine Phantasieteilung hinterher auf seinem Wege entdecken mag; er macht Schritte, von denen jeder eine ganz bestimmte Größe hat; er gelangt keineswegs zuerst an den Punkt, in dem die Bewegung der Schildkröte ihren Ausgang nahm, und so weiter ins Unendliche – er macht ganz einfach zwei Sätze und, da dieselben viel größer find als die der Schildkröte, erreicht er sie ohne weiteres. Zenon und seine Anhänger zerbrechen die Einheit der Bewegung des Achill. Sie halten ihn in jedem Augenblick auf. Sie unterschieben seiner frei und ununterbrochen vollzogenen Bewegung eine Reihe von Aufenthalten – kein Wunder, daß er so die Schildkröte nicht erreichen kann. Kein Wunder auch, daß der in gleicher Weise in jedem Augenblick seiner Bewegung fixierte Pfeil sich überhaupt nicht bewegt. §7. Analyse der Bergsonichen Argumente. Wir wollen den fachlichen Wert der tiefen Analysen Bergsons ebensowenig bestreiten wie den der Analysen Noëls. Wir wollen sogar später versuchen, sie in einigen Punkten näher zu präzisieren (z.B. ist es wohl evident, daß die Bewegung kein psychisches Phänomen sein kann,

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und wir glauben auch nicht, daß das Bergsons ernstliche Meinung ist; ebensowenig kann sie mit einer bewegenden Kraft identifiziert werden, noch mit einer Tendenz, einem Impuls oder dergl.!). Aber gegen Zeno und seine Argumente können uns diese Analysen kaum dienen, denn es bandelt sich für den eleatischen Philosophen ganz und gar nicht um eine Analyse der Bewegung an sich selbst, sondern gerade i n s o f e r n sie sich in der Zeit und im Raum realisiert. Der Einwand von Bergson besagt nichts – er ist außerdem auf eine zum Teil unexakte Annahme gegründet. Die Bewegung ist nicht notwendig ein unteilbarer Akt von a nach b, noch eine Reihe von solchen Akten, sie hat nicht notwendig einen Anfang und ein Ende. Wir wollen die so oft behandelte Frage nach dem Anfang der Bewegung nicht neu aufwerfen – es genügt uns, auf die Tatsache hinzuweisen, daß eine angefangene Bewegung als eine solche angesehen werden kann, die niemals endet – wie es der Fall ist mit allen durch bloße Trägheit erhaltenen Bewegungen. Wenn, wie wir mit Noël annehmen, Bewegung ein dem Ruhezustand analoger »Zustand« des Körpers ist, so muß ein in Bewegung befindlicher Körper notwendig in diesem Zustand verharren und sich bis ins Unendliche fortbewegen, solange er nicht durch irgendeine positive Ursache aufgebalten wird. Bergson würde uns hiergegen vielleicht einwenden, daß diese Annahme selbst auf der unberechtigten Identifikation der verräumlichten Zeit, einer Fiktion der Wissenschaft, mit der wirklichen Dauer beruht – dennoch genügt es, so scheint es uns, auf die Wesensmöglichkeit einer Bewegung ohne Anfang und ohne Ende hinzuweisen, es genügt die Möglichkeit der Erfassung eines sich Bewegenden als solchen, ohne daß uns der Beginn, noch das Ziel seiner Bewegung in irgendeiner nur denkbaren Weise mitgegeben sei, wie es der Fall ist mit allen astronomischen Bewegungen. Setzen wir also an die Stelle der Schildkröte und des Achilles zwei Körper, die sich nach dem Gesetz der Trägheit bewegen, so stehen wir wieder mitten in den Zenonischen Problemen. Denken wir uns die Bewegung der beiden Körper einem Gesetz gemäß verlaufend, das das Verhältnis ihrer beiderseitigen Geschwindigkeiten ausdrückt – und wir haben wieder die unendliche Progression, den unaufhebbaren Vorsprung und vor allem die eindeutige und wechselseitige Korrelation zwischen jedem und jedem Punkt der Bahn des ersten und des zweiten Körpers. Es ist nicht richtig, zu sagen, daß Zeno den Achilles auf seinem Wege »aufhält«; er fixiert und zählt nur im voraus

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die Momente, in denen er diesen oder jenen Punkt seines Weges erreichen wird. Zu sagen, daß man ihn hierdurch schon aufhielte, würde der Behauptung gleichkommen, daß man ein Flugzeug aufhielte, wenn man seinen Weg chronometrisch verfolgt, oder eine Kanonenkugel, wenn man ihre Bahn auskalkuliert. Das Argument des Pfeils behält auch unter der Voraussetzung der unteilbaren Bewegungsakte seinen vollen fachlichen Wert. Nehmen wir eine endliche, in sich abgeschlossene Bewegung, eine Bewegung von a nach b, die Bewegung des Pfeils auf sein Ziel zu. Diese Bewegung ist eine und unteilbar wie es ebenso der durchlaufene Weg sein wird, wenn er nämlich durchlaufen sein wird. Wir können den vom Körper durchlaufenen Weg hinterher in eine unendliche Anzahl von möglichen Abschnitten zerlegen, aber jetzt können wir es noch nicht: denn noch nicht durchmessen, existiert auch die Bahn selbst noch nicht. Wohl dagegen existiert schon der Weg, der d u r c h l a u f e n w e r d e n s o l l , wohl ist uns schon die E n t f e r n u n g zwischen den beiden Punkten a und b, der Raum, in dem sich diese beiden Punkte befinden, gegeben. Und nichts hindert uns, auf ihr soviel Punkte, als wir nur wollen, anzusetzen – und zwar ohne im mindesten den Pfeil in ihnen aufzuhalten oder seine Bewegung in eine Reihe von Lagebestimmtheiten aufzulösen –, nichts hindert uns, die Frage zu stellen: in welchem Moment wird der Pfeil diesen oder jenen bestimmten Punkt passieren? Und im allgemeinen: wenn wir eine unendliche und unbestimmte Anzahl von Flächen setzen, sei es auch nur in der Phantasie, haben wir dann nicht das Recht zu sagen, daß der Pfeil alle diese auseinanderfolgenden Ebenen passieren soll – nicht etwa sich in ihnen aufhalten! –, so wie eine Kugel durch die Stahlplatten hindurchfliegt, die auf ihre Bahn gesetzt sind? Und sehen wir dann nicht den Einwand Zenos zurückkehren – den Einwand bezüglich der Notwendigkeit, eine aktuelle Unendlichkeit anzunehmen und die ins Unendliche fortfehreitende Teilung als vollzogen vorauszusetzen? §3. Analyse der Argumente Noëls. Die Theorie Noëls ist ähnlichen Angriffsmöglichkeiten ausgesetzt. Wenn er zwar nicht wie Bergson die Bewegung als in unteilbaren Akten

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oder einer Folge solcher Akte sich vollziehend denkt, so bringt doch seine Analyse die Zenonischen Schwierigkeiten ebensowenig zum Verschwinden wie die Bergsons. Ganz gewiß ist die Bewegung eine Entität sui generis, korrelativ zur Ruhe und ebenso unableitbar wie diese, ja umgekehrt könnte, wenn überhaupt, nur die Ruhe auf die Bewegung oder doch auf eine Synthese mit ihr zurückgeführt werden. Bewegung ist auch ganz gewiß ein Zustand des Bewegungsobjektes, und nicht einfach eine Ortsveränderung im geometrischen Sinne. Aber gerade um diese letztere handelt es sich für Zeno! und nicht um Bewegung ihrem eignen Wesen oder ihrem eignen inneren Aussehen nach. Man braucht nur in der Fassung Noëls einen Ausdruck zu verändern, um die ganzen Schwierigkeiten des Eleaten wiederkehren zu sehen. Wir fixieren mit Noël, daß Bewegung nicht aus einer Reibe von Ruhepositionen rekonstruiert werden kann, daß sich das Bewegungsobjekt in jedem Augenblick und jedem Punkt seiner Bahn bewegt und daß ein sich Bewegendes in völlig andrer Weise an jedem dieser Punkte teilnimmt als ein unbewegter Körper, der ihn ruhend einnimmt. Wir gehen sogar einen Schritt weiter und behaupten unter der Einsicht, daß Bewegung und Unbeweglichkeit einander ebenso entgegengesetzt sind wie Sein und Werden: daß der unbewegte, der in Ruhe befindliche Körper in dem bestimmten Punkt seiner Ruheposition wirklich i s t , der sich bewegende dagegen in den Punkten seiner Bahn n i c h t i s t . Es wäre durchaus falsch, zu sagen, daß das Bewegungsobjekt in jedem Moment seiner Bewegung in einem bestimmten Punkt ist; im Gegenteil: in keinem Augenblick seiner Bewegung ist es das, in keinem einzigen dieser Punkte ist es irgendwann – es passiert sie alle nur. D o c h leider kann uns diese Analyse gegen die Argumente von Zeno in keinem Sinne etwas nützen; denn es genügt völlig, in der Fassung dieser Argumente an die Stelle des Ausdrucks »sein« den des »passierens« zu setzen, und sie werden genau so anwendbar wie vorher. Wenn zwar weder die Schildkröte noch Achill in irgendeinem Augenblick der Bewegung in irgendeinem Punkt ihrer Bahn wirklich s i n d , so müssen sie sie doch alle p a s s i e r e n , und zwar einen nach dem anderen. Auch der Pfeil muß eine Unendlichkeit von Punkten passieren, genau wie Achill und die Schildkröte und immer können wir eine eindeutige und wechselseitige Korrelation aufteilen zwischen allen Punkten, die Achill auf seinem W e g e p a s s i e r t , und allen denen, die die

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Schildkröte p a s s i e r t . Daß aber gerade hierin der springende Punkt der Zenonischen Argumente besteht, haben wir gesehen. Der Einwand Noëls, daß das sich Bewegende die Punkte seiner Bahn nicht »zählt«, drückt die Sachlage nicht exakt aus. Weit und insofern es alle Punkte, die zwischen dem Anfang und dem Endpunkt seiner Bahn liegen, nacheinander passiert, »zählt« es sie doch, und nach Noël selbst ist eben die Anzahl dieser Punkte eine unendliche. § 9. Der Sinn der Zenonischen Argumente. Die Analyse der Zenonischen Einwände gegen die Bewegung und die der hauptsächlichsten Widerlegungsversuche haben uns zu dem bemerkenswerten Resultat geführt, das wir schon am Anfang voraussahen: die Schwierigkeiten, die sich erbeben, beziehen sich nicht auf die Bewegung qua Bewegung, sondern sie knüpfen sich an dieselbe nur, weil und insofern sie sich in der Zeit und im Raum abspielt. Denn diese beiden wesenhaft kontinuierlichen Gebilde allein dienen den Zenonischen Paradoxen zur Grundlage. Noch einen Schritt weiter – und wir können auch die Zeit eliminieren und nur noch den Raum ins Auge fassen, die räumlichen Entfernungen, die Bahnen und ihre Beziehungen zueinander. Und eine völlig radikale Betrachtungsweise wird uns sogar erlauben, auch von dem Moment des Räumlichen selbst zu abstrahieren und als Untersuchungsobjekt nur noch das kontinuierliche Quantum oder das Continuum schlechthin übrig zu behalten. Denn welches sind eigentlich die beiden Haupteinwände, die wir im Kern der Zenonischen Argumente finden? 1. Die Entfernung, der Weg, nicht der durchlaufene Weg, sondern der Weg, der durchlaufen werden soll – vor aller Durchmessung und aller Bewegung, ist bis ins Unendliche teilbar; er enthält eine aktuelle Unendlichkeit von Punkten. Es ist vollkommen gleichbedeutend, ob wir die Gerade aus einer Unendlichkeit von Punkten »zusammensetzen« wollen oder ob wir sie im Gegenteil als eine primäre Gegebenheitseinheit ansehen und uns darauf beschränken, in ihr Punkte als sekundäre Elemente herauszuheben. In beiden Fällen haben wir es mit einer aktuellen Unendlichkeit zu tun. Wir haben Bewegung und Bewegendes nicht nötig:

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die geometrische Gerade mit ihrer aktuellen Unendlichkeit von Punkten stellt uns schon allen Schwierigkeiten der Dichotomie gegenüber. 2. Es besteht die prinzipielle Möglichkeit, eine eindeutige und gegenseitige Korrelation festzustellen zwischen allen Punkten der Bahnen zweier Bewegungsobjekte oder allgemeiner zwischen allen Punkten zweier Linienabschnitte von verschiedener Länge. Ebensowenig als im ersten Fall haben wir es hier offenbar mit Bewegung und Beweglichem zu tun, sondern einzig und allein mit Beziehungen zwischen geometrischen Einheiten, zwischen mathematischen Größen. Die Paradoxe haben also keineswegs eine nur phoronomische Bedeutung und einen nur phoronomischen Wert. Sie sind von einer weit größeren Anwendbarkeit – wir können feststellen, daß sie im Grunde in jedem geometrischen Theorem, in jeder geometrischen, algebraischen und arithmetischen Formel stecken. Um sich davon zu überzeugen, ist es das Einfachste, die Zenonischen Paradoxe in die mathematische Sprache zu übersetzen und hiervon einige elementare Beispiele zu geben:7 a) Die Dichotomie. Nehmen wir eine Variable X zwischen den Grenzen O und A; das Argument der Dichotomie besteht dann in dem Hinweis, daß die Variable in einer bestimmten Folge alle Werte zwischen O und A durchlaufen muß. b) Achilles. Zwei Variablen sind durch die Beziehung Y=AX verbunden. Jedem Wert des X entspricht ein und nur ein einziger Wert des Y und umgekehrt. Trotzdem wächst Y schneller als X, bis schließlich Y = X + C wird. c) Der Pfeil. In die mathematische Sprache übersetzt, besagt das Argument des Pfeils einfach folgendes: alle Werte einer Variablen sind Konstante. d) Das Stadion. Dies Argument zeigt nur noch einmal, daß man eine eindeutige und wechselseitige Beziehung zwischen allen Punkten zweier oder mehrerer Linienabschnitte ausstellen kann – ungeachtet ihrer respektiven Größe; eine Tatsache, die durch die Formel Y=AX ausgedrückt ist.

7

Vgl. Russell, « Principles of Mathematics » Cambridge, 1903, von dem wir jedoch in mehreren Punkten abweichen.

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Fügen wir noch einige einfache Beispiele hinzu, die uns besser noch als abstrakte Formeln den Sinn der Zenonischen Paradoxe, entkleidet von ihrem phoronomischen Gewand, erfassen lassen. Wir wollen im Rahmen der Cartesianischen Koordinaten die denkbar einfachste Formel ins Auge fassen: Y=X. Y

Xn Yn

Xn O X Die Linie, die durch diese Formel bestimmt wird, ist augenscheinlich eine Gerade. Jeder Punkt dieser Geraden hat notwendig einen entsprechenden Punkt auf der Linie der Abszissen und umgekehrt: es kann kein einziger fehlen und es ist auch kein einziger zu viel da. Trotzdem ist OXn