Anspruch und Wirklichkeit: Probleme spätantiker Richteraktivität im Spiegel des Codex Theodosianus [1 ed.] 9783428581207, 9783428181209

Die Rechtsprechung stellte in der vormodernen Herrschaftsorganisation des Imperium Romanum die zentrale öffentliche Aufg

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Anspruch und Wirklichkeit: Probleme spätantiker Richteraktivität im Spiegel des Codex Theodosianus [1 ed.]
 9783428581207, 9783428181209

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Schriften zur Rechtsgeschichte Band 192

Anspruch und Wirklichkeit Probleme spätantiker Richteraktivität im Spiegel des Codex Theodosianus

Von

Anna Theresa Leneis

Duncker & Humblot · Berlin

ANNA THERESA LENEIS

Anspruch und Wirklichkeit

Schriften zur Rechtsgeschichte Band 192

Anspruch und Wirklichkeit Probleme spätantiker Richteraktivität im Spiegel des Codex Theodosianus

Von

Anna Theresa Leneis

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 978-3-428-18120-9 (Print) ISBN 978-3-428-58120-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Studie stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommersemester 2019 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Zuallererst gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater Professor Dr. Rudolf Haensch, der die Arbeit nicht nur angeregt, sondern auch den Entstehungsprozess mit großem Interesse sowie vielen wertvollen Anregungen und Hinweisen begleitet hat. Herrn Professor Dr. Jens-Uwe Krause danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Meine lieben Freunde und Kollegen haben in vielfältiger Art und Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Insbesondere danken möchte ich Clea von Ammon und Johanna Wolf für ihre Zeit und Geduld beim Korrekturlesen der Arbeit. Für sein Verständnis und seinen Rückhalt in allen Phasen der Entstehung der Arbeit danke ich meinem Freund Michael Klotz von ganzem Herzen. Mein größter Dank gilt meinen Eltern, Elfriede und Korbinian, die mich auf meinem Weg bis zur Dissertation stets unterstützt, gefördert und gefordert haben und so die Basis für meine persönliche und berufliche Entwicklung geschaffen haben. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. München, im Juni 2020

Anna Theresa Leneis

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Jurisdiktion, Herrschaftspraxis und „Missbrauch“ in der Spätantike? . . . . . . . . . 13 II. Zeitraum, Quellen und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 B. Von Macht und Zeit: Umgehung des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens 25 I. Die neglegentia iudicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Terminologie und jurisdiktiver Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Culpa, neglegentia et diligentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Die neglegentia iudicum im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 b) Kontrolle durch das officium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 II. Die gratia iudicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Terminologie und jurisdiktiver Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Die gratia iudicum im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Die gratia iudicum und die Störung des ordentlichen Verfahrensablaufs

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c) Gratia und pecunia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 d) Iudices und honorati . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 e) Die gratia iudicum und die Desertion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 f) Die gratia iudicum und die Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 g) Die gratia iudicum im Kontext der „Religionsgesetzgebung“ . . . . . . . . . . 77 III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ – Inhaftierung als Alternative zu Verfahrensführung und -vollstreckung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Zur Untersuchungs- und Strafhaft in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Zu den verschiedenen Funktionen der Gefängnishaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Das Gefängnis als empfundene poena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Die Inhaftierung als Mittel der „Verfahrensumgehung“ im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Kontrolle durch regelmäßigen Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Kontrolle durch „Haftprüfung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

10

Inhaltsverzeichnis

C. Von Gewalt und Unterdrückung: Die Umgehung der Rechtsmittelinstanz . . . . . . 114 I. Inhaftierung und Anwendung von Gewalt zur Unterbindung der Rechtsmitteleinlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Die erstmalige Inhaftierung vor/bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Die Inhaftierung als Ausübung magistraler Koerzitionsgewalt . . . . . . . . . . 115 b) Custodia militaris und custodia libera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Inhaftierung bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus . . . . . . . . 120 d) Bürgschaft oder Inhaftierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Carcer und custodia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Die Gewaltanwendung bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus

126

a) Officium und iniuria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Öffentlichkeit als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Furcht vor contumelia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Iudex appellatio non recipitur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Das Rechtsmittel der appellatio in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Die Nichtannahme von Appellationen im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . 147 a) Zulässigkeit von Appellationen in (Zivil- und) Strafverfahren . . . . . . . . . . 147 b) Entwicklung der Strafhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Die transmissio suppressa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Zur Bedeutung der Schriftlichkeit im Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . 157 2. Die Unterdrückung entscheidungsrelevanter Gerichtsakten im Codex Theodosianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Zur Vollständigkeit der zu übersendenden Gerichtsakten . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Consultatio (ante sententiam) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Relatio, supplicatio und appellatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 d) Nachbesserungsmöglichkeit bei Unvollständigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 e) Imperiale Gegenmaßnahme: Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 D. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Abkürzungsverzeichnis Die bibliographischen Abkürzungen richten sich nach DNP Bd. 3 (1997) XII – XXXVI. Antike Autoren und ihre Werke werden nach DNP Bd. 3 (1997) XXXVI – XLIV zitiert. Nachstehend werden lediglich weitere Abkürzungen aufgezählt. Papyri wurden nach dem Heidelberger Gesamtverzeichnis zitiert. DNP Cancik, H. (Hrsg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Stuttgart. ebd. ebenda LRE Jones, A. H. M., The Later Roman Empire: 284 – 602, A Social Economic and Administratrive Survey, 4 Bände, Oxford 1964.

A. Einleitung1 I. Jurisdiktion, Herrschaftspraxis und „Missbrauch“ in der Spätantike? In einem der zahlreichen Werke aus der Feder des Satirikers Lukian von Samosata2, „Der doppelt Angeklagte“ (Bis Accusatus)3, das er seinen eigenen Angaben nach ungefähr im Alter von 40 Jahren (ca. um 165 n. Chr.4) verfasste, übte er eingangs Kritik am Gerichtswesen. Gleich zu Beginn der Schrift, die im ersten Teil ausschließlich als Gespräch zwischen Göttern gestaltet ist, klagte Zeus bei Hermes darüber, dass die Götter diverse Aufgaben als Teil ihrer Herrschaft5 und der ihnen obliegenden Jurisdiktion zu erledigen hätten, ihnen hierfür aber schlichtweg die Zeit fehle. Die Konsequenzen seien daher folgende6 : … Qdo» c] toi rpû !swok_ar tosa}tar 2~kour d_jar vuk\ttolem !pojeil]mar rpû eqq_tor Edg ja· !qawm_ym dievhaql]mar, ja· l\kista bp|sai ta?r 1pist^lair ja· t]wmair pq¹r !mhq~pour tim±r sumest÷sim, p\mu pakai±r 1m_ar aqt_m. oR d³ jejq\casim "pamtaw|hem ja· !camajtoOsim ja· tµm d_jgm 1pibo_mtai j!l³ t/r bqadut/tor aQti_mtai, !cmooOmter ¢r oqj akicyq_ô t±r jq_seir rpeqgl]qour sum]bg cem]shai, !kkû rp¹ t/r eqdailom_ar Ø sume?mai Bl÷r rpokalb\mousim. toOto c±q tµm !swok_am jakoOsim. 1 In der vorliegenden Untersuchung werden Monographien, Aufsätze und Artikel von Anfang an verkürzt unter Angabe des Verfassers bzw. der Verfasserin und eines aussagekräftigen Schlagworts des Titels bzw. Lemmas angeführt. Quelleneditionen werden unter Angabe des Herausgebers bzw. der Herausgeberin (oder des Übersetzers bzw. der Übersetzerin) und des Namens des Verfassers bzw. des Titels der Quelle angeführt. Abkürzungen antiker Autoren richten sich nach DNP Bd. 3 (1997) XXXVI-XLIV. Sofern bei Übersetzungen kein entsprechender Nachweis beigefügt ist, wurden diese von der Verfasserin erstellt. 2 Zu seiner Person und seiner Bezeichnung als Satiriker siehe zuletzt Free, Geschichtsschreibung, insb. 10 – 14 sowie 105 f. mit umfangreichen Literaturangaben. Free beschreibt Lukian als „Literat […] [, der] offenbar in der Manier der Zweiten Sophistik als Vortragender durch die mediterrane Welt [zog] und […] sich […] permanent in einem Spannungsverhältnis zwischen literarischer Fiktion und historischer Realität [bewegte]. […] Im Gegensatz zu anderen Gebildeten seiner Zeit widmete er sich offenbar weniger der öffentlichen Deklamation, sondern fand seine Bestimmung in der humoristischen Ausrichtung seines literarischen Programms.“ Zu Leben und Werk siehe ebenso, zuletzt insbesondere zu dessen Schreibstil, Baumbach/Möllendorf, Prometheus, zum Werk Bis Accusatus ebd., 171 – 216; Porod, Schrift, 9 – 14; Nesselrath, Lukian, 12 – 15, Hall, Satire. 3 Siehe hierzu den Kommentar von Braun, Lukian. 4 Zur Datierung von Bis Accusatus siehe Jones, Culture, 168. Alle nachfolgend nicht abweichend gekennzeichneten Jahreszahlen verstehen sich als n. Chr. 5 Lukian. Bis acc. 1 – 2. Zu dieser Episode siehe auch Bryen, Judging, 772. 6 Lukian. Bis acc. 3.

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A. Einleitung „… Kann ich mir doch nicht einmal so viel Zeit abmüßigen, eine Anzahl verschimmelter, längst in Spinnweben begrabener Prozesse vorzunehmen, namentlich solche, die von den Wissenschaften und Künsten gegen gewisse Personen anhängig gemacht worden sind. Einige dieser Klageschriften sind wirklich schon so alt, daß die Parteien von allen Seiten anfangen, ihrer Ungeduld Luft zu machen, nach Entscheidung schreien und mich der Nachlässigkeit anklagen, ohne zu wissen, dass nicht Trägheit von meiner Seite an dem Verzuge Schuld ist, sondern jenes Wohlleben, in welchem wir uns ihrer Meinung nach befinden. Denn dies ist der Name, den sie unserer mühevollen Lage geben.“7

Lukian zeichnete ein sarkastisch karikiertes Bild des Gerichtswesens im Römischen Reich: Viele an Zeus bzw. an die Götter8 herangetragenen Fälle seien durch die Verfahrensdauer bereits „verschimmelt“ und mit „Spinnweben überzogen“ gewesen. Die Prozessparteien wären ungeduldig, zögen die Gerechtigkeit in Frage und würden Zeus insbesondere Nachlässigkeit vorwerfen. Letztere wäre aber – so Zeus – gerade nicht der Grund für die Zeitverzögerung bzw. Ungerechtigkeit in manchen Gerichtsverfahren, sondern die Fülle an Aufgaben, die mit Herrschaft und Jurisdiktion einhergingen. Dem Druck der Prozessierenden nachgebend, entschied sich Zeus im weiteren Verlauf zusammen mit Hermes und der Göttin der Gerechtigkeit, Dike, dazu, einen großen Gerichtstag (conventus)9 für alle bereits anhängigen Verfahren einzuberufen, um so die mittlerweile veralteten, zeitlich verzögerten Fälle zur Entscheidung zu bringen. Nachdem Zeus’ Vorschlag von Hermes positiv aufgenommen worden war und auch Dike überzeugt werden konnte, befahl der Göttervater, nunmehr auf der Erde die Einberufung eines Gerichtstages zu verkünden, um die „alten“ Rechtsfälle zur Entscheidung zu bringen.10 Dem kam Hermes wie folgt nach11:

7 Text und Übersetzung in Anlehnung an Pauly, Lucian, Bd. 10, 1251 f. (so auch die im weiteren Verlauf der Untersuchung zitierten Stellen aus Lukian. Bis acc.). 8 Einer Verbindung zwischen Zeus bzw. den Göttern und dem römischen Kaiser als literarischem Stilmittel bediente sich nicht nur Lukian. Das literarische Motiv findet sich beispielsweise auch in der unter dem Titel Apocolocyntosis bekannten Satire Senecas, die vordergründig als Spottschrift auf den verstorbenen Princeps Claudius bzw. dessen Vergöttlichung zu verstehen ist (so wohl die Communis Opinio in der Forschung vgl. zuletzt dazu sowie zur These, die Schrift stelle „in ihrer Tiefenstruktur […] eine radikale Dekonstruktion der symbolischen Codes der julisch-claudischen Zeit dar“ Reitzenstein-Ronning, Apocolocyntosis, 214 nebst Anm. 7). Darin wurde Claudius – im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern – gerade nicht posthum zum Gott ernannt. Zu weiteren Literaturangaben sowie insbesondere zum Zusammenhang zwischen Zeusstatuen und der bildlichen Darstellung römischer Kaiser siehe Bryen, Judging, 772 nebst Anm. 3. 9 Für die Gerichtssitzung wurden entsprechend !coq± dij_m (wie in Lukian. Bis acc. 12), B !coqa?or oder !coqa_a verwendet. Zu den literarischen und epigraphischen Quellen siehe Fournier, Tutelle, 42 – 46; zum Konventssystem und der Beziehung des Statthalters zum Territorium seiner jeweiligen Provinz (nebst – Versuch – einer Identifizierung der Konventsstädte aller Provinzen) siehe die am besten dokumentierte und umfangreichste Untersuchung von Haensch, Capita; ebenso ders., Konventsordnung. 10 Lukian. Bis acc. 4. 11 Lukian. Bis acc. 12.

I. Jurisdiktion, Herrschaftspraxis u. „Missbrauch“ in der Spätantike?

15

)jo¼ete ke], !coq±m dij_m !cah0 t¼w, jatastgsºleha t¶leqom 9kavgboki_mor 2bdºl, Rstal´mou. bpºsoi cqav±r !p¶mecjam, Fjeim eQr -qeiom p²com, 5mha B D¸jg !pojkgq¾sei t± dijast¶qia ja· aqtµ paq´stai to?r dij²fousim7 oR dijasta· 1n "p²mtym )hgma¸ym7 b lish¹r tqi¾bokom 2j²stgr d¸jgr7 !qihl¹r t_m dijast_m jat± kºcom toO 1cjk¶lator. bpºsoi d³ !poh´lemoi cqavµm pq·m eQsekhe?m !p´hamom, ja· to¼tour b AQaj¹r !mapelx²ty. Cm d´ tir %dija dedij²shai oUgtai, 1v´silom !cymie?tai tµm d¸jgm7 B d³ 5vesir 1p· t¹m D¸a. „Hört, ihr Leute, hört! Heute, als an dem Siebenten des angefangenen Monates Elaphebolion wird zum guten Gelingen Gerichtstag abgehalten werden. Alle diejenigen, deren Sachen bereits anhängig sind, haben demnach auf dem Areopag zu erscheinen, woselbst Dike jeglichem seine Richter mittelst Looses zuweisen und den Richtern in Person zur Seite stehen wird. Die Richter werden aus allen Athenern insgesamt gewählt: das Spruchgeld aber beträgt drei Obolen je Prozess für den einzelnen Richter. Die Zahl der Richter bestimmt sich nach dem Streitwert der Klage. Diejenigen, so etwa mit Tod abgegangen, bevor ihre anhängige Rechtssache zur Verhandlung kam, hat Aeacus zu beurlauben. Sollte endlich der eine oder der andere meinen, einen ungerechten Spruch erhalten zu haben, so solle ihm eine Berufung an Zeus unbenommen bleiben.“12

Alle, die eine anhängige Rechtssache nun – nach langem Warten – zur Entscheidung bringen wollten, sollten jetzt zusammenkommen. Hermes wies sie zunächst auf die Gebühren13 hin und ließ sie wissen, dass auch für den Fall eines – trotz Anwesenheit und Hilfe der Dike – ungerechten Richterspruches die Möglichkeit bestand, an den höchsten Richter (Zeus) zu appellieren. Sogar die Toten, die ihren Prozess nicht mehr erlebt hatten, waren von Aeacus, einem der drei Totenrichter der Unterwelt, hierfür kurzerhand vom „Tod zu beurlauben“. Nach dieser Ankündigung ließen sich die Prozessierenden nicht lange bitten14, strömten in Scharen auf den Aeropag zum conventus15 und machten hierbei nicht davor halt, ihre Gegner zu 12

Text und Übersetzung in Anlehnung an Pauly, Lucian, Bd. 10, 1259 f. Im weiteren Verlauf freute sich Hermes darüber, dass Dike auf eine angemessene Höhe der sportulae achtet (Lukian. Bis acc. 14): Ew ce, § D¸jg, ve¸d, lµ pok» !mak¸sjeshai t¹ dijastijºm.; „Schön, daß du etwas sparsam mit Richtern bist, Schwester, damit nicht zuviel auf die Sporteln geht.“ Auch an einer weiteren Stelle achtet Dike darauf, dass die Richter, die für einen Fall bestimmt waren, der jedoch nicht zu einer Entscheidung gebracht wurde, gerade keine sportulae erhalten (Lukian. Bis acc. 23): t¹ de?ma l´mtoi, lµ kalbam´tysam oxtoi t¹ dijastijºm7 !d¸jastor c±q B d¸jg lel´mgjem aqto?r.; „Aber – fast hätte ich vergessen – hörst du, Hermes, daß mir diese da keine Sporteln bekommen! Die Sache ist ja nicht zur Entscheidung gekommen.“ 14 Lukian. Bis acc. 13: [Dike merkte an:] … !hqºoi coOm, ¢r bqør, pqos¸asi hoquboOmter, ¦speq oR sv/jer peqibolboOmter tµm %jqam.; „… Sie kommen in Massen heran, wie du siehst, und es summt und saust wie ein Wespenschwarm um den ganzen Hügel herum.“ 15 Auch Plutarch berichtete uns in seiner Schrift ,Ob die Krankheiten der Seele oder des Körpers schlimmer sind‘ (Peq· toO p|teqom t± xuw/r C t± s~lator p\hg we_qoma – Animine an corporis affectiones sint peiores) von dem Gedränge der miteinander Prozessierenden am conventus (Plut. mor. 501 E-F): … oq h¼somter oxtoi sumekgk¼hasi patq¸oir heo?r oqd( blocm¸ym leh´nomter Req_m !kk¶koir, oqj )sjqa¸\ Di· Kud¸ym jaqp_m !paqw±r v´qomter oqd³ Diom¼s\ bebajweul´mom h¼shkom Reqa?r mun· ja· joimo?r aqci²somter j¾loir7 !kk( ¦speq 1tgs¸oir peqiºdoir !jlµ mos¶lator 1jtqaw¼mousa tµm )s¸am 1p· d¸jar ja· !c_mar 1lpqoh´slour Fjousam 1mtaOha sulb²kkei7 ja· pk/hor ¦speq Neul²tym !hqºym eQr l¸am 1lp´ptyjem !coq±m ja· vkecla¸mei ja· sum´qqycem „akk¼mtym te ja· akkul´mym.“; „… These 13

16

A. Einleitung

beschimpfen.16 Nachdem Dike dieses Gezanke der Prozessparteien vernommen hatte, machte sie Hermes einen Vorschlag: Es sollten nunmehr nur noch solche Prozesse am selben Tage durchgeführt werden, die die schönen Künste zum Gegenstand hatten. Alle anderen sollten auf den nächsten Tag verschoben werden.17 Schlussendlich wurden an diesem Tag insgesamt sechs Fälle verhandelt, von denen allerdings nur vier Verfahren beendet werden konnten.18 Der zuletzt behandelte Fall, der schließlich auch der Schrift den Namen19 gab, wurde wiederum auf Bitten von Hermes zeitlich vorgezogen20 – stellte mithin gar keinen „Altfall“ dar. Bereits in der Kaiserzeit waren die Problematiken von (bis über den Tod der Prozessierenden hinaus) verzögerten Rechtsfällen, überhöhten Gebührenforderungen sowie die gratia iudicum allgegenwärtig21 und wurden so Gegenstand einer Parodie. persons have come together, not to sacrifice to their country’s gods, not to share in each other’s family rites, not bringing ,to Ascraean Zeus the first-fruits of Lydian harvests‘, nor, in honour of Dionysus, to celebrate his mystic festival on sacred nights with common reveilings, but, as it were, a mighty pestilence drives them together here with yearly visitations stirring up Asia, which must come for law-suits and litigation at certain stated times; and the overwhelming multitude, like streams flowing together, has inundated this one market-place and boils with fury and dashes together in a tumult ,of destroyers and destroyed‘.“ Text und Übers. nach Helmbold, Moralia VI, 388 f. An vorigen Abschnitt anschließend beschreibt Plutarch die einzelnen Rechtsfälle als Krankheiten und zählt die Ursachen auf. 16 Lukian. Bis acc. 13: EUkgv² se, § jat²qate … Sujovamte?r. … D¾seir pot³ Edg tµm d¸jgm … 9nek´cny se deim± eQqcasl´mom … Lµ %cwe le.; „Halt, Schurke, du entrinnst mir nicht! … Ein falscher Ankläger bist du! … Nun sollst du mir endlich d’ran! … Wart’, ich will dir deine Scheußlichkeiten aufdecken! … Erwürge mich doch nicht!“ 17 Lukian. Bis acc. 13: OWsha d dq²sylem, § :ql/; t±r l³m %kkar d¸jar eQr tµm auqiom rpeqbak¾leha, t¶leqom d³ jkgq_lem t±r toia¼tar bpºsai t´wmair C b¸oir C 1pist¶lair pq¹r %mdqar eQs·m 1pgccekl´mai …; „Weißt du, Was wir tun wollen, Hermes? Die übrigen Prozesse wollen wir auf morgen verschieben, und heute nur diejenigen vornehmen, welche von den Künsten, Wissenschaften und Lebensarten gegen einzelne Leute anhängig gemacht worden sind …“ 18 In den zwei übrigen Verfahren wurde zum einen eine Vertagung bzw. Aussetzung des Verfahrens (Bis. acc. 23) ausgesprochen, zum anderen konnte eine Beendigung des Verfahrens nicht erfolgen, da sich die Parteien eine körperliche Auseinandersetzung lieferten (Bis. acc. 24). 19 Hierin musste sich der Sprecher, ein anonymer Syrer, gegen zwei Kläger, zum einen die Rhetorik und zum anderen den Dialog, für eine literarische Schöpfung, den Komödischen Dialog, verantworten. 20 Auch die gratia iudicis findet hier ihren Anklang: Hermes schlug Dike vor, einen bestimmten Prozess vorzuziehen; Dike erwiderte darauf (Lukian. Bis acc. 14): =oijar, § :ql/, waqifol´m\ tµm d´gsim7…; „Wie mir scheint, Hermes, willst du jemanden, der dich gebeten, einen Gefallen damit erweisen? …“ 21 Auch Sueton berichtet in ähnlicher Form in seiner Augustusvita davon, dass Augustus den Versuch unternahm, der Prozessverschleppung Herr zu werden, indem er bestimmte, dass eine dreißigtägige Zeitspanne, die eigentlich für Festivitäten reserviert war und innerhalb derer eigentlich Gerichtsferien angesetzt waren, nunmehr ebenfalls zur Verhandlung von Rechtsfällen genutzt werden sollte, damit auch keine Vergehen ungestraft bleiben und keine Rechtsfälle verzögert werden (Suet. Aug. 32,2): … diuturnorum reorum et ex quorum sordibus nihil aliud quam voluptas inimicis quaereretur nomina abolevit condicione proposita, ut si

I. Jurisdiktion, Herrschaftspraxis u. „Missbrauch“ in der Spätantike?

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In der vormodernen Herrschaftsorganisation des Imperium Romanum stellte die Rechtsprechung die „zentrale öffentliche Aufgabe“22 dar: „[Die] Rechtsprechung war Kernelement der allgemeinen Administration und damit Kernelement der [zivilen] Herrschaftsausübung insgesamt.“23 Zu vergessen ist dabei jedoch nicht, dass damals gerade zwischen Herrschaft und Jurisdiktion ein enger Zusammenhang24 bestand. Eine gedankliche Trennlinie der beiden Bereiche – wie wir sie heute vornehmen – wurde in der römischen Antike nicht gezogen: „Der römische Staat kannte keine Gewaltenteilung […]. Während heute der Regierung die Formulierung politischer Ziele und der Verwaltung deren Umsetzung in die Praxis zugewiesen wird, waren in Rom diese Funktionen nicht getrennt, sondern in denselben Personen […] zusammengefaßt.“25 Dies ist zum einen deutlich an der Figur des Kaisers erkennbar, der Legislative, Judikative und Exekutive in persona war, zum anderen aber auch anschaulich bei den Provinzstatthaltern nachzuvollziehen, die in der Spätantike für gewöhnlich als iudices (ordinarii) bezeichnet wurden.26 Aus einem modernen Blickwinkel heraus erscheint das Amt des Provinzstatthalters dreigeteilt: Exekutive, Administrative27 sowie Judikative konzentrierten sich auf eine Person, die in der Kaiserzeit auch als Oberbefehlshaber der Truppen ihrer Provinz fungierte. Die Amtsträger waren „judges-governors“28. Die Rechtsprechung, eine der „vornehmsten Pflichten des römischen Provinzstatthalters“29 und die allgemeine Administration wurden als Einheit betrachtet: Ein „Fulltime-Job“, dessen Erfolg in quem quis repetere vellet, par periculum poenae subiret. Ne quod autem maleficium negotiumve inpunitate vel mora elaberetur, triginta amplius dies, qui honoraris ludis occupabantur, actui rerum accomodavit …; „… die Namen von Angeklagten, deren Prozesse über Jahre verschleppt worden waren und aus deren schmutziger Kleidung ihre Gegner reines Vergnügen zogen, ließ er aus den Listen streichen, und es wurde öffentlich die Verordnung bekannt gemacht, dass, sollte jemand einen von diesen noch einmal belangen wollen, er das Risiko auf sich nehmen werde, die gleiche Strafe zu erhalten. Damit aber kein Vergehen ungestraft bleibe und kein Rechtsfall wegen Verzugs unverhandelt bleibe, bestimmte er, dass mehr als 30 Tage, die die zu Ehren des Volkes veranstalteten Spiele beansprucht hatten, [ebenfalls] für die gerichtlichen Geschäfte verwendet werden sollten.“ 22 Haensch, Vorwort, IX. 23 Färber, Gerichtsorte, 2. 24 Dazu etwa Eck, Organisation, 3 – 4. Zum heute noch bestehenden engen Zusammenhang zwischen Jurisdiktion und Herrschaft und der Politisierung des Gesetzes siehe Reinhardt, Jurisdiktion, insb. 351 f. 25 Eck, Organisation, 3. 26 Vgl. Reitzenstein-Ronning, Justice, 268. 27 Zur Problematik und Inadäquanz des Begriffes ,Verwaltung‘ vgl. Eck, Organisation, 3 f. 28 Vgl. Palme, Law, 61. Zu den verschiedenen Funktionen, die der Provinzstatthalter in seinem Amt vereinte siehe etwa Bowman, Administration, 366 f.; Ausbüttel, Verwaltung, 58 f. 29 Jördens, Konstitution, 327; zur Rechtsprechung als zentraler Teil der Amtspflichten des Provinzstatthalters zuletzt Bryen, Judging, 773 f.; zur Rechtsprechung als Machtdemonstration siehe Meyer, Justice; zur Rechtsprechung als Machtsicherung mit Blick auf die Größe des jeweiligen Herrschaftsgebietes vgl. Eck, Administration; einen Überblick zu den Richterkompetenzen des Provinzstatthalters bieten etwa auch Slootjes, Governor, 46 – 76 und Jones, LRE, 479 f.

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literarischen Quellen und spätantiken inschriftlich festgehaltenen Epigrammen oftmals danach zu bemessen war, ob der Provinzstatthalter als Richter seinen „Amtspflichten“ nachkam, für Gerechtigkeit sorgte und sich durch „ideale“ Charaktereigenschaften auszeichnete.30 Rechtsprechung und Gerichtspraxis an den Provinzgerichten waren die entscheidenden Kommunikationswege zwischen den provinzialen Vertretern der Herrschaft und der „Provinzbevölkerung“.31 In der Forschung stand bislang die Beziehung zwischen den Vertretern Roms und den lokalen Eliten (honestiores) oftmals mehr im Fokus von Untersuchungen. Um einen Eindruck von der Funktionalität des Rechtssystems im Ganzen zu gewinnen, ist es aber gerade von Bedeutung, sich mit der Interaktion des prozessführenden Teils der Provinzbevölkerung mit den Herrschaftsträgern in den Provinzen auseinanderzusetzen.32 Für dessen Effizienz war nicht nur die – teilweise fehlende – Sachkompetenz der Richter, sondern auch deren Professionalität in der Amtsführung33 mitentscheidend. Die Kenntnis, Einhaltung und Befolgung von zivil- und strafprozessualen Strukturen und Vorgaben war schließlich ein Schlüsselelement für eine funktionierende Jurisdiktion und damit auch Administration. In der Theorie sollten sich potentielle Prozessparteien in diversen Belangen an die zuständigen iudices wenden können, um „Recht zu bekommen“. Darunter fielen u. a. Rechtsfragen, die Durchsetzung etwaiger Ansprüche, strafrechtliche Anklageerhebungen sowie Appellationseinlegungen. Hatte die Neuordnung der Provinzen durch Kaiser Diokletian auch zu einer annähernden Verdoppelung der Provinzen und zumeist zu einer erheblichen Verkleinerung der Gebiete geführt, war damit die jurisdiktive „Last“ der Provinzstatthalter dennoch nicht proportional kleiner geworden.34 Dies lag zum einen daran, dass viele Statthalter weiterhin sehr große geographische Flächen (beispielsweise in Italien oder auf der Iberischen Halbinsel) zu verwalten hatten, zum anderen an der Fülle der auf sie 30 So Meyer, Justice, 170: „Judging and administering really are regarded as the same thing, a full-time-job whose successful execution depends on the judge-governor’s personal qualities.“ 31 So Haensch, Vorwort, X. 32 Das hierbei zentrale Petitionswesen wird in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt; maßgeblich hierzu etwa Kelly, Petitions, der einen Überblick über zahlreiche Petitionen bietet und eine aktuelle Liste mit Prozessprotokollen aus römischer Zeit vorgelegt hat (ebd., Appendix III); ebenso zuletzt ders., Requests; Schmidt-Hofner, Staatswerdung, hier: 141 nebst Anm. 9 sowie 142 nebst Anm. 11 bietet eine allgemeine Zusammenstellung weiterführender Literatur zum Petitionswesen der römischen Kaiserzeit und Spätantike; stellvertretend daraus seien genannt Haensch, Bearbeitungsweisen; Hauken, Petition. 33 Hierzu zuletzt Eck, Professionalität. Zur Frage der Professionalität des Richterpersonals im spätantiken Rechtssystem siehe auch Palme, Law, 61; Slootjes, Governor, 47 f., 61 – 68; Harries, Law, 53 – 55, 152 – 160; dies., Accountability, 218; insbesondere zum Terminus der imperitia siehe Peachin, Iudex, 33 – 65. 34 Die Provinzgerichte wurden von einer Flut von Verfahren überrollt, siehe dazu Krause, Geschichte, 81; ders., Gefängnisse, 246 f.; nach Vittinghoff, Gesellschaft, 279 wollte Diokletians dem gerade entgegenwirken: „Um die administrative und jurisdiktionelle Tätigkeit der zivilen Provinzstatthalter effektiver zu gestalten, wurde durch Diokletian […] die Zahl der Außengebiete […] erhöht […].“

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übertragenen Amtspflichten. Abhängig von der in der Forschung immer noch diskutierten Frage, ob in der Spätantike ein Konventssystem oder vergleichbare Einrichtungen noch existent waren35, waren die vielen Funktionen, die sich in der Person des Provinzstatthalters vereinten, zudem in entscheidendem Maße gekoppelt an die gerichtliche „Infrastruktur und Mobilität“36 des Statthalters als obersten Gerichtsherrn. In der Praxis waren die in den Provinzen eingesetzten, vergleichsweise wenigen Amtsträger37 überlastet. Das spätantike Rechtssystem hatte mit den unmittelbaren Konsequenzen, einer Zunahme des bereits zuvor verbreiteten Sportelnwesens38, der nachstehend näher zu behandelnden gratia iudicum39 und damit zu kämpfen, dass es in den Händen von Männern lag, die in Einzelfällen ohne spezifische juristische Ausbildung, mithin indocti40 waren oder aber – wie Ammianus Marcellinus41 berichtete – die Statthalterschaft als Form von Belohnung42 übertragen 35

Dafür, dass das Konventssystem seit Diokletians Reformen obsolet geworden sei und die Provinzstatthalter im Wesentlichen lediglich in den Provinzhauptstädten Recht gesprochen hätten siehe Kaser/Hackl, 1996, 554 f.; vorsichtig Krause, Gefängnisse, 265 („das Konventssystem scheint nicht mehr bestanden zu haben“); Santalucia, Diritto, 272 f.; Lavan, 2001, 46; dagegen wenden sich beispielsweise Ausbüttel, Verwaltung, 106 f.; Haensch, Capita, 11, sowie betreffend für die Provinz Aegyptus ders., Konventsordnung, 322 nebst Anm. 9, 10; Slootjes, Governor, 31 f.; Demandt, Spätantike, 298; Färber, Gerichtsorte, 162 – 165. 36 So formuliert Färber, Gerichtsorte, 162. 37 Dass die Richter teils bis spät in die Nacht Fälle verhandelten, berichtet Libanius (Lib. or. 45,18). Zur These der Überlastung der Amtsträger in der Provinz in der Hohen Kaiserzeit vgl. etwa Haensch, Empereurs. 38 Zu den sportulae siehe insbesondere die Abhandlungen von Palme, Officia; Di Segni/ Patrich/Holum, Schedule; Corcoran, Empire, 239 – 244; Harries, Law, insb. 100 – 101. Siehe auch Veyne, Clientèle, für den sportulae und suffragia wesentliche Bestandteile eines funkionierenden ,Verwaltungssystems‘ darstellen. Schmidt-Hofner, Reagieren, 41 und 44 hat für die Konstitutionen der Kaiser Valentinian und Valens gezeigt, die sich mit sportulae beschäftigten, dass der Kaiser nie das Sportelnwesen im Generellen verboten hat, sondern sich gegen die unzulässige Höhe des Eingetriebenen richtete; Haensch, Fee, 265 sammelte und verglich, anknüpfend an Schmidt-Hofner, die Evidenz der Prozesskosten und Gebühren zwischen Kaiserzeit und Spätantike, was ihn zu dem Schluss veranlasste: „I do not think that the judicial and litigation costs in the early imperial period were fundamentally different from those in late antiquity“ (ebd., 270 f.). Überdies diskutierte er die Sportelnordnung AE 2003, 1808 (= SEG 53, 1841 = CIIP 1197); ders., Korruption, 129 – 133. Vgl. in dem Zusammenhang auch oben zitierte Lukian-Stelle: Bis acc. 14 (o. Anm. 13). 39 Dazu unten ab S. 43 f. 40 Vgl. Amm. 23,6,82 (über die Auswahl der Richter bei den Persern): Ad iudicandum autem usu rerum spectati destinantur et integri, parum alienis consiliis indigentes, unde nostram consuetudinem rident, quae interdum facundos iurisque publici peritissimos post indoctorum conlocat terga …; „Für das Amt des Richters werden aufrechte Männer mit erwiesener Erfahrung ausgewählt, die von anderen keinen Rat brauchen; deshalb lächerlich machen sie unsere Sitte, die zuweilen redegewandte Männer, die sehr gut in öffentlichem Recht sind, hinter den Rücken von ungelernten Richtern stellt …“ 41 Vgl. PLRE, Band I, Ammianus Marcellinus, 547 – 548; zu Ammianus Marcellinus siehe Demandt, Zeitkritik; Vogt, Ammianus; Jenkins, Ammianus. 42 Vgl. Amm. 27,3,2: Terentius enim humili genere in urbe natus et pistor ad vicem praemii, quia peculatus reum detulerat Orfitum ex praefecto, hanc eandem provinciam correctoris

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bekommen hatten. Wenngleich die meisten der dadurch zum Amt gelangten Statthalter den Versuch unternahmen, ihrer Amtsverpflichtung gerecht zu werden, kam es dennoch systembedingt zu gewissen Fehlentwicklungen. Die Amtsträger in den Provinzen fanden sich in einem Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit wieder. Etwa ein Drittel aller im Codex Theodosianus und Justinianus enthaltenen Konstitutionen43 betreffen Administrations-, Gerichts- und Richterpraktiken, insbesondere auch an den Gerichten der iudices ordinarii und ihrer officia, die in der Konsequenz zu einem gesetzlichen Einschreiten des Kaisers führten.44 Die Kommunikation, die notwendig war, um ein funktionierendes Rechts- und Herrschaftssystem zu gewährleisten, war zuweilen empfindlich gestört. Den zuständigen Richtern wurden in den Konstitutionen Eigenschaften zugeschrieben, die das Gegenteil einer u. a. von diligentia, aequitas, comitas und facilitas geprägten, idealen Amtsführung vermuten lassen. Immer wieder tauchen in diesem Zusammenhang dieselben Beschreibungen auf: Den iudices und ihren officiales werden – einzeln oder in Kombination – neglegentia, dissimulatio, avaritia, gratia und iniuria vorgeworfen.

II. Zeitraum, Quellen und Zielsetzung Gegenstand der Untersuchung sind ausgewählte Konstitutionen der römischen Kaiser in der Zeit von Konstantin bis zum Ende der Theodosianischen Dynastie.45 Zur Auswahl der im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu untersuchenden Erlasse administraverat potestate …; „Terentius nämlich, der in dieser Stadt geboren wurde, von niederer Herkunft und Bäcker, hatte als Belohnung, weil er den ehemaligen Präfekten Orfitus wegen Unterschlagung erfolgreich vor Gericht gebracht hatte, mit der Macht eines corrector diese Provinz verwaltet …“ 43 Von dem Terminus ,Konstitution‘ wird in der vorliegenden Arbeit genauso wie von den in der Forschungsliteratur für gewöhnlich verwendeten Termini ,Verfügung‘, ,Erlass‘, ,Norm‘ sowie dem breit verwendeten Begriff des ,Gesetzes‘ ohne signifikanten Unterschied Gebrauch gemacht. Zur Typologie und dem Geltungsanspruch spätantiker Kaisernormen siehe nunmehr die Untersuchung von Riedlberger, Prolegomena, insb. 26 f.; zur korrekten Bezeichnung der im Codex Theodosianus enthaltenen „Gesetzesexzerpte“ siehe ebd., 26; hierzu siehe auch Schmidt-Hofner, Reagieren, 21 – 35, insb. 33 nebst Anm. 59. 44 Vgl. die Listen bei Noethlichs, Beamtentum, 181 und 228; hierauf berufend auch Demandt, Spätantike, 302. Eine große Anzahl an Erlassen, die auf diesen Themenkreis entfallen, entstammt der Regierungszeit Konstantins, was den Schwerpunkt seiner legislativen Tätigkeit reflektiert. So auch Reitzenstein-Ronning, Justice, 268; zuletzt zur Gesetzgebung Konstantins auch Dillon, Justice, insbesondere zu den konstantinischen Konstitutionen, die ,missbräuchliches‘ richterliches Verhalten betreffen siehe ebd., 192 f. sowie 241 f. 45 Ein großer Teil (20 von 50 Konstitutionen) der in der hiesigen Untersuchung behandelten Konstitutionen, entstammt der Amtszeit Kaiser Konstantins: Cod. Theod. II 6,2 (318), I 5,1 (325), I 16,3 (318), XI 30,5 (316), XI 30,6 (316), I 16,7 (331), IX 3,2 (326), IX 3,1 (319), XI 30,2 (313), XI 30,15 (329), XI 30,4 (314), XI 30,11 (313), XI 29,1 (314), XI 29,2 (318), XI 30,1 (314), XI 30,5 (316), XI 30,6 (316), XI 30,8 (319), XI 30,9 (318).

II. Zeitraum, Quellen und Zielsetzung

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wurde insbesondere der Codex Theodosianus46 sowie der Codex Iustinianus herangezogen. Zunächst wurde hierbei in einem breiteren Kontext ein Exzerpt zu allen Konstitutionen erarbeitet, in denen die Rolle des Provinzstatthalters als iudex ordinarius angesprochen bzw. thematisiert wurde. Auf Basis dieses Exzerptes kristallisierten sich mehrere Aspekte heraus, deren Würdigung einzeln lohnenswert wäre, die den gegebenen Rahmen allerdings in ihrer Gänze übersteigen würden. Aus diesen wurde sodann der Themenkreis „Prozessverzögerung, insbesondere durch iudex ordinarius und officium“ herausgegriffen. Die in der vorliegenden Untersuchung thematisierten Konstitutionen stellen damit auch eine Zusammenstellung aller in den Codices zu findenden gesetzlichen Regelungen zu diesem Themenkomplex dar. Allein die Fülle der ebenfalls (zumeist Straf-)Verfahrensverzögerungen betreffenden religionspolitischen Erlasse wurde größtenteils nicht behandelt; nur in Bezug auf die gratia iudicum wurden zwei Erlasse47 in die Untersuchung aufgenommen. Die zu untersuchenden Konstitutionen entstammen einer Epoche, die lange Zeit vom überwiegenden Teil der Forschung als mit zahlreichen Krisensymptomen48 behaftet beschrieben wurde. Festgemacht wurde dies insbesondere auch an der („Korruption“ in der) Verwaltung und dem Gerichtswesen als Hauptgrund für eine Schwächung des Staatsorganismus von innen heraus49 sowie der hieraus resultierenden Zunahme der Kriminalität und insbesondere der „Brutalität“50 der spätantiken Strafgesetze. 46

Zum Codex Theodosianus zuletzt der umfangreiche Abschnitt in der Untersuchung von Riedlberger, Prolegomena, 19 – 248, insb. 153 f. zum Versuch, das von Theodosius II. gesetzte Kriterium der generalitas bei der Zusammenstellung der Gesetzessammlung zu greifen; zur generalitas der im Codex Theodosianus gesammelten Regelungen siehe ebenfalls SchmidtHofner, Reagieren, 21 – 35, der darauf hinweist, dass die im Codex Theodosianus gesammelten Konstitutionen nicht allesamt Normen mit ,generalem‘, im Sinne eines allgemeingültigen, für das gesamte Reich geltenden und zeitlich unbegrenzten Präzedenzcharakters gewesen seien; zur Detailfrage des Publikationserfordernisses spätantiker Kaiserkonstitutionen siehe Kreuzsaler, Publikationserfordernis; grundlegend zum Codex Theodosianus Matthews, Law; Sirks, Code; Honoré, Making sowie Archi, Teodosio; als Textgrundlage für den Codex Theodosianus wurde die Edition von Mommsen verwendet. 47 Cod. Theod. XVI 10,12 (392) und XVI 5,40 (407). Exemplarisch für die in der Forschung ausführlich behandelte Religionspolitik der Kaiser sei hier nur verwiesen auf Noethlichs, Maßnahmen; ders., Revolution; Leppin, Constantin; Hoeflich, Concept; Fargnoli, Faiths; Humfress, Orthodoxy. 48 Beispielhaft seien hier die folgenden Darstellungen genannt: Allen voran Gibbon, History; Christ, Untergang, nebst Literaturangaben, 456 – 487; Seeck, Untergang; Jones, Decline, 43 – 52; Macmullen, Response, insb. 1 – 23 sowie ders., Corruption, insb. 137 – 170; zu den verschiedenen Theorien im Überblick siehe Demandt, Fall. 49 Vgl. Monk, Administration, 779 („the corruption of the bureaucracy […] became a definite factor of the imperial collapse.“); Jones, Civil Service, 50 („the usual absuses of an overripe bureaucracy“); Macmullen, Corruption, 137 – 170. 50 Liebs, Brutalität, in Bezug auf die Gesetze der ersten christlichen Kaiser, insb. 90 f. (Bei Kaiser Konstantin „begegnen uns erstmals Orgien der Brutalität“); dem folgend auch Dinzelbacher/Heinz, Europa, 142 („Charakteristisch für das Strafrecht seit Konstantin […] wurde

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In der überwiegenden Forschung51 ist inzwischen eine Abkehr von der Vorstellung einer allgemein als „krisenbehaftet“ beschriebenen Epoche und eine weitaus differenziertere Sicht auf die Entwicklungen und strukturellen Veränderungen eingetreten. Im Besonderen ist dies Untersuchungen zu verschiedenen Detailbereichen zu verdanken, u. a. auch zur Figur und Amtsführung des iudex ordinarius52 und seines officium53, obgleich die iudices ordinarii vereinzelt54 immer noch generaliter mit den Attributen „korrupt“ und „inkompetent“ versehen werden. Der Themenbereich der verschiedenen Formen von Fehlverhalten aller an spätantiken Gerichtsverfahren Beteiligten – sei es iudex, officium, Parteien – sowie sonstiger mit den Verfahren in Verbindung stehender Personen, ist so vielfältig wie weitläufig und kann nicht in seiner ganzen Fülle zum hier behandelten Gegenstand werden. Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung wird auf dem angeblichen oder realen Fehlverhalten von iudices ordinarii und ihrer officiales liegen. Lediglich vereinzelt werden auch andere Rechtsprechungsorgane diskutiert, insofern als eine Einbindung für die Erklärung zeitlicher Zusammenhänge oder thematischer Parallelen geboten scheint. Die der Untersuchung zugrundeliegenden, ausgewählten Konstitutionen betreffen allesamt unrechtmäßige Handlungspraktiken bei Gericht, formulieren teils Vorwürfe an den direkt angesprochenen, zuständigen Richter oder allgemein, gerichtet an iudices ordinarii und greifen „Missstände“ auf, die

eine merkliche Brutalisierung …“); Macmullen, Corruption, 137 („… the higher level of violence employed by the government …“ Ebd., 137; bezogen auf die iudices ordinarii allgemein: „Their cruelty is explained by the term venalis …“ Ebd., 142; „In the period of the Tetrarchy bridging the passage from the third to the forth century, we cross into what may be called, without mincing words, a barbarous age.“ Ebd., 140). 51 Beispielhaft seien hier diejenigen Arbeiten genannt, die insofern als richtungsweisend bezeichnet werden können: Mainer, Verwandlung; Brown, World; Vittinghoff, Sozialstruktur, 362 f.; Drinkwater, ,crisis‘, CAH XII, insb. 58 – 64. 52 Neuere Untersuchungen zu verschiedenen Einzelaspekten zur Stellung des iudex ordinarius bzw. zur Rolle der Provinzstatthalter und ihrer officia für die Spätantike bieten u. a. Mratschek, Melania, 250 – 268; Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia; Palme, Law, insb. 62 f.; Schmidt-Hofner, Reagieren, 68 f., 137 f. sowie 141 f.; Slootjes, Governor; dies., Benefactor; Meyer, Justice; Weaver, Consilium; Harries, Accountability. 53 Mit den verschiedenen Funktionen, Aufgabenbereichen und Verhaltensweisen der spätantiken officiales beschäftigten sich insbesondere folgende Untersuchungen: allgemein zur Kollektivstrafe siehe Rosen, Iudex; zur individuellen Verantwortlichkeit der officiales und der papyrologischen Evidenz siehe Haensch, Kontrolle, insb. 177 nebst Anm. 1 mit weiterführenden Literaturhinweisen; zur Dokumentation fehlerhafter Verhaltensweisen der officia in der Spätantike vgl. Palme, Prozessprotokolle; ders., Organisation; ders., Presence, hier insb. 254 nebst Anm, 38; ders., Officia, mit weiteren Literaturhinweisen. Zur Existenz von Amtstagebüchern in den spätantiken Statthalterbüros und der Frage, wie lange in nachdiokletianischer Zeit eine Führung von Amstagebüchern nachweisbar ist, siehe Haensch, Statthalterarchive; ders., Statthalterarchiv; für den Herrschaftsbereich Ägypten siehe insb. ders., Protokolle. 54 So beispielsweise bei Lafferty, Law, 147 – 155, der ein Kapitel seiner Studie, das sich u. a. mit dem spätantiken Gerichtswesen beschäftigt, mit „Judicial incompetence and corruption“ überschreibt; auch Garnsey, Status, 207.

II. Zeitraum, Quellen und Zielsetzung

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schlussendlich alle in den breiten Kontext der „Prozessverschleppung“ und fehlenden „Richteraktivität“ zu stellen sind. „Prozessverschleppung“ soll in dieser Untersuchung vornehmlich als jegliche Praktik verstanden werden, durch die von Seiten der iudices, ihrer officia oder der Prozessparteien selbst bewusst und unbewusst eine zeitliche Verzögerung des Verfahrens herbeigeführt wurde. Unter „Verfahren“ ist jedes Verfahren von der Einleitung bis zum „rechtskräftigen“ Abschluss zu verstehen. Mit „Einleitung“ sind alle Arten und Formen gemeint, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt werden konnte. „Richteraktivität“ ist wiederum mit Blick auf die aktive Rolle der spätantiken Richter zu fassen. Der Terminus soll breit verstanden werden und daher nicht nur – wie im modernen Verständnis55 – auf das richterliche Ermessen, dessen Aufklärungs- und Hinweispflichten, sondern vor allem auch auf die Macht der Richter über die konkrete Verfahrensgestaltung und ihre Befugnisse und Pflichten gegenüber den Verfahrensparteien bezogen werden. Der Richter der Spätantike war aktiv an der Verfahrensgestaltung beteiligt und konnte das Prozessgeschehen, den -verlauf und -ausgang nachhaltig beeinflussen. Dies stand nicht nur in engem Zusammenhang mit den Verhaltensweisen der Verfahrensparteien auf der anderen Seite, sondern auch mit dem ihm unterstellten officium. Letzteres sowie dessen Leiter, der princeps officii oder die führenden officiales (primates) hatten als eine Art systemimmanentes Gegengewicht den vorgesetzten Statthalter bei der Durchführung bestimmter Amtshandlungen zu kontrollieren, „Amtsmissbräuchen“ vorzubeugen sowie notfalls selbst einzugreifen. Kamen sie dieser ihnen übertragenen Kontrollpflicht nicht nach und führte dies zu einer unrechtmäßigen Amtshandlung des iudex ordinarius, wurden auch sie im Rahmen einer Reihe von gesetzlichen Regelungen kollektiv zur Verantwortung gezogen.56 Insofern verwundert, dass in keiner der Konstitutionen, die explizit die Bestrafung „missbräuchlich“ handelnder officiales thematisieren, die ranghöchsten „Mitarbeiter“ der Provinzstatthalter (consiliarii) genannt werden. Gerade die consiliarii verfügten über rhetorische sowie juristische Fähigkeiten und Kenntnisse. Sie fungierten daher als hohe, informelle, vertraute Rechtsberater. Ihre Position verschaffte ihnen mitunter sogar die Möglichkeit, irgendwann selbst das Amt eines Statthalters zu bekleiden.57 Aus einem modernen Blickwinkel heraus würde man 55 Hierzu zuletzt etwa die Studie von Tolani, Parteiherrschaft, insb. 472 f. sowie Adloff, Vorlagepflichten, insb. 127 f.; Stürner, Aufklärung, insb. 14 ff.: Der Ausbau richterlichen Ermessens liegt in der häufig festgestellten Tendenz der letzten Jahrzehnte, die Befugnisse des Gerichts bei der Verfahrensleitung zu stärken. Mit dieser Entwicklung verbunden sind erweiterte Befugnisse bei der konkreten Verfahrensgestaltung durch die Gerichte. 56 Dazu oben Anm. 53. 57 Aufstiege von consiliarii zum Provinzstatthalter sind mehrfach belegt, so war beispielsweise Cassiodor in jungen Jahren consiliarius seines Vaters, der zu diesem Zeitpunkt das Amt des praefectus praetorio Orientis bekleidete (DNP, Cassiodor, Sp. 1005); Cassiodor (Cassiod. var. 8,31,1) berichtet ebenfalls von Severus, corrector Lucaniae et Bruttii im Jahr 527 (PLRE II, Severus 16, 1004), der vormals praefectorum consiliis laudabiliter inhaerentem. Hierzu sowie zum Amt des consiliarius in spätrömischer Zeit Mainer, Amtsträger, 124 f.

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erwarten, gerade die juristisch versierten hochrangigen Berater mit Einfluss auf den iudex ordinarius wären vom Gesetzgeber in Haftung zu nehmen gewesen. Erstes zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die verschiedenen Verzögerungspraktiken und Formen von Verfahrensumgehung, insbesondere der zuständigen Richter und ihrer officiales zu schaffen, die in denjenigen Kaiserkonstitutionen thematisiert werden, die Eingang in den Codex Theodosianus gefunden haben.58 Hierbei soll versucht werden, die einzelnen Formen und Vorwürfe zu systematisieren und dabei die wesentlichen (zeitlichen) Zusammenhänge und Veränderungen aufzuzeigen. Ebenso soll auch der Frage nachgegangen werden, ob die in den ausgewählten Konstitutionen angesprochenen Verhaltensweisen in ihrem Auftreten lediglich additiv oder bereits einzeln unzulässig waren. Daran anknüpfend soll zudem herausgearbeitet und so ein Beitrag zur Geschichte der Spätantike geleistet werden, ob die unzulässigen Praktiken mit Blick auf das spätantike Gerichtswesen verallgemeinerbar sind. Kam es generell an den Gerichten der iudices ordinarii in der Spätantike zu vermehrter (unzulässiger) Verfahrensverzögerung und -umgehung? Oder handelte es sich im Gegenteil bei den nachfolgend zu untersuchenden Konstitutionen um eine Häufung von Einzelfällen, denen die kaiserlichen Gesetzgeber nur situativ bedingt Aufmerksamkeit schenkten?

58 Noethlichs, Beamtentum, hat mit seiner Untersuchung zwar eine Auflistung der einzelnen – so betitelt – „amtspflichtverletzenden“ Handlungsweisen vorgelegt; seine Liste zur „Prozessverschleppung“ ist allerdings nicht vollständig. Sein Blick auf die Praxis wird allein durch seine kurze Einführung in den Abschnitt „Prozessverschleppung“ deutlich, in der es heißt (ebd., 165): „Ein besonders leidiges Thema ist die Verzögerung, die bei vielen Prozessen eintritt, weil Richter und Unterbeamte aus Faulheit oder böser Absicht das i. d. R. schon eröffnete Verfahren behindern.“ Er berücksichtigt in seiner Auflistung daher – bedingt durch den Ansatz und das Ziel seiner Studie, das spätrömische Beamtentum unter moderner Begrifflichkeit anzugehen und diverse spätrömische, richterliche Handlungspraktiken unter die heutigen „Dienstpflichtverletzungen“ zu subsumieren – nicht (vollständig) die Verzögerungen im Kontext des neglegentia und gratia-Vorwurfes sowie der ,Rechtsmittelinstanz‘.

B. Von Macht und Zeit: Umgehung des Erkenntnisund Vollstreckungsverfahrens I. Die neglegentia iudicum 1. Terminologie und jurisdiktiver Kontext Die iudices, die zusammen mit ihren officia für die Untersuchung und Entscheidung von Streitigkeiten und damit für die Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung zuständig waren, nahmen für die Funktionalität des Rechtssystems eine entscheidende Stellung ein. Die ansonsten abstrakten gesetzlichen Regelungen wurden erst durch sie in die Praxis umgesetzt. Sorgfalt (diligentia) in der Befolgung der geltenden gesetzlichen Regelungen durch die Richter selbst war der erste Schritt in Richtung eines funktionierenden Rechtssystems oder wie H. L. A. Hart es formuliert, der „minimum content“59 eines funktionierenden, auf niedergeschriebenen Gesetzen basierenden Rechtssystems. Für die iudices und ihre officia galt es also, die verschiedenen zwar niedergeschriebenen, aber bis zur Zusammenstellung im Codex Theodosianus nur ansatzweise systematisierten gesetzlichen Regelungen zu kennen und korrekt anzunwenden. Die diligentia in der Amtsführung der Richter war überdies auch ihr wesentlicher Bewertungsmaßstab. In ihrem Überblickswerk zu Recht und Gesetz in der Spätantike beschreibt J. Harries das Leben eines iudex ordinarius: „His life was also made more difficult in the 380 s and 390 s (if not earlier) by the assimilation of ,negligence, laziness and idleness‘ to other judicial malpractices“60. Der Einschub der zitierten Darstellung „if not earlier“ wird in nachfolgendem Abschnitt zu bestätigen sein. Aus den im Rahmen dieser Arbeit behandelten Konstitutionen lässt sich eine Verwendung des Terminus neglegentia (oder auch negligentia) und anderer Termini aus der Wortfamilie (neglegens, neglexere) in Verbindung mit der jurisdiktiven Amtsführung der Statthalter bereits zu Beginn des vierten Jahrhunderts n. Chr. fassen. Eine erste Häufung einer Verknüpfung des Terminus neglegentia mit der Prozessführung der iudices ordinarii ist in den in den Codices aufgenommenen Konstitutionen Anfang des vierten Jahrhunderts 59 Hart, Concept, 193. Hart argumentiert, dass ein normatives, auf Gesetzen basierendes Gesellschaftssystem auch dann funktionieren kann, wenn lediglich ein kleiner Teil der betreffenden Personen die gesetzlichen Vorschriften zur Anwendung bringt. Werden die Gesetze jedoch auch aufgrund eines nicht vorhandenen oder nicht funktionierenden juristischen Beamtenapparates nicht umgesetzt, so stellt sich die Frage nach deren Effektivität. Zu dieser Problematik siehe die Arbeiten von Fögen, Gesetz; Wieacker, Effektivität; Harries, Law. Für den frühmittelalterlichen Zeitraum siehe Nehlsen, Aktualität. 60 Harries, Law, 162.

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B. Von Macht und Zeit

n. Chr. und damit zur Regierungszeit Kaiser Konstantins zu erkennen. Dies verwundert nicht, da das Aufzeigen von Dysfunktionen im Rechtssystem u. a. als einer der Schwerpunkte seiner legislativen Tätigkeit auszumachen ist.61 Auch seine Nachfolger im Amt führten diese Tendenz fort. Insbesondere nachlässiges (Gerichts-)Verhalten wurde von den Kaisern fortlaufend in ihren Konstitutionen thematisiert. Gleichwohl nur, sofern dieses zu einer prozessualen Verfahrensverzögerung oder falschen Gerichtsentscheidung geführt hatte. a) Culpa, neglegentia et diligentia Der Terminus der neglegentia ist näher zu betrachten. Hier hilft Ulpian, Jurist aus dem frühen dritten Jahrhundert n. Chr., zumindest im Kontext des Privatrechtes weiter, da er sich des Begriffes neglegentia bediente, um lata culpa zu definieren. Nach ihm entsprach „grobes Verschulden“ (lata culpa) einer allzu großen Nachlässigkeit (lata culpa est nimia neglegentia). Nachlässiges Handeln sei dadurch gekennzeichnet, nicht zu wissen und zu beachten, was alle anderen wissen bzw. beachten – non intellegere quod omnes intellegunt62. Auch Paulus, Jurist aus dem frühen dritten Jahrhundert, führte dazu aus: Magna neglegentia culpa est: magna culpa dolus est63. Die culpa64 ist in ihrer spätklassischen Bedeutung jedenfalls als fahrlässiges Verschulden, identisch der neglegentia aufzufassen: Durch Justinian wurde der Terminus der culpa insbesondere synonym für neglegentia bzw. auch desidia benutzt.65 In der Haftungslehre findet sich magna culpa überdies als Äqui61

Siehe dazu oben Anm. 44; vgl. dazu auch Reitzenstein-Ronning, Justice, 268. Dig. 50,16,213,2 (Ulp.). 63 Dig. 55,16,226 (Paul.). 64 Zum Terminus der culpa im römischen Recht siehe, insbesondere zur culpa lata, De Medio, Culpa, 271; Mitteis, Privatrecht, 322 – 336, zur Entwicklung der Begriffsbedeutung culpa ebd., 322 f., zur culpa lata ebd., insb. 333 – 336; zur zivilrechtlichen Haftungslehre (insb. zur culpa-, custodia- und diligentia-Haftung des Entleihers, Pfandgläubigers, Vormunds, Ehemanns, Mandatar und unbeauftragten Geschäftsführer, der Gesellschafter untereinander, von conductor rei und conductor operis sowie dem Verkäufer) siehe Pflüger, Haftung; zu culpa, custodia und diligentia in der Administration siehe Voci, Diligentia, 125 ff. 65 Vgl. Inst. 3,25,9 (im Kontext der Gesellschafterhaftung): Socius socio utrum eo nomine tantum teneatur pro socio actione, si quid dolo commiserit, sicut is qui deponi apud se passus est, an etiam culpae, id est desidiae atque neglegentiae nomine, quaesitum est …; „Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob der eine Gesellschafter dem anderen nur in dem Fall durch die Gesellschaftsklage gehalten werde, wenn er etwas mit Arglist unternahm, so wie der, welcher bei sich etwas hinterlegen ließ, oder auch wegen Schuld, d. h. Fahrlässigkeit und Nachlässigkeit? …“ Siehe auch Inst. 3,14,3 (im Kontext der sog. Hinterlegung): Praeterea et is, apud quem res aliqua deponitur, re obligatur et actione depositi, qui et ipse de ea re quam accepit restituenda tenetur. Sed is ex eo solo tenetur, si quid dolo commiserit, culpae autem nomine, id est desidiae atque neglegentiae, non tenetur …; „Außerdem wird auch der, bei dem eine Sache hinterlegt wird, durch die Sache verbindlich, und mit der Hinterlegungsklage gehalten; auch er wird zur Zurückgabe der empfangenen Sache selbst verpflichtet. Derselbe wird aber nur dann zum Ersatz verbindlich, wenn er etwas mit böser Absicht zum Schaden der Sache unternommen 62

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valent zum dolus.66 Schon K. Binding führte dazu aus: „Es ist eben der dolus ein Wille, der sein Ziel fest ins Auge fasst, während die culpa bei ihm unbewusst anzulangen pflegt: jener ist ein Wollen, diese scheinbar ein Nichtwollen, eine Lässigkeit: negligentia.“67 Neglegentia wird somit mit einer Unachtsamkeit bzw. unbewussten Fahrlässigkeit68, mithin als Verletzung der Pflicht zur Sorgfalt definiert und zumeist mit „Nachlässigkeit“ sowie „Versäumnis“ übersetzt.69 Ein „Willenselement“ wird ihr abgesprochen. Daher wurde die neglegentia auch als Unterscheidung und Gegensatz zur diligentia verstanden.70 Auf die diligentia im Sinne einer sorgfältigen Verfahrensdurchführung wurde bereits seit Augustus besonderer Wert gelegt. Insbesondere bei der Durchführung von Entscheidungen in der „Berufungsinstanz“71 ist die diligentia bereits in der frühen Kaiserzeit als wesentliches Entscheidungskriterium erkennbar.72 Nicht zuletzt wurde auch in den literarischen hat, wegen Schuld, d. h. aus Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit, wird er nicht dazu verbindlich …“ 66 Vgl. im Kontext der Bürgschaftsklage/Auftragsklage, Dig. 17,1,29pr. (Ulp.): Si fideiussor conventus, cum ignoraret non fuisse debitori numeratam pecuniam, solverit ex causa fideiussionis, an mandati iudicio persequi possit id quod solverit, quaeritur. Et si quidem sciens praetermiserit exceptionem vel doli vel non numeratae pecuniae, videtur dolo versari (dissoluta enim neglegentia prope dolum est): ubi vero ignoravit, nihil est quod ei imputetur …; „Wenn ein Bürge auf erhobene Klage seiner Bürgschaft wegen bezahlt, da er nicht wusste, dass dem Schuldner das Geld nicht ausgezahlt worden war, so ist die Frage, ob er das Gezahlte mit der Auftragsklage einklagen könne. Und zwar erscheint, wenn er die Ausflucht des Betruges oder des nicht gezahlten Geldes wissentlich hat fallen lassen, seine Handlungsweise als unredlich; denn die höchste Nachlässigkeit steht der Unredlichkeit nahe: hat er es hingegen nicht gewusst, so kann ihm nichts zur Last gelegt werden …“ Vgl. auch im Kontext der Hinterlegung einer Sache bei einem Freund, Dig. 44,7,1,5 (Gai.): … Magnam tamen neglegentiam placuit in doli crimine cadere.; „… Große Nachlässigkeit hat man aber als Verbrechen der Arglist gleichstehend erachtet.“ 67 Binding, Normen, 769 f. 68 Vgl. Deutsch, Fahrlässigkeit, 10 f. 69 Vgl. Kunkel, Diligentia, 336 nebst Anm. 3. 70 Vgl. Berger, Dictionary, 593. Zum Gegensatz von diligentia und culpa siehe Kunkel, Diligentia, 268 ff., zur neglegentia (deren Evidenz in diversen Digestenstellen) als Gegensatz zur diligentia ebd., 314 ff.: „[Die neglegentia ist] in der Hauptsache eine Spiegelung der nachklassischen Diligenzpflicht.“ 71 Die in der vorliegenden Untersuchung verwendeten Begrifflichkeiten ,erst- und zweitinstanzlich‘, ,Instanz‘, ,Berufungsinstanz‘, ,Rechtsmittelinstanz‘ sowie ,Instanzenzug‘ sollen keinesfalls wie im modernen Verständnis aufgefasst werden. Ein streng hierarchisch gegliedertes mehrstufiges Verfahren, das starre Zuständigkeiten der einzelnen Richter als ,Instanzen‘ implizierte, ist gerade nicht auf die (spät-)römische Zeit übertragbar. Die Verfasserin geht aber – wie bereits Wankerl, Appello, 235 bezogen auf Berufungsentscheidungen in der Kaiserzeit – davon aus, dass die Tendenz der Kaiser, einen ordnungsgemäßen Verfahrensweg zu etablieren, der im Grundsatz einzuhalten war, auch in den spätantiken Kaiserkonstitutionen vermehrt hervortritt. Dass dieser Verfahrensweg allerdings von diversen ,Ausnahmen‘ geprägt war und trotz allem weiterhin die Möglichkeit existierte, den Kaiser direkt anzurufen, zeigt gerade das nachstehend auf S. 168 behandelte Cod. Theod. XI 30,6 (316). 72 Dies hat Wankerl, Appello, 16, 237 besonders für Augustus sowie Marc Aurel herausgestellt.

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Quellen stets explizit hervorgehoben, wenn ein Kaiser (in jurisdiktivem Kontext) diligens gehandelt hatte.73 Im Gegensatz dazu diente der Vorwurf der neglegentia über die Jahrhunderte hinweg wiederholt dazu, allgemein Verfehlungen der Amtsinhaber in der Prozessführung und Rechtsprechung zu adressieren. In der kaiserzeitlichen sowie spätantiken Literatur wurde neglegentia des Öfteren für die Passivität in der Amtsführung eines Herrschers bzw. einer obrigkeitlichen Person, insbesondere auch in Bezug auf die Verweigerung rechtlichen Gehörs, verwendet:74 Plinius der Jüngere hielt für seine Ernennung zum consul suffectus am 1. September des Jahres 10075 eine Dankesrede (Panegyricus Traiano imperatori dictus76) an den Kaiser Trajan. Darin thematisierte er unter anderem wünschenswerte Eigenschaften eines Princeps77 und stellte in diesem Rahmen die Notwendigkeit heraus, zum einen eine gute Amtsführung der Vertreter Roms in den Provinzen, d. h. der Statthalter, zu 73 So wählte beispielsweise Sueton den Begriff diligentia um die Ausübung der Richterfunktion durch Augustus zu beschreiben (Suet. Aug. 33,1): dixit autem ius non diligentia modo summa sed et lenitate …; „Recht sprach er nicht nur mit höchster Sorgfalt, sondern ließ auch höchste Milde walten …“ Auch Mark Aurel wurde als diligens in der Historia Augusta beschrieben (SHA Aur. 10,10): Iudiciariae rei singularem diligentiam adhibuit.; „Der Rechtspflege schenkte er besondere Aufmerksamkeit.“ Auch Hadrian legte Wert auf diligentia bei der Rechtspflege und zeichnete sich selbst als diligens aus (SHA Hadr. 21,1): De iudicibus omnibus semper cuncta scrutando tamdiu requisivit, quamdiu verum inveniret.; „Von allen Richtern hat er – immer alles nachforschend – solange gesucht, bis er die Wahrheit gefunden hatte.“ (SHA Hadr. 22,5): diligentia iudicis sumptus convivii constituit et ad anticum modum redegit.; „Mit der Sorgfalt eines Richters bestimmte er die Kosten des Gastmahls und führte sie auf das alte Maß zurück.“ Auch Antoninus Pius’ Herrschaft, u. a. seine Richtertätigkeit, wurde wie folgt beschrieben (SHA Pius, 7, 1): tanta sane diligentia subiectos sibi populos rexit, ut omnia et omnes, quasi sua essent, curaret. provinciae sub eo cunctae floruerunt.; „Mit einer solchen Sorgfalt regierte er seine Reichsuntertanen, dass er alles und alle so betreute, als handelte es sich um seine eigenen Angelegenheiten. Alle Provinzen standen unter seiner Herrschaft in Blüte.“ Über Diokletian schrieb Eutropius (Eutr. brev. 9,26): … diligentissimus tamen et sollertissimus princeps …; „… ein höchst sorgfältiger und geschickter Princeps …“ Über Julian (Eutr. brev. 10,16,3): … In amicos liberalis, sed minus diligens quam tantum principem decuit …; „… Gegen seine Freunde war er freigiebig, aber (bei ihrer Auswahl) weniger sorgfältig, als einem so großen Princeps geziemt hätte …“ 74 So beispielsweise der Auszug aus der Claudiusvita des Sueton (Suet. Claud. 40,1), worin Sueton Claudius charakterisierte und hervorhob, wie der Princeps häufig neglegens handelte: Sermonis vero rerumque tantam saepe neglegentiam ostendit, ut nec quis nec inter quos, quoue tempore ac loco uerba faceret, scire aut cogitare existimaretur.; „Er legte auch in der Sprache und gegenüber der jeweiligen Situation oft eine solche Nachlässigkeit an den Tag, dass man den Eindruck hatte, er wisse oder berücksichtige weder, wer er sei, noch zu wem, zu welcher Zeit und an welchem Ort er eigentlich spreche.“ Auch Commodus wurde in der Ausübung seiner Amtspflichten als neglegens charakterisiert wurde (SHA Comm. 13,7): ipse Commodus in subscribendo tardus et neglegens, ita ut libellis una forma multis subscriberet …; „Commodus selbst war im Unterschreiben dermaßen träge und nachlässig, dass er unter viele an ihn gerichtete Anfragen einen und denselben Bescheid setzte …“ 75 So Strobel, Laufbahn, 45. 76 Weiterführend hierzu Reitzenstein-Ronning, Herrscherpanegyrik, insb. 24 – 129; Woytek, Panegyricus; Radice, Pliny, 166. 77 So auch Wehmann, Plinius, 55 f.

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belohnen sowie zum anderen schlechtes Verhalten zu bestrafen. Dem Princeps selbst sollte insofern keine neglegentia vorzuwerfen sein.78 Hinsichtlich der Kombination von neglegentia und dem Medium „Zeit“ ist zudem ein Blick in Senecas diesbezügliche Ausführungen zu werfen: Im ersten seiner Briefe an Lucilius (sog. „Programmepistel“79), antwortete er auf ein Schreiben des Lucilius und ging dabei auf das von diesem angesprochene Thema Zeit80 ein. Seneca81 postulierte, dass darauf Acht zu geben sei, dass die Zeit nicht verloren gehe, sondern bewahrt werde. Dabei sei der Zeitverlust durch neglegentia, der sich in den folgenden drei Varianten äußere, jedenfalls der schlimmste: Entweder man handele moralisch schlecht oder mache nichts, oder etwas anderes, als man eigentlich verpflichtet sei, zu tun.82 Sicherlich ging es Seneca hier um die Grundzüge und die Gestaltung einer philosophischen Lebensführung, allerdings lässt sich die dreigeteilte Beschreibung der neglegentia und der damit einhergehende Gedankengang auch auf den Vorwurf übertragen, der an anderer Stelle gegenüber den Kaisern als obersten Richtern sowie insbesondere den iudices ordinarii formuliert wurde. Auch die iudices ordinarii waren angehalten, ihrer amtsimmanenten Sorgfaltspflicht83, der diligentia, gegenüber den Provinzbewohnern nachzukommen. Verstieß ein Provinzstatthalter gegen seine richterlichen (Amts-)Pflichten, handelte er nicht diligens, sondern neglegens und damit – rechtlich gesehen – fahrlässig.84 Eine Thematisierung der neglegentia der iudices in der Prozessführung im Kontext „Zeitverlust“ begegnete uns bereits in oben dargestelltem Auszug aus dem Werk 78 Plin. paneg. 70,7: Ita eadem illa seu neglegentia seu malignitas principum, cum male consultis impunitatem, recte factis nullum praemium polliceretur, nec illos a crimine et hos deterrebat a laude.; „So hat jenes Verhalten der Prinzipes – ob aus Nachlässigkeit oder aus Bosheit, es kommt auf dasselbe heraus – üblen Absichten Straflosigkeit garantiert, rechten Taten dagegen keine Aussicht auf Belohnung eröffnet, und hat so die einen nicht vom Verbrechen abgehalten, wohl aber die anderen vom Bemühen um Ruhm.“ Übersetzung nach Kühn, Plinius, 141. 79 So u. a. Blänsdorf/Breckel, Paradoxon, 24. 80 Zu Senecas Zeitbegriff siehe Blänsdorf/Breckel, Paradoxon; Grimal, Seneca. 81 Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zu Person und Werk des Lucius Annaeus Seneca sei verwiesen auf die biographische Studie von Fuhrmann, Seneca. 82 Sen. epist. 1,1: Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat, collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse, ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et si volueris adtendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.; „Mache es so, mein Lucilius; rette Dich Dir selbst; sammle und bewahre die Zeit, die Dir jetzt bald geraubt, bald entwendet wurde, bald entschlüpft ist. Glaube mir, es ist so, wie ich schreibe: ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer unbemerkt entzogen, ein anderer zerrinnt uns. Doch der schimpflichste Verlust ist der, der durch Nachlässigkeit geschieht; und betrachten wir es genauer, so entgleitet den Menschen der größte Teil der Zeit, indem sie Übles tun, ein großer, indem sie nichts tun, das ganze Leben, indem sie andere Dinge tun, als sie sollten.“ 83 Meyer, Herrschaftsstrukturen, 170. 84 So Kaser/Knütel, Privatrecht, 228.

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Lukians von Samosata.85 Selbst knapp 200 Jahre nach dieser bildreichen Schilderung zeigt ein Blick in das Werk des Libanius86, Rhetor aus Antiochia, dass auch Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr. Statthalter in Einzelfällen der zeitlichen Verzögerung von Verfahren bezichtigt wurden: Insgesamt 14 Reden bzw. als Reden aufgebaute Essays zu speziellen Themen richtete Libanius zwischen den Jahren 379 und 392 an Kaiser Theodosius I. Keines der Werke wurde jedoch von Libanius direkt in Gegenwart des Kaisers vorgetragen87, sodass auch unklar bleibt, ob der Kaiser je von Libanius’ Reden und insbesondere auch seiner Person selbst Kenntnis genommen hat.88 Viele seiner Reden spiegeln Libanius’ häufige Auseinandersetzung mit immer neuen Provinzstatthaltern89 als Vertreter der zentralen Reichsgewalt wider, wobei er wiederholt als redegewandter Verteidiger von „Benachteiligten“ auftrat.90 Libanius zeichnete in diesen Reden den Kaiser als Quelle und Hüter des Rechts und der Gesetze. So berief er sich wiederholt auf die geltende Rechtslage, die er aus bestimmten Gesetzen ableitete, und forderte den Kaiser auf, den bestehenden Gesetzen zu ihrer Effektivität und Umsetzung zu verhelfen.91 Er hielt den Kaiser jedoch auch dazu an, gegen Praktiken vorzugehen, die Libanius als missbräuchlich empfand.

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Dazu siehe oben S. 13 ff. Zur Person des Libanius, Leben und Werk siehe die Ausführungen von Wintjes, Leben; ebenso siehe Nesselrath, Libanios; ders., Einführung. Knappe Überblicke über sein Leben und Werk bieten ebenso Foerster/Münscher, Libanios; Liebeschuetz, Antioch, 1 – 39. Eine selektive Behandlung von Libanius Verhältnis zu einzelnen Kaisern liefert die Untersuchung von Swain, Sophists. Zu Libanius als „rhetorisch versierte[m] Intellektuelle[n]“ siehe Stenger, Identität, insb. 239 f. sowie unten Anm. 89. 87 Dies ist allein darin begründet, dass sich Theodosius und Libanius wohl nie persönlich begegneten. Der aus dem Nordwesten der iberischen Halbinsel stammende Theodosius zog – soweit bekannt – zu keiner Zeit an die Ostgrenze seines Reiches und bezog mithin nie in Antiochia am Orontes seine Residenz. Vgl. dazu auch die Übersicht über die Quellen bei Ernesti, Princeps. 88 Hierzu siehe die Untersuchung von Wiemer, Kaiser, 127 – 158; zu Theodosius insb. ebd., 139 – 144. 89 Stenger, Identität, 239 führt dies darauf zurück, dass Libanius davon ausgegangen sei, er sei als „rhetorisch versierte[r] Intellektuelle[r] prädestiniert, das Betragen hoher Beamter zu beurteilen.“ Kritik übt Libanius an diversen Statthaltern: vgl. in or. 4 (gegen Eutropius); or. 10 (gegen den Statthalter Proclus); or. 27 – 29 (gegen den Statthalter Icarius); or. 32 (gegen den Statthalter Thrasydaius); or. 33 (gegen den Statthalter Tisamenus – wie unten u. a. auf S. 31 f. behandelt); or. 46 (gegen den Statthalter Florentius); or. 56 (gegen den Statthalter Lucanius); or. 57 (gegen den Statthalter Severus). 90 So beispielsweise auch in seiner aus dem Jahr 385 stammenden or. 50 (,Zugunsten der Bauern über die Zwangsarbeiten‘). 91 So auch Wiemer, Kaiser, 147; der modernen Forschung fällt es insofern schwer, die von Libanius in Bezug genommenen Konstitutionen mit den im Codex Theodosianus enthaltenen Fragmenten in Verbindung zu setzen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass zum einen nicht alle damals bekannten, geltenden Erlasse Eingang in den Codex gefunden haben, zum anderen auch daran, dass sie zur Zeit der Kompilation nicht mehr bekannt waren. Der Versuch von Norman, Libanius, die Erlasse zu identifizieren, ist über weite Strecken mit Vorsicht zu betrachten. 86

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Explizit auf den consularis Syriae Tisamenus92 bezogen, griff Libanius den Kritikpunkt der Nachlässigkeit in der richterlichen Amtsführung auch in seiner Rede „gegen Tisamenus“ (or. 33)93 auf, die als Pamphlet bezeichnet werden kann.94 Libanius wirft diesem in seiner Funktion als Provinzstatthalter vor, dass er nicht nur inkompetent und nachlässig in der Ausübung der Jurisdiktion war, sondern auch versuchte, diese durch verschiedene Verhaltensweisen zu unterbinden. War er dennoch gezwungen, eine Anhörung durchzuführen, versuchte er diese durch unsinniges Gerede hinauszuzögern und die Parteien dadurch zu zwingen, eine erneute Anhörung zu beantragen (Lib. or. 33,10): )kk( 1je?se 1p²meili, fti lec¸stg ta?r d¸jair %mhqypor ortos· bk²bg. C c±q 1p( %kka %tta jatave¼cei ta¼tar !ve·r C dij²sai jatamacjashe·r 1m t` vkuaqe?m !m²kyse t¹m wqºmom aqtoO l³m oq tokl_m ûxashai toO pq²clator, j¼jk\ d³ peqieqwºlemor ja· oute ox t¹ d¸jaiºm 1stim Qde?m 5wym oute siyp÷m aRqo¼lemor !kk± N´ym !wq¶st\ Ne¼lati oV\ t² te §ta !mi÷sai ja· jºxai to?r sumd¸joir to»r pºdar. !mt· d³ toO t´kor fgte?m ja· cm¾sei st/sai tµm d¸jgm !pop´lpei p²kim eQsºdou degsol´mour taqt¹ ja· aqt/r peisol´mgr oq teunol´mgr t´kour. „But I revert to the point that this fellow is the greatest stumbling block to the administration of justice. Either he turns his back on it and seeks refuge in other business, or if he is compelled to hold court, he wastes his time on drivel, not daring to handle the actual case, but skirting all round it, incapable of seeing where justice lies and refusing to keep his mouth shut. He burbles in a pointless flood of words so as to distress the ears and weary the feet of the lawyers. And instead of seeking a conclusion and bringing the case to an end by reaching a decision, he sends them off so that they need another audience, which in its turn will be treated in the same way and reach no conclusion.“95

Libanius warf Tisamenus vor, große und komplizierte Verfahren zu meiden, Unprofessionalität an den Tag zu legen, sich lieber mit trivialen Rechtsfällen96 zu beschäftigen und damit das Rechtssystem zu untergraben.97 Gerade die Verweigerung rechtlichen Gehörs und die daraus resultierende zeitliche Verzögerung der (Straf-)Rechtsfälle kritisierte Libanius, da diese mitunter das Leben des (inhaftier92 Vgl. PLRE, Band I, Tisamenus, 916 f.; Tisamenus war consularis Syriae im Jahr 386. Zu seiner Karriere schildert Libanius, dass er vor seinem Amt als consularis Syriae bereits anderswo (Ort wird nicht näher benannt) das Amt des praeses innehatte (or. 33,4 – 6). Zu Tisamenus und seiner Karriere siehe auch Petit, Fonctionnaires, 256; ebenso Downey, Study, 17. 93 Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten und einer Zusammenstellung siehe Carrié, Gouverneur, 25 – 27. 94 So Matter, Libanios, 55: „… c’est un des discours auquel conviendrait le mieux le terme de pamphlet“. Matter, ebd., geht davon aus, dass es sich hierbei um eine Streitschrift im Gerichtskontext gehandelt habe: „l’or. 33 paraît moins richement composée pour avoir été envoyé à la cour“. Cabouret, Gouverneurs, 78 dagegen nimmt an, dass or. 33 aufgrund ihres sehr kontroversen Charakters möglicherweise nur einem selektiven Freundeskreis gewidmet war. 95 Engl. Übersetzung von Norman, Libanius, 203. Alle nachfolgend zitierten Ausschnitte aus den Reden Libanius’ werden mit selbiger Übersetzung angegeben. 96 Lib. or. 45,18. 97 So auch Harries, Law, 156.

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ten) Angeklagten bedrohten.98 In den Augen des Libanius hatte der Kaiser im Inneren für Ruhe und Ordnung zu sorgen, indem er Gesetze erließ und für deren Durchführung sorgte. Insofern war er auf die Provinzstatthalter angewiesen, die in seinem Namen Recht sprachen und Gesetzesverstöße ahndeten.99 Kamen sie dem nicht nach, verletzten sie ihre Amtspflichten und sollten vom Kaiser streng bestraft und möglicherweise auch abgesetzt werden.100 Tisamenus war daher für Libanius eine wahre Fehlbesetzung, weshalb er gleich zu Beginn der Rede den Adressaten, Kaiser Theodosius, darum bat, ein Auge auf diesen zu haben101 und ihn bestenfalls abzusetzen.102 Dass dies mitunter eine Konsequenz war, mit der ein iudex ordinarius rechnen musste, sollte er sich Ähnliches vorwerfen lassen müssen, wird anhand der Konstitution Cod. Theod. I 5,9103 vom 2. März 389104, adressiert an den praefectus praetorio Orientis Tatianus105 deutlich. Letzteren106 wies Kaiser Valentinian II. auf sein Recht und die Verpflichtung hin, Provinzstatthalter ihres Amtes zu entheben für den Fall, dass sie sich durch corpore marcentes et neglegentes desidiae somniis oscitantes auszeichneten.107 Die Tatsache, dass ein Richter für sein Verhalten bestraft 98

Dazu siehe unten die Ausführungen auf S. 86, 101 f. Vgl. auch or. 51,3 sowie or. 50,27. 100 Zur Absetzung von Statthaltern durch den Kaiser siehe z. B. die Schilderungen in Lib. or. 2,41; or. 28,5; or. 33,1 und 43; or. 45,12 und 33. 101 Vgl. Lib. or. 33,1: … 1q_ d³ pq¹r s³ peq· to¼tym, oqw fpyr k²boir t_m pepqacl´mym d¸jgm !kk( fpyr lµ pke¸y jaj± dq²seiem 1p· t/r !qw/r l´mym.; „… I shall tell you of these matters, not for you to punish him for what he has done, but to ensure that he may do no more harm by remaining in office.“ 102 Vgl. Lib. or. 33,33: ToOtom owm 1\seir %qweim, di’ dm pokko· m³m aduqmo_, pokko· d³ hq/moi, pokk± d³ d\jqua, pokk± d³ jat± t_m he_m N^mata; „So will you let this fellow remain as governor, when because of him there is many a moan and groan and tear, and many a cry rising up to heaven?“ Matter, Libanios, 57 f., zieht daraus den Schluss, dass Libanius ein gutes Verhältnis mit dem Kaiser haben musste, da es sich hierbei um eine mutige Aussage handele. Dies widerspricht jedoch der Bemerkung Wiemers, Kaiser, 127 – 158, der ein persönliches Verhältnis zwischen Libanius und Theodosius I. in Abrede stellt (dazu s. oben S. 30 nebst Anm. 88). 103 = Cod. Iust. I 26,3 (389). 104 Cod. Theod. I 5,9 (389): … si quos iudices corpore marcentes et neglegentes desidiae somniis oscitantes, si quos servilis furti aviditate degeneres vel similium vitiorum labe sublimitas tua reppererit involutos, in eos vindictam publicae ultionis exaggeret et amotis vicarios subroget, ut ad nostrae mansuetudinis scientiam non crimina, sed vindicta referatur.; „… Wenn Du in deiner hohen Stellung dich davon überzeugt hast, dass Personen, die richterliche Ämter bekleiden, entweder wegen körperlichen und langwierigen Übelbefindens oder wegen Nachlässigkeit oder Veruntreuung oder einem anderen Mangel zur Verwaltung ihrer Ämter unfähig sind, so magst du dieselben ihrer Ämter entsetzten, an ihren Platz andere anstellen, die Unredlichen mit den gesetzlichen Strafen belegen und Unserer Hoheit über die verhängten Strafen, nicht aber über die begangenen Verbrechen Bericht erstatten.“ 105 Zu seiner Person siehe PLRE, Band I, Fl. Eutolmius Tatianus 5, 876 – 878. Zu diesem siehe auch Scharf, Familie, 225 f. 106 Vgl. auch Dillon, Justice, 192. 107 Die praefecti praetorii waren unter anderem auch dafür zuständig, die Provinzstatthalter in ihr Amt einzusetzen vgl. Jones, LRE, 391 – 392; Liebeschuetz, Antioch, 111; siehe auch die 99

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bzw. haftbar108 gemacht wurde, ist aber keine Neuerung: Die strafrechtlichen Auswirkungen auf die Richter selbst mögen zwischen Kaiserzeit und Spätantike variieren109, die jeweiligen Straf- und Haftungsandrohungen gegen sie nehmen in den gesetzlichen Regelungen allerdings durchwegs eine wichtige Stellung ein und zeugen von der diligentia der Kaiser bei der Rechtspflege und ihrem Ideal der Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung. 2. Die neglegentia iudicum im Codex Theodosianus Im Codex Theodosianus findet sich der Terminus neglegentia sowie andere Termini aus der Wortfamilie (neglegens, neglegere110) circa 130 Mal, wobei nur Konstitution von Kaiser Theodosius II. an den praefectus praetorio Orientis Florentius, Cod. Iust. IX 27,6 (439): Sancimus eiusmodi viros ad provincias regendas accedere, qui honoris insignia non ambitione vel pretio, sed probatae vitae et amplitudinis tuae solent testimonio promoveri, ita sane ut, quibus hi honores per sedis tuae vel nostram fuerint electionem commissi, iurati inter gesta depromant se pro administrationibus sortiendis neque dedisse quippiam neque daturos umquam postmodum fore, sive per se sive per interpositam in fraudem legis sacramentique personam, aut donationis venditionisve titulo aut alio velamento cuiuscumque contractus, et ob hoc exceptis salariis nihil penitus tam in administratione positos quam post depositum officium pro aliquo praestito beneficio tempore administrationis, quam gratuito meruerint, accepturos …; „Wir ordnen an, dass solche Männer die Verwaltung der Provinzen übernehmen, die zu den Zeichen ihrer Würde nicht durch Erschleichung oder Bestechung, sondern durch das Zeugnis eines rechtschaffenen Lebenswandels und deiner selbst befördert wurden, so dass dienjenigen, welchen diese Würden durch die Wahl deiner Amtsstelle oder die Unsrige übertragen worden sind, mit Eid zu den Akten bekräftigen, dass sie für die Erlangung ihrer Verwaltungsstelle weder etwas gegeben haben, noch in der Zukunft jemals etwas, weder selbst, noch durch eine Mittelsperson, zur Umgehung des Gesetzes und des Eides geben werden, weder unter dem Titel des Verkaufs oder der Schenkung, noch unter dem Deckmantel irgend eines anderen Vertrages, und dass sie deshalb, ausgenommen allein ihr Gehalt, so wenig wie sie während der Zeit ihres Amtes, das sie unentgeltlich übernehmen, auch nach Niederlegung desselben, für irgend eine in der Zeit ihrer Verwaltung geleistete Wohltat etwas annehmen werden …“ Zum auch hier thematisierten crimen ambitus siehe zuletzt die Untersuchung von Trisciuoglio, Crimen; insb. 67 f. 108 Zur Haftung des Richters siehe auch das Kapitel „The liability of the judge“ bei Harries, Law, 161 – 163; ebenso dies., Accountability, insb. 223 f. 109 Zur Diskussion um die Haftbarkeit von Richtern in der Republik und im Prinzipat bis hin zum dritten Jahrhundert siehe MacCormack, Liability, insb. zu den Zwölftafelgesetzen ebd., 25. Zur frühmittelalterlichen Regelung siehe unten S. 43 nebst Anm. 156. 110 Die Häufung der Verwendung des Terminus vindicare neglexerit im Kontext der ,Religionsgesetzgebung‘ wird vorliegend nicht näher besprochen. In den Codex Theodosianus wurden über 100 gesetzliche Regelungen aufgenommen, die sich gegen die ,paganen Riten‘ und die alten Glaubensrichtungen sowie gegen die Abspaltungen von der ,christlichen Glaubenslehre‘ richteten. Hierunter befinden sich immerhin acht Gesetze (Cod. Theod. XVI 10,4; 346 [354], XVI 10,10; 391, XVI 10,11; 391, XVI 10,12; 392, XVI 10,13; 395, XVI 5,46; 409, XVI 5,65; 428; ergänzend zu nennen ist Cod. Iust. I 5,20; 531), die sich mit der Rolle des Provinzstatthalters in der Durchsetzung der ,neuen christlichen Religionspolitik‘ und der Zurückdrängung paganer Kulte und häretischer Abspaltungen befassten und sich konkret gegen angeblich vollstreckungsverzögernde Handlungen der Statthalter richteten. Den Provinzstatthaltern wurde in den vorgenannten Gesetzen vorgeworfen, eine Bestrafung der Straftaten zu

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knapp ein Sechstel davon richterliches Verhalten im Kontext eines Gerichtsverfahrens betrifft. Die meisten dieser Kaiserkonstitutionen fallen in den Zeitraum zwischen 318 und 409.111 Nachstehend werden hiervon drei Konstitutionen112 untersucht, die sich explizit mit der neglegentia im Rahmen des Erkenntnisverfahrens beschäftigen und darin in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Verzögerung des Verfahrens und mangelnder Richteraktivität stehen. Wann wurde es notwendig, auf die neglegentia als Gegenteil des kaiserlichen Ideals in der Rechtspflege hinzuweisen? a) Fragestellung Am 24. Oktober 318113 erließ Kaiser Konstantin eine Konstitution, die uns in zwei Fragmenten (Cod. Theod. II 6,2 und Cod. Theod. I 16,3) überliefert ist und uns den Fall des „nachlässigen“ Statthalters der Provinz Korsika, Furius Felix (?)114, schildert. Im ersten Fragment wurde insbesondere eine unterlassene Anhörung thematisiert (Cod. Theod. II 6,2): si petitores probaverint, interpellantes se saepius esse dilatos, atque ita lapsum temporis incurrisse per negligentiam atque desidiam, gravitate tua audientiam differente, indemnitas petitorum pro modo litis, quae in altercationem fuerit adducta, de tuis facultatibus sarciatur. „Wenn die Kläger beweisen können, dass sie – obwohl sie sich wiederholt mit ihren Bitten an Dich gewandt haben – von Dir wiederholt zurückgewiesen wurden und auf diese Weise mit der Verjährung bestraft wurden durch Nachlässigkeit und Untätigkeit, da die Anhörung durch Deine Erhabenkeit verzögert wurde, sollst Du für den Schaden, den sie in dem angestrebten Verfahren eingeklagt hätten, mit Deinem Privatvermögen haften.“

Im ersten Teil des Fragments thematisierte Kaiser Konstantin eine Situation, die wohl auf eine Beschwerde gegen den Statthalter selbst zurückging. Die zugrundeliegende Situation war mutmaßlich folgende: Potentielle Klägerparteien hatten sich bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen mit einer Bitte um Anhörung an das statthalterliche Gericht gewandt. Der zuständige Statthalter kam der Bitte jedoch wiederholt nicht nach und unterband so ein Klageverfahren. Dadurch, dass der Statthalter eine maßgebliche Anhörung wiederholt verweigerte, verstrich die Frist, innerhalb derer die Partei ihren Anspruch auf dem Klageweg geltend machen konnte. In der Konsequenz trat Verjährung ein. Infolgedessen richteten sich die Kläger vermutlich direkt115 an den Kaiser. vernachlässigen. Weiterführend zur Rolle der iudices ordinarii explizit in diesem Kontext siehe (wohl jedoch teilweise zu verallgemeinernd) die Studie von Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia. 111 Hierzu siehe vorstehende Anm. 112 Cod. Theod. II 6,2 (318), I 16,3 (318), I 5,1 (325). 113 Zur Datierung siehe Seeck, Zeitfolge, 221; so auch Barnes, Empire, 74 sowie 166. 114 Barnes, Empire, 166, nimmt an, dass Felix identisch ist mit dem Statthalter Furius Felix, adressiert in Cod. Theod. II 11,1 (320), so auch PLRE 1, Felix 1, 331. In Cod. Theod. II 11,1 (320) wird an Furius Felix adressiert, es fehlt jedoch eine Amtsbezeichnung. 115 Zum Petitionswesen siehe oben Anm. 32.

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Maßgeblich für die Einleitung eines Verfahrens vor dem statthalterlichen Gericht war die Ladung, die im vierten Jahrhundert n. Chr. zwar im Kern noch eine private Ladung war, durch die gerichtliche Autorität nunmehr aber als halbamtlicher bzw. amtlicher Akt ausgestaltet war. Das Gericht selbst war somit bei Einleitung eines Prozesses durch litis denuntiatio116 in das Verfahren einzubinden. Die Felix vorgeworfene Unterbindung der Anhörung war von großer Brisanz: Die Anhörung im Rahmen der Einleitung eines Verfahrens zählte als Bestandteil der Wahrung des Rechtsfriedens117 zu den obersten Tugenden und Pflichten118 eines iudex ordinarius – der Zugang der Provinzbewohner zu diesem musste gewährleistet sein.119 Die Gewährung rechtlichen Gehörs im Prozess war mithin zeitgleich Legitimierung des Richters oder wie J. Bleicken formuliert „das tragende Prinzip des Herrschens“120. Die Anhörung war einer der zentralen Werte des römischen Zivil- und Strafprozesses, insofern kein beneficium, sondern Pflicht eines diligens handelnden iudex ordinarius. Kam er dieser nicht nach, verlor er ipso facto seine Richterqualität. Auch in Cod. Theod. II 6,2 stellte Konstantin das Recht der Partei auf Anhörung an sich nicht in Frage. Eine solche hatte demgemäß immer zu erfolgen. Gerade dieser Pflicht war Felix aufgrund neglegentia atque desidia – Nachlässigkeit und Untätigkeit – nach Ansicht der Petenten nicht nachgekommen. Konstantin sprach allerdings kein generelles Verbot des „nachlässigen oder untätigen“ Verhaltens aus. Insofern mutet der Vorwurf der neglegentia und desidia sehr allgemein an. Kaiser Konstantin ließ den Statthalter Felix lediglich wissen, dass erst die Kombination der Vorwürfe mit einer unterlassenen Anhörung die Lage prekär werden ließ.

116 Vgl. Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 556 f.; Kreuzsaler, Säumnisladung, 639; Wenger, Institutionen, 260; Palme, Law, 66; Kaser/Knütel, Privatrecht, 496 f.; auch bei Ausbüttel, Verwaltung, 59. Zur litis denuntiatio im Zusammenhang mit einer ins 2. Jh. zu datierenden Inschrift auf einer in Mainz gefundenden Terra Nigra Schüssel siehe Haensch, Funktion, insb. 459 f. 117 So Wankerl, Appello, 224. 118 So auch zu den maßgeblichen Tugenden und Pflichten des Kaisers als obersten Richter: Cassius Dio überliefert uns eine Anekdote über den Kaiser Hadrian, der seiner Verpflichtung zur Anhörung auch in kleinen Fällen nachkam, sofern sie von ihm eingefordert wurde (Cass. Dio 69,6,3): … 5veqe c±q t± toiaOta, ja· oqj Acam²jtei eU ti ja· paq± cm¾lgm ja· pq¹r t_m tuwºmtym ¡veko?to. !l´kei cumaij¹r paqiºmtor aqtoO bd` timi deol´mgr, t¹ l³m pq_tom eWpem aqt0 fti „oq swok²fy,“ 5peita ¢r 1je¸mg !majqacoOsa 5vg „ja· lµ bas¸keue,“ 1pestq²vg te ja· kºcom aqt0 5dyjem.; „… Und er, (der Kaiser Hadrian) wurde nicht ärgerlich, wenn er einmal ganz gegen seinen Plan und, wie es der Zufall gab, um Hilfe angegangen wurde. Einmal nämlich kümmerte er sich nicht um eine Frau, die ihm, als er des Weges kam, ansprach und um etwas bat. Er rief ihr zuerst zu: „Ich habe keine Zeit“, als dann aber jene Frau ihm nachschrie: „dann kannst Du auch nicht Kaiser sein“, drehte er sich um und gab ihr Gehör.“ Übersetzung nach Bleicken, Regierungsstil, 197. 119 Deshalb auch der Hinweis darauf in Cod. Theod. I 16,7 (331): … aeque aures iudicantis pauperrimis ac divitibus reserentur …; „… die Ohren des Richters sollen gleichermaßen den Ärmsten und den Reichen offenstehen …“ 120 Bleicken, Regierungsstil, 197. Zum rechtlichen Gehör im römischen Zivil- und Strafprozess siehe ebenfalls Wacke, Gehör, 367 f.

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Unzulässig wurde ein solches richterliches Verhalten folglich erst dann, wenn aufgrund von neglegentia und desidia Verjährung eingetreten war. Zur neglegentia eines Amtsinhabers musste demnach noch eine Fehlerfolge hinzukommen. Vorliegend finden wir die Kombination aus neglegentia und dem Zeitmoment. Die neglegentia atque desidia musste ein solches Ausmaß angenommen haben, dass sie zur Überschreitung der zeitlichen Vorgaben geführt hatte, die von den iudices zur Durchführung einer Anhörung einzuhalten waren bzw. als angemessen galten. Erst in diesem Zusammenspiel und nicht bereits zuvor entwickelte sich diese hin zu einem unzulässigen Zustand. Ähnliches begegnet uns in einer Konstitution vom 29. August 325121 (Cod. Theod. I 5,1122), die an den praefectus praetorio Orientis, Constantius123, adressiert wurde. Allgemein wird darin praesides vorgeworfen, aus culpa vel neglegentia die Bitten der Provinzbewohner nicht beachtet zu haben, folglich die verpflichtende Anhörung nicht durchgeführt zu haben. Die Problematik der unzulässigen richterlichen Verzögerung von Verfahren ist gleichfalls bereits in einem fragmentarischen Edikt124 vom 27. März 111 zu finden. In dem Edikt, das von Servius Sulpicius Similis, praefectus Aegypti in den Jahren 107 – 112, erlassen wurde, wurden Regelungen zur Durchführung eines bevorstehenden conventus festgelegt. Unter anderem tadelte dieser die Verfahrensverzögerung durch die eingesetzten Richter und stellte diesen in Aussicht, sie nötigenfalls bis zur Urteilsfindung festzuhalten. Bereits zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. wurden also „unzulässige“ Verfahrensverzögerungen aufgrund aufgeschobener oder unterlassener Anhörungen zum Thema eines Edikts. Eine Strafandrohung gegen die angesprochenen Richter enthielt der Erlass in der uns vorliegenden Form allerdings nicht. 121

Zur Datierung des Edikts auf kurz nach dem 17. September 325 siehe Seeck, Regesten, 115 sowie 175; ders., Zeitfolge, 233; ebenso Barnes, Empire, 76 mit Anm. 126. 122 Cod. Theod. I 5,1 (325): Edicto omnes provinciales monemus, ut, si interpellantes proprios praesides contempti fuerint, gravitatem tuam interpellent, ut, si id culpa vel neglegentia praesidum admissum esse constiterit, ilico ad scientiam nostram referat gravitas tua, quo possint congrue coerceri.; „Wir weisen alle Provinzbewohner darauf hin, dass sie sich an Eure Erhabenheit wenden dürfen, für den Fall, dass sie – beständig diese mit Bitten [um Gehör] bedrängend – von ihren Statthaltern mit Gleichgültigkeit bedacht wurden, und dies auf dem Fehler oder der Nachlässigkeit des Statthalters beruht. Eure Erhabenheit möge über den Fall sofort an uns Bericht erstatten, sodass die betreffenden Statthalter angemessen bestraft werden.“ Es handelt sich hierbei um einen Begleitbrief zu einem Edikt. Das Edikt selbst ist als Cod. Theod. IX 1,4 (325) erhalten. Inhaltlich gibt es zum Begleitbrief keine Übereinstimmungen bzw. Ergänzungen. Alleine der Tenor des Edikts scheint als Bindeglied zwischen Brief und offiziellem Dokument zu fungieren. Das Edikt richtete sich an die Provinzbewohner und wies diese darauf hin, dass sie sich im Fall einer ungerechten Handlung (quod non integre adque iuste gessisse videatur) durch einen Provinzbeamten an den Kaiser selbst wenden konnten. Siehe dazu die Ausführungen bei Reitzenstein-Ronning, Justice, 269; vgl. auch Dillon, Justice, 109 f. 123 Vgl. PLRE 1, Fl. Constantius 5, 225; zu diesem siehe Dillon, Justice, 109. 124 Vgl. P.Oxy XXXVI 2754; hierzu siehe Lewis, Conventus, 90; ders., MOGLATA, 29 – 31. Zu P.Oxy XXXVI 2754 und den darin thematisierten Korruptionspraktiken der officiales siehe Haensch, Korruption, 130.

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In Cod. Theod. I 5,1 (325) regelte Kaiser Konstantin dagegen eine „angemessene Bestrafung“, konkretisierte diese aber nicht näher. In dem früheren Erlass Cod. Theod. II 6,2 (318) stellte er dem praeses, der die Anhörung aus neglegentia et desidia oder culpa vel neglegentia unterlassen und so eine Verfahrensverzögerung zu verschulden hatte, noch finanzielle wie auch ehrbezogene Bestrafungen in Aussicht: Zunächst regelte er eine Entschädigung der Klagepartei: Letztere hatte aufgrund des nachlässigen Verhaltens einen Schadensersatzanspruch125 gegen den Statthalter. Diesen Anspruch teilte er Felix direkt mit. Der Statthalter haftete in einer per negligentiam atque desidiam verschuldeten Unterbindung der Anhörung, die zu einer Verjährung der Ansprüche geführt hatte, mit seinem Privatvermögen. Die weitere Folge ist dem anderen Fragment derselben Konstitution, Cod. Theod. I 16,3 (24. Oktober 318)126, zu entnehmen: Cum sex menses transcurrerint, breves omnium negotiorum ab officio tuo descripti commeent ad scrinia eminentissimae praefecturae, ut his recensitis et ad scrinia nostra perlatis pandatur, quis iudicum et in quibus discingendis causis fidelem operam praestiterit, quo vel dignus praemium mereatur vel neglegens coercitionem incurrat: adeundi tuum iudicium de neglegentia vel avaritia tui officii data provincialibus facultate … „Alle sechs Monate sollen die Kurzzusammenfassungen aller Verfahren von Deinem Kanzleipersonal übertragen und an die Kanzlei des Prätorianerpräfekten gesandt werden, sodass – nachdem diese untersucht und an Unsere Kanzlei überstellt wurden – offengelegt wird, welcher Richter sein Amt gewissenhaft geführt hat und in welchen Fällen er gute Arbeit geleistet hat, damit derjenige, der es wert ist, geehrt und der Nachlässige bestraft wird. Den Provinzbewohnern wird erlaubt, sich an Dein Gericht zu wenden und einen Antrag wegen Nachlässigkeit oder Habgier gegen Dein Kanzleipersonal einzureichen …“

Als Konsequenz auf das nachlässige und untätige Verhalten des Statthalters Furius Felix richtete Konstantin eine Art Kontrollsystem ein: Er wies den Statthalter zunächst darauf hin, dass nunmehr das (ihm disziplinarisch unterstellte) officium in sechsmonatigem Abstand Kurzzusammenfassungen (breves) der am Gericht des Statthalters verhandelten Fälle an das Büro des ihm überstehenden Prätorianerpräfekten zu übergeben hatte. Im Idealfall sollten diese sodann einer Untersuchung unterzogen und an den Kaiser zusammen mit einem Bericht über die Amtsführung des betreffenden Richters weitergegeben werden. Ähnliche Kontrollmechanismen kennen wir bereits aus Ägypten: Hier mussten Strategen ihre Amtstagebücher am Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr. dem Epistrategen, dem rationalis und dem Statthalter regelmäßig zur Kontrolle vorlegen.127 Das „Interesse der Öffentlichkeit an den commentarii“128 war damit so groß geworden, dass ein erweiterter Schutz in Form einer Kontrolle von obriger Stelle notwendig wurde. Die hier von Konstantin 125 Zur Haftung des iudex ordinarius s. unten S. 43 nebst Anm. 156 sowie zur actio in iudicem qui litem suam facit S. 64 nebst Anm. 258 und 259. 126 Zur Datierung s. oben Anm. 113. 127 Dazu siehe Haensch, Statthalterarchiv, 231 mit Verweis auf P.Oxy. L 3569 (282). 128 Haensch, Statthalterarchiv, 231.

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thematisierten sog. breves129, die als Berichterstattung an den Kaiser zur Kontrolle der Amtsinhaber dienten, jedoch nicht notwendigerweise einer Reaktion durch den Adressaten bedurften, sind ein Musterbeispiel für einen einseitigen Kontrollmechanismus durch Dokumentationsvorlage. Mit dem Terminus brevis wurde jegliche Art von Verzeichnis (sei es von Personennamen, Steuerrollen sowie Listen von Schuldnern, Gerichtsverfahren etc.130) belegt. Im gerichtlichen Kontext handelte es sich um Listen, die im Kern die schriftliche Dokumentation des Arbeitsanfalls, mithin die Anzahl der in einem bestimmten Zeitraum geführten und beendeten Verfahren sowie die behandelten Streitgegenstände intendierten. Die schriftliche Niederlegung erfolgte insofern zu Beweiszwecken und für eine bessere Nachvollziehbarkeit. Auf Basis einer derartigen Untersuchung bzw. einer Art „Fach- und Rechtsaufsicht“ stellte sich dann heraus, in quibus discingendis causis der jeweilige Provinzstatthalter fidelem operam bewiesen hatte und welche Fälle abgeschlossen worden waren. Als Konsequenz der Kontrollmaßnahme sollten die iudices ordinarii je nach Amtsführung geehrt oder bestraft werden.131 Dies erinnert an das obige132, von Plinius dem Jüngeren formulierte Ideal eines Princeps, der eine gute Amtsführung der obrigkeitlichen Vertreter in den Provinzen, der Statthalter, zu belohnen sowie schlechtes Verhalten zu bestrafen hatte. Kaiser Konstantin erlaubte in Cod. Theod. I 16,3 darüber hinaus den Provinzbewohnern, sich an das Gericht des Prätorianerpräfekten zu wenden, sofern sie sich über das officium des Statthalters beschweren wollten. Es fällt auf, dass der Erlass in diesem Abschnitt zwischen direkter Adressierung an Felix und allgemeiner Ausführung variiert: Während Felix direkt angesprochen und darauf hingewiesen wurde, dass sein officium alle sechs Monate die Gerichtsbücher an den praefectus praetorio übersenden sollte, wurde im Hinblick auf die anschließende Belohnung bzw. Bestrafung durch den praefectus praetorio allgemein auf iudices Bezug genommen. Dass es sich bei der Übersendung der 129

Vgl. Seeck, Brevis, RE 3,1 (1897), 832. Zu diesen siehe auch Dillon, Justice, 192 – 196. Hierzu und zur Thematisierung von breves in der Inschrift von Trinitapoli unter dem Aspekt der Steuerentrichtung siehe Schmidt-Hofner, Reagieren, 65 – 66 nebst Anm. 91. 130 So sind uns beispielsweise dreimonatliche Listen über den Personalbestand des Senats und die Steuern seiner Mitglieder, die vom praefectus urbi an den Kaiser zu übersenden waren (Symm. rel. 45,46), sowie die quadrimenstrui breves, viermonatliche Rechnungslegungen von Beamten, die öffentliche Gelder zu empfangen und zu verwenden hatten, bekannt (Cod. Theod. XI 25,1; 393, XII 1,173; 410); vgl. Seeck, Brevis, RE 3,1 (1897), 832. 131 So sollte sich die Provinzbevölkerung auch an den Kaiser wenden und darüber berichten, ob ein Richter gerecht war oder nicht. Mit Cod. Theod. I 16,6 (331) wurde die Bevölkerung von Kaiser Konstantin dazu ermutigt: … Iustissimos autem et vigilantissimos iudices publicis adclamationibus collaudandi damus omnibus potestatem, ut honoris eis auctiores proferamus processus, e contrario iniustis et maleficis querellarum vocibus accusandis, ut censurae nostrae vigor eos absumat …; „… Aber wir erteilen allen die Erlaubnis, durch öffentliche Akklamationen die gerechtesten und pflichteifrigsten Richter zu loben, sodass Wir hierdurch die Ihnen zu erweisenden Ehrenbezeugungen vermehren, im Gegenteil aber soll es auch allen freistehen, die ungerechten und böswilligen Richter anzuklagen, damit die Kraft Unserer Aufsicht diese ihres Amtes enthebe …“ 132 Dazu s. oben S. 28 f. sowie Anm. 76.

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Gerichtsbücher zu diesem Zeitpunkt bereits um eine allgemeine, weitverbreitete Kontrollmaßnahme handelte – wie J. Delmaire133 annimmt –, ist daher eher zu bezweifeln. In einem weiteren Teil von Cod. Theod. I 16,3134 knüpfte Konstantin an den Entschädigungsanspruch der Parteien an und regelte die darüber hinausgehenden Sanktionen gegen den Statthalter, die aufgrund seines Fehlverhaltens gegen ihn verhängt werden konnten: Hierbei wandte er sich wiederum direkt – ohne verallgemeinernde Formulierung – an Felix. Stellte sich nach Prüfung der Gerichtsbücher heraus, dass der Statthalter wissentlich ein rechtlich unzutreffendes Urteil gesprochen hatte, hatte er mit folgenden Sanktionen zu rechnen: Er verlor nicht nur seine Reputation, seinen guten Ruf, sondern wurde aufgrund der unzulässigen Folge seines „nachlässigen“ Verhaltens auch selbst vor Gericht gestellt.135 Cod. Theod. II 6,2 und I 16,3 zeigen auf, dass der Kaiser mittelbar mit unterschiedlichen Sanktionen auf die neglegentia des Provinzstatthalters reagierte: In einem ersten Schritt wurde die geschädigte Prozesspartei rehabilitiert. Dies geschah hier durch einen Entschädigungsanspruch der Partei direkt gegen den Statthalter der Provinz. In einem zweiten Schritt verfügte der Kaiser eine „Rechts- bzw. Fachaufsicht“ über die Richtertätigkeit des Statthalters der Provinz. Der über diesem stehende Prätorianerpräfekt sollte hierbei als Aufseher walten und die Amtsführung in zeitlich engem Abstand von sechs Monaten, mithin mindestens zweimal pro Amtszeit136 eines Provinzstatthalters, auf ihre „Zweck- und Rechtmäßigkeit“ überprüfen. In einem letzten Schritt wurde zudem die Sanktion gegen den Statthalter als Person (Verlust des guten Rufes) ausgesprochen. Unabhängig davon hatte er sich in einem Gerichtsverfahren zu verantworten.

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Vgl. Delmaire, Lois, 16 f.; so bereits Ausbüttel, Verwaltung, 162 sowie Gross, Archiv, RAC 1 1950, 614 – 631, hier: 618; vorsichtig dagegen Haensch, Statthalterarchiv, 231 f. nebst Anm. 58. 134 Cod. Theod. I 16,3 (318): … de eo sane, qui pretio depravatus aut gratia perperam iudicaverit, ei vindicta quem laeserit non solum existimationis dispendiis, sed etiam litis discrimine praebeatur.; „… Gegen denjenigen aber, der, aufgrund Bestechungsgeld oder durch Beeinflussung, wissentlich ein falsches Urteil gesprochen hat, soll die Person Vergeltung erlangen, die er dadurch verletzt hat, indem der Richter nicht nur seinen guten Ruf verliert, sondern auch noch das Risiko eines Gerichtsverfahrens trägt, welches gegen den ihn angestrebt wird.“ Zu Cod. Theod. I 16,3 im Kontext der gratia iudicum siehe die Ausführungen unten auf S. 63 f. 135 Zu dem gegen den Richter gerichteten Gerichtsverfahren (iudex qui litem suam facit, ,Richter, der sich selbst den Prozess aufgeladen hat‘) siehe unten S. 64 f. nebst Anm. 259 mit weiterführenden Literaturangaben. 136 Nach Jones, LRE, 381 – 383 – der dies insbesondere anhand der fasti von Africa und Aegyptus untersuchte – dauerte eine Amtszeit weniger als zwei Jahre.

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b) Kontrolle durch das officium Der Fokus des gerade angesprochenen Cod. Theod. I 16,3 richtete sich ebenfalls auf das Kanzleipersonal: Falls sich das officium des Statthalters durch neglegentia vel avaritia auszeichnete, war es den Provinzbewohnern erlaubt, sich aus diesem Grund an den Provinzstatthalter selbst zu wenden. Das Kanzleipersonal137 des Statthaltergerichts war mitunter der einzige Part, der über eine gewisse, zum Teil durch Ausbildung, vor allem aber durch Routine erlangte fachliche Qualifikation verfügte und der folglich fachlich manchmal seinem Vorgesetzten gegenüber überlegen war.138 Den Statthaltern, die als Vorgesetzte fungierten, kam die soziale Qualifikation – die dignitas –, die für dieses Amt notwendig war, aufgrund ihres sozialen Standes zu. Das officium des Statthalters, das im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten keinem kurzfristigen Wechsel139 in seiner Besetzung unterworfen war, hatte diesen in seiner Amtsführung, die wesentlich durch seine jurisdiktiven Aufgaben geprägt war, fachlich zu unterstützen. Trotz dieser fachlichen Qualifikation des Kanzleipersonals weisen verschiedene kaiserliche Regelungen darauf hin, dass die Verzögerung von Verfahren nicht nur an den ungelehrten Richtern (indocti) lag, sondern auch durch das Verhalten des Kanzleipersonals begünstigt wurde, beziehungsweise aus dem Zusammenspiel der jeweiligen Verhaltensweisen resultierte.140 Wurde eine Bestrafung des Richters ausgesprochen, enthielt die Regelung zumeist parallel auch eine finanzielle Bestrafung des officium als „rechte Hand“ des Statthalters (sog. Kollektivhaftung).141 Dieses Prinzip äußert sich dadurch, dass das officium oder Teile davon (in leitender Funktion der princeps officii 137 Die officia der Statthalter setzten sich aus einigen höherrangigen Beamten (primates) sowie der großen Menge der exceptores zusammen. Sie wurden als cohortalini (cohortales) bezeichnet (vgl. Cod. Theod. VIII 4,12; 372), siehe dazu auch Palme, Officia, 100 – 121. Bagnall, Egypt, 65 – 67, geht davon aus, dass eine statthalterliche Kanzlei eines ordinarius iudex circa 100 officiales beschäftigte. Zu weiterer Literatur s. obige Anm. 53. 138 Zur Überlegenheit des Kanzleipersonals bzgl. juristischer und verwaltungstechnischer Fachkenntnis siehe Blockley, Self-policing, 403 – 419; Wieacker, Recht, 82 – 93, sowie zur Ausbildung: 94 – 108; Palme, Officia, 59 – 65. 139 Dass die Besetzung des Statthalteramtes einem teils jährlichen Turnus ausgesetzt war, ist Ausdruck des antiken Staatsverständnisses, vgl. Schuller, Grenzen, 1 – 21, hier:15 – 17. 140 Vgl. Noethlichs, Beamtentum, 181 sowie 228; siehe auch Reitzenstein-Ronning, Justice, 268. 141 So auch in Const. Sirm. 12 (408): … Quos quidem viginti librarum auri poena statutae dudum multae constringet, pari multa officiis ordinibusque proposita, si haec quae statuimus eorum fuerint dissimulatione neglecta …; „… Solche Richter sollen mit einer Strafe von 20 Pfund Gold belegt werden, wie vorstehend geregelt, und ähnliche Strafen sind für das Kanzleipersonal verkündet, wenn diese von Uns erlassenen Vorschriften durch Nachlässigkeit missachtet werden …“, so auch: Cod. Theod. XVI 6,4,4 (405): … ita ut moderatores provinciarum, si in contemptum sanctionis huiusce consensum putaverint commodandum, sciant se viginti libras auri esse multandos, officia etiam sua simili condemnatione subiuganda …; „… Wenn die Provinzstatthalter in Missachtung dieser Regelung, ihr Einverständnis dazu geben, sollen sie mit einer Geldstrafe von 20 Pfund Gold belegt werden. Das Kanzleipersonal soll ebenso bestraft werden …“

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sowie die primates) bei festgestellten Vergehen ihres Vorgesetzten mitbestraft oder teilweise auch anstelle und damit alleine bestraft wurden.142 Dieses Konzept ist nach K. L. Noethlichs „der Antike eigentümlich“143, wobei er sich in seiner Untersuchung lediglich mit den in den Codex Theodosianus eingegliederten gesetzlichen Regelungen auseinandersetzte und allein auf Basis dessen resümiert. Auch K. Rosen144, der sich wohl am ausführlichsten mit dem Phänomen der Kollektivhaftung und Frage nach der Effizienz der dies beinhaltenden gesetzlichen Regelungen auseinandersetzte, ließ in seiner Studie die papyrologischen und epigraphischen Zeugnisse außer Acht, wodurch letztlich eine Überprüfung der praktischen Handhabe der gesetzlichen Regelungen erst möglich ist. R. Haensch kritisierte insofern zurecht, dass die „Annahme, die officia hätten nur in der Zeit eine Kontrollfunktion ausgeübt, in der wir diese Funktionen in den spätantiken Gesetzescorpora fassen können“, keinesfalls haltbar ist.145 Eine differenzierte Betrachtung ist nötig. Davon unabhängig impliziert die Reihe an gesetzlichen Regelungen, die Strafen für das officium beinhalten, dass das officium einen Großteil der Amtshandlungen des Statthalters mitgestaltete und dabei auch selbstständig tätig wurde. Für den Fall, dass die Statthalter in den von ihnen selbst durchgeführten Angelegenheiten ihre officia nicht um Rat baten, waren die officiales zumindest gezwungen, ihre Vorgesetzten146 auf die Gefahr hinzuweisen, dass deren Handeln unzulässig war. Allein mit Blick auf die gesetzlichen Regelungen bleiben denknotwendig wesentliche Fragen unbeantwortet: unter anderem nach der praktischen Verteilung der angedrohten Strafen auf das – zumeist als gesamte Körperschaft mit der Herausstellung einzelner Ämter 142 Vgl. auch Cod. Theod. VIII 7,20 (415), wonach eine Wiedereinstellung von Kanzleibeamten, die aufgrund vorangegangenen Fehlverhaltens bestraft worden waren, verboten wurde. 143 Noethlichs, Beamtentum, 223 sowie 223 – 225 nebst einer Auflistung der gesetzlichen Regelungen aus den Jahren 319 – 423 (alle entnommen aus dem Cod. Theod.), die eine Kollektivstrafe enthalten. Hieraus resümiert Noethlichs, dass das „Strafmaß immer für das Büro, längst aber nicht immer für den Leiter bestimmt wird. Die Verantwortlichkeit der Unterbeamten steht zweifelsfrei im Vordergrund.“ 144 Zur Kollektivhaftung siehe Rosen, Iudex, 273 – 292. 145 Vgl. Haensch, Kontrolle, 186, der in seiner Untersuchung feststellt, dass es keine dokumentarische Evidenz zur Frage gibt, die eine Kontrollmaßnahme eines officium gegenüber seinem Vorgesetzten oder ein entsprechendes Gerichtsverfahren bezeugt. Allerdings stellt Haensch sog. „Kontrollvermerke“ fest. Diese sind zum einen in Schreiben spätantiker Würdenträger enthalten, befinden sich am Ende des Textes und sollten wohl einen Beleg dafür bieten, dass das officium Kenntnis von dem Schreiben hatte. Zum anderen sind derartige Kontrollvermerke auch z. B. bei einem Reskript Hadrians, einem des Antoninus Pius, dem Rest eines bilingualen Gerichtsprotokolls aus dem letzten Drittel des 4. Jahrhunderts n. Chr. (CIL III 411 = IGR IV 1397 = I.Smyrna II 1,597 bzw. SB XX 14688 = ChLA XLIII 1246) ebenso zu finden wie namentliche Nennungen von einzelnen officiales nebst Bestätigungen einer Maßnahme/Amtshandlung (P.Oxy VII 1022 = W. Chr. 453 = CPL 111 = ChLA III 215). 146 Nicht immer unterstanden die principes der officia allerdings der Disziplinargewalt des jeweiligen Amtsinhabers. Teilweise waren sie demjenigen unterstellt, der sie von außerhalb abgesandt hatte. Zu dieser Besonderheit siehe Ausbüttel, Verwaltung, 186; Delmaire, Institutions, 109 ff.; Palme, Officia, 108 f.

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genannte – officium bzw. deren Eintreibung.147 Dennoch ist zu konstatieren, dass die Missbrauchsmöglichkeiten in den Reihen des officium jedenfalls in der Theorie groß waren. Nicht zuletzt auch, weil die Provinzstatthalter aufgrund von Überlastung oftmals nicht alle laufenden und vor ihrem Gericht geführten Streitigkeiten überblicken konnten.148 Dass einzelne Mitglieder des officium dies ausnutzten, kritisierte beispielsweise schon Philon, der in seinem Werk In Flaccum den im ersten Jahrhundert n. Chr. als hochrangiges Stabsmitglied des praefectus Aegypti amtierenden und nur für Aegyptus bezeugten sog. Eisagogeus149 namens Lampon der nachträglichen Manipulation von Gerichtsentscheidungen bezichtigte.150 Leichter waren derartige missbräuchliche Verhaltensweisen möglich, wenn officium oder einzelne officiales und Statthalter kollusiv zusammenarbeiteten. Die Geldstrafen, die für den Statthalter in vielen Fällen genauso hoch bemessen waren, wie für sein officium als Gesamtheit, mögen den Eindruck vermitteln, dass das Mächteverhältnis relativ ausgeglichen war. Dieses Bild trügt: Die Statthalter besaßen über ihre officiales zum einen Disziplinargewalt, zum anderen oblag ihnen beispielsweise die Entscheidung über Beförderungen. Es hing entscheidend von der Person des Statthalters ab, ob die officiales an übermäßigen sportulae verdienen151 oder gegen sonstige Vorschriften im Umgang mit den Prozessparteien verstoßen konnten. Die durch den Kaiser in seinen Konstitutionen eingeführten Geldstrafen, die in ihrer Höhe nicht immer einen Unterschied erkennen ließen, sollten diese Machtfülle des Statthalters jedoch ein-

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Dies sieht auch Honoré, Law, 27, bietet allerdings keinen Lösungsansatz an. So berichtet beispielsweise Phil. Flacc. 133. Zur Person Philon von Alexandria siehe Borgen, Philo; Pearce, Land. 149 Dazu Haensch, Gerichtsprotokolle, 121 f.; zum lange Zeit umstrittenen Titel Eisagogeus siehe die Ausführungen ebd., 122 nebst Anm. 35; ders., 91 – 94 nebst Anm. 63 sowie Wolff, Justizwesen, insb. 29 f und 100 f. der einen Funktionsträger mit dieser Bezeichnung unter den Ptolemäern bei allen in Alexandria und im übrigen Ägypten tätigen mehrköpfigen Gerichtshöfen feststellt. 150 Phil. Flacc. 131 f., wonach Lampon z. B. in den Protokollen gar nicht erfolgte Äußerungen einfügte, Streitgegenstände gänzlich um- und abänderte, vorgebrachten Argumentationen einen anderen Sinn gab oder ganze Passagen eliminierte, was unter anderem zur Folge haben konnte, dass eigentlich obsiegende Prozessparteien nachträglich um ihr ,positives‘ Urteil gebracht und teils noch nachträglich finanziell ruiniert wurden, sodass ihm Philon ,Mord per Stift‘ zuschrieb. 151 Zur Relation von Gehälter und Gebühren siehe insbesondere Stauner, Wandel, 180 – 182. Nach Palme, Officia, 113 stellte die staatliche Besoldung nur den Grundstock des Einkommens eines spätrömischen Beamten dar. Die einfachen Officialen konnten allein von ihrem Gehalt (annona) nicht ohne die zusätzliche Eintreibung von sportulae ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die sportulae machten den entscheidenden Teil des Einkommens aus: Als Beispiel nennt er die Nachricht von Johannes Lydus, der berichtet, er habe in seinem ersten Dienstjahr 1000 Solidi allein durch sportulae verdient, vgl. Lyd. mag. 3,26 – 28, der in seinem Werk De magistratibus populi Romani (geschrieben in den Jahren 551 – 556) als pensionierter Offiziale des praefectus praetorio per Orientem viele Informationen über Struktur und Organisation der Verwaltungsbüros liefert. Zu Text und Person siehe Caimi, Burocrazia sowie Maas, John Lydus, insb. 28 – 37. 148

II. Die gratia iudicum

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dämmen.152 Eine Straffreiheit der officiales war zumeist nur dann gegeben, wenn sie den Beweis erbringen konnten, ihren Vorgesetzten auf die gesetzlichen Verfahrensweisen hingewiesen zu haben.153 Hintergrund dieser Vorschriften war es, den administrativen Apparat, die officiales, als eigene Kontrollinstanz des statthalterlichen Amtes zu etablieren und einer Kollusion entgegen zu steuern.

II. Die gratia iudicum 1. Terminologie und jurisdiktiver Kontext In Kapitel II der Lex Baiuvariorum154, das zusammen mit Kapitel III Regelungen für ein funktionierendes weltliches Herrschaftsverhältnis aufstellte, wurde insbesondere auch das Gerichtswesen, das in den Händen von comes und iudex lag, behandelt. Der iudex bestimmte den Tagungsort, führte die Untersuchung zur Ermittlung der Wahrheit und hatte nach dem liber legis ein gerechtes Urteil zu fällen.155 Daneben wurde explizit aufgegriffen, dass Letzteres nicht immer eingehalten wurde und die Gründe für ungerechte Urteilssprüche der Richter sowie ihre Auswirkungen aufgezählt.156 Neben cupiditas und error wird in diesem Kontext unrechtmäßiger 152 Vgl. Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia, 115 mit Anm. 124, worin er die Höhe der Geldstrafen im Westen und Osten gegenüberstellt und für das vierte Jahrhundert zu dem Ergebnis kommt, dass im Westen regelmäßig 20 Pfund Gold (1440 Solidi), im reicheren Osten 30 Pfund Gold (2160 Solidi) auferlegt wurden. Anfang des fünften Jahrhunderts n. Chr. habe die Strafe für den Statthalter und sein officium bei je 50 Pfund Gold (3600 Solidi) gelegen, vgl. Cod. Iust. 1,11,7 (451). Dies korrespondiert auch mit der Besoldung: Statthalter erhielten in etwa ein Gehalt, das demjenigen aller ihrer officiales zusammengerechnet, entsprach, vgl. dazu die Untersuchung bei Palme, Officia, insb. 113 mit einer tabellarischen Gegenüberstellung der Gehälter. 153 Vgl. die hierfür notwendige suggestio der officiales in Const. Sirmond. 14 (409). 154 Die Lex Baiuvariorum ist die früheste Rechtsaufzeichnung Bayerns und zählt zu den Leges Barbarorum (Stammesrechten). Sie wird nach unterschiedlichen Auffassungen in der Forschung in die verschiedenen Epochen vom sechsten Jahrhundert bis in die erste Hälfte des achten Jahrhunderts eingeordnet. Eindeutig ist nur, dass die Lex bereits auf dem ersten bekannten Konzil in Bayern, der Synode von Aschheim im Jahr 756, zitiert wird (Conc. Ascheimense, MGH, Leg. Sect. III, Conc. t. II, p. I, ed. Werminghoff (hanoverae 1906), cap. XII). Neben der Rezeption von kanonischem Recht findet sich in der Lex Baiuvariorum auch ein Rückgriff auf die Lex Romana Visigothorum. Letztere wurde als Gesetzbuch römischen Rechts im Jahr 506 vom Westgotenkönig Alarich II. erlassen und umfasst u. a. Exzerpte aus dem Codex Theodosianus. Die Lex Baiuvariorum basiert allerdings nur an einer Stelle – in Kapitel I.12 – auf der Lex Romana Visigothorum. Der zweite Teil des Kapitels entspricht wiederum Breviarium XVI.1.6 (= Cod. Theod. XVI 2,44). Zur Lex Baiuvariorum siehe die Arbeit von Landau, Lex, mit Darstellung der Literatur. Zur zeitlichen Einordnung siehe auch Liebs, Jurisprudenz 76 – 79; vgl. auch Siems, Lebensbild, 29 – 73; zuletzt siehe auch Esders, Spätantike, 425 – 462. 155 Dazu vgl. Lex Baiuvariorum II.14 – 18 sowie auch IX.18 – 20. 156 Die strafrechtlichen Auswirkungen auf die Richter selbst mögen zwischen römischer und frühmittelalterlicher Zeit variieren. Die Straf- und Haftungsandrohungen gegen die Richter selbst nehmen in den gesetzlichen Regelungen der römischen Zeit eine wichtige Stellung ein.

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B. Von Macht und Zeit

Gerichtsentscheidungen insbesondere auf die gratia iudicis verwiesen (Lex Baiuvariorum II.18)157: Si vero nec per gratiam, nec per cupiditatem, sed per errorem iniuste iudicaverit, iudicium ipsius, in quo errasse cognoscitur, non habeat firmitatem, iudex vero non vocetur ad culpam. „Wenn er aber weder aus Gunst noch aus Begehrlichkeit, sondern aus Irrtum ungerecht gerichtet hat, so soll zwar sein Urteil, an dem sein Irrtum offenbar wurde, keinen Bestand haben, der Richter aber bleibe frei von Schuld.“

Dieser Auszug aus der Lex Baiuvariorum demonstriert eine weit verbreitete Problematik, die nicht nur den Gesetzgebern in der frühmittelalterlichen158 Zeit leidlich bekannt war. Die richterliche Tendenz, sich in ihrer Verfahrensführung und Urteilsfindung übermäßig durch gratia159 beeinflussen zu lassen, blieb nicht unbemerkt. Die Versuche, legislativ dagegen anzusteuern, sind über die Jahrhunderte hinweg vielfältig. Mit Blick auf die römische Zeit wird gratia als eine zumeist negativ konnotierte Eigenschaft der iudices unter anderem bereits in den Zwölftafelgesetzen160 und später auch von Cicero thematisiert. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. fragte sich allerdings Aulus Gellius, inwiefern die Todesstrafe, die in den Zwölftafelgesetzen für Richter festgelegt war, die sich „bestechen“ ließen, nicht doch zu streng war (Aul. Gell. Noc. Att. 20,I,7): Dure autem scriptum esse in istis legibus quid existimari potest? nisi duram esse legem putas, quae iudicem arbitrumve iure datum, qui ob rem dicendam pecuniam accepisse

Ob eine Haftung der Richter auch im Frühmittelalter, trotz des hier (Lex Baiuvariorum II.18) enthaltenen Haftungsausschlusses, grundsätzlich anzunehmen ist, sei hier offengelassen. 157 v. Schwind (Hrsg.), Lex Baiuvariorum, MGH LL.I.5.2. 158 Eine ähnliche Regelung aus dem frühmittelalterlichen Kontext findet sich in den Leges Visigothorum II.1.21 (Zeumer, ed., Leges Visigothorum, MGH.LLI.1, Hannover 1973): Sin autem per ignorantiam iniuste iudicaverit et sacramentis se potuerit excusare, quod non per amicitiam vel cupiditate aut per commodum quodlibet, sed tantumdem ignoranter hoc fecerit: quod iudicabit non valeat, et ipse iudex non implicetur in culpa.; „Wenn er aber durch Unkenntnis ungerecht geurteilt hat und er sich durch Eid exkulpieren konnte, weil er dies nicht durch Freundschaft oder Begehrlichkeit oder für irgendeinen Vorteil, sondern ohne Absicht gemacht hat: was er urteilt, gelte nicht, und der Richter selbst werde nicht in Schuld verwickelt.“ Hier wurde jedoch nicht wie in der Lex Baiuvariorum II.18 gratia zusammen mit cupiditas genannt, sondern anstelle von gratia der Terminus amicitia. Die Zielrichtung und Bedeutung scheint – zumindest im Vergleich der beiden frühmittelalterlichen Ausschnitte – aber dieselbe gewesen zu sein. So auch Hoeflich, Regulation, 84. 159 Zum Terminus gratia siehe Wistrand, Opera, darin das Kapitel „Gratus, grates, gratia, gratiosus“, 11 – 20; Hellegouarc’h, Vocabulaire; Moussy, Gratia, der die sich verändernde Bedeutung des Terminus im Zeitraum zwischen früher römischer Zeit bis in die Spätantike untersucht; zur Bedeutung von gratia im römischen Staatsdenken vgl. Pöschl, Grundwerte, dort 82 ff. Zu einer umfassenden Untersuchung der ideologischen, wirtschaftlichen Signifikanz von wechselseitigem Austausch in der römischen Republik siehe Michel, Gratuité. Michel geht auf Basis der Gesetzgebung davon aus, dass dieser gleichwertige, gegenseitige Austausch mit der Zeit von einem Rückgang begriffen war (ebd., 119 mit Anm. 2). 160 Zu dieser Episode auch Harries, Law, 161.

II. Die gratia iudicum

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convictus est, capite poenitur aut quae furem manifestum ei, cui furtum factum est, in servitutem tradit, nocturnum autem furem ius occidendi tribuit. „Was aber kann in diesen Gesetzen [Zwölftafelgesetze] wohl als ein harter, gefühlloser Erlass angesehen werden? Man müsste denn das für ein hartes Gesetz erkennen, welches einen auf rechtmäßige Weise bestellten, eingesetzten Richter, oder unparteiischen Schiedsmann, dem bei seiner Entscheidung nachgewiesen werden kann, dass er sich hat bestechen lassen, (sein Vergehen) mit dem Kopfe (Tode) büßen ließ, oder welches einen (ertappten) offenbaren Dieb der Knechtschaft des Bestohlenen überlässt, den nächtlichen Dieb aber rechtlich erlaubt zu töten.“161

Auch in der Spätantike lässt sich erkennen, dass die gratia der Richter seitens der Gesetzgeber immer wieder aufgegriffen wurde. Immer jedoch adressierten die Gesetzgeber die gratia erst dann als „missbräuchlich“162, wenn dadurch in ihren Augen eine Dysfunktionalität des Rechtssystems generiert wurde. Bereits Cicero erkannte in seiner Rede Pro Caecina163, die er vor einem Gericht von recuperatores hielt, dass die Befolgung der gesetzlichen Grundlagen durch die Richter insbesondere an den urmenschlichen Beweggründen „Geld, Macht und Parteilichkeit“ scheiterte. Hierin enthalten ist ein Abschnitt, in welchem sich Cicero mit dem ius civile an sich beschäftigte. Er unterschied dabei zwischen den von den Parteien oder dem Richter in einfacher Weise manipulierbaren vorgetragenen Fakten und der von keinem Prozessbeteiligten manipulierbaren rechtlichen Entscheidungsgrundlage eines Falles. Nach ihm (Cic. Caecin. 73) habe es vornehmlich drei Gründe gegeben, die schlussendlich für eine ungerechte (iniustus164) Entscheidung eines Falles verantwortlich gewesen seien – gratia, potentia und pecunia:165 161

Übersetzung nach Weiss, Aulus, 467 f. Grundlegende Arbeiten zum Amtsmissbrauch im römischen Rechtswesen sind vor allem Kelly, Litigation, hier insbesondere 31 – 69 sowie 102 – 118; ders., Studies sowie Noethlichs, Beamtentum. Für das Mittelalter ist immer noch die Studie von Schmitt-Weigand, Rechtspflegedelikte, wegweisend. 163 A. Caecina wurde von Cicero in einem Zivilprozess verteidigt, in dem von den Parteien um ein Landgut in der Nähe von Tarquinii gestritten wurde. Zur Datierung der Rede auf das Jahr 69 v. Chr. siehe Frier, Rise, 45 f. Frier, Rise, 45, Anm. 9 und 10 zieht die Amtszeit des Prätoren Dolabella als Basis zur Datierung des Falles heran. 164 Für spätantike Beispiele einer ,ungerechten‘ richterlichen Tätigkeit aufgrund Parteilichkeit siehe die Abhandlung bei De Salvo, Libanio, der sich mit der Behandlung der Thematik in der Rede Libanius gegen Severus auseinandersetzt. Ebenso zuletzt die Abhandlung von Marotta, Modelli, insb. 112 f. 165 In Ergänzung dazu auch die essayhafte Darstellung zum Prozessrecht in der Kaiserzeit bei Kelly, Litigation, 33 f., der der Trias auch in sich eine gegenseitige Abhängigkeit zuschreibt: „… because in human societies any one or two of the three tend both to produce the other one or two and to be produced by them.“ Zu den hier nicht in breitem Maße behandelten Motiven potentia siehe ebd., 42 f. sowie pecunia ebd., 30 f., insbesondere 33 – 42. ,Korruption‘ und die Annahme von Bestechungsgeldern war ein großes Problem der römischen Justiz; so auch Jones, LRE, 502, der hierzu ausführt: „… an age in which it was a high compliment to a retiring judge to say that he left office as poor as when he entered upon it must have had low standards of judicial honesty“. Allerdings ist Vorsicht geboten, den heutigen Begriff der ,Korruption‘ auf die Antike zu übertragen. Insofern ist Macmullen, Corruption, 123 zu folgen, der argumentiert, dass 162

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B. Von Macht und Zeit … Quod enim est ius civile? Quod neque inflecti gratia neque perfringi potentia neque adulterari pecunia possit … „… Was ist das Ius civile? Etwas, das sich weder durch Einflussnahme verbiegen, mit Macht brechen noch mit Reichtum korrupt machen lässt …“

Cicero verwendete den Topos gratia, pecunia et potentia wiederholt, um die Probleme des Rechtswesens auf den Punkt zu bringen.166 An anderer Stelle – in einem seiner Briefe an seinen Bruder Quintus, der zu diesem Zeitpunkt in der Provinz Asia weilte (61 – 59 v. Chr.)167– führte er aus, ein Statthalter habe jedenfalls darauf Acht zu geben, dass nicht einmal der leiseste Verdacht einer Parteilichkeit (gratia) aufkäme (Cic. ad Q. fr. 1,20 f.): Haec et cetera plena severitatis, quae statuisti in ista provincia, non facile sine summa integritate sustinuerimus; quare sit summa in iure dicundo severitas, dummodo ea ne varietur gratia, sed conservetur aequabilis; sed tamen parvi refert abs te ipso ius dici aequabiliter et diligenter, nisi idem ab iis fiet, quibus tu eius muneris aliquam partem concesseris. Ac mihi quidem videtur non sane magna varietas esse negotiorum in administranda Asia, sed ea tota iurisdictione maxime sustineri; in qua scientiae, praesertim provincialis, ratio ipsa expedita est: constantia est adhibenda et gravitas, quae resistat non solum gratiae, verum etiam suspicioni. Adiungenda etiam est facilitas in audiendo, lenitas in decernendo, in satisfaciendo ac disputando diligentia … „Wären diese und die übrigen Beispiele nachdrücklicher Strenge, die Du in jener Provinz aufgestellt hast, nicht im Gefolge der größten Unbescholtenheit, sie wären von unserer Seite nicht durchzusetzen. Aber es lässt sich wirklich die äußerste Strenge bei richterlichen Entscheidungen durchsetzen, wenn sie nur mit Gleichförmigkeit gepaart ist und nicht durch parteiische Begünstigung Ausnahmen gemacht werden. Doch hilft es nicht viel, wenn Deine eigenen Rechtsaussprüche zwar unparteiisch sind, aber nicht dasselbe Verfahren von denen beobachtet wird, denen Du einen Teil Deines Richteramts anvertraut hast. Übrigens scheint es mir, als sei die Verwaltung der Geschäfte in Asien eben nicht sehr vielfältig, sondern beschränke sich größtenteils auf die Rechtspflege in ihrem ganzen Umfang. Hierzu gehört, besonders in Beziehung auf deren Behandlung in der Provinz, eine Summe von Kenntnissen erst dann von ,Korruption‘ in römischer Zeit gesprochen werden könne, wenn eine Vorgehensweise vor Gericht von Zeitgenossen als inakzeptabel dargestellt wird. Allerdings ist auch hier einzuwenden, dass die Parteien vor Gericht den Vorwurf der ,Korruption‘ freilich auch zu eigenen Zwecken verwendeten. Zur Definition des Begriffs ,Korruption‘ ist Schuller, Einleitung, 16 f. heranzuziehen, der Korruption auffasst als „individuelles Verhalten im Bereich des öffentlichen Lebens, das auch ein Gruppenverhalten sein kann, das gegen herrschende oder Herrschaft beanspruchende Normen des öffentlichen Verhaltens gerichtet ist, die einen bestimmten Grad von Rationalität und Zweckhaftigkeit haben.“ 166 Gratia taucht im Hinblick auf die Amtsführung auch bei Sall. Catil. 51,16 auf, worin er über Decimus Iunius Silanus, designierter Konsul für das Jahr 62 v. Chr. und einer der Redner, der sich zumindest anfänglich für die Bestrafung der Anhänger Catilinas mit dem Tode aussprach, berichtet: D. Silanum, virum fortem atque strenuum, certo scio, quae dixerit, studio rei publicae dixisse neque illum in tanta re gratiam aut inimicitias exercere …; „Ich weiß sicher, dass Decimus Silanus, ein tapferer und tüchtiger Mann, seine Rede aus ehrlichem Patriotismus gehalten hat und dass er sich bei einer so bedeutenden Angelegenheit weder von Gefälligkeiten noch von Feindschaften hat leiten lassen …“ 167 Vgl. Broughton, Magistrates, 177.

II. Die gratia iudicum

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von nicht eben verwickelter Art: Aber Konsequenz ist notwendig und Festigkeit des Benehmens, die nicht bloß die Parteilichkeit, sondern auch den Verdacht derselben nicht aufkommen lässt. Damit muss dann auch Gefälligkeit im Anhören, Milde im Entscheiden und Pünktlichkeit, wo Genugtuung zu leisten ist oder Gründe zu entwickeln sind, verbunden sein …“

Es scheint, als sei die richterliche gratia zumindest seit der Zeit Ciceros bis hin zur karolingischen Hegemonie und darüber hinaus ein von der Obrigkeit ungern gesehenes, über weite Strecken aber (gesellschaftlich) geduldetes Phänomen gewesen, mit dem Prozessparteien – so sie es denn nicht zum eigenen Nutzen verwendeten168 – zumindest jederzeit rechnen mussten. Dies war unter anderem darin begründet, dass die oftmals unklare Gesetzeslage für den Anwender einen breiten Spielraum eröffnete, der naturgemäß zu verschiedenen Ausprägungen von gratia führte.169 Insbesondere die Rechtsfindung, die sich primär auf frühere Präzedenzfälle stützte, war Einfallstor für privilegienbedingte und personenbezogene Vorgehensweisen und Gerichtsentscheidungen. Zwar waren die Statthalter an sich an die kaiserlichen Regelungen, ihre Konstitutionen und Reskripte gebunden, allerdings war diese Bindung in der Realität in den Provinzen kaum umsetzbar. Sozial und politisch konnotiert, konnte mit gratia iudicis eine soziale Freundschaft, aber auch eine „Quidproquo-Beziehung“ gemeint sein. Nach J. N. L. Myres bedeutet „gratia […] not so much ,grace‘ as ,favour‘, and not so much ,favour‘ as ,favouritism‘. Gratiosus does not mean ,gracious‘ but simply ,corrupt‘“170. Nach P. Garnsey ist gratia allgemein zu verstehen als „excessive favour“171, im juristischen Kontext dagegen als „the favourable response in a judge or jury to potentia, to the pressure applied by men of influence“172. Gratia ist jedenfalls nicht primär mit Geldfluss gleichzusetzen, schließt einen solchen aber auch nicht aus.173 Abgesehen von seiner in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts durch die Anhänger des Pelagius zugesprochenen Bedeutung174, trat der Terminus gratia in verschiedensten Kontexten auf. Im Zu168

Siehe dazu die nachstehenden Ausführungen auf S. 51 f. Bereits der Sophist Eunapius von Sardes konstatierte (Eun. fr. 72,1 = Exc. De Sent. 79): … !kk’ oR m³m m|moi jat± t¹m Sj}hgm )m\waqsim oqj !qawm_ym Gsam !shem]steqoi ja· kept|teqoi m|mom, !kk± ja· jomioqtoO pamt¹r pq¹r t¹ Ne?m eqj|kyr ja· diamemoOshai paqavoq~teqoi.; „… and the laws themselves were not only, as the Scythian Anarchies says, lighter and weaker than spiders webs, but readier than any dust to swirl away and scatter.“ Text und Übersetzung nach Blockley, Historians, 117. 170 Myres, Pelagus, 26. 171 Garnsey, Social Status, 209. 172 Garnsey, Social Status, 209. 173 Vgl. Wiemer, Kaiser, 82. 174 Die Pelagianer verstanden gratia als jegliche Form von Parteilichkeit im Widerspruch zu den Gerechtigkeitsnormen. Zu den ,social aims‘ der Pelagianer siehe die verschiedenen Positionen der Geschichtsschreibung: Toscana, Etica, anders Brown, Eye, insbesondere: 304 f. und 370 f.; in meiner Einschätzung die pointierteste Studie zur Verwendung des Terminus gratia im Pelagius-Kontext Myres, Pelagius. Seine These, die Termini der Wortfamilie gratia, die in den Konstitutionen auftreten, die Eingang in den Codex Theodosianus gefunden haben, stünden allesamt in Zusammenhang mit dem pelagianischen Streit, ist jedoch zu revidieren. 169

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B. Von Macht und Zeit

sammenhang mit sozialem Austausch erlangte gratia beispielsweise einen spezifischeren Sinn, der analog zu favor oder voluntas war. Gratia wurde oft von einem beneficium oder officium provoziert, für das es eine Art Rückzahlung darstellte. Wie andere Mitglieder der Wort-Familie konnte auch gratia ein aktives und ein passives Handeln ausdrücken. Im aktiven Kontext steht gratia insbesondere für Beziehungen in Abhängigkeitsverhältnissen. Im Gegensatz dazu wiederum steht die amicitia im Verhältnis zwischen Gleichgestellten.175 Oftmals ist in diesem Zusammenhang auch potentia involviert, wobei teilweise schwerlich zu erkennen ist, wo potentia aufhört und gratia beginnt.176 Ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass es auch Ende des zweiten Jahrhunderts n. Chr. Stimmen gab, die von einer durch gratia in Kombination mit potentia beeinflussten Justiz berichten, bietet die Schilderung des Satirikers Lukians von Samosata177. In seiner Abhandlung über )k]namdqor C Xeud|lamtir, Alexander oder Der falsche Prophet178, die er nach dem Jahr 180 verfasste179, beschrieb er die Lebensgeschichte von Alexander von Abonuteichos180 und charakterisierte ihn als intelligenten und skrupellosen Scharlatan, der die Blüte des Orakelwesens im zweiten Jahrhundert n. Chr. zum eigenen Gewinn ausnutzte. Lukian schilderte u. a., dass Alexander während einer Schiffsreise die Besatzung angestiftet hatte, Lukian samt seinem Gefolge über Bord zu werfen. Lukian erlangte davon Kenntnis und plante nunmehr, Alexander hierfür zur Rechenschaft zu ziehen. Er brachte sein Ansinnen daraufhin vor den zuständigen Richter Lollianus Avitus, den Provinzstatthalter von Bithynia und Pontus. Lukian scheiterte allerdings zum einen an der gratia des Statthalters der Provinz, Lollianus Avitus181, zum anderen an der potentia seines Prozessgegners (Lukian. Alex. 57): … !kkû b t|te Bco}lemor Bihum_ar ja· toO P|mtou Aueitor 1p]swe, lomomouw· Rjete}ym ja· !mtibok_m pa}sashai: di± c±q tµm pq¹r Uoutikiam¹m eumoiam lµ #m d}mashai, ja· eQ vameq_r k\boi !dijoOmta, jok\sai aqt|m. ovty l³m !mej|pgm t/r bql/r ja· 1paus\lgm oqj 1m d]omti hqasum|lemor 1vû ovty dijastoO diajeil]mou … Weiterführend dazu siehe unten Anm. 231. Zum Pelagianismus siehe auch die Studie von Liebeschuetz, Pelagian Movement, 227, in der Liebeschuetz die Theorie von Myres im Grundsatz bestätigt, der Bewegung jedoch ihren ,sozialen Charakter‘ abspricht. Zum Forschungsstand siehe im Generellen auch Lamberigts, Research. Von Augustinus und seinen Anhängern wurden die Pelagianer bezeichnenderweise als inimici gratiae bezeichnet (Aug. c. Pelag. 1,5). 175 Vgl. Hellegouarc’h, Vocabulaire, 206. Kritisch dazu Saller, Patronage, 21, der darauf hinweist, dass der Terminus gratia im Buch 13 von Ciceros epistulae ad familiares in Kombination mit gleichgestellten amici verwendet wird. 176 So auch Kelly, Litigation, 43. 177 Zur Person sowie Literatur siehe S. 13 nebst Anm. 2. 178 Zur historischen Glaubwürdigkeit der Erzählung siehe Pozzi, Attendibilità, 129 – 150. 179 Zur Datierung siehe Baumbach/v. Möllendorf, Prometheus, insb. 224 f. 180 Zu Alexander von Abonuteichos siehe beispielhaft Jones, Culture, 133 – 148. 181 Avitus war Statthalter im Jahr 165, vgl. Kelly, Litigation, 53.

II. Die gratia iudicum

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„… Allein der damalige Provinzstatthalter von Bithynien und Pontus, Avitus, hielt mich davon zurück, indem er mich fast fußfällig bat, die Sache ruhen zu lassen. Denn er könne, wie er mir sagte, diesen Menschen wegen seiner engen Verbindung mit Rutilian nicht zur Strafe ziehen, und wenn sein Unrecht auch noch so klar erwiesen würde. So mußte ich denn meinen Entschluß wieder fahren lassen, und mich hübsch ruhig verhalten, da vor einem Richter von solcher Gesinnung eine solche Klage anzubringen, ein höchst unzeitiger kecker Streich gewesen wäre …“182

Lukians potentieller Prozessgegner Alexander war dem hoch angesehenen Senator namens Rutilianus183 eng verbunden. Ein Gerichtsverfahren gegen und die Bestrafung des Alexander scheiterte somit an seinem einflussreichen Freund. Insofern – mag man nochmals Ciceros Trias bemühen – könnte es sich hier um eine Kombination184 aus gratia und potentia gehandelt haben, die in den Augen des Richters eine Verfahrensführung von Beginn an unmöglich werden ließ. Mit der Beeinflussung bzw. Voreingenommenheit der iudices war zwar stets zu rechnen, dies führte jedoch nicht zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz. Richterliche Parteilichkeit war eine Eigenschaft, die – wie auch bei Lukian – immer wieder im Gegensatz zur idealen Amtsführung herausgestellt und gewiss darüber hinaus verwendet wurde, um – auch in unbegründeten Fällen – eine richterliche Entscheidung, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprach, durch den Verdacht der gratia als „ungerecht“ darzustellen. Die unterliegende Prozesspartei tendierte dazu, den Richter als käuflich und anfällig für gratia zu beschuldigen.185 Dass es sich hierbei um eine gängige Methode handelte, Position oder Amtsführung eines iudex in ein schlechtes Licht zu rücken, beschrieb schon Ulpian.186 So ist es nicht verwunderlich, dass die Abwesenheit von richterlicher gratia bzw. auch eines Verdachts darauf geradezu mit einem Ideal verbunden wurde: Ausnahmeerscheinungen be-

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Übers. von Pauly, Lucian, Bd. 7, 859. P. Mummius Sisenna Rutilianus wurde zunächst nach der Praetur Legat der legio VI Victrix in Britannia und praef. aerarii Saturni, cos. suff. im Jahr 146; in den Jahren 160/1 übernahm er den Proconsulat von Asia. Er heiratete die Tochter des Alexandros von Abonuteichos und starb wohl nach Juni des Jahres 172, vgl. so Eck, Rutilianus, DNP, Sp. 468; Lukian beschrieb Rutilian wie folgt (Lukian. Alex. 30): … oR d³ p]lpomter, ja· l\kista oR dumat~tatoi ja· l]cistom !n_yla 1m t0 p|kei 5womter: ¨m pq_tor ja· joquvai|tator 1c]meto Uoutikiam|r, !mµq t± l³m %kka jak¹r ja· !cah¹r ja· 1m pokka?r t\nesi Uylazja?r 1ngtasl]mor …; „… am eifrigsten aber bewiesen sich gerade die durch Einfluß und Rang bedeutendsten Männer der Stadt. An ihrer Spitze befand sich Rutilian, ein sonst braver und rechtschaffener Mann, der schon viele Ämter zu Rom mit Ehren bekleidet hatte …“ 184 Nach Kelly, Litigation, 42 ist es teilweise gar nicht möglich, potentia und gratia voneinander zu separieren. Beide sind als ein gemeinsames Phänomen zu betrachten: „… a large number of texts treat potentia and gratia as a natural pair, by coupling them in phrases and use them, if not as synonyms, at any rate as only vaguely differentiated ideas.“ 185 Vgl. Harries, Law, 166. 186 Vgl. Dig. 30,50,1 (Ulp., Ad Sabinum 24): … Nec enim tam improbe causari potest secundum se iudicatum per gratiam …; „… Er kann nämlich doch nicht einen so unverschämten Vorwand brauchen, dass aus Parteilichkeit zu seinen Gunsten erkannt worden sei? …“ 183

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B. Von Macht und Zeit

saßen – so scheint es – Seltenheitswert187 und wurden deshalb lobend hervorgehoben:188 Unter Bezugnahme auf Cicero lobte auch Ammianus Marcellinus189 den Stadtpräfekten Praetextatus190 vornehmlich deshalb, da er als Richter niemandem ad gratiam faceret, mithin nie in begünstigender Weise eine Entscheidung gefällt habe.191 Auch Basilius von Caesarea192, der als Bischof zusammen mit seinem Bruder Gregor von Nyssa und seinem Freund Gregor von Nazianz eine zentrale Rolle für das religiöse Leben in der Provinz Cappadocia spielte, nahm dies zum Anlass, um den Provinzstatthalter der Provinz Cappadocia, (H)elias193, der im Jahr 372 regierte, in einem seiner Empfehlungsbriefe194 (epist. 96) zu beschreiben: 187 Krause, Patronatsformen, 36 ff., hier: 38 nennt „drei Faktoren, die einem ordnungsgemäßen Funktionieren der spätantiken Justiz im Weg standen: die Bestechlichkeit der Statthalter und ihres Personals, die generelle Bevorzugung der Angehörigen der Oberschichten, insbesondere des Senatorenstandes, vor Gericht und die Einschüchterung der Richter durch die potentes“. 188 So beschreibt auch Zosimus (Zos. hist. V,2,4) den comes Orientis Lucianus als idealen Amtsinhaber, der mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet war, „[…] alle guten Eigenschaften eines Regenten gegen die Untergebenen [in sich vereinte], und […] wegen seiner Gerechtigkeit, Mässigung und aller Tugenden, die einen Herrscher zieren können, berühmt [war]. Weder an den Unterschied der Personen noch ansonsten etwas dachte er, sondern nur an das, was das Gesetz befahl.“ Übersetzung von Seybold/Heyler, Geschichte, Bd. 2, 106 f. Wie auch im oben genannten Beispiel bei Basilius von Caesarea wird von Zosimus im Anschluss thematisiert, dass Lucianus aufgrund seiner idealen Amtsführung anderen ein Dorn im Auge wurde und an Flavius Rufinus, dem praefectus praetorio per Orientem, scheiterte. Zur Person des Rufinus siehe PLRE, Band I, Flavius Rufinus 18, 778 – 781. 189 Zu Leben und Werk zuletzt Jenkins, Ammianus. Kritisch zur historischen Realität bei Ammianus siehe Barnes, Ammianus. 190 Zur Einordnung, Person und Laufbahn des Praetextatus siehe Kahlos, Vettius. 191 Amm. 27,9,10: … In examinandis vero litibus ante alios id impetravit quod laudando Brutum Tullius refert, ut cum nihil ad gratiam faceret, omnia tamen grata viderentur [esse], quae factitabat.; „… Bei der Rechtsprechung in Prozessen erreichte er mehr als andere etwas, das Cicero an Brutus lobt: Nichts tat er jemandem zu Gefallen und trotzdem bekamen alle seine Handlungen ein gefälliges Aussehen.“ Übersetzung von Seyfarth, Ammianus, 81. Ammianus bezog sich hier auf M. Iunius Brutus (85 – 42 v. Chr.), der in Cic. orat. 10,34 genannt wird: Quid tam difficile quam plurimorum controversiis diiudicandis ab omnibus diligi? … Itaque efficis ut, cum gratia causa nihil facias, omnia tamen sit grata quae facis. Schon Ulpian (Dig. 1,18,6,2) forderte: Ne potentiores viri humiliores iniuriis adficiant neve defensores eorum calumniosis criminibus insectentur innocentes, ad religionem praesidis provinciae pertinet.; „Es ist Aufgabe des Statthalters, darauf zu sehen, dass die potentiores den humiliores kein Unrecht zufügen und dass nicht Unschuldige mit böswilligen Klagen verfolgt werden.“ 192 Zur Person Basilius von Caesarea siehe Hall, Theology, 100 – 120; Hauschild, Basilius; ders., Kircheneinheit. 193 Vgl. PLRE I, Helias, 411. Er war praeses Cappadociae primae. Basilius richtete an diesen selbst auch zwei Briefe (epist. 84 und 86); der Name Helias wurde nicht einheitlich benutzt; teils wurde er auch als Elias benannt. 194 Epist. 96 ist als einer der Empfehlungsbriefe einzuordnen; die sog. Empfehlungsbriefe waren an Reiche und Mächtige adressiert und sprachen sich zu Gunsten von Armen und Bedrückten aus. Sie betrafen das Wohl ganzer Gemeinden und Dörfer sowie das Wohlergehen Einzelner, vgl. Stegmann, Einleitung, 7.

II. Die gratia iudicum

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di¹ pamdgle· p²mter sjuhqyp²folem, fgliyh´mter %qwomta lºmom dum²lemom eQr cºmu jkihe?sam Edg tµm pºkim Bl_m !moqh_sai, !kgh/ v¼kaja toO dija¸ou, eqpqºsitom to?r !dijoul´moir, vobeq¹m to?r paqamoloOsim, Usom ja· p´mgsi ja· pkous¸oir, ja· t¹ l´cistom, t± t_m Wqistiam_m pq²clata pq¹r tµm !qwa¸am 1pam²comta til¶m. t¹ c²q, fti !dyqºtator ¨m Uslem !mhq¾pym, ja· oqdem· paq± t¹ d¸jaiom waqifºlemor, ¢r lijqºteqa t/r koip/r !qet/r toO !mdq¹r paqek¸polem. „Deswegen sind wir alle sehr betrübt, weil wir einen Statthalter verloren haben, der allein unsere schon in die Knie gegangene Stadt wiederaufrichten kann: einen sorgsamen Hüter des Rechts, zugänglich für die ungerecht Behandelten, zu fürchten für die Rechtsbrecher, unparteiisch gegenüber arm und reich, und – was am meisten zählt – ein Mann, der die Sache des Christentums wieder zu ihrem alten Ansehen gebracht hat. Die Tatsache, dass er der unbestechlichste Mensch ist, den wir kennen, und sich nichts auf Kosten der Gerechtigkeit schenken lässt, haben wir dabei übergangen, weil dies im Vergleich zu den übrigen Qualitäten des Mannes relativ unbedeutend ist.“195

Basilius richtete seinen Brief an Sophronius196 und bat diesen um Unterstützung in einem Gerichtsverfahren für Helias, der seines Amtes enthoben worden war.197 Die Darstellung zeigt, dass Unbestechlichkeit zusammen mit Unparteilichkeit als wesentliche Eigenschaften angesehen wurden, die einen idealen Amtsinhaber auszeichneten. Der ehemalige Amtsinhaber wird explizit dadurch charakterisiert, dass er im Umgang mit „Arm und Reich“ fair gewesen sei und keine Bevorzugung einzelner Personen vorgenommen habe, die ungerechte Gerichtsentscheidungen zur Folge gehabt hätten. Gewiss ist diese Schilderung ausgeschmückt, idealisiert und deshalb mit Vorsicht zu betrachten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass Basilius von Caesarea selbst das System der gratia iudicis für seine eigenen Zwecke nutzte. So sprach er Freunde des amtierenden Prätorianerpräfekten an und bat diese in einem Fall um Hilfe, in dem eine Witwe für einen – in seinen Augen – zu langen Zeitraum zu Zahlungen aufgefordert wurde.198 Gerade dieses Bemühen um die gratia iudicis war gesellschaftlich akzeptiert.199 Personen von höherem sozialem Status stand es frei, sich für Freunde, Verwandte oder ihre Klienten vor Gericht einzusetzen. So führte es Basilius von Caesarea auch in seiner epist. 86200 an den namentlich unbekannten Statthalter von Pontus Polemoniacus201 aus, wonach er drei Ziele in dessen Amts195

Übersetzung nach Hauschild, Basilius (II), 20. Zur Person des Sophronius und seiner Position als magister officiorum des Kaisers Valens in den Jahren 369 – 378 siehe Olszaniec, Court elite, 376 – 382; siehe auch Brauch, Correspondence, 7-12; vgl. auch PLRE I, Sophronius 3, 847 – 848. 197 Zur Datierung des Briefes ins Jahr 372 auf Basis der Amtszeit des Provinzstatthalters Helias vgl. die Ausführungen von Hauschild, Briefe, 239; Treucker, Studien, 43. 198 Vgl. Bas. epist. 108; vgl. auch die Ausführungen dazu bei Harries, Law, 166. 199 So formulierte auch Schuller, Einleitung, 16: „… diese [gegenseitige] Abhängigkeit war allen bewußt und keineswegs als unzulässig, anrüchig, ja eben korrupt verdammt, sondern als legitim akzeptiert.“ 200 Auch epist. 86 ist als einer der Empfehlungsbriefe einzuordnen; siehe oben Anm. 194 vgl. Stegmann, Einleitung, 7. 201 So vermutet Hauschild, Basilius, Anm. 371 und führt hierfür an, dass epist. 86 denselben Fall behandle wie bereits epist. 87, in welchem sich Basilius an den Statthalter von Pontus 196

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B. Von Macht und Zeit

führung anspricht: die Gerechtigkeit, die Hilfe für Freunde und das Handeln im Interesse derer, die sich zu ihrem Schutz an den Provinzstatthalter wandten.202 Auch ein anderer Zeitgenosse Basilius des Großen, Libanius203, ging mit der gratia iudicum ambivalent um: Zum einen nutzte auch Libanius – wie Basilius – die gratia iudicum für seine eigenen Zwecke, indem er in zahlreichen Briefen ein Wort für seine Freunde einlegte, die sich vor Gericht verteidigen mussten. In seiner Autobiographie schilderte er – wie selbstverständlich –, dass er selbst versuchte, die zuständigen Provinzstatthalter für seine Sache einzunehmen und für eine zeitnahe, schnelle Prozessführung zu sorgen. Zum anderen nahm er die gratia iudicum zum Anlass in einer seiner Reformreden (or. 45)204 an den Kaiser, betreffend die Gefangenen die Bevorzugung einflussreicher Prozessparteien durch die Provinzstatthalter zu thematisieren und in ein schlechtes Licht zu rücken. Gewiss sind die Reformreden zwar ob ihrer Authentizität mit Vorsicht zu betrachten, ihre historische Aussagekraft ist jedoch keineswegs als gering zu veranschlagen. In jedem Fall lässt sich erkennen, wie die Aufgabe der Statthalter in den Augen von Libanius wahrgenommen wurde. Auch Inschriften und Statuen, die zu Ehren spätrömischer Statthalter errichtet wurden, bestätigen, dass die Verhaltensnormen, auf die sich Libanius beruft, allgemeine Anerkennung fanden.205 Libanius forderte Theodosius I. in seiner or. 45 aus dem Jahr 386206 auf, entsprechend der geltenden Rechtslage zum Tode verurteile Verbrecher zügig hinzurichten sowie Unschuldige unverzüglich freizulassen. Die Quintessenz seiner Argumentation in folgendem Abschnitt lautet wie folgt: Die Provinzstatthalter würden sich parteiisch verhalten, da sie ihr Urteil Polemoniacus als oberste ,Instanz‘ für Steuerfragen in der Provinz wandte. Zur Datierung nach 375 siehe ebd., Anm. 372. 202 Vgl. Bas. epist. 86,1: OWda lec¸stgm ja· pq¾tgm spoudµm owsam t0 tiliºtgt¸ sou p²mta1 tqºpom waq¸feshai t` dija¸\, deut´qam d³ t¹ ja· to»r2 v¸kour ew poie?m ja· t_m pqosveucºmtym t0 pqostas¸ô t/r s/r lecakomo¸ar !mtipoie?shai …; „Ich weiß, dass die größte und erste Sorge für Deine Ehrwürden darin besteht, auf jede Weise die Gerechtigkeit zu begünstigen, die zweite aber darin, sowohl den Freunden Gutes zu tun als auch denen zu helfen, die sich dem Schutz Deiner Großmut anvertrauen …“ Text und Übersetzung nach Hauschild, Basilius, 149. 203 Zur Person des Libanius, Leben und Werk siehe die Ausführungen oben Anm. 86. 204 Zur Einordnung als Reformrede siehe die Einführung bei Norman, Libanius, 156 – 157. Zu den Reden von Libanius siehe auch Liebeschuetz, Antioch, 23 – 39; zu or. 45 insb. ebd., 112. 205 Mit den verschiedenen Formen, in denen Statthalter in der Spätantike geehrt wurden und den ihnen zugeschriebenen idealen Attributen beschäftigt sich Horster, Ehrungen, 37 – 59, die argumentiert, dass die Inschriften zwischen dem östlichen und westlichen Reichsteil stark in der verwendeten Sprache und im Stil variieren. Auch Slootjes, Governor, stellt in ihrem Kapitel „inscriptions and statues for governors“ die verschiedenen Formen zusammen, konzentriert sich aber nur auf Inschriften aus Aphrodisias, Ephesus und Kreta. Epigramme auf römische Statthalter interpretiert unter anderem Robert, Hellenica; ebenso, bezogen auf Beispiele aus Aphrodisias siehe Sˇ evcˇ enko, Epigram sowie Roueché, Aphrodisias; ein Beispiel aus Amisos für einen comes von Theodosius II. präsentiert mit ausführlichem Kommentar Marek, Dank. 206 Zur Datierung siehe Norman, Libanius, 156 f.; ebenso bereits Petit, Date, 285 – 310, hier insb. 294. Petit ordnet sowohl or. 30 als auch or. 45 aufgrund der Ähnlichkeiten in der Komposition der Einleitungen in das Jahr 386 ein.

II. Die gratia iudicum

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alleine auf die Aussage der höherstehenden, reichen klägerischen Partei – mithin beeinflusst von potentia – stützen, die sich oftmals mit erfundenen Beschwerden und Anschuldigungen an den Provinzstatthalter wandten, um sich so eines unliebsamen Gegners von geringerem sozialen Status zu entledigen. Die Provinzstatthalter würden hiernach die gegnerische Partei ohne vorherige Anhörung grundlos inhaftieren und sich nicht mehr um den Vorfall kümmern (Lib. or. 45,3 f.): Ushi to¸mum soi vom´ar emtar to»r 1p· t± 5hmg pelpol´mour %qwomtar, § basikeO. t¸ma tqºpom; pokka· l³m aqca· pokk±r poioOsi l´lxeir, j#m hulyh0 tir, eqh»r paq± t¹m %qwomta tq´wei ja¸ vgsim rbq¸shai ja· pepomh´mai jaj_r, b d³ 2aut¹m l³m ou, tµm cuma?ja d´, b d³ to¼tym l³m oqd´teqom, to»r pa?dar d´, ja· N¶lata pk²ttousi ja· pkgc±r ja· jataqq¶namt´r ti t/r 1sh/tor 1je¸m\ ja· toOto pqos´hesam. b d³ !qmo¼lemºr te ja· sesujovamt/shai k´cym ja· lelmgl´mor cqav/r ja· mºlym p´lpetai dehgsºlemor ja· taOta 1m 1ccugt_m !vhom¸ô. p²swousi d³ toOt( 1pieij_r oR !shem´steqoi paq± t_m dumatyt´qym, ja· oXr oqj 5mi wq¶lata paq± t_m eqpoqo¼mtym, ja· oR pokko· paq± t_m ak¸cym oT t±r aQt¸ar t±r paq± sv_m pk´om 5weim !nioOsim !pode¸neym … „Now, Sire, you must realize that the governors sent out to the provinces are murderers. The manner of it is as follows. Lost tempers often involve numerous complaints. Someone takes umbrage: straightaway he scurries off to the governor alleging that he has been the victim of insult and abuse, or, if not he, his wife has been, or, if neither of them, his children. They invent insults and injuries, make a tear or two in their clothes, and use this as a complaint additional to the first. The other party, despite denials, claims of wrongful accusation and appeals to law and statute, is packed off to jail, even though he has plenty to go bail for him. This is the normal treatment of the weaker at the hands of the influential, of the penniless at the hands of the wealthy, of the masses at the hands of the elite who expect any charge they make to count for more than proof …“207

Libanius zufolge war es ein Leichtes, sich seines Gegners aufgrund unrechtmäßiger, erfundener Beschwerden zu entledigen.208 Nachdem sich die klägerische Partei an den Statthalter mit einer Klage bzw. Beschwerde gewandt und diese vorgetragen hatte, war es – laut Libanius – in den Provinzen gängige Praxis, die gegnerische, weniger einflussreiche Partei ohne vorherige Untersuchung sofort inhaftieren zu lassen.209 Libanius legte hier stark den Fokus auf die Fälle, in denen die Anschul207

Text und Übers. aus Norman, Libanius, 161 f. Hierzu siehe auch Krause, Gefängnisse, 205 f. Zur „Macht des Prozeßgegners, die einen Angeklagten in Haft geraten ließ“ ebd., 208. 209 Die weniger einflussreichen, finanziell nicht so gut gestellten Parteien hatten oftmals darunter zu leiden, dass sie auf den Provinzstatthalter keinen Einfluss nehmen konnten und so nicht mit einer schnellen Entscheidung des Prozesses rechnen konnten, vgl. Lib. or. 33,9 f. Man kann von einer „Klassenjustiz“ sprechen, so Krause, Gefängnisse, der hierin sein Kapitel XII (ebd., 203 – 211) so überschreibt, die entsprechende literarische Evidenz behandelt und allgemein die These aufstellt: „Und es waren vor allem die Mächtigen, die die Schwachen durch schikanöse Klagen ins Gefängnis brachten“. Beispielhaft sei aus der Zusammenstellung (ebd., 205 nebst Anm. 14) Ambrosius genannt, nach dem (Ambr. in psalm. 38,27 [CSEL 64,205]) die finanziell gut gestellten Provinzbewohner, die ,Reichen‘, teilweise systematisch Prozesse gegen ihre ,armen‘ Mitbürger führten, um sich deren Hab und Gut einzuverleiben. 208

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B. Von Macht und Zeit

digungen ohne Grund erfolgten und frei erfunden waren.210 Die Provinzstatthalter stellten insofern keine notwendigen Untersuchungen zu den vorgetragenen Anschuldigungen an, sondern verhielten sich stattdessen parteiisch. Dies spielte denjenigen in die Karten, die versuchten, ihre Gegner durch Inhaftierung „auszuschalten“ und so eine Verfahrensführung von vorneherein zu umgehen. Der Richter wählte insofern den „Weg des geringsten Widerstandes“ und ließ den Gegner inhaftieren.211 Er entledigte sich dadurch des gesamten Verfahrens. Libanius stellte heraus, dass sich die einflussreichen Provinzbewohner der (oftmals erzwungenen) Parteilichkeit der Richter durchaus bewusst waren und dies für ihre Zwecke nutzten. Libanius hatte trotzdem die Erwartungshaltung, dass die Statthalter unbestechlich und gerecht urteilten212 sowie keine unnötige Brutalität213 an den Tag legten. Gleichzeitig sollten sie jedoch auch mit den lokalen Eliten stets achtvollen Umgang pflegen und deren Interessen wohlwollend gegenüberstehen.214 Dass auch Libanius215 die gratia iudicis für sich nutzte, zeigte er in seiner Autobiographie (or. 1)216 auf. 210 So auch bei Joh. Chrys. in Tit. hom. 4,4 (PG 62,686 f.) der ausführt, dass es wohl häufig vorkam, dass jemand allein aufgrund falscher Anschuldigung ins Gefängnis geworfen wurde – dies den officiales auch bekannt war und diese Personengruppe sodann von den Gefängnisbeamten gegenüber den ,wirklichen‘ Verbrechern bevorzugt behandelt wurde. Ebenso Joh. Chrys. in Mt. hom. 24,3 (PG 57,324); siehe Krause, Gefängnisse, 203 nebst Anm. 1 und 2. 211 Libanius kritisiert in seiner or. 45,27 f., insb. 45,29 die Statthalter in ihrer Amtsführung dahingehend, dass sie gegensätzlich zu ihrer angeblichen humanitären Gesinnung agierten, die Gefängnisse mit Gefangenen überfüllen und sich hiernach anderen Amtsgeschäften zuwenden würden, ohne an die Gefangenen einen Gedanken zu verschwenden. 212 Libanius setzt sich auch in seinen Briefen wiederholt mit der statthalterlichen Tätigkeit auseinander und beschreibt darin deren amtsimmanente Aufgabe gerne als m|mym vukaj^, vgl. beispielsweise in Nr. 5 Förster, 2; 238 Förster, 4; 773 Förster, 1; 1049 Förster, 3. Ein gerechtes Urteil setzt nach Libanius jedenfalls eine Verhängung der gesetzlich vorgeschriebenen Strafen voraus. Ohne Bestrafung werden die Gesetze nicht wirksam, vgl. or. 45,28 und 33. Die Einhaltung dieser Vorgaben war nach Libanius Aufgabe des religiös neutralen Kaisers; hierzu Wiemer, Kaiser, 151 f. 213 Trotz Fürsprache von Libanius ließ sein ehemaliger Schüler, der consularis Syriae Severus jemanden zu Tode peitschen. Dies bezeichnete Libanius als schlechte und zu brutale Amtsführung (Lib. or. 57). 214 Dies ist – zumindest aus heutigen Gesichtspunkten – widersprüchlich zu der gleichzeitig geforderten Gerechtigkeit in der Prozessführung. 215 Auch Cicero, zu Lebzeiten als rechtschaffener Mann bekannt, war nicht davor gefeit, sich selbst der gratia zu bedienen. Dies kommt klar in seiner Korrespondenz mit seinen Freunden zum Ausdruck, die das Amt eines Provinzstatthalters bekleideten. Cicero schrieb zahlreiche Briefe, in denen er sich für einen Bekannten einsetzte, damit dieser in einem Gerichtsverfahren bessere Karten hatte. Als Beispiele sollen hier Cic. fam. 13,53 (Cicero setzt sich bei dem propraetor Asiae Q. Minucius Thermus für seinen Bekannten L. Genucilius Curvo ein) sowie Cic. fam. 13,65 (Cicero setzt sich bei eben diesem für seinen Bekannten Cluvius Puteolanus ein) dienen. Zur Verwendung der Termini gratia und amicitia bei Cicero siehe auch oben Anm. 174 und 175. 216 Der erste Teil der Autobiographie (or. 1,1 – 155) stammt aus dem Jahr 374. Hierin blickte Libanius, damals bereits 60-jährig, auf ein Leben voller Höhen und Tiefen zurück. Die Sprache lässt vermuten, dass er dies vor einem kleinen Publikum tat, das ihn bereits gut kannte. Dies lässt wiederum Rückschlüsse darauf ziehen, dass die Darstellung nicht von allzu großen Aus-

II. Die gratia iudicum

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Hierin (or. 1,107) stellte er zudem klar, was diese Gunst des Richters für ihn unter anderem bedeutete: oqj 5t( owm Bl?m b kºcor lºmom 5qcom Gm, !kk( 5dei tµm l³m Bl´qam eWmai kºcym, tµm d³ 2sp´qam pq²neym7 oV te c±q dµ rp¹ dumatyt´qym !dijo¼lemoi oV te jat( aqcµm 1ccqall´moi, t/r !qw/r d³ eQr !pakkacµm deºlemoi oV te 1pihuloOmter ¢r t²wista x¶vou tuwe?m – pokk±r d( #m ja· %kkar !qwµ do¸g w²qitar oq kupoOsa t¹m mºlom – oxtoi, oR l³m aqto¸, t_m d³ cuma?jer, Õtoum ja· rp³q sv_m 1khe?m 1je?se. „Thus oratory was no longer my only concern, but while my days were taken up with it, my nights were perforce engaged with business. Those people who had suffered injury at the hands of men of greater influence, those who, indicted in anger, now needed the governor for their deliverance, and those desirous of a speedy trial – and many other favours too a governor can grant without harm to the law – all these, either in person or through their wives, begged me to approach him on their behalf.“217

Libanius beschrieb sein Leben geprägt von vielen Höhen und Tiefen. Sein Glück war in extremen Maßen davon abhängig, ob er in der Gunst des jeweiligen, gerade im Amt befindlichen Provinzstatthalters stand. War dies bekanntermaßen der Fall, kamen die Leute zu ihm, um ihn darum zu bitten, sich für sie einzusetzen.218 In diesem Zusammenhang erwies es sich für ihn als außerordentlich günstig, dass sein früherer Gönner Strategius Musconianus219 – auf dessen Initiative ihn im Jahr 353 ein Ruf auf einen Rhetoriklehrstuhl in Athen ereilt hatte220 – zum praefectus praetorio Orientis erhoben wurde.221 Was aber waren nunmehr die legalen Gunstgewährungen, von denen Libanius spricht? Welche Gunst konnte durch den Provinzstatthalter ohne Rechtsverletzung gewährt werden? Die Gunst, auf die Libanius – zumindest in or. 1,107 – anspielt, ist die Terminierung des Verfahrens, die Beschleunigung der Anhörung222 oder eben auch die schmückungen und Veränderungen geprägt sein kann. Gewiss muss man trotzdem mit einigen Beschönigungen rechnen, vgl. hierzu zuletzt Van Hoof, Libanius, 193 – 206; ebenso Martin/ Petit, Libanios, 34 f. 217 Text und Übersetzung nach Norman, Autobiography, 173. 218 So ähnlich auch zu finden in einem Brief des Marcus Cornelius Fronto an Kaiser Marcus Aurelius (Front. Ad M. Caes. 5,36), worin der Terminus amici verwandt wird: … Nam ius et aequom omnibus Asianis erit apud te paratissimum: sed consilium, comitatem, quaeque amicis sine ullo cuiusquam incommodo propria impertire fides ac religio proconsulis permittit, peto Themistocli libens impertias …; „… For you will, I know, be always most ready to do what is just and proper by all Asians, but counsel and courtesy and all those personal which both honour and conscience permit a proconsul to shew his friends, so long as no one else is injured thereby – these I ask you freely to extend to Themistocles …“ Übersetzung von Haines, Correspondence, 235. 219 Zu ihm vgl. PLRE I Strategius Musconianus 611 f. 220 So die Schildung bei Libanius, or. 1,82 f., wonach Libanius aber aufgrund der Umgangsformen zwischen den rivalisierenden Athener Rhetorikschulen (or. 1,85) den Ruf ablehnte, diesen aber als höchst ehrenwert einstufte (or. 1,84). 221 Vgl. Lib. or. 1,106. 222 So auch in einem Brief des Synesius, gerichtet an Cledonius, worin er diesen darum bat, dass die Anhörung so schnell wie möglich erfolgen und nicht verzögert werden sollte (epist. 2;

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B. Von Macht und Zeit

zeitliche Verzögerung223 des Falles, falls so gewünscht. Dies stellte wohl ein sehr großes beneficium dar. Für Libanius war es ein entscheidender Faktor, der durch eine Einflussnahme durch sozialen Status (honos)224 sowie die Bestechung (improbitas) beim zuständigen Richter oder dessen officium zu erreichen war.225 Für viele Parteien war es wichtig, dass die Anhörung relativ schnell angesetzt und auch an einem Ort geladen wurde, der nahe an ihrem Zuhause war. Die schnelle Prozessführung und Terminierung war wohl eine der vielen verschiedenen Form der gratia iudicis, die u. a. auch bereits in den Jahrhunderten zuvor greifbar ist: Die Schnelligkeit, in der ein Fall angehört wurde, war schon für Apuleius von Madauros226 von großer Bedeutung Nummerierung nach Garzya, Synesii Cyrenensis epistolae; bei Hercher, Epistolographi Graeci, und in der Patrologia Graeca LXVI, wo die Textkonstitution von Petauaus dem Jahre 1612 abgedruckt ist, trägt dieser Brief die Ziffer 42): Succemµr 1l¹r !dije?tai, s» d³ ja· v¸kor eW ja· dij²feim, 5kawer. 1j li÷r owm pqosow/r rp²qnei so· j!lo· ja· to?r mºloir waq¸sashai. 1pam¸ty to¸mum )sv²kior eQr t¹ despºtgr eWmai t_m jeqal¸ym t0 toO patq¹r diah¶j, pqoskab½m tµm !pºvasim, t/r jatgcoq¸ar oqj 1sol´mgr 1lpod½m t` paqaut¸ja t/r !jqo²seyr. pºte c±q de? dijaiodote?m C t¹m wqºmom 1m è l²kista tucw²molem deºlemoi toO heoO . „One of my relatives is suffering an injustice. You are my friend, and it has fallen to your share to hold the court. You are therefore, in a position to satisfy yourself, myself, and at the same time the law of the land. Accordingly let Asphalius come again into possession of his wine jars in peace, receiving a decision of the court to confirm his father’s will. Let not the prosecution impede the immediate hearing of the case, for when should we do justice better than at the moment in which we are especially engaged in the lifting up our hands to God?“ Übersetzung von Fitzgerald, Essays. 223 So in Lib. epist. 106, worin Libanius einen eifrigen Rekrutierer von Dekurionen gegen die zahlreichen gegen ihn erhobenen Vorwürfe verteidigte, und Rufinus, den comes Orientis aufforderte, die Entscheidung in diesem Verfahren bis zu seiner Rückkehr zu verzögern. 224 So nutzten die potentiores ihren Einfluss unter anderem auch dafür aus, Gerichtsverfahren nach ihrem Gusto zu leiten. Dies geschah nicht zuletzt auch dadurch, dass sie beispielsweise Druck auf ihre Klienten ausübten, damit diese als Zeugen vor Gericht für ihre Sache aussagten, vgl. Aug. Serm. 36,10 (CCL 41,441). Die Grenzen zur auch zur damaligen Zeit untragbaren ,Falschaussage‘ waren hier fließend. Dass die potentiores auch Druck auf die iudicum selbst ausübten und sich mithin dem Konstrukt der gratia iudicum bedienten, schilderte auch Augustinus (Aug. conf. 6,10): Er berichtete von seinem Jugendfreund, dem Juristen Alypius, der in Rom für den comes sacrarum largitionum arbeitete, beschrieb diesen als mutig und unbestechlich und schilderte, dass der Versuch eines mächtigen Senators, ein Verfahren nach dessen Willen zu beeinflussen, Alypius beinahe um seine Karriere gebracht hätte. Ein weiterer Fall findet sich in Aug. serm. 107,7,8 (PL 38,630 f.). Dazu auch Krause, Gefängnisse, 204 nebst Anm. 9 – 11 mit weiteren Beispielen. 225 Dazu die Studie von Burton, Power, 104. Auch Ulpian beobachtete, dass honos sowie improbitas die Schnelligkeit bestimmten (Dig. 1,16,9,4): Observare itaque eum oportet, ut sit ordo aliquis postulationum, scilicet ut omnium desideria audiantur, ne forte dum honori postulantium datur vel improbitati ceditur, mediocres desideria sua non proferant, qui aut omnino non adhibuerunt, aut minus frequentes neque in aliqua dignitate positos advocatos sibi prospexerunt.; „Er muss daher darauf achten, dass bei allen rechtlichen Anträgen vor Gericht Ordnung herrsche und dass eines jeden Verlangen gehört werde, damit nicht, während in Rücksicht auf den Rang derer, welche Anträge gemacht haben, denselben gefügt, oder Unredlichkeiten zugelassen werden, das Verlangen der Armen überhört werde, welche entweder gar keine Advokaten angenommen haben oder weniger gesuchte und solche, die keine Würde weiter bekleiden.“ 226 Zur Person allgemein siehe Harrison, Apuleius.

II. Die gratia iudicum

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für die Prozessführung. Dies kam ihm selbst in einem gegen ihn geführten Prozess zugute, in welchem er beschuldigt wurde, die Eheschließung mit seiner vermögenden Frau Pudentilla durch Magie beeinflusst zu haben. In seinem Werk Apologia berichtete er von diesem Prozess und bedankte sich explizit bei dem Richter, dem Proconsul der Provinz Africa, Claudius Maximus, für die schnelle Terminierung, da diese insbesondere auch die Unterschlagung von prozessrelevanten Dokumenten durch die Gegenseite verhindert hatte.227 Für unser modernes Rechtsverständnis undenkbar, wurden viele Ausprägungen der gratia im jurisdiktiven Kontext aus damaligem Blickwinkel nicht als missbräuchlich empfunden. Das der gratia iudicis immanente Konzept des Quidproquo war quasi systemimmanent. Es hieß mithin als (potentielle) Prozesspartei, ein maßvolles Spiel mit der gratia iudicis zu beherrschen. Eine einseitige Betrachtung der gratia iudicum allein als missbräuchliche Amtsführung der iudices und Problem des Rechtswesens wird der Tragweite der Systemimmanenz jedenfalls nicht gerecht oder wie bereits J. Petit formuliert „Le jeu des influences et l’art d’utiliser les relations utiles sont des pratiques répandues à toutes les époques“228 – wobei sich allein in Ausmaß und Form zwischen den Epochen Unterschiede zeigen. 2. Die gratia iudicum im Codex Theodosianus a) Fragestellung In der vorliegenden Untersuchung steht allein der Versuch im Vordergrund, die Spezifika dafür herauszustellen, in welchen Fällen ein die Prozessführung in ihrem zeitlichen Rahmen beeinflussendes parteiisches Verhalten der iudices ein Einschreiten der Gesetzgeber bewirkte. Oder – um P. Garnsey zu bemühen – der Versuch, eine Unterscheidung zwischen „proper and improper influences“229 in Form der gratia iudicis zu treffen. Alle am Justizsystem Beteiligten, sei es als Partei, Fürsprecher, Anwalt, Kanzleibeamter oder Richter konnten die gratia für ihre persönlichen Zwecke nutzen. Wurde der Terminus gratia oder einer der Termini aus der Wortfamilie (gratiosus, gratificare) jedoch in gesetzlichen Regelungen explizit im Zusammenhang mit der richterlichen Amtsführung verwendet, so standen diese – wie zu zeigen sein wird – ausnahmslos in einem Kontext, in dem sie mit einer Handlungsweise verbunden wurden, die nicht dem Idealfall entsprach: Sie waren 227

Vgl. Apul. apol. 84: … Bene, quod integras epistulas matris Pontianus ex more adservavit; bene, quod vos festinatio iudicii antevertit, ne quid in istis litteris ex otio novaretis. Tuum hoc, Maxime, tuaeque providentiae beneficium est …; „… Ein Glück, dass Pontianus nach seiner Gewohnheit die Briefe seiner Mutter unversehrt aufbewahrt hat, ein Glück, weil Euch die Eile des Gerichtes zuvorkam, dass ihr nicht diese Briefe in aller Ruhe erneuertet! Dies geschah mit deiner Hilfe, Maximus, und deiner Voraussicht …“ Ob der Prozess in der geschilderten Form tatsächlich stattgefunden hat, mag bezweifelt werden, dazu siehe Riemer, Apuleius, 178 – 190, die insofern Kritik übt an Schenk, Einleitung, 42 f. 228 Petit, Libanius, 259 Anm. 9. 229 Garnsey, Status, 207.

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negativ konnotiert. Im Codex Theodosianus findet sich der Terminus gratia sowie andere Termini aus der Wortfamilie (gratiosus, gratificare) circa 40 Mal, wobei die meisten der gesetzlichen Regelungen in den Zeitrahmen zwischen 360 und 419230 fallen, jedoch nur weniger als die Hälfte richterliches Verhalten im Kontext eines Gerichtsverfahrens betreffen. Dies lässt darauf rückschließen, dass gratia iudicum ein Störfaktor im Rechtswesen war, ihr aber im Vergleich zu anderen Problemen, die ein Vielfaches öfter angesprochenen wurden, keine übermäßige Bedeutung231 in der Gesamtschau zukam. Ein Blick in die späte Republik und frühe Kaiserzeit zeigt zudem, dass es bereits in dieser Zeitspanne – nach J. M. Kelly als auch P. Garnsey – keine praktizierte Gleichheit vor dem Gesetz gab und das Rechtssystem von Einflussnahme

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Zur Aufzählung der einzelnen Fälle siehe die Übersicht bei Myres, Pelagius, 21 – 36, hier: 25. 231 Myres, Pelagius, 25 stellt die Verteilung der Erlasse, in denen gratia vorkommt, in einen ganz anderen Kontext: In seiner Untersuchung zur historischen Figur Pelagius stellt er die Vermutung auf, dass die im Codex Theodosianus enthaltene Gesetzgebung, die die Termini gratia, gratious, gratificare enthält, ausschließlich auf eine Auseinandersetzung mit der Theologie des Pelagius (bzw. mit den Pelagianern als inimici gratiae) zurückzuführen sei. Myres führt dafür zum einen an, dass die meisten gesetzlichen Regelungen, die Termini aus der Wortfamilie gratia enthalten, in die Jahre 390 – 419 entfielen und dies mit den Jahren kollidiere, auf die der Pelagianische Streit entfiel. Zudem sei die örtliche Verteilung der gesetzlichen Regelungen hierfür ein Indiz (zehn Erlasse aus Mailand (Cod. Theod. II 1,6, VI 24,3; 364, VII 2,2; 385, XI 1,26; 399, XI 30,48; 387, XII 19,3; 400, XIII 3,13, 387, XIII 10,8; 383, XIII 11,8; 396, XV 1,41; 365), fünf aus Ravenna (Cod. Theod. VI 18,1; 412, X 3,7; 417, XI 8,3; 409, XIV 4,10; 419, Const. Sirm. 16), einer aus Trier (XIV 17,6; 370), zwei aus Rom (Cod. Theod. VII 18,4; 380, XVI 5,40; 407) und einer aus Aquileia (Cod. Theod. X 17,3), aus dem Osten nur neun aus Konstantinopel (Cod. Theod. VI 33,1; 416, VII 4,29; 407, XI 1,1; 360, XI 16,11, XI 30,51, 393, XII 1,172; 410, XIII 11,5; 393, XVI 5,13; 384, Cod. Iust. III 1,13; 540) und je einer aus Nicomedia (Cod. Theod. I 28,2) und Caesarea (Cod. Theod. XII 16,5). Nach Myres lässt sich daran erkennen, dass die theologische Kontroverse über gratia westlichen Ursprungs und in erster Linie von westlichem Interesse war, so auch die Sorge der kaiserlichen Autorität um die Verbreitung von gratia vor Gericht. Myres führt auch dies darauf zurück, dass der sogenannte Pelagianische Streit allein für die Kirche im Westen des Reiches von Bedeutung war. Der Pelagianismus habe dagegen in der Ostkirche zu keiner Zeit einen größeren Einfluss gehabt. Eine genaue Exegese der gesetzlichen Regelungen nimmt er allerdings gerade nicht vor. Dass er sich mit den Konstitutionen nicht direkt auseinandergesetzt hat, zeigt auch, dass er u. a. folgende drei Erlasse nennt, die so nicht existieren: XVI 5,46, ebd., Anm. 22; XII 3,8 ebd., Anm. 23 sowie XV 10,12, ebd., Anm. 26. Myres ist jedenfalls zuzugeben, dass – wie er detailliert herausarbeitet – die Pelagianer u. a. die Einflussnahme auf Gerichtsverfahren durch gratia und potentia kritisiert haben. Ein direkter Zusammenhang jedoch mit den in den Codex Theodosianus aufgenommen Konstitutionen, die gratia betreffen, erscheint zu konstruiert. Wie die hier vorgelegte Untersuchung (S. 43 – 84) zeigt, handelt es sich jedenfalls bei den kaiserlichen Konstitutionen, die die gratia iudicis im Kontext mit Verfahrensverzögerung oder -beschleunigung betreffen, stets um Einzelfälle, in denen gerade kein Bezug zum Pelagianismus oder zum Pelagianischen Streit feststellbar ist.

II. Die gratia iudicum

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geprägt war.232 Die spätantiken Amtsträger waren in der historischen Gesamtschau keinesfalls „korrupter“ als ihre Vorgänger.233 In fast allen Fällen verwenden die kaiserlichen Gesetzgeber den Terminus gratia als einen Faktor, der den ordnungsgemäßen Verlauf der Gerechtigkeit oder der amtlichen Geschäfte stört. Zu beobachten ist zudem, dass in allen nachfolgend zu behandelnden Beispielen die gesetzliche Regelung primär einen anderen Hintergrund hatte. Der Anlass variierte. Alle Regelungen haben aber gemeinsam, dass der kaiserliche Gesetzgeber es für notwendig hielt, als Zusatz auch die Problematik der gratia iudicum anzusprechen. b) Die gratia iudicum und die Störung des ordentlichen Verfahrensablaufs Am 13. August 316234 erließ Kaiser Konstantin eine Konstitution, die von den Kompilatoren in zwei Fragmente (Cod. Theod. XI 30,5235 und Cod. Theod. XI 30,6) aufgespalten wurde. Kaiser Konstantin kritisierte darin den Adressaten des Erlasses, Petronius Probianus, proconsul Africae236 direkt und prangerte u. a. dessen Nachlässigkeit in der Übersendung237 notwendiger Gerichtsakten im Rahmen von consultatio ante sententiam-238, relatio- und Appellationsverfahren an. Er hielt es zudem für unerlässlich, auch die Problematik der gratia iudicis anzusprechen (Cod. Theod. XI 30,5): Ex illo tempore, quo in civilibus causis, quae inter privatos moventur, consulturum vel relaturum te esse promiseris vel appellationis a te interpositae sollemnia completa fuerint, nihil posthac tibi quodlibet speciale ac requisitum vel quibuscumque modis favoris gratiam praeferens audiendum est … „Von der Zeit an, von der Du versprochen hast, Uns in einer zwischen Privaten verhandelten Zivilangelegenheit zu konsultieren oder Bericht zu erstatten oder nachdem die Formalitäten einer Appellationseinlegung gegen deine Entscheidung vollständig erfüllt wurden, darf von Dir nichts, keine spezielle Anfrage oder irgendetwas, was eine Begünstigung involviert, Gehör erhalten …“ 232

Vgl. Kelly, Litigation, 31 ff. Zur gratia siehe ebd., 42 ff.; vgl. zur gratia auch Garnsey, Status, insb. 209, der sich in seinem Kapitel „the judge“ mit den verschiedenen Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Richter auseinandersetzt und davon ausgeht, dass eine Gleichheit vor Gesetz in der von ihm untersuchten Zeitspanne (Mitte erstes Jahrhundert bis Anfang des dritten Jahrhunderts n. Chr.) unerreichbar war. 233 So Krause, Patronatsformen, 38. 234 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Zeitfolge, 165; zur Interpretation von Cod. Theod. XI 30,5 siehe auch Pergami, Amministrazione, 16 – 17. 235 = Cod. Iust. VII 62,13. 236 Vgl. PLRE, Band I, Petronius Probianus 3, 733. 237 Zur in Cod. Theod. XI 30,5 enthaltenen Problematik der Nichtübersendung der vollständigen Dokumentation siehe die Ausführungen in nachfolgendem Kapitel ,Die transmissio suppressa‘ unten S. 157 f. 238 Zum consultatio ante sententiam-Verfahren und der Abgrenzung zum relatio- sowie Appellationsverfahren siehe die Ausführungen u. ab S. 166 f.

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B. Von Macht und Zeit

Nach Durchführung der Verfahrensschritte am Gericht a quo in einem consultatio ante sententiam- sowie relatio-Verfahren oder auch nach Einlegung einer appellatio sollte der zuständige iudex a quo keine begünstigenden Maßnahmen mehr ergreifen. Was genau war nunmehr das unzulässige Verhalten des Richters? Der Regelung sind insofern keine Details zu entnehmen. Gleichwohl sollte der Verfahrensfortgang nicht aufgrund parteilichen Verhaltens des Richters gestört werden. Die Parteilichkeit des Richters (quibuscumque modis favoris gratiam praeferens) war ein weiterer Stolperstein im Hinblick auf ein funktionierendes Rechtssystem. Die gratia iudicis konnte dazu führen, dass das Verfahren, z. B. im Fall einer den Parteien „versprochenen“ consultatio ante sententiam, nicht seinen gesetzlich vorgeschriebenen Weg an den kaiserlichen Gerichtshof nahm. Dem Richter war es auf jeden Fall möglich, in diesem Verfahrensschritt, bedingt durch gratia iudicis, bestimmte Unterlagen zurück zu halten, nachträglich noch Dokumente zu berücksichtigen, nur einen Teil der Dokumente, mithin eine „unvollständige“ Gerichtsakte zu übersenden oder gar nach Ansage, das Verfahren abzugeben, nichts weiter zu unternehmen. Auch Letzteres konnte im Interesse einer der Prozessparteien sein. Die vermeintliche Abgabe des Verfahrens an den Kaiser zur Beurteilung führte zu einer Verzögerung und stellte für so manchen, finanziell besser gestellten Prozessgegner sicherlich ein taktisch kluges Vorgehen dar. Eine derartige Verfahrensverzögerung nach Einlegung eines Rechtsmittels oder richterlichem Versprechen, eine consultatio ante sententiam an den kaiserlichen Gerichtshof zu übersenden, war – so ist zu vermuten – eine der unzulässigen Formen der gratia iudicis. Die in Cod. Theod. XI 30,5 geäußerte Kritik stand mithin im Kontext mit der vom Kaiser intendierten Entlastung des kaiserlichen Gerichtes mit unnötigen Verfahren, die aus reiner Willkür der Prozessparteien im Zusammenspiel mit der gratia des iudex ordinarius geführt wurden. Im Jahr 385 wandte sich Kaiser Valentinian II. an den praefectus praetorio Italiae Flavius Neoterius239. Die Gesetzgebung Kaiser Valentinians II., die T. Honoré als „conservative and tidy, like those of an administrator anxious to make clear distinctions“240 beschreibt, beschäftigte sich vornehmlich mit der Zivilverwaltung und dem Prozessrecht.241 Unter anderem stellte Valentinian II. klar, dass eine Klagepartei, die an einem nicht zuständigen und damit falschen Gericht Klage erhoben hatte, diese „verlieren“242 würde. Von diesem Grundsatz machte er allerdings folgende Ausnahmen (Cod. Theod. II 1,6; 30. April 385243): 239

Vgl. PLRE I, Flavius Neoterius, 623. Honoré, Law, 183. 241 Zur Gesetzgebung Valentinians II. siehe insbesondere Honoré, Law, 180 – 187. Eine Studie zur Interpretation der Konstitutionen von Valentinian II. bleibt auch weiterhin ein Desiderat. 242 Cod. Theod. II 1,6 (30. April 385): … omnes iacturam litis incurrant, qui non ante in proprio foro iurgaverint, si quidem possint venire ad altioris iudicis notionem, quum iudicatum, quod displicet, appellatio excluserit.; „… alle müssen den Verlust ihrer Klage erleiden, wenn sie nicht zuerst am zuständigen Gericht Klage erheben, wenn sie nicht tatsächlich Klage vor einem höheren Richter erheben können, wenn sie eine Berufung gegen eine Entscheidung 240

II. Die gratia iudicum

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… ita ut, si quis litigator se vel fastidio vel gratia cognitoris aut non auditum aut dilatum docuerit et eius litis quae protracta est aestimationem fisco nostro iudex praestet et in primores officii poena deportationis ilico deprometur. „… Sollte jedoch ein Prozessierender beweisen, dass er nicht angehört wurde oder dass sein Fall entweder durch Arroganz oder durch Parteilichkeit des Richters aufgeschoben wurde, so zahlt der Richter unserem Fiskus den geschätzten Streitwert. Die Strafe der Deportation muss sofort den Vorstehern seines Büropersonals auferlegt werden.“

Das Gesetz ist nicht in einem speziellen Themenzusammenhang überliefert. Hier wurde aber explizit die Problematik einer unzulässigen gratia iudicis mit der Folge eines Prozessaufschubes angesprochen. Die Wortwahl indiziert, dass sich die in einem solchen Fall benachteiligte Partei an den Prätorianerpräfekten wenden konnte, um vor diesem ein Fehlverhalten des Richters anzuzeigen, zu beweisen und so schlussendlich ihre Klage an dessen – eigentlich („erstinstanzlich“) unzuständigen Gericht – zu verhandeln.244 Ein Anspruch auf Schadensersatz dagegen wurde der Partei – anders noch in Cod. Theod. II 6,2 (318) für den Fall der dadurch eingetretenen Verjährung – nicht eingeräumt. Was die Partei genau vorzutragen hatte, um ein solches Fehlverhalten des Richters erfolgreich darzulegen, wurde nicht erläutert. Allerdings zeigte Valentinian II. drei verschiedene Szenarien auf: Entweder die Prozessparteien wurden überhaupt nicht angehört, ihnen wurde ihr rechtliches Gehör verweigert oder ein Verfahren wurde aufgrund fastidium vel gratia verzögert.245 Wie bereits im Hinblick auf richterliche neglegentia herausgestellt, war dies gerade in der Kombination mit einem weiteren Vorwurf (hier: der unterlassenen Anhörung) problematisch: Führte die gratia iudicis246 also zu einer zeitlichen Verzögerung des Verfahrens, wodurch es den Prozessierenden erschwert oder gar unmöglich gemacht wurde, ihr Anliegen vor den zuständigen Richter zu bringen, handelte es sich um ein unzulässiges richterliches Verhalten, das als missbräuchlich aufgefasst wurde. Im eingelegt haben, die ihnen missfallen hat.“ Dazu, dass bereits die Kaiser Vespasian und Mark Aurel die Entscheidung einer Sache zurückwiesen, da der Kläger sich nicht zuerst an das zuständige Gericht gewandt hatte (vgl. CIL II 1423 sowie Dig. 49,1,21pr. (Papir. Iust.), siehe Wankerl, Appello, 235, nebst Anm. 1148. 243 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 266. 244 Bereits in dem Edikt des Servius Sulpicius Similis, praefectus Aegypti (siehe oben S. 36 nebst Anm. 124) findet sich diese Tendenz: Hierin wird festgelegt, dass sich ein Vorgeladener, der auf einem conventus nicht angehört worden war, an das Gericht des Graustrategen wenden konnte. Der Graustratege ersetzte sodann denn ursprünglich zuständigen Richter und sprach ein Urteil. 245 Ein Blick in die interpretatio führt zu einer verwunderlichen, interessanten Verbindung zwischen gratia und dem unpräzisen Terminus amicitia als Grund für die Verzögerung des Verfahrens, vgl. Mommsen/Meyer, Theodosiani libri, 73: … Sane si quis causam habens, a iudice suo se vel per superbiam vel propter amicitiam adversarii sui probaverit non auditum, iudicem tantum, quantum res, de qua agitur, valuerit, fisco nostro iubemus exsolvere: et qui consiliis suis adhaerent, exilii poenam pro districtione sustineant. Zu gratia und amicitia siehe auch oben S. 48 nebst Anm. 175. 246 Gratia ist hier erneut, in einer anderen Wortpaarung zu finden. Bisher: gratia et dissimulatio (Cod. Theod. VII 18,4) und pretio et gratia (Cod. Theod. I 16,3).

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B. Von Macht und Zeit

Gegensatz zu Cod. Theod. II 6,2 (318) reichte in Cod. Theod. II 1,6 bereits die reine Erschwerung für die Partei, ihr „Recht zu bekommen“, durch den Statthalter für die Erfüllung des Tatbestandes aus. Die dem zuständigen iudex für das unzulässige Verhalten in der Konsequenz auferlegte Strafe ist bereits aus einem früheren Gesetz bekannt: In Cod. Theod. I 16,3 wurde dem praeses der Provinz Korsika, Felix, angedroht, für den Fall der Nachlässigkeit den geschätzten Streitwert zahlen zu müssen. Auch hier wird dem Provinzstatthalter als Richter eine Geldstrafe in Höhe des geschätzten Streitwertes – eius litis quae protracta est aestimationem – auferlegt. Parallel dazu ist auch der Bürovorsteher der statthalterlichen Kanzlei für das Fehlverhalten mit- wenn nicht gar hauptverantwortlich, da es – wie bereits dargestellt – die Aufgabe der Kanzlei war, den Statthalter in seinen Prozesshandlungen zu beraten und auf die einzuhaltenden Verfahrensvorschriften hinzuweisen.247 Die primores der Kanzlei mussten für den Fall einer erfolgreichen Beweisführung durch die Prozesspartei vor dem praefectus praetorio damit rechnen, deportiert zu werden.248 Alles war jedoch daran geknüpft, dass eine Prozesspartei, die sich aus den genannten Gründen falsch behandelt fühlte, den Mut, die Zeit und die nötigen Mittel aufbringen konnte, den Fall erfolgreich vor den Prätorianerpräfekten zu bringen. Die Prozesspartei musste somit zumeist nicht nur einen langen Reiseweg in Kauf nehmen, sondern auch das Risiko tragen, dass sie – da die Beweislast tragend – keine Garantie dafür hatte, dass der betreffende iudex schlussendlich auch bestraft wurde und die Partei selbst zu ihrem Recht kam. Nicht zuletzt war sie dem Risiko ausgesetzt, selbst für eine „falsche“ Beschuldigung des Richters bestraft zu werden. Die Parteien mussten unter anderem damit rechnen, mit denselben Strafen belegt zu werden, die auch für denjenigen auszusprechen waren, dessen Fehlverhalten sie darzulegen versuchten.249 Valentinian II. thematisierte daneben noch eine weitere Ausprägung der unzulässigen gratia iudicis im Zusammenhang mit der richtigen Verfahrensweise bei Einlegung einer Appellation. Im Jahr 387 wandte er sich an den praefectus praetorio Italiae et Illyrici Flavius Eusignius250 und intendierte eine Entlastung des kaiserlichen Gerichtshofes:251 Nach Einlegung einer Appellation und Überstellung der 247

Zur Haftung des officium siehe die Ausführungen auf S. 40 f. Vgl. Lambertini, Giustiniano, 6 f., der davon ausgeht, dass anders als bei den iudices, die Bestrafung der primores in Form der Deportation auf jeden Fall vollzogen wurde. 249 Hierzu siehe auch Anm. 519. 250 Vgl. PLRE, Band I, Flavius Eusignius, 309 – 310. 251 Cod. Theod. XI 30,48 (387): Revocare appellationem suam unicuique minime permittatur, sed sacro auditorio totius negotii examinatio reservetur. Quod si hac lege neglecta gratiam siverit appellationis, et ipse quinquaginta libras argenti et eius officium parem summam condemnationis inferre cogetur.; „Auf keinen Fall ist es irgendjemandem erlaubt, seine eigene Appellation zu widerrufen, aber die Prüfung der gesamten Angelegenheit unterliegt dem ,kaiserlichen Gerichtshof‘. Aber wenn jemand dieses Gesetz vernachlässigen sollte und eine Appellation durch Bevorzugung erlauben sollte, wird er verpflichtet sein, 50 Pfund Silber zu bezahlen, und sein Büropersonal wird einen ähnlichen Betrag als Strafzahlung bezahlen.“ Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 272. 248

II. Die gratia iudicum

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Sache zur Entscheidung ans kaiserliche Gericht, dem auditorium sacrum252, sollte der Widerruf einer einmal beim iudex a quo eingelegten Appellation niemandem mehr möglich sein. Letzteres sollte auch speziell nicht durch gratia iudicis zugelassen werden. Hintergrund der Konstitution war mithin der folgende: Die Effizienz des kaiserlichen Gerichtshofes sollte gesteigert und dieser nicht mit Appellationen belastet werden, welche kurz nach Einlegung und Überstellung von den Appellierenden wieder widerrufen wurden. Insbesondere Widerrufe aus Willkür sollten unterbunden werden. Daher war es den iudices a quo unter Strafandrohung untersagt, aus gratia einen so gearteten Widerruf zuzulassen.253 Mitunter war auch dies eine Taktik der Prozessparteien, ein Verfahren bei Bedarf über die erste „Instanz“ hinaus in die Länge zu ziehen und so zumindest für einen gewissen Zeitraum bis zum Widerruf zu verzögern. In beiden valentinianischen Erlassen wird die gratia iudicum als Störfaktor für ein zeitlich effizientes Rechtssystem dargestellt: Die gratia iudicum war jedenfalls dann in den Augen des kaiserlichen Gesetzgebers unzulässig, wenn sie zum einen die Verzögerung des Verfahrens bewirkte, zum anderen aber zu einem unnötig erhöhten Arbeitsaufwand und in Konsequenz zur Verlangsamung des Verfahrens in der „Rechtsmittelinstanz“ führte. c) Gratia und pecunia In dem anfänglich bereits angesprochenen Erlass (Cod. Theod. I 16,3)254 an den praeses der Provinz Korsika, Furius Felix (?)255, griff Kaiser Konstantin darüberhinaus die Problematik eines absichtlich falschen Urteils als Konsequenz der gratia iudicis auf:

252 Der Terminus sacer wurde in spätrömischer Zeit sehr häufig in Verbindung mit dem Kaiser verwendet und sollte lediglich signalisieren, dass der Kaiser in irgendeiner Weise in das Geschehen involviert war. Der Terminus auditorium wurde in der Juristensprache der römischen Juristen als der Gerichtssaal einer Magistratsperson verwendet. Der Richter hörte den Vortrag der streitenden Parteien in diesem Saal an. Der Kaiser als höchste juristische Gewalt des Reiches hatte ein eigenes auditorium, welches als auditorium sacrum bezeichnet wurde. Entschied der Kaiser eine Rechtssache selbst und verhandelte er diese im auditorium sacrum, so hatte er die höchsten Staatsbeamten als Beisitzer (siehe dazu Nov. Iust. 23,2; 536). Im auditorium sacrum wurden Appellationen verhandelt; zum auditorium sacrum siehe auch die Ausführungen bei Färber, Gerichtsorte, 135 f. 253 Da über den Inhalt und die Aussage der gesetzlichen Regelung im nachfolgenden Zeitraum anscheinend verschiedene Meinungen entstanden sind, erließ Kaiser Arcadius im Jahr 396 eine modifizierte Verordnung: Cod. Theod. XI 30,56. Dies war wiederum nichts Unübliches, da ein zentrales Register für die geltenden Gesetze fehlte und die Gesamtheit des geltenden Rechts auch von den Statthaltern der Provinz und ihren officia nicht überblickt werden konnte. Zudem wurden häufig ganz unterschiedliche Fragen in einer Konstitution geregelt. 254 Zur Datierung auf den 24. Oktober 318 siehe oben Anm. 113. 255 Zur Person siehe die Ausführungen in Anm. 114.

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B. Von Macht und Zeit … de eo sane, qui pretio depravatus aut gratia perperam iudicaverit, ei vindicta quem laeserit non solum existimationis dispendiis, sed etiam litis discrimine praebeatur. „… Gegen denjenigen aber, der, aufgrund Bestechungsgeldes oder durch Beeinflussung, wissentlich ein falsches Urteil gesprochen hat, soll die Person Vergeltung erlangen, die er dadurch verletzt hat, indem der Richter nicht nur seine Reputation verliert, sondern auch noch das Risiko eines Gerichtsverfahrens trägt, welches gegen ihn angestrebt wird.“

Eng verknüpft mit der Hoffnung der Provinzbewohner auf die Unbestechlichkeit der Provinzstatthalter war die Hoffnung auf Unparteilichkeit: In Cod. Theod. I 16,3 wurde daher das Verbot der Annahme eines Bestechungsgeldes (pretio depravatus) gleichgestellt mit dem Verbot, ein Urteil aus Parteilichkeit (gratia) zu sprechen. Beides war – wie auch bereits bei Cicero (gratia, potentia, pecunia) – eng miteinander verknüpft. Kaiser Konstantin ließ den Provinzstatthalter Felix wissen, dass eine der beiden derartigen Verhaltensweisen alleine dazu ausreicht, dass der Richter perperam iudicaverit. Konstantin sprach kein generelles Verbot des Verhaltens aus. Dafür war gratia im Rahmen von Gerichtsverfahren eine zu gängige und innerhalb gewisser Grenzen allgemein anerkannte Praxis. Unzulässig war lediglich, aufgrund gratia oder der Annahme von großen finanziellen Mitteln (pecunia) ein „nachweislich“ falsches Urteil zu sprechen.256 Die Strafandrohung für diese Fälle beinhaltete zum einen den Verlust der existimatio, des guten Rufes – eine Brandmarkung als infamis. Zum anderen wurde hier sogar die Gefahr eines gegen den Richter gerichteten Gerichtsverfahrens257 (iudex qui litem suam facit258 – „Richter, der sich selbst den Prozess aufgeladen hat“259) in Aussicht gestellt. Dies nicht zuletzt deshalb, da das Geben und Nehmen von (hohen) Geldsummen, um den Ausgang eines Ge-

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Siehe dazu auch die pseudopaulinischen Sentenzen PS 5,25,2 sowie PS 5,23,11(10), worin die verschiedenen Bestrafungen für humiliores und honestiores, die einen Richter beeinflussten, herausgestellt wurden. Die beeinflussten Richter hatten mit Strafen in Form von Exil oder Besitzkonfiszierung zu rechnen (PS 5,23,11 [10]): Iudex, qui in caput fortunasque hominis pecuniam accepit, in insulam bonis ademptis deportetur. 257 Ulpian führte zum Zusammenhang zwischen unzulässiger gratia iudicis und einem gegen den Richter angestrengten Gerichtsverfahren aus (Dig. 5,1,15,1): Iudex tunc litem suam facere intelligitur, cum dolo malo in fraudem legis sententiam dixerit (dolo malo autem videtur hoc facere, si evidens arguatur eius vel gratia vel inimicitia vel etiam sordes), ut veram aestmationem litis praestare.; „Von einem Richter nimmt man dann an, dass er einen Prozess auf seine Gefahr übernimmt, wenn er aus böser Absicht ein Urteil mit Umgehung des Gesetzes fällt. Als in böser Absicht handelnd wird er dann angesehen, wenn seine Begünstigung, Feindschaft oder Bestechung klar am Tage liegt, so dass er dann den wahren Wert des Streites erlegen muss.“ 258 Zur actio in iudicem qui litem suam facit und der Möglichkeit, einen Richter für ein ungerechtes Urteil selbst vor Gericht zu stellen, siehe die Abhandlungen von Stojvevic, Caractére; Stein, Nature, 564; Birks, Quasi-Delict; Pugsley, Litem; Kelly, Litigation, 103 ff.; Kaser, Privatrecht II, 428 f.; MacCormack, Iudex, 149 ff.; Cremades/Paricio, Responsabilidad; D’Ors, Litem; Hoeflich, Regulation, 83 f.; Do Nasciemento Júnior, Iudex. 259 Jörs/Kunkel/Wenger, Römisches Recht, 193; vgl. auch Mommsens Paraphrase: „sich den Prozess selbst auf den Hals zu ziehen“, Mommsen, Römische Geschichte II, 404.

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richtsverfahrens zu beeinflussen, nach der lex Cornelia de falsis260 strafbar war. Unter das falsum des Gesetzes wurden im Verlauf der drei bzw. vier ordentlichen Erweiterungen der lex Cornelia de Falsis durch senatus consulta261 beinahe alle Rechtspflegedelikte subsumiert.262 Die an ihn herangetragenen Berichte über das Fehlverhalten des Statthalters Felix haben Kaiser Konstantin höchstwahrscheinlich dazu veranlasst, diesen auf die Strafen für mögliches parteiliches bzw. korruptes Verhalten aufmerksam zu machen. Dies spricht wiederum für eine enge Verknüpfung von pecunia und gratia und ließe folgenden Schluss zu: Immer dann, wenn gratia in Einzelfällen zusammen mit einer anderen Erscheinung (potentia oder pecunia) auftrat, zu einer Überlastung des kaiserlichen Gerichtshofes, generell zu einer Verfahrensverzögerung oder davon unabhängig zu einem ungerechten Urteilsspruch führte, wurde das an sich gesellschaftlich akzeptierte Verhalten als missbräuchlich eingestuft und damit unzulässig. Schon hier lässt sich allerdings festhalten, dass mit der Unterbindung verschiedener Formen der gratia iudicis zu keinem Zeitpunkt eine „Gleichbehandlung“ aller potentieller Prozessparteien intendiert war. Auch Kaiser Konstantins gesetzliche Regelung aus dem Jahr 331 (Cod. Theod. I 16,7)263, die sich an alle Provinzbewohner richtete und beinhaltete, dass alle Provinzbewohner „gleichzubehandeln seien“ und insofern kein Unterschied zwischen Arm und Reich zu machen sei, ist nicht dahingehend zu verstehen, dass Konstantin wirklich den „armen“ Prozessparteien den gleichen Zugang zum Statthalter garantieren wollte wie den sozial höher gestellten Provinzbewohnern. Vielmehr bezog sich seine Regelung auf die seitens der Kanzleibeamten eingetriebenen sportulae264. Cod. Theod. I 16,7 ist aber auch nicht als generelles Verbot der sportulae zu verstehen, sondern als Eindämmung und Verbot 260 Vgl. Dig. 48,10 (De lege Cornelia de falsis et de Senatus Consulto Liboniano): Die lex Cornelia de falsis (vormals lex Cornelia testamentaria nummaria genannt) aus dem Jahr 81 v. Chr. war Teil der leges Corneliae. Eine Rekonstruktion von Umfang und Wortlaut der lex ist nicht mehr möglich, vgl. dazu Crook, Lex Cornelia, 163 – 171; zum Begriff falsum und seiner rein prozessualen Natur siehe Mommsen, Römisches Strafrecht, 672 f.; ebenso nunmehr zur lex Cornelia de falsis auch Müller, Zeugenaussage. Vgl. zum Inhalt auch Ulpian (Dig. 48,10,9): pr. lege Cornelia cavetur … eadem poena tenetur, qua tenentur hi qui ob instruendas lites pecuniam acceperunt.; „Durch das Cornelische Gesetz wird verordnet … wird ebenso bestraft, wie diejenigen, welche für die Behilflichkeit zur Erhebung von Rechtsstreitigkeiten Geld erhalten haben.“ 261 Ins Jahr 16 fallen zwei senatus consulta (Libonianum und Statilianum), in die Jahre 20 und 29 jeweils ein senatus consultum (Messalanianum und Geminianum), zu den verschiedenen Erweiterungen vgl. Kocher, Anwendungsbereich, 66 f. sowie 118 f. sowie Taubenschlag, Münzverbrechen, RE 161 (1933), 455 – 457; Rilinger, Humiliores, 142 f. Zu den senatus consulta siehe ebenfalls Talbert, Senate, 439 – 441. 262 So Kocher, Anwendungsbereich, 51 ff. sowie 127. 263 Cod. Theod. I 16,7 (331): … non visio ipsa praesidis cum pretio: aeque aures iudicantis pauperrimis ac divitibus reserentur.; „… das Erscheinen des Statthalters soll nicht von einem Preis abhängig sein: Die Ohren des Richters sollen in gleicher Weise den Ärmsten und den Reichen offenstehen.“ Dazu auch Dillon, Justice, 143. 264 Zu den sportulae siehe oben Anm. 8.

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der steten Ausschöpfung der Höchstgrenze.265 Die sportulae sind als „Überbleibsel aus der Zeit, als die exceptores und scrinarii noch keine Staatsdiener, sondern konzessionierte Gewerbetreibende waren“ prinzipiell nicht als Erscheinung eines „korrupten Rechtssystems“266 aufzufassen. Ganz im Gegenteil: Das Rechtssystem wurde – wie heute immer noch zu weiten Teilen – in entscheidendem Maße durch Gebühren finanziert. Hintergrund war auch damals der Gedanke, dass jeder für die Inanspruchnahme der Justizdienste einen finanziellen Gegenwert entrichten musste. Problematisch war lediglich, dass die Höhe der Gebühren dem Ermessen der officiales unterlag und die Dienste, für die officiales ihre Gebühren veranschlagten, teils sonderbare Ausmaße annahmen.267 Durch kaiserliche Gesetze wie Cod. Theod. I 16,7 und die Festlegung von Höchstgrenzen sollten demnach lediglich überzogene Forderungen, die gesellschaftlich als missbräuchlich aufgefasst wurden, unterbunden werden. Die spätrömische Gesellschaft war nicht auf „Gleichheit“ ausgelegt. Sie war geprägt von Hierarchie und der maßgeblichen Unterscheidung der Einzelnen durch den sozialen Status. Eine „Gleichbehandlung“ zwischen einfachem und hochrangigem Provinzbewohner war nicht Ziel der Gesetzgebung: Die Kaiser sahen die Gesetzgebung aber zumindest partiell als Mittel und Versuch, ein Idealbild zu zeichnen.268 Dies beinhaltete, dass „Korruption“ und unzulässige Parteilichkeit der Amtsinhaber, der statthalterlichen Richter und deren Kanzleipersonal zumindest

265 Dillon, Justice, 144 meint – wie bereits Stein, Officium, 19 – 21 –, dass Konstantin die Einnahme generell verboten habe. Auch Stauner, Wandel, 177 geht davon aus, dass die sportulae in Cod. Theod. I 16,7 von Kaiser Konstantin noch generell „als Amtsmißbrauch gebrandmarkt und unter drakonische Strafe gestellt“ wurden. Er setzt Cod. Theod. I 16,7 in Gegensatz zum 30 Jahre späteren ordo commodorum des consularis Numidiae Ulpius Mariscianus und geht von einem in der Zwischenzeit „gewandelten Charakter der Gebührenerhebung“ und davon aus, dass in letzterem die sportulae nunmehr als eine „legitime, formalisierte und institutionalisierte Einnahmequelle des Statthalterpersonals“ erkennbar seien. Dass in Cod. Theod. I 16,7 ein generelles Verbot der sportulae ausgesprochen wurde, ist jedoch zu bezweifeln und der überzeugenden, dies widerlegenden Einschätzung von Karayannopulos, Finanzwesen, 176 f. zu folgen. Zu Beginn des Erlasses spricht Konstantin verschiedene Verbote aus, für den Zugang zum Provinzstatthalter Geld einzutreiben. (… Non sit venale iudicis velum, non ingressus redempti, non infame licitationibus secretarium, non visio ipsa praediis cum pretio …; „… des Richters Vorhang soll nicht käuflich sein, nicht der Eintritt erkauft, nicht durch Bieten verrufen das secretarium, nicht des Statthalters Erscheinen selbst um einen Preis …“). Gedanklich ergibt es hier – wie auch Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia, 114 argumentiert – mehr Sinn, von einem kaiserlich intendierten Abstufungssystem innerhalb der eingetriebenen sportulae auszugehen und die stets eingetriebene Höchstgrenze anzugreifen. 266 Palme, Officia, 113. Von Korruption kann insoweit nur dann gesprochen werden, wenn die Höchstgrenzen willkürlich und absichtlich überschritten wurden (vgl. dazu der ordo commodorum aus Timgad, Chastagnol, L’album, 76, Z. 12 – 51). Erst dann wurde es – so scheint es – durch den Kaiser als notwendig empfunden, neue gesetzliche Regelungen zu erlassen. 267 Zu Cod. Theod. I 16,7 und dem darin thematisierten Vorhang als finanzielle Hürde für Rechtssuchende siehe Färber, Gerichtsorte, 297 ff., insb. 302. 268 Hierzu siehe auch Slootjes, Governor, 57 f.

II. Die gratia iudicum

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normativ unter Strafe gestellt wurde. Parteiisches Handeln sollte nur in einem angemessenen Rahmen erfolgen.269 d) Iudices und honorati Die gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien in den Provinzen führten aber häufig zu einer „ungerechten“ Behandlung einer der Prozessparteien – jedenfalls, sofern sie gegen einen honoratus prozessierten. Den Fokus auf die Problematik von in Prozessen involvierten honorati der Provinz legte ein Gesetz des Kaisers Honorius vom 3. Februar 408270. Er richtete sich mit diesem Erlass an den praefectus praetorio Italiae et Africae, Curtius271, (Cod. Theod. I 20,1): Honorati, qui lites habere noscuntur, his horis, quibus causarum merita vel fata penduntur, residendi cum iudice non habeant facultatem: nec meridianis horis a litigatoribus iudices videantur. Quina itaque pondo auri tam iudici quam eius officio atque honoratis parem multam adscribendam esse cognoscas, si quis contra praeceptum huiusmodi venire temptaverit. „Honoratioren, von denen bekannt ist, dass sie in Rechtsstreitigkeiten verwickelt sind, haben nicht das Recht, während der Stunden, in denen die Beweismittel oder der Ausgang der Fälle in Frage stehen, mit dem Richter zu sitzen, und die Richter werden von den Prozessführenden während der Mittagsstunden nicht aufgesucht. Daher sollst du wissen, dass sowohl gegen den Richter als auch gegen das Büropersonal eine Geldbuße von jeweils fünf Pfund Gold verhängt wird und gegen die Honoratioren eine gleiche Geldbuße verhängt wird, falls jemand versuchen sollte, gegen eine derartige Regelung zu verstoßen.“

Die Provinzstatthalter und ihre Kanzleien führten ihre täglichen Amtsgeschäfte zumeist in ihren Statthaltersitzen und den dazugehörigen Gebäuden, dem praetorium272. Letztere beinhalteten nicht nur die offiziellen Räumlichkeiten, die als Gerichtssäle zur Verhandlung von Zivil- und Strafprozessen, Untersuchungsgefängnisse273, Steuerbüros, Archive und horrea274 dienten, sondern stellten auch eine Art sozialen Treffpunkt für diejenigen Provinzbewohner dar, die einen hohen sozialen Status innehatten, die sog. honorati der Provinz.275 Konsequenterweise hatten es die 269

So argumentiert Van Dam, Governors, 80. Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 312. 271 PLRE II, Curtius, 331. 272 Zu den Statthaltersitzen in der römischen Kaiserzeit siehe die umfassende Aufarbeitung bei Haensch, Capita sowie ders., Konventsordnung; für den Zeitraum der Spätantike siehe Lavan, Praetoria; ders., Residences. 273 Zu einem praetorium aus Caesarea, welches nachweisbar Räumlichkeiten für das officium custodiae umfasste siehe Cotton/Eck, CIIP, Vol. 2, Nr. 1266 – 1276, insb. Nr. 1273. Dazu siehe unten Anm. 438. 274 Vgl. Lavan, City; vgl. Gross, Horreum, KlP, Bd. 2, Stuttgart 1967, Sp. 1227; allgemein zu Bauten für statthalterliche praetoria vgl. Haensch, Capita, 46, 145, 375 f.; vgl. ebenso Schäfer, Praetorium, 485 f. 275 Vgl. Lavan, Topography, insb. 315 – 316. Nach Stauner, Wandel, 169 sind „unter diesem Begriff [honorati] […], sofern die damit verbundenen Privilegien rechtmäßig und nicht etwa 270

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B. Von Macht und Zeit

honorati einfacher, sich an den Provinzstatthalter zu wenden. Sie waren die Oberschicht der Provinz und als solche bekamen sie leicht Zugang zum praetorium. Ferner war es ihnen erlaubt, für den Statthalter in beratender Funktion tätig zu werden. Die Provinzstatthalter kamen oftmals nicht umhin, sich in der lokalen Elite die notwendige Unterstützung und Beratung zu den lokalen Eigentümlichkeiten, Gebräuchen und Sitten zu holen. Die Provinzstatthalter holten sich sogar in Gerichtsverfahren Rat bei den honorati. Dies erschien vor dem Hintergrund sinnvoll zu sein, da die provinziale Oberschicht in der Praxis die Fakten des vorliegenden Falles und die normativen Erwartungen der Prozessparteien besser einschätzen konnte, als der Provinzstatthalter, der als „Ortsfremder“ nicht mit den regionalen Verhältnissen vertraut war. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass es bestimmten honorati sogar gestattet war, während Gerichtsverhandlungen neben dem Statthalter zu sitzen.276 Die römische Administration, so auch die Provinzstatthalter, sicherten ihre Herrschaft durch Unterstützung der provinzialen Honoratioren ab. Letztere waren eine entscheidende Stütze für die Position des Statthalters277 und spielten daher auch eine wichtige Rolle in der statthalterlichen Jurisdiktion. Gleichwohl genossen sie keine Immunität bzw. waren auch selbst in der Lage eine Klage beim Statthalter zu erheben, somit als Prozesspartei zu fungieren. Zwar waren die Provinzstatthalter auch hier angehalten fair und unbefangen zu entscheiden, jedoch schien dies in der Praxis kaum umsetzbar zu sein.278 Eine Bevorzugung des jeweiligen honoratus als Prozesspartei sollte nicht auch noch dadurch verstärkt werden, dass dieser zugleich Partei und Richter war. Gerade Letzterem wollte Honorius mit obiger Konstitution gegensteuern. So musste den honorati verboten werden, neben dem Statthalter auf der Richterbank zu sitzen oder sein Amtsgebäude während der Mittagsstunden zu betreten, um auf seine Entscheidungen einzuwirken.279 Es ging nicht primär darum, eine Begünstigung der honorati zu unterbinden – was in der Praxis nicht umsetzbar gewesen wäre. Dies wird umso deutlicher, betrachtet man beispielsweise den ordo

durch Bestechung oder durch Beziehungen […] erworben wurden, ehemalige Funktionsträger in der kaiserlichen Staatsverwaltung sowie ehemalige Decurionen […] gemeint, die nach Absolvierung ihrer Dienstzeit bzw. ihrer städtischen Ämterlaufbahn und Erfüllung aller damit verbundenen Aufgaben (munera) durch adlectio in die Rangklasse anfangs der perfectissimi, schon bald aber in die der clarissimi (ordo senatorius) erhoben wurden und damit zumindest teilweise hereditäre Befreiung von der munera municipalia genossen.“ 276 Sogar Libanius argumentierte in or. 56,2, dass die Besuche, die die honorati den statthalterlichen Richtern abstatteten, für eine gerechte Rechtsprechung schädlich wären. 277 Vgl. Nollé, Marktrechte, 95. 278 Vgl. Liebeschuetz, Antioch, 191. 279 Dass bereits der Jurist Modestinus ein derartiges Verhalten grundsätzlich – nicht nur bezogen auf honorati – als den Gesetzen zuwider auffasste, zeigt Dig. 48,14,1,4: Et si qui reus vel accusator domum iudicis ingrediatur, per legem iuliam iudiciariam in legem ambitus committit, id est aureorum centum fisco inferre iubetur.; „Wenn aber ein Angeschuldigter oder Ankläger das Haus des Richters betritt, so handelt er durch das Julische Gesetz über das Gerichtswesen ebenfalls dem Gesetz über Amtserschleichung entgegen, d. h., es wird ihm geboten, dem Fiskus hundert Goldstücke zu zahlen.“

II. Die gratia iudicum

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salutationis280 des consularis Numidiae Ulpius Mariscianus281, der in der Regierungszeit Kaiser Julians sein Amt innehatte. Der ordo salutationis bildet die honestiores in Caesarea Mauretaniae/Constantina ab und zeigt u. a. auf, dass das Recht des freien Zugangs ins secretarium des Statthalters sowie des ständigen Sitzes in seinem consilium allen honorati ab der Würde der clarissimi zustand.282 Die Prozesspartei, die einem honoratus in einem Verfahren gegenüberstand, sollte trotzdem nicht von vorneherein den Eindruck haben müssen, keine faire Chance eingeräumt zu bekommen. Die gratia iudicis sollte zwar nicht ausgeräumt, jedoch durch obige Regelung zumindest eingedämmt werden. e) Die gratia iudicum und die Desertion Eine weitere Form der unzulässigen gratia iudicis wird in einem anderen, nunmehr militärischen Kontext im Jahr 380 (Cod. Theod. VII 18,4) durch Kaiser Gratian angesprochen. Auch in den vorausgehenden Jahren ist immer wieder – stets aber nur bedingt durch die gesamtwirtschaftliche Situation im Reich283 – ein Fokus der Gesetzgebung auf der Problematik der Desertion zu beobachten, sodass sich ein kurzer Blick in die Gesetzgebung der Amtsvorgänger lohnt: Bereits die Kaiser Valens und Valentinian hatten während ihrer Regierungszeit zu wenig geeignete Rekruten zu beklagen. In diesem Kontext stehen eine Reihe von Erlassen aus den Jahren 364 und 365, die sich mit geplanten militärischen Aktivitäten im Osten und Westen und den Folgen der Niederlage Julians erklären lassen.284 Unter ihnen befinden sich auch Erlasse, die versuchten, das Problem der Desertion in Griff zu bekommen: Die Desertion hatte in diesem Zeitraum zur Entwicklung eines lukrativen Geschäftszweigs beigetragen. Es entwickelte sich eine regelrechte „underworld industry“285, die sich Deserteuren sowie entlaufenen Slaven annahm. Dass sich hieran nicht nur Personen von niedrigem sozialem Status bereicherten, zeigt eine Konstitution von Kaiser Valentinian vom 26. März 365 (Cod. Theod. VII 18,1)286, die

280

Vgl. Chastagnol, Album, 75 – 81, insb. 79 f.; Stauner, Wandel, 169 f. Vgl. PLRE I, Ulpius Mariscianus, 561. 282 Hierzu siehe auch Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia, 127. 283 Insofern ist Krause, Gewalt, 130 zu folgen, wonach die „zeitliche Verteilung der Gesetze […] die Vermutung nahe [legt], daß das Problem eher ein „konjunkturelles“ als ein „strukturelles“ war.“ 284 Vgl. Lenski, Failure, 309; vgl. die gesetzlichen Regelungen Cod. Theod. VII 1,5 (364), VII 1,8 (365), VII 22,7 (365). 285 Fear, War, 435. 286 Die Konstitution Cod. Theod. VII 18,1 ist, nach Aussage ihrer Inskription ein Exzerpt von edicta duo per Italiam et Alpes, welches in mehrere Titel des Codex aufgeteilt wurde; zu dieser Inskription und ihrer möglichen administrativen sowie räumlichen Deutung vgl. die Ausführungen bei Schmidt-Hofner, Reagieren und Gestalten, 32 und 85 nebst Anm. 136. Zu Cod. Theod. VII 18,1 und dem diesem Erlass zuzuschreibenden Vorbereitungscharakter für 281

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B. Von Macht und Zeit

vorsah, dass diejenigen, die Deserteure beherbergten, aber von niedrigem sozialem Status waren, zu den Minen verurteilt wurden; höherrangige jedoch nur die Hälfte ihres Besitzes verlustig gingen. Vielen Landbesitzern kam es sicherlich gelegen, Deserteure bei sich aufzunehmen und sich dadurch mit billigen Arbeitskräften zu versorgen.287 Das Ausmaß dieser Probleme zeigte sich mitunter auch in der zunehmenden Strenge der Gesetze, die Strafen für die Unterbringung von Deserteuren vorsahen.288 Im Bereich der Desertionsgesetzgebung ist zudem in den Jahren 379 – 383 sowie 403 – 406289, eine Häufung der kaiserlichen Gesetze erkennbar. Zurückmilitärische Maßnahmen im Westen des Reiches vgl. Lenski, Failure, 309; zur Rekrutierungsgesetzgebung von Valentinian siehe Lander, Stone Fortifications, 291 – 292. 287 Cod. Theod. VII 14,1 zeigt insofern auch, dass Landbesitzer gelegentlich auch aktiv für eine Desertion geworben haben, um so an ausreichend Arbeitskräfte für ihre Güter zu kommen. Landbesitzer waren aber nicht die einzigen, die versuchten Soldaten ,abzuwerben‘. So versuchten auch Gladiatorenschulen Soldaten ,als Profis‘ für sich zu gewinnen, vgl. Cod. Theod. XV 12,2 (357). 288 Gratian sorgte beispielsweise im Jahr 379 (Cod. Theod. VII 18,2) für die Verbrennung von Aufsehern von Landgütern, die Deserteure beherbergten, sowie für die Beschlagnahme des Anwesens, in dem der Deserteur gefunden wurde. Alle Provinzialen hatten die Befugnis, Deserteure zu ,beschlagnahmen‘ (Cod. Theod. VII 18,13; 403), u. a. wurde auch ein beschleunigtes Hinrichtungsverfahren (velox supplicium) eingeführt. Die Belohnungen für die Aufdeckung ihres Aufenthaltsortes waren groß, einschließlich der Gewährung von Freiheit für alle, Cod. Theod. VII 18,4 (380). Die Kaiser Arcadius und Honorius wiesen in einem Erlass aus dem Jahr 403 (Cod. Iust. XII 46,2) zudem die Richter an, in diesem Zusammenhang eine sorgfältige Untersuchung anzustellen, da es gängige Praxis war, gefälschte Dokumente vorzulegen, um eine Entlassung aus der Gefangenschaft zu fordern. 289 Dies ist wiederum darauf zurückzuführen, dass der Westgote Alarich I. bereits 401 die Stadt Aquileia erobert hatte. Hiernach hatte er sich gegen Rom gewandt, konnte aber zunächst von einer Eroberung abgehalten werden. Im Jahr 408 konnte Alarich bis Rom vordringen, akzeptierte jedoch ein sehr hohes Lösegeld und verschonte die Stadt. Im Jahr 410 nahm er Rom schließlich ein. Auch hierzu siehe Seeck, Geschichte, 328 – 334. Im Jahr 403 erhielten die Provinzbewohner sogar das Recht der Selbstjustiz: Es wurde ihnen eingeräumt, einen Deserteur, um des Friedens in der Provinz willen, selbst zu töten, vgl. Cod. Theod. VII 18,14 (403): Opprimendorum desertorum facultatem provincialibus iure permittimus: qui si resistere ausi fuerint, velox ubicumque iubemus esse supplicium. Cuncti etenim adversus latrones publicos desertoresque militiae ius sibi sciant pro quiete communi exercendae publicae ultionis indultum… Sed ut in his patientiam tenemus, ita omnes, qui ultra memoratam indictionem et nostrae beneficia sanctionis castra et militiam deseruere, condemnationibus obnoxios esse praecipimus occultatoresque eorum ad subeundam poenam, quae divi genitoris nostri constituta est legibus, volumus retentari.; „Wir gewähren den Provinzialen per Gesetz das Recht, Deserteure zu überwältigen, und wenn die Deserteure es wagen sollten, Widerstand zu leisten, ordnen wir an, dass die Bestrafung überall schnell ist. Alle Personen sollen wissen, dass ihnen zur Verteidigung des gemeinsamen Friedens dieses Recht eingeräumt wird, öffentliche Rache gegen öffentliche Räuber und Deserteure des Militärdienstes auszuüben … Aber so wie Wir mit solchen Rekruten Geduld haben, so ordnen Wir an, dass alle, die das Lager und den Militärdienst vor dieser Anklage und den anderen durch diese Sanktion gewährten besonderen Privilegien verlassen haben, der Verurteilung unterliegen. Es ist unser Wille, dass diejenigen, die diese Deserteure beherbergen, der Strafe unterworfen werden, die durch die Gesetze unseres Heiligen Vaters festgelegt wurde.“ Es erfolgte eine Bezugnahme auf die Konstitutionen von Theodosius I.: Cod. Theod. VII 18,5 (381) und VII 18,7 (383). Hintergrund der Gesetzgebung war es, dass Deserteure oftmals mit Räubern gleichgesetzt wurden, da diese nach ihrer Fah-

II. Die gratia iudicum

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zuführen ist dies wiederholt auf eine militärische Krisensituation. Die Kaiser mussten sich mit einer politisch angespannten Situation auseinandersetzen und waren so auf eine funktionierende Heeresorganisation angewiesen. In den Jahren nach der Schlacht von Adrianopel im Jahr 378 gegen die Terwingen war das Interesse an einem militärischen Zusammenhalt groß. Bereits im Jahr 380 gab es demnach Anlass für eine Gesetzgebung, die die strenge Einhaltung der Desertionsgesetze bekräftigte und insbesondere die iudices ordinarii zur Einhaltung der Gesetze anhielt.290 Auch Kaiser Gratian, der seinen Mitkaiser, Onkel und Feldherren Sebastianus in der Schlacht von Adrianopel verloren hatte, sah sich mit der Problematik konfrontiert, dass das Heer des Ostens nach der Niederlage zum größten Teil neu gebildet werden musste. In diesem Zusammenhang steht auch sein Erlass an den praefectus praetorio Italiae Flavius Syagrius291. Nach einer detaillierten Schilderung, welche Strafen jemand zu erwarten hatte, der einen solchen Deserteur bei sich beherbergte und der Ermunterung aller, einen solchen Fall zu melden292, ging

nenflucht sich zum großen Teil mit Raubdelikten ihren Lebensunterhalt ,verdienten‘ oder gar zu den Invasoren überliefen. 290 Hierzu siehe auch Krause, Gewalt, 129 f. Ebenso die Darstellung der Ereignisse bei Seeck, Geschichte, 121 – 123. 291 PLRE I, Flavius Syagrius 3, 862 – 863. 292 Cod. Theod. VII 18,4 (380): Si quis latebram praebuerit desertori, possessionis, in qua latuerit, amissione multatus etiam graviorem sententiam pertimescat. Porro actorem flammis subiciendum esse non dubitet, qui in perniciem fortasse domini aut sceleris participatione confovit aut dissimulatione neglexit. At vero si desertorem servus prodiderit, libertate donetur; si mediocris loci ingenuus, immunitate potiatur. Neque solum eos loquimur, qui proxime signis felicibus adplicati militiae rudimenta timuerunt, verum qui stipendiis militaribus degenerem latebram praebuisse monstrantur. Desertor autem habebitur, quisquis belli tempore aberit a signis. Horum qui sponte processerit, peccati anterioris supplicium non timebit. Sin vero flagitiosa ignavia delitescat, per eum, in cuius domo fuerit, invigilantibus forinsecus quoque officiis publicis, ubicumque correptus severitati iudicis offeratur, degeneri morte gladium subiturus …; „Wenn jemand einen Deserteur beherbergen sollte, wird er durch den Verlust des Landbesitzes bestraft, auf dem sich der Deserteur versteckt hatte, und er wird große Angst vor einer noch härteren Strafe haben. Ferner soll er keinen Zweifel daran haben, dass sein Aufseher den Flammen ausgesetzt sein wird, wenn der Aufseher zum Verderben seines Herrn das Verbrechen entweder durch Teilnahme daran fördern oder durch Nachlässigkeit übersehen sollte. Aber wenn ein Sklave einen solchen Deserteur denunzieren sollte, soll ihm die Freiheit gegeben werden. Wenn eine frei geborene Person von gemäßigtem Status einen solchen Deserteur denunzieren sollte, soll sie Immunität erlangen. Wir sprechen nicht nur von jenen Personen, die die ersten Stufen des Militärdienstes fürchteten, sondern auch von jenen Personen, die nachweislich schändliche Verstecke für ihren Militärdienst eingerichtet haben. Darüber hinaus soll eine Person als Deserteur gelten, wenn sie in Kriegszeiten nicht an ihren Feldübungen teilnimmt. Jede Person dieser Art, die sich freiwillig meldet, darf die Strafe für ihr vorhergehendes Verbrechen nicht fürchten. Aber wenn sie sich mit schmählicher Feigheit verheimlicht, soll sie überall mit Hilfe der Person verhaftet werden, in deren Haus sie sich befindet, während auch Beamte außerhalb Wache stehen, soll sie sich der Strenge des Richters ergeben, und sie soll der berüchtigte Tod mit dem Schwert treffen …“ Siehe dazu auch Cod. Theod. XI 30,38 (380); Cod. Iust. XII 46, VII 13,4 (380).

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Kaiser Gratian in seinem Erlass vom 18. Juni 380293 auf die Provinzstatthalter ein, die diese Regelung kennen und durchsetzen sollten (Cod. Theod. VII 18,4): … Si autem rector provinciae propositam severitatem vel gratia vel dissimulatione distulerit, patrimonii atque existimationis damno subiciatur et in officii primores capitaliter vindicetur. „… Wenn darüber hinaus ein Provinzstatthalter die beabsichtigte Strenge des Gesetzes entweder aufgrund von Favoritentum oder Duldung aufschiebt, so unterliegt er dem Verlust seines patrimonium und seines offiziellen Status, und die Vorsteher seines Kanzleipersonals erleiden die Todesstrafe.“

Die Desertion wurde grundsätzlich mit schweren Strafen belegt, zumeist mit der Todesstrafe.294 Die Verhängung dieser Strafen blieb allerdings mitunter durch gratia iudicis aus. Die Provinzstatthalter kamen – so scheint es – insbesondere aufgrund gratia ihrer Aufgabe der Anwendung der kaiserlichen Gesetze nicht nach. Notwendige Gerichtsverfahren wurden erst gar nicht angestrengt, die Strenge der kaiserlichen Konstitutionen in ihrer Wirkung nicht entfaltet. Die severitas proposita – die beabsichtigte Strenge wurde aufgeschoben. Dies impliziert, dass die Richter zwar möglicherweise die Gerichtsverfahren durchführten, die in den kaiserlichen Erlassen enthaltenen schweren Strafen jedoch nicht im Urteil aussprachen oder/und hiernach vollstreckten, also das (Vollstreckungs-)Verfahren verzögerten. Die „erstinstanzlichen“ Prozesse wurden nicht beendet. Auch dies führte Kaiser Gratian auf gratia iudicis – hier: die Begünstigung des zu verurteilenden Deserteurs durch den zuständigen Provinzstatthalter – zurück. Wie bereits im Erlass aus dem Jahr 318 (Cod. Theod. I 16,3), gerichtet an den Statthalter Felix, hatte auch hier der jeweilige rector provinciae mit dem Verlust der existimatio sowie darüber hinaus mit dem Verlust seines Vermögens (patrimonium) als Strafe zu rechnen. Es handelte sich folglich um einen Angriff auf seinen finanziellen und sozialen Status. Den primores, den führenden officiales des statthalterlichen Büros, welche in einem solchen Fall ihrer Pflicht der juristischen „Hilfestellung“ in Fragen der Verfahrensführung und der generellen Aufsicht nicht in ausreichendem Maß nachgekommen waren, wurde sogar mit der Todesstrafe gedroht. Im Gegensatz zu obigen besprochenen Konstitutionen Kaiser Konstantins richtete sich Kaiser Gratian mit Cod. Theod. VII 18,4 an den praefectus praetorio Italiae. In vielen Fällen beinhalteten die kaiserlichen Konstitutionen eine Weiterleitungs- und/ oder Publikationsaufforderung, die sich oftmals an den Prätorianerpräfekten richtete. 293

Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 254. Vgl. auch Amm. 29,5,31, wonach nicht in allen Fällen mit der Todesstrafe, sondern auch teilweise ,nur‘ mit Verstümmelungen als Strafe zu rechnen war: Exinde cum militem ducens incolumem Theodosius ad fundum venisset nomine Mazucanum, exustis desertoribus paucis, aliisque ad sagittariorum exemplum, quibus manus ademptae sunt, contruncatis …; „Von dort führte Theodosius seine Armee sicher und gesund in ein Landgut namens Mazucanus, wo er einige Deserteure verbrannte und den Rest, z. B. die Bogenschützen, deren Hände abgeschnitten wurden, verstümmelte …“ Vgl. auch Cod. Theod. VII 18,14 (403). 294

II. Die gratia iudicum

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Die Kaiser intendierten durch die Adressierung der Erlasse an den praefectus praetorio primär die allgemeine Informierung aller diesem unterstehenden Provinzstatthalter.295 Im Falle eines echten Publikationsbefehls richtete sich der Kaiser an den Würdenträger – zumeist den Prätorianerpräfekten296 – und wies diesen an, den Brief in einer bestimmten Form zu veröffentlichen, um so die Regelung in den betreffenden Kreisen (allen Statthaltern, allen Menschen etc.) bekannt zu machen.297 Der Prätorianerpräfekt war aber auch derjenige, der im Generellen ein Auge auf die Provinzstatthalter haben und als der Ansprechpartner der Provinzbewohner dienen sollte. Die Parteien konnten sich an den Prätorianerpräfekt wenden, sofern sie sich über einen Provinzstatthalter und dessen amtsmissbräuchliches Verhalten beschweren wollten.298 In einem solchen Fall hatten die Parteien vor dem praefectus praetorio darzulegen und zu beweisen, dass sich der Statthalter der Provinz während des Verfahrens oder bei Urteilsspruch aufgrund darzulegender Umstände „falsch“ verhalten hatte, beispielsweise den Parteien Gehör verweigert oder die Verhandlung ihres Falles wegen unzulässiger gratia iudicis aufgeschoben hatte. f) Die gratia iudicum und die Strafvollstreckung Dass die Problematik der unzulässigen gratia iudicis auch noch in einem gänzlich anderen Kontext zu finden ist, zeigt ein umfangreicher Auszug aus einem Erlass des 295

Zur bisher vetretenen Auffassung zur Verbreitung der kaiserlichen Konstitutionen siehe Jones, LRE, 472 – 474; Matthews, Making, 27; ders., Theodosian Code, 168 – 199; Corcoran, Empire, 245 – 249; Honoré, Law, 135 – 136: Die kaiserlichen Konstitutionen wurden in Form einer epistula den jeweiligen Amtsträger übersandt. Zumeist erfolgte die Adressierung an den praefectus praetorio direkt, der hiernach das Schreiben an die ihm unterstehenden Statthalter weitersandte. Diese ließen den Brief wiederum unter einem eigenen Begleitedikt anschlagen (leges propositae). Primäre Aufgabe des Provinzstatthalters bestand sodann erst einmal darin, die Autoritäten vor Ort, insbesondere die magistratus, decuriones, defensores civitatis sowie possessores von der neuen gesetzlichen Regelung zu informieren. Vor allem aber waren die officiales der Statthalterbüros in Kenntnis zu setzen. Zu den officiales zählten insbesondere auch diejenigen beneficiarii, die als stationarii über die Provinz verteilt waren. Die vorgenannten Personengruppen waren allesamt in der Pflicht, die neuen Vorschriften vor Ort auszuführen. Im Gegensatz zum Statthalter selbst waren vornehmlich seine apparitores diejenigen, die selbstständig die neuen Gesetze unter der Oberaufsicht ihres Vorgesetzten, dem Statthalter, anwenden sollten. Dagegen nunmehr Riedlberger, Prolegomena, 77 f. Das von Riedlberger als „kaskadierendes System“ beschriebene Informationssystem vom Prätorianerpräfekten an die einzelnen Provinzstatthalter seiner Präfektur, die sodann den Brief zusammen mit ihrem Edikt veröffentlichen sollten, weist dieser als seltene Ausnahme nach (ebd., 78 f. und 82 f.). Für diese Annahme spricht ebenfalls, dass es epigraphische Belege für die „angebliche Gesetzeskaskade“ nicht gibt (ebd., 78 f.). Riedlberger widerlegt damit die Annahmen, hierbei handele es sich um den Grundsatz, vgl. so Feissel, Documents, 22 sowie Matthews, Law, 186. 296 So zuletzt Riedlberger, Prolegomena, 78 f. 297 Dazu siehe vorstehende Anm. 296. 298 So beispielsweise auch in Cod. Theod. I 16,3 (318), worin die Provinzbewohner aufgerufen werden, sich mit Beschwerden gegen den Provinzstatthalter ans Gericht des praefectus praetorio zu wenden.

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Kaisers Theodosius I. vom 13. März 392 (Cod. Theod. IX 40,15299), gerichtet an Tatianus, praefectus praetorio Orientis300. Darin führte Theodosius I. Geldstrafen für Richter ein, sollten sie der Unterlassung einer Strafvollstreckung aus coniventia vendibilis, d. h. „käuflicher Nachsicht“, zugestimmt haben: Si quis convictus reus maximi criminis fuerit subiectusque sententiae, competens iudicium compleatur nec exquisita commentis ars eiusmodi subornetur, ut direptus a clericis adseratur vel appellasse simuletur. Quod si quisquam post iudicium vendibili coniventia licentiae huic praestiterit adsensum, haut levia sustinebit. Nam proconsules, comites Orientis, praefecti augustales, vicarii etiam adfecti nota deformi tricenas auri libras compendiis fiscalibus conferent, iudices autem ordinarii similiter deformati quinas denas cogentur exsolvere. Officia vero eorundem isdem, quibus iudices sui, dispendiis subiacebunt, si in suggestione cessaverint ac non praeceptum legis ingesserint atque iniecta manu, ne rei auferantur, obstiterint ac nisi id quod fuerit constitutum in effectum exsecutionemque perduxerint. „Wenn ein Angeklagter wegen eines sehr großen Verbrechens beschuldigt und verurteilt worden ist, so ist das angemessene Urteil zu erfüllen, und es dürfen keine schlauen Vorwände der folgenden Art vorgelegt werden, nämlich die Behauptung, der Angeklagte sei von Klerikern entrissen worden, oder die Behauptung, er habe Berufung eingelegt. Aber wenn irgendjemand dieser Vorgehensweise aufgrund leicht käuflicher Nachsicht zustimmen sollte, wird er Strafen, die gar nicht leicht sind, ertragen. Proconsules, comites Orientis, praefecti augustales und sogar vicarii werden das Stigma der Infamie erleiden und jeder soll 30 Pfund Gold auf das Steuerkonto bezahlen. Die iudices ordinarii werden außerdem ähnlich bestraft und gezwungen, jeweils 15 Pfund Gold zu bezahlen. Die officia der genannten Personen müssen die gleiche Strafe erhalten wie ihre eigenen Richter, wenn sie in ihrer Empfehlung versagt haben, wenn sie das Gesetz nicht erwähnt haben, wenn sie keine physische Gewalt angewandt haben, um die beschuldigte Person daran zu hindern, weggenommen zu werden und wenn sie das Urteil, das ausgesprochen worden ist, nicht vollzogen und vollstreckt haben.“

Die Strafvollstreckung sollte nicht aufgrund von Vorwänden, insbesondere aufgrund coniventia vendibilis verzögert werden. Der Erlass richtete sich explizit gegen iudices verschiedener Würden. Kaiser Theodosius I. differenzierte zwischen den Würdenträgern und deren jeweiligem officium. Zwischen den iudices ordinarii und den übrigen genannten Würdenträgern wurde überdies eine klare Trennlinie gezogen.301 Der Erlass bezeugt nicht zuletzt, dass es auch in den Reihen der hochrangigen iudices und ihrer officia aus Sicht des Kaisers zu Vorfällen unzulässiger gratia iudicis kam. Sie bestand auch bei diesen darin, die Vollstreckung von in ihren Gerichten erlassenen Urteilen zu unterlassen.302 Den kaiserlichen Würdenträgern, einschließlich der Beamten auf Diözesenebene (comites Orientis, praefecti augustales und vicarii) wurden Sanktionen für folgende 299 300 301 302

Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 279. Vgl. PLRE I, Fl. Eutolmius Tatianus 5, 876 – 878. Hierzu siehe auch die Abhandlung von Barbarti, Iudices, 82 f. Insbesondere zur Gerichtsbarkeit der Vicare siehe Wiewiorowski, Judiciary, 171 f.

II. Die gratia iudicum

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Verhaltensweisen angedroht: Die aus „käuflicher Nachsicht“, coniventia vendibilis heraus resultierende Zustimmung zur Freilassung von Personen bzw. unterlassenen Strafvollstreckung gegen diese, da sie angeblich von christlichen Priestern clerici, „entrissen“ worden waren oder in ihrer Sache bereits eine Appellation eingelegt hatten. Dies zeigt deutlich, welche Gründe nach kaiserlicher Einschätzung seitens der Richter vorgeschoben wurden, um sich nicht mit der Strafvollstreckung zu beschäftigen bzw. die Todesstrafe vollstrecken zu müssen. Solche Beweggründe und Ausreden sollten offensichtlich in allen „Instanzen“ und bei allen Richtern verhindert werden: Alle werden gleichsam mit der Strafe der Infamie bedroht. Allein die Höhe der Geldbußen variiert: Die Statthalter der Provinz, hatten – ihrem geringeren „Gehalt“ angemessen – nur eine Strafe in Höhe von 15 Pfund Gold zu zahlen. Die Sanktionen wurden hier wiederum in Form des Kollektivs303 auch für das jeweilige officium der zuständigen Richter verhängt. An Cod. Theod. IX 40,15 knüpfte wiederum der Erlass Cod. Theod. IX 40,16,1304 vom 27. Juli 398305 an, in welchem sich Kaiser Arcadius an den praefectus praetorio Orientis Flavius Eutychianus306 richtete: … Quibus in causa criminali humanitatis consideratione, si tempora suffragantur, interponendae provocationis copiam non negamus, ut ibi diligentius examinetur, ubi contra hominis salutem vel errore vel gratia cognitoris oppressa putatur esse iustitia; ea condicione, ut sive proconsule, comes Orientis, praefectus augustalis, vicarii fuerint cognitores, non tam ad clementiam nostram quam ad amplissimas potestates sciant esse referendum. Eorum enim de his plenum volumus esse iudicium, qui, si ita res est et crimen exegerit, rectius possint punire damnatos … „… Wir verweigern ihnen nicht das Recht, aus humanitären Erwägungen, wenn es die gesetzlichen Fristen zulassen, einen Rechtsbehelf in Strafsachen einzulegen, damit der Fall sorgfältiger untersucht werden kann, wo es für das Heil eines Menschen für geboten gehalten wird, da durch Irrtum oder Parteilichkeit des Prozessrichters die Gerechtigkeit unterdrückt wurde. Diese Bedingung ist zu beachten, dass, wenn der Proconsul, der comes Orientis, der praefectus augustalis oder die Vicare die Richter in einem solchen Fall waren, der Fall nicht an unsere Milde, sondern an die amplissima potestas zu richten ist. Denn es ist unser Wille, dass ihre Zuständigkeit für solche Fälle vollständig ist, so dass, wenn die Angelegenheit so ist und die Straftat dies verlangt, sie in der Lage sind, die verurteilten Personen gerechter zu bestrafen …“

303 Zur Eigentümlichkeit der gesetzlich geregelten Kollektivstrafe siehe oben S. 40 f. sowie Anm. 53. sowie insbesondere die Ausführungen von Jones, Civil Service, 153 – 175; Rosen, Iudex; Haensch, Statthalterarchiv; ders., Rôle; Laniado, Amendes; Honoré, Law, 26 – 28; Palme, Officia, 85 – 133. 304 = Cod. Theod. XI 30,57. 305 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 295. In etwas abgeänderter Form wurde der Erlass in zwei separate Titel des Codex Iustinianus aufgenommen: Cod. Iust. I 4,6 (De episcopalis audientia et diversis capitulis, quae ad ius curamque et reverentiam pontifialem pertinent), VII 62, 29 (De appellationibus et consultationibus). 306 PLRE II, Fl. Eutychianus 3, 446.

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B. Von Macht und Zeit

Dem vorstehenden Abschnitt vorgeschaltet beschäftigte sich Cod. Theod. IX 40,16 damit, dass weder Kleriker, Mönche noch die sog. Wegbegleiter, synoditae, mit Gewalt und gesetzwidriger Anmaßung Personen, die wegen der Entsetzlichkeit ihrer Verbrechen zur (Todes-)Strafe verurteilt worden seien, zurückhalten sollten.307 Cod. Theod. IX 40,16 machte hiervon allerdings auch Ausnahmen für den Fall, dass dem zuständigen Richter im vorausgehenden Prozess u. a. gratia vorzuwerfen war, und intendierte so insgesamt den Schutz des staatlichen Rechtssystems.308 Generell beanspruchten die Bischöfe das Recht, für zu Unrecht Gefangene und Verurteilte einzutreten.309 Dieser karitative Anspruch begegnet zum ersten Mal auf einem Konzil von Serdica/Thrakien im Jahr 343. Bischöfen wurde es hier offiziell gestattet, zugunsten zu Unrecht Beschuldigter und Verurteilter einzutreten und um Milde und Nachsicht zu bitten.310 Auch in vorstehendem Cod. Theod. IX 40,16 wurde der Einsatz von Bischöfen für bereits Verurteilte aus „humanitären“ Gründen (humanitatis consideratione) als rechtmäßig deklariert. Sacerdotes durften zudem Gefängnisse besuchen und beim zuständigen iudex um eine rechtmäßige Behandlung für die Gefangenen eintreten (interventiones suas apud iudicem competentem pro iure moderetur).311 Auch Johannes Chrysostomus zeigte sich eifrig darin, Gefangene zu unterstützen, sie in den Gefängnissen zu besuchen und für eine bessere Behandlung einzutreten.312 In diesen Kontext ist ebenfalls Cod. Theod. IX 40,16,1 zu stellen: Den vorgenannten Personengruppen (Kleriker, Mönche und synoditae) wurde aus „humanitären“313 Gründen das Recht eingeräumt, zugunsten von straf-

307 Vgl. Cod. Theod. IX 40,16 (398): … addictos supplicio et pro criminum immanitate damnatos nulli clericorum vel monachorum, eorum etiam, quos synoditas vocant, per vim adque usurpationem vindicare liceat ac tenere.; „… Keinen Klerikern oder Mönchen, auch denen, die synoditae genannt werden, sei es erlaubt, durch Gewalt und auch Usurpation solche wegzunehmen, die zur Todesstrafe verurteilt und für die Schwere ihrer Verbrechen verdammt worden sind.“ 308 Lottermoser, Religionsgesetzgebung, 97 geht hier noch weiter und unterstellt Cod. Theod. XI 40,16, dass es die kirchlichen Interessen empfindlich tangiert habe. 309 Zur Rolle der Kirche im Umgang mit Inhaftierten siehe auch Neri, Chiesa. 310 Vgl. Conc. Serdicense can. 5: honestum est autem ut episcopus intercessionem suam his praestet qui aliqua iniqua vi opprimuntur.; „Ehrenhaft ist es aber, dass der Bischof sein Dazwischentreten denjenigen gewährt, die durch irgendeine ungerechte Gewalt bedrückt werden.“ Zur Überlieferung und Textgestaltung vgl. Ducloux, Naissance, 26 – 32. 311 Vgl. Const. Sirmond. 13 (419), wozu Langenfeld, Christianisierungspolitik, 124 ff. aufzeigte, dass es sich hierbei nicht um die Sanktion eines allgemein praktizierten kirchlichen Asylrechts handelte, sondern konkret zu Unrecht Gefangenen, die in eine Kirche fliehen konnten, den dortigen Aufenthalt erleichtern sollte. Honorius habe damit vor allem die Rechtssicherheit in den Provinzen verbessern wollen, gleichzeitig aber auch seine Privilegierungspolitik gegenüber der katholischen Kirche fortsetzen wollen. So auch Franke, Kirchenasyl, 351 f. und 438 f. 312 Vgl. Joh. Chrys. in Mt. hom. 48 (PG 58,476), dazu auch Lottermoser, Religionsgesetzgebung, 108. 313 Zur humanitas als Entscheidungsnorm in Konstitutionen, die oftmals nicht scharf trennbar neben die aequitas/iustitia tritt, siehe Bleicken, Regierungsstil, 205.

II. Die gratia iudicum

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rechtlich Verurteilten ad amplissimas potestates314 zu appellieren (bzw. eine provocatio einzulegen), sofern sie die hierfür geltenden Fristen beachteten. Die Fälle, auf die sich der Erlass bezog, betrafen allein die Verurteilung zur Höchststrafe, der Todesstrafe (supplicium), in einem Strafprozess. Die betroffenen Personen sollten hier ihre provocatio gegen die strafrechtliche Entscheidung beim iudex a quo einlegen. Die aufgezählten Beamten – iudices ad quem in derartigen Fällen – sollten wiederum die darin enthaltenen Vorwürfe gegen den „erstinstanzlichen“ Richter überprüfen. Die kaiserliche Gesetzgebung zielte mithin darauf ab – bei Anerkenntnis einer gewissen Kontrolle durch die Kleriker auf eindeutige Fehlurteile – die Gerichtsverfahren vor christlich motivierten und tumultuarischen Störungen zu schützen und die Verurteilung und Bestrafung der angeklagten und überführten Personen zu gewährleisten. Die bischöfliche provocatio und interventio wurde infolgedessen nur dann als Gegengewicht gegenüber Richtern oder provinzialen Behörden verstanden, wenn diese willkürlich bzw. aus gratia iudicis einen Angeschuldigten zu unrecht verurteilt hatten. Sollte also eine „erstinstanzliche“ Entscheidung vel errore vel gratia dazu geführt haben, dass ein ungerechter Urteilsspruch erfolgte, war eine Intervention der kirchlichen Würdenträger erwünscht. Insofern wurde die Kirche hier in gewisser Weise zum unabhängigen Korrektiv und zur Gegeninstanz behördlicher, richterlicher Willkür auserkoren.315 g) Die gratia iudicum im Kontext der „Religionsgesetzgebung“316 In einem gänzlich anderen Zusammenhang stehend, taucht die Problematik der unzulässigen gratia iudicis in einem „antiheidnischen“ Erlass des Kaisers Theodosius I. auf: Am 8. November 392317, mithin ein Jahr nach dem von J. Hahn so bezeichneten „spektakulärste(n) Ereignis religiöser Gewalteskalation in der Spätantike“318, der Zerstörung des großen Serapis-Tempels in der ägyptischen Metropole Alexandria, erließ Kaiser Theodosius I. eine Konstitution319, die jedem320 die 314

Womit wohl der praefectus praetorio angesprochen war. So auch Krause, Gewalt, 273. So Langenfeld, Christianisierungspolitik, 144. Zum Kirchenasyl und korrespondierender Gesetzgebung siehe weiter Dreher, Ursprünge; ders., Asyl, 5 f.; Derlien, Asyl. Für die Behandlung der Thematik mit Blick auf die römischen Konstitutionen im Mittelalter siehe Siems, Asyl, 266 f. 316 Wie eingangs (S. 21) angemerkt, wird die Fülle der (zumeist Straf-)Verfahrensverzögerungen betreffenden religionspolitischen Erlasse im Rahmen der vorliegenden Untersuchung größtenteils nicht behandelt. Nachfolgend werden zwei Erlasse herausgegriffen, die sich explizit in den Untersuchungskontext der gratia iudicum eingliedern – insofern also für die Frage nach Problemfällen der richterlichen Parteilichkeit nahezu losgelöst von den kirchenpolitischen Kontroversen und Einzelfragen behandelt werden können. Es handelt sich dabei zudem um die einzigen zwei Erlasse aus der Fülle der ,religionspolitischen‘ Konstitutionen, die explizit auf die gratia iudicum abstellen. 317 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 280. 318 Hahn, Gewaltanwendung, 241. 319 Die religionspolitischen Hintergründe von Cod. Theod. XVI 10,12 bilden in der hiesigen Untersuchung nicht den primären Gegenstand. Es sei daher auf die entsprechenden, dies un315

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B. Von Macht und Zeit

Durchführung jeglicher paganer Formen der religiösen Anbetung im ganzen Reich untersagte, und insbesondere das Darbringen von Opfern unter Strafe stellte. Er wandte sich hierfür an den praefectus praetorio Orientis Flavius Rufinus321. Letzterer stand bereits zu Lebzeiten in dem Ruf, dass er die Verbreitung des Christentums förderte.322 So sollte durch Cod. Theod. XVI 10,12 nunmehr u. a. für die Einhaltung der Verbote gesorgt werden, ein „unschuldiges Opfer vor sinnlosen Bildnissen“ darzubringen, seine Laren mit Feuer, seinen Genius mit Wein und seine Penaten mit Düften zu verehren.323 Ebenso wurde das Verbot ausgesprochen, Opferschauen zu veranstalten und alte Riten wie das Zünden von Räucherstäbchen etc. durchzuführen. Für all diese Handlungen wurden hohe Strafen, einschließlich der höchsten Strafe, die gegen Hochverrat verhängt wurde, angesetzt.324 Nach Aufzählung unterschiedterschiedlich beurteilenden Abhandlungen verwiesen von Martroye, Répression, 697 ff., Gaudemet, Politique, 8 mit Anm. 40 und weiterer Literatur; Bucci, Intolleranza, 394 ff.; Klein, Distruzione, 143. 320 Theodosius I. präzisierte das zuvor in seinen gesetzlichen Regelungen benutzte qui … oder auch si quis … (so in Cod. Theod. XVI 10,10; 391 und XVI 10,11; 391) nunmehr in Cod. Theod. XVI 10,12pr. Im Gegensatz zu den antihäretischen Regelungen, in denen immer eine personelle Unterscheidung (beispielsweise zwischen Bischöfen, Klerikern oder Gläubigen) vorgenommen wurde, waren die antiheidnischen Vorschriften immer auf ,jeden‘ bezogen, vgl. Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia, 101 nebst Anm. 40. 321 PLRE I, Flavius Rufinus 18, 778 – 781. Zu Flavius Rufinus und seiner Unterstützung der Verbreitung des christlichen Glaubens siehe auch Fittschen, Flavius. 322 So hat er sogar in seinem Palast im Jahr 392 in Kappadokien Reliquien von Peter und Paul beherbergt, die ihm aus Rom überstellt worden waren, vgl. Fittschen, Flavius. 323 Dazu siehe auch Latte, Religionsgeschichte, 332 f. (Genius), 306 f. (Laren), 108 f. (Penaten). 324 Vgl. Cod. Theod. XVI 10,12 (392): Nullus … in nullo penitus loco, in nulla urbe sensu carentibus simulacris vel insontem victimam caedat vel secretiore piaculo larem igne, mero genium, penates odore veneratus accendat lumina, imponat tura, serta suspendat. Quod si quispiam immolare hostiam sacrificaturus audebit aut spirantia exta consulere, ad exemplum maiestatis reus licita cunctis accusatione delatus excipiat sententiam competentem, etiamsi nihil contra salutem principum aut de salute quaesierit … tamen plena religionis iniuria honorare temptaverit, is utpote violatae religionis reus ea domo seu possessione multabitur, in qua eum gentilicia constiterit superstitione famulatum … Sin vero in templis fanisve publicis aut in aedibus agrisve alienis tale quispiam sacrificandi genus exercere temptaverit, si ignorante domino usurpata constiterit, viginti quinque libras auri multae nomine cogetur inferre, coniventem vero huic sceleri par ac sacrificantem poena retinebit.; „Keine Person … soll ein unschuldiges Opfer für sinnlose Bilder an irgendeinem Ort oder in irgendeiner Stadt opfern. Er soll nicht durch heimliche Boshaftigkeit seinen Lar mit Feuer, sein Genius mit Wein, seine Penaten mit duftenden Gerüchen verehren, er darf ihnen keine Lichter anzünden, keinen Weihrauch vor sie hinstellen oder Kränze für sie aufhängen. Wenn jedoch irgendjemand es wagen sollte, ein Opfer darzubringen, die zitternden Eingeweide zu konsultieren, so soll er nach dem Beispiel einer Person, die des Hochverrats schuldig ist, durch eine Anklage, die allen Personen erlaubt ist, angezeigt werden und die entsprechende Strafe erhalten, auch wenn er ansonsten nichts gegen das Wohl der Kaiser oder in Bezug auf das Wohlergehen der Kaiser getan hat … Eine Person, die sich dessen schuldig gemacht hat, wird durch die Konfiskation des Hauses oder Grundstücks bestraft, in dem bewiesen ist, dass sie einem heidnischen Aberglauben diente … Wenn jedoch jemand versuchen sollte, solche Opfer in öffentlichen Tempeln oder Schreinen oder in Gebäuden oder auf Feldern von anderen auszuführen, und wenn nachge-

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lichster Verbote wurde in einem letzten Abschnitt der Fokus auf die Funktion der Provinzstatthalter in der Umsetzung und Durchsetzung der Vorschrift gelegt. Sowohl die Einhaltung der gesetzlichen Verbote als auch die Vollstreckung der angedrohten Strafen lag in den Händen der Provinzstatthalter (Cod. Theod. XVI 10,12): … Quod quidem ita per iudices ac defensores et curiales singularum urbium volumus custodiri, ut ilico per hos comperta in iudicium deferantur, per illos delata plectantur. si quid autem ii tegendum gratia aut incuria praetermittendum esse crediderint, commotioni iudiciariae, subiacebunt; illi vero moniti si vindictam dissimulatione distulerint, triginta librarum auri dispendio multabuntur, officiis quoque eorum damno parili subiugandis. „… Es ist unser Wille, dass die Einhaltung dieser Vorschrift von den Richtern genauso wie von den defensores und Dekurionen der einzelnen Städte behütet wird und die Informationen, die hierdurch erlangt werden, sofort an die Gerichte weitergegeben werden, und die Straftaten, die berichtet werden, sollen von den Richtern bestraft werden. Ferner, wenn die defensores und die Dekurionen annehmen sollten, dass eine Straftat durch Bevorzugung verheimlicht oder aus Unachtsamkeit übersehen werden sollte, werden sie der gerichtlichen „Bewegung“ (commotio iudiciaria) unterliegen. Wenn die Richter über solche Straftaten Kenntnis erlangen und die Bestrafung derselben aus Nachlässigkeit unterlassen, sollen sie mit einer Geldstrafe von 30 Pfund Gold belegt werden. Ihr Kanzleipersonal soll einer ebensolchen Bestrafung unterliegen.“

Die Statthalter der Provinz als zuständige Richter sollten von diesen gesetzlichen Bestimmungen Kenntnis haben, diese Vorschriften beachten und anwenden. Die defensores325 der Städte hatten ebenso wie die Dekurionen326 – gleich wie auch später in Nov. Val. 23,6 (447) – die Aufgabe, mit den Statthaltern der Provinz zusammenzuarbeiten, was einen gewissen Informationsfluss nötig machte. Vornehmliche Aufgabe der hier genannten defensores und decuriones war es, das Ermittlungsverfahren durchzuführen, mithin die Delinquenten ausfindig zu machen und an den Statthalter auszuliefern. Sie fungierten zudem als eine Art „Berichterstatter“, gewissermaßen als Staatsanwalt und Ermittlungsrichter in einer Person, für die statthalterlichen Gerichte. Dies verwundert nicht, da uns immer wieder gesetzliche Regelungen begegnen, die die Mitwirkung der städtischen Organe bei der Verfolgung von Straftaten regelten. So waren die Irenarchen327, deren Amt seit der Regierungszeit Traians bezogen auf den Raum Kleinasien erwiesen ist, als Teil ihrer wiesen wird, dass solche Orte ohne Wissen des Eigentümers usurpiert wurden, muss der Täter gezwungen werden, 25 Pfund Gold als Geldstrafe zu zahlen. Sollte sich eine Person an einer solchen Straftat beteiligen, wird dieselbe Strafe verhängt gleich der Person, die das Opfer verübt hat.“ 325 Allgemein zum Amt des defensor civitatis vgl. zuletzt Schmidt-Hofner, Defensor; ebenso auch Frakes, Defensor; vgl. auch Cod. Theod. I 29. 326 Zum Dekurionenamt zuletzt die rechtshistorische Dissertation von Baumann, Freiheitsbeschränkungen, der hier die wichtigsten Kaiserkonstitutionen und Novellen zum Decurionat zusammenstellt. Einführend dazu Demandt, Spätantike, 408 f. 327 Zum Irenarchat siehe Krause, Gewalt, 197 f. insb. nebst Anm. 1036 sowie 1041; ders., Kriminalgeschichte, 50 f.; siehe auch Magie, Rule (I), 647; Hirschfeld, Sicherheitspolizei, 605 f.

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Amtspflichten damit betraut, die Fahndung nach Räubern sowie eine erste Untersuchung des Falles und Befragung der Angeschuldigten zu übernehmen.328 Der Irenarch hatte eher keine strafrichterlichen, sondern nur polizeiliche bzw. staatsanwaltschaftliche Funktionen. Erst mit der nötigen Information konnten die ausfindig gemachten Personen vor dem statthalterlichen Gericht angeklagt und auch einer Verurteilung zugeführt werden.329 Wenn Statthalter trotzdem zukünftig in dieser Form aufgedeckte Straftaten aus gratia verheimlichten oder nachlässig vorgingen, dann sollten sie eine Strafe von 30 Pfund Gold zahlen. Das gesamte Kanzleipersonal sollte für den Fall der Nachlässigkeit seines Vorgesetzten und der mangelnden Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ebenfalls mit insgesamt 30 Pfund Gold bestraft werden. Kaiser Theodosius I. war es durchaus bewusst, dass die Strafen teils nicht vollstreckt wurden. Genau diesen Missstand sprach er abschließend an: Er wies darauf hin, dass die Statthalter der Provinz, nachdem sie durch die Berichterstatter über einen Fall informiert worden waren, auch eigene Untersuchungen anzustrengen, die Täter dingfest zu machen und einer Bestrafung zuzuführen hatten. Auch auf das gängige Problem der gratia aut incuria der zuständigen Richter wies er hin: Die Statthalter verhielten sich teilweise so, als wüssten sie nichts von der Nichteinhaltung der geltenden Gesetze (dissimulatio).330 Dies erkannten zumeist bereits die Berichterstatter, die defensores und Dekurionen, wenn sie bemerkten, dass die Richter – trotz ihrer geleisteten Ermittlungsarbeit – kein Strafverfahren eröffneten und in logischer Folge auch die Strafvollstreckung unterließen. Ob Kaiser Theodosius allerdings wirklich daran gelegen war, dass die Provinzstatthalter ihre Verpflichtung ernst nahmen und die harte Umsetzung der Erlasse forcierten, wurde immer wieder bezweifelt. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass in den uns bekannten literarischen und epigraphischen Quellen kaum Befunde von in die Praxis umgesetzter Bestrafung von opfernden Heiden oder sympathisierenden Amtsträgern zu finden sind.331 Bereits P. Veyne hat im Hinblick auf den Charakter der theodosianischen Gesetzgebung hervorgehoben, dass die Konstitutionen Kaiser Theodosius’ zwar 328 Dazu siehe auch die Ausführungen und weitere Beispiele bei Krause, Kriminalgeschichte, 50 f. 329 Vgl. auch Const. Sirmon. 14 sowie auch Cod. Theod. XVI 2,31 (409). 330 So auch Meyer-Zwiffelhoffer, Mala desidia, 113 nebst Anm. 118. 331 Sozomenos bestätigt diesen Befund: Soz. h.e. 7,12,12: ja· wakep±r to?r mºmoir 1m´cqave timyq¸ar, !kk( oqj 1pen-ei7 oq c±q timyqe?shai, !kk( eQr d´or jahist÷m to»r rpgjºour 1spo¼dafem, fpyr bmºvqomer aqt` c´moito peq· t¹ he?om7 1pe· ja· to»r 2jomt· metatihem´mour 1p-mei.; „In den Gesetzen schrieb er strenge Strafen fest, wandte sie aber nicht an, denn er wollte die Untertanen nicht bestrafen, sondern einschüchtern, damit sie über das Göttliche gleicher Meinung wie er würden. Ja er lobte auch diejenigen, die freiwillig (zur nizänischen Kirche) konvertierten.“ Nach dem Rechtsgelehrten und Kirchenhistoriker lag der eigentliche Zweck der theodosianischen Religionsgesetze darin, die Gesellschaft gewaltfrei moralisch zu verbessern, vgl. Rufin. h.e. 22,11, p. 1026, Z. 13 – 14 (ed. Mommsen) mit Bezug auf den Aufstand in Alexandreia anlässlich der Zerstörung des Serapeion: ille [Theodosius I.], qui ingenita mentis clementia errantes mallet emendare quam perdere.

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vornehmlich Regelungen zur Disziplinierung einzelner Bevölkerungsgruppen enthielten, eigentlich aber Proklamationen eines moralischen Ideals darstellten. Der Kaiser zeigte dadurch auf, für welche Idealvorstellung er eintrat.332 Ebenfalls wird die gratia iudicis nur in einem „antihäretischen“333-Erlass kaiserlicherseits thematisch aufgegriffen: In Buch XVI, Titel 5 des Codex Theodosianus findet sich eine Häufung von verschiedenen Häretiker-Erlassen in den Jahren 381 – 383, 388 – 389, 394 – 397, 405 – 415 sowie 423 – 425. Insgesamt sind hier 66 verschiedene gesetzliche Regelungen zu den unterschiedlichen „häretischen“ Strömungen zu finden.334 Allein in Cod. Theod. XVI 5,65, einem Erlass des Kaisers Theodosius II. aus dem Jahr 428, wurden 23 „ketzerische“ Gruppen mit ihren jeweiligen Namen genannt.335 In diesem Kontext scheint gleichwohl die gratia iudicisThematik nicht von erhöhter Bedeutung gewesen zu sein.336 Lediglich eine337 gesetzliche Regelung (Cod. Theod. XVI 5,40; 407) behandelt die gratia iudicis:

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Vgl. Veyne, Clientèle, 341 mit Anm. 26. Zum Versuch, „Häresie“ zu definieren, vgl. Noethlichs, Maßnahmen, 2 sowie Anm. 10; vgl. allgemein auch Brosch, Wesen, 9 – 33; Brox, Häresie, 248 – 259; Simon, Hairesis; siehe auch LThK 9, 1964, 404 – 406. Zur Differenzierung von schisma und hairesis vgl. Journet, Problème. 334 Sicherlich handelt es sich hier nicht um die gesamten in dieser Zeitspanne erlassenen ,antihäretischen‘-Erlasse, was der Selektion der Kompilatoren geschuldet ist, vgl. Honoré, Theodosian Code, Harries, Background; Riedlberger, Prolegomena, insb. 185 f. zur Selektion. 335 Für die Formulierung dieses Gesetzes war Antiochus als quaestor sacri palatii verantwortlich, zu diesem vgl. PLRE II, s.v. Antiochus 7, 103 f. sowie vermutlich ebd., s.v. Antiochus 6, 102 f. 336 Dies ist natürlich aufgrund der Aussortierung bei der Kompilation des Codex differenziert zu betrachten, lässt allerdings aufgrund der sonst inkludierten Fülle an Häretikergesetzen die Vermutung zu, dass die gratia iudicis in diesem Zusammenhang keine tragende Rolle in der Verbreitung/Unterstützung der häretischen Strömungen spielte. 337 Überdies zu verweisen ist auf die Konstitution des Kaisers Honorius aus dem Jahr 405 (Cod. Theod. XVI 6,4,4, adressiert an den praefectus praetorio Italiae Hadrianus; PLRE I, Hadrianus 2, 406), worin er die Wiederholung der Taufe durch die Donatisten thematisierte. Die gratia iudicis wird hier nicht wörtlich angesprochen. Es wird der Fall geschildert, dass Provinzstatthalter begangene Straftaten duldeten und gemeinsame Sache (consensus) mit den Häretikern gemacht hatten. Gerade dies wird unter Strafe gestellt: Sollte folglich jemand die Taufe wiederholen oder als Täufer fungieren, sollte er vor den Statthalter der Provinz gebracht werden. Dieser sollte die Täter mit Armut bestrafen und ihren Besitz konfiszieren. Für eine Zuwiderhandlung wurde den moderatores provinciarum eine Geldstrafe in Höhe von 20 Pfund Gold angedroht. In Cod. Theod. XVI 6,4 wird das Christentum als vera fides – der wahre Glaube – dargestellt. Hintergrund der gesetzlichen Regelung war, dass sich Kaiser Honorius mit dem immer wieder auftretenden Problem auseinandersetzen musste, dass sich die Donatisten weiterhin als Schismatiker ausgaben, um der Häretikergesetzgebung zu entgehen, obwohl sich zwischenzeitlich dogmatische Differenzen herausgebildet hatten. Infolgedessen wurde fortan in den gesetzlichen Regelungen auch eine Unterscheidung zwischen Häresie und Schisma notwendig: vgl. Cod. Theod. XVI 10,4 (346 [354]): … (secta) quae, ne haeressis vocaretur, appellationem schismatis praeferebat … 333

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Kaiser Honorius bezog sich in seinem Erlass aus dem Jahr 407 an den praefectus urbis Romae, Senatorius338, explizit auf Cod. Theod. XVI 6,3 – 5 und XVI 5,38 – 39339. Er stellte hierin erstmals den Vergleich der Häresie mit dem Majestätsverbrechen auf, indem er die Häresien der Donatisten, Manichäer340, Phrygianer und Priscillianisten als crimen publicum bezeichnete und gegen sie unter anderem diejenigen Strafen verhängte, die für Majestätsverbrecher einschlägig waren. Die Strafen waren jedoch in gewissen Bereichen abgeschwächt.341 Durch die nunmehrige Einordnung der Häresie als crimen publicum342 wurden Gesetze gegen Häretiker mehr und mehr pro salute commune und zugunsten der utilitas catholicae sacrosanctae ecclesiae343 erlassen.344 Das kaiserliche Regelungswerk konzentrierte sich ab 338 PLRE I, Senator 1, 989 – 990. Seine Position ist umstritten. Zum einen wird er mit dem Zusatz Prätorianerpräfekt (vgl. in Cod. Iust. I 5,4 [407]) benannt; teils aber auch als praefectus urbis Romae, so auch PLRE 1, Senator 1, 989 f., ebenso Chastagnol, Fastes, 262 Anm. 91; so auch Mommsen/Meyer, Theodosiani libri, 867. Die Einordnung als praefectus urbis Romae erscheint vorzugswürdig: Cod. Theod. XVI 5,40 (407) thematisierte die kirchlichen Abspaltungen des Donatismus und Manichäismus und deren Strafbarkeit. Die Strömung des Manichäismus ist zum Zeitpunkt des Erlasses (um das Jahr 407) in Rom belegt. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass auch für Rom Gegenmaßnahmen geregelt werden mussten. Kopien dieses Erlasses wurden folglich auch nach Rom gesandt. Adressat dieses Erlasses könnte demnach auch der praefectus urbis Romae gewesen sein. 339 Cod. Theod. XVI 5,40pr. (407): Quid de donatistis sentiremus, nuper ostendimus. Praecipue tamen manichaeos vel frygas sive priscillianistas meritissima severitate persequimur. Huic itaque hominum generi nihil ex moribus, nihil ex legibus sit commune cum ceteris.; „Wir haben erst kürzlich unsere Meinung zu den Donatisten kundgetan. Insbesondere verfolgen wir auch die Manichäer und die Phrygianer und die Priscillianisten. Deshalb sollen diese Menschen keine Bräuche und Rechte mit dem Rest der Menschheit gemein haben.“ Zur Häresie im Römischen Recht siehe Gaudemet, L’Église, 612; Grasmück, Coercitio, 209. 340 Zur Strömung der Manichäer und ihrer Verbreitung in den zwei Teilen des Reiches vgl. die Darstellungen bei Lieu, Manichaeism; Coyle, Manichaeism; Decret, Augustin. Zu den gesetzlichen Regelungen gegen die Manichäer siehe beispielhaft Kaden, Edikte; Beskow, Laws, 1 – 11; Escribano Paño, Limitación. 341 So konnten sie – im Gegensatz zu den Majestätsverbrechern – noch bis zum zweiten Grad der Verwandtschaft beerbt werden, vgl. Cod. Iust. I 5,4 (407). 342 Die Präzisierung der Vorschriften diente dazu, die Ambivalenz früherer Gesetze und einen allzu großen Interpretationsspielraum zu vermeiden. Kaiser Theodosius nahm mit seiner Gesetzgebung in den Jahren 391 und 392 eine Konkretisierung der Strafen und des Charakters des Deliktes vor (Cod. Theod. XVI 10,10 – 12; 391/392). Theodosius unterschied nunmehr zwischen crimen sacrilegii und crimen publicum: Als crimen publicum wurden fortan das Tieropfer und alle Formen der Divination analog zum Majestätsverbrechen verfolgt. Die Divination wurde der Magie gleichgestellt (Cod. Theod. XVI 10,12,1; 392); zu dieser Gleichsstellung siehe Fögen, Enteignung, insb. 48 – 53. Die gesamte pagane Kultpraxis wurde erst später, im Jahr 472 durch Kaiser Leo I. zum crimen publicum gezählt, vgl. Cod. Iust. I 11,8 (472): nemo ea, quae saepius paganae superstitionis hominibus interdicta sunt, audeat pertemptare, sciens, quod crimen publicum committit qui haec ausus fuerit perpetrare … 343 Vgl. Cod. Theod. XVI 5,47 (409): … ea, quae multipliciter pro salute communi, hoc est pro utilitatibus catholicae sacrosanctae ecclesiae …; „… Bestimmungen, die viele Male zum Heil der Gemeinschaft erlassen worden sind, das heißt für die Interessen der heiligen katholischen Kirche …“ 344 Vgl. hierzu siehe auch Hoeflich, Concept.

II. Die gratia iudicum

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dem Jahr 407 erkennbar auf die Verfolgung der Manichäer.345 Die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen gegen die Häretiker oblag den Provinzstatthaltern, die für Frieden und Ruhe in den Provinzen zu sorgen hatten. Für die Verfolgung der Bestimmungen mit der nötigen Schärfe wurde auch hier im letzten Abschnitt eine Geldstrafe für zuwiderhandelnde Provinzstatthalter angedroht. In diesem Rahmen sah sich Kaiser Honorius gezwungen, explizit zu erwähnen, dass eine Einhaltung der Gesetze nicht aufgrund von gratia iudicis der zuständigen Provinzstatthalter unterlassen werden sollte (Cod. Theod. XVI 5,40346 ; 22. Februar 407347): … Rector provinciae, si haec crimina dissimulatione vel gratia delata distulerit aut convicta neglexerit, sciat se multa viginti librarum auri feriendum. Defensores quoque et principales urbium singularum nec non et officia provincialia decem librarum auri poena constringet, nisi in his, quae a iudicibus super hoc praecepta fuerint, exsequendis et sagacissimam curam et sollertissimam operam commodarint. „… Wenn der Provinzstatthalter durch Nichtbeachtung oder Bevorzugung den Prozess solcher Verbrechen aufschieben sollte, wenn sie ihm gemeldet wurden oder die Bestrafung jener verurteilten Personen vernachlässigen sollte, so soll er wissen, dass er mit einer Geldstrafe von 20 Pfund Gold bestraft wird. Auch die defensores und die Dekurionen jeder Stadt und ebenso das Kanzleipersonal der Provinz sollen durch eine Strafe von zehn Pfund Gold belegt werden, es sei denn, dass sie bei der Ausführung der von den Richtern in diesem Zusammenhang vorgeschriebenen Angelegenheiten mit ihrer schärfsten Sorgfalt und geschickten Hilfe vorgegangen sind.“

Obiger Abschnitt stellt wiederum nur den letzten Teil des Erlasses dar. Thematisch geht es vorstehend um die Eindämmung manichäischer Praktiken. Es wurde im ersten Abschnitt all das aufgezählt, was die Personen, die dieser Strömung angehörten, an Strafen und Benachteiligungen zu befürchten hatten, unter anderem wurde ihnen die Testier- und Erbfähigkeit abgesprochen.348 Zudem stellte Kaiser Honorius explizit unter Strafe, wenn eine Privatperson wissentlich eine solche Anhängerschaft auf ihren Ländereien beherbergt hatte. Hiernach ging er auf die Rolle des Provinzstatthalters bei der Anwendung der gesetzlichen Regelung ein. Für die Kenntnis von einer derartigen Straftat in Form eines crimen publicum war der Provinzstatthalter auf die Information von anderen (zumeist auch kirchlichen) Autoritäten angewiesen. Wie schon zu Cod. Theod. XVI 10,12 (392) festgestellt, hing auch die Durchsetzung der „antihäretischen“ Gesetze in entscheidendem Maße von einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen kirchlichen und weltlichen Mächten ab.349 Der rector provinciae als zuständiger Untersuchungsbeamter und Richter war nach 345 Cod. Theod. XVI 5,40 pr (407): Quid de donatistis sentiremus, nuper ostendimus. Praecipue tamen manichaeos … persequimur. Vgl. auch Honoré, Law, 232. 346 = Cod. Iust. 1,5,4 (407). 347 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 312. 348 So auch in Cod. Theod. XVI 5,7 (381); XVI 7,4 (391) und XVI 5,43 (408 [407]); hierin werden unter anderem die Manichäer, Eunomianer, Apostaten, Donatisten, Priscillianisten und Cälicolisten behandelt. Dazu siehe Liebs, Augustin, 204 nebst Anm. 16. 349 Vgl. dazu auch Escribano Paño, Law, 259.

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B. Von Macht und Zeit

Berichterstattung durch Dritte verpflichtet, Straftaten dieser Art zu ahnden. Es werden zwei Gründe aufgezeigt, weshalb solche Fälle wohl oftmals nicht verhandelt und die Personen keiner Bestrafung zugeführt wurden: Zum einen dissimulatio, die Nichtbeachtung der gesetzlichen Bestimmungen, zum anderen aber die gratia iudicis. Aus diesen Gründen wurden Anschuldigungen nicht in einem ordentlichen Verfahren verhandelt und – sofern sich die Verdächtigungen bewahrheitet hatten und bewiesen werden konnten – die ausgeurteilten Bestrafungen der Straftäter nicht vollzogen. Festzuhalten ist, dass eine erfolgreiche Verfolgung der Häretikerströmungen insbesondere die Mitwirkung des bürokratischen und jurisdiktiven Apparats verlangte. Die Anwendung der entsprechend erlassenen Gesetze sollte im Idealfall nicht aufgrund unzulässiger gratia iudicis unterbleiben. Gleichwohl ist es nachvollziehbar, dass es ein Richter, der einen Sinn für die politischen Spannungen in seiner Provinz hatte, bisweilen unterließ, sich gegen die lokal verbreiteten und starken religiösen Strukturen durchsetzen zu wollen und gegen diese die geltenden Gesetze anzuwenden. In solchen Fällen kam es wohl auch dazu, dass seitens des Richters (aus gratia) vermieden wurde, einen ihm zugetragenen Fall zu entscheiden.

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ – Inhaftierung als Alternative zu Verfahrensführung und -vollstreckung? 1. Fragestellung Die Thematik der überlangen Inhaftierung als Folge der zeitlich verzögerten „erstinstanzlichen“ (Straf-)Verfahrensführung und (Straf-)Vollstreckung griff Libanius350 in seiner or. 45, an den Kaiser, betreffend die Gefangenen351 auf. Diese Rede wird in Zusammenhang352 gestellt mit der ebenfalls in die späten 80er Jahre des vierten Jahrhunderts n. Chr. datierten353 or. 33, der Rede gegen den consularis Syriae, Tisamenus354. Beide Reden wurden von Libanius in einem engen inhaltlichen Kontext geschrieben, adressierten die Gefängnisbedingungen in Antiochia355 und sind durchwegs geprägt von einem äußerst negativen Bild der statthalterlichen Richtertätigkeit. Or. 45 ist im Gegensatz zur or. 33 allgemein gefasst und stellt eine generelle Kritik an nicht näher benannten Provinzstatthaltern und deren Beamten350

Zur Person des Libanius siehe die Ausführung auf S. 30 nebst Anm. 86. Hierzu die Ausführungen auf S. 52 nebst Anm. 204. 352 So beispielsweise schon Sievers, Leben, 171 nebst Anm. 119, ebenso bei Petit, Fonctionnaires, 255; Slootjes, Governor, 68. 353 Übereinstimmend zur Datierung der beiden Reden in die späten 80er Jahre des vierten Jahrhunderts n. Chr. siehe Sievers, Leben, 170, der die or. 33 ins Jahr 386 einordnet. Sievers argumentiert, dass die Rede jedenfalls vor dem Aufstand in Antiochia im Jahr 387 geschrieben wurde. Ebenso zuletzt Nesselrath, Einführung, 13 nebst Anm. 40. 354 Zur Person des Tisamenus siehe die Ausführungen auf S. 31 nebst Anm. 92. 355 Hierzu siehe auch die Studie von Matter, Libanios. 351

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“

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apparat dar. Durch den thematischen Zusammenhang mit or. 33 ist allerdings an mehreren Stellen davon auszugehen, dass sich Libanius auch in seiner or. 45 vor allem auf Tisamenus als Negativbeispiel bezog.356 So auch in folgendem Ausschnitt (or. 45,27): … eQ c±q dµ t± l³m pq²clata to¼tym !lvot´qym de?tai, ja· bas²mym ja· ham²tym, b d³ ja· taOta j!je?ma ve¼netai, p_r #m %qwym eUg lµ t¹ t/r !qw/r ûpam poi_m; bas²m\ c±q t!kgh³r 1m pokko?r erq¸sjoit( #m lºm, t` te t_m 1nekecwol´mym ham²t\ t²w( %m tir t_m pomgq_m c´moito letqi¾teqor. „… In fact, if his duties require him to undertake both examination and execution, and he is going to evade both, how can he be a governor if he does not discharge his duties to the full? In many cases truth can be discovered by examination alone, and by the execution of the guilty some criminal may perhaps be reformed.“357

Libanius griff die beiden Hauptpflichten des Provinzstatthalters auf: Nach ihm handelte es sich hierbei zum einen um die Untersuchung eines Falles, mithin die Verfahrensführung, und zum anderen um die anschließende Durchführung der Vollstreckung.358 Der namentlich nicht benannte Provinzstatthalter (wohl Tisamenus) hätte aber gerade beides unterlassen. Dies hätte dazu geführt, dass die nötige Abschreckung potentieller anderer Straftäter nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Libanius konstatierte: Die Amtspflicht eines Statthalters würde doch gerade mit der richterlichen Untersuchung zur Wahrheitsfindung stehen und fallen. Dass – so Libanius – teilweise die im Rahmen eines Verfahrens durch den Richter durchzuführende Untersuchung nicht angestellt worden sei, hätte im Falle einer bereits beschuldigten bzw. verklagten Person, zu einem Folgeproblem geführt. Der Statthalter hätte nach Inhaftierung der betreffenden Person das Interesse an der Sache verloren oder diese wäre in Vergessenheit geraten, sodass sich die notwendige, verpflichtende Untersuchung der Angelegenheit verzögert hätte. Libanius kritisierte, dass gerade eine solche zeitliche Verzögerung durch den zuständigen Richter teils nicht als ernsthaftes Problem verstanden worden sei.359 Die zuständigen Richter 356 So auch Petit, Fonctionnaires, 255 f., der Tisamenus vor allem den Abschnitt or. 45, 26 – 28 zuordnet. Sievers, Leben, 171 f. nebst Anm. 119, 121, 122, 124, zeigt die einzelnen Querverweise auf. 357 Zu Text und Übersetzung siehe Anm. 95. 358 Es fällt auf, dass in der Forschung oftmals keine Differenzierung zwischen Erkenntnisverfahren und anschließender Vollstreckung vorgenommen wird. In vielen Überblicksdarstellungen enden die Kapitel, die sich mit der Rolle des Statthalters in der Jurisdiktion beschäftigen, mit dem Urteilsspruch oder es findet in der Behandlung eine Vermischung der beiden Verfahrensabschnitte statt. Die Rolle im Vollstreckungsverfahren (insb. als ,Gerichtsvollzieher‘ in ,Zwangsvollstreckungsverfahren‘) wird allerdings oft – bedingt durch den Untersuchungsgegenstand – nur untergeordnet behandelt, so u. a. in den grundlegenden Darstellungen bei Krause, Gewalt, 254 – 272 sowie Ausbüttel, Verwaltung, 59 f. 359 Vgl. Lib. or. 45,19: ja· lµm to?r l³m ta?r !maboka?r oqj !p¾kkut( #m t± paq± toO pq²clator d¸jaia. $ c±q t¶leqom 1m/m eQpe?m, taOta #m rp/qwe ja· d¼o lgs· ja· pke¸osim vsteqom7 peq· d( aw to»r ham²tour toOt( oqj 5stim, oqd( #m jat²swoi tir tµm xuwµm eQp½m pq¹r aqt¶m7 l´me, !kk( !peipºmtor toO s¾lator !m²cjg ve¼ceim 1je¸mgm. oR d³ letan» peq· !qcuq¸ou dij²fomter C 1p· t0 cm¾sei ce aqt0 to»r toio¼tour !jo¼omter ham²tour oqj eWmai jat± t/r

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B. Von Macht und Zeit

hätten mitunter den Eindruck vermittelt, eine bereits über Monate hinweg andauernde Inhaftierung hätte keinerlei Konsequenzen für die Verteidigungschancen des einzelnen Inhaftierten nach sich gezogen. Ein Verlust des Anspruches bzw. ihrer Position wäre mit der Inhaftierung gerade nicht einhergegangen. Das Gegenteil sei jedoch der Fall, „schimpfte“ Libanius: Er schilderte Fälle, in denen Inhaftierte so lange auf ihr Verfahren warteten, bis sie dieses aufgrund der schlechten Haftbedingungen nicht mehr erlebten. Libanius bezeichnete solche Statthalter daher als „Mörder“360, da die Bestrafung mit dem Tod erst dann zum Einsatz kommen sollte, wenn ein Erkenntnisverfahren mit einer Untersuchung des Falles durchgeführt und der Angeschuldigte einer gewichtigen Straftat überführt werden konnte.361 Unterblieb die Strafvollstreckung, so wurde dadurch die entscheidende Außenwirkung der Bestrafung untergraben. In Form einer negativen Generalprävention erhoffte sich Libanius durch die Vollstreckung der gesetzlich vorgeschriebenen Strafen auch eine abschreckende Wirkung auf die Gesellschaft und andere potentielle Straftäter. Explizit auf den consularis Syriae, Tisamenus, bezogen, griff Libanius diesen Kritikpunkt an der richterlichen Amtsführung auch in seiner Rede „gegen Tisamenus“ (or. 33) auf. Tisamenus schilderte er als Amtsinhaber mit Hang zu Gewalttaten gegen Personen und deren grundlose Inhaftierung. Letztere wandte Tisamenus insbesondere vor Spruchreife eines Gerichtsverfahrens an.362 Wer einmal – unschuldig oder

!qw/r toOto mol¸fousi. jatavqomoOsi c²q, oWlai, t_m l³m ¢r oqj´t( emtym, t_m d³ 1je¸moir succem_m ¢r !shem_m.; „Yes! But those caught in the law’s delays would not have an intrinsically sound claim lost to them. What they can say today, they could say just as well in two or three months’ time! But if they are dead, they cannot. Nobody can retain the vital spark by telling it to stay: when the body succumbs, it too must needs depart. But those who hear of such deaths while they are engaged on financial cases or at the very beginning of the investigation, do not regard it as at all damaging to their position. The victims they disregard, so it seems to me, as dead, their kinsfolk as men of little import.“ 360 Vgl. Lib. or. 45,3. 361 Vgl. Lib. or. 45,2: OWsha l³m owm, § basikeO, toOtº ce d¸jaiom cm t¹ to»r l³m !n¸our ham²tou hm¶sjeim, to»r d³ lµ f/m te ja· peqie?mai, ja¸toi ce di( rpeqbokµm vikamhqyp¸ar Edg tim· ja· to¼tym f/m 5dyjar, !kk( 5sty j¼qia t± paq± t_m pakai_m mºlym. taOta d´ 1stim !pohm¶sjeim l³m è ti toioOto tetºklgtai, f/m d³ dr oqd³m tgkijoOtom Ad¸jgje. t¹ d³ tetoklgj´mai ja· t¹ Adijgj´mai t¸ pot´ 1sti; t¹ 1nekgk´cwhai. ¢r tº ce pq¹ 1k´cwym !pohame?m oqd³m 6teqºm 1stim C Adij/shai …; „Well, Sire, as you know, justice involves death for those who deserve to die, and life and survival for those who do not. Admittedly, in your remarkable generosity you have in the past granted reprieve to some miscreants even, but let the provisions of old-established legislations be regarded as the norm. These are death for the perpetrators of any such crime and life for those innocent of such misdemeanours. And the definition of a crime and misdemeanour is what? the proof of it in a court of law. For a man to be executed before trial is downright illegality, and even if he commits an act that involves the death penalty and it remains undiscovered, anyone who kills him is at fault in exacting the penalty before the proof …“ 362 Lib. or. 33,30: EWt( !p¹ tautgs· t/r !qc¸ar t/r pokk/r pok»r Gm 1m pkgca?r. toOto c±q B toOde !qwµ sujov²mtgm Bd´yr Qde?m, !p( aQt¸ar 1p· tµm d¸jgm dqale?m, to?r di± pkgc_m jajo?r pqoshe?mai deslºm …; „Then, after this prolonged inaction, he busily engaged himself with floggings. This was the characteristic of his administration – a kindly eye for accusers, haste in

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schuldig – im Gefängnis saß, hatte nach Libanius realiter kaum Hoffnung auf eine schnelle Untersuchung und Entscheidung seiner Sache. Zwar war Tisamenus schnell darin, jemanden nach einer Anschuldigung zu inhaftieren, allerdings langsam darin, das Verfahren gegen den nunmehr Inhaftierten zu führen und Urteile umzusetzen. Dies hatte, so Libanius, nicht zuletzt die Überfüllung der Gefängnisse und den Tod unschuldig Inhaftierter zur Folge.363 Die beiden orationes von Libanius sind viel besprochen und kontrovers diskutiert worden. Ohne Zweifel beinhalten beide Reden eine überspitzte Darstellung der realen Situation und sind ob ihres Wahrheitsgehalts kritisch zu betrachten. Die – teils stilistisch sehr emotionalen – Forderungen und Äußerungen sind zu relativieren. Geht man mit J.-M. Carrié davon aus, dass or. 33, ebenso wie or. 45 von Libanius lediglich als eine Art „Übung“ geschrieben wurden, folgt konsequenterweise die Annahme, Libanius sei es gar nicht darauf angekommen, ob Tisamenus – wie gefordert – wirklich von Theodosius abgesetzt wurde oder nicht.364 Tatsächlich kam es auch nicht zu einer Absetzung. Dies schilderte Libanius selbst in seiner Autobiographie.365 Hierin erwähnte er das reguläre Ende der Amtszeit von Tisamenus nur nebenbei in einem Halbsatz und ohne zusätzlichen Kommentar. Dem gegenüber steht allerdings, dass sich Libanius selbst an anderer Stelle (or. 50,13) beschwerte, seine an vielen Stellen geäußerte Kritik an den Amtsinhabern sei ohne Erfolg gewesen. Nichtsdestotrotz kann aber aus Libanius Äußerungen im Zusammenhang mit anderen Quellen der Eindruck gewonnen werden, dass die steigende Anzahl der Gefangenen mit der Tätigkeit der Gerichte korrelieren musste. So begegnet uns auch im Codex Theodosianus eine Vielzahl von Erlassen, die sich mit den Gefängnisbedingungen und den verschiedenen Formen der Inhaftierung, u. a. auch während des moving from accusation to punishment, and, above and beyond the evils of corporal punishment, the imposition of imprisonment …“ 363 Vgl. Lib. or. 33, 30 – 31; 41 – 42. 364 So Carrié, Gouverneur, 26. Für die Auffassung von Carrié spricht jedenfalls, dass Tisamenus nach der Rede des Libanius anscheinend nichts zu befürchten hatte und Libanius selbst das Ende der Amtszeit desselben ganz nebenbei erwähnt. Überdies ist ins Feld zu führen, dass Libanius in seiner Rede – literarisch kunstvoll ausgestaltet – gerade diejenigen Attribute zur Beschreibung des Tisamenus benutzte, die das Gegenteil einer idealen Amtsführung, wie sie von Menander Rhetor 379 – 381, 415 – 416 beschrieben wurde, darstellen. Allein dadurch wirkt die Rede über die Maßen „konstruiert“, was m. E. für ihren Übungscharakter sprechen könnte. Dagegen argumentiert Slootjes, Governor, 167, die davon ausgeht, dass es sich bei or. 33 um eine Rede handelte, die für die Öffentlichkeit und mit der Intention geschrieben wurde, um diese – im Besonderen den Kaiser – über die Nachlässigkeit des Statthalters und über die Unzufriedenheit der Provinzbewohner zu informieren. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass Tisamenus wirklich zu dieser Zeit als Statthalter tätig war; auch Matter, Libanios, 55 (wie o. Anm. 94) geht von einer Publikation aus und sieht eine Verwendung in gerichtlichem Kontext als wahrscheinlich an. Für die Schriften, in denen Libanius inbesondere Statthalter scharf angreift, ist jedenfalls nicht abschließend und eindeutig bestimmbar, ob diese tatsächlich in dieser Form publiziert wurden bzw. wie weit ihre Verbreitung reichte, vgl. dazu Petit, Untersuchungen, 112 – 126. 365 Vgl. Lib. or. 1,252: 6teqor %qwym …; „another governor followed …“.

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„erstinstanzlichen“ Ermittlungs- und (Straf-)Verfahrens, beschäftigten.366 Darunter sind wiederum zwei Konstitutionen, in denen die Thematik in den Vordergrund rückt, dass die bereits eingeleiteten Verfahren nicht zu Ende geführt wurden oder nach einem Urteilsspruch keine Freilassung oder Vollstreckung der Strafe zu erwarten war, mithin die Inhaftierung einen Dauerzustand darstellte. In beiden Gesetzen wurde gerade gegen Letztgenanntes eine Gegenmaßnahme in Form eines Kontrollsystems eingeführt. Die nachfolgend zu besprechenden Konstitutionen Cod. Theod. IX 3,6 sowie Cod. Theod. IX 1,18 wurden in der bisherigen Diskussion um die Annahme einer förmlichen Strafhaft und entsprechender kaiserlicher (Gegen-) Maßnahmen zwar gesehen, allerdings wenn überhaupt, dann nur additiv angeführt oder verallgemeinernd behandelt.367 Beide Erlasse sind aber insbesondere unter folgendem Gesichtspunkt interessant: In beiden wurde dem zuständigen Richter in Verbindung mit dem Zustand der „überlangen Inhaftierung“ neglegentia in der Verhängung gesetzlich vorgeschriebener Strafen vorgeworfen. Anhand dieser Beispiele soll untersucht werden, wann die Inhaftierung als verfahrensverzögernder Zustand aufgefasst und es seitens der Kaiser als Gesetzgeber notwendig wurde, dagegen einzuschreiten. Inwieweit kann darin eine Tendenz weg von der Vollstreckung schwerer Strafen hin zur Inhaftierung als (möglicherweise christlich-milder) Alternative festgestellt werden? 2. Zur Untersuchungs- und Strafhaft in der Spätantike Der Strafcharakter der Inhaftierung und die förmliche Strafhaft im römischen Justizsystem werden in der Forschung noch immer kontrovers diskutiert.368 Als Communis Opinio369 kann jedoch zumindest gelten, dass die öffentliche Strafhaft nie 366 Allein in Cod. Theod. IX 38 begegnen uns allein fünf gesetzliche Regelungen, die sich mit der Freilassung von Gefangenen beschäftigen. Cod. Theod. IX,3 beinhaltet sieben Regelungen zur Inhaftierung in Form der Untersuchungshaft; weitere Beispiele sind Cod. Theod. IX 3,6 (380), IX 1,18 (396), XI 30,2 (313), XI 30,15 (329), XI 7,3 (320) etc. 367 So spricht Hillner Cod. Theod. IX 3,6 gar nicht, Cod. Theod. IX 1,18 nur kurz in einer Anm. auf S. 123 an. Krause, Gefängnisse, erwähnt IX 3,6 mehrfach zusammen mit anderen Codex-Stellen in den Fußnoten, allerdings nur auf S. 342 nebst Anm. 130 im Fließtext. Dies gleichwohl immer nur knapp oder mit dem Hinweis darauf, dass hierin die Aufsicht über die Gefängnisse intensiviert und eine Berichtspflicht eingeführt wird. ders., Gewalt, behandelt IX 1,18 kurz auf S. 337 f. nebst Anm. 114 und führt hierzu an, dass „die Verweildauer der Angeklagten im Gefängnis“ „durch den geringen Eifer vieler Provinzstatthalter, Strafprozesse zu führen“ und die „Bemühungen der Statthalter, Popularität zu gewinnen“ zugenommen habe; kurze Erwähnungen von Cod. Theod. IX 1,18 finden sich auch bei Matter, Libanios, 63 sowie Neri, Chiesa, 250 nebst Anm. 36; von Cod. Theod. IX 3,6 u. a. bei Matter, Libanios, 56; Pavon, Poenae carceris, 118 nebst Anm. 55 sowie 120; Rivière, État, 236 nebst Anm. 103. 368 Zuletzt hierzu die umfassende Untersuchung von Hillner, Prison, die sich hierin u. a. im Speziellen mit den spätantiken Anfängen der Klosterhaft beschäftigte; ebenso die von Hillner in ihren Überlegungen nicht mehr berücksichtigte Arbeit von Krause, Gewalt; sowie ders., Prisons, 127 f. 369 Dazu die in den nachfolgenden Anmerkungen genannte Literatur.

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“

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zweifelsfrei Bestandteil der römischen Rechtsordnung wurde. Zu den unterschiedlichen Formen und Funktionen von Haft, Arrest und Internierung in öffentlichen wie privaten Gefängnissen ist viel geschrieben worden.370 Die zur Existenz der förmlichen Strafhaft im Römischen Reich geführte Debatte entbrennt immer wieder an Ulpians Ausführungen (Dig. 48,19,8,9): Solent praesides in carcere continendos damnare aut ut in vinculis contineantur: sed id eos facere non oportet. Nam huiusmodi poenae interdictae sunt: carcer enim ad continendos homines, non ad puniendos haberi debet. „Es pflegen auch die Provinzstatthalter zur Festhaltung im Gefängnis zu verurteilen, oder dass sie in Banden gelegt werden sollen, allein dies dürfen sie nicht tun, denn Strafen der Art sind verboten, das Gefängnis nämlich dient wohl dazu, Menschen festzuhalten, nicht aber sie zu bestrafen.“ 371

Auf dieser Basis stand auch die Annahme Th. Mommsens, dass ein öffentliches Gefängnis (carcer) nicht als Strafe im römischen Recht etabliert war.372 Diese Interpretation der Digestenstelle ist zwischenzeitlich jedoch von vielen Autoren kritisch gesehen und relativiert worden.373 Die Aussage von Dig. 48,19,8,9 – ein generelles Verbot der Gefängnishaft als Strafe – muss auf Basis einer systematischen Interpretation und anhand der existierenden literarischen und rechtlichen Quellen relativiert werden: Dadurch, dass auch in literarischen Quellen das Gefängnis als poena oder gängiges Mittel der coercitio genannt wird374, ist von einer verschiedenartigen Nutzung des Gefängnisses als Zwangsmittel oder auch Form von Strafe auszugehen.375 Diese Interpretation ist nicht zuletzt auch durch die Aufnahme des 370 Als einschlägige Studien zum Themenbereich ,Gefängnis‘ seien genannt Lovato, Carcere; Krause, Gefängnisse; Neri, Infames; Rivière, Cachot. 371 Übersetzung von Otto, CIC, 1022. Zu Dig. 48,19,8,9 beispielhaft Hillner, Prison, 135. 372 Dazu siehe Mommsen, Strafrecht, 299, 952, 963. Dies unterstützend Brasiello, Repressione, der den Ursprung der vincula als Strafe, die gegenüber Sklaven verhängt wurde, herausarbeitet; auch Grand, Prison, 58 – 67; ebenso Mayer-Maly, Servum. 373 Dagegen Garnsey, Status, 147 – 152, insb. 149, der Ulpian in seiner Ansicht als rückständig bezeichnet und davon ausgeht, dass die Statthalter die Inhaftierung als Strafe praktizierten und damit der Entwicklung des Strafsystems Rechnung trugen; so auch Rivière, Carcer, 597 – 652, ebenso auch Krause, Gefängnisse, 83 f.; Messana, Carcerazione, argumentiert, dass in Dig. 48,19,8,9 das aut nach damnare erst nachträglich hinzugefügt oder von einem Kopisten fälschlicherweise eingefügt wurde. Hiernach würde sich der Sinn des Abschnittes ändern: Es ginge somit nicht darum, jemanden zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen, sondern jemanden in Ketten zu halten, der bereits inhaftiert sei; so auch Lovato, Carcere, 129 – 132; Auch Neri, Infames, 421 – 424, argumentiert, dass der Ausschnitt jedenfalls auch systematisch im weiteren Kontext der Digesten gelesen werden muss: Dies vor dem Hintergrund, dass er nicht in einen Abschnitt eingegliedert ist, der sich mit verschiedenen Strafen an sich beschäftigt, sondern in eine Passage, die von dem Umgang mit denjenigen handelt, die zur Zwangsarbeit verurteilt worden sind (opus publicum) und versucht haben, hieraus zu fliehen. Weitere kritische Stimmen sind zu finden bei Solazzi, Condanna; Balzarini, Pene; Pavón Torrejón, Cárcel, 193 – 198. 374 Zu den Beispielen siehe unten S. 92 f. 375 So zuletzt Hillner, Prison, 134 und 136; vgl. auch schon Eisenhut, Gefängnisstrafe, 268 ff., der in seiner Abhandlung versucht hat, den Nachweis zu erbringen, dass es auch im

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Gefängnisses als Strafe in verschiedene literarische Strafkataloge begründet376. Auch in mehreren kaiserlichen Amnestiegesetzen wird in der Aufzählung der unterschiedlichen nicht-tödlichen Strafen377 das Gefängnis (carcer) genannt.378 a) Zu den verschiedenen Funktionen der Gefängnishaft Die von Teilen der Forschung vorgenommene klare – allzu moderne – Trennlinie zwischen Untersuchungs- und Strafhaft kann für die römische Rechtspraxis gerade nicht gezogen werden. Der Versuch, zwischen den einzelnen Verfahrensstufen und Formen der Inhaftierung auf Basis der uns bekannten Gesetze Grenzen zu ziehen, muss scheitern. Es bedarf eines anderen Ansatzes: Der Normzweck der Gesetze ist wieder in den Fokus zu rücken. Wie bereits J. Hillner herausgearbeitet hat, kann die allzu enge Betrachtung der Gesetze, die sich mit der Inhaftierung beschäftigten, die

Römischen Recht bereits zur Zeit der Republik eine Gefängnisstrafe für leichtere Delikte gegeben habe, die nicht mit dem Tod bestraft wurden. Dem ist allerdings nur dahingehend zuzustimmen, dass bereits gegen Ende der Republik das Gefängnis für verschiedene Zwecke genutzt wurde. So auch Noethlichs, Beamtentum, 168. Dafür spricht u. a., dass viele Zeitgenossen ein in sich widersprüchliches Bild von Gefängnisaufenthalten zeichnen. Der Freiheitsentzug wird u. a. als sehr grausam betrachtet, so stellt Cicero in seiner vierten Rede gegen Catilina die Todesstrafe der immerwährenden Gefängnisstrafe gegenüber und stellt diese als grausamer dar (Cic. Catil. 4,7): Alter eos, qui nos omnis [, qui populum Romanum] vita privare conati sunt, qui delere imperium, qui populi Romani nomen extinguere, punctum temporis frui vita et hoc communi spiritu non putat oportere atque hoc genus poenae saepe in inprobos civis in hac re publica esse usurpatum recordatur … Vincula vero, et ea sempiterna, certe ad singularem poenam nefarii sceleris inventa sunt.; „Der eine glaubt, dass diejenigen, die und alle, welche das römische Volk des Lebens zu berauben, welche das Reich zu zerstören, welche den Namen des römischen Volkes auszulöschen sich unterfangen haben, nicht länger das Leben und diese gemeinsame Luft genießen dürfen und dabei erinnert er daran, dass diese Art der Strafe in unserem Staat schon oft gegen frevelhafte Bürger angewandt wurde … Fesseln dagegen, und zwar immerwährende, sind gewiss als absonderliche Strafe für ein ruchloses Verbrechen ausgedacht worden.“ Dazu siehe auch Krause, Gefängnisse, 83 f. nebst Anm. 92 und 95. Auch für Laktanz war die Inhaftierung im Gefängnis keine milde Strafe, es gab aber noch eine Steigerung (Lact. mort. pers. 22,2): Nulla poena penes eum levis, non insulae, non carceres, non metalla, sed ignis, crux, ferae †inilla erant cotidiano …; „Keine Strafe war bei ihm mild, nicht Inseln, nicht Gefängnisse, nicht Bergwerke, nein, Feuer, Kreuzigung, wilde Tiere waren alltäglich …“ siehe Krause, Gefängnisse, 85 nebst Anm. 99. 376 Bei Augustin findet sich die Gefängnishaft in einer Auflistung von verschiedenen Strafen: Aug. In psalm. 57,17 (CCL 39,722/4): … Sunt et hic poenae, carceres, exsilia, tormenta, mortes, diversa genera dolorum et tribulationum …; „Auch dies sind Strafen, Gefängnisse, Verbannungen, Folterungen, Todesstrafen, verschiedene Arten von Schmerzen und Kummer … „Eine Auflistung findet sich auch bei Laktanz, vgl. Lact. mort. pers. 22,2 (o. Anm. 376). Zu diesen Textstellen siehe Krause, Gefängnisse, 85 nebst Anm. 99. 377 Zu den verschiedenen Strafen deportatio, exilium (hierfür öfter auch relegatio), metallum, opus publicum etc. siehe Garnsey, Status, 111 – 141. 378 Die Gesetze aus dem Codex Theodosianus, die das Gefängnis neben anderen nichttödlichen Strafen nennen, sind Cod. Theod. IX 38,3 (396), IX 38,6 (381), IX 38,7 (384) sowie IX 38,8 (385). Daneben auch Const. Sirm. 7 (380 – 381), 8 (386).

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verschiedenen, unterschiedlichen Zielrichtungen nicht ausreichend fassen.379 J. Hillner versucht deshalb den kaiserlichen Gesetzen, die sich mit der Gefängnishaft im römischen Rechtssystem beschäftigen, in Anlehnung an B. Raspels380, vier Funktionen zuzuschreiben, die im Folgenden kurz angesprochen und teils andiskutiert werden sollen: Zum einen intendierten die Gesetze die Einschränkung der Anzahl der Gefängnisse, die sich bestenfalls nur in den Provinzhauptstädten381 befinden sollten – obwohl hier wiederum keine Einschränkung zur Anzahl der Gefängnisse gemacht wurde.382 Zum anderen ist das Ziel einer schnellen Verfahrensführung und Vollstreckung der Strafen gegen solche, die in Untersuchungshaft sitzen, erkennbar.383 Insbesondere sollte auch die Überfüllung von Gefängnissen verhindert werden. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass der Schutz der Gefängnisinsassen u. a. vor dem Missbrauch durch die Gefängnisbeamten intendiert war.384 Darüber hinaus beschreibt J. Hillner eine weitere Funktion der Gesetze dahingehend, dass nur die richtigen Personen auch ins Gefängnis kommen sollten: nämlich ausschließlich diejenigen, die sich eines Strafverfahrens unterziehen mussten.385 Dass eine derart strikte, gesetzliche sowie faktische Differenzierung zwischen carcer und anderen Formen der Inhaftierung allerdings gerade nicht anzunehmen ist, ist im weiteren Verlauf der Untersuchung darzustellen. Für ihre Annahme stützt sich J. Hillner allein auf konstantinische Gesetze, die allenfalls als Beweis dafür dienen können, dass ein Teil der Gefängnisinsassen oftmals ohne Grund auf lange Zeit im Gefängnis saß und es verschiedene Formen von Inhaftierung gegeben hat. Zum einen führt sie Cod. Theod. XI 7,3 (320)386 an: Hierin wurde für einen Spezialfall klargestellt, dass ein 379

Vgl. Hillner, Prison, 120 f. Vgl. Raspels, Einfluss. 381 Zur Topographie der Gefängnisse in den Provinzen siehe Cotton/Eck, Governors, 230 f.; sowie dies., CIIP, Vol. 2, Nr. 1273, zu einer Mosaik-Inschrift aus Caesarea, die ein (Untersuchungs-)Gefängnis als Teil des statthalterlichen praetorium belegt; dazu auch Haensch, Bischof, 11 f.; für Antiochia Matter, Libanios, 64 – 68. 382 So unterhielten beispielsweise in Antiochia der consularis Syriae und der comes Orientis jeweils ein eigenes Gefängnis, so berichtet jedenfalls Libanius, or. 45,31. 383 Vgl. Hillner, Prison, 123. 384 Vgl. Hillner, Prison, 124. 385 Vgl. Hillner, Prison, 122: „The second concern of late Roman laws on prison was to ensure that only the right people ended up in prison, namely those undergoing criminal procedure.“ 386 Vgl. Cod. Theod. XI 7,3 (320): Nemo carcerem plumbatarumque verbera aut pondera aliaque ab insolentia iudicum repperta supplicia in debitorum solutionibus vel a perversis vel ab iratis iudicibus expavescat. Carcer poenalium, carcer hominum noxiorum est officialium et cum denotatione eorum iudicum, quorum de officio cohercitiores esse debebunt, qui contra hanc legem admiserint. Securi iuxta eam transeant solutores: vel certe, si quis tam alienus ab humano sensu est, ut hac indulgentia ad contumaciam abutatur, contineatur aperta et libera et in usus hominum constituta custodia militari …; „Niemand soll bei der Beitreibung seiner schuldigen Steuern vor Gefängnis oder vor Schlägen oder der Androhung von bleibeschwerten Geißeln oder anderen durch Mutwilligkeit der Richter erfundenen Strafen durch rücksichtslose 380

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illiquider Steuerzahler gerade nicht ins Gefängnis geworfen, sondern allenfalls in aperata et libera custodia militaris genommen werden sollte. In diesem Kontext stellte Konstantin klar, dass das Gefängnis gerade nicht für Steuerzahler, sondern für schuldige Menschen bzw. Verbrecher existiere.387 Überdies stützt sich J. Hillner bei ihrer Annahme auf Cod. Theod. IX 3,2388, das eine nochmalige Vorführung derjenigen Gefängnisinsassen thematisierte, deren Schuld nach einer ersten Anhörung bestätigt werden konnte. Zielrichtung von Cod. Theod. IX 3,2 war, dass (auch) die Personen, die nach einer ersten Anhörung weiterhin in Untersuchungshaft sitzen, nicht vergessen werden durften – dies nicht zuletzt aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen, die Konstantin selbst in Cod. Theod. IX 3,1 angesprochen hatte. Zudem führte er als Gegenmaßnahme nunmehr eine nochmalige „Haftprüfung“ ein, ut iudicibus inmodice saevientibus freni quidam ac temperies adhibita videatur. J. Hillner verweist zur Untermauerung ihrer These weiter auf die gesetzlichen Regelungen in Cod. Theod. XI 30,2 sowie Cod. Theod. XI 30,15. Sie geht davon aus, dass Konstantin hier angeordnet habe, dass Personen, die eine Appellation in Zivilsachen eingelegt haben, in custodia militaris genommen werden sollen – und gerade nicht in Gefängnishaft.389 b) Das Gefängnis als empfundene poena Das Gefängnis wurde – ohne Unterscheidung zwischen Inhaftierung vor, während oder nach Abschluss eines Verfahrens – jedenfalls dann, wenn es den „üblichen Inhaftierungszeitraum“ überschritt, von den Zeitgenossen weit überwiegend als poena empfunden bzw. so bezeichnet. Dies zeigt ein Blick u. a. in verschiedene literarische Quellen: So berichtet Firmicus Maternus390 an diversen Stellen von der oder zornige Richter in Angst geraten. Das Gefängnis ist für solche, die bestraft werden und für schuldige Menschen. Kanzleibeamte und besonders Richter, die dieser Anordnung nachzukommen haben, sollen sich dessen bewusst sein, dass dann, wenn sie dem entgegenhandeln, gegen sie dieses Gesetz angewandt wird. Steuerschuldner können sich daher unbesorgt an diesen [Statthalter der Provinz?] wenden: aber freilich, wenn irgendjemand der humanus sensus so fremd ist, dass er mit dieser Vergünstigung aus Trotz Missbrauch treibt, werde er in einer offenen und freien und in den Dienst der Menschen gestellten militärischen Bewachung festgehalten …“. 387 Auch Dillon, Justice, 188 sieht dies nur im Kontext: „The prison, Constantine declares with passion, is for criminals, for wrongdoers, not, as the context suggestes, insolvent debtors of the state.“ 388 Zu Text und Interpretation von Cod. Theod. IX 3,2 (326) (= Cod. Iust. IX 4,2) siehe unten S. 95 f. 389 Auch diese strikte Differenzierung und Annahme ist im weiteren Verlauf der Untersuchung zu widerlegen, siehe hierzu der nachfolgende Abschnitt zur Unterbindung der Rechtsmitteleinlegung durch Inhaftierung, vgl. S. 114 f. 390 Firm. math. 4,8,3: … faciet pauperes miseros destitutos et quorum corpus sit pannis male pendentibus nudum, custodes sepulchrorum aut qui perpetui carceris poena cludantur.; „… es wird Arme, Unglückliche, Mittellose geben, und deren Körper kaum durch hängende Kleidung bedeckt wird, Wächter von Gräbern oder die, die durch eine Strafe zum ewigen Gefängnis eingesperrt werden.“ Weitere Stellen sind u. a. Firm. math. 4,24,9: … alii in custodia et in

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lebenslangen Haft als Strafe und beschreibt diese zumeist als perpetui carceris poena. Libanius spricht von der Möglichkeit einer lebenslangen Inhaftierung und beschreibt diese als Ketten bis ins hohe Alter oder sogar bis zum Tod.391 Diese und weitere literarische Quellen können natürlich nicht als eindeutiger Beweis für die Annahme einer förmlichen Strafhaft dienen. Selbstverständlich kann gerade nicht davon ausgegangen werden, dass in literarischen Quellen der Ablauf eines Gerichtsverfahrens und die möglichen Strafen terminologisch richtig beschrieben wurden. Trotzdem kann die Auffassung der Zeitgenossen zum Strafcharakter der Inhaftierung als Anhaltspunkt für die Annahme einer förmlichen Strafhaft dienen. Die Sichtweisen in literarischen Quellen werden auch durch einige juristische Texte bestätigt: Eine lebenslange Inhaftierung (vincula perpetua) konnte nach den kaiserlichen mandata392 von den Provinzstatthaltern nicht als Strafmaß herangezogen werden. Dies spricht zumindest für eine kontinuierliche kaiserliche Leitlinie, da die kaiserlichen mandata jedem designierten Statthalter bei der Entsendung an die Hand gegeben wurden. Dass dies schon zur Zeit Kaiser Hadrians der Fall war, der in einem seiner Reskripte diesem Verbot folgte, berichtet Callistratus.393 Auch Kaiser Caracalla folgte diesem Ansatz und zeigte sich erstaunt über einen ihm zugetragenen Fall, in dem die lebenslange Haft – ebenfalls als vincula perpetua394 bezeichnet – als Strafe gegenüber einem Freien ausgesprochen worden war.395 Selbst für einen Sklaven sei das kaum denkbar gewesen. Kaiser Antoninus Pius dagegen hatte noch im Jahr 161 die Verurteilung zu vincula perpetua durch Provinzstatthalter als gängige Bestrafung vinculis perseverantes vitae terminum complent …; „… die anderen bleiben unter Bewachung und in Ketten, und vervollständigen dort den Lauf ihres Lebens …“; 5,5,2: Tunc etiam propter haec criminium facinora aut diuturna carceris custodia aut perpetuis damnatur exsiliis …; „dann aber, wegen der Erfüllung dieser Verbrechen, werden sie zu einer langen Gefängnisstrafe oder zu ewigen Verbannungen verurteilt …“ Hierzu sowie zu weiteren Schilderungen des Firmicus Maternus siehe Krause, Gefängnisse, 223 nebst Anm. 2 und 3. Zur Dauer der Haft in der Spätantike siehe ebd., 235. 391 Vgl. Lib. or. 21,8 bzw. or. 20,9. 392 Zu den kaiserlichen mandata allgemein Marotta, Mandata. 393 Vgl. Dig. 48,19,35: Mandatis principalibus, quae praesidibus dantur, cavetur, ne quis perpetuis vinculis damnetur: idque etiam divus Hadrianus rescripsit.; „Durch Kaiserliche an die Provinzstatthalter erlassene Mandate, wird verordnet, dass Niemand zu immerwährendem Gefängnis verurteilt werden soll; das hat auch Divus Hadrianus reskribiert.“ Hierzu siehe auch Krause, Gefängnisse, 86 nebst Anm. 109. 394 Mehrfach wird von vincula und nicht von carcer oder poena carceris gesprochen. Insofern ist unklar, ob sich dieser Terminus auf diejenigen bezog, die zur Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Der carcer könnte für diese auch Aufenthaltsort über Nacht gewesen sein, dazu und zur Terminologie vgl. Arbrandt/Macheiner, Gefangenschaft, RAC 9 (1979), 318 – 345, hier: 319. Zum Terminus vincula in den literarischen Quellen siehe Krause, Gefängnisse, 85. 395 Selbst für Sklaven befand Caracalla die lebenslange Inhaftierung als nicht anwendbar, vgl. Cod. Iust. IX 47,6 (214): Incredibile est, quod adlegas liberum hominem, ut vinculis perpetuis contineretur, esse damnatum: hoc enim vix in sola servili condicione procedere potest.; „Es ist unglaublich, was du vorträgst, dass ein freier Mensch zu immerwährendem Gefängnis verurteilt worden ist, denn so kann selbst mit Dienern kaum verfahren werden.“ Dazu Krause, Gefängnisse, 86 nebst Anm. 110.

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bezeichnet.396 Die vorgenannten, kaiserzeitlichen Fälle implizieren, dass die Inhaftierung sehr wohl in bestimmten Fällen auch als Strafe im heutigen Sinne angewandt wurde – nicht alle Kaiser hießen dies aber gut.397 Durch weitere uns bekannte literarische Schilderungen erscheint zumindest klar, dass es durchaus gängig war, die Gefängnishaft als nicht-tödliche Strafe gegen leichtere Vergehen zu verhängen – insbesondere wenn diese von Personen niedrigeren Ranges (d. h. vor allem Sklaven) verübt wurden.398 Dies bestätigte beispielsweise Firmicus Maternus, der die dauerhafte Inhaftierung, diuturna carceris custodia, als Strafe für Personen von niedrigerem sozialen Status ansah. Demgegenüber sollte das Exil als Strafe für höherrangige Straftäter verhängt werden.399 Davon unabhängig diente die Inhaftierung als vorläufiges „Festhalten“ des Verurteilten bis zur eigentlichen Vollstreckung der ihm auferlegten Strafe im Sinne der heutigen Untersuchungshaft. Die zeitweise Inhaftierung als Form einer „Untersuchungshaft“ sollte – gleich der Folter – vom Grundsatz her nicht zur eigentlichen Bestrafung dienen, sondern zur Willensbeugung des Angeklagten bzw. Prozessierenden; sie hatte mithin Beugecharakter. Die „Untersuchungshaft“ war ein gängiges Mittel. Teilweise wurde auch diese bereits als poena beschrieben und als „Strafe“ aufgefasst.400 In dieser Form und unter Verwendung des Terminus poena ist dies auch bei Kaiser Konstantin in seinen Konstitutionen aus den Jahren 320 (Cod. Theod. IX 3,1) und 326 (Cod. Theod. IX 3,2) zu finden. Dort verwendet er den Terminus poena carceris, um die Inhaftierung von Untersuchungsgefangenen, denen schwere Verbrechen angelastet werden, zu beschreiben. Er spricht in diesem Rahmen zudem an, dass dieser Zustand vor allem für die Unschuldigen sehr bedauernswert 396 Vgl. Cod. Iust. VII 12,1 (161): Cum divus pater meus constituerit a praesidibus provinciarum vel qui coercendorum maleficiorum potestatem habent in perpetua vincula damnatos ad libertatem produci non posse, hi, qui intra tempora poenae liberi et heredes esse iussi sunt aut legatum fideicommissumve acceperunt, neque libertatem adipisci nec quicquam eorum quae his data sunt capere possunt.; „Da Mein vergöttlichter Vater angeordnet hat, dass die von den Vorstehern der Provinzen und wer sonst zur Bestrafung der Verbrecher Macht hat, zu andauerndem Gefängnis Verurteilten nicht zur Freilassung gelangen können, können auch diejenigen, die innerhalb der Strafzeit zu Erben und freizulassen genannt wurden, oder ein Vermächtnis mit Auflagen erhalten haben, weder die Freilassung erhalten, noch etwas von dem ihnen Vermachten erwerben.“ Übersetzung nach Haller, Codex. 397 Kunkel ist insofern gerade nicht zu folgen, der wie Mommsen von einer Nonexistenz der Strafhaft im römischen Strafsystem ausgeht, aber die Existenz einer lebenslangen Haft wie folgt versucht, zu erklären: Eine lebenslange Haft sei dennoch manchmal verhängt worden. Dies sei aber nicht als Strafe aufzufassen, sondern nur als koerzitionelle Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Eine solche konnte auch ohne vorherige Verurteilung verhängt werden, sofern der Sachverhalt manifest oder durch Geständnis oder magistratische Kognition klargestellt war, vgl. Kunkel, Rechtsgeschichte, 157. 398 Vgl. Hillner, Exiles, 391 nebst Anm. 24 mit weiteren Literaturangaben. 399 Vgl. Firm. math. 4,8,3 (o. Anm. 390); 5,5,2. Siehe ebenso bei Lact. mort. pers. 22,2 (o. Anm. 376). Nach Mratschek war die Inhaftierung allerdings nur ein Problem der nicht privilegierten Bevölkerungsschichten, vgl. Mratschek, dem mit Krause, Gefängnisse, 185 sowie Cod. Theod. IX 2,1 (362) zu folgen ist. 400 Krause, Gefängnisse, 86.

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sei.401 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch vorstehend genanntes Gesetz Kaiser Konstantins vom 3. Februar 326402 (Cod. Theod. IX 3,2), in dem er sich an den Prätorianerpräfekten im Osten, Evagrius403 wandte und klar aufzeigte, wann die poena carceris anzuwenden sei: Si quis in ea culpa vel crimine fuerit deprehensus, quod dignum claustris carceris et custodiae squalore videtur, auditus aput acta, cum de admisso constiterit, poenam carceris sustineat atque ita postmodum eductus aput acta audiatur. Ita enim quasi sub publico testimonio commemoratio admissi criminis fiet, ut iudicibus inmodice saevientibus freni quidam ac temperies adhibita videatur. „Wenn irgendjemand bei einem Vergehen oder Verbrechen ergriffen wurde, dem zufolge er die Riegel des Gefängnisses und die Schande der Bewachung verdient, und nach dem Verhör zu den Akten sich über die Tat Gewissheit ergeben hat, ist er zur Strafe ins Gefängnis zu werfen, jedoch danach nochmals vorzuführen und gerichtlich zu den Akten zu vernehmen. Denn damit soll der Hergang des begangenen Verbrechens gleichsam vor der Öffentlichkeit bezeugt werden, was unmäßig wütenden Richtern Maß und Zügel anlegen soll.“

Diesen Richtern, die grundlos Gewalt anwandten, insbesondere grundlos inhaftierten, sollte freni quidam ac temperies adhibita – Zügel und Maß – angelegt werden. Der Text ist an dieser Stelle nicht klar verständlich. Klar besagt er allerdings, dass Richter dazu tendieren, bei Anhörungen manchmal in eine „maßlose Wut“ (iudices inmodici saeviunt) zu geraten. Um dies zu unterbinden, wird Folgendes geregelt, wobei auch der Ablauf eines Untersuchungsverfahrens aufgezeigt wird: Zunächst bedurfte es entweder eines Hinweises auf culpa vel crimine – eine Schuld, ein Vergehen bzw. ein Verbrechen. Oder aber die entsprechende Person wurde bereits in ea culpa vel crimine deprehensus – bei einer Schuld oder einem Vergehen bzw. Verbrechen auf frischer Tat ertappt und ergriffen. Nach Ergreifen der Person musste diese verhört werden und das Verhör in den Akten niedergelegt werden (auditus aput acta). Ergaben sich dadurch weitere Beweismomente, so war derjenige mit der poena carceris zu belegen. Hiermit war selbstverständlich keine Haftstrafe impliziert, da die Inhaftierten nicht „lebenslänglich“ im Gefängnis sitzen sollten. Dennoch sprach Kaiser Konstantin in seinem Gesetz aus dem Jahr 326 (Cod. Theod. IX 3,2) von der poena carceris – meinte aber nicht die Inhaftierung nach Urteilsspruch als Strafe, sondern die „Untersuchungshaft“.404 Dass auch in den nachfolgenden Jahrhunderten keine Entwicklung hin zu einer klaren, zwischen Untersuchungs- und möglicher „Strafhaft“ trennenden Termino401

Cod. Theod. IX 3,1pr. (320): … ne poenis carceris perimatur, quod innocentibus miserum, noxiis non satis severum esse cognoscitur …; „… er werde nicht durch die Strafe des Gefängnisses zerstört, was für die Unschuldigen als unglücklich, für die Schuldigen als nicht genügend streng erkannt wird …“ 402 Zur Datierung siehe Barnes, Empire, 131. 403 PLRE I, Evagrius 2, 284. Zu diesem und seiner christlichen Religiosität siehe auch Haehling, Religionszugehörigkeit, 55 – 58. 404 Zur unterschiedlichen Handhabe der Inhaftierung siehe Robinson, Practice, 150 und 160; Garnsey, Status, 147 – 152; Krause, Gefängnisse, 8 – 9 sowie 185 – 188.

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logie zu beobachten ist, zeigt ein Blick in die Variae Cassiodors aus dem sechsten Jahrhundert. Auch hier wird von der Inhaftierung als poena gesprochen und das, obwohl in dem der Stelle zugrunde liegenden Fall über die Verdächtigen bisher weder ein Strafverfahren geführt noch ein Urteilsspruch erfolgt war. Unabhängig von der Begriffssprache ist mit J. Hillner405 sowie bereits J.-U. Krause406 letztlich aber anzunehmen, dass in der späten Kaiserzeit Ausformungen einer Strafhaft wohl faktisch Teil des im Ermessen der zuständigen Richter stehenden Strafkataloges waren. Eine klare Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Gruppen der Inhaftierten, mithin zwischen Untersuchungshaft und Bewachung der bereits verurteilten Straftäter findet sich erstmals in einer ins Ende des Jahres 539 datierten Inschrift407 aus Gerasa. Die Inschrift bezeugt, dass sich ein Bischof namens Paul aus karitativen und humanitären Beweggründen408 zum Bau eines Gefängnisses mit „neuer Funktion“ als Reaktion auf einen von ihm als untragbar aufgefassten Zustand veranlasst sah: Unter Drohung mit dem Jüngsten Gericht schrieb er vor, dass in dieses „neue“ Gefängnis nur die Angeschuldigten (rpait¸or) verbracht werden sollten, also solche Personen, deren Verfahren noch nicht geführt worden war. Diese Gruppe an Inhaftierten war jedenfalls zu keiner Zeit mit der Gruppe der bereits Verurteilten (jat²jqitor sowie jat²dijor) zu vermischen. Weder sollte ein Verurteilter in das neue Gefängnis geworfen werden noch ein lediglich Angeschuldigter in das Ge-

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So Hillner, Prison, 121; ebenso Reitzenstein-Ronning, Rezension, 213. Krause, Prisons, 125 f. 407 Vgl. SEG 35, 1571: PaOkor b lajaqi¾t(ator) Bl_m 1p¸sjo(por) HeoO W²qiti ja· toOto t¹ eqseb³r jt¸sla t/r vqouq÷r !m¶ceiqem, t¹ sulv. ´qom dojil²sar, ja· 1m t` amºlati toO J(uq¸o)u eqkoc¶sar ta¼tgm eWmai p²mtym t_m rpait¸ym d¸.[wa] t_m jatajq¸tym, lµ 5weim d´ tima 1pû !de¸ar jat²dijom 1mb²kkeim aqt0 l¶te 1n aqt/r jatav´qeim tim± eQr tµm t_m jatajq¸tym vukajµm ja· t¹m paqaba¸momta t± eqseb_r dedojilasl´ma paqado»r t` jq¸llati toO J(uq¸o)u7 9pkgq¾hg d³ 1m lgm· D¸\, wqº(mym) c$ Qmd(ijti_mor), toO bw$ 5tour; „Paul notre très bienheureux évêque par la Grâce de Dieu a aussi fait construire le saint bâtiment de cette prison; il a pris ces décisions en raison de leur utilité et il l’a bénie au nom du Siegneur pour qu’elle soit celle de tous les inculpés à l’exception des condamnés sans qu’on ait le droit d’y jeter un condamné, ni de transférer de là quelqu’un vers la prison des condamnés. Et il a livré celui qui enfreint ses saintes décisions au Jugement du Seigneur. (Ceci) a été achevé au mois de Dios, aux temps de la 3e année de l’indiction, l’an 602.“ Für Text und Übersetzung vgl. Gatier, Inscriptions, 298 – 307, Nr. 1 (La prison de l’évêque Paul); zur Datierung ebd., 299 nebst Anm. 3. Zu dieser Inschrift im Kontext des Engagements eines Bischofs für die profanen Bauten seiner Stadt siehe Haensch, Bischof, 11 f. 408 So Haensch, Bischof, 12. Dies verwundert nicht, da der Bischof in Cod. Theod. IX 3,7 (409) bereits als Kontrollinstanz dafür installiert wurde, dass der Statthalter die Gefangenen jeden Sonntag zu ihren Haftbedingungen befragte sowie, dass die zuständigen Gefängnisbeamten den Gefangenen hinreichend Nahrung brachten sowie die Möglichkeit gaben, ein Bad zu nehmen. Nach Krause, Gefängnisse, 342, ist dies ein Indiz dafür, „daß die gesamte Gesetzgebung zum Schutz der Gefängnisinsassen letztlich ohne den christlichen Impuls wohl undenkbar gewesen wäre.“ 406

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fängnis der Verurteilten überstellt werden. Nach P.-L. Gatier409, der sich hierbei auf die oben thematisierte or. 45 des Libanius’ bezieht410, hatte die Separierung der beiden Gruppen der Inhaftierten folgenden Hintergrund: Es bestand zum einen ein enormer Unterschied hinsichtlich der Haftbedingungen und zum anderen die Gefahr einer (möglicherweise lebensgefährlichen) Verwechslung mit einem Verurteilten. Erst Mitte des sechsten Jahrhunderts wurde folglich auch die räumliche Trennung von Untersuchungs- und Exekutionshäftlingen – hier von kirchlicher Seite – angeregt und umgesetzt. Dass hierauf explizit hingewiesen werden musste, bestätigt zum einen die Beobachtung, dass eine terminologische Unterscheidung im sechsten Jahrhundert noch nicht erfolgte und zeugt zum anderen davon, dass auch die getrennte Unterbringung der Häftlinge bis zu diesem Zeitpunkt keine gängige Praxis darstellte.411 3. Die Inhaftierung als Mittel der „Verfahrensumgehung“ im Codex Theodosianus a) Kontrolle durch regelmäßigen Bericht Wie auch durch Libanius in seiner or. 45 angedeutet, kam es wohl vereinzelt dazu, dass nach Inhaftierung, Überführung oder Feststellung der Unschuld einer Person ein zuständiger Richter den Überblick über noch zu führende Untersuchungen, auszuführende Vollstreckungen bzw. Freilassungen verlor. Dies zeigt der Erlass des Kaisers Theodosius I. vom 30. Dezember 380412 (Cod. Theod. IX 3,6)413: De his quos tenet carcer id aperta definitione sancimus, ut aut convictum velox poena subducat aut liberandum custodia diuturna non maceret. Temperari autem ab innoxiis austera praeceptione sancimus et praedandi omnem segetem de neglegentia iudicum provinciarum ministris414 feralibus amputamus. Nam nisi intra tricensimum diem semper 409 Gatier, Inscriptions, 301 f; so auch Haensch, Bischof, 11, der hieraus – gegen die Argumentation von SODINI, Activité, 862 – zudem folgert, dass es sich bei dem in der Inschrift genannten Gefängnis nicht um ein bischöfliches Tribunal handeln könne. 410 So auch Matter, Libanios, 62 nebst Anm. 25, der mutmaßt, Bischof Paul habe möglicherweise das Anliegen Libanius aus seiner or. 45 zur Verbesserung der Gefängnisbedingungen umgesetzt. 411 Haensch, Bischof, 12. 412 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 257. 413 = Cod. Iust. IX 4,5. 414 Dass es sich hierbei um Sklaven handelt (so vermutet Krause, Gefängnisse, 264 mit Anm. 98, so auch Hillner, 129 sowie Fuhrmann, 64 – 65, die den Begriff ministri als Terminus technicus verwenden; ebenso Demandt, Spätantike, 299, der davon ausgeht, dass in der Spätantike eher Sklaven und Freigelassene die unteren Büroposten im officium eines Statthalters besetzt hätten) ist mit den Ausführungen von Palme, Offica, 93 sowie Haensch, Capita 35 zu widerlegen. Mit ministri waren hier wohl die Soldaten im Dienst der Statthalter gemeint: Das Gefängnispersonal setzte sich aus zum Dienst im officium des Statthalters abgestellten Soldaten zusammen. Dies war nichts Neues: Bereits in der späten Republik hatte man einzelne qualifizierte Soldaten in den Stabsdienst gezogen; in der frühen Prinzipatszeit bildete man die

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B. Von Macht und Zeit commentariensis ingesserit numerum personarum, varietatem delictorum, clausorum ordinem aetatemque vinctorum, officium viginti auri libras aerario nostro iubemus inferre, iudicem desidem ac resupina cervice tantum titulum gerentem extorrem impetrata fortuna decem auri libris multandum esse censemus. „Hinsichtlich derer, die ins Gefängnis geworfen wurden, verordnen wir durch diese offensichtliche Verfügung, dass, wenn sie überführt wurden, sie entweder schnell bestraft werden, oder, wenn sie freigesprochen wurden, keine länger andauernde Gefangenschaft zermürbt. Wir setzen außerdem mit strenger Vorschrift fest, dass die Unschuldigen geschont werden sollen, und wir entreißen dem schrecklichen Gefängnispersonal all das, was sie aufgrund der Nachlässigkeit der Richter der Provinzen „erbeutet“ haben. Wir ordnen daher an, dass der Gefangenenaufseher stets alle 30 Tage die Anzahl der Personen, ihre verschiedenen Verbrechen, die Reihenfolge, in der sie verhaftet wurden und das Alter der Gefangenen vorlegt. Wenn er dies unterlässt, so verordnen wir, soll das Kanzleipersonal 20 Pfund Gold an Unsere Staatskasse zahlen, der Richter aber, wegen seiner Nachlässigkeit, und da er in stolzem Dünkel nur den Titel eines solchen führt, ist, so ordnen wir an, seiner Stelle zu entheben und er kann zwar sein Vermögen behalten, ist aber auf zehn Pfund Gold zu bestrafen.“

Die Konstitution Cod. Theod. IX 3,6 thematisierte aus einem uns nicht überlieferten Anlass die schlechten Haftbedingungen415, den Zusammenhang zwischen überlanger Inhaftierung und aus Nachlässigkeit verzögerten Strafverfahren und bezog sich auf das konstantinische Gesetz Cod. Theod. IX 3,1 (320)416. Bereits im Jahr 320 hatte Kaiser Konstantin verschiedene Regelungen aufgestellt, die den Ablauf des Strafprozesses und der Zeit zwischen Verfahrensführung, Urteilsspruch und Strafvollstreckung betrafen. Das Strafverfahren sollte so schnell wie möglich durchgeführt werden, um den Unschuldigen schnellstmöglich wieder freizulassen officia der legati Augusti aus den Soldaten der dort stationierten Legion(en). Zur entsprechenden epigraphischen Evidenz siehe Haensch, Capita, insb. 713 – 724. In der Spätantike verlagerte sich das Schwergewicht bei der Zusammensetzung der officia entscheidend auf die milites (Palme, Officia, 101); Letztere sind nur mehr dem Titel nach Soldaten. Sie waren keine „kämpfenden Staatsdiener“ mehr, sondern „militares“, „Militärbeamte“, so Stauner, Wandel, 174. 415 Mit den schlechten Bedingungen im Gefängnis setzte sich auch das zeitlich spätere Cod. Theod. IX 3,7 (409) auseinander: Post alia: iudices omnibus dominicis diebus productos reos e custodia carcerali videant et interrogent, ne his humanitas clausis per corruptos carcerum custodes negetur. Victualem substantiam non habentibus faciant ministrari … quos ad lavacrum sub fida custodia duci oportet, mulcta iudicibus viginti librarum auri et officiis eorum eiusdem ponderis constituta … si saluberrime statuta contempserint. Nec deerit antistitum christianae religionis cura laudabilis, quae ad observationem constituti iudicis hanc ingerat monitionem.; „An jedem Tag des Herrn müssen die Richter die Gefangenen inspizieren und befragen, damit die menschlichen Bedürfnisse diesen Gefangenen nicht durch korrupte Gefängniswärter vorenthalten werden. Sie sollen die Versorgung der Gefangenen, denen es nicht zur Verfügung steht, mit Nahrung gewährleisten … Gefangene müssen unter vertrauenswürdiger Wache zum Bad geführt werden. Es wurden Geldbußen festgesetzt, die für die Richter auf 20 Pfund Gold festgesetzt wurden, und das gleiche Gewicht des Goldes für ihre Amtsdiener … falls sie diese heilsamen Regelungen verachten sollten. Es soll nicht an der lobenswerten Sorge der Bischöfe der christlichen Religion fehlen, die die Richter zur Beachtung der Vorschriften ermahnen soll.“ 416 Dieses bespricht ausführlich Rivière, État, 212 – 216.

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und den Schuldigen zu bestrafen.417 Konstantin thematisierte die Bedingungen im Gefängnis und stellte in diesem Zusammenhang Regelungen zu einer „humaneren“ Behandlung auf.418 Das theodosianische Gesetz Cod. Theod. IX 3,6419 knüpfte in den entscheidenden Punkten an Konstantins Regelungen an: Eine bessere Behandlung der Gefangenen durch Verkürzung der Inhaftierung sowie die Unterbindung der unzulässigen Behandlung der Gefangenen.420 Theodosius I. zeichnete das Idealbild einer schnellen Verfahrensführung und Vollstreckung und nahm dafür konkret die iudices provinciarum in die Haftung. Im Gegensatz zur konstantinischen Konstitution aus dem Jahr 320 erscheinen die theodosianischen Regelungen jedoch abgemildert. Dies ist möglicherweise auf den Adressaten von Cod. Theod. IX 3,6, den praefectus praetorio Illyrici Eutropius421, zurückzuführen, dem ein gewisser Einfluss auf die

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Vgl. Cod. Theod. IX 3,1 (320): In quacumque causa reo exhibito, sive accusator exsistat sive eum publicae sollicitudinis cura perduxerit, statim debet quaestio fieri, ut noxius puniatur, innocens absolvatur. Quod si accusator aberit ad tempus aut sociorum praesentia necessaria videatur, id quidem debet quam celerrime procurari.; „In jedem Fall muss, wenn ein Angeklagter vor Gericht gebracht wurde, unabhängig davon, ob ein privater Ankläger vorliegt oder der Angeklagte durch die Bemühungen öffentlicher Amtsträger verurteilt wurde, sofort ein Gerichtsverfahren eingeleitet werden, damit er im Fall seiner Schuld bestraft werden sowie entlassen werden kann, wenn er unschuldig ist. Sollte der Ankläger jedoch eine zeitlang abwesend sein oder die Anwesenheit von Komplizen im Verbrechen notwendig erscheinen, müssen diese Angelegenheiten so schnell wie möglich geregelt werden.“ 418 Hier wurde vor allem auf die drei Missstände Dunkelheit im Gefängnis, Fußfesseln sowie die Quälereien der Gefängnisaufseher durch Nahrungsentzug abgestellt: Cod. Theod. IX 3,1 (320): … Interea vero exhibito non ferreas manicas et inhaerentes ossibus mitti oportet, sed prolixiores catenas, ut et cruciatio desit … tenebras pati debebit inclusus, sed usurpata luce vegetari et, ubi nox geminaverit custodiam, vestibulis carcerum et salubribus locis recipi ac revertente iterum die ad primum solis ortum ilico ad publicum lumen educi, ne poenis carceris perimatur, quod innocentibus miserum, noxiis non satis severum esse cognoscitur …; „… Inzwischen darf der vor Gericht geführte Mann nicht in Manschetten aus Eisen gesetzt werden, die an den Knochen haften, sondern in lockeren Ketten, damit es nicht zu Folter kommt … darf er nicht die Dunkelheit eines inneren Gefängnisses erleiden, sondern er muss durch den Genuss von Licht gesund bleiben, und wenn die Nacht die Notwendigkeit seiner Wache verdoppelt, wird er in die Gefängnisräume und an gesunde Orte zurückgebracht. Wenn der Tag bei frühem Sonnenaufgang wiederkommt, wird er unverzüglich in ein öffentliches Tageslicht geführt, damit er nicht von der Strafe des Gefängnisses dahingerafft wird, ein Schicksal, das für die Unschuldigen als bedauernswert angesehen wird, für die Schuldigen jedoch als nicht streng genug …“ Diese drei Missstände wurden bereits zuvor von Eusebius in seiner hist. eccl. 5,1,27 ff. aufgegriffen. In hist. eccl. 5,1 – 3 führte er im wörtlichen Zitat Teile eines Schreibens der Gemeinden Lugdunum und Vienna an die Gemeinden in Asia und Phrygia über die Ereignisse der Christenverfolgung an. Zur Kritik an der eusebischen Datierung ins Jahr 177 n. Chr. und den Argumenten, die für eine Einordnung bereits nach 175 n. Chr. sprechen, siehe Barnes, Eusebius, 137 – 141. 419 Teil einer weitergehenden Konstitution vom 30. Dezember 380. Ein weiteres Fragment davon ist Cod. Theod. IX 2,3. 420 Vgl. Minieri, Commentarienses, 30 f. 421 PLRE I, Eutropius 2, 317.

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theodosianische Gesetzgebung zugeschrieben wird.422 Eutropius war Anfang Januar 380, ein Jahr nach dem Regierungsantritt Kaiser Theodosius’ zum praefectus praetorio Illyrici ernannt worden. Zu diesem Zeitpunkt stand er bereits am Ende seiner Karriere. Zuvor hatte er als Historiker wohl im Jahr 369 bzw. 370 ein Geschichtswerk mit dem Titel Breviarium ab urbe condita verfasst, worin an vielen Stellen seine Einstellung zur Bedeutung von klaren Gesetzen für die Sicherheit der Rechtsordnung klar hervortritt. Anhand seiner Ausführung kann er als Befürworter eines maßvollen Umgangs mit Straftätern beschrieben werden. Extreme Brutalität und exzessive Strenge lehnte er ab.423 In diesem Zusammenhang stand auch seine Kritik an Kaiser Konstantin dafür, viele Gesetze erlassen zu haben, die – wie auch Cod. Theod. IX 3,1 in der schnellen Anwendung der Todesstrafe – sehr streng waren.424 In diesen Kontext passt der obige Erlass (Cod. Theod. IX 3,6), der sich mit den Gefängnisbedingungen425, grundlosen Verhaftungen und dem Problem der Erpressungsgebühren der officiales sowie der neglegentia ihrer Vorgesetzten, der Provinzstatthalter, im Rahmen der Strafvollstreckung beschäftigte. Eine zu lange Zeitspanne zwischen Verurteilung und Vollstreckung sollte gerade nicht entstehen. Für den Fall einer Inhaftierung hatten sich die zuständigen Richter mithin an folgende Vorgehensweisen zu halten: Zunächst war nach Inhaftierung des Angeschuldigten eine Untersuchung im jeweiligen Einzelfall „von Amts wegen“ anzustellen.426 Sollte sich herausstellen, dass die inhaftierte Person der ihr angelasteten Straftaten überführt werden konnte (convictum), sollte sie schnell ihrer Strafe zugeführt werden (velox poena subducat). Dies implizierte eine unmittelbar an das Untersuchungsergebnis anschließende 422

So auch Bird, Breviarum, xvii. Vgl. beispielsweise Eutr. brev. 4,27: … Is exercitum a prioribus ducibus corruptum ingenti severitate et moderatione correctum, cum nihil in quemquam cruentum faceret, ad disciplinam Romanam reduxit.; „… der durch eine Mischung von großer Strenge und Milde das unter seinen Vorgängern zerrüttete Heer zur Ordnung brachte und die römische Zucht wieder herstellte, ohne aber gegen irgendjemand blutige Mittel anzuwenden.“ 7,19: … Placidissimae lenitatis, ut qui maiestatis quoque contra se reos non facile punierit ultra exilii poenam …; „… Er war voll Milde und Nachsicht und bestrafte selbst Majestätsverbrechen gegen seine Person nicht leicht anders als mit Verbannung …“ 424 Vgl. Eutr. brev. 10,8,1: Multas leges rogavit, quasdam ex bono et aequo, plerasque superfluas, nonnullas severas …; „Er gab viele Gesetze, von denen einige gut und billig, die meisten aber überflüssig und mehrere unendlich hart waren …“ Dillon, Justice, 12 nebst Anm. 1 führt diese Stelle im Rahmen einführender Bemerkungen nur in einer Anmerkung an und führte dazu aus: „Constantine was remembered as a prolific legislator even in antiquity, whether one celebrated or relived him“. Eine Auseinandersetzung mit Eutr. brev. 10,8,1 erfolgt auch nicht bei der immerhin sechsseitigen Diskussion von Cod. Theod. IX 3,1 (320), ebd., 184 – 189. 425 Zu den Gefängnisbedingungen in der Spätantike siehe Krause, Gefängnisse, 271 f.; Pavón, Poenae, insb. 115 f.; für die Kaiserzeit s. Rivière, Carcer; für einen kurzen Überblick siehe auch Bertrand-Dagenbach, Prison. 426 Siehe hierzu auch einen weiteren Teil der Konstitution vom 30. Dezember 380, Cod. Theod. IX 2,3, wonach der die Straftat Anzeigende und der Angeschuldigte zusammen unter Bewachung gestellt werden mussten und der zuständige Richter zu untersuchen hatte, ob der Anzeigende oder der Angeschuldigte schuldig war. 423

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Vollstreckung der Strafe für die bewiesene Straftat.427 Ein langer Gefängnisaufenthalt war in diesen Fällen nicht angedacht. Sollte die richterliche Untersuchung des Falles ergeben haben, dass der Inhaftierte unschuldig war, sollte er freigesprochen (liberandum) und ebenfalls schnellstmöglich freigelassen werden.428 Hintergrund war, dass die Gefahr bestand, dass unschuldig inhaftierte Personen – wie von Libanius in seiner or. 45 angeprangert – durch custodia diuturna non maceret – eine lang andauernde Bewachung im Gefängnis zu sehr gequält und zermürbt wurden.429 Die Gefangenen hatten keinen Zugang zu regelmäßigem Essen, wärmender Kleidung430 oder die Möglichkeit, sich zu baden.431 Nicht nur die oft grausamen Behandlungen und Folterungen im Gefängnis konnte den Gefangenen das Leben kosten, auch die mitunter desaströsen hygienischen Verhältnisse waren lebensbedrohlich.432 Gewiss sind diese geschilderten Haftbedingungen und damit einherge427

Bei der Forderung einer möglichst kurzen Zeitspanne zwischen Verurteilung und Vollstreckung handelt es sich nicht um eine Neuerung im Strafprozess. Bereits in der Republik war es charakteristisch, dass die zuständigen Richter angehalten waren, eine schnelle Vollstreckung herbeizuführen. Dies wird allein an dem berühmten Beispiel der Vorkommnisse rund um die catilinarische Verschwörung deutlich. Gewiss handelte es sich hierbei um eine besondere politische Situation; dennoch: die gegen die Verschwörer verhängten Todesurteile wurden hier sofort vollstreckt. Allerdings wurde gerade diese schnelle Umsetzung u. a. Cicero – der sich damit versucht hatte, zu profilieren – zum Vorwurf gemacht. Zur Debatte über die sofortige Hinrichtung der inhaftierten Anhänger Catilinas, vgl. von Sternberg-Lieben, Verfahren. Natürlich ist hier die Besonderheit nicht zu vergessen, dass die Urteile vom Magistrat gesprochen wurden. Ebenso wie die Anhänger des C. Gracchus zählten die Anhänger Catilinas zu den Beispielen ,unverurteilter‘ Personen, gegen die die Todesstrafe vollstreckt wurde, vgl. Kunkel, Staatsordnung, 236 und 238. Ein Jahrhundert später sprach auch Tacitus eine ähnliche Situation an, in der der römische Dichter Clutorius Priscus zum Tode verurteilt und das Urteil sofort vollstreckt wurde – ductus in carcerem et statim exanimatus, vgl. Tac. ann. 3,51: … ceteri sententiam Agrippae secuti, ductusque in carcerem Priscus ac statim exanimatus …; „… die übrigen schlossen sich dem Antrag Agrippas an und Priscus wurde ins Gefängnis gebracht und sofort hingerichtet …“. Zu dieser Episode siehe Shotter, Trial, 14 – 18. 428 Dass die sofortige Freilassung aus der Untersuchungshaft nach erwiesener Unschuld bereits im ersten Jahrhundert v. Chr. keine Selbstverständlichkeit war und die Entlassung mithilfe einer Petition an den ranghöheren praefectus Aegypti erbeten werden musste, hat nunmehr Jördens, Entwurf, anhand der in P.Lond. II 354 enthaltenen Petition des Satabus gezeigt. 429 Vgl. Dig. 48,19,8,3. 430 Die Gefangenen waren in Lumpen gekleidet, vgl. Firm., Math. 4,8,3 (o. Anm. 390). Dazu und zum Schmutz in Gefängnissen siehe Krause, Gefängnisse, 286 f. Dass sich die Situation auch im sechsten Jahrhundert n. Chr. noch nicht gebessert hatte, berichtete Cassiodor in seinen Variae (Cassiod. var. 11,40,3 f.): Die Häftlinge hatten Ketten und Schmutz zu ertragen. Wer vom Schmutz des Kerkers gequält wurde, starb einen ,vielfachen‘ Tod. 431 In diesem Zusammenhang steht auch ein Gesetz Kaiser Honorius aus dem Jahr 409 (Cod. Theod. IX 3,7), in welchem er anordnete, dass die Gefangenen hin und wieder ein Bad nehmen durften. 432 Vgl. aus den literarischen Quellen (umfangreich aufgearbeitet bei Krause, Gefängnisse, 271 f.) beispielhaft die Schilderung von Cicero, der u. a. die Haftbedingungen des Apollonius, eines vornehmen und vermögenden Mannes, schilderte (Cic. Verr. 5,21): Nullam in te invidiam ne ex illis quidem rebus concitabo, cum esset talis vir in cacere, in tenebris, in squalore, in

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henden Probleme nicht solche, mit denen allein die römische Antike zu kämpfen hatte. Noch heute handelt es sich hierbei um bekannte justizinterne Probleme, die nach wie vor polarisieren. Die Formulierung in Cod. Theod. IX 3,6 – custodia diuturna non maceret – spricht diese extremen Haftbedingungen an, die mithin vonseiten des Gesetzgebers nicht mehr geduldet wurden und ein Einschreiten verlangten. Um zu betonen, dass die dauerhafte Inhaftierung unzulässig war, wurde in Cod. Theod. IX 3,6 nochmals explizit darauf verwiesen, dass die Inhaftierung nur für den Zeitraum zwischen Gefangennahme aufgrund Anfangsverdachts und Untersuchungsergebnis anzuwenden war. Die Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren sollten nicht durch unnötigerweise in die Länge gezogene Untersuchungshaft verschleppt, sondern zügig beendet werden. Eine Gefängnisstrafe wurde hier von seiten des Kaisers gerade nicht als Dauerzustand anerkannt bzw. als alternative Strafe geduldet. Die Beendigung der Verfahren implizierte ferner die Durchführung der Strafvollstreckung wie auch die Freilassung unschuldig Inhaftierter. Die in diesem Zusammenhang angeprangerte neglegentia iudicum provinciarum bzgl. der Strafvollstreckung der imperialen Gesetze bzw. Freilassung der unschuldigen Gefangenen hatte mitunter auch zur Folge, dass die zuständigen Gefängnisbeamten433 diese Situation der Inhaftierten für ihre eigenen Zwecke ausnutzten: Das Gefängnispersonal versuchte sich durch Erpressung eine Einnahmequelle zu verschaffen und nahm dabei teilweise sogar den Tod der Gefangenen in Kauf.434 Die Gefangenen waren insofern zum Teil den Folterungen und willkürlichen Züchtigungen ausgesetzt und befanden sich gänzlich in den Händen der „tyrannischen“435 Gefängnisbeamten. Dies konnten die Gefangenen bzw. ihre Fürsprecher lediglich durch Bestechung beeinflussen oder abmildern.436 Die Gefängnisbeamten ließen sich sordibus, tyrannicis interdictis tuis patri exacta aetate et adulescenti filio adeundi ad illum miserum potestatem numquam esse factam …; „Nicht einmal damit will ich Hass gegen dich erregen, dass es deine tyrannischen Verbote, während sich ein solcher Mann im Kerker, im Dunkeln, im Schmutz, im Elend befand, dem hochbejahrten Vater und dem jugendlichen Sohne niemals gestattet haben, den Unglücklichen zu besuchen …“ Claud. In Eutr. 1, 177 f.: … procerum squalore repletus carcer …; „… vornehme Männer füllen bald schon in schmutzigem Elend die Kerker …“ Dazu siehe Krause, Gefängnisse, 286 nebst Anm. 109 mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch ebd., 224 konkret zu Cicero, Cic. Verr. 5,21. 433 Zur Stellung und Aufgabe der officiales in der Gefängnisverwaltung siehe Palme, Officia, 109; Manzano, Administración, 61 f. 434 Dies schildern wiederum verschiedene christliche Quellen, vor allem Joh. Chrys. in 1 Cor. 9,1 hom. (PG 61,77); ders., adh. Stag. 1,8 (PG 47,444). Dazu auch die in Cod. Theod. IX 3,1 angesprochenen stratores, die Unschuldige im Gefängnis zu Tode kommen ließen (unten Anm. 439). Zur hohen Sterblichkeit in Gefängnissen siehe Krause, Gefängnisse, 297; vgl. auch zu den zahlreichen Hinweisen, die Libanius hierauf gibt, Matter, Libanios, 59. 435 So Themistios, der den Gefängniswärter mit einem Tyrannen vergleicht, vgl. Them. or. 1,11b. 436 Dies erfolgte zumeist jedoch nicht durch die Gefangenen selbst, sondern beispielsweise durch den Klerus, der es als wichtige Aufgabe ansah, inhaftierte Christen zu unterstützen. Dazu siehe oben S. 75 f. Den kirchlichen Funktionsträgern wurde überdies die (mitunter für sie selbst – da als Christen zu erkennen – vor Konstantin lebensgefährliche) Pflicht zuteil, Gefangenenbesuche durchzuführen; so waren beispielsweise in Karthago zwei Diakone für die Be-

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für Diverses bezahlen: Allein für Gefängnisbesuche, dafür, dass dem Gefangenen Essen gebracht werden durfte oder aber auch für die Beschleunigung des Vollstreckungsverfahrens. Dass es hierdurch so mancher Gefängniswärter zu Vermögen brachte, wie es Firmicus Maternus437 berichtete, verwundert nicht. Die Verantwortlichkeit dafür wird in Cod. Theod. IX 3,6 allgemein den Provinzstatthaltern als Vorgesetzten zugeschrieben und diese werden ermahnt, sofort – nach Kenntniserlangung eines derartigen Missbrauchs – das schuldige officium custodiae438 und etwaiges assistierendes Personal selbst mit dem Tode zu bestrafen.439 Dass der Missbrauch durch das Gefängnispersonal zum Thema einer gesetzlichen Regelung

treuung der inhaftierten Perpetua und anderer Christen verantwortlich (Cypr. epist. 15,1,2), die durch die Bestechung des Wachpersonals unter anderem erreichten, dass die Inhaftierten in regelmäßigen Abständen in angenehmere Räumlichkeiten verlegt wurden (Pass. perp. 3,7), vgl. Krause, Gefängnisse, 125 sowie 305. Ebenso aber auch durch die Familie, vgl. dazu und zur Evidenz der Gefängnisbedingungen auf ägyptischen Papyri Torallas Tovar, Violence, 103 – 112. 437 Vgl. Firm. math. 4,14,4: … alii aquarum vel carceris custodiarum curam tuitionemque suscipiunt, ut ex istis actibus vitae illis subsidia quaerantur.; „… einige werden ihren Lebensunterhalt mit Wasser oder Gefängnissen verdienen.“ Vgl. auch Firm. Math. 4,11,5: … faciet carceris praepositos custodiarumque custodes et qui ex hoc officio patrimonii sibi substantiam comparent …; „… wird es Gefängnisdirektoren und Hüter von Gefängnissen geben, die durch dieses Amt ihr patrimonium sichern …“ Zur ,Korruption‘ in Gefängnissen siehe Krause, Gefängnisse, 306 f. 438 Das officium custodiae setzte sich aus Soldaten zusammen, die regelmäßig außerhalb ihres Lagers mit der Fahndung nach Straftätern, deren Inhaftierung sowie der Gefangenenbewachung und -aufsicht in Gefängnissen betraut wurden. Zum officium custodiae als Teil des statthalterlichen Personals siehe Cotton/Eck, Governors, 230 f.; auch Wesch-Klein, Aspekte, 152. Die Existenz dieser Gruppe lässt sich auch anhand epigraphischer Funde belegen: dazu siehe Cotton/Eck, CIIP, Vol. 2, Nr. 1273: Mosaikinschrift aus Caesaera = AE 1973, 556 = IGLS 13,9088 (Bostra, 238 – 244 n. Chr.), die lautet: Spes bona j adiutorib(us) j offici(i) j custodiar(um); „Eine glückliche Zukunft den Hilfskräften im Sicherheitsbüro“. Die Inschrift stammt aus dem zweiten/dritten Jahrhundert n. Chr. und bestätigt eine Abteilung der statthalterlichen Verwaltung, die mit der Bewachung von Gefangenen betraut war (adiutores officii custodiarum), vgl. Eck, Spiegel, 56 f.; zu den clavicularii (Gefängniswärter) siehe CIL III 10493k sowie 15190 – 92 = Vorbeck, Militärinschriften 75 – 77. 439 Cod. Theod. IX 3,1 (320): … Illud etiam observabitur, ut neque his qui stratorum funguntur officio neque ministris eorum liceat crudelitatem suam accusatoribus vendere et innocentes intra carcerum saepta leto dare aut subtractos audientiae longa tabe consumere. Non enim existimationis tantum, sed etiam periculi metus iudici imminebit, si aliquem ultra debitum tempus inedia aut quocumque modo aliquis stratorum exhauserit et non statim eum penes quem officium custodiae est adque eius ministros capitali poena subiecerit.; „… Diese Vorschrift muss auch beachtet werden, dass weder denjenigen, die die Funktion der stratores ausführen, noch ihren Assistenten gestattet wird, ihre Grausamkeit an die Ankläger zu verkaufen oder unschuldige Personen innerhalb des Gefängnisses zu Tode kommen lassen oder diejenigen, denen eine Anhörung zu Unrecht nicht gestattet wurde, durch eine lange Krankheit dahinsiechen zu lassen. Denn nicht nur die Angst um seinen Ruf, sondern auch Lebensgefahr drohen dem Richter, wenn ein strator durch Verhungern oder auf andere Weise jeden Gefangenen schwächen sollte, und der Richter nicht unmittelbar über das officium custodiae sowie ihre Assistenten die Todesstrafe verhängen sollte.“

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wurde, ist nichts Neues.440 Entsprechende klarstellende Regelungen wie in Cod. Theod. IX 3,6, gerichtet an die diese Praktiken duldenden Provinzstatthalter, finden sich immer wieder.441 Dass bereits Kaiser Hadrian in einem seiner Reskripte darauf hinwies, dass sich die Gefängnisbeamten nicht an den persönlichen Habseligkeiten von vergleichsweise geringem Wert (sog. pannicularia) der Inhaftierten bereichern sollten, berichtete Ulpian in seinem Werk de officio proconsulis442. Die praesides dürften dies nicht dulden – so Ulpian – sondern sollten die Wertsachen stattdessen an sich nehmen und den Erlös hieraus für andere Zwecke verwenden. Ulpian schlug hierfür beispielsweise die Belohnung von officiales sowie auch die Verwendung des Erlöses für Gastpräsente für Gesandtschaften vor. Wie bereits Libanius in seiner or. 33 am Beispiel von Tisamenus berichtete, war auch dieser „auf diesem Auge blind“ und übersah absichtlich, dass seine officiales sich am Geld der Gefangenen und von deren Familien bereicherten.443 Allerdings waren – wie oben erwähnt444 – diese „Gebühren“ bzw. „Bestechungsgelder“ teilweise Teil des Einkommens der officiales und damit nicht gänzlich „verbotene Praktik“. Dies wird auch im systematischen Zusammenhang von Cod. Theod. IX 3,6 klar. Im 1. Halbsatz (Temperari 440 Krause, Gefängnisse, 306 hat unter Anführung diverser Nachweise gezeigt, dass Derartiges bereits seit der späten Republik thematisiert wurde und die gesamte Hierarchie des Gefängnispersonals eine Tendenz zur ,Korruption‘ hatte. 441 So regelte Cod. Theod. IX 3,7 (409) beispielsweise eine sonntägliche Befragung der Gefangenen, um eine Verweigerung des fürs Überleben Notwendige durch das Gefängnispersonal zu vermeiden. Die Bestechlichkeit des Gefängnisbeamten wird auch in Cod. Theod. IX 40,5 (364) aufgegriffen; in Cod. Theod. VIII 15,5 (365?) wird ein Verbot für die Beamten ausgesprochen, Geschäfte in ihren Provinzen zu tätigen und hierbei auch ausdrücklich die commentarienses genannt, die sich durch ihre Funktion durch ,Korruption‘ bereichern konnten, vgl. Krause, Gefängnisse, 307. 442 Vgl. Dig. 48,20,6 (Ulp.): … Panniculariae causa quemadmodum intellegi debeat, ex ipso nomine apparet. Non enim bona damnatorum pannicularia significari quis probe dixerit, nec, si zonam circa se habuerit, protinus aliquis sibi vindicare debebit: sed vestem qua is fuerit indutus, aut nummulos in ventralem, quos victus sui causa in promptu habuerit, aut leves anulos, id est quae rem non excedit aureorum quinque. alioquin si quis damnatus digito habuerit aut sardonychica aut aliam gemmam magni pretii vel si quod chirographum magnae pecuniae in sinu habuerit, nullo iure illud in pannicularia ratione retinebitur … Ita neque speculatores ultro sibi vindicent neque optiones ea desiderent, quibus spoliatur, quo momento quis punitus est …; „… Welchergestalt das Wort pannicularia zu verstehen sei, erhellt aus dem Namen selbst; denn Niemand wird richtig behaupten können, dass pannicularia das Vermögen der Verurteilten bezeichne, noch wird, wenn Jemand einen Gürtel um sich gehabt, Einer diesen sich sofort aneignen dürfen, sondern bloß die Kleidung, womit er angetan war, oder die Geldstücke in seiner Tasche, die er zu seinem Lebensbedarf bei sich trug, oder leichte Ringe, d. h. solche, die fünf Goldstücke an Wert nicht übertreffen; sonst, wenn ein Verurteilter am Finger einen Sardonyx oder einen anderen Juwel von großem Wert, oder eine Schuldverschreibung über eine bedeutende Summe Geldes an der Brust stecken hatte, so wird dies ohne alles Recht dazu unter dem Vorwand, es gehöre zu den pannicularia, zurückbehalten werden … ja und es dürfen die speculatores sich dessen nicht eigenmächtig anmaßen, noch die Gehilfen (optiones) das verlangen, dessen der [Verurteilte] entkleidet wird, in dem Augenblick wo er bestraft worden ist …“ Zu Dig. 48,20,6 siehe auch Haensch, Korruption, 130; ebenso Krause, Gefängnisse, 307 f. 443 Vgl. Lib. or. 33,30 – 33,31 sowie 41 – 42. 444 Siehe dazu oben S. 42 nebst Anm. 151.

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autem ab innoxiis austera praeceptione sancimus …) wurde gerade verordnet, alles Unrecht von den unschuldigen Gefangenen abzuhalten. Die Zielsetzung des nachfolgenden Halbsatzes (et praedandi omnem segetem de neglegentia iudicum provinciarum ministris feralibus amputamus) ist damit evident: Das Verbot der Erhebung von Gebühren und Erpressung richtete sich allein gegen die – aufgrund Nachlässigkeit der Provinzstatthalter immer noch inhaftierten – unschuldigen Gefangenen, die eigentlich schon längst freizulassen waren. Dies impliziert wiederum, dass der Kaiser hier nicht alle von den Gefängniswärtern erhobenen Gebühren und angenommenen Bestechungsgelder untersagte.445 Wurden die Verfahren durch die Vorgesetzten schneller zu Ende geführt, also die Strafen vollstreckt oder die Personen freigelassen, führte dies automatisch auch zur Bekämpfung des Problems der „Korruption“ im Gefängnis. Um der Nachlässigkeit der Richter in der Überprüfung ihrer officiales sowie der Strafvollstreckung im Allgemeinen vorzubeugen und dadurch die Situation in den Gefängnissen zu verbessern, wurde nunmehr ein Kontrollmechanismus eingeführt. Der commentariensis446 sollte alle 30 Tage447 die Anzahl der inhaftierten Personen, ihren Fall, das Alter der Gefangenen und die Reihenfolge der Inhaftierung dem Statthalter der Provinz vorlegen. Durch das Kontrollsystem sollte unterbunden werden, dass die inhaftierten Personen aufgrund der Nachlässigkeit der Statthalter bei der Untersuchung der Fälle und anschließenden Vollstreckung bzw. Freilassung in Vergessenheit gerieten. Allein durch die Inhaftierung der entsprechend angeschuldigten Personen waren die Richter ihren Amtspflichten nicht nachgekommen. Die Gefängnishaft bzw. die Bewachung (custodia) sollte nur ein vorübergehendes Stadium innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Strafverfahrens sein, nicht jedoch eine Form, sich unliebsamer Amtspflichten zu entziehen – und auch keine alternative Strafe. Richtern, die den Zeitraum der Inhaftierung in unzulässigem Maß ausdehnten (iudices desides), wurde in der Konsequenz mit der Amtsenthebung gedroht und eine Geldstrafe in Höhe von zehn Pfund Gold auferlegt.448

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Siehe o. S. 66 nebst Anm. 265. In mehreren Gesetzen des Codex Theodosianus tritt der commentariensis als Gefängnisaufseher in Erscheinung (Cod. Theod. IX 3,5; 371, IX 3,7; 409, IX 40,5; 364, VIII 15,5; 365, IX 3,5; 371 u. a.). Die commentarienses gehörten zum officium der Statthalter und waren neben der Strafrechtspflege und der Führung der commentarii für die Inhaftierten und die Gefängnisaufsicht verantwortlich. Zu Amt und Titulatur siehe Haensch, Commentariis, 267; vgl. auch Rouillard, Administration, 44. Zu seiner Funktion in der Spätantike siehe Palme, Officia, 109: Wie bereits in der Prinzipatszeit unterstand ihm auch hier die Führung der commentarii (Amtstagebücher) sowie die Strafrechtspflege, d. h. er trug die Verantwortung für die Inhaftierten, übte die Oberaufsicht über die statthalterlichen Gefängnisse der Provinz aus und veranlasste die Urteilsvollstreckung. 447 Zu regelmäßigen Kontrollen vgl. auch Cod. Theod. I 16,3 (318). Hier wurde ein Kontrollsystem eingeführt, um die Erfüllung der Amtspflichten der Provinzstatthalter im Generellen und ihre durchgeführten Verfahren überprüfen zu können. Siehe dazu oben S. 40 f. 448 Vgl. auch Zamora Manzano, Influencia, 305 f. 446

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b) Kontrolle durch „Haftprüfung“ Im Sommer des Jahres 396 zielte eine Reihe von Gesetzen auf die Abmilderung der Strafgesetzgebung ab.449 Kaiserliche Intention war es – so nimmt B. Lottermoser450 an – mit der erleichternden Gesetzgebung die Loyalität der Bevölkerung zu stärken. Die gesetzliche Regelung Cod. Theod. IX 1,18 des Kaisers Arcadius vom 5. August 396451 scheint an den vorstehend behandelten theodosianischen Erlass (Cod. Theod. IX 40,15) insofern anzuknüpfen, als auch hier erkennbar die Beschleunigung der Strafverfahren intendiert war: ne diversorum criminum rei vel desidia iudicum vel quadam lenitatis ambitione per provincias detenti in carcere crudelius differantur, moneantur omnes iudices, productos e custodiis reos disceptationi debitae subdere et, quod leges suaserint, definire. „Damit Personen, die wegen verschiedener Straftaten angeklagt wurden und in den Provinzen im Gefängnis sitzen, nicht zu sehr leiden müssen durch die Verzögerung ihrer Fälle, sei es durch die Inaktivität der Richter, sei es durch irgendein Streben der Richter, Milde walten zu lassen, sollen alle Richter ermahnt sein, alle Personen aus der Haft zu holen, sie vor sich zu bringen und über ihre Fälle gemäß der Rechtslage zu entscheiden.“

Durch die richterliche Verzögerung der (Straf-)Verfahren, habe die Verweildauer im Gefängnis und damit das Leiden der Inhaftierten zugenommen. Gerade diesen Missstand kritisierte Arcadius: Die Richter sollten alle Personen, die in Untersuchungshaft (e custodiis reos) sitzen, aus der Haft holen und vor sich bringen lassen, um die notwendige Untersuchung durchzuführen. Anschließend sollte in jedem Fall eine Entscheidung getroffen werden. Als Gründe für die Verzögerung wurden angeführt, die Richter wären entweder träge und untätig in ihrer Amtsführung (desidia iudicum) gewesen oder hätten als mild (lenitatis ambitio) gelten wollen. Der insofern verwendete Terminus lenitas ist näher zu betrachten. Lenitas ist eine Herrschertugend und wird in diesem Zusammenhang von vielen antiken Autoren gebraucht, um eine spezifisch milde Amtsführung zu beschreiben.452 Lenitas war zudem auch als 449

So z. B. Cod. Theod. IX 42,15 (396). So auch Lottermoser, Religionsgesetzgebung, 46; ebenso Cameron/Long, Barbarians, 180 nebst Anm. 128. 451 Zur zeitlichen Einordnung siehe Seeck, Regesten, 291. Anders: Pharr, Code, 227, der – ohne Angabe von Gründen – das Gesetz auf den 3. August 396 n. Chr. datiert. 452 So beispielsweise bei Ammianus Marcellinus, der die Tugend der lenitas mehreren Kaisern wiederholt zuschreibt, so z. B. Constantius drei Mal (Amm. 15,2,6: … consilio in lenitudinem flexo …; 14,10,14: … nec lenitatem in supplices animos abesse … Siehe auch 17,13,30: … hisque secundo finitis eventu lenitatis tempus aderat tempestivae …). Ebenso Amm. 21,6,9: … Helpidius ortus in Paphlagonia, aspectu vilis et lingua sed simplicioris ingenii, incruentus et mitis adeo, ut cum ei coram innocentem quendam torquere Constantius praecepisset, aequo animo abrogari sibi potestatem oraret haecque potioribus aliis ex sententia principis agenda permitti.; „… Helpidius war in Paphlagonien geboren, unscheinbar, was seinen Anblick und seine Sprache angeht, aber ein Mann von einfacher Sinnesart, jeder Grausamkeit abgeneigt und so gütig, dass, als Constantius ihm befahl, einen Unschuldigen vor seinen Augen foltern zu lassen, er voller Gleichmut bat, ihm das Amt wieder abzunehmen und die Ausführung solcher vom Kaiser befohlener Handlungen lieber anderen zu überlassen.“ 450

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Teil der humanitas453 Entscheidungsnorm für das richterliche Urteil und tritt daher häufig im juristischen Kontext, insbesondere im Kontext mit der Abmilderung von Strafen auf.454 Bereits Seneca verwendete den Terminus lenitas als Sanftmut des „Oberen“ gegenüber einem „Unteren“ bei der Festsetzung der Strafe.455 Doch warum wird der Terminus hier im Zusammenhang mit der verzögerten Verfahrensführung und dadurch „verlängerten“ Inhaftierungszeit genannt? Wurde möglicherweise die Gefängnishaft als (christlich-)mildere Alternative zu einer Verurteilung zu weit schärferen Strafen angesehen? Im Hinblick auf diese Fragestellung hat J. Hillner vermutet, dass die Gefängnishaft unter anderem auch aufgrund christlicher Gesinnung als Strafe eingesetzt wurde: „Alongside considerations of practicality and education of lower rank offenders, increasingly in late antiquity considerations inspired by Christian thinking seem to have played a part in the imposition for prison penalty.“456 Für diesen Ansatz stützt sie sich im Wesentlichen auf zwei antike Autoren (Basilius von Caesarea und Cassiodor)457. Auf diese soll im Folgenden unter Hinzuziehung weiterer Beispiele eingegangen und versucht werden, einen Bezug auf die Terminologie und möglichen Hintergründe von Cod. Theod. IX 1,18 herzustellen:

Auch Sueton nutzt die lenitas um die Ausübung der Richterfunktion durch Augustus zu beschreiben (Suet. Aug. 33,1): dixit autem ius non diligentia modo summa sed et lenitate …; „Recht sprach er nicht nur nach eingehender Prüfung des Falles, sondern ließ auch höchste Milde walten …“ Weiterführend siehe Brandt, Werte, 191 nebst Anm. 412. 453 So Bleicken, Regierungsstil, 205. 454 So beispielsweise auch bei Amm. 25,4,9: … constat eum in apertos aliquos inimicos insidiatores suos ita consurrexisse mitissime, ut poenarum asperitatem genuina lenitudine castigaret.; „… immerhin steht fest, dass er gegen manche Gegner, die ihn offen mit Anschlägen verfolgten, in so milder Weise verfuhr, dass er harte Strafen mit der ihm angeborenen Milde zügelte.“ Amm. 29,2,22: Festus … decernentibus fatis ad orientem transgressus est ibique administrata Syria magisterioque memoriae peracto bona lenitudinis et reverentiae eliquit exempla, unde regere Asiam proconsulari potestate exorsus velificatione tranquilla, ut aiunt, ferebatur ad gloriam.; „… Festus … siedelte, da es das Schicksal so wollte, in den Orient über und dort verwaltete er Syrien als Vorsteher. Dabei hinterließ er gute Beispiele für seine Milde und Achtbarkeit und segelte, wie man sagt, mit ruhigem Wind, zum Ruhm, seitdem er zum Statthalter Asiens mit proconsularischer Gewalt ernannt worden war.“ Für weitere Belege sei verwiesen auf Brandt, Werte, 190 nebst Anm. 408. 455 Vgl. Sen. clem. 2,3: … Clementia est temperantia animi in potestate ulciscendi vel lenitas superioris adversus inferiorem in constituendis poenis … itaque dici potest et inclinatio animi ad lenitatem in poena exigenda … Atqui hoc omnes intellegunt clementiam esse, quae se flectit citra id, quod merito constitui posset.; „… Clementia ist die Mäßigung des Geistes in der Macht des Rächens oder die lenitas eines Oberen in der Bestrafung eines Niederen … daher kann [die clementia] auch als Tendenz des Geistes zur lenitas bei der Verhängung von Strafen bezeichnet werden … Und doch begreifen alle, dass es clementia sei, wenn er diese nach unten ändert, was er als verdiente Strafe festlegen konnte.“ 456 Hillner, Prison, 141. 457 Hillner, Prison, 141 f.

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B. Von Macht und Zeit

Basilius von Caesarea458 wandte sich im Jahr 358 an seinen Freund Candidianus, den Statthalter der Provinz Cappadocia, und schilderte diesem einen Vorfall in seinem Anwesen in Annesi. Ein Mann, der gegen einen verstorbenen Haussklaven des Basilius eine Schuldforderung hatte, entschloss sich zu einem Übergriff auf dessen Haushalt. Basilius berichtet, der Mann sei ins Haus eingebrochen, habe die Frauen des Hauses zusammengeschlagen, das Haus verwüstet und ihn seiner Güter bestohlen.459 Er erbittet hiernach Schutz vor diesem bei Candidianus und regt in diesem Zusammenhang die Bestrafung mit kurzzeitigem Gefängnis an (Basil. epist. 3,2): … lºmyr c±q #m Bl?m ovty t¹ %pqaclom s¾foito, eQ t` s` dqastgq¸\ sumtetacl´moi eUglem. c´moito d( #m Bl?m !qjoOsa d¸jg, eQ di± toO pac²qwou sukkgvhe·r 1m t` deslytgq¸\ bqaw»m jatajkeishe¸g wqºmom … „… For my tranquillity can only be preserved by my being placed under your efficient protection. As far as I am concerned, the culprit’s punishment would be sufficient only if he were arrested by the district magistrate and locked up in jail for a short time …“460

Der (Wohnungs-)Einbruchsdiebstahl nebst Körperverletzung wurde als qualifizierte Form des Diebstahls oftmals gleich einem Raub beurteilt und die Täter gleich Räubern zu schweren Strafen verurteilt.461 Nicht so hier: Basilius verlangte allein die Inhaftierung des Täters für einen kurzen Zeitraum. Interessant in diesem Kontext ist aber vor allem, dass Basilius explizit anregte, eine kurzzeitige Inhaftierung sei „ausreichend“, um einen Strafzweck zu erfüllen. Es scheint, als konnte die Inhaftierung in den Augen von Basilius als mildere Alternative zu anderen, eigentlich für das Delikt zu verhängenden schweren, hier nicht näher bezeichneten Strafen dienen. Nicht zu verkennen sind hier auch die sehr „christlichen“ Züge, die dieser Brief trägt. Auch in anderen Briefen ist Basilius dafür bekannt, dass er sich für die Milde im Rahmen der Verhängung von Strafen ausspricht.462 Insofern verwundert die Tendenz in seinem Brief an Candidianus nicht. Die Gefängnishaft war allerdings nicht nur für Basilius eine mögliche mildere Alternative zur Todesstrafe. Eine ähnliche Auffassung vertrat im vierten Jahrhundert auch Ambrosius von Mailand, der dem christlichen, statthalterlichen Richter Stu-

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Zur Person siehe oben S. 50 nebst Anm. 192. Basil. epist. 3. 460 Text und Übersetzung nach Deferrari, Basil, Vol. 1, 28 f. 461 So schilderte es auch Joh. Chrys. in 1 Cor. 14,4 hom., der zudem nicht unerwähnt ließ, dass viele Menschen nur eines einzigen Diebstahls wegen ihr restliches Leben im Gefängnis in der Untersuchungshaft verbringen würden (ebd., 9,1). Zur Inhaftierung von Dieben siehe Krause, Gefängnisse, 113 nebst Anm. 98. 462 So plädierte Basilius in einem Brief an Kallisthenes an dessen Milde, wenn es um die Bestrafung von Sklaven geht. Die Strafe an sich stellte Basilius auch hier nicht in Frage, bat aber darum, dass die Sklaven körperlich unversehrt bleiben sollten, vgl. Basil. epist. 73. Zu diesem Fall siehe auch Krause, Gefängnisse, 113. 459

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“

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dius463 folgenden Hinweis erteilte:464 Er müsse seinen Amtspflichten durchaus nachkommen, allerdings könne er versuchen, Blutvergießen dadurch zu vermeiden, indem er die alternative Strafe der Gefängnishaft für schwere Straftaten anwende. Studius hatte sich Sorgen gemacht, wie er seine irdischen Pflichten mit seinem christlichen Bestreben nach Milde in Einklang bringen könne.465 Auch andere christliche Autoren kritisierten die Anwendung der Todesstrafe stark.466 Die Bitte um eine milde Bestrafung lässt nicht zuletzt darauf schließen, dass die Statthalter auch in der Spätantike467 hinsichtlich der Strafbemessung einen großen Gestaltungsspielraum hatten und das in den Gesetzen vorgesehene Strafmaß auch abmildern konnten. Warum sonst richteten sich christliche Autoren an die Amtsträger und baten um eine milde Strafe? Eine stärkere Bindung der Statthalter an die kaiserliche Gesetzgebung in der Spätantike ist jedenfalls nicht zu erkennen.468 Ob allerdings Candidianus auf die Bitte des Basilius letztlich einging und den nicht namentlich benannten Straftäter „nur“ kurzzeitig inhaftierte, wissen wir nicht. Das Misstrauen christlicher Autoren gegenüber statthalterlichen Amtsträgern, die die Gesetze „beim Wort nahmen“ und in ihrer ganzen Strenge umsetzten, war je-

463 Vgl. PLRE I, Studius, 859 (Provinzstatthalter in den Jahren 384 – 385); siehe auch PLRE II 1036 Nr. 1: Später ist Studius zunächst im Jahr 401 als comes rei privatae, hiernach ab dem Jahr 404 als praefectus urbis Constantinopoleos bezeugt. 464 Zu dieser Episode siehe auch Neri, Chiesa, 249 f. 465 Ambr. ep. 25,3 (CSEL 82,2,56 f.): Vides igitur quid auctoritas tribuat, quid studeat misericordia: excusationem habebis si feceris, laudem si non feceris et potueris facere. Nec tamen innocentes atterere squalore carceris et absolvere plus quasi sacerdos probabo; potest enim fieri, ut causa recipiatur ad sententiam reus, qui postea aut indulgentiam sibi petat aut certe sine gravi severitate – quod quidam ait – habitet in carcere …; „You see, then, what authority permits and what mercy encourages. You will have no excuse, if you have taken action, and praise, if you have not done so. But, if you have been prevented from acting, I nevertheless approve of your not letting the guilty languish in prison, but, more in the manner of a priest, absolving them. For it can happen that, when a case has been studied, a prisoner will be sentenced who later wins pardon, or at least lives without great hardships, as they say, in prison …“ Übersetzung nach Melchior Beyenka, Ambrose, 492 f. 466 Allgemein zur Einstellung der christlichen Autoren zur Vollstreckung der Todesstrafe in vorkonstantinischer Zeit vgl. Schöpf, Tötungsrecht, 150 ff. 467 Dies ist in der sog. cognitio extra ordinem begründet, vgl. Levy, Gesetz; vgl. Santalucia, Praeses, 82. Jördens, Konstitution, hat zuletzt eine Neuedition des in SB XII 10929 enthaltenen Ediktes des Präfekten M. Petronius Mamertinus vorgelegt. Der Papyrus enthält im rechten Teil eine kaiserliche Verlautbarung – wohl Hadrians – zu den statthalterlichen Rechtsprechungskompetenzen, Rechten und Pflichten des Statthalters im Gerichtswesen und insbesondere zur statthalterlichen Kapitaljurisdiktion, dem sog. ius gladii, welches damit zum ersten Mal in dieser Form in den Quellen zu fassen ist (ebd., 351). Es werden vor allem Verfahrensanweisungen für den Statthalter innerhalb seiner Provinz gegeben, u. a. Straftatbestände aufgelistet, für die ausschließlich der Statthalter zuständig war. Hinsichtlich der Delegation sonstiger Fälle an einen iudex pedaneus stand ihm jedoch ein gewisser Ermessenspielraum zu. 468 So auch Krause, Gefängnisse, 334 nebst der älteren Literatur, die sich noch für das Gegenteil ausspricht in Anm. 96. Ebenso ders., Gewalt, 261 f.

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denfalls groß.469 Wie auch im Beispiel von Basilius, wurde indes größtenteils die Bestrafung an sich nicht in Frage gestellt. Insbesondere im Hinblick auf die Todesstrafe wurden aber nunmehr Stimmen laut, dass diese nur im äußersten Notfall, zur Abschreckung470 und nicht – wie es Laktanz471 scharf kritisierte – zur Belustigung aller vollstreckt werden sollte. Dass durch die vermehrte, in den uns bekannten literarischen Quellen geforderte Milde auch der Druck auf die Richter erhöht wurde und diese unter anderem dazu bewegte, in der Strafvollstreckung milder als gesetzlich gefordert vorzugehen, ist denkbar.472 In der Folgezeit wird uns von mehreren Provinzstatthaltern berichtet, die sich dadurch auszeichneten, in ihrer Amtszeit keine Todesstrafen vollstreckt und damit kein Blut vergossen zu haben.473 Festzustellen ist aber auch, dass die christlichen Autoren sich nur vereinzelt dafür aussprachen, die Schuldigen anstelle der schweren Strafen ins Gefängnis zu werfen.474 Gleichwohl bezog sich Cassiodor in eindeutiger Weise auf das Ideal, kein Blut zu vergießen und lieber den Straftätern „Ketten anzulegen“, in seinen Variae (Cassiod. var. 7,1,3475):

469 Vgl. Aug. epist. 47,5 (CSEL 34,2,135 f.); vgl. auch Krause, Gefängnisse, 331 nebst Anm. 79 mit weiteren Nachweisen. 470 Zur Abschreckungsfunktion der Strafen siehe Krause, Gewalt, 254 f. nebst Anm. 1337. 471 Nach Ansicht des christlichen Apologeten Laktanz hatte jemand, der mit Vergnügen der öffentlichen Vollstreckung einer (wenn auch berechtigterweise ausgesprochenen) Todesstrafe beiwohnte, kein reines Gewissen mehr. Laktanz ging soweit, diesen einem Beteiligten am Mord gleichzustellen, vgl. Lact. inst. 6,20,15 ff. (CSEL 19,558): … nam qui hominem quamvis ob merita damnatum in conspectu suo iugulari pro voluptate computat, conscientiam suam polluit, tam scilicet quam si homicidii quod fit occulte spectator et particeps fiat …; „… denn der, der es als Vergnügen empfindet, dass ein Mann, auch wenn rechtmäßig verurteilt, in seinem Sichtfeld ermordet wird, beschmutzt sein Gewissen nämlich ebenso sehr wie ein Augenzeuge und Beteiligter eines Mordes, der heimlich verübt wurde …“ Hierzu Krause, Gefängnisse, 331 nebst Anm. 78. 472 So argumentiert Lottermoser, Religionsgesetzgebung, 47. 473 Paulinus von Nola berichtet (Paul. Nol. carm. 21, 374 f. [CSEL 30,170 ff.]): … teque meam moderante manum seruante salutem, purus ab humani sanguis discrimine mansi …; FABRE, Paulin, 14 sowie GORCE, Paulin, 13 gehen bei der Interpretation dieser Stelle davon aus, dass es sich um ein Erlebnis des Paulinus aus seiner Zeit als Provinzstatthalter handelt: Paulinus hätte ein Todesurteil aussprechen müssen, sei jedoch im letzten Moment durch das Eingreifen des heiligen Felix „gerettet“ worden und habe hierfür tiefe Dankbarkeit empfunden. Ambrosius berichtet in seiner epist. 50,3 (CSEL 82,2,57): … Scio tamen plerosque gentilium gloriari solitos, quod incruentam de administratione provinciali securim revexerint …; „… Ich weiß dennoch, dass viele Heiden [die das Amt eines Statthalters bekleideten] sich gewöhnlich rühmen, weil sie von der Verwaltung der Provinz unblutig zurückgekehrt seien …“ Zu diesen Textstellen siehe Krause, Gewalt, 261 nebst Anm. 1381 und 1382. 474 Dies mag mitunter auch gerade damit zusammenhängen, dass die Gefängnishaft, um mit J. Hillner zu sprechen, „an iconic experience of the period of persecution“ war (Hillner, Exiles, 422). In vorkonstantinischer Zeit wurde gerade das Leiden im Gefängnis als Teil des Martyriums dargestellt, sodass der Blick auf die Gefängnishaft in christlichen Kreisen zumindest ambivalent sein musste. 475 MGH AA 12:185.

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“

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Habes etiam et ferrum nihilominus incruentum. Claudantur nexibus catenarum, quos levium criminum pulsat invidia. Cunctator esse debet, qui iudicat de salute: alia sententia potest corrigi, de vita transactum non patitur immutari. „You have the right of the sword, but nonetheless your sword should be of a bloodless kind. Those driven by the ill-will for minor crimes should be confined by the bonds of chains. Whoever gives a judgement about health, should linger: while other sentences can be corrected, to put an end to a life cannot be changed.“476

Der Brief ist insgesamt stark durch christliche Begriffssprache geprägt, die in dieser Form auch zunehmend in den spätrömischen Gesetzen zu finden ist.477 Die Verhängung der Gefängnisstrafe war, so Cassiodor, ein Weg, um die Vollstreckung der Todesstrafe zu vermeiden. Letztere wäre für einen christlichen Richter nur im äußersten Falle, nach reiflicher Überlegung, zur Anwendung zu bringen gewesen, da sie nicht rückgängig zu machen war. Trotzdem ging er aber davon aus, dass dem Richter immer noch das Recht zugestanden hätte, die Todesstrafe zu verhängen, appellierte aber an dessen Ermessensspielraum. Auch an diesem Beispiel wird klar, dass die Verhängung der Todesstrafe im Ermessen der Richter stand. Ein solches hatte ein Amtsträger – zumindest in der frühen Kaiserzeit – im Rahmen der cognitio extra ordinem478 nicht nur bezüglich der Strafzumessung, sondern auch in der Führung des Verfahrens.479 Dass an die zuständigen Richter zur Abmilderung der Strafe appelliert wurde, ist keine neuartige Vorgehensweise und auch nicht grundsätzlich allein auf den „neuen“ christlichen Einfluss zurückzuführen. Gleichwohl erstaunt, dass nunmehr explizit der Aufenthalt in einem Gefängnis als mildere Alternative zur Todesstrafe angesehen wurde. Dies kann aber möglicherweise einen Erklärungsansatz für die Terminologie in Cod. Theod. IX 1,18 (lenitatis ambitione) liefern. Ein entsprechender Fall, in dem ein Statthalter einem Verurteilten aus Gründen der lenitas eine Gefängnisstrafe anstatt der Todesstrafe auferlegte, ist uns gleichwohl nicht bekannt. Dass Statthalter allerdings alternative Strafen verhängten, die nicht „gesetzlich verankert“480 waren, aber dennoch faktisch Anwendung fanden, zeigte nicht zuletzt Libanius: Er beschwerte sich in seiner or. 50, dass sich die Statthalter an kein Recht gebunden fühlten, sondern so handelten, als seien sie selbst das Gesetz.481 Auch in seiner or. 30 weist er auf die grundsätzliche, ablehnungswürdige Einstellung der christlichen Amtsträger hin, selbst für schlimmste Ver476 Übersetzung von Hillner, Exiles, 391, wobei salute insofern besser mit Lebensheil (engl. salvation) zu übersetzen wäre. 477 Dass Cassiodor hiervon inspiriert wurde, ist aufgrund der verwendeten Begriffssprache anzunehmen: So verwendet er häufig den Begriff der correctio (Terminus in der christlichen Theologie, der die Pflicht zur Zurechtweisung betrifft) oder auch der emendatio. Beispiele für den Terminus correctio im Codex Theodosianus sind Cod. Theod. VI 4,22,5 (373), IX 38,6 (381), XII 1,153 (397), XVI 2,27,1 (390), XVI 4,3 (392), XVI 5,35 (399), XII 1,161 (399). 478 Dazu oben Anm. 467. 479 Färber, Gerichtsorte, 171, hat zudem herausgearbeitet, dass auch die Wahl des Gerichtsortes im Ermessen der Amtsträger stand. 480 Dazu siehe oben Anm. 467. 481 Vgl. Lib. or. 50,18 f.

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brechen keine Todesstrafe verhängen zu wollen.482 Libanius führte dies letztlich allein darauf zurück, dass es den Provinzstatthaltern nur daran gelegen war, an Popularität in der Provinz zu gewinnen. Mag man Libanius483 Glauben schenken, so ließen sich manche Provinzstatthalter in erheblichem Maß durch die Akklamationen des Volkes beeinflussen.484 Zur Bestätigung der prinzipiell bestehenden Möglichkeit, insbesondere in Strafprozessen eine akklamatorische Einflussnahme ausüben zu können, ließe sich – sofern man von einer Historizität eines Einflusses der Volksmenge im Prozess Jesu ausgeht485 – auch das Verfahren gegen Jesus und Barabbas heranziehen. Nicht ausgeschlossen ist, dass auch hier im Rahmen der Begnadigung des Barabbas eine Form einer acclamatio populi eine Rolle gespielt hat.486 Akklamationen wurden unter anderem auch am Kaiserhof berücksichtigt. Bereits Kaiser Konstantin ermunterte das Volk, den Statthaltern in Form von Akklamationen Lob auszusprechen oder Kritik zu äußern.487 Denkbar ist, dass auch Cod. Theod. IX 1,18 unter anderem durch die Gesinnung des Libanius (mit-)beeinflusst wurde. Mehrere Regierungsmitglieder um Kaiser Arcadius pflegten Kontakt mit Libanius. Sie teilten – im Gegensatz zu Kaiser Theodosius I., der Anfang der 390er Jahre eine Richtung in seiner Religionspolitik eingeschlagen hatte, die den Auffassungen des Libanius entschieden widersprach488 – als Repräsentanten der traditionellen Elite die Ansichten des Sophisten hinsichtlich

482 Vgl. Lib. or. 30,20: !kk( oqj aqt_m taOta eWmai v¶sousi paqadidºmai to?r !pojtemoOsim %mhqypom, oqd( Cm t± deimºtata eQqcasl´mor × …; „But it is not their way, they will say, to hand a man over to execution, even though he be guilty of the most heinous crime …“ Dem stellte Libanius im Folgenden wiederum die große Anzahl an Todesopfer gegenüber, die den innerkirchlichen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen sind. 483 Vgl. beispielsweise in Lib. or. 33,11 f.: =ti to¸mum, § basikeO, paqakab½m t¹m d/lom 2aut¹m 1cmyjºta eQr t¹ lµ cicm¾sjeim 2aut¹m pqo¶cace did²nar aqt¹m ¢r l´ca ti t` %qwomti t¹ kewh/ma¸ ti paq( 1je¸mym eQr aqt¹m euvglom. d/lor d³ peishe·r ¢r %qwei toO %qwomtor ja· rv( è t´tajtai t` mºl\ toOtom 1n vbqeyr rv( art` pepo¸gtai, pokk± jim_m t_m jahestgjºtym %qwetai.; „And there is this point, too, Sire. He inherited from his predecessors a populace that knew its place and induced it not to know its place, for he taught it how important it was to the governor for them to address some acclamation to him. The populace is convinced that it governs its governor and that, in consequence of its arrogance, it has under its thumb the person under whom it has been set by law, and is beginning to upset many of the established institutions.“ Zum Einfluss von Akklamationen auf Provinzstatthalter siehe auch die Schilderungen in or. 26, 8; 41, 2 f.; 41,10 f.; 46,6; 46, 17; 46, 39; 54, 54; 56,1. 484 Vgl. Liebeschuetz, Antioch, 208 ff.; 278 ff. 485 Zur Frage siehe zuletzt Niemand, Jesus, 425 nebst Anm. 228, der hierin kurz die verschiedenen Meinungen und relevanten Untersuchungen zusammenfasst. Hieraus beispielhaft genannt seien Brown, Death I, 720 – 722; Strobel, Stunde, 124 – 127. Dass die Volksmenge und deren Akklamationen für die Durchführung eines römischen Gerichtsverfahrens ein unentbehrliches Requisit gewesen sei, wie Glinka, Prozeß, 19, meint, ist aber gerade nicht anzunehmen. 486 So Niemand, Jesus, 425. 487 Vgl. Cod. Theod. I 16,6 (331). Dazu siehe Krause, Gefängnisse, 338. 488 Vgl. Wiemer, Kaiser, 144.

III. „Aus den Augen, aus dem Sinn“

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der Vollstreckung der Todesstrafe.489 Nach Libanius hatte der Kaiser dafür zu sorgen, dass alle die Gesetze einhielten und dass diejenigen, die diese übertreten, auch bestraft wurden. Ohne Furcht vor Strafe blieben auch die Gesetze wirkungslos.490 In Cod. Theod. IX 1,18 wird gerade hierauf abgestellt: Die Richter sollten die Inhaftierten mit derjenigen Strafe belegen, quod leges suaserint. Dass möglicherweise ein Teil der Inhaftierten bereits ihre Strafe „absaß“, ist nicht zu vergessen. Die Verwendung des Terminus lenitas könnte insbesondere dafürsprechen, dass die hier angesprochenen Richter die Inhaftierung bereits als mildere Strafe ansahen. Durch die Anordnung, sich an die „geltenden Gesetze“ zu halten, wird jedenfalls klar, dass der Gesetzgeber die Inhaftierung (noch) nicht als zulässige statthalterliche Ermessenausübung sowie Alternative zu dem gesetzlich vorgeschriebenen Strafmaß akzeptierte. Ob die zunehmende Anwendung491 der Inhaftierung in ihren verschiedenen Ausprägungen, u. a. auch als poena, schlussendlich allein damit zusammenhing, dass der zunehmende Einfluss des Christentums492 Wirkung zeigte, kann im vorliegenden Rahmen nicht abschließend konstatiert werden. Mit Sicherheit sind jedoch zwei Annahmen zu machen: Zum einen kann eine gewisse Einflussnahme des Christentums im Bereich der Strafvollstreckung nicht negiert werden. Zum anderen lässt sich – davon unabhängig – jedenfalls im Ansatz eine faktische Entwicklung weg von der Vollstreckung schwerer Straftaten und hin zum modernen Verzicht auf Hinrichtungen sowie zur Inhaftierung als „Dauerzustand“ nachvollziehen. Die von den Kaisern thematisierte „überlange Inhaftierung“ stand in den Konstitutionen in engem Zusammenhang mit dem Vorwurf der Verfahrensverzögerungen am Gericht der iudices ordinarii.

489

So Lottermoser, Religionsgesetzgebung, 47. So argumentiert Libanius in mehreren seiner Reden. Dies war Teil seiner Grundidee eines funktionierenden Rechtssystems: or. 45,2: toOtº ce d¸jaiom cm t¹ to»r l³m !n¸our ham²tou hm¶sjeim; Or. 17,2: m|moi d³ jykuta· jajouqcgm\tym. or. 24,28; or. 28,27; or. 33,18; or. 45,2.; or. 47,26; or. 47,37 – 38; or. 50,36; or. 51,2; or. 51,32; or. 52,2 – 3.Vgl. dazu auch Wiemer, Kaiser, 148, 232 – 236. Nach Libanius konnte es von dieser Regel nur eine Ausnahme geben: Allein dem Kaiser stand es zu, Strafen zu mildern oder ganz zu erlassen. Dies schloss die Provinzstatthalter gerade nicht mit ein. 491 Krause, Prisons, 128; ders., Gefängnisse, 335 argumentiert damit, dass in so vielen Gesetzen die Ermahnungen der Kaiser enthalten seien, dass die Statthalter sich nicht an die Gesetze hielten. Dem ist zuzustimmen. Untersucht man nur das Problem, dass die Provinzstatthalter die gesetzlich vorgesehenen Strafen, insbesondere die Todesstrafe nicht verhängten bzw. vollstreckten, sondern stattdessen die Verurteilten inhaftiert ließen, so lassen sich allerdings allein die hier thematisierten Bestimmungen Cod. Theod. IX 1,18 (396), IX 40,15 (392), IX 3,6 (380) finden. 492 Zum christlichen Einfluss bereits auf die Gesetzgebung Konstantins siehe Rivière, État. 490

C. Von Gewalt und Unterdrückung: Die Umgehung der Rechtsmittelinstanz I. Inhaftierung und Anwendung von Gewalt zur Unterbindung der Rechtsmitteleinlegung Menander von Laodikeia am Lykos, auch genannt Menander Rhetor493, behandelte im späten dritten Jahrhundert n. Chr. das Ideal der ausschließlich rechtmäßigen Inhaftierung und Bestrafung. Menander schrieb zwei Abhandlungen über die Theorie und Praxis der Epideiktik494, in denen er sich mit der Abfassung von verschiedenen Arten von Reden für Anlässe beschäftigte, an denen sich Provinzbewohner an ihren Statthalter wandten. Sein Werk veranschaulicht Art und Weise der Kommunikation zwischen Provinzbewohnern und ihrem Statthalter, mithin den zentralen Aspekt ihrer Beziehung. Wenn ein neuer Statthalter zum Amtsantritt in die Provinz kam, sollten sich die Provinzbewohner u. a. mit folgenden Worten an diesen richten, die den Hinweis auf eine bestenfalls von dem Neuankömmling verkörperte gerechte Amtsführung enthielten:495 … ja· eQp½m t± toiaOta ja· pke¸y peq· dijaios¼mgr, fti oqde·r !d¸jyr oQj¶sei t¹ deslyt¶qiom C d¸jgm d¾sei t` mºl\, oq pqojqih¶setai pko¼sior, oq wala· pese?tai kºcor toO p´mgtor d¸jaior … „… Diese und ähnliche Bemerkungen können zum Thema Gerechtigkeit gemacht werden: Niemand wird zu Unrecht in den Gefängnissen hausen oder zu Unrecht bestraft; die Reichen werden nicht bevorteilt und der Streitfall eines armen Mannes wird nicht unter den Tisch gekehrt …“496

Menander zeichnete hier ein idealisiertes Bild von „Gefängnis“ und „Bestrafung“ bzw. „Gewaltanwendung“ an sich. Inhaftierung und Bestrafung durch den Statthalter sollten nicht ohne Grund erfolgen. Im Rahmen der Rechtsmitteleinlegung fallen fünf gesetzliche Regelungen im Codex Theodosianus auf, die explizit nur für den Zeitabschnitt nach erfolgtem 493

Vgl. PLRE, Band I, Menander 1, 595; vgl. zu seiner Person auch die Einführung bei Russel/Wilson, Menander, xi-xlvi, mit weiterführender Literatur; zuletzt zu Menander und seiner Person siehe die jüngste kritische Ausgabe von Muruzábal Rodríguez, Edición, 23. 494 Siehe Reitzenstein-Ronning, Herrscherpanegyrik, 15; Wheelock, Problem, 60 – 62. 495 Zu Menanders Rede zum Amtsantritt eines Statthalters in der Provinz siehe auch Macmullen, Corruption, 134 nebst Anm. 37. 496 Menander Rethor, in: Russel/Wilson, Rn. 379 (Z. 19 – 24), S. 96 f. Die deutsche Übersetzung folgt der englischen Übersetzung von Russel/Wilson, 1981, 97 f. Zu dieser Textstelle siehe nunmehr auch Muruzábal Rodríguez, Edición, dort 220.

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Urteilsspruch der ersten „Instanz“ bis zur Einlegung des Rechtsmittels das Problem einer Gewaltanwendung und/oder Inhaftierung definierten. Im nachfolgenden Abschnitt wird dementsprechend herausgestellt, inwieweit in Einzelfällen die Prozesspartei, die eine Appellation einlegte, durch den iudex ordinarius und/oder sein officium eine unrechtmäßige Inhaftierung und/oder Anwendung andersartiger iniuria befürchten musste. Insbesondere soll so versucht werden, einen Eindruck von der Häufigkeit derartiger Praktiken zu bekommen. Wurde durch die staatlichen Autoritäten gar vielfach versucht, Appellationen und damit „zweitinstanzliche“ Verfahren mit der Gefahr einer Überprüfung des eigenen Urteils zu unterbinden? Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass in Cod. Theod. XI 30,2 sowie XI 30,15 die Inhaftierung in Form der Gefängnishaft (carcer) unzulässigerweise angewandt und nicht von Kaiser Konstantin – wie von J. Hillner497 angenommen – auf die in diesen Fällen rechtmäßige custodia militiae verwiesen wurde. 1. Die erstmalige Inhaftierung vor/bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus a) Die Inhaftierung als Ausübung magistraler Koerzitionsgewalt Die Inhaftierung war Akt der Ausübung magistraler Koerzitionsgewalt, welche als „zusammenfassende Bezeichnung der magistratischen Zwangs- und Strafbefugnisse zu gebrauchen ist“498. Der Begriff der coercitio war kein urtümlicher Bestandteil römischer Staatsterminologie, sondern scheint sich erst in der ausgehenden Republik gebildet und in der Abstraktion verwendet worden zu sein.499 Ein Katalog 497 So Hillner, Prison, 122. Krause spricht Cod. Theod. XI 30,2 sowie XI 30,15 in seiner Untersuchung zu Gefängnissen im Römischen Reich, kurz auf S. 69 (nebst Anm. 29) sowie 157 f. (nebst Anm. 32, 33) an. Auch in ders., Gewalt, behandelt Krause zwar die Appellationspraxis in seinem Kapitel „Strafen“, nennt Cod. Theod. XI 30,15 aber nur auf S. 274 in der Anm. 1462. In der übrigen einschlägigen Literatur wird der Themenkomplex „iniuria/Gefängnis bei Appellationseinlegung“ ebenfalls nur am Rande thematisiert: vgl. bei Harries, Law, die dazu nur Cod. Theod. XI 30,2 sowie XI 30,4 in einem Satz auf S. 112 nebst Anm. 77 nennt. Dillon bespricht die beiden konstantinischen Gesetze, allerdings beide in einem anderen Kontext: Zu Cod. Theod. XI 30,15 führt er im Hinblick auf den Adressatenkreis aus (Justice, 245 f.); zu Cod. Theod. XI 30,2 legt er lediglich dar, dass es sich bei der Inhaftierung wohl um eine Möglichkeit gehandelt habe, die zweite ,Instanz‘ zu umgehen, differenziert aber nicht hinsichtlich der Form und Hintergründe der Inhaftierung (ebd., 241 – 242). 498 Kunkel, Staatsordnung, 152; vgl. so auch Garnsey, Status, 147. Die Bandbreite der Eingriffe in die Rechte der Bürger konnte dabei von Anordnungen (interdicta), Pfandnahmen (pignoris capio), Zwangsvollstreckungen über Geldstrafen (multae) und Züchtigungen (verbera) bis hin zur Verhängung der Todesstrafe (coercitio plenissima/capitalis) reichen, vgl. Nogrady, Strafrecht, 26 f. 499 Bei den Juristen der antoninisch-severischen Zeit bedeutete der Terminus coercitio behördliche Zwangs- und Strafgewalt in abstracto: Jurisdiktion ohne ein gewisses Maß an Strafgewalt (iurisdictio sine modica coercitione nulla est) war nach Paul. Dig. 1,21,5,1 nicht möglich. Teils wurde coercitio auch gleichbedeutend mit ,Bestrafung‘ verwendet, wobei vorwiegend die Verhängung von Kapitalstrafen gemeint war. Vgl. Dig. 48,1,2 (Paul.);

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der Koerzitionsbefugnisse findet sich erstmals bei Cicero, der jedoch als ungenau und unvollständig einzuschätzen ist.500 In Ausübung der magistralen Amtsgewalt der coercitio wurde das Zwangsmittel der Inhaftierung im Rahmen von Zivil- und Strafverfahren eingesetzt, um beispielsweise Angeklagte bzw. andere Prozessbeteiligte „sicherzustellen“ – diese an einer möglichen Flucht zu hindern und sie so für den Prozess, so er denn stattfand, festzuhalten. Die Gefängnisse wurden häufig aber auch für kurzzeitige Inhaftierungen genutzt, die nicht mit einem gegen die betreffenden Personen angestrebten Gerichtsverfahren zusammenhingen. Die Anwendung der Inhaftierung als Mittel war dem Ermessen des zuständigen Richters im Rahmen seiner Koerzitionsgewalt überlassen. Magistrate intendierten dadurch ihrer Autorität Ausdruck zu verleihen, Druck auf bestimmte Personen auszuüben und eine Handlung zu erzwingen. Dass dies als Teil der richterlichen Koerzitionsgewalt durch die Zeitgenossen teilweise als grausam empfunden wurde, zeigt insbesondere ein Blick in die Texte christlicher Autoren.501 Nicht zuletzt diente die Inhaftierung teilweise als Dig. 11,7,8,2 (Ulp.); 48,19,6,2 (Ulp.); 48,19,1,3 (Ulp.); 50,16,131,1 (Ulp.); Dig. 48,16,1,12 (Marci.); vgl. zur terminologischen Entwicklung des Begriffs und zur Begriffsbildung der coercitio auch Kunkel, Staatsordnung, 151. Vor allem bei den Juristen des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr. nimmt coercitio immer mehr den Sinn von ,Strafen‘ an. Beispielsweise bei Suet. Tib. 35,1; Galba 9,1; Dom. 8,3. 500 Vgl. Cic. leg. 3,6. Hierin wird beispielsweise gerade nicht die Pfandnahme (pignoris capio) genannt, die aber zur Zeit Ciceros angewandt wurde, hierzu auch Kunkel, Staatsordnung, 152. 501 Beispielhaft seien hier folgende Auszüge aus literarischen Quellen genannt: vgl. Pelag. Div. 6,2 (PLS 1,1386): In carcerem non numquam trudi etiam innoxios praecipis, quia aut gratiarum aut iniuriarum pulsaris affectibus et tunc tibi videris magnus, cum dolor proprius vindicatur. Et ingens Christianis cura supervenit et non mediocris divinae indignationis formido, si eum ibidem positum non requirant. Et tu securissima mente perfrueris, quo ille praecipiente detrusus est. Parum est enumerasse terrores, verbera, carceres, tenebras et vincula rigida catenarum. Tot necesse est sub iudice supplicia mortis evenire quot poenae sunt … Et tu postquam ista defensor divitiarum et honorum nundinator admiseris, securus sublimibus fultus tapetibus recubas, tamquam tibi triumphalis illa praeda ponatur … et ne quis inter epulas tuas huius relationis horrore terreatur, legibus te dicis esse subiectum …; „Manchmal befiehlst du, dass sogar Unschuldige ins Gefängnis geworfen werden, nur weil du von Gefühlen von Gunst oder Missgunst bewegt wirst, und du kommst dir groß vor, wenn dein eigener Schmerz gerächt wird. Die Christen andererseits überkommt große Sorge und große Furcht vor dem göttlichen Unwillen, wenn sie den im Gefängnis Sitzenden nicht aufsuchen. Aber du, der diese Gefangennahme veranlasst hast, erfreust dich eines überaus ruhigen Gewissens. Es genügt nicht, das Grauen, die Schläge, die Verliese, die Dunkelheit des Kerkers und die engen Fesseln der Ketten aufzuzählen: Unter einem Richter treten notwendigerweise so viele Todesstrafen ein, wie es überhaupt Strafen gibt … Und du, nachdem du dies als Verteidiger des Reichtums und Händler von Ehrenämtern zugelassen hast, liegst unbekümmert auf wertvolle Teppiche gelehnt zurück, so als würde eine triumphale Beute zu Füßen gelegt … und falls einer deiner Gäste von dieser Erzählung erschreckt würde, sagst du, dass du den Gesetzen unterworfen seist …“ Ambr. in Lc. 7,155 (CSEL 32,4,351): Vis scire Christum esse iudicem qui exactori tradit, et in carcerem mittit? Ipsum interroga, immo ipsum lege in Evangelio dicentem: Tollite et mittite illum in tenebras exteriores (Matth. XXII, 13). Exactores quoque suos ipse monstravit alio loco ubi dicit: Sic erit in consummatione saeculi, exibunt Angeli, et separabunt malos de medio iustorum, et mittent eos in caminum ignis: ibi erit fletus et stridor dentium (Matth. XIII, 49 et 50); „Willst du dich überzeugen, dass Christus der Richter ist, der (den Schuldigen) dem Gerichtsdiener

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Mittel dazu, (kirchen-)politische Gegner zum Umdenken zu bewegen und so die eigenen Ziele durchzusetzen.502 Im Codex Theodosianus finden sich zwei Gesetze, in denen gezielt angesprochen wird, dass das Mittel der Inhaftierung bei (zivilprozessualen) Appellationen durch die zuständigen Richter bzw. deren officium unzulässigerweise angewandt wurde. b) Custodia militaris und custodia libera In Abgrenzung zur Inhaftierung im carcer gab es noch weitere Formen der Inhaftierung bzw. Sicherstellung von Prozessparteien/-beteiligten und Angeklagten. Die beiden Termini custodia und carcer wurden beide in der Bedeutung „Gefängnis“ benutzt, unterschieden sich aber in vielen Punkten: zum einen ist hier die custodia militaris503, zum anderen die custodia libera zu nennen. Diese weiteren Formen504 der Inhaftierung sind teilweise schwierig zu unterscheiden, da oftmals in den Quellen lediglich der Terminus custodia ohne Zusatz verwendet und der Akt der Bewachung selbst in Privathäusern durchgeführt wurde. Hier hilft allerdings Ulpian in seinem Werk de officio proconsulis weiter (Dig. 48,3,1): De custodia reorum proconsul aestimare solet, utrum in carcerem recipienda sit persona an militi tradenda vel fideiussoribus committenda vel etiam sibi. Hoc autem vel pro criminis quod obicitur qualitate vel propter honorem aut propter amplissimas facultates vel pro innocentia personae vel pro dignitate eius qui accusatur facere solet. „Über die Bewachung der Angeschuldigten pflegt in der Regel der Proconsul zu verfügen, ob die betreffende Person in ein Gefängnis gebracht, oder einem Soldaten übergeben, oder Bürgen, oder sich selbst überlassen werden solle. Dies pflegt er nach der Beschaffenheit des übergibt und ins Gefängnis wirft? Frage ihn selbst, oder vielmehr lies, wie er selbst im Evangelium spricht: Nehmt ihn und werfet ihn in die Finsternis draußen! Auch seine Gerichtsdiener zeigte er an einer anderen Stelle auf, wo er spricht: So wird es am Ende der Welt gehen: die Engel werden ausgehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten absondern und werden sie in den Feuerofen werfen, da wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ Zu diesen und weiteren Textstellen siehe Krause, Gefängnisse, 196 – 198. 502 Berühmtes Beispiel hierfür sind die Bischöfe Misenus von Cumae und Vitalis von Truentum, die von Papst Felix III. damit beauftragt wurden, nach Konstantinopel zu reisen, um dort Kaiser Zenon über die Wahl zu informieren und gleichzeitig dem Patriarchen Akakios eine Vorladung zur römischen Synode zu überreichen. Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten mit Letzterem wurden beide bei Ankunft in Konstantinopel inhaftiert. Davon berichtet Theophanes, Chronographia. Vol. I. Ed. C. de Boor, Leipzig 1883 (ND Hildesheim 1963), 131, 31 ff. Ausführlich zum Hintergrund auch Köpke, Bischöfe, 122 ff. 503 Zur custodia militaris siehe vor allem Neri, Infames, 428 mit weiteren Literaturangaben. 504 Ob die Formen der Zwangsarbeit (opus publicum, metallum) einer Inhaftierung gleichgestellt waren, hat Huntzinger, Incarcération, 21 f., untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass opus publicum von einer Inhaftierung begleitet wurde, die lediglich die Fluchtgefahr unterbinden sollte; in Ketten gelegt wurden die hierzu Veurteilten jedoch nicht. Die Verurteilung ad metallum dagegen sieht Huntzinger jedoch mehr als Inhaftierung als als Zwangsarbeit als solche an und nennt hierfür drei Gründe: „les chaînes humiliantes, les mines effoyables et les gardiens (vigiles) pour éviter la fuite“.

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Verbrechens, das ihm vorgeworfen wird, oder seiner Würde und den Vermögensumständen, oder nach der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit seiner Schuld und dem Range des Anklägers zu bestimmen.“

Ulpian unterschied vier verschiedene Szenarien: Die custodia konnte in vier verschiedenen Formen verfügt werden. Zum einen die Bewachung im carcer, zum anderen die Bewachung durch einen Soldaten (custodia militaris) oder durch einen Bürgen (fideiussor) sowie die Verhängung eines Hausarrestes (sibi).505 Zudem beschrieb er die custodia militaris als Bewachung des Angeschuldigten durch Soldaten und machte die Verhängung von custodia militaris oder libera vor allem vom Rang des Angeschuldigten sowie von der Schwere des Verbrechens abhängig.506 Die custodia militaris unterschied sich somit gänzlich von der sonst zur Untersuchungshaft angeordneten Inhaftierung im carcer. Sofern ein Angeklagter in custodia militaris genommen wurde, stand dieser unter Hausarrest und wurde zumeist durch zwei Soldaten bewacht, die dafür Verantwortung trugen, dass er jederzeit vor Gericht zur Verhandlung bzw. Untersuchung geführt werden konnte. Ab dem vierten Jahrhundert ist davon auszugehen, dass die Bewachung nicht mehr nur von Soldaten vorgenommen wurde, sondern auch von anderen officiales507 und den ihnen unterstellten Dienern. Die custodia libera ist im Gegensatz dazu als die Haft im Privathaus eines vornehmen Bürgers oder einer Magistratsperson zu verstehen. Sie widerfuhr nur Angeschuldigten von höherem Stand.508 Libera ist in diesem Kontext als regelmäßige 505

Hierzu auch Hillner, Prison, 126 f. Der Bischof Cyprian konnte nach der Rückkehr aus der Verbannung seine eigenen horti als ,bewachten‘ Aufenthaltsort während der valerianischen Verfolgung nutzen: Acta Cypr. 2,1: Tunc Paternus Proconsul jussit beatum Cyprianum Episcopum in exsilium deportari … Cumque Cyprianus sanctus Martyr electus a Deo, de civitate Curubitana, in qua exsilio praecepto Aspasii Paterni tunc Proconsulis datus fuerat, regressus esset; ex sacro praecepto in suis hortis manebat. Inde quotidie sperabat veniri ad se, sicut illi ostensum fuerat …; „Darauf befahl der Proconsul Paternus, den heiligen Bischof Cyprian in die Verbannung abzuführen … Als nun Cyprian, der von Gott erwählte heilige Märtyrer, aus der Stadt Kurubis, in die er nach dem Befehle des damaligen Proconsuls Aspasius Paternus verwiesen worden war, zurückgekehrt war, blieb er auf Anweisung auf seinem Landgut (horti) und erwartete dort täglich, daß er aufgesucht werde, wie es ihm geoffenbart worden war …“ 507 So auch Hillner, Prison, 129. Zu den Soldaten, die im Dienst des Statthalters standen siehe oben S. 97 nebst Anm. 414. 508 Arbrandt/Macheiner, Art. Gefangenschaft, RAC 9, 1976, 318 – 345, hier: 326 beschreibt diese mit ,Privatarrest‘; vgl. dazu auch die Schilderung bei Tacitus: In den Annalen berichtete er, dass bestimmte Personen durch spezielle Sitzplätze im Theater geehrt werden konnten. So schlug auch der Senator Iunius Gallio vor, dass Prätorianer, die ausgedient hatten, in den ersten 14 Sitzreihen des Theaters sitzen sollten. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen; stattdessen widerfuhr Gallio Folgendes (Tac. ann. 6,3): … hoc pretium Gallio meditatae adulationis tulit, statim curia, deinde Italia exactus; et quia incusabatur facile toleraturus exilium delecta Lesbo, insula nobili et amoena, retrahitur in urbem custoditurque domibus magistratuum.; „… Dies war der Lohn, den Gallio für seine ausgeklügelte Schmeichelei erntete: er wurde sofort aus dem Senat ausgestoßen, dann aus Italien verbannt; und weil man unterstellte, er werde die Verbannung mit Leichtigkeit ertragen – er hatte Lesbos, die berühmte, anmutige Insel gewählt –, wurde er nach Rom zurückgeholt und in den Häusern von Magistraten bewacht.“ Zur custodia 506

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Abwesenheit von Fesselung und Ketten (vincula) zu verstehen.509 Allerdings variierte die Ausführung der custodia libera. Teilweise konnte sie sich einer Gefängnishaft annähern.510

libera auch Krause, Gefängnisse, 180 – 188, der diese als „Privileg der Bessergestellten“ (ebd., 187) beschreibt. 509 So bereits Mommsen, Strafrecht, 305 zur „freien Haft“; ebenso Pavón Torrejón, Cárcel, 183 sowie 202 f.; siehe nunmehr auch bei Hillner, Prison, 127. 510 Zu den verschiedenen Ausführungen kann Cassius Dio herangezogen werden, der von zwei ,Gefangenen‘ berichtete: Zum einen von Asinius Gallus, der zunächst in Fesseln gelegt wurde, sodann aber von Tiberius in freier Haft festgehalten wurde. Dies stellte allerdings kaum Erleichterung dar: In dessen dreijähriger Bewachungszeit war es ihm untersagt, mit anderen Menschen zu verkehren und er bekam gerade so viel Nahrung, um am Leben zu bleiben; zum anderen berichtete Cassius Dio von einem Mann aus dem Umfeld des Tiberius, den dieser wiederum in Fesseln legen ließ (Cass. Dio. 58,3 – 6): ja· taOta oqj 1n´vgme t` C²kk\, !kk± ja· p²mu aqt¹m 1deni¾sato, ¦ste sulb/ma¸ oR6 pq÷cla paqadonºtatom, ja· d lgdem· %kk\ sumgm´whg7 1m c±q t0 aqt0 Bl´qô paq² te t` Tibeq¸\ eRsti²hg ja· vikotgs¸ar 5pie, ja· 1m t` boukeutgq¸\ jatexgv¸shg, ¦ste ja· stqatgc¹m t¹m d¶somt² te aqt¹m ja· pq¹r tµm tilyq¸am !p²nomta pelvh/mai. ja· l´mtoi toOh( ovtyr b Tib´qior pq²nar oqd( !pohame?m aqt` 1hek¶samti, 1peidµ t²wista t_m dedocl´mym Õsheto, 1p´tqexem, !kk( 1je¸m\ te, Vma 1p· pke?stom jajyhe¸g, haqse?m 1j´keuse ja· t0 bouk0 1mete¸kato fpyr 1m vukaj0 !d´sl\ ×, l´wqir #m aqt¹r 1r tµm pºkim !v¸jgtai, Vm(, fpeq eWpom, 1p· lajqºtatom ja· t0 !til¸ô ûla ja· t` vºb\ takaipyq¶seie. ja· 5swem ovtyr7 pqºr te c±q t_m !e· rp²tym 1tgqe?to (5ny t/r toO Tibeq¸ou !qw/r7 tºte c±q pq¹r t_m stqatgc_m 1vuk²whg), oqw Vma lµ v¼c,, !kk( Vma lµ tekeut¶s,, ja· oute 2ta?qºr tir out( oQj´tgr aqt` sumec¸cmeto, out( 1k²kei tim· ouh( 2¾qa tim± pkµm bpºte tqovµm kabe?m Amacj²feto. ja· Gm avtg toia¼tg ja· tosa¼tg ¦ste l¶te tim± Bdomµm C ja·6 N¾lgm aqt` paqaswe?m l¶t( !pohame?m aqt¹m 1÷m7 toOto c±q Gm t¹ deimºtatom. d ja· 1p( %kkym suwm_m b Tib´qior 1po¸ei7 d¶sar coOm tima t_m 2ta¸qym, 5peita kºcou peq· t/r hamat¾seyr aqtoO cemol´mou 5vg fti „oqd´py aqt` di¶kkaclai.“; „Von all dem ließ Tiberius aber den Gallus nichts wissen, sondern bewillkommnete ihn mit aller Freundlichkeit, und so widerfuhr dem Manne das Unglaublichste, was niemand sonst erlebte: An ein und demselben Tag, da er in Tiberius’ Haus bewirtet wurde und Freundschaft mit ihm trank, wurde er vom Senat verurteilt, so dass ein Praetor entsandt wurde, um ihn in Fesseln zu legen und zur Bestrafung abzuführen. Doch trotz solchem Einschreiten ließ Tiberius ihn nicht einmal sterben, obwohl Gallus selbst danach verlangte, sobald er von dem Senatsbeschluss gehört hatte. Er hieß vielmehr den Mann, um ihm möglichst grausam mitspielen zu können, guten Mutes sein, und teilte dem Senat mit, dass Gallus in freier Haft leben solle, bis er selbst in die Stadt zurückkehre. Damit wollte, wie gesagt, der Kaiser erreichen, dass der Unglückliche möglichst lange zugleich unter dem Verlust seiner Ehre und unter Angst zu leiden habe. Und so kam es denn auch: Er blieb nämlich dauernd unter Bewachung der jeweiligen Konsuln – nur wenn Tiberius selbst das Amt bekleidete, oblag den Praetoren diese Aufgabe –, und zwar geschah das, nicht um seine Flucht, sondern um seinen Tod zu verhindern. Der Gefangene hatte überdies keinen Gefährten oder Diener zur Gesellschaft, er konnte auch mit niemand sprechen und bekam keinen Menschen zu Gesicht, außer wenn er Nahrung zu sich nehmen musste. Diese Nahrung aber war so beschaffen und so bemessen, dass sie ihn weder irgendwie freuen oder kräftigen konnte noch sterben ließ. Das war in der Tat das Schlimmste von allem. In gleicher Weise verfuhr Tiberius auch mit vielen anderen Menschen. Er ließ zum Beispiel einen Mann aus seiner Umgebung in Fesseln legen und erklärte, als später von seiner Hinrichtung die Rede war: „Ich habe mit ihm noch nicht meinen Frieden gemacht!“ Übersetzung nach Veh, Cassius, 339 f.; zur Textstelle auch Krause, Gefängnisse, 187 nebst Anm. 42.

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c) Inhaftierung bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus Das Problem der unrechtmäßigen Inhaftierung wurde erstmals in einer der ersten Konstitutionen aus der Amtszeit Konstantins aufgegriffen. In dieser richtete sich Kaiser Konstantin an Aconius Catullinus, den damaligen consularis Byzacenae511. Die Konstitution, zu datieren auf den 3. November 313512, hat in drei Fragmenten Eingang in den Codex Theodosianus gefunden.513 Alle drei Fragmente beziehen sich generaliter auf die zu beachtenden Grundsätze zur Einlegung und Annahme einer Appellation, insbesondere jedoch auf eine angemahnte schnelle Prozessführung und den rechtmäßigen Umgang mit den Prozessparteien. Das in Cod. Theod. XI 30,2 überlieferte Fragment beinhaltet letztere Thematik: … minime fas est, ut in civili negotio libellis appellatoriis oblatis aut carceris cruciatus aut cuiuslibet iniuriae genus seu tormenta vel etiam contumelias perferat appellator; absque his criminalibus causis, in quibus, etiamsi possunt provocare, eum tamen statum debent obtinere, ut post provocationem in custodia perseverent … „… Wenn ein Berufungskläger in einer Zivilsache eine Appellationsschrift eingereicht hat, ist es nicht rechtens, dass er deshalb im Gefängnis leiden muss oder irgendeine andere Art von Unrecht oder Folter oder Misshandlung erleiden muss, abgesehen von Strafsachen, in denen sie [die Berufungskläger], auch wenn eine Berufung möglich ist, dennoch so behandelt werden müssen, dass sie nach eingelegter Berufung unter Bewachung bleiben …“

Konstantin kritisierte u. a., dass Prozessparteien eines Zivilverfahrens von Statthaltern ins Gefängnis gesperrt wurden, nachdem sie eine Appellation einlegen wollten. Die genauen Hintergründe des Gesetzes lassen sich nicht rekonstruieren. Allerdings ist von folgendem Szenario auszugehen: Eine oder mehrere unterlegene Prozesspartei(en) eines vorausgegangenen Zivilverfahrens wurden nach Appellationseinlegung sofort inhaftiert, gefoltert und/oder ihnen widerfuhr eine andere Art von iniuria514. Ob dies auf Veranlassung des Prozessgegners oder aus eigenem Antrieb durch den Statthalter erfolgte, bleibt unklar. Die Inhaftierung wurde in diesem Zuge als eine von mehreren unzulässigen Formen der statthalterlichen coercitio aufgezählt. Diese schränkte Konstantin im Hinblick auf Prozessparteien von Zivilverfahren nunmehr in einem entscheidenden Punkt ein: Die Einlegung einer Appellationsschrift, libellus appellatoris, sollte in einem Zivilverfahren (negotium civilis) gerade nicht zur Folge haben, dass die betreffende Prozesspartei des „erstinstanzlichen“ Prozesses aus diesem Grund in Beugehaft genommen wurde oder mit Gewalt rechnen musste.515 Im ersten Halbsatz (minime fas … appellator) wird fol511

Vgl. PLRE I, Aco Catullinus 2, 187. So Seeck, Zeitfolge, 177 – 251; so auch Barnes, Empire, 168 und Corcoran, Empire, 162; dem folgend auch Dillon, Justice, 233. Anders Rivière, État, 207 (3. November 314) ohne hierfür Gründe anzugeben. 513 Cod. Theod. IX 40,1, XI 30,2 und XI 36,1. 514 Das Gefängnis wird hier nach Rivière, État, 208 als „offense grave (genus iniuriae)“ eingestuft. 515 So auch in Cod. Theod. XI 30,4; siehe dazu unten S. 126. 512

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gender allgemeiner Grundsatz aufgestellt: Eine appellatio (bzw. provocatio516) in Zivilsachen war vom iudex a quo anzunehmen, ohne die Partei aus diesem Grund sofort u. a. zu inhaftieren. Diesem Grundsatz folgte die Ausnahme im zweiten Halbsatz (absque his … perseverent): Eine Inhaftierung (custodia) bei Berufungseinlegung in Strafsachen war möglich. Der Satzteil … in quibus, etiamsi possunt provocare, eum tamen statum debent obtinere … wird in der Literatur teils nicht diskutiert oder gar unterschiedlich interpretiert. Zuletzt nahm J. Dillon im Rahmen seiner Untersuchung zur konstantinischen Gesetzgebung an, dass Konstantin in diesem Zusammenhang eine Ausnahme regeln wollte, nämlich, dass die Inhaftierung ab Einlegung einer provocatio ausschließlich bei Verurteilungen wegen schwerer Verbrechen rechtmäßige Vorgehensweise war.517 Im Gegensatz dazu argumentierte J.-U. Krause, dass nach Cod. Theod. XI 30,2 eine Inhaftierung auch im Strafverfahren nur dann rechtens war, wenn der Berufungskläger keinen geeigneten Bürgen stellen konnte, und berief sich hierbei zurecht auf Cod. Iust. VII 62,12.518 Dem ist letztlich zu folgen. d) Bürgschaft oder Inhaftierung In Cod. Iust. VII 62,12 ist ebendiese konstantinische Konstitution mit einem weiteren Zusatz überliefert: … absque his criminalibus causis, in quibus, etiamsi possunt provocare, eum tamen statum debent obtinere, ut post provocationem in custodia, si fideiussoris idonei copiam non habeant, perseverent. „… abgesehen von Strafsachen, in denen sie [die Berufungskläger], auch wenn eine Berufung möglich ist, dennoch so behandelt werden müssen, dass sie nach eingelegter Berufung, wenn sie keinen genügenden Bürgen finden können, unter Bewachung bleiben.“

Voraussetzung für eine rechtmäßige Inhaftierung (custodia) in Strafsachen war es, dass der Berufungskläger keinen geeigneten Bürgen stellen konnte. Unabhängig davon, dass die Position eines Bürgen nicht unbedingt gerne eingenommen wurde, da

516 Eine Differenzierung zwischen Straf- und Zivilprozessrecht ist bezogen auf die beiden Termini appellatio und provocatio allein deshalb nicht sinnvoll, da die Römer für die Rechtsgebiete des Zivil- und Strafrechtes andere Grenzen zogen, als dies heute der Fall ist (Bleicken, Verfassung, 141). Auch die Quellen trennen hier in der Regel nicht. Die unterschiedlichen Begriffe appellatio und provocatio wurden zumeist synonym verwendet, vgl. Gradenwitz, Index, z. B. Dig. 49,1,10,1 (appellare), 49,4,1,10 (appellare), Dig. 49,1,1,3 (provocare), Dig. 49,4,1,1 (provocare); siehe auch Kaser, Zivilprozessrecht, 397, 402 mit Anm. 48. Siehe auch Bleicken, Ursprung; ders., Provocatio, RE 23,2, 1959, 2444 – 2463. Anders dagegen Long, Trial, 127, 130 nebst Anm. 86, der die provocatio nur mit Bezug zum Strafprozess einordnet. 517 So argumentiert Dillon, Justice, 242, bezüglich Cod. Theod. XI 30,2: „These regulations appear to apply also to appellants in criminal cases, with the exception of incarceration required for serious criminal offenses“. 518 Vgl. Krause, Gefängnisse, 69 nebst Anm. 29.

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sie mit einem Risiko für einen selbst verbunden war519, ist hier natürlich nicht abschließend beurteilbar, ob es sich bei dem zusätzlichen Halbsatz um eine nachträgliche Ergänzung der Kompilatoren des Codex Iustinianus handelt. Diese Formulierung ist jedoch ebenfalls in einem diokletianischen Erlass zu finden: Diokletian erließ im Jahr 294520 das als Cod. Iust. VII 62,6521 in den Codex Iustinianus eingegangene Gesetz, in welchem er sich unter anderem damit befasste, dass ein Berufungskläger in Strafsachen im Gefängnis bleiben sollte, sofern er keinen geeigneten Bürgen stellen konnte. Dies könnte jedenfalls dafürsprechen, dass es sich nicht um eine nachträgliche Ergänzung handelte. Festzuhalten ist für Cod. Iust. VII 62,6 und VII 62,12, dass eine Inhaftierung eines in einem Strafverfahren Verurteilten, der hiergegen Berufung einlegte, dann nicht in Frage kam, wenn er einen Bürgen stellen konnte. Dies bestätigt wiederum die auch sonst gängige Methode, zur Abwendung der Inhaftierung die Stellung einer Bürgschaft nachzuweisen.522 Der zweite Halbsatz von Cod. Theod. XI 30,2 ist in Kontext mit Cod. Iust. VII 62,6 sowie Cod. Iust. VII 62,12 zu stellen:523 Eine Inhaftierung war somit nach Cod. Theod. XI 30,2 weder in Zivil- noch Strafverfahren eine rechtmäßige gerichtliche Vorgehensweise – sofern in einem Strafverfahren die Stellung eines Bürgen nachgewiesen wurde. Die Tatsache, dass Kaiser Konstantin hier die Notwendigkeit sah, den consularis darauf hinzuweisen, dass zum einen jede Appellationseinlegung anzunehmen war 519 Vgl. Dig. 48,3,4 (Ulp.): Si quis reum criminis, pro quo satisdedit, non exhibuerit, poena pecuniaria plectitur. Puto tamen, si dolo non exhibeat, etiam extra ordinem esse damnandum …; „Wer den eines Verbrechens Angeschuldigten, für den er gebürgt, nicht gestellt hat, der wird in Geldstrafe genommen; ich glaube jedoch, dass, wenn er ihn arglistigerweise nicht ausliefert, er auch in einem Verfahren extra ordinem verurteilt werden müsse …“ Hiernach hatte der Bürge jedenfalls damit zu rechnen, eine Geldbuße auferlegt zu bekommen für den Fall, dass er den Angeklagten nicht stellen konnte. Augustinus beschreibt sogar die Möglichkeit, dass ein Bürge mit der Kapitalstrafe belegt wurde, die eigentlich auf den Angeklagten entfallen wäre (Aug. epist. 153,17 [CSEL 44,415]); vgl. dazu und zur Bedeutung, einen Bürgen stellen zu können – am Beispiel ägyptischer Papyri – auch Krause, Gefängnisse, 69 nebst Anm. 31; zur Schilderung von Gewalt gegen Bürgen in ägyptischen Papyri (z. B. Chr.Mitt. 71) vgl. zuletzt Bryen, Violence, 213, 276; ebenso ders., Visibility, 181 – 200. 520 Zur Datierung siehe Pergami, Appello, 15 – 22. 521 Cod. Iust. VII 62,6,3 (294): Super his vero, qui in capitalibus causis constituti appellaverint (quos tamen et ipsos vel qui pro his provocabunt non nisi audita omni causa atque discussa post sententiam dictam appellare conveniet), id observandum esse sancimus, ut inopia idonei fideiussoris retentis in custodia reis …; „Hinsichtlich der Personen aber, die in einer Kriminalsache Berufung eingelegt haben, was jedoch nur sowohl von Seiten ihrer selbst, als derer, die für sie Berufung einlegen, nachdem die Untersuchung vollständig beendet und erörtert und ein Urteil gefällt worden ist, geschehen kann, verordnen wir, darauf zu achten, dass im Fall es an einem passenden Bürgen ermangeln sollte, die Angeklagten unter Bewachung bleiben …“. Übersetzung nach Haller, Codex. 522 So Mommsen, Strafrecht, 305, der annimmt, dass die Übernahme einer Bürgschaft im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens ähnlich wie eine custodia libera aufzufassen ist. 523 Diesen Zusammenhang sieht Dillon, Justice nicht: Er diskutiert zwar Cod. Iust. VII 62,6,3 auf S. 224 – 225 im Rahmen der opinio iudicis, zieht jedoch keinen Zusammenhang mit dem im weiteren Verlauf seiner Untersuchung thematisierten Cod. Theod. XI 30,2 (im Kapitel „Judicial Hostility to Appeal“, ebd., 241 – 248).

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und zum anderen die Zivilprozesspartei in diesem Zusammenhang nicht ins Gefängnis geworfen werden sollte, zeugt davon, dass dies zumindest in Einzelfällen unter der Regentschaft des consularis praktiziert wurde. Hierbei könnte es sich auch um eine Methode gehandelt haben, sich einer unliebsamen Überprüfung des eigenen Urteils zu entziehen und deshalb die Einlegung eines Rechtsmittels zu unterbinden. Dies weitergedacht, konnte die Beugehaft mithin auch dazu dienen, der rechtlichen Ansicht des Provinzstatthalters als Richter der ersten „Instanz“ Nachdruck zu verleihen und die Reichsbewohner davon abzuhalten, sich gegen dessen „erstinstanzliche“ Entscheidungen zur Wehr zu setzen.524 Die Einkerkerung konnte als Garantie dafür fungieren, dass die Appellation zumindest zunächst nicht vom angegangenen iudex a quo auf deren Zulässigkeit überprüft werden konnte. Zudem konnte hierdurch gewährleistet werden, dass die potentielle Klägerpartei das nächsthöhere Gericht nicht persönlich aufsuchen konnte, um dort die Prüfung der Begründetheit, ergo der sachlichen Rechtmäßigkeit der Appellation, zu erreichen und gegen den sich missbräuchlich verhaltenden Richter mit einer entsprechenden Beschwerde in Form einer petitio525 vorzugehen. Dafür, dass es sich hierbei um folgerichtige Überlegungen handelt, spricht, dass die thematisierte richterliche Vorgehensweise, eine unliebsame Person ins Gefängnis zu werfen, um so die gewünschte Folge bzw. das gewünschte Ziel zu erreichen, neben der Justiz auch im privaten526 Bereich stattfand. 524 Teilweise ging dies jedoch soweit, dass einem verurteilten Straftäter das Recht zur Appellation an den Kaiser gänzlich verweigert wurde und die mit Urteil ausgesprochene Todesstrafe sofort vollstreckt wurde, ohne diesen vorher angehört zu haben. Dies sollte nach Cod. Theod. XI 36,1 jedoch nur im Ausnahmefall erfolgen, wenn in unzweifelhafter Weise (Geständnis oder sonstige klare Beweislage) die Schuld des Verurteilten bereits in der ersten ,Instanz‘ festgestellt worden war. Allein eine Zeugenaussage, die regelmäßig unter Folter abgegeben wurde, war gerade nicht zu einer abschließenden Schuldfeststellung geeignet. In einem solchen Fall war eine Appellation des Verurteilten zuzulassen. Dass dies nicht immer eingehalten wurde, zeigt Ammianus Marcellinus für den Fall eines vom Prätorianerpräfekten Maximinus verurteilten Senators Aginatius auf (Amm. 28,1,56): denique cum iam contigua morti tormenta ancillae voces expressissent obliquas, indicii fide parum plene discussa, Aginatius ad supplicium duci pronuntiatus abrupte, nec auditus, cum magnis clamoribus appellaret nomina principum, sublimis raptus occiditur …; „ Schließlich, als die schon fast tödliche Tortur ein paar mehrdeutige Worte von einer Dienerin erpreßte, ohne die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses gründlich zu prüfen, befahl er Aginatius, hastig und ohne ihn anzuhören zur Hinrichtung zu führen, obwohl er mit lauten Schreien an die Namen der Kaiser appellierte. Sodann wurde er getötet …“ Zur Bewertung der Schilderung von Gewaltszenen sowie der Problematik, dass gerade die tagtäglichen Abläufe bei Gericht von den antiken Autoren kaum thematisiert wurden siehe Reitzenstein-Ronning, Justice, 265 nebst Anm. 2. 525 Zur Petitionseinlegung und zum Petitionswesen allgemein siehe Anm. 32. 526 In einer Novelle Valentinians III. (Nov. Val. 32,1) ist beispielsweise die Rede von Amtsträgern, die einen Verkauf oder Ähnliches mit der Androhung von custodiae privatae erpresst haben; ähnliches Vorgehen wird auch thematisiert in Cod. Theod. IX 11,1 (388); Cod. Iust. IX 5,1 (486) und 2 (529); I 4,23 (529). Auch Privatleute unterhielten für das eigene Personal eigenständig Gefängnisse. Es ist aber davon auszugehen, dass das Problem ,illegaler Privatgefängnisse‘ in der Spätantike nicht besonders gravierend bzw. gravierender als zuvor war. Bereits zur frühen Kaiserzeit war es eine gängige Methode der Grundbesitzer, ihre Sklaven bzw. ihnen Unterstehende in eigene ergastula einzusperren, siehe Krause, Patronatsformen, 116

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e) Carcer und custodia Im Jahr 329 wandte sich Konstantin an das concilium der Provinz Africa. Nach Gothofredus und jetzt J. Dillon handelte es sich hierbei um eine Antwort auf eine Gesandtschaft bzw. Petition, die zuvor vom concilium Africae527 an den Kaiser entsandt worden war528(Cod. Theod. XI 30,15; 29. Juli 329529): Non recte iudices iniuriam sibi fieri existimant, si litigator, cuius negotium sententia vulneratum est, a principali causa provocaverit, quod neque novum neque alienum a iudiciis est. Ideoque post negotium principale discussum litigatori liceat litem iuris remedio sublevare; et iudices observare debebunt, ne appellatores vel in carcerem redigant, vel a militibus faciant custodiri. „Richter sollen nicht denken, dass gegen sie vorgegangen wird, wenn eine Prozesspartei, deren Fall durch ein Urteil verletzt wurde, hiergegen appelliert. Solch ein Vorgehen ist weder neu noch den Gerichten fremd. Deshalb, nachdem das Hauptverfahren geführt wird, soll die Partei das Recht haben, für die Heilung ihres Falles das Mittel des Gesetzes zu verwenden. Die Richter müssen diese Regelung beachten und sollen nicht die Appellierenden ins Gefängnis werfen oder unter militärische Bewachung stellen.“

Cod. Theod. XI 30,15 nimmt Bezug auf die frühere Konstitution Cod. Theod. XI 30,2. Konstantin stellte auch hier nochmals fest, dass eine Inhaftierung von Appellierenden eine gerade nicht rechtmäßige Vorgehensweise war. Die Prozessparteien hatten nach der ersten „Instanz“, nach Führung des Hauptverfahrens (negotium principale) die Möglichkeit, sich gegen das Urteil des „erstinstanzlichen“ Richters zu beschweren. Dies implizierte keine Feindseligkeit gegen den Richter oder einen persönlichen Angriff (neque alienum a iudiciis est) – auch wenn die angesprochenen iudices die Einlegung von provocationes wohl als ihnen zugefügtes Unrecht betrachteten. Er verwies nochmals darauf, dass es sich hierbei nicht mehr um ein neues nebst Anm. 159 mit weiteren Nachweisen: Sueton berichtete in seiner Augustusvita von Arbeitshäusern der Großgrundbesitzer, in die Freie wie Sklaven geworfen wurden (Suet. Aug. 32,1): … et rapti per agros viatores sine discrimine liberi servique ergastulis possessorum supprimebantur …; „… und Reisende wurden auf freiem Feld entführt und ohne Unterschied, ob Freie oder Sklaven, einfach in die Arbeitshäuser der Großgrundbesitzer gesteckt …“ Gefängnishaft gegen Widerstand schilderte auch Libanius. Diesem zufolge ließen Grundbesitzer diejenigen Kolonen, die sich ihnen widersetzten, von Soldaten teilweise sogar ins staatliche Gefängnis abführen, vgl. Lib. or. 45,5. Allerdings wählte auch Libanius eine solche Vorgehensweise, vgl. Lib. or. 47,13. 527 Die concilia provinciarum erfüllten in der nachdiokletianischen Zeit keine Kultaufgaben mehr, sondern fungierten als Verwaltungskörperschaften und entwickelten so ein gewisses Eigengewicht in der Provinzialverwaltung. Den concilia kam ein Petitionsrecht zu (vgl. Cod. Theod. XII 12,1; 355). Ihre Hauptaufgabe bestand immer mehr darin, Gesandte an den Kaiser zu entsenden, um entweder Dank oder Klagen der Provinzbewohner gegen die Statthalter an den Kaiser weiterzugeben oder Petitionen zu überreichen. Der Kaiser entschied über die Petitionen entweder in Form der leges edictales, in Form von Reskripten an die concilia selbst (wie hier) oder an die Bewohner bzw. Beamten der entsprechenden Provinz, vgl. dazu Kornemann, Concilium, in: RE, Sp. 827. 528 Vgl. Gothofredus, ad loc. So auch Dillon, Justice, 245. 529 Zur Datierung siehe Gaudemet, Constitutions, 70 nebst Anm. 153.

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Verfahren handelte (neque novum). Konstantin beschrieb die Vorgehensweise, Berufungskläger ins Gefängnis zu werfen (carcer) oder alternativ von Soldaten bewachen zu lassen (ne appellatores vel in carcerem redigant, vel a militibus faciant custodiri) als unzulässig. Insoweit schränkte Konstantin eine Inhaftierung nach Rechtsmitteleinlegung weiter ein: In Cod. Theod. XI 30,2 hatte er noch bestimmt, dass verurteilte Straftäter, die nach Abschluss von Strafverfahren, in denen es möglich war, Appellation einzulegen, – wohl aus Fluchtgefahr – weiterhin unter Bewachung stehen sollten (post provocationem in custodia perseverent).530 Eine Unterscheidung zwischen Straf- und Zivilverfahren wurde in Cod. Theod. XI 30,15 dabei nicht mehr gemacht. Hierfür sind zwei Gründe denkbar: zum einen ließe sich argumentieren, Cod. Theod. XI 30,15 thematisierte nur Zivilverfahren. Die Vorgehensweise in Strafverfahren wird überhaupt nicht angesprochen. Dies ist allerdings maßgeblich davon abhängig, welche Frage die Gesandtschaft an den Kaiser gestellt bzw. über welches Handeln des Statthalters sie sich explizit beschwert hatte.531 Diese zugrundeliegende Fragestellung/Beschwerde der Gesandtschaft ist uns allerdings nicht bekannt. Zum anderen ist auch hier denkbar, dass ein Teil des ursprünglichen Gesetzes – wie wohl auch bei Cod. Theod. XI 30,2 – der Kürzung durch die Kompilatoren zum Opfer gefallen ist. Unabhängig von Vorstehendem lässt sich aus Cod. Theod. XI 30,15 jedoch schließen, dass Konstantin hier eine weitere Einschränkung der Koerzitionsmaßnahme „Inhaftierung“ machen wollte: Eine Inhaftierung war in keinem (sowohl Zivil- als auch Straf-)Verfahren mehr eine rechtmäßige Vorgehensweise. Diese Annahme lässt sich wiederum damit belegen, dass Konstantin im weiteren Verlauf immer wieder Gesetze erließ, in denen er Zivil- und Strafverfahren gekoppelt behandelte und für beide eine generelle Aussage traf: „Alle Appellationen sind anzunehmen.“532 Dies könnte auch für die allgemeine Unrechtmäßigkeit einer Inhaftierung als Umgehungs- bzw. Bewachungsmaßnahme für den Fall der Rechtsmitteleinlegung gegolten haben. Abschließend ist zu Cod. Theod. XI 30,15 noch die Aussage von J. Hillner zu überdenken: Nach J. Hillner schrieb Konstantin vor, dass alle Appellationseinlegenden in custodia militiae gehalten werden sollten.533 Dies ist zu relativieren und die nötige Differenzierung vorzunehmen. Die custodia militiae war ebenso wie die Gefängnishaft (carcer) in Zivilverfahren gerade nicht anzuwenden. Eine Inhaftierung – gleich welcher Form – war gänzlich unzulässig. Dass Konstantin in Cod. Theod. XI 30,15 die custodia militiae zusammen mit der Bewachung im carcer anspricht, deutet lediglich darauf hin, dass beides an den Gerichten praktiziert wurde. Ob die Gesandtschaft aus Africa möglicherweise nachgefragt hatte, ob eine Inhaftierung im carcer oder eine custodia militiae im Fall der Rechtsmitteleinlegung 530

Ähnlich auch in Cod. Theod. XI 7,3 (320): gegen Steuerzahler, die nicht zahlen: Gefängnis? Hier: custodia militiae. Siehe dazu auch oben S. 118. 531 Zur Bearbeitung von Petitionen am Statthaltergericht im Speziellen siehe oben Anm. 32. 532 Hierzu die Ausführungen auf S. 122. 533 Vgl. Hillner, Prison, 122 nebst Anm. 14: „For those who had lodged an appeal against a civil sentence, Constantine prescribed military custody.“

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rechtmäßige Vorgehensweise sei, kann unbeantwortet bleiben. Konstantin verneinte beides. 2. Die Gewaltanwendung bei Rechtsmitteleinlegung im Codex Theodosianus Der potentielle Berufungskläger hatte in Einzelfällen nicht nur damit zu rechnen, dass er unzulässigerweise einer Inhaftierung ausgesetzt war, sondern insbesondere damit, dass ihm irgendeine andere Art von iniuria widerfuhr. Im Codex Theodosianus sowie Codex Iustinianus finden sich zu dieser Problematik drei Gesetze, in denen gezielt angesprochen wird, dass die Appellanten mit iniuria, vis oder contumelia bei Einlegung eines Rechtsmittels rechnen mussten. a) Officium und iniuria Im Jahr 314534 sandte Kaiser Konstantin einen Brief an Amabilianus535, praefectus annonae Africae (?), der in drei Fragmenten536 Eingang in den Codex Theodosianus gefunden hat: Cod. Theod. XI 30,4 (1. Juni 314): Officii cura est, ut omnes omnino appellationes, quaecumque fuerint interpositae, sollemniter curet accipere nec in recipiendis libellis aliquod genus iniuriae inferendum cuipiam existimet. „Es ist die Pflicht des Kanzleipersonals, sich formell darum zu kümmern, dass absolut alle Appellationen angenommen werden, die eingelegt werden und das Kanzleipersonal soll nicht, wenn sie die Klageschrift von irgendeiner Person erhalten, vorschlagen, dass demjenigen irgendeine Art von Unrecht angetan wird.“

Dass hier Probleme bei der Appellationseinlegung vor dem praefectus annonae adressiert wurden, verwundert. Insofern weicht er von den gängigen Adressaten ab, die sich mit kaiserlicher Kritik an der richterlichen Amtsführung sonst gemeinhin auseinandersetzen mussten. Gothofredus hat in diesem Zusammenhang angenommen, dass der praefectus annonae möglicherweise eine Appellation an den Stadt-

534 Die zeitliche Einordnung des Briefes ist uneinheitlich. Zum einen wird er ins Jahr 315 datiert, zum anderen bereits ins Jahr 314: Seeck, Regesten, 162, ordnet diesen ins Jahr 314 ein. Anders PLRE, Amabilianus, 49, worin die drei Fragmente alle – ohne Angabe von Gründen – auf den 30. Dezember 315 datiert werden. 535 PLRE, Amabilianus, 49. Nach Sirks ist die Addition Africae falsch, vgl. Sirks, Food, 293 – 294. Dies weitergedacht muss die Abkürzung Constanp. als Ort des Erlasses als eine Abkürzung für den Namen Konstantin und nicht für die Stadt Constantine in Africa verstanden werden. Anders dagegen Van Dam, Constantine, 180, nebst Anm. 41, der folgert, dass Amabilianus der erste belegte praefectus annonae Africae gewesen sei. 536 Vgl. Cod. Theod. XI 30,4, Cod. Iust. VII 67,2 (= Cod. Theod. XI 30,30) und Cod. Theod. XI 30,58.

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präfekten unterdrückt hatte.537 Dies stützte er auf die Konstitution Cod. Theod. XI 29,2 (318), die sich ebenfalls an einen praefectus annonae richtete und diesem gegenüber klarstellte, dass es nicht gestattet sei, eine Appellation durch den erklärten Vorwand zu umgehen, eine relatio an den Kaiser senden zu wollen.538 Unabhängig von der Frage der konkreten Hintergründe des Gesetzes, ist aufgrund des Adressaten davon auszugehen, dass der zugrunde liegende Fall nicht aus den gängigen Problemfeldern des Zivil- oder Strafrechts stammte, sondern es sich um ein „Verwaltungsverfahren“ gehandelt haben muss. Eine denkbare Grundthematik erschließt sich mit Blick auf den Inhalt der beiden weiteren uns bekannten Fragmente des Briefes, Cod. Theod. XIII 5,2 und XIII 5,3. Letztere beschäftigten sich mit der Nominierung von Schiffsführern zur Gilde der pistores und entsprechender Ausnahmeregeln. Die praefecti annonae waren primär für die Getreidelieferungen nach Rom zuständig. Sie waren extra ordinem utilitatis causa constitutus und mit richterlicher Gewalt durch den Kaiser ausgestattet.539 Der hier adressierte praefectus annonae Africae (?) beschäftigte sich folglich u. a. mit Rechtsstreitigkeiten durch den Verlust von Schiffen, die zum Transport von Getreide über weite Entfernungen eingesetzt wurden.540 Möglicherweise betraf Cod. Theod. XI 30,4 ein „Verwaltungsverfahren“ zur Nominierung von geeigneten Kandidaten für die Verschiffung des Getreides. Nach Beendigung des Verfahrens war es zur Einlegung einer appellatio gegen die Nominierungsentscheidung des praefectus annonae durch eine der Parteien gekommen. Konstantin bezog sich in Cod. Theod. XI 30,4 konkret auf ein Fehlverhalten des Kanzleipersonals. Er bediente sich hierbei gleicher Termini wie bereits in dem ein Jahr zuvor erlassenen Cod. Theod. XI 30,2541. In ähnlicher Manier verwies Konstantin auch in Cod. Theod. XI 30,4 darauf, dass alle Appellationen ohne Ausnahme – omnes omnino appellationes – vom Kanzleipersonal als zuständige Eingangsstelle beim Gericht des iudex a quo anzunehmen seien. Der zweite Teil des Satzes stellte weiter klar: Wenn irgendeine Person beim Kanzleipersonal seine libellus appella537

Vgl. Gothofredus, ad CTh. XI 30,4. Dem folgt Dillon, Justice, 242 f. Cod. Theod. XI 29,2 (318): Si quis iudicum duxerit esse referendum, nihil pronuntiet, sed magis super quo haesitandum putaverit, nostram consulat scientiam aut, si tulerit sententiam, minime postea, ne a se provocetur, relatione promissa terreat litigantes.; „Wenn irgendein Richter vorschlagen sollte, dass ein Fall an uns abgegeben werden soll, muss er keine Entscheidung fällen, sondern er soll Uns an dem Punkt befragen, an dem Zweifel aufkommen; wenn er aber eine Entscheidung fällt, soll er hiernach nicht die Prozessparteien von einer Appellation abhalten dadurch, dass er verspricht, eine relatio an Uns zu entsenden.“ 539 Vgl. Cass. Dio. 52,33,1. Zu seiner Stellung siehe allgemein Pavis D’Escurac, Préfecture; Eck, Praefectus annonae; Sánchez-Moreno Ellart, Gerichtsbarkeit. 540 Vgl. Jones, LRE, 486. 541 Vgl. Cod. Theod. XI 30,2 (313): … Ea custodita moderatione, ut eorum provocationes recipiantur, qui easdem non a praeiudicio interposuisse noscuntur aut etiam ante causam examinatam et determinatam …; „… Diese Bestimmung soll eingehalten werden, dass Provokationen von Personen angenommen werden müssen, wenn diese sie nicht gegen eine vorläufige Entscheidung oder bevor der Fall überhaupt verhandelt und beendet wurde, eingelegt haben …“. 538

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toris eingereicht hatte, sollte das Kanzleipersonal ihrem Vorgesetzten nicht „vorschlagen“, diesem deshalb irgendeine Art von Unrecht, genus iniuriae, anzutun. Der Terminus genus iniuriae wurde ebenfalls bereits in der Aufzählung der verschiedenen unrechtmäßigen Behandlungsweisen in Cod. Theod. XI 30,2 verwendet. Für eine grundlegende Definition von iniuria ist allerdings auf einen in den Digesten enthaltenen Kommentar Ulpians zurückzugreifen. Er liefert in seinem Werk de officio proconsulis folgende Definition von iniuria542 : Iniuria ex eo dicta est, quod non iure fiat: omne enim, quod non iure fit, iniuria fieri dicitur … interdum iniquitatem iniuriam dicimus, nam cum quis inique vel iniuste sententiam dixit, iniuriam ex eo dictam, quod iure et iustitia caret, quasi non iuriam … Iniuriam autem fieri Labeo ait aut re aut verbis: re, quotiens manus inferuntur: verbis autem, quotiens non manus inferuntur, convicium fit. Omnemque iniuriam aut in corpus inferri aut ad dignitatem aut ad infamiam pertinere … „Die iniuria ist so genannt worden, weil sie ohne Recht geschieht; denn alles, was ohne Recht geschieht, davon sagt man, es geschehe mit iniuria … Zuweilen nennt man auch eine Unbilligkeit eine iniuria; denn wenn jemand unbilligerweise oder unrechtmäßig ein Urteil gesprochen hat, werde ich sagen, dies sei eine iniuria, weil sie ohne Recht und Gerechtigkeit geschehen ist, gleichsam „nicht rechtens“ … Eine iniuria, sagt Labeo, geschieht entweder durch Tat oder Worte; durch die Tat jedes Mal, wenn Hände angelegt werden, durch Worte aber, jedes Mal wenn nicht Hände angelegt werden, sondern eine Beschimpfung geschieht. Und jede iniuria widerfährt entweder einem Körper, oder sie ist gegen eine Würde, oder gegen den guten Ruf gerichtet …“543

Die hoch- und spätklassischen Juristen verwendeten die Termini iniuria iudicis oder auch per iniuriam in der Regel, um auszudrücken, dass ein Urteilsspruch nicht rechtmäßig war.544 Dies betraf nicht zwangsläufig „korrupte“ Praktiken, sondern schlicht ein Urteil contra ius, gegen die geltende Rechtslage. Iniuria implizierte folglich nicht mehr als dass etwas gegen das Gesetz verstieß und konnte jede Handlung bezeichnen, die eine Verletzung der Gesetze darstellte. Im Kontext von Cod. Theod. XI 30,4 konnte iniuria damit auch unterschiedliche Bedeutungen haben. Allein durch den verwendeten Terminus aliquod genus iniuriae wird eine Bandbreite an verschiedenen Formen von iniuria angesprochen. Welche Form nunmehr zu der Konstitution Anlass gegeben hat, kann insofern nicht nachvollzogen werden, allerdings ist Verschiedenes, so zum einen die körperliche Gewalt als auch die Erhebung unrechtmäßiger Gebühren als iniuria denkbar: Für Ersteres spricht, dass in dem in zeitlichem Kontext stehenden Cod. Theod. XI 30,2 (313) genus iniuriae in Zusammenhang mit (körperlicher) Gewalt (Gefängnis, Folter, Misshandlung) genannt wurde. Cod. Theod. XI 30,2 bezog sich ebenso wie 542

Vgl. Dig. 47,10,1. Auch die iniuria-Definition des Paulus (Coll. 2,5,1) beruht wie Ulpians vorstehende Definition auf der Gleichsetzung Labeos, vgl. dazu schon Marchi, Risarcimento, 215. 544 So beispielsweise Dig. 15,1,50 (Papin.) (iudicis iniuria); Dig. 20,1,3,1 (Papin.) (per iniuriam); Dig. 40,7,29,1 (Pomp.) (iniuria iudicis); Dig. 46,8,22,4 (Iul.) (iniuria iudicis). Zur iniuria iudicis siehe auch Harries, Law, 158 – 160. 543

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Cod. Theod. XI 30,4 auf den Umgang mit Prozessparteien, die die Einlegung einer Appellationsschrift intendierten, wobei letzteres einen besonderen Fokus auf die Annahme der Appellation durch das Kanzleipersonal des iudex a quo legte. Mit den officiales traten die Parteien, die das „erstinstanzliche“ Urteil einer Überprüfung unterziehen wollten, jedenfalls primär in Auseinandersetzung.545 Die Argumentationslinie beider Erlasse ist ebenfalls ähnlich. Alle Appellationen sollten angenommen und dabei keiner Partei, die eine Appellation einzulegen gedachte, Unrecht angetan werden. War Konstantin in seinem Erlass aus dem Jahr 313 (Cod. Theod. XI 30,2) insofern noch spezifisch in der Aufzählung der verschiedenen Formen von Unrecht, hielt er sich ein Jahr später (Cod. Theod. XI 30,4) hierbei zurück. Dies ließe auch vermuten, dass der Adressat durchaus wusste, was mit „allen Arten von Unrecht“ – aliquod genus iniuriae – gemeint und untersagt war. Dass mit dem in Cod. Theod. XI 30,4 verwendeten Terminus iniuria Gewaltanwendungen impliziert waren, dürfte auch durch eine spätere Konstitution und deren Rezeption Bestätigung finden: Iniuria begegnet uns in ähnlichem Kontext 30 Jahre später in einer Konstitution Kaiser Constantius II. vom 24. Februar 343546 an Scyllacius547, vicarius Asiae (?), wieder: Die Nichtannahme von Appellationen und unterlassene Weitergabe an den iudex ad quem wurde wiederholt zum Thema und omnes praesides generaliter als die iudices a quo angesprochen, die mit ihrem Verhalten gegen die „geltenden Gesetze“ verstießen und die Appellierenden durch iniuria von der Appellationseinlegung abhielten (Cod. Theod. XI 30,22): Omnes praesides moneantur, ut, si quis provocatione sibi opus esse cognoscit, iuxta morem ordinemque legum accipiant libellos et ad eos qui consuerunt audire transmittant, nec appellantes iniuriarum adflictatione deterritos a suffragio necessariae defensionis expellant. Imponimus enim praesentis multae fascem, ut iudex, qui suscipere neglexerit, auri libras X et officium eius quindecim pendat. „Alle Statthalter der Provinzen sollen angehalten werden, dass sie, wenn irgendeine Person erkennt, dass sie gegen ein Urteil appellieren möchte, die Appellationseinlegung annehmen gemäß den Sitten und der Ordnung der Gesetze und sie müssen die Appellation an die Richter weitergeben, die die Appellation anhören. Sie sollen die Appellierenden auch nicht durch die Qual der iniuriae abhalten und sie um ihre Hilfe für eine notwendige Verteidigung bringen. Wir erheben hierfür eine Strafe, namentlich, dass wenn ein Richter eine Appel-

545

So auch Haensch, Korruption, 129. Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 192. 547 Vgl. PLRE, Band I, Scyllacius 1, 811. Scyllacius ist in den Codices allein in dieser Quelle belegt. Es wird vermutet, dass er zu diesem Zeitpunkt vicarius der Provinz Asia war. Der Annahme, dass es sich bei Syllacius nicht nur um einen Provinzstatthalter gehandelt habe, ist daher zu folgen, weil ihm die Verpflichtung übertragen wird, omnes praesides zur Einhaltung nachfolgender Regelungen zu ermahnen. Hieraus ergibt sich, dass er jedenfalls hierarchisch über den Provinzstatthaltern einzuordnen ist. Zu diesem und seiner Funktion als vicarius ausführlich Wiewiorowski, Judiciary, 186. Zur Einordnung als vicarius bereits Seeck, Briefe, 270. 546

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lation, die an ihn herangetragen wurde, aus Nachlässigkeit nicht annimmt, er zehn Pfund Gold und sein Kanzleipersonal 15 Pfund Gold zahlen soll.“

Constantius II. stellte omnes praesides in den Fokus seines Erlasses und führte klärend zu deren Pflichten als iudices a quo im Rahmen des Appellationsverfahrens aus: Wenn eine Prozesspartei gegenüber dem Gericht a quo mitgeteilt hatte, eine Berufung einlegen zu wollen, so sollte der zuständige praeses diese iuxta morem ordinemque legum in einem ersten Schritt annehmen und sie sodann an denjenigen, der über die Berufung entschied, weiterleiten. Die Statthalter sollten die Prozessierenden a suffragio necessariae defensionis gerade nicht durch adflictatio iniuriae abhalten und so die Verfahrensführung unterbinden. Auch noch im Jahr 343, folglich 30 Jahre nach den konstantinischen Hinweisen, bestand also die Notwendigkeit, hierauf wiederholt hinzuweisen. Dennoch bleibt auch hier undifferenziert, gegen welche Praktiken sich Constantius II. mit Verwendung des Terminus iniuria richtete. Zur Klärung dieser Frage kann möglicherweise ein Blick in das Edictum Theoderici548 weiterhelfen. Hierin wirkte Cod. Theod. XI 30,22 zumindest im lateinischen Westen nach. In dem Paragraph Edic. Theod. 55, der sich aus unterschiedlichen Titeln des Cod. Theod. XI,30549 zusammensetzt, ist uns die vorgenannte Konstitution Constantius II. mit weiteren Zusätzen überliefert: Omnes appellationes suscipiant ii provinciarum iudices, a quibus provocari potest: quando optimae conscientiae conveniat etiam superfluam appellationem sine dubitatione suscipere, dum de appellationis merito sacer possit perpensis legibus cognitor iudicare. Quod si iudex suam absentiam procuravit, ne appellatorios libellos accipiat: in locis celeberrimis, qui appellare voluerit, libellum de absentia iudicis et de sua appellatione exhibere debere censemus. Iudex autem, qui aut suscipere appellationem contempserit, aut certe in custodiam dederit, aut verberaverit, aut aliquo dispendio laeserit appellantem, decem librarum auri amissione feriatur, quas fisci compendiis cura sacri cognitoris praecipimus aggregari; officium quoque, cuius interest, mulctae legitimae subiacebit.

548 Das Edictum Theoderici ist nur bruchstückhaft handschriftlich überliefert, sodass sich die Kenntnis des Textes in erster Linie auf das von P. Pithou im Jahr 1579 edierte ,Edictum‘ stützt, welches jedoch – so ist mit Nehlsen, Rezension, 248, 257 sowie Kaiser, Authentizität, 205 f. anzunehmen – auf einem vermutlich vollumfänglich überlieferten Manuskript beruhte, das uns heute nicht mehr vorliegt. Das Edictum entstand wohl um das Jahr 500. Zur Datierung siehe die Zusammenstellung der Datierungsvorschläge bei Vismara, Edictum, 11 – 24, dazu Nehlsen, Rezension, 250, der anführt, dass auch die Möglichkeit bestehe, es handele sich um die Sammlung von zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlassener Einzeledikte; anders Liebs, Edictum, 1184 f. der eine Datierung „wohl um 500“ (ebd., 1184) für vertretbar hält. So auch Lafferty, Law, 35, der eine Datierung vor 512, jedenfalls aber um 500 vornimmt. Von einem großen Teil der Forschung wird das Edictum im Ostgotenreich unter Theoderich dem Großen verortet, so zuletzt König, Edictum; Lafferty, Law, 133 f.; ders., Edictum, 157 f.; Nehlsen, Rezension, 256; Mainer, Amtsträger, 112 f.; anders dagegen Vismara, der eine Zuweisung ins Westgotenreich vertrat; dem folgend Becker, Edictum, 802 f. 549 So ebenfalls auch Cod. Theod. XI 8,3 (409), dazu u. S. 137 nebst Anm. 580 sowie Cod. Theod. XI 30,30 (361), dazu u. S. 133 f. nebst Anm. 564. Zur Zusammensetzung siehe Dahn, Könige, Anh. zur 3. Abt., Edicte, 69 f.

I. Inhaftierung zur Unterbindung der Rechtsmitteleinlegung

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„Alle Appellationen nehmen die Statthalter, bei denen man Berufung einreichen kann, entgegen, zumal es der äußersten Gewissenhaftigkeit entspricht, auch eine überflüssige Appellation ohne Bedenken entgegenzunehmen, da über den Wert einer Appellation lediglich der Berufungsrichter (cognitor) nach genauer Abwägung der Gesetze urteilen kann. Sollte daher ein Richter für seine eigene Abwesenheit sorgen, um die Appellationsschriften nicht entgegen zu nehmen, so ordnen Wir an, dass der, der appellieren will, auf öffentlichen Plätzen eine Klageschrift bezüglich der Abwesenheit des Richters sowie seine eigene Appellation betreffend anbringen soll. Der Richter aber, der sich weigert, die Appellation entgegenzunehmen, den Appellierenden sogar in Gewahrsam nehmen ließ oder mit Ruten gezüchtigt oder durch einen anderen Nachteil geschädigt hat, soll mit dem Verlust von zehn Pfund Gold bestraft werden, die unter Aufsicht des kaiserlichen Berufungsrichters (cognitor) den Rechnungsbüchern des Fiskus beizufügen sind; auch das Kanzleipersonal, dem solches obliegt, soll der gesetzlichen Strafe unterworfen werden.“

Hier wurden die in Cod. Theod. XI 30,22 noch allgemein mit iniuria bezeichneten Praktiken des statthalterlichen Gerichts klar ausdifferenziert: Der Appellierende wurde in Haft genommen, gefoltert oder aliquo dispendio laeserit. Dies auf Cod. Theod. XI 30,22 sowie Cod. Theod. XI 30,4 übertragend, ließe sich der im selben Kontext stehende Terminus iniuria u. a. als Gewaltanwendung bzw. Inhaftierung interpretieren. Davon unabhängig geht J. Dillon550 davon aus, dass der Terminus iniuria in Cod. Theod. XI 30,4 insbesondere die Unterdrückung notwendiger Dokumente sowie die Erhebung unrechtmäßiger Gerichtsgebühren implizierte. Dies sei daran festzumachen, dass das officium in Cod. Theod. XI 30,4 klar als Urheber der iniuria adressiert wurde.551 Dass hier möglicherweise auch notwendige Gerichtsdokumentation und damit die Appellationseinlegung unterdrückt wurde oder übermäßige Gebühren bzw. Formen von Trinkgeldern552 von den officiales gefordert wurden, um eine Appellationseinlegung überhaupt erst zu ermöglichen, erscheint plausibel. Für die Einlegung von Appellationen wurden jedenfalls stets Gebühren erhoben. Inhaltlich war dies wohl mit den Kosten für die Ausfertigung der Dokumente gerechtfertigt. Allein die unzulässige Überhöhung derselben war es, was einer Regulierung bedurfte.553

550

Vgl. Dillon, Justice, 242. Dass die officiales in der Spätantike korrupter, bestechlicher und geldgieriger waren als ihre kaiserzeitlichen Vorgänger, ist vielfach einfach angenommen worden, siehe oben Anm. 49 und 54 sowie stellvertretend Macmullen, Corruption, 137 – 170. Dass dieser Annahme nicht zuzustimmen ist, hat Haensch, Korruption, gezeigt, der die bereits in der frühen Kaiserzeit bestehenden Korruptionspraktiken der officiales herausgestellt hat. 552 Zur Existenz von Prozessgebühren bzw. Trinkgeldern, die an die officiales gezahlt wurden siehe die Untersuchungen von Haensch, Korruption, 130 f. sowie ders., Fee, mit Angabe der bislang wenigen Literatur zu dieser Fragestellung. 553 So auch in Cod. Theod. XI 30,43 (384): Provocantibus multas nisi ex nostris decretis non patimur imponi.; „Wir dulden es nicht, dass den Appellierenden Bußen [Gebühren] auferlegt werden, wenn nicht aus unseren Dekreten.“ 551

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Ähnliche Überlegungen gelten für die Weitergabe entscheidungsrelevanter Dokumente554 oder die Registrierung der Appellation innerhalb der vorgegebenen Zeit.555 Der klare Fokus von Cod. Theod. XI 30,4 auf die officiales zeigt überdies: Das Verfahren einer Appellationseinlegung war entscheidend mitgeprägt durch das Kanzleipersonal des jeweiligen iudex a quo. Traditionell spielte sich das ganze Appellationsverfahren vor Richtern ab, jedoch lag der technische Ablauf in den Händen der Kanzleibeamten der Statthalter der Provinz. Im Prozessgang spielten neben den führenden Köpfen (primates) vor allem die Stenographen (exceptores)556 für die Abfassung und Ausfertigung der Schriftstücke eine besondere Rolle. Cod. Theod. XI 30, 4 thematisierte konkret, dass die Entscheidung darüber, was mit den Personen geschah, die eine Appellationsschrift bei Gericht – genauer: beim Kanzleipersonal des jeweiligen iudex a quo – einlegten, primär in den Händen der Kanzleibeamten lag. Die Tatsache, dass das Kanzleipersonal hier darauf hingewiesen wurde, die Berufungskläger nicht unrechtmäßig zu behandeln, hatte noch einen weiteren Hintergrund: Die Einlegung einer Berufung war – wie oben dargestellt – nicht in jedem Stadium des „erstinstanzlichen“ Verfahrens möglich. Die Kanzleibeamten hatten demnach die Zulässigkeit der vorliegenden Appellationsschrift zu prüfen. Mit jedem eingelegten libellus appellatoris war für das officium ein gewisser Arbeitsaufwand verbunden. Neben der Prüfung der Zulässigkeit in einem ersten Schritt war das Kanzleipersonal diejenige Stelle, die hiernach ihr Ergebnis dem iudex a quo vorlegte, welcher über das weitere Vorgehen entschied. Dieser Arbeitsaufwand könnte zusammen mit einem erhöhten Arbeitsanfall dazu geführt haben, dass aus diesem Grund bereits durch das officium versucht wurde, die Einlegung von Appellationen zu unterbinden bzw. von der Zahlung einer überhöhten Gebühr abhängig zu machen.557 Dies würde wiederum die These558 bestätigen, dass in der Spätantike 554

Dazu und zur Problematik der Unterdrückung entscheidungsrelevanter Gerichtsakten nachfolgend ab S. 157 f. 555 So auch Dillon, Justice, 242. 556 Zu diesen vgl. Lyd. mag. 3,6,9; Cassiod. var. 11,25; Cod. Theod. VIII 7,17 (385). Die exceptores waren Teil des spezialisierten Fachpersonals für Schreibarbeiten. Sie besaßen stenographische Kenntnisse. Zu diesen siehe Haensch, Capita, 35, 722; Stauner, Wandel, 165 f.; Teitler, Notarii. Die exceptores gehörten jedenfalls nicht zu den ebenfalls oft genannten executores. Es handelte sich nicht um eine besondere Form von Gerichtsbeamten. Der Terminus executores bezeichnete nicht einen Rang, sondern beschrieb die Funktion im Verlauf einer Entscheidung: ,Die mit der Umsetzung Betrauten‘. Es handelte sich nicht um Steuerbeamten, die teilweise jedoch auch so bezeichnet wurden, vgl. Cod. Theod. XI 36,1 (313). Kaser vermutet dagegen in den executores die obersten Beamten eines Büros, vgl. Kaser, Zivilprozessrecht, 444. Zur Hierarchie innerhalb eines Statthalterbüros siehe Palme, Officia, 104, wonach an der Spitze jedes Statthalterbüros ein princeps stand, gefolgt von einem cornicularius und einem commentariensis. Am unteren Ende der Rangleiter standen die exceptores et ceteri cohortalini. Zu den einzelnen Stabsmitgliedern der Kaiserzeit siehe Haensch, Capita, 710 – 724, insb. 714 ff. 557 Was wiederum die verbreitete Vermutung in der Literatur bestätigen würde, die von einer hohen Inanspruchnahme der statthalterlichen Gerichte in der Spätantike ausgeht, vgl. Krause, Gewalt, 235 nebst Anm. 1250, 1251 sowie 1251, der insofern auf die vielen Bagatellangele-

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aufgrund der hohen Kosten der Gerichtsprozesse immer weniger „zweitinstanzliche“ Verfahren tatsächlich eingeleitet bzw. durchgeführt wurden.559 Nicht zu vergessen ist dabei aber die Anzahl an Rechtsstreitigkeiten – sowohl in Kaiserzeit als auch in der Spätantike –, die bereits vor Beginn bzw. Einleitung eines („zweitinstanzlichen“) Verfahrens außergerichtlich verglichen werden konnten.560 b) Öffentlichkeit als Korrektiv Dass die Prozessparteien teils von metus vor den Gerichtsapparaten gezeichnet waren und infolgedessen in Einzelfällen auf eine Appellationseinlegung verzichteten oder dieses Argument gar als Vorwand für eigene Zwecke benutzten, zeigte sich auch in einer Konstitution Kaiser Julians aus dem Jahr 361. Kaiser Julians Gesetzgebung ist u. a. geprägt von dem Gedanken, den gerichtlichen Geschäftsgang zu beschleunigen, die Provinzstatthalter zu entlasten und Grenzen für mögliche Verfahrensverschleppungen aufzuzeigen.561 Daher finden sich in Julians Gesetzgebung mehrere Konstitutionen, die sich im großen Rahmen mit dem Thema Verfahrensverschleppung befassten. Er beschäftigte sich insbesondere auch mit dem Appellationsverfahren, zu welchem er mehrere Regelungen erließ, die teils auf den konstantinischen Vorbildern basierten562 und die die Beschleunigung des Verfahrens zum Gegenstand hatten.563 Einer dieser Erlasse aus dem Jahr 361 betraf auch die Anwendung von Gewalt im Zusammenhang mit der Appellationseinlegung.564 Kaiser Julian wandte genheiten hinweist, die beim Gericht des Provinzstatthalters landeten; ebenso vgl. Slootjes, Governor, 49 f. 558 So Di Segni/Patrich/Holum, Schedule, 293. Dazu siehe Haensch, Protokolle, 307 nebst Anm. 29. 559 Hier hat Haensch, Protokolle, 307 – 309, mit Blick auf die Evidenz der Gerichtsprotokolle in der Provinz Ägypten herausgestellt, dass mitunter die drohenden Kosten der Gerichtsprozesse dazu geführt haben können, dass immer weniger Verfahren bis zum Ende geführt wurden und diese stattdessen oftmals mit einer außergerichtlichen Einigung endeten. Ähnliche Überlegungen könnten auch für die Vorgehensweise des officium selbst sprechen, das durch verschiedene Methoden versuchte, die Verfahren anderweitig und vor allem vorzeitig zu beenden. 560 Zur dokumentarischen Evidenz siehe Haensch, Protokolle, 308 nebst Anm. 37. 561 Dazu auch Ensslin, Gesetzgebungswerk, 150 f. 562 Wie nunmehr von Brendel, Gesetzgebungswerk, herausgearbeitet. 563 Unter anderem Cod. Theod. XI 30,31 (363), welches Fristen zur Übersendung von Berichten beinhaltet und unten auf S. 182 f. besprochen wird. Ebenso auch Cod. Theod. I 22,3 (363), worin ein andersgelagerter Fall behandelt wird: Hierin werden Prätorianerpräfekten angewiesen, den Provinzstatthaltern bei einem gegen sie selbst angestrengten Verfahren die entsprechenden Akten zur Einsicht zu übersenden, damit diese sich auf Basis der Aktenlage auch gegen die Anschuldigungen verteidigen können. 564 Cod. Theod. XI 30,30 (= Cod. Iust. VII 67,2) geht nach der Summaria auf das konstantinische Gesetz Cod. Theod. XI 30,17 (331) zurück. Nach Gothofredus bezog sich Cod. Theod. XI 30,17 allein auf iudices ordinarii. Zu Cod. Theod. XI 30,17 und den weiteren uns bekannten Fragmenten des Edikts aus dem Jahr 331 siehe Dillon, Justice, 231 f. sowie 248 ff.

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sich in diesem Erlass an Decimius Germanianus565, der vermutlich für die Gallische Präfektur zuständig war (Cod. Iust. VII 67,2566 ; 17. Juni 361567): His, qui tempore competenti non appellant, redintegrandae audientiae facultas denegetur. Omnes igitur, qui contra praefectos urbi, magistros officiorum, magistros militum seu proconsules seu comites orientis seu vicarios seu praefectos augustales vel alium iudicem sub specie formidinis provocationem non arbitrantur interponendam, a revocanda lite pellantur. 1. Qui vero vim sustinuerunt contestatione publice proposita, intra dies videlicet legitimos, quibus appellare licet, causas appellationis evidenti adfirmatione distinguant, ut hoc facto tamquam interposita appellatione isdem aequitatis adminicula tribuantur. „Denjenigen, die innerhalb der angemessenen Zeit keine appellatio einlegen, wird die Möglichkeit zur Erneuerung der Rechtsentscheidung verweigert. Alle folglich, die unter dem Anschein der Furcht die provocatio gegen die Stadtpräfekten, gegen die magistri officiorum oder magistri militum, die Proconsuln, die comites Orientis, die Vicare, die kaiserlichen Präfekten oder irgendeinen anderen Richter nicht einlegen wollen, werden von einer Wiederaufnahme des Rechtsstreits abgehalten. 1. Wer aber Gewalt erlitten hat, soll, natürlich innerhalb der rechtmäßigen Frist für eine appellatio, eine öffentliche, beeidete Aussage (contestatio) tätigen und die Gründe für die appellatio durch eine unverkennbar eidlich bestätigte Stellungnahme darlegen, so dass, nachdem dies geschehen ist, dieselben Stützen der Gerechtigkeit wie bei einer eingelegten appellatio erteilt werden.“

Julian thematisierte hier gerade nicht primär das Problem der Gewaltanwendung durch die Provinzstatthalter, sondern legte entschieden fest, dass sich die Prozesspartei, die überlegt hatte, eine Appellation einzulegen, trotz einer möglichen Gewaltanwendung durch den zuständigen Richter, an die Zulässigkeitsvoraussetzungen zu halten hatte. „Furcht“ könnte gerade nicht als Vorwand dafür dienen, eine selbstverschuldete Fristversäumnis zu rechtfertigen. Wer „Angst“ hatte, gegen die Urteile der praefecti urbi, proconsules, comites orientis, vicarii, magistri officiorum, magistri militum, praefecti Augustalis oder eines alius iudex Einspruch einzulegen und deshalb die Frist zur Appellationseinlegung verstreichen ließ, verlor sein Recht 565

PLRE I, Decimius Germanianus 4, 392. Germanianus wird hier nicht direkt als praefectus praetorio Galliarum angesprochen. Zur Einordnung des Germanianus als praefectus praetorio Galliarum siehe nunmehr auch Brendel, Gesetzgebungswerk, 42 nebst Anm. 80, sowie S. 46. 566 So auch Cod. Theod. XI 30,30 (361); hierin werden jedoch nicht genannt: mag. officiorum, mag. mil., praef. Augustalis und alius iudex. Vgl. auch Gothofredus (1740), vol. 4, 250 f., wonach die Konstitution hauptsächlich den östlichen Teil des Reiches betraf. Nach Gelzer, Studien, stellt die Konstitution einen Beleg dafür dar, dass zu dieser Zeit der praefectus Aegypti mit den Diözesanvicaren nicht gleichgestellt war und dieser als vicarius für den comes Orienties agierte. Deshalb wurde in Cod. Iust. VII 67,2 in der Gegenüberstellung mit Cod. Theod. XI 30,30 der praefectus Aegypti zur Liste der Vertreter staatlicher Autorität addiert. 567 Zuletzt Brendel, Gesetzgebungswerk, 42 zu Cod. Theod. XI 30,30, der die Datierung Seecks, Regesten, 70 widerlegt mit dem Hauptargument, dass Germanianus für den Zeitraum zwischen der Entlassung des vorherigen Prätorianerpräfekten Nebridius und dem Eintreffen des Sallustius als Stellvertreter belegt ist (Amm. 21,8,1).

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auf eine erneute Verhandlung seines Falles. Grund hierfür war, dass der Kaiser keinem Richter gestattete, eine Appellation abzulehnen. Julian wies in Cod. Theod. XI 30,30 anscheinend mit Stolz darauf hin, dass es unter seiner Regierung kein Statthalter gewagt habe, einer Partei die Einlegung der Appellation zu verweigern.568 Vielleicht aus diesem Grund erließ Julian parallel zu Cod. Theod. XI 30,30 auch gesetzliche Vorschriften, die es den Parteien auf der anderen Seite untersagten, den Prozess durch eigene Maßnahmen zu verschleppen. Die Prozessparteien der ersten „Instanz“ bzw. die strafrechtlich Verurteilten versuchten teilweise auch durch Appellationseinlegung, die Vollstreckung des Urteils zu unterbinden bzw. zumindest zeitlich hinauszuzögern.569 Insbesondere die Anwälte wurden hier als treibende Kraft angesprochen.570 Diese Beobachtung bestätigend, finden sich zahlreiche in den Codex Theodosianus aufgenommene gesetzliche Regelungen, die die Problematik thematisieren, dass bereits vor Verurteilung von den Parteien versucht worden war, eine Appellation einzulegen.571 Allein die seitens der Partei behauptete, nicht näher konkretisierte Furcht vor den staatlichen Autoritäten reichte jedenfalls für eine Wiederaufnahme bzw. Umgehung des bestenfalls einzuhaltenden „ordnungsgemäßen Verfahrensweges über verschiedene Gerichte“572, mithin eines „Quasi-Instanzenzuges“573 nicht aus. Julian regelte allerdings eine Ausnahme: Sollte eine Prozesspartei, die eine Appellation einlegen wollte, davon durch Gewaltmaßnahmen abgehalten worden sein, so konnte sie in der vorgeschriebenen Zeit zur Appellationseinlegung eine öffentliche, eidlich oder durch Zeugen abgesicherte Erklärung abgeben, um dennoch eine Appellation einlegen zu können. Kaiser Julian stand den Prozessparteien hier unter Einhaltung der für die appellatio bestimmten Fristen die contestatio als Alternative zu. Wer also tatsächlich Gewalt erlitten hatte, war nicht daran gebunden, sich zunächst u. a. an den statthalterlichen Richter zu wenden, sondern hatte die Möglichkeit, seinen Fall zur 568

So jedenfalls Ensslin, Gesetzgebungswerk, 151. Vgl. dazu auch Krause, Gewalt, 274. 570 Vgl. Cod. Iust. VIII 35,12 (363): Imp. Iulianus A. ad Iulianum comitem Orientis. Si quis advocatus inter exordia litis praetermissam dilatoriam praescriptionem postea voluerit exercere et ab huiusmodi opitulatione submotus, nihilo minus perseveret atque praeposterae defensioni institerit, unius librae auri condemnatione multetur.; „Wenn ein Anwalt einen zu Anfang des Prozesses vergessenen, verzögerten Einspruch noch nachher einbringen will, und von dieser Hilfe abgewiesen, trotzdem darauf beharrt und auf seiner verkehrten Verteidigung besteht, soll ihm eine Strafe von einem Pfund Gold auferlegt werden.“ Übersetzung nach Haller, Codex; zu Cod. Iust. VIII 35,13 s. auch Geffcken, Julianus, 74,3 sowie Ensslin, Gesetzgebungswerk, 151. 571 Beispielsweise sei hier genannt Cod. Theod. XI 36,1 (315). Nach dieser Konstitution konnten keine Appellationen eingelegt werden, wenn diese nur den Versuch darstellten, die Bestrafung zu verzögern (ea potius differre tentare). Weitere Beispiele sind: Cod. Theod. XI 36, 3 (320), XI 36,5 (341), XI 36,11 (355), XI 36,15 (364), XI 36,16 (364) etc. 572 So formuliert Wankerl, Appello, 235. 573 Zum Begriff ,Instanz‘ sowie ,Instanzenzug‘ sowie dessen Verwendung siehe oben Anm. 71. 569

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nochmaligen Prüfung dem Kaiser bzw. dem Prätorianerpräfekten vorzulegen. Allerdings war auch die contestatio nur innerhalb der Appellationsfrist möglich. Julian schaffte mit dieser gesetzlichen Regelung gleichwohl keine Neuerung, sondern hielt sich an die Bestimmungen seiner Vorgänger, die bislang nur solche Fälle abgedeckt hatten, die in den Zuständigkeitsbereich hochrangiger Richter entfielen: In einem Erlass Kaiser Constantius II. (Cod. Theod. XI 34,2)574 aus dem Jahr 355 wurde die Möglichkeit geregelt, dass eine Prozesspartei Kaiser oder Prätorianerpräfekt direkt ansprechen konnte, falls die Einlegung einer appellatio gegen eine Entscheidung des Stadtpräfekten oder Proconsuls angedacht, aber aus anderen Gründen nicht möglich war.575 Auch Kaiser Konstantin adressierte in einem Fragment des Edikts aus dem Jahr 331 (Cod. Theod. XI 34,1) das Problem, dass Parteien aus Furcht eine Appellation gegen Entscheidungen der comites oder sonstiger vice sacra576-Rechtsprechender unterließen – setzte hierfür allerdings Strafen für die Partei fest.577 Die Öffentlichkeit, die in den Prozess der Rechtsmitteleinlegung einbezogen wurde, sollte als Korrektiv dienen. Dem bisherigen „Zwei-Personen-Verhältnis“ zwischen Prozessparteien und Gericht wurde damit ein neutrales, korrigierendes Element hinzugefügt: die Öffentlichkeit, die für den Fall eines „missbräuchlichen“ Verhaltens der Gerichte zum Einsatz kommen sollte.578 Allein in diesen Fällen mit 574 Vgl. Cod. Theod. XI 34,2 (355): Si a praefecto Urbi vel a proconsule fuerit dicta sententia eandemque provocatio minime fuerit subsecuta, praesidium postulare fas erit imminente iudicum metu territos se esse firmantibus. Nam quicumque necessitatis huiuscemodi laqueis beneficio meo eximi postulaverit, aut per me cognoscam aut excellentiae tuae impertiam notionem …; „Wenn ein Richterspruch vom Stadtpräfekten oder dem Proconsul ausgesprochen wird und keine Berufung folgt, ist es angebracht, dass die Prozessparteien, die behaupten, dass sie Angst haben und durch die Richter eingeschüchtert wurden, um Hilfe bitten. Ich persönlich werde dann die Fälle jener Personen anhören, die die Befreiung von diesen Zwängen durch meine Gnade gefordert haben, oder ich werde die Untersuchung Eurer Exzellenz übertragen …“ 575 Nach Brendel, Gesetzgebungswerk, 80 konkretisiert Kaiser Julian in Cod. Theod. XI 30,30 mithin die Bestimmung Constantius II. und ermöglichte eine genauere Definition des Ablaufs. 576 Dazu siehe u. S. 146 nebst Anm. 622. 577 Vgl. Cod. Theod. XI 34,1 (331): In insulam deportandi sunt cum amissione omnium facultatum, quae fisco addicendae sunt, ii, qui provocatione omissa litem reparare temptaverint contra comitum ceterorumque sententias qui vice nostra iudicaverint, firmantes se per metum appellationis omisisse auxilium. In qua re vel nostrum vel praefectorum praetorio ex nostra erit iussione iudicium.; „Sollte eine Person eine provocatio unterlassen und versuchen, eine Klage gegen die Entscheidungen der comites und gegen andere Personen, die Fälle als unsere Vertreter entscheiden, zu erneuern, und falls er versichern sollte, dass er die provocatio aus Angst nicht wahrgenommen hat, wird er auf eine Insel deportiert und wird seines gesamten Eigentums verlustig, das dem Fiskus zugesprochen wird. In einem solchen Fall wird die Verhandlung gemäß unserer Regelung von uns oder dem praefectus praetorio abgehalten.“ 578 Vgl. hierzu auch Sargenti, Studi, 225; Noethlichs, Beamtentum, 181 sowie 227 mit Anm. 482 mit parallelen Belegen aus der Gesetzgebung. Brendel, Gesetzgebungswerk, 394 fügt hier noch CIL VI 1770 hinzu.

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Ausnahmecharakter wurde eine Umgehung des primär zuständigen statthalterlichen Richters als rechtmäßige Alternative propagiert:579 Demjenigen, der Gewalt erfahren hatte, wurde durch den Kaiser angeraten, sich an eine andere Kraft zu wenden, nämlich die Öffentlichkeit. Vierzig Jahre später findet sich dieser Gedanke in einem städtischen Kontext wieder, indem Kaiser Honorius in Cod. Theod. XI 8,3 folgenden Missstand anprangerte: Städtische Amtsinhaber, und zwar defensor, iudex, curator oder magistratus verweigerten die actorum confectio. In einem solchen Fall sollte der Prozess dadurch erzwungen werden, dass der libellus am belebtesten Ort der Stadt veröffentlicht wurde. Die dann erscheinenden scribae, tabularii und andere Mitglieder des officium mussten aufgrund dieses libellus beim zuständigen iudex die Eröffnung des Verfahrens veranlassen. Taten sie das nicht, hatte sie der vigor iudiciarius – die „juristische Strenge“ zu treffen.580 c) Furcht vor contumelia Die Furcht vor den iudices a quo wurde seitens der Parteien im Rahmen von Appellationsverfahren jedoch nicht nur – wie u. a. in Cod. Theod. XI 30,30 thematisiert – als Vorwand gebraucht, sondern war eine real existierende Problematik, der sich auch Kaiser Honorius in einem Erlass vom 7. Januar 399581, gerichtet an Flavius Mallius Theodorus, zu dem Zeitpunkt praefectus praetorio Italiae582, annahm (Cod. Theod. XI 30,58583): 579

So auch bei Noethlichs, Beamtentum, 181. Cod. Theod. XI 8,3 (401): … Idem fieri notum est, ut provincialibus nostris contestari iniurias suas cupientibus actorum confectio a defensoribus, ordinibus, curatore et magistratibus denegetur idque gratia tribuatur eorum, quos rationabiliter intellexerint arguendos. Quod ne accidat, noverint cuncti provinciales, quotiens petitam sibi actorum copiam a memoratis viderint denegari, querellae propriae libellum conscriptum eo tenore quo fuerat contestandum in frequentioribus civitatum locis adfigendum conveniendosque scribas tabularios et cetera officia publica commonenda, per quae libellum colligi oportebit atque invitis supra memoratis personis sub actorum confectione ingeri, quorum quaestione fides possit inquiri: qua probata in eos, quos gestorum petitam confectionem negasse constiterit, vigor iudiciarius exeratur.; „Auch gestatten Wir, dass die Einwohner in Unseren Provinzen, wenn sie die erlittenen Beleidigungen oder Verletzungen anzuzeigen wünschen, die Vertreter aber denselben die gerichtliche Anhörung verweigern, das Recht haben sollen, ihre Beschwerde, ganz so abgefasst, wie sie sie hatten anbringen wollen, an den meist besuchten Orten der Stadt öffentlich auszustellen, die Schreiber und Notarien zu belangen und die öffentlichen Beamten aufzufordern, welche ihre Klage annehmen müssen, nicht minder auch wider Willen der oben erwähnten Personen ihre Beschwerden aktenkundig zu machen, damit der wahre Stand der Sache erörtert wird und, nachdem dies geschehen, gegen diejenigen, welche auf Ansuchen dennoch die erhobene Klage nicht haben zu den Akten nehmen wollten, die richterliche Strenge treffen könne.“ 581 Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 296. 582 Vgl. PLRE I, Theodorus 27, 900 – 902. Theodorus ist kein Unbekannter. Er war Christ, vgl. Aug. retract. 1,2,2. U. a. schrieb Claudian auf Theodorus einen Panegyricus, vgl. CIL VI 41380. 580

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

… Multorum querellis excitati hac lege sancimus, ut, si quis provocatione interposita suspecti iudicis velit vitare sententiam, in hac voce liberam habeat potestatem nec timeat contumeliam iudiciorum, cum et ab ipsa iniuria possit facile provocare, maxime cum a solis tantum praefectis non sine dispendio causae provocare permissum sit. Sciant igitur cuncti sibi ab iniuriis et suspectis iudicibus et a capitali supplicio ac fortunarum dispendio provocationem esse concessam. Quod si quis posthac iudicum appellatione emissa libellos quoque oblatos audire noluerit, viginti librarum auri dispendio multabitur; officium vero eius nisi huic pertinaciter restiterit atque actis ita contradixerit et, quid iure sit constitutum, ostenderit, viginti quinque libras auri largitionibus nostris inferre cogetur. „… Wer durch Einlegen der Berufung den Urteilsspruch eines zweifelhaften Richters vermeiden will, der soll dazu eine unbeschränkte Befugnis haben, ohne eine Misshandlung durch das Gericht befürchten zu müssen, da er gegen Ungerechtigkeiten leicht Berufung einlegen kann, und nur gegen die Entscheidungen des Präfekten in Berufung zu gehen, nicht ohne zusätzlichen Aufwand gestattet ist. Es möge daher jedermann wissen, dass ihm freisteht, gegen Ungerechtigkeiten und zweifelhafte Richter sowohl wegen Kapitalstrafen als auch wegen Vermögensnachteilen Berufung einzulegen. Aber wenn irgendein Richter hiernach, wenn eine Berufung eingelegt wurde, es verweigert, die Berufung anzunehmen (bzw. diese zu hören), soll er mit einer Geldstrafe von 20 Pfund Gold belegt werden und die Kanzleibeamten sollen 25 Pfund Gold Geldstrafe erhalten, wenn sie sich ihm nicht hartnäckig widersetzt haben, ihm zu den Akten widersprochen haben und was rechtens sei, ihm angezeigt haben.“

Wollte jemand dem Urteilsspruch eines iudex suspectus entgehen, dann war es ihm gestattet zu appellieren – ohne contumelia fürchten zu müssen. Der Terminus suspectus wurde allgemein in Zusammenhang mit Gesetzen, in denen es um Verstöße gegen das Gesetz ging, für zweifelhafte Motivationen gebraucht.584 In Cod. Theod. XI 30,58 wurde er für einen, wegen Befangenheit ablehnbaren, d. h. insbesondere nicht objektiv oder fehlerhaft agierenden, Richter verwendet.585 Die Appellation, sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen, war in jedem Falle bei einer seitens einer Prozesspartei als ungerecht aufgefassten „erstinstanzlichen“ Entscheidung sowie für den Fall eines iudex suspectus zu gestatten. In einem zweiten Schritt wurde für die 583 Vgl. auch Cod. Iust. VII 62, 21 (355), worin jedoch eine Strafhöhe von 30 Pfund sowohl für den Richter als auch für das Kanzleipersonal ausgesprochen wurde: Quoniam iudices ordinarii provocationes aestimant respuendas, placet, ut, si quis appellationem suscipere recusaverit, quae non contra exsecutionem, sed adversus sententiam iurgium terminantem fuerit interposita, triginta auri pondo cogatur largitionibus nostris inferre: triginta alia officio eius itidem soluturo, nisi ei pertinaciter restiterit atque actis contradixerit et, quid iure sit constitutum, ostenderit. 584 So auch in Cod. Theod. III 11,1 (si erunt uterque suspecti), III 32,2 (suspecti tutores), X 18,2,1 (per famam suspecta); ebenso auch in Nov. Val. 5,1 (440) (in rebus suspectis) hier allerdings bezogen auf wirtschaftliche Fragen. 585 Dies ist auch noch heute der Fall, wonach der iudex suspectus nach den geltenden deutschen Verfahrensordnungen abgelehnt werden kann, „wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen“, vgl. § 42 Abs. 2 ZPO (Zivilprozessordnung) und ebenso § 24 Abs. 2 StPO (Strafprozessordnung). Siehe zum heutigen Begriff des befangenen Richters beispielhaft die Untersuchungen von Vollkommer, Richter, insb. 60 f. sowie zuletzt Reimer, Verfahrenstheorie, insb. 259 – 263.

I. Inhaftierung zur Unterbindung der Rechtsmitteleinlegung

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Weigerung, eine Appellation in oben genannten Fällen anzunehmen, eine Geldstrafe in Höhe von 20 Pfund Gold für den Richter sowie eine um fünf Pfund höhere Geldstrafe für das officium festgelegt. Dem Kanzleipersonal wurde zudem eine Exkulpationsmöglichkeit eingeräumt. Das officium konnte sich der Strafe entziehen, wenn es alle ihm als „Kontrollorgan“ obliegenden Maßnahmen ergriffen hatte, um den Richter dazu zu bewegen, die Appellation anzunehmen. Darunter fiel hartnäckiger Widerstand gegen ihren Vorgesetzten und die „Belehrung“ darüber, was gesetzlich vorgegeben war. Darüber hinaus hatten die Kanzleibeamten für eine erfolgreiche Exkulpation in Cod. Theod. XI 30,58 einen „Kontrollvermerk“ anzufertigen. Sie sollten den Widerspruch, den sie gegenüber ihrem Vorgesetzten geäußert hatten, auch in der den Fall betreffenden Gerichtsakte protokollieren. Letzteres bestätigt in der Theorie wiederum die Annahme, dass eine Kontrolle durch die officiales realiter stattgefunden und auch schriftlich dokumentiert wurde.586 Die schriftliche Dokumentation des Widerspruches in den Akten diente – davon ist auszugehen – zu Beweiszwecken der ordentlichen Ausübung der auferlegten „Kontrollfunktion“. Die in Cod. Theod. XI 30,58 thematisierte Furcht vor ungerechter, schmachvoller Behandlung und Misshandlung (contumelia) konnte dazu führen, dass die unterlegene Partei der ersten „Instanz“ die Einlegung einer Berufung unterlassen hatte. Eine nicht näher bestimmbare Anzahl an potentiellen „zweitinstanzlichen“ Verfahren waren durch die kritisierten statthalterlichen Praktiken nicht durchgeführt bzw. erst gar nicht eingeleitet worden. Durch die Formulierung in hac voce liberam habeat potestatem nec timeat contumeliam iudiciorum wurde indirekt ein Verbot für die Statthalter ausgesprochen: Auf die Einlegung einer Appellation sollten sie keinesfalls mit contumelia reagieren. Generell waren abschreckende Maßnahmen ein wichtiges, legitimes Instrument der staatlichen Autoritäten, um gesetzestreues Verhalten zu fördern. Diese waren nicht – wie im modernen Verständnis – durchwegs negativ konnotiert. Sowohl Gewaltanwendung als auch furchteinflößende, abschreckende Methoden der Richter waren Charakteristikum einer guten Amtsführung.587 Libanius wies beispielsweise in seiner or. 45 explizit auf die begrüßenswerte Wirkung von derartigen Maßregelungen der Statthalter auf die Gesetzestreue der Gesellschaft hin.588 Die Maßnahmen sollten allerdings gerade nicht bei der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensweges auftreten. Es scheint, als hätten sich manche Richter gerade dieses Musters bedient, um sich durch Abschreckung eines Teils der Appellationseinlegungen zu entledigen und so die Verfahrensführung in „zweiter Instanz“ zu unterbinden. Diese Vorgehensweise war jedoch gerade nicht mehr Teil einer „guten 586 Dazu oben Anm. 145; s. zur Evidenz von Kontrollvermerken der officiales auf Schreiben (spät-)antiker Würdenträger Haensch, Kontrolle, 186. 587 So auch Slootjes, Governor, 60. 588 Lib. or. 45, 28: tout· d³ %qwomtor 5qcom t¹m l³m oqj emta f/m %niom p´lpeim !pohamo¼lemom, to»r d( %kkour t` vºb\ t_m Usym jat´weim.; „This is the governor’s task, to send to execution the man who does not deserve to live, and to restrain the rest by fear of a similar fate.“

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Amtsführung“ – sie ging über das zulässige Maß hinaus. Im Idealfall sollte keine Prozesspartei eine derartige Furcht vor dem Gericht empfinden, die in der Konsequenz zu einem Unterlassen der Rechtsverfolgung führte. Ähnlich betonte bereits Kaiser Diokletian im Jahr 293, dass ein Appellant, so er sich an die höhere „Instanz“ wenden wollte, nichts zu befürchten haben sollte.589 Das Problem der Furcht vor dem Richter und der dadurch unterlassenen Rechtsmitteleinlegung hatte auch in späteren Zeitperioden eine gewisse Bedeutung. Dies zeigt allein ein Blick in die Titelüberschriften der Codices: Zum einen wurde „De his qui per metum iudicis non appellaverunt“ als Titel 34 im Buch 11 des Codex Theodosianus, zum anderen „De qui per metum iudicis non appellaverunt“ als Titel 67 im Buch 7 des Codex Iustinianus aufgenommen und dergestalt überschrieben.590

II. Iudex appellatio non recipitur 1. Das Rechtsmittel der appellatio in der Spätantike Die Appellation591 (appellatio oder auch provocatio592) der Kaiserzeit bildete das zentrale Rechtsmittel zur Überprüfung von Gerichtsurteilen in Zivil- und Strafverfahren.593 Das Recht der frühen Kaiserzeit war anfänglich noch stark von den 589 Cod. Theod. VII 67,1 (293): Si contra te iure pronuntiatum est nec appellationis imploratum auxilium, intellegis adquiescere te statutis oportere. In sacro enim comitatu nostro timere nihil potuisti; „Wenn wider Dich rechtmäßiger Weise erkannt, und die Hilfe der Appellation nicht in Anspruch genommen worden ist, so siehst du ein, dass du Dich mit dem, was entschieden worden ist, begnügen musst. Denn in Unserem kaiserlichen Hof hast du Dich vor nichts zu fürchten gebraucht.“ 590 Dies merkt auch Wiewiorowski, Judiciary, 188, an. 591 Die Bezeichnung der Appellation ist diejenige, die sich in der Spätantike durchgesetzt hatte, sodass im Folgenden die kaiserzeitliche Berufung (appellatio more consultationis) – sofern es nicht für eine Abgrenzung sinnvoll erscheint – als appellatio oder Appellation bezeichnet wird. 592 Zu den Unterschieden in der Terminologie siehe oben S. 121 nebst Anm. 516 sowie unten Anm. 597. 593 So auch Omerzu, Prozeß, 84. Zum Rechtsmittel der appellatio ist viel geschrieben worden. Zur wichtigsten Literatur zum Institut der Appellation zählt zuletzt, beschränkt auf die Gesetze Konstantins, Dillon, Justice, hier: 214 – 250, der Kaiser Konstantin eine wichtige Rolle bei der Erneuerung des Appellationswesens und insbesondere der Herausbildung der appellatio more consultationis zuschreibt, insbesondere auch gestützt auf Gaudemet, Constitutions. Allgemein zum Rechtsmittel der Appellation siehe Orestano, Appello sowie die Studien von Litewski, Appellation(I), insb. 356 f.; ders., Appellation (II), ders., Appellation (III); ders., Appellation (IV), der ebenfalls zwischen der ,klassischen‘ Appellation und der späten Form der appellatio nach Vorbild der consultatio unterscheidet; so auch Padoa Schioppa, Ricerche; anders dagegen Pergami, der in seinen Studien die Existenz der appellatio more consultationis bezweifelt und nur eine Unterscheidung zwischen dem consultatio-Verfahren und dem klassischen Appellationsverfahren trifft: Pergami, Tema; ders., Appello; sowie zuletzt ders., Appellatio; zur Funktion des Proconsuls, insbesondere auch im Rahmen eines Appellationsver-

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rechtlichen Grundsätzen der ausgehenden Republik beeinflusst. Insbesondere vor diesem Hintergrund wurde in der Forschung594 ein genetischer Zusammenhang zwischen republikanischer595 und kaiserzeitlicher appellatio als auch provocatio angenommen. Gestützt auf Cass. Dio. 51,19,6 f.596 wird dies nicht zuletzt deshalb vertreten, da die kaiserzeitliche Appellation auf der Verleihung der tribunicia potestas an den Kaiser beruhe.597 Gleichwohl ist eine sichere Aussage darüber, wie der Entwicklungsprozess des uns aus den Digesten und Codices bekannten Instituts der fahrens, siehe Hurlet, Jurisdiction. Zu Urteilsstil und technischen Fragen in einzelnen kaiserzeitlichen Berufungsentscheidungen, zuletzt Wankerl, Appello. 594 Zunächst Mommsen, Staatsrecht III, 978 nebst Anm. 3, der davon ausging, die appellatio ad Caesarem habe sich aus den beiden republikanischen Rechtsmitteln appellatio ad tribunos und der provocatio ad populum gebildet. Jones, Caesar, 54, stützt sich in seiner Annahme („Under the principate, appeal to the people was converted into appeal to Caesar …“) wie Mommsen auf Cass. Dio. 51,19,6 f. ders., Jurisdiction, 69 („The judicial appellatio of the Principate was, as its name implies, derived from the Republican practice …“), 94. So auch Millar, Emperor, 509 f. 595 Mit den Begriffen appellatio und provocatio sind in der frühen Republik eindeutig zwei verschiedene Rechtsmittel gemeint, was an den jeweiligen Attributen zu erkennen ist. Die appellatio erscheint in der Regel als appellatio ad tribunos und die provocatio als provocatio ad populum. Erstere, die Appellation an die Volkstribunen (tribuni plebis) beruht auf deren Recht der intercessio (vgl. Bleicken, Verfassung, 102 f.). Der Volkstribun konnte das angefochtene Dekret aufheben, aber nicht abändern. Es handelte sich mithin um ein rein kassatorisches Rechtsmittel ohne reformatorische Wirkung. Die provocatio ad populum war ein weiterer Schutz der republikanischen Bürger vor Macht- und Amtsmissbrauch durch Magistrate und resultierte ursprünglich aus einem Hilferuf, mit dem Zeugen auf die Straße bzw. herbeigerufen werden sollten, um Unrecht abzuwenden, Liv. II 55,4 – 7 (473 v. Chr.) sowie Liv. III 56,5 (449 v. Chr.). Zur provocatio ad populum sowie zu den Provokationsgesetzen siehe Omerzu, Prozeß, 65 – 77 mit zahlreichen Literaturangaben sowie 77 – 82 zu den Provokationstheorien von Th. Mommsen, W. Kunkel, J. Bleicken und A. Lintott. 596 Cass. Dio. 51,19,6 f.: … ja· t¹m Ja¸saqa t¶m te 1nous¸am tµm t_m dgl²qwym di± b¸ou 5weim, ja· to?r 1piboyl´moir aqt¹m ja· 1mt¹r toO pylgq¸ou ja· 5ny l´wqir acdºou Blistad¸ou !l¼meim, d lgdem· t_m dglaqwo¼mtym 1n/m, 5jjkgtºm te dij²feim, ja· x/vºm tima aqtoO 1m p÷si to?r dijastgq¸oir ¦speq )hgm÷r v´qeshai …; „… Außerdem sollte Caesar lebenslang die tribunizische Gewalt besitzen, ferner das Recht haben, allen, die ihn um seinen Beistand angingen, innerhalb des Promeriums und außerhalb davon bis auf eine Meile weit Hilfe zu leisten, ein Privileg, wie es keinem Volkstribunen zustand; auch durfte er Rechtsfälle, in denen Berufung eingelegt worden war, entscheiden und vor allen Gerichtshöfen durch seine Stimme, wie Athene es getan hat, den Ausschlag geben …“ Übers. nach Veh, Cassius Dio IV, 32. 597 Vgl. Garnsey, Lex Iulia, 185 – 187; dessen Argumentation weiterführend Long, Trial, 129 f.; ebenso Lintott, Provocatio 263 – 267 sowie Tajra, Trial, 147. Auf die strukturellen und formellen Probleme einer solchen Argumentation hat zuletzt Hurlet, Origines, 30 hingewiesen. Dahingehend, dass dem der fehlende Devolutiveffektes und fehlende reformatorische Charakter der intercessio der Volkstribunen, aber auch die Verbindung zur provocatio ad populum entgegenstünde, argumentiert Omerzu, Prozeß, 104 f. Sie verweist insofern zum einen auf Litewski, Appellation (I), 66, der ebenfalls bereits Zweifel an einem Zusammenhang zwischen der Appellation und der intercessio der Volkstribunen äußerte, zum anderen auf Bleicken, Senatsgericht, 128, der in der kaiserzeitlichen Appellation eine neue Form des Rechtsmittels sieht. Dass aber „die Appellation der Kaiserzeit […] ein völlig neuartiges Rechtsmittel [war], das in keinerlei Verbindung zu den Berufungsformen der Republik stand“, wie Omerzu, Prozeß, 105 meint, kann allein auf Basis der mageren Quellenlage nicht gefolgert werden.

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Appellation im Detail verlief, aufgrund der äußerst schmalen Quellenlage nicht möglich. Als Gründe für Entstehung und Weiterentwicklung der appellatio werden u. a. eine Anlehnung an das jedem römischen Bürger seit alters zustehenden Recht der provocatio ad populum598, die delegierte Rechtsprechung des Kaisers in den Provinzen sowie das außerordentliche Kognitionsverfahren genannt. Neben der Bündelung diverser Amtsvollmachten in der Person des Princeps hatte sein Einfluss im Bereich der cognitio extra ordinem konstant zugenommen.599 Die Entwicklung hin zur kaiserzeitlichen Appellation war mithin geprägt von freiwilliger Unterordnung der eigenen Unabhängigkeit unter die allmächtige Autorität des Kaisers600, der Schaffung von Präzedenzfällen601 und einer nach und nach erfolgten Reglementierung. In dieser Form ist das Rechtsmittel der appellatio seit Diokletian in den Quellen zu finden.602 Es hatte Devolutiv- und Suspensiveffekt: Der Fall wurde an das höhere Gericht gehoben, dieser zur finalen Entscheidung übergeben und hatte zur Folge, dass die Vollstreckung des Urteils bis zur Entscheidung in der zweiten „Instanz“ ausgesetzt blieb. In der Regel war eine Appellation nur gegen eine Entscheidung in Form eines Urteils möglich. Nur im Ausnahmefall war die appellatio gegen Zwischen- oder Exekutionsbescheide zulässig.603 Im Grundsatz sollten die Berufungskläger nec ab articulis praeiudiciisque provocare (Cod. Theod. XI 36,1)604. Eine 598

So zuletzt Kirner, Strafgewalt, 52 – 59. Zur Entwicklungslinie zuletzt Hurlet, Origines, 30 – 36; ausführlich auch Omerzu, Prozeß, 106, gestützt auf Bleicken, Senatsgericht, 124 – 157; vgl. auch Fournier, Sparte, 135 – 137; ders., Tutelle, 514 – 527. Wankerl, Appello, 235 hat in ihrer Untersuchung zu Appellationen an und Berufungsentscheidungen der Kaiser abschließend herausgestellt, dass eine Delegation bestimmter Verfahren bereits von Kaiser Augustus bekannt ist und wir von den Kaisern Vespasian und Mark Aurel wissen, dass sie Appellierende auf den „ordnungsgemäßen Verfahrensweg“ verwiesen. Von dieser „Grundhaltung“ habe es aber dennoch weiterhin Ausnahmen gegeben. Die Möglichkeit, sich direkt an den Kaiser zu wenden, bestand weiterhin. 600 Zu den Ursprüngen der kaiserlichen Jurisdiktion zuletzt Hurlet, Origines, mit umfangreichen Literaturangaben. 601 Vgl. Bleicken, Senatsgericht, 142 f., der annimmt, außerordentliche Rechtshilfe des Kaisers habe Präzedenzfälle geschaffen, woraus sich nach und nach die appellatio herausbildete, die schließlich in jedem Prozess Anwendung fand. 602 Zur Abgrenzung der ,klassischen‘ Appellation zum Verfahren der appellatio more consultationis siehe zuletzt Dillon, Justice, 216 ff. Pergami, Appello, 11 – 200, dagegen bestreitet die Existenz des appellatio more consultationis-Verfahrens. Hierzu und zu weiteren Ausprägungen des Streites siehe unten S. 174 f. 603 Vgl. beispielsweise Dig. 49,5,2 (Scaevola): Ante sententiam appellari potest, si quaestionem in civili negotio habendam iudex interlocutus sit, vel in criminali, si contra leges hoc faciat.; „Vor dem Urteil kann appelliert werden, wenn ein Richter in einem Zivilverfahren einen Zwischenbescheid auf Anwendung der peinlichen Befragung erlassen hat, oder in einem Strafverfahren, wenn dies gegen die Gesetze geschieht.“ Zur interlocutio siehe unten Anm. 704 sowie Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 608: Vor einer sententia definitiva konnte nicht appelliert werden. 604 Vgl. Cod. Theod. XI 36,1: … Qui de variis litibus causisque dissentiunt, nec temere, nec ab articulis praeiudiciisque, nec ab his, quae iuste iudicata sunt, provocare debebunt …; 599

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Beschränkung auf bestimmte Anfechtungsgründe existierte dagegen nicht. Eine normale Vorgehensweise in einem Appellationsverfahren war zumeist wie folgt: Nach einem Urteilsspruch in erster „Instanz“, der schriftlich erfolgte und durch den Richter verlesen worden war, konnte die Appellation mündlich zu Protokoll gegeben oder schriftlich durch libelli appellatorii605 eingelegt werden. Hiernach war der zuständige iudex a quo verpflichtet, die Frage der Zulässigkeit der Appellationseinlegung zu prüfen und einen Bericht über den durchgeführten Prozess anzufertigen, die sog. opinio (oder auch consultatio).606 Die Streitsache wurde somit dem Kaiser nicht von einer der Prozessparteien, sondern vom „erstinstanzlichen“ Richter mittels eines Berichts, vorgelegt. Der Bericht diente der Erleichterung der Überprüfung des „erstinstanzlichen“ Verfahrens durch das Berufungsgericht. Gegen diesen Bericht konnten die Parteien wiederum ihre Auffassungen vorbringen. Die Aufgabe des iudex ad quem war es, die eingelegte appellatio daraufhin zu überprüfen, ob die inhaltlich geltend gemachten Ansprüche sachlich rechtmäßig waren und infolgedessen das Urteil der ersten „Instanz“ nicht korrekt war. Die zweite „Instanz“ war damit maßgeblich von der in dem übersandten Bericht enthaltenen Zusammenfassung des Verfahrens durch den „erstinstanzlichen“ iudex a quo abhängig. Der Prozess wurde in der zweiten „Instanz“ nicht erneut durchgeführt, sondern beschränkte sich auf die Prüfung möglicher Verfahrens- und Rechtsfehler der ersten „Instanz“. Eine Entscheidung erfolgte in der zweiten „Instanz“ sodann nach Beratung im consistorium principis durch kaiserliches Reskript.607 Ein funktionierendes Appellationswesen war entscheidend für die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes. Hieraus lässt sich auch die Bedeutung für den spätantiken Staat und dessen Oberhaupt, den Kaiser, ermessen. Die Funktionalität des „Instanzenzuges“ setzte allerdings auch eine gesetzeskonforme Anwendung durch die zuständigen iudices a quo und ad quem voraus, sowie die Kenntnis der Parteien vom Ablauf des Verfahrens, ihren Rechten und verbotenen Umgehungsweisen. Die appellatio diente nicht zuletzt als eine Art Kontrollinstanz über das Handeln der iudices a quo. Die reale Bedeutung der appellatio lässt sich u. a. mit einem Blick in das Werk De appellationibus des Juristen Ulpian erahnen (Dig. 49,1,1pr.)608 : „… Solche Personen, die in unzähligen Klagen und Fällen anderer Meinung sind, sollen nicht voreilig aus Abschnitten und gegen eine Zwischenentscheidung oder gegen eine Entscheidung, die rechtmäßig ergangen ist, appellieren …“ 605 Die libelli appellatorii stehen stets im Plural, da es sich hierbei um zwei Abschriften, u. a. eine für den Prozessgegner handelte, vgl. Litewski, Appellation (I), 81 nebst Anm. 180. 606 Zur opinio und der entsprechend ,alternativ‘ verwendeten Termini siehe unten Anm. 744. 607 Vgl. Wankerl, Appello, 58; Kaser, Privatrecht, 621 f. 608 Das 49. Buch der Digesten ist für das Appellationswesen eine der Hauptquellen. Es beschäftigt sich ausschließlich mit der Appellation. Zu den Rekonstruktionsproblemen für die Praxis der appellatio in der Zeit des frühen Prinzipats mit Blick auf den großen zeitlichen Abstand bis zur Fertigstellung der Digesten sowie zahlreicher Interpolationen siehe Liebs, Recht, 92 – 103; Kunkel, Rechtsgeschichte, 146 – 155, insb. 151 – 155.

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Appellandi usus quam sit frequens quamque necessarius, nemo est qui nesciat, quippe cum iniquitatem iudicantium vel imperitiam recorrigat … „Wie häufig, und wie notwendig der Gebrauch der Appellation sei, ist jedermann bekannt; weil sie nämlich die Unbilligkeit oder Unwissenheit der Richter wieder gut macht …“

Die Häufigkeit und Notwendigkeit der appellatio kann auch an der Zahl der Appellationsgesetze, die von den Kompilatoren allein in Buch XI, Kapitel 30 des Codex Theodosianus aufgenommen wurden (insgesamt 68), gemessen werden. Das Rechtsmittel der Appellation war durch Kaiser Konstantin modifiziert und die zweite „Instanz“ reorganisiert worden.609 Konstantin verband damit nicht zuletzt eine ideale Vorstellung des „korruptionslosen“ Gerichtswesens und einer systeminternen Kontrolle: „[…] Constantine was determined that the tribunals of his realm would be free from corruption, and that when someone felt the need, he or she could without hesitation appeal a prejudicial sentence.“610 Diese Intention, der unterlegenen Prozesspartei die Möglichkeit zu geben, eine für diese unbefriedigende, „erstinstanzliche“ Entscheidung einer Überprüfung unterziehen zu können, wird in mehreren konstantinischen Gesetzeserlassen explizit angesprochen. Als Beispiel diene hier Cod. Theod. XI 30,11,1 (30. Dezember 313), worin der Adressat Maximus611 (wohl Stadtpräfekt) sich geweigert hatte, Appellationen anzunehmen. Dies sei unrechtmäßig, denn „was sei schlimmer, als jemandem ein versprochenes Recht nicht zu gewähren und damit die Nützlichkeit der Provokation in Frage zu stellen?“612 Weiter heißt es: … Quasi vero appellatio ad contumeliam iudicis, non ad privilegium iurgantis inventa sit vel in hoc non aequitas iudicantis, sed litigantis debeat considerari utilitas. „… Als ob tatsächlich die appellatio zur Beleidigung des Richters erfunden worden sei und nicht als Privileg der Prozesspartei (und) in dieser solle nicht die „Gerechtigkeit“ für den Richtenden, sondern es müsse der Nutzen für den Prozessierenden betrachtet werden.“

Konstantin wurde nicht müde, einzelne Richter auch darauf hinzuweisen, dass sie durch die Berufungskläger nicht persönlich angegriffen wurden.613 In einem Gesetz aus dem Jahr 326 wandte er sich an Julianus614, praefectus urbis Romae, thematisierte iudices inferioris gradus und schilderte, dass diese sich – verärgert darüber, dass gegen ihre Urteile eine provocatio eingelegt worden war – mit relationes non ne609 Dillon, Justice, stellt hierzu auf S. 214 – 250 die These auf, dass sich allein die konstantinische Gesetzgebung ausführlich und grundlegend mit der appellatio beschäftigt hätte. Die Gesetze der nachfolgenden Kaiser hätten sich im Gegensatz dazu auf Detailmodifikationen beschränkt. 610 Peachin, Iudex, 198. 611 Vgl. PLRE I Maximus 48, 590. 612 So übersetzt Noethlichs, Beamtentum, 178 folgende Stelle aus Cod. Theod. XI 30,11,1 (313): … Quid enim acerbius indigniusque est, quam indulta quempiam potestate ita per iactantiam insolescere, ut despiciatur utilitas provocationis, opinionis editio denegatur, refutandi copia respuatur? 613 So in Cod. Theod. XI 30,15, zu Text und Interpretation siehe vorstehend S. 124 f. 614 Vgl. PLRE I, Amnius Anicius Iulianus 23, 473 f.

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cessariae et insolentes an den Kaiser gewandt hätten.615 Ausgehend von Konstantins Vorwürfen ist anzunehmen, dass es immer wieder thematisiert wurde, dass „erstinstanzliche“ Richter, die als iudices a quo die zuständige Stelle waren, um eine appellatio gegen das Urteil einzulegen, diese u. a. als Unrecht gegen sich selbst empfanden.616 Letzterer war aber wohl nur einer von vielen Gründen, die einen „erstinstanzlichen“ Richter faktisch dazu bringen konnten, eine Appellation nicht anzunehmen. Plausibel sind auch hier Gründe wie die in einem der vorstehenden Kapitel behandelte gratia iudicum oder die Angst vor Überprüfung und Kontrolle durch die zweite „Instanz“.617 D. Slootjes nimmt insofern an: „With the short term of office and the possibility of appeals […] it is understandable that governors might try to stall a case and avoid rendering a judgment, so that there would not be enough time for the provincials to issue an appeal during their term.“618 Konsequenterweise richteten sich die kaiserlichen Regelungen nicht nur gegen einzelne Richter, die sich gegen ein „neues“ Verfahren sträubten, sondern auch gegen die Parteien, die die Möglichkeit, gegen das Urteil des Statthalters appellieren zu können, für ihre eigenen Zwecke nutzten, um so beispielsweise die Strafvollstreckung hinauszuzögern oder das Verfahren gegen eine ärmere gegnerische Partei in die nächste „Instanz“ zu verschleppen und so zu gewinnen. Die Berufungskläger sollten sich zum einen an den ordnungsgemäßen Verfahrensweg halten, zum anderen auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Appellation beachten. Der dies nicht berücksichtigende Berufungskläger sah sich durch die nunmehrigen Strafvorschriften Konstantins für die Umgehung des ordnungsgemäß einzuhaltenden Verfahrenszuges mehreren Hürden sowohl bei Einlegung der Appellation als auch bei negativem Ausgang des Appellationsverfahrens gegenüber: Er hatte folglich auch die Gefahr abzuschätzen, mit infamia619 bestraft zu werden, sofern seine Appellation als grundlos vom höheren Gericht verworfen werden sollte. 615 Vgl. Cod. Theod. XI 30,13 (326): Nonnulli iudicum inferioris gradus a sententiis suis interponi provocationis auxilium aegre ferentes id efficiunt, ut nobis eorum relationes non necessariae et insolentes ingerantur …; „Einige der Richter niedrigeren Ranges, verärgert darüber, dass das Hilfsmittel der provocatio gegen ihre Urteile eingelegt wurde, verursachen es, dass Uns unnötige und lästige relationes aufgedrängt werden …“ 616 So auch Kaiser Constantius II. an Albinus, vicarius Hispaniarum (PLRE I, Albinus 1, 33) in Cod. Iust. VII 62,20 (341): Et in maioribus et in minoribus negotiis appellandi facultas est. Nec enim iudicem oportet iniuriam sibi fieri existimare eo, quod litigator ad provocationis auxilium convolavit.; „Die Befugnis zur Berufung steht sowohl in größeren als auch in geringeren Sachen zu, denn der Richter soll nicht glauben, dass ihm dadurch ein Unrecht geschehe, weil eine streitende Partei zur Berufung Zuflucht genommen hat.“ Übersetzung nach Haller, Codex. 617 Zum Gedanken, Appellationen seien aus Gründen der ,Korruption‘ oder der Kollusion mit einer der Prozessparteien nicht angenommen worden, siehe die Ausführungen von Pergami, Appello, 52 nebst Anm. 15, der wiederum De Marini Avonzo, Giustizia, 219 zitiert. Dillon behandelt diese Thematik ebenfalls, Justice, 244 – 245. 618 Slootjes, Governor, 34. 619 Vgl. Cod. XI 30,16 (331): Imp. Constantinus a. ad universos provinciales … Superatus enim si iniuste appellasse videbitur, lite perdita notatus abscedet …; „Kaiser Konstantin an alle

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Formal gesehen war der Kaiser derjenige, der die appellationes entgegennehmen sollte, somit der „ultimate guarantor“620 für eine gerechte finale Entscheidung der Streitsache. Faktisch konnte sich der Kaiser jedoch nicht mit allen Appellationen befassen, sodass vielfach in Gesetzen der Hinweis darauf zu finden ist, dass sich die Prozesspartei, die eine Appellation einzulegen gedachte, zunächst an eine andere zuständige Stelle wenden sollte und erst danach der Weg zum Kaiser möglich war.621 Daneben delegierte der Kaiser Verfahren an hohe „Staatsfunktionäre“, die die Befugnis hatten, vice sacra622, mithin an Kaisers statt, ein Verfahren zu leiten und ein „letztinstanzliches“ Urteil in der jeweiligen Sache zu sprechen. Ein „two-tiered system“623 entstand. Die Befugnisse der praefecti praetorio, vicarii, praefecti urbi und proconsules Africae et Asiae624 bildeten sich maßgeblich in der Amtszeit Kaiser Konstantins625, und hierin in der Zeitspanne zwischen Ende 313 bis Anfang 315626 aus. In den vorgenannten Zeitraum entfällt jedenfalls eine Reihe an Erlassen, die sich Provinzbewohner: … wenn die appellierende Prozesspartei aber verliert und es sich zeigen sollte, dass sie ohne rechtlichen Grund appelliert hat, soll sie die Klage verlieren und soll „gezeichnet“ weggehen …“ Dazu siehe auch Dillon, Justice, 242, Anm. 117 mit weiterführenden Hinweisen zur Interpretation von notatus als „colorful way of evoking infamia“. Atzeri, Infamia, hat 62 Konstitutionen aus dem Zeitabschnitt von Septimius Severus und Caracalla bis zum Ende der diokletianischen Zeit hinsichtlich der verschiedenen Begriffe für Infamie untersucht und die diesbezügliche Evidenz zusammengestellt: Das schlechte Ansehen wurde zumeist mit infamia, ignominia oder auch nota bezeichnet. Diese Termini bekamen mit der Zeit juristische Bedeutung, insbesondere durch die Zensoren. Der Terminus nota weist auf die Anmerkung hin, die von den Zensoren in die Liste neben dem Namen desjenigen civis Romanus eingetragen wurde, dessen Verhalten sozial verwerflich war, vgl. dazu auch Wolf, Stigma, 60. Ein Bescholtener wurde oft auch als notatus bezeichnet, weil er ursprünglich mit der zensorischen nota belegt wurde, vgl. Atzeri, Infamia, 128 sowie 135. Zur infamia im Überblick siehe Kaser, Infamia. 620 Peachin, Iudex, 198. 621 So sollten sich potentielle Klageparteien aus dem Reich zunächst an den praefectus praetorio wenden in Cod. Theod. I 5,1 (325), I 5,2 (327), I 5,3 (331); entstammten sie aus Rom (bzw. einem Teil Italiens) dann war der praefectus urbi zuständige Stelle in Cod. Theod. XI 30,13 (329), XI 36,2 (315). 622 Sie werden in Inschriften oftmals als v. s. i. (vice sacra iudicans) beschrieben; zur Rechtsprechung vice sacra siehe allgemein Peachin, Iudex, insb. 154 ff.; Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 535 nebst Anm. 24; vgl. auch Jones, LRE, 481: Die Formel vice sacra iudicans wird immer dann verwendet, wenn von einer ,Appellationsinstanz‘ noch ein weiteres Gesuch an den Kaiser möglich war, vgl. auch Harries, Law, 111; vgl. dazu auch Padoa Schioppa, Ricerche, 24. 623 Peachin, Iudex, 196. 624 Das Gericht der Proconsuln von Africa und Asia war eine ,Sonderinstanz‘: Sie konnten auch als ,Berufungsinstanzen‘ für andere, rangniedere Statthalter fungieren, vgl. Noethlichs, Beamtentum, 160. 625 Hierzu siehe Peachin, Iudex, 194 f. 626 So Peachin, Iudex, 194. Er geht davon aus, dass Konstantin im Jahr 314 das Appellationssystem im Rahmen eines legislativen Aktes reorganisierte. In diesem Rahmen habe er auch bestimmt, dass nunmehr ein gewisser Teil von iudices über Berufungen vice sacra entscheiden sollte.

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mit eben dieser Restrukturierung beschäftigten.627 Ob sich hieraus eine Konkurrenz in der Jurisdiktion entwickelte, ist unklar.628 In der Folge blieben nur noch besondere Fälle dem persönlichen Urteil des Kaisers vorbehalten wie etwa die Streitigkeiten, die illustres betrafen.629 Konstantin intendierte damit nicht zuletzt die Intensivierung der Richterherrschaft über den Verfahrensgang.630 Explizit mit der Thematik der unzulässigen Nichtannahme von Appellationen631 durch die zuständigen iudices a quo beschäftigen sich zwölf Erlasse632, die uns durch Einbindung in die beiden großen Codices bekannt sind. Weshalb aber wurde es im Einzelfall notwendig, auf die ausnahmslose Annahme aller Appellationen hinzuweisen? Überdies soll im Folgenden auch auf die Veränderungen der für eine unzulässige Nichtannahme von appellationes ausgesprochenen Strafhöhe eingegangen werden. 2. Die Nichtannahme von Appellationen im Codex Theodosianus a) Zulässigkeit von Appellationen in (Zivil- und) Strafverfahren633 An die im vorstehenden Kapitel bereits auszugsweise behandelten konstantinischen Gesetze (insbesondere an Cod. Theod. XI 30,2; 313634 sowie XI 36,1; 313635) 627

Unter anderem auch Cod. Theod. XI 26,1 (313), XI 30,2 (313), XI 36,2 (315), XI 36,3 (315) sowie XI 30,3 (315). 628 Dafür spricht sich Jones, LRE, 481 aus, wobei er erkennt, dass es an relevanter Evidenz mangelt. Peachin, Iudex, 196 nebst Anm. 33 lässt es offen. 629 Vgl. Padoa Schioppa, Ricerche, 26. 630 Vgl. Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 518 f. 631 Allgemein dazu auch Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, § 95.I.3. 632 Die vorstehend behandelten Cod. Theod. XI 30,2 (313), XI 30,11 (313), XI 30,13 (326), XI 30,15 (329), XI 30,22 (343), XI 30,58 (399) sowie die nachstehend behandelten Cod. Theod. XI 30,20 (347), XI 30,33 (364), XI 30,51 (393), XI 30,59 (399), XI 30,60 (400); Noethlichs führt insofern in seinem Abschnitt „Verweigerung, Behinderung oder illegale Zulassung der Rechtsmittel“, 176 – 180 nicht nur diejenigen Gesetze auf, die sich explizit nur mit der Nichtannahme beschäftigen. Noethlichs übersieht allerdings XI 30,25 (355). 633 Zur Behandlung dieser Thematik und dem Appellationsverbot in Strafsachen in der frühen Neuzeit siehe Szidzek, Verbot. 634 Cod. Theod. XI 30,2 (313): … minime fas est, ut in civili negotio libellis appellatoriis oblatis aut carceris cruciatus aut cuiuslibet iniuriae genus seu tormenta vel etiam contumelias perferat appellator; absque his criminalibus causis, in quibus, etiamsi possunt provocare, eum tamen statum debent obtinere, ut post provocationem in custodia perseverent. Ea custodita moderatione, ut eorum provocationes recipiantur, qui easdem non a praeiudicio interposuisse noscuntur aut etiam ante causam examinatam et determinatam …; „… Wenn ein Berufungskläger in einer Zivilsache eine Appellationsschrift eingereicht hat, ist es nicht rechtens, dass er deshalb im Gefängnis leiden muss oder irgendeine andere Art von Unrecht oder Folter oder Misshandlung erleiden muss, abgesehen von Strafsachen, in denen sie [die Berufungskläger ?], auch wenn eine Berufung möglich ist, dennoch so behandelt werden müssen, dass sie nach eingelegter Berufung unter Bewachung bleiben. Diese Bestimmung soll eingehalten werden,

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anknüpfend, wandte sich Kaiser Constantius II. im Jahr 347 an den praefectus praetorio Orientis Philippus636 und stellte – ebenfalls in der Tradition seines Vaters – klar, dass Appellationen in Zivil- als auch in Strafsachen von den zuständigen Richtern anzunehmen waren.637 Die Schwere der zuvor verhängten Strafe sollte nicht zu einer Ungleichbehandlung führen (Cod. Theod. XI 30,20; 9. Juni 347638): Iudices cum in civilibus causis tum etiam in criminalibus, in quibus vitae hominum salutisque quodammodo fata tractantur, appellationes admittant, nec denegent vocem in supplicium sententia destinatis. „Richter sollen Appellationen nicht nur in Zivilsachen, sondern auch in Strafsachen annehmen, in welchen Menschenleben und gewissermaßen das Schicksal des Lebensheils involviert ist; sie sollen nicht die Bitte einer Person missachten, welche durch ein Urteil zum Tode verurteilt wurde.“

Die Regelung ist in Zusammenhang mit Cod. Theod. XI 36,4 (339)639 sowie Cod. Theod. XI 36,7 (344)640 zu lesen. Auch in diesen Konstitutionen wurde bereits dass provocationes von Personen angenommen werden müssen, wenn diese sie nicht gegen eine vorläufige Entscheidung oder bevor der Fall überhaupt verhandelt und beendet wurde, eingelegt haben …“ 635 Cod. Theod. XI 36,1 (313): … Nam sicut bene appellantibus negari auxilium non oportet, ita his, contra quos merito iudicatum est, inaniter provocantibus differri bene gesta non decet. Unde quum homicidam vel adulterum vel maleficum vel veneficum, quae atrocissima crimina sunt, confessio propria vel dilucida et probatissima veritatis quaestio probationibus atque argumentis detexerit, provocationes suscipi non oportet, quas constat non refutandi spem habere, quae gesta sunt, sed ea potius differre tentare …; „… Hilfe soll den rechtmäßig Appellierenden nicht verweigert werden, ebenso soll durch diejenigen, gegen die ein richtiges Urteil gesprochen worden ist, nicht durch gehaltloses Einlegen einer provocatio das Verfahren verzögert werden. Wenn sein eigenes Geständnis oder eine klare und fundierte Untersuchung der Wahrheit durch Beweise gezeigt hat, dass eine Person ein Mörder, ein Ehebrecher, ein Zauberer oder ein Giftmischer ist, alles grausamste Verbrechen, dürfen keine Berufungen angenommen werden, die scheinbar keine Hoffnung haben, das Festgestellte zu widerlegen, sondern eher nur den Versuch darstellen, die Strafe aufzuverschieben …“ 636 Vgl. PLRE I, Flavius Philippus 7, 696 f. 637 Zu Cod. Theod. XI 30,20 vgl. auch Pergami, Appello, 120. 638 Zur Datierung siehe Jones, Career, 232 f., der nachweist, dass nach Athanasius (hist. Arian. 7,6) Philippus im Sommer des Jahres 351 sein Amt des praefectus praetorio Orientis niederlegte und bald darauf verstarb. Als Amtsantritt nimmt Jones, Career (dem folgend v. Haehling, Religionszugehörigkeit, 59) den 28. Juli 346 (Cod. Theod. XI 22,1) an und datiert Cod. Theod. XI 30,20 auf den 9. Juni 347; noch anders: Seeck, Regesten, 199, der auf den 9. Juni 353 einordnete und hierin eine Aufhebung des von ihm auf den 24. April 348 datierten Cod. Theod. XI 36,7 sah. 639 Constantius II. an Catullinus, vicarius Africae (PLRE I, Aco Catullinus signo Philomathius 3, 187 f.) Cod. Theod. XI 36,4 (339): Oportuerat te publici instituti respectu confessione detectos legum severitate punire nec frustra vitam differentum moratorias provocationes admittere, sed delatum adulterii crimen et quaestionibus athibitis adprobatum pari sceleri immanitate damnare. Quod deinceps in huiusmodi criminibus convenit observari, ut manifestis probationibus adulterio probato frustratoria provocatio minime admittatur …; „Die öffentlichen Anweisungen respektierend, hättest Du mit der Schärfe der Gesetze diejenigen Personen bestrafen müssen, die aufgrund ihres Geständnisses ihrer Schuld überführt wurden, und Du

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herausgestellt, dass eine Appellation in Strafsachen nur im äußersten Ausnahmefall nicht anzunehmen war. Der Weg in die „Rechtsmittelinstanz“ sollte nicht grundsätzlich unterbunden werden. Warum aber musste dies nochmals für den Fall einer Verurteilung zur Todesstrafe klar herausgestellt werden? Beginnend bei Ulpian641 finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass es im Bereich der Strafverfahren Ausnahmen gab, in denen eine Appellation gerade nicht anzunehmen und eine sofortige Strafvollstreckung nach Urteilsspruch gerechtfertigt war. Dies wurde bei Ulpian noch mit der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung begründet, für die die Statthalter in ihren Provinzen zuständig waren. In den allermeisten Fällen konnte jedoch ein Aufschub der Bestrafung keine Gefahr bringen, da der Berufungskläger in Strafsachen, konnte er keinen geeigneten Bürgen hättest nicht die vergeblich lebensverlängernden provocationes annehmen, sondern das Verbrechen des Ehebruchs streng, mit gleicher Entsetzlichkeit bestrafen müssen, das unserem Gericht gemeldet wurde und nach einer Untersuchung überführt wurde. Bei solchen Verbrechen soll allerdings beachtet werden, dass, wenn Ehebruch mit klarer Evidenz bewiesen wurde, eine provocatio nicht angenommen werden soll …“ 640 Constantius II. an Hierocles, consularis Syriae (PLRE I, Fl. Antonius Hierocles 3, 431 f.), Cod. Theod. XI 36,7 (344): Observare curabis, ne quis homicidarum veneficorum maleficorum adulterorum itemque raptorum argumento convictus, teste superatus, voce etiam propria vitium scelusque confessus audiatur appellans. Ut enim aequum est … confessos … quod saepe vel repentinae formidinis vel impositorum tormentorum cogit immanitas, uti in appellando ceteris etiam rei iure communi: ita et aliena et propria voce depressum non oportet, quod contempserit aequitatem ac moram tantum usurpandae lucis indebitae rursus importunitates arripere.; „Du sollst für die Durchsetzung der Verordnung sorgen, dass kein Mörder, kein Zauberer, kein Magier, Ehebrecher und ebenso kein Räuber als Appellierender angehört wird, wenn er durch Beweise überführt wurde, durch Zeugen für schuldig befunden wurde und zusätzlich mit seiner eigenen Aussage sein Vergehen und Verbrechen gestanden hat … es ist nämlich angemessen … dass Personen, die gestanden haben … da oft entweder durch plötzliche heftige Furcht oder zugefügte Folter dazu gezwungen, ebenfalls das allen gemeinsame Recht zu appellieren nutzen können sollen: ebenso soll aber eine Person, die durch ihre eigene Aussage und die anderer als schuldig überführt wurde, nicht, weil er die Gerechtigkeit verachtet hat, eine Verzögerung des Verfahrens erwirken können, nur für den Vorwand, den Lebensgenuss zu erlangen, den er nicht verdient.“ 641 Dig. 28,3,6,9: Quid tamen si appellationem eius praeses non recepit, sed imperatori scribendo poenam remoratus est? … nam … tametsi provocantis … appellatio non fuerit recepta, poena tamen sustinenda est, quoad princeps rescripserit ad litteras praesidis et libellum rei cum litteris missum, nisi forte latro manifestus vel seditio praerupta factioque cruenta vel alia iusta causa … moram non recipiant, non poenae festinatione, sed praeveniendi periculi causa: tunc enim punire permittitur, deinde scribere.; „Wie ist es aber dann, wenn der Statthalter die Berufung eines solchen Menschen nicht annahm, sondern durch sein Berichten an den Kaiser die Strafe verzögerte? Denn es soll … die Strafe, wenn auch die Appellation des sich berufenden Verurteilten … nicht angenommen wurde, doch so lange aufgeschoben werden, bis der Kaiser auf das Schreiben des Statthalters reskribierte, und den libellus des Angeklagten mit dem Schreiben [des Statthalters] zurücksandte: Es müsste sich denn um einen offenbaren Räuber handeln, oder einen losgebrochenen Aufruhr, oder innere Unruhen oder sonst eine gerechte Ursache … denn dies alles leidet keinen Aufschub, nicht etwa als ob man den Strafvollzug nicht erwarten könnte, sondern um dadurch größerem Unheil zuvorzukommen. Unter solchen Umständen ist es dem [Richter] erlaubt, zu bestrafen und erst nachher darüber zu berichten.“

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stellen, sowieso in custodia verblieb.642 Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung war somit auch in den allermeisten Fällen eines schweren Verbrechens – außer in den Fällen von politischer Brisanz, in denen es häufig um Mitglieder der führenden ordines ging – nicht gegeben. Eine beschleunigte Vollstreckung der schweren Strafen, die gegen Mörder, Ehebrecher, Zauberer und Giftmischer verhängt worden waren, hatte Konstantin in Cod. Theod. XI 36,1643 daher nur im Ausnahmefall geregelt: Voraussetzung für die schnelle Vollstreckung war, dass die vorgenannten Personen ein Geständnis abgelegt hatten oder das peinliche Verhör (quaestio) die Wahrheit ans Licht gebracht hatte und der Angeklagte zweifelsfrei eines Verbrechens überführt werden konnte.644 Erst nach dieser umfassenden Wahrheitsfindung war es gestattet, sofort zu vollstrecken.645 Nur der kleine Teil der „erstinstanzlich“ Verurteilten, die sich eines schweren Verbrechens strafbar gemacht hatten und in eindeutiger Weise überführt werden konnten, sollten gar nicht mehr die Möglichkeit erhalten, zu appellieren. Gerade in diesen Fällen wollte Konstantin einer seitens der Partei durch Einlegung einer Appellation herbeigeführten, unnötigen Verfahrensverschleppung in die nächsthöhere „Instanz“ entgegenwirken. Er intendierte dagegen eine schnelle Vollstreckung und Verfahrensbeendigung.646 Durch die strengen Voraussetzungen, die bereits Konstantin an eine schnelle Strafvollstreckung knüpfte, ist erkennbar, dass der Gesetzgeber dies aber als Ausnahmefall betrachtete. Die iudices ordinarii hatten sich sehr sicher zu sein, wenn sie eine schwere Strafe sofort vollstrecken ließen. Zugleich sollten sie nach vor ihnen verhandelten Strafverfahren den Gang der unterlegenen Partei in die „Appellationsinstanz“ nicht von vorneherein unterbinden. Diesen Ausnahmecharakter hatte bereits Constantius II. in seiner Konstitution Cod. Theod. XI 36,4647, adressiert an den vicarius Africae, Catullinus, im Jahr 339 berücksichtigt. Im Hinblick auf den diesem Gesetz zugrundeliegenden Fall eines Ehebruches sollte ein Urteil nur dann sofort vollstreckt werden, wenn – wie in Cod. Theod. XI 36,1 – ein Geständnis des Verurteilten die zweifelsfreie Gewissheit seiner Schuld gebracht hatte. Das Geständnis war im römischen Strafprozess von großer Bedeutung und „bildete […] zumeist die Vorbedingung für ein Urteil“648. Nur in Ausnahmefällen erfolgte eine Verurteilung auf Basis von Indizienbeweisen, was 642

Hierzu siehe die Ausführungen oben ab S. 121 f. Zu Text und Übersetzung siehe oben Anm. 635. 644 Zur Interpretation von Cod. Theod. XI 36,1 siehe auch Krause, Gewalt, 273 nebst Anm. 1457. 645 So argumentiert auch Dillon, Justice, 235 f.; zu Cod. Theod. IX 40,1 siehe ebd. 646 Insofern kann der Annahme von Dillon, Justice, 242 zu Cod. Theod. XI 30,2 nicht gefolgt werden, wonach hierin geregelt sei, dass gerade diejenigen, die eine Appellation gegen die Verurteilung wegen Kapitalverbrechens eingelegt hatten, zu inhaftieren waren. 647 Zu Text sowie Adressat siehe Anm. 639. 648 Krause, Gefängnisse, 293. 643

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dann explizit hervorgehoben wurde.649 Das Geständnis war oft das einzige Mittel, einen Straftäter zweifelsfrei zu überführen oder Informationen über dessen Mittäter zu erlangen. Dies hatte den Hintergrund, dass die Strafverfolgung großenteils auf Denunziationen beruhte.650 Dass ein Geständnis ein Ausschlussgrund für das Einreichen einer appellatio war, findet sich bereits in der lex Iulia de vi publica. Zum Teil ist uns diese aus den pseudopaulinischen Sentenzen bekannt, worin u. a. die appellationsausschließende Wirkung des Geständnisses angesprochen wird (PS 5,26,1).651 In Cod. Theod. XI 36,7 (344)652, adressiert an Hierocles, consularis Syriae, führte Constantius II. den Gedanken aus Cod. Theod. XI 36,4 fort und legte neue Anforderungen an eine sofortige Vollstreckung eines Strafurteils fest: Die Einlegung einer Berufung durch den Verurteilten war hiernach nur dann ausgeschlossen, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorlagen: die Tat beständigende Zeugen- und Urkundenbeweise (sofern vorhanden) sowie das Geständnis des Angeklagten. Ausreichend für eine sofortige Strafvollstreckung war allerdings gerade nicht, dass Zeugen vorgeführt, andere Beweismittel vorgelegt worden waren und der Angeklagte allein aufgrund dessen verurteilt worden war. Hatte der Angeklagte selbst nicht gestanden oder dies nur aus Furcht vor der Folter oder unter Folter getan, war 649 Vgl. Suet. Aug. 33,1: … Dixit autem ius non diligentia modo summa sed et lenitate, siquidem manifesti parricidii reum, ne culleo insueretur, quod non nisi confessi adficiuntur hac poena, ita fertur interrogasse: „Certe patrem tuum non occidisti?“; „… Recht sprach er nicht nur mit höchster Sorgfalt, sondern ließ auch höchste Milde walten; so soll er einmal einen Mann, der des Vatermordes angeklagt und der Tat überführt worden war, Folgendes gefragt haben, um ihm die Strafe, in einen Sack eingenäht zu werden, zu ersparen (diese Strafe setzte unbedingt das Geständnis voraus): „Du hast doch sicher deinen Vater nicht umgebracht?“ 650 Zur Bedeutung des Geständnisses im römischen Strafprozess und die Erzwingung durch Folter siehe auch Krause, Gefängnisse, insb. 291 f. 651 PS 5,26,1: Lege Iulia de vi publica damnatur, qui aliqua potestate praeditus civem Romanum antea ad populum, nunc ad imperatorem appellantem necaverit necarive iusserit, torserit verberaverit, condemnaverit inve publica vincula duci iusserit. Cuius rei poena in humiliores capite, in honestiores insulae deportatione coercetur. Hac lege excipiuntur, qui artem ludicram faciunt, iudicati etiam et confessi, et qui ideo in carcerem duci iubentur, quod ius dicenti non obtemperaverint quidve contra disciplinam publicam fecerint …; „Durch die lex Iulia de vi publica wird jeder verurteilt, der mit Macht ausgestattet einen römischen Bürger, der früher an das Volk und nun an den Kaiser appelliert (hat), tötet oder veranlaßt, ihn zu töten, gefoltert, gegeißelt, verurteilt oder befohlen hat, ihn in öffentlichen Fesseln abzuführen. Die Strafe für den Angeschuldigten ist für humiliores Tod für honestiores Deportation auf eine Insel. Von diesem Gesetz ausgenommen sind diejenigen, die die Kunst des Schauspiels ausüben, auch die, die verurteilt wurden und gestanden haben, und diejenigen, die deshalb ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie dem Richter nicht gehorcht oder gegen die öffentliche Ordnung verstoßen haben …“ zu dieser Textstelle siehe Garnsey, Lex, 168 f. Gegen dessen Interpretation, mit den Worten condemnaverit inve publica vincula duci iusserit sei u. a. eine Verurteilung zum Gefängnis gemeint, argumentiert Krause, Gefängnisse, 9 nebst Anm. 4 zurecht, dass das römische Recht eine Verurteilung zur Gefängnishaft nicht gekannt habe. Zum Ursprung der lex Iulia de vi siehe Cloud, Lex (I), insb. 579 – 595; zum Inhalt und Zweck, ders., Lex (II); ebenso Garnsey, Lex; Nogrady, Strafrecht, 222 – 230; vgl. auch Krause, Gefängnisse, 8 f.; Jördens, Konstitution, 336 nebst Anm. 34 mit Überblick über die einschlägige Literatur. 652 Zu Text und Adressat siehe oben Anm. 640.

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ihm eine Appellation nicht zu verwehren. Das hieß wiederum, dass nur den „ohne Furcht geständigen“ Angeklagten eine Berufungseinlegung nicht gestattet war. Cod. Theod. XI 30,20 ist nunmehr in vorstehender Tradition zu lesen: Nur, weil eine Todesstrafe per Urteil verhängt wurde, hieß das gerade nicht, dass eine Appellation der verurteilten Person grundsätzlich unzulässig war. Gerade dann, wenn eine derart schwere Strafe verhängt worden war, war vita hominis und das Schicksal des Lebensheils (fatum salutis) betroffen. Bei Verhängung der Todesstrafe sollte der iudex ordinarius jedenfalls nochmals sicherzugehen: Allein dann, wenn es mit höchster Sicherheit – kumulativ vorliegende Beweise oder/und ein Geständnis – nachgewiesen werden konnte, dass der Verurteilte zweifelsfrei schuldig war, war die sofortige Verhängung der Todesstrafe die richtige Vorgehensweise. Die Tatsache, dass Kaiser Constantius II. hier die Notwendigkeit sah, nochmals darauf hinzuweisen, dass jede Appellation anzunehmen war, lässt den Schluss zu, dass auch noch im Jahr 347, mithin 30 Jahre nach den konstantinischen Regelungen zur Annahme aller Appellationen, Einzelfälle berichtet wurden, in denen die iudices a quo an sie herangetragene Appellationen (insbesondere in Strafsachen) gerade nicht den Gesetzen gemäß angenommen, „zweitinstanzliche“ Verfahren unterbunden und damit die Leben einzelner Verurteilter „leichtfertig aufs Spiel“ gesetzt hatten. b) Entwicklung der Strafhöhe653 Im Jahr 343 führte Constantius II. in seiner oben bereits in anderem Kontext diskutierten Konstitution Cod. Theod. XI 30,22654, adressiert an Scyllacius655, vicarius Asiae (?) erstmals eine Strafe für das nachlässige Verhalten der iudices und für den Fall der Nichtannahme von Appellationen ein. Nahmen die iudices a quo die an sie herangetragenen Berufungen nicht an oder leiteten diese nach Prüfung der Zulässigkeit nicht an den zuständigen iudex ad quem weiter, hatten sie mit einer Geldstrafe von zehn Pfund Gold, ihr Kanzleipersonal mit einer Geldstrafe von 15 Pfund Gold zu rechnen. Aus den konstantinischen Konstitutionen, die Eingang in die beiden großen Codices gefunden haben, sind uns Strafen für die Nichtannahme einer Appellation nicht bekannt. Die erste, in den Codices enthaltene, Erhöhung656 der für den Fall der Nichtannahme von eingelegten Berufungen angedrohten Geldstrafe, erfolgte bereits durch Constantius II. selbst im Jahr 356. Er wandte sich an Lollianus657, praefectus praetorio per Illyricum (Cod. Theod. XI 30,25; 25. Juli 356658): 653 Diese Thematik hat Gaudemet, Constitutions, 71 in einer Anm. 158 kurz angeschnitten, ebenso zuletzt Cuneo, Codice, 240 f. 654 Zu Text und Interpretation von Cod. Theod. XI 30,22 siehe oben ab S. 129. 655 Vgl. PLRE, Band I, Scyllacius 1, 811. Zu seiner Funktion siehe oben Anm. 547. 656 Diese Vorschrift übersieht Noethlichs, Beamtentum, in seiner Zusammenstellung „Verweigerung, Behinderung oder illegale Zulassung der Rechtsmittel“, ebd., 176 – 180. 657 Vgl. PLRE, Band I, Q. Flavius Maesius Egnatius Lollianus signo Mavortius 5, 512 f. 658 Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 202.

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Quoniam iudices ordinarii provocationes aestimant respuendas, placet, ut, si quis appellationem suscipere recusaverit, quae non ab exsecutione vel a praeiudicio, sed a sententia iurgium terminante fuerit interposita, XXX pondo auri cogatur fisco inferre, triginta alias libras auri officio eius itidem soluturo. „Da ja iudices ordinarii meinen, provocationes zurückweisen zu müssen, wird beschlossen, dass wenn irgendein Richter sich weigert, eine appellatio anzunehmen, die nicht gegen eine Vollstreckung oder eine Zwischenentscheidung, sondern gegen ein Urteil eingelegt wurde, das das Verfahren beendet hat, er zur Zahlung einer Geldstrafe von 30 Pfund Gold angehalten werden soll, und sein officium ebenso 30 Pfund Gold zahlen soll.“

Die Geldstrafe für die Annahmeverweigerung betraf all diejenigen Appellationen, die rechtmäßig gegen ein „erstinstanzliches“, verfahrensbeendendes Urteil eingelegt worden waren. Sowohl für die iudices ordinarii, also Statthalter, die gegen diese Vorschrift verstießen, als auch für deren officia wurde nunmehr eine Strafe in Höhe von 30 Pfund Gold eingeführt. Dies entsprach einer Verdopplung (für das officium) bzw. Verdreifachung (für den zuständigen iudex) der Strafhöhe aus dem Jahr 343. Die genauen Hintergründe, die zum Erlass von Cod. Theod. XI 30,25 geführt haben, sind uns nicht bekannt. Das Problem, dass iudices ordinarii Appellationen nicht annahmen, schien allerdings mehrfach aufgetreten zu sein. Um diesem „Trend“ Einhalt zu gebieten, war eine erneute Klarstellung der statthalterlichen Pflichten und empfindliche Erhöhung der Strafe eine Form der Reaktion. Auch für Africa wurde die Thematik aufgegriffen. Aus dem Jahr 364, kaum zehn Jahre nach Cod. Theod. XI 30,25 ist uns eine Vorschrift Valentinians I. bekannt, die sich an Antonius Dracontius659, vicarius Africae, richtete (Cod. Theod. XI 30,33; 12. September 364660): Quicumque iudicum adversus auctoritatem legis appellationes neglexerit, protinus officio tuo, non rationalis, imminente ad viginti librarum auri exsolvendam multam cogetur, ita ut et officium eius triginta simili celeritate dissolvat. „Egal welcher Richter entgegen der Autorität der Gesetze appellationes vernachlässigt, soll sofort durch Dein Kanzleipersonal, nicht durch dasjenige des rationalis, mit einer Strafe von 20 Pfund Gold, ebenso auch dessen Kanzleipersonal mit einer Strafe von 30 Pfund Gold belegt werden.“

Im Gegensatz zu Cod. Theod. XI 30,25 ist vorstehend eine gemilderte Strafandrohung gegenüber den zuständigen Richtern enthalten. Der Vicar wurde angewiesen, in den africanischen Provinzen dafür zu sorgen, dass die für die Annahme der Berufung zuständigen iudices bei Zuwiderhandlungen von diesem bzw. seinem offcium mit einer Strafe belegt werden. Die Strafhöhe wurde für iudices auf 20 Pfund Gold, für deren officia auf 30 Pfund Gold festgelegt. In diesem Zusammenhang wurde auf einen möglichen Hintergrund bzw. konkreten Anlass des Erlasses verwiesen: Valentinian I. stellte ausdrücklich klar, dass nicht das officium des ratio659 Vgl. PLRE, Band I, Antonius Dracontius 3, 271 f. Zu Dracontius siehe Pallu de Lessert, Fastes, 193 – 198; Kuhoff, Studien, insb. 360, Anm. 30. 660 Zur Datierung siehe Delmaire, Largesses, 1989, 203, der Seeck (Regesten, 216) folgt.

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nalis661 die nachlässige Nichtannahme der Appellationen bestrafen sollte, sondern das Kanzleipersonal des adressierten vicarius. Der Gesetzgeber musste hier einen Fall im Auge gehabt haben, in dem der rationalis die Bestrafung des zuständigen iudex a quo oder auch nur das Eintreiben der Strafsumme übernommen hatte. Offenbar hatte ein rationalis einen „erstinstanzlichen“ Richter, der sich neglegentia bei der Annahme von appellationes vorwerfen lassen musste, mit einer Geldstrafe belegt. Es ist davon auszugehen, dass ein derartiger Fall zunächst vor den rationalis gebracht worden war.662 Das war aber insbesondere deshalb problematisch, da der vicarius den rationalis üblicherweise erst von der von ihm auferlegten Geldstrafe informieren musste. Der rationalis war gewöhnlich für die Einziehung aller Abgabenforderungen zuständig. Allerdings bedeutete dies für den hiesigen Fall, dass die Strafeintreibung aufgrund des zusätzlichen Informationsweges und dem Einschalten einer weiteren Instanz erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgen konnte. Der Kaiser stellte hier wohl Praktikabilitätserwägungen an und wirkte somit einer möglichen Form der Verfahrensverzögerung entgegen, indem er dem vicarius und dessen officium in einem Ausnahmefall die Kompetenz des rationalis übertrug, ihn als zuständige Stelle deklarierte und direkt und unverzüglich (protinus) zur Eintreibung der Strafsumme verpflichtete. Dieser Hinweis auf die Zuständigkeit für Verfahren über eine nachlässige Amtsführung der iudices ordinarii galt jedoch nur für die Diözese Africa. Eine generelle Wirkung ist Cod. Theod. XI 30,33 nicht zuzuschreiben.663 Eine im Gegensatz zu Cod. Theod. XI 30,25 nochmalige Verschärfung der Strafe664 ist für die Präfektur Illyricum im Jahr 393 in einem Erlass von Kaiser Theodosius I. zu finden. Er wandte sich an den praefectus praetorio Illyrici et Italiae, Apodemius665 (Cod. Theod. XI 30,51; 9. Juni 393666): 661

Zum Amt des rationalis siehe Delmaire, Largesses mit weiterführender Literatur (ebd., 185, 187 f. insbesondere auch zu den einzelnen Quellenstellen, die das Amt des rationalis in Africa betreffen.) 662 Wieworowski, Judiciary, 190 f., geht davon aus, dass der in Cod. Theod. XI 30,33 thematisierte Fall an den Vicar herangetragen wurde, als dieser im Rahmen einer Untersuchung in der Diözese umherreiste, u. a. in die nordafricanische Stadt Tacapae. 663 In der Literatur (vgl. Delmaire, Largesses, 203; Wieworowski, Judiciary, 191) wird hier oftmals ein Zusammenhang mit Cod. Theod. XI 30,8 konstruiert und argumentiert, Cod. Theod. XI 30,33 sei eine Abänderung der bisherigen in Cod. Theod. XI 30,8 dargestellten Rechtslage. Die Argumentation basiert lediglich darauf, dass in Cod. Theod. XI 30,8 ein rationalis die zuständige Stelle für die Bestrafung von Richtern sei, die notwendige Gerichtsunterlagen nicht oder verspätet an die nächsthöhere ,Instanz‘ übersandt hatten. Sowohl thematisch als auch räumlich ist allerdings ein Rückbezug schwer anzunehmen: Cod. Theod. XI 30,8 datiert ins Jahr 319, betraf explizit die Fristen zur Übersendung von Gerichtsdokumentation und richtete sich an den praefectus urbis Romae, Septimius Bassus. Auch Noethlichs, Beamtentum und Dienstvergehen, 179 nebst Anm. 363, verweist zu Cod. Theod. XI 30,33 auf Cod. Theod. XI 30,8 in einer Anmerkung, gibt allerdings keine weiteren Gründe hierfür an. 664 So auch Krause, Gewalt, 274 nebst Anm. 1461, wobei Krause hier nicht Cod. Theod. XI 30,51 sondern Cod. Theod. XI 30,53 zitiert. 665 Vgl. PLRE I, Apodemius 3, 82 f. 666 Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 281

II. Iudex appellatio non recipitur

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Quibus causis non est provocatio respuenda, iubemus respuentem iudicem XXX librarum auri, obsecundantem officii gratiam quinquaginta esse feriendam. „In den Fällen, in denen eine provocatio nicht angenommen wird, befehlen wir, dass der nichtannehmende Richter 30 Pfund Gold zahlen soll, sein dies durch gratia begünstigendes Kanzleipersonal 50 Pfund Gold.“

Der Erlass beinhaltet – wie auch bereits vorstehend behandelte Gesetze – nur eine sehr knappe Formulierung des Strafmaßes und spezifiziert auch hier nicht näher die Hintergründe für die thematisierte Nichtannahme durch die zuständigen Richter und ihre officia. Quintessenz war aber auch hier: In Fällen, in denen eine provocatio gestattet war und ein iudex sich trotzdem weigerte, diese anzunehmen, war ihm eine Geldstrafe aufzuerlegen. Auch drohte – wie bereits in Cod. Theod. XI 30,25 – dem iudex eine Strafe von 30 Pfund Gold. Die Höhe der auf dessen officium entfallenden Geldstrafe stellte allerdings eine absolute Neuerung dar. Das officium, welches sich aufgrund von gratia hinsichtlich einer Nichtannahme einer provocatio untätig verhalten hatte, sollte 50 Pfund Gold Strafe entrichten. Die Divergenz in der Strafhöhe weist auch hier wiederum auf die entscheidende Rolle der officia bei der Einhaltung der verfahrensrechtlich vorgegebenen Schritte hin.667 Nicht so sehr der iudex a quo, sondern dessen officium war es, das als zuständige Eingangsstelle bei Gericht fungierte.668 Allerdings ist die Verschärfung der Strafhöhe hier explizit auf das Hinzutreten eines weiteren Fehlverhaltens zurückzuführen: Unterließ das officium die Appellationsannahme aus Gründen der gratia, war dies höher zu bestrafen. Eine niedrigere Strafhöhe ist wiederum kurze Zeit später zu finden. Am 7. Januar des Jahres 399 erließ Kaiser Honorius ein Gesetz (Cod. Theod. XI 30,58669), adressiert an Flavius Mallius Theodorus, praefectus praetorio Italiae670. Honorius setzte 20 Pfund Gold Strafe für den Richter, 25 Pfund Gold Strafe für sein officium fest, wenn diese sich weigerten, eine Berufung anzunehmen. Nur Monate später ist uns wiederum für den africanischen Reichsteil ein an einen Statthalter gerichteter Erlass des Kaisers Honorius bekannt, worin wiederholt eine neue Strafhöhe angesprochen wird. Der Adressat ist Simplicius671, praeses Tripolitanae (Cod. Theod. XI 30,59; 12. Juni 399672):

667 Dass das officium in den hier untersuchten Konstitutionen durchwegs eine höhere Strafsumme zu entrichten hatte, verwundert nicht. Noethlichs, Beamtentum und Dienstvergehen, 223 – 225, insb. 225 hat insofern eine Auflistung der Strafhöhen und eine entsprechende Gegenüberstellung der Strafhöhen für das officium und deren Vorgesetzten vorgelegt und gezeigt, dass in genau der Hälfte der von ihm geprüften Konstitutionen die Strafe für das Büro höher ist als die Strafe für den vorgesetzten Statthalter. 668 Zur Rolle des officium bei der Einlegung von Appellationen und Übersendung der notwendigen Gerichtsakten und -berichte an die nächsthöhere ,Instanz‘ siehe oben ab S. 129 f. 669 Zu Text und Interpretation von Cod. Theod. XI 30,58 siehe oben ab S. 137 f. 670 Vgl. PLRE I, Theodorus 27, 900 – 902, zur Person Theodorus siehe Anm. 582. 671 Vgl. PLRE II, Simplicius 3, 1014. 672 Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 298.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Nullum ita credimus contumacem, ut appellationem interpositam legibus audeat recusare … XXX autem libras auri aerario nostro cogetur inferre, qui obiectam provocationem iure neglexerit et eadem officium, si coniventiam praestet iudici, poena retinebitur. „Wir glauben nicht, dass irgendjemand so ungehorsam sein möge, eine Appellation nicht anzunehmen, die nach gesetzlichen Vorschriften eingelegt wurde … Ferner: Wenn irgendjemand eine provocatio, die gemäß den gesetzlichen Vorschriften eingelegt ist, nicht berücksichtigen sollte, soll er zur Zahlung von 30 Pfund Gold an unsere Staatskasse angehalten werden; ebenso das Kanzleipersonal, welches für den Richter arbeitet.“

Im Gegensatz zu den vorstehend behandelten Konstitutionen richtete sich Cod. Theod. XI 30,59 direkt an einen praeses. Die für die Nichtannahme einer provocatio ausgesprochene Strafhöhe von 30 Pfund Gold stellt in Gegenüberstellung mit dem kurz zuvor erlassenen Cod. Theod. XI 30,58 eine Strafverschärfung sowohl für den iudex als auch sein officium dar. Die Strafhöhe begegnete uns bereits in Cod. Theod. XI 30,25. Auch fünfzig Jahre nach erstmaliger Benennung und Einführung einer Geldstrafe für die Nichtannahme von Berufungen hatte sich die Strafe mithin noch nicht auf eine einheitliche Höhe eingependelt. Erstmals wird im Jahr 400 im Hinblick auf die Strafe für eine Nichtannahme von Appellationen auf statuta veterum Bezug genommen: Honorius wandte sich an den proconsul Africae, Pompeianus673 (Cod. Theod. XI 30,60; 1. Juni 400674): … his, qui rite ab iniusta sententia provocantes audire noluissent, sit poena proposita, poena etiam officio constituta, sive in criminalibus sive in civilibus causis fuerit iudicatum, attamen nostro etiam motu decernimus, ut veterum statuta serventur, quae nullum patimur umquam impune violare. „… diesen, die den richtigerweise gegen ungerechte Urteile provocatio Einlegenden das Gehör verweigern, sei die festgesetzte Strafe aufzuerlegen, genauso gegen das Kanzleipersonal, sei es in Straf- aber auch in Zivilsachen, denn wir weisen darauf hin, dass die alten Gesetze eingehalten werden müssen, und es nicht sein kann, dass eine Nichteinhaltung ohne Strafe erfolgen kann.“

Die statuta veterum, auf die sich Cod. XI 30,60 konkret rückbezieht, sind unklar. Was Honorius unter der poena proposita675 für die Nichtannahme von provocationes verstand, ist ebenfalls nicht eindeutig. Dass er damit die ein Jahr zuvor im Hinblick auf einen Einzelfall gegenüber Simplicius geäußerte Strafhöhe von 30 Pfund Gold sowohl für den zuständigen iudex a quo als auch für dessen officium im Sinn hatte, ist denkbar.

673 Vgl. PLRE, Band II Gabinius Barbarus Pompeianus 2, 897 f.; zu diesem auch Olszaniec, Studies, 186. 674 Zur Datierung Seeck, Regesten, 300. 675 Der Terminus wurde auch in anderen Gesetzen (dort allerdings im Ablativ) verwendet, um eine Strafklausel anzufügen, vgl. Cod. Theod. II 18,3, IV 13,3 (321), V 6,3 (409), VIII 4,20 (470); vgl. auch Dillon, Justice, 78 nebst Anm. 64.

III. Die transmissio suppressa

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III. Die transmissio suppressa 1. Zur Bedeutung der Schriftlichkeit im Rechtsmittelverfahren Für das Funktionieren des Rechtssystems, insbesondere der systeminternen Kontrolle in Form des Appellationswesens, war nicht nur die Gestaltung der Kommunikation zwischen den Vertretern der Herrschaftsorganisation und der rechtssuchenden Bevölkerung von Bedeutung, sondern auch die der gerichtsorganisationsinternen Kommunikation. Letztere ist hier im Sinne der verschiedenen schriftlichen Formen des (Informations-)Austausches bzw. einseitiger schriftlicher Informationsmechanismen sowie Dokumentation und Archivierung zu verstehen. Die Kommunikation als Austausch, Verständigung, Übermittlung und Vermittlung von schriftlich dokumentierten Informationen zwischen den „erst- und zweitinstanzlichen“ Gerichten war maßgeblicher Garant für die Funktionalität des Rechtsmittelverfahrens. Die schriftliche Kommunikation bot in diesem Rahmen Belege für die Übermittlung bestimmter Informationen und war so nachprüfbar und von höherer Stelle aus kontrollierbar.676 Dass sich die alltägliche, spätantike Kanzleipraxis der römischen Administration und Jurisdiktion durch ihren hohen Entwicklungsstand auszeichnete, wissen wir insbesondere durch die Schilderungen des Johannes Lydus677. Als pensioniertes hochrangiges Stabsmitglied des praefectus praetorio Orientis konnte er in den fünfziger Jahren des sechsten Jahrhunderts678 auf eine über vierzigjährige Laufbahn zurückblicken. In seinem Werk De magistratibus berichtete Johannes Lydus u. a. auch von Details zur Dokumentations- und Archivierungspraxis am Gericht des praefectus praetorio Orienties: Es habe spezielle große Räumlichkeiten gegeben, die ausschließlich für die Aufbewahrung von Unterlagen der Gerichtsverhandlungen vor dem praefectus praetorio Orientis gedient hätten. Dass diese auch über einen geraumen Zeitraum aufbewahrt worden seien, ist seiner Bemerkung, es hätten sich dort alle Protokolle seit der Zeit Kaiser Valens (also seit dem Jahr 378) befunden, zu entnehmen. Gewiss ist hinsichtlich einer Übertragung der geschilderten Vorgänge auf ein Provinzstatthaltergericht Vorsicht geboten.679 Die Verhältnisse am Gericht eines praefectus praetorio und an einem Provinzstatthaltergericht sind schon allein aufgrund der unterschiedlichen Größe der officia schwer vergleichbar.680 Dafür, dass es jedoch auch an den Gerichten der Provinzstatthalter in der Spätantike eine Dokumentations- und Archivierungspra-

676 Zu den verschiedenen Kontrollmechanismen, so beispielsweise auch zu den sog. breves siehe oben S. 38 nebst Anm. 129. 677 Zu Person und Werk siehe Maas, John Lydus, insb. 28 – 37 sowie 83 – 96; Caimi, Burocrazia; sowie die Einleitung bei Bandy, Johannes Lydus. 678 Zur zeitlichen Einordnung siehe Wallinga, Date. 679 So Haensch, Statthalterarchive, 346. 680 Haensch, Statthalterarchive, 346, führt hier zudem die umfassenden Amtsvollmachten des praefectus praetorio Orientis als Grund an.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

xis681 gegeben hat682, spricht zum einen die testificatio actorum683, die es ermöglichte, private Erklärungen bei Gericht zu Protokoll zu geben, wodurch diese legalisiert wurden. Diese Praxis implizierte die Archivierung der entsprechenden Protokolle für einen gewissen Zeitraum. Zum anderen wird in der Forschung der Erlass Kaiser Theodosius I. (Cod. Theod. XV 14,8; 14. Januar 389), adressiert an den praefectus praetorio Galliarum, Constantianus684) als „zentraler Beleg“685 ins Feld geführt. Hierin regelte Theodosius I. nach seinem Sieg über Magnus Maximus im Jahr 388, dass alle Urteile, insbesondere diejenigen der Provinzstatthalter (iudices), die Maximus eingesetzt hatte, keine Validität mehr zur Klärung von Rechtsfragen hätten und deshalb aus den Aufbewahrungsorten (scrinia) der öffentlichen Dokumente entfernt werden sollten. Zur Bedeutung der Schriftlichkeit für die Gerichtspraxis ist überdies auf das Archiv der Africa Proconsularis zu verweisen, das Augustinus mehrfach benennt. Im Archiv des proconsul Africae sei es bei Bedarf möglich ge-

681 Haensch, Statthalterarchiv, 211 f., der den Begriff Archiv dahingehend versteht, dass „schriftliche Aufzeichnungen, die im Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit der Statthalter Roms entstanden waren, nach dem Ende der jeweiligen Amtszeit in der Provinz aufbewahrt wurden.“ Diese dienten dem Zweck, es dem Träger der Verwaltung gelegentlich zu erlauben, administrative Vorgänge als Parallelen heranzuziehen oder aus Gründen der Kontrolle zu überprüfen. 682 Zur Frage, ob es in der Spätantike Statthalterarchive gegeben habe siehe Haensch, Statthalterarchive, der jedenfalls mit Blick auf die commentarii von einer Führung von Amtstagebüchern auch in der Spätantike ausgeht („Jedenfalls ist festzuhalten, dass die Amtstagebücher im Rahmen der Reformen Diokletians keineswegs abgeschafft worden sind.“ Ebd., 339), die einzelnen Quellenarten zusammenstellt und selbst in Bezug auf die – sonst so „ergiebige“ – ägyptische Dokumentation zu dem Ergebnis kommt, dass das bisher vorhandene Wissen sehr gering ist. Für die Kaiserzeit konnte Haensch, Statthalterarchiv, bezogen auf die Provinz Aegyptus herausstellen, dass seit der Zeit des Claudius die Amtstagebücher (commentarii) der in den Provinzen tätigen Amtsinhaber in einem dort befindlichen Archiv aufbewahrt wurden. Haensch resümiert insofern (ebd., 245): „Die commentarii bildeten also wohl seit der Zeit des Claudius (spätestens aber seit Mitte des 2. Jh.) einen umfangreichen, zumindest später in sich gegliederten, zugänglichen und benutzten Kern eines ortsfesten Archivs des Statthalters jeder Provinz“; ebd., 295: „Dem einzelnen römischen Statthalter in einer Provinz der Zeit des Prinzipats stand ein kontinuierlich benutztes Archiv, das Unterlagen seiner Vorgänger enthielt, zur Verfügung.“ „Den Kern dieses Archivs bildeten die commentarii, die umfangreichen und zumindest später gegliederten Amtstagebücher, die seine gesamte Tätigkeit protokollierten“. Ebenfalls für die Provinz Aegyptus hat Jördens, Strafgerichtsbarkeit, das Quellenmaterial (insb. zu den Gerichtsprotokollen) in Bezug auf die strafrechtlichen Tatbestände, die für das Gericht des Statthalters reserviert waren (insb. die Schwerkriminalität) zusammengestellt. 683 Zu dieser siehe Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 557; so bezeugt in Cod. Iust. II 3,28 (294), Cod. Theod. II 4,2 (322) sowie Cod. Iust. I 2,14,7 (470). Zu dieser siehe auch Haensch, Statthalterarchive, 335; ders., Statthalterarchiv, 244 mit Blick auf die Kaiserzeit; allgemein Bickermann, Testificatio. 684 Vgl. PLRE I Constantianus 2, 222. 685 So Haensch, Statthalterarchive, 336 nebst Anm. 11 mit Bezug auf Seeck, RE II 2 A 1, 901.

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wesen, Prozessunterlagen, -protokolle sowie den gesamten Wortlaut von Richtersprüchen einzusehen und nachzulesen.686 Die Dokumentations- und Archivierungspraxis am Gericht a quo war Grundvoraussetzung für die Etablierung einer effizienten Kontrolle durch die „zweite Instanz“, die sich in ihrer Entscheidungsfindung allein auf die vorgelegte schriftliche Dokumentation und Berichterstattung stützte. Nicht nur sollte es dadurch den Provinzstatthaltern bei Rechtsfragen vereinfacht möglich sein, in schriftlichen Austausch mit dem höheren Gericht treten zu können. Daneben sollte es auch den Prozessparteien offenstehen, eine richterliche Entscheidung nochmals überprüfen zu lassen. Tragender Faktor für die Funktion einer solchen Kommunikation war, dass die angerufene „Instanz“ über denselben Informationsstand verfügte wie der Ratund Rechtsuchende. Ohne Vorlage der die Streitsache betreffenden Dokumentation, war es den angegangenen Autoritäten nicht möglich, Rechtsfragen abschließend zu beantworten oder auch „zweitinstanzlich“ zu entscheiden. Den Richtern standen verschiedene Wege zur Verfügung, um mit der höheren „Instanz“ in Dialog zu treten: u. a. die Verfahrensformen der relatio und consultatio. Den Parteien wiederum z. B. die Einlegung der appellatio und im Ausnahmefall der supplicatio. Eine zunehmende Kontrolle der Gerichtsverwaltung und -organisation wurde durch die mit ihnen notwendigerweise verbundene „Schriftlichkeit“687 erst ermöglicht.688 Die in diesem Kontext erlassenen Vorschriften zu genauer Dokumentation und Aktenführung, zur Abfassung von schriftlichen Urteilen und Datierung von Schriftstücken trugen genauso wie die verschiedenen Auflagen an die Richter und ihr officium, die Gerichtsakten in ihrer Vollständigkeit689 zu übersenden, dazu bei. Nachstehend soll daher auf eine administrativ-strukturelle Grundvoraussetzung für die Funktionalität der Rechtsmittelverfahren an sich eingegangen werden – die notwendige Übersendung der vollständigen „erstinstanzlichen“ Gerichtsakten. In den dafür zu behan-

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Hierzu und zu den drei Dokumentenkomplexen, auf die Augustinus (c. Cresc. III 61, 67; c. Cres. III 70, 80, Brevic. Coll. III 7,8 sowie Actes Conf. Carthago [SChr. 194] I 48) beim Statthalterarchiv der Africa Proconsularis verweist, ausführlich Haensch, Statthalterarchive, 336 f. 687 Ein Ausnahmefall ist dabei Cod. Theod. XI 30,7 (317), worin Konstantin adressiert an Bassus, praefectus Urbi, darauf hinweist, dass den Prozessparteien freistehe, mündlich zu appellieren: Litigatoribus copia est etiam non conscriptis libellis ilico appellare voce, cum res poposcerit iudicata. 688 Vgl. Noethlichs, Beamtentum, 168 und 227. 689 Die Akten sollten das gesamte Material beinhalten, das zur vollkommenen Aufklärung der Sache notwendig war. In den Gesetzen finden sich hierfür verschiedene Termini: instructio plena (Cod. Theod. II 18,1; 321), acta omnia (Cod. Theod. XI 29,5; 374), gesta omnia (Cod. Theod. XI 30,5; 316), instructio universa (Cod. Theod. XI 30,6; 316), instructiones necessariae (Cod. Theod. XI 30,9; 318), integra instructio (Cod. Theod. XI 30,11pr.; 313), universa (Cod. Theod. XI 30,18; 329 sowie XI 30,29; 362), cuncta instrumenta (Cod. Theod. XI 30,35; 370); vgl. zum konstantinischen Ideal der ,Vollständigkeit‘ auch Dillon, Justice, 205 – 209.

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delnden 14 Konstitutionen690, die von den Kompilatoren in den Codex Theodosianus aufgenommen worden sind, finden wir uns konfrontiert mit dem kaiserlichen Hinweis auf die Bedeutung der Vollständigkeit der Aktenübersendung sowie der Bedeutung der generellen Übersendung der Akten. Die Konstitutionen deuten auf erhebliche Probleme bei der Dokumentation, dem Zugang (der Parteien) zu den und der Übersendung der Akten hin – allesamt im Kontext der Verfahrensverzögerung und -umgehung stehend. Bezüglich welcher Verfahrensarten wurde dies thematisiert und welche Fristen galten für die Übersendung der Akten? 2. Die Unterdrückung entscheidungsrelevanter Gerichtsakten im Codex Theodosianus a) Zur Vollständigkeit der zu übersendenden Gerichtsakten Dass die Notwendigkeit der Übersendung der vollständigen Dokumentation an die zweite bzw. angerufene „Instanz“ nicht an allen Gerichten erkannt wurde, ist ein in der Gesetzgebung häufig belegtes Problem691 und wird daher auch im Rahmen verschiedener Verfahrensarten thematisiert, so beispielsweise bei einer appellatio, einer consultatio ante sententiam692 oder relatio. Um eine rechtliche Beratung zur bzw. Befassung mit der Streitsache überhaupt zu ermöglichen, war ein Einblick in den „erstinstanzlichen“ Rechts- und Sachstand Voraussetzung. Dies implizierte eine zuvor durch den Statthalter und seine officiales geschuldete vollständige, detaillierte Aktenführung693 sowie die Übersendung der Gerichtsakte. 690 Cod. Theod. XI 30,1 (314), XI 29,1 (314), XI 30,24 (348), XI 30,35 (370), XI 30,5 (316); XI 30,6 (316), XI 30,9 (318), XI 30,8 (319), XI 30,29 (362), XI 30,31 (363), XI 30,32 (364); XI 30,34 (364); XI 29,5 (374), XI 30,65 (415). 691 Dies bespricht u. a. auch Gaudemet, Constitutions, 67. 692 Zum Terminus: Der Ausdruck ist nicht römisch, wurde mithin von der romanistischen Literatur zur Unterscheidung dieser consultatio von der nach Appellationseinlegung notwendig abzufassenden consultatio eingeführt, vgl. dazu Litewski, Appellation (I), 255; ebenso ders., Consultatio, 227 nebst Anm. 1 mit Anführung der entsprechenden Literatur. 693 Dass eine sorgfältige Aktenführung (insbesondere in Bezug auf die Protokollierung des Urteilsspruches) erwartet wurde, zeigen Quellen aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr.: Die officiales der Provinz Aegyptus waren – so berichtete Lukian – angehalten, die sententiae seines Statthalters mit höchster Genauigkeit zu protokollieren, da diese im Archiv für die Ewigkeit aufbewahrt würden (Lukian. apol. 12: … ja· t±r toO %qwomtor cm¾seir pq¹r t¹ sav´statom ûla ja· !jqib´statom s»m p¸stei t0 lec¸st, diavuk²tteim ja· paqadidºmai dglos¸ô pq¹r t¹m !e· wqºmom !pojeisol´mar …; „… keeping the clearest and most accurate copy of the president’s decisions in all faithfulness and putting them on public record to be preserved for all time …“ Übers. nach Kilburn, Lucian, 209). Auch Apuleius schilderte, dass das Urteil mündlich kundgetan wurde, allerdings von einem Wachstäfelchen verlesen, mithin vorformuliert worden war, da es später in das Archiv der Provinz gebracht wurde (Apul. flor. 9: … Praeco proconsulis et ipse tribunal ascendit, et ipse togatus illic videtur, et quidem perdiu stat aut ambulat aut plerumque contentissime clamitat; enimvero proconsul ipse moderata voce rarenter et sedens loquitur et plerumque de tabella legit; quippe praeconis vox garrula ministerium est, proconsulis autem tabella sententia est, quae semel lecta neque augeri littera una

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b) Consultatio (ante sententiam) Kaiser Konstantin griff die vorgenannten Verfahrensarten teils zusammen, teils einzeln in seinen Gesetzen auf: Im Rahmen eines – nach J. Dillon als „the administrative equivalent of the layman’s private rescript“694 prägnant zu beschreibenden – consultatio (ante sententiam)-Verfahrens695 hielt es Kaiser Konstantin im Jahr 314 für notwendig, den Adressaten und wohl ursprünglich von der consultatio (ante sententiam) Gebrauch machenden corrector Lucaniae et Bruttiorum, Claudius Plotianus696 über die einzelnen Schritte im consultatio ante sententiam-Verfahren aufzuklären. Die Konstitution ist in zwei Fragmenten in den Codex Theodosianus eingegangen.697 Nach Konstantin (Cod. Theod. XI 29,1; erstes Fragment)698 war das consultatio (ante sententiam)-Verfahren von Plotianus nur im Ausnahmefall anzuwenden. Konstantin konkretisierte diesen „Ausnahmefall“ in einem späteren Gesetz699 daneque autem minui potest, sed utcumque recitata est, ita provinciae instrumento refertur …; „… Auch der Herold des Proconsuls steigt auf das Tribunal und erscheint dort mit der Toga bekleidet. Er bleibt stehen oder geht umher, meistens aber schreit er mit äußerst angestrengter Stimme, während der Proconsul sitzt, dabei nur ab und zu und mit gedämpfter Stimme spricht; er liest gewöhnlich, was auf dem Wachstäfelchen steht. Mit kreischender Stimme zu sprechen, ist die Aufgabe des Herolds, die des Prokonculs, vom Täfelchen das Urteil zu verlesen. Dem einmal verlesenen Urteil darf kein Buchstabe mehr hinzugefügt oder weggenommen werden, und so, wie es verlesen wurde, so wird es in das Archiv der Provinz gebracht …“ Weiterführend und insbesondere zur Bedeutung der Gerichtsprotokolle zur Bestätigung von Aussagen siehe Haensch, Statthalterarchiv, 221 f. 694 Dillon, Justice, 200. 695 Zur consultatio ante sententiam zuletzt Dillon, Justice, 218 f. mit Verweis auf einen Großteil der einschlägigen Literatur und insbesondere gestützt auf die Studie von Litewski, Consultatio; Dillon berücksichtigt dabei nicht die Untersuchungen von Pergami zum Institut der consultatio ante sententiam: Pergami, Consultatio, insb. 11 f. mit umfangreichen Verweisen auf die vorausgegangene Literatur; ebenso zur Abgrenzung zwischen consultatio ante sententiam und appellatio more consultationis ders., Amministrazione, hier: 64 – 67; ders., Studi, insb. 432 f. 696 Vgl. PLRE, Band I, Claudius Plotianus, 706. 697 Vgl. Cod. Theod. XI 30,1 sowie XI 29,1; so Seeck, Regesten, 162, siehe auch Corcoran, Empire, 305. 698 Cod. Theod. XI 29,1 (314): Post alia: super paucis, quae iuridica sententia decidi non possunt, nostram debes consulere maiestatem, ne occupationes nostras interrumpas, cum litigatoribus legitimum remaneat arbitrium a sententia provocandi.; „Nach anderen Angelegenheiten: In Anbetracht der Tatsache, dass den Streitparteien die rechtmäßige Möglichkeit der Berufungseinlegung gegen Entscheidungen bleibt, musst Du Unsere Majestät nur zu einigen wenigen Angelegenheiten konsultieren, die nicht durch Urteil entschieden werden können, damit Du unsere Staatsgeschäfte nicht unterbrichst.“ 699 Dem gab er u. a. in Cod. Theod. XI 29,2 (318), adressiert an Profuturus, praefectus annonae, Ausdruck: Si quis iudicum duxerit esse referendum, nihil pronuntiet, sed magis super quo haesitandum putaverit, nostram consulat scientiam aut, si tulerit sententiam, minime postea, ne a se provocetur, relatione promissa terreat litigantes.; „Wenn ein Richter davon ausgehen sollte, dass ein Fall an Uns verwiesen werden sollte, muss er keine Entscheidung aussprechen, sondern er sollte Unsere Weisheit zu dem Punkt befragen, an dem er Zweifel hegt.

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hingehend, dass eine an ihn herangetragene consultatio (ante sententiam) nur dann zulässig sei, wenn der Richter hinsichtlich der zu entscheidenden Rechtsfrage fehlendes Fachwissen und daher Zweifel hatte.700 C. Dupont und nun auch J. Dillon interpretieren diesen von Konstantin betonten „Ausnahmecharakter“ der consultatio (ante sententiam) in Cod. Theod. XI 29,1 dahingehend, dass Konstantin versuchte, die Fülle der an ihn herangetragenen Fälle einzudämmen, da er hierdurch von wichtigeren Aufgaben abgehalten wurde.701 Die Anwendung der consultatio (ante sententiam) stellte nicht zuletzt durch die zeitweise Abgabe des Verfahrens an den kaiserlichen Gerichtshof einen enormen Verzögerungsfaktor für das ganze Verfahren dar. Im zweiten Fragment (Cod. Theod. XI 30,1), auf welches als prinzipielle Regelung auch in späteren Gesetzen immer wieder Bezug genommen wurde702, hält Konstantin eine „Lehrstunde“. Hatte sich ein Statthalter entschlossen, das consultatio ante sententiam-Verfahren in zulässiger Weise anzuwenden, sollte er zumindest auch die betreffenden Vorgaben für die notwendige Dokumentation und die Aktenübersendung berücksichtigen (Cod. Theod. XI 30,1; 27. Dezember 314703): Si in negotio civili cognitis utrisque actionibus pronuntiaveris te ad nostram scientiam relaturum, consultationis exemplum litigatoribus intra decem dies edi aput acta iubeas, ut, si cui forte relatio tua minus plena vel contraria videatur, is refutatorias preces similiter tibi aput acta offerat intra dies quinque, quam illi exemplum consultationis tuae obtuleris. Iam dicationis tuae est omnia, quae aput te vel aput alios gesta fuerint in eo negotio, consultationi tuae cum refutatoriis litigantis adnectere … sed sine his, quoniam intra statutum tempus oblatae non sunt, gesta omnia ad nostram referre scientiam. Sollte er jedoch eine Entscheidung treffen, darf er die Prozessparteien nicht davon abhalten, Berufung einzulegen, indem er verspricht, die Angelegenheit an uns zu verweisen.“ Zur Datierung siehe Corcoran, Empire, 308; siehe auch Seeck, Regesten, 57. 700 Der Grundsatz, dass nur aufgrund von rechtlichen Zweifeln eine consultatio (ante sententiam) eingelegt werden sollte, wird auch durch Cod. Iust. I 14,11 (474); I 14,12 (529) sowie Nov. Iust. 113,1pr. (541) bestätigt. Die früheste uns bekannte Quelle für das Verfahren der consultatio ante sententiam sind die Briefe Plinius des Jüngeren an Trajan, die dieser zur Zeit seiner Statthalterschaft in Bithynien (in den Jahren 111 – 113) geschrieben hatte (insb. epist. 1,29; 10,31; 10,96). Die praktische Anwendung bezeugen auch manche der späteren Relationes des Q. Aurelius Symmachus, Berichte an den Kaiser aus seiner Zeit als Stadtpräfekt (insb. rel. 19; 40,6). 701 Vgl. Dillon, Justic, 199 sowie Dupont, Constantin, 558. Klar abzugrenzen ist die hier thematisierte Verfahrensart der consultatio (ante sententiam) als Spezialform der relatio von der Fülle der einfachen, ordentlichen relationes, die an den Kaiser in diversen Fällen herangetragen wurden. Die relationes, beispielsweise thematisiert in Cod. Theod. I 15,1 (325) sowie Cod. Theod. I 16,4 (328), werden von Konstantin wie folgt beschrieben: Es handele sich um Fälle, in denen Parteien unversöhnlich waren oder eine persona potentior involviert war, über die ein rangniederer Provinzstatthalter nicht richten konnte. 702 Vgl. in Cod. Theod. XI 30,5 (316), XI 30,24 (348) sowie in XI 30,8pr. (319). Zur Kontroverse um den Rückbezug auf Cod. Theod. XI 30,1 in Cod. Theod. XI 30,8pr. siehe unten Anm. 779. 703 Zur Datierungsdiskussion siehe Pergami, Amministrazione, 9 ff.; Datierung nach Corcoran, Empire, 305; anders Seeck, Regesten, 162 sowie 78, der auf den 26. Dezember 313 datiert; dem folgt Gaudemet, Constitutions, 54.

III. Die transmissio suppressa

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„Wenn Du in einem Zivilverfahren, nachdem Du beide Klagen der Parteien gehört hast, die Ankündigung machst, dass Du intendierst, diesen Fall an Uns zu referieren, sollst Du zu den Akten befehlen, dass die Abschrift der consultatio innerhalb von zehn Tagen an die Prozessparteien herausgegeben werden soll, damit, wenn irgendjemandem Deine relatio unvollständig oder gegen die Fakten erscheint, derjenige innerhalb von fünf Tagen preces refutatoriae zu den Akten vorlegen kann, nachdem Du jenem eine Abschrift deiner consultatio dargeboten hast. Nun ist es die Pflicht Deiner Ergebenheit deiner consultatio alle Akten anzufügen, die bei dir oder bei anderen in diesem Fall existieren, nebst den preces refutatoriae … wenn keine [preces refutatoriae] innerhalb des angesetzten Zeitraumes eingegangen sind, musst du [ohne preces refutatoriae] alle Akten an Unsere Weisheit überstellen.“

Erster Prozessakt im Rahmen eines Konsultationsverfahrens war eine Ankündigung (interlocutio704) des Richters von Amts wegen, die seine Entscheidung zur Anwendung des consultatio (ante sententiam)-Verfahrens beinhaltete (hier: pronuntiaveris te ad nostram scientiam relaturum). Der Richter hatte hiernach einen Bericht über die Streitsache (consultatio) zu verfassen. Eine Kopie desselben hatte er innerhalb einer Frist von zehn Tagen den Parteien vorzulegen (intra decem dies … quam illi exemplum consultationis tuae obtuleris). Innerhalb von weiteren fünf Tagen konnten die Parteien wiederum selbst Gegendarstellungen705 (hier: preces refutatoriae706) entwerfen, in denen sie auf Unvollständigkeiten oder Unrichtigkeiten (si cui forte relatio tua minus plena vel contraria videatur) des richterlichen Berichts hinweisen konnten.707 Die schlussendlich an den Kaiser übermittelte schriftliche Berichterstattung des Richters über den Verfahrensstand sollte nebst den – sofern vorhandenen – preces refutatoriae und allen das Verfahren betreffenden Akten an den Kaiser übersandt werden. Aus dieser Beschreibung und Aufzählung zu ent704

Die interlocutio bestand teilweise in einer mündlichen Verfügung des Richters und beinhaltete Vorentscheidungen, die der Fortführung des Verfahrens dienten; teilweise allerdings auch Ermahnungen, gerichtet an (eine der) Prozessparteien. Allgemein zur interlocutio Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht, 495 sowie zu den verschiedenen Erscheinungsformen der interlocutio siehe Litewski, Zwischenbescheide; zur interlocutio de plano die durch den Kaiser in Streitigkeiten, die von ihm entschieden wurden, erteilt werden konnte, siehe Nörr, Konstitutionenprinzip. Ulpian erklärt die interlocutio wie folgt (Dig. 49,1,1,2): Huic consequenter videtur rescriptum a consultatione iudicis non esse appellandum, si quis forte interlocutus fuit principem se consultaturum, cum possit post rescriptum provocare.; „Übereinstimmend hiermit erscheint die Verordnung, wider die Anfrage des Richters finde die Appellation nicht statt, wenn ein [Richter] etwa den Zwischenbescheid gefällt hat, er wolle bei dem Kaiser anfragen, weil man nach [Erlassung des] Reskripts die Berufung ergreifen kann.“ 705 Bethmann-Hollweg, Handbuch, 275 hatte hier noch „Bittschriften“ übersetzt; Otto/ Schilling/Sintenis übersetzten preces refutatoriae in Cod. Iust. VII 61,1 (27. Januar 319) mit „Gegendeduction“ und befanden „Gegenausführung“ zu unbestimmt. 706 Der Terminus taucht, auch in anderer Form beispielsweise als libelli refutatorii, ebenfalls in Cod. Theod. XI 30,14 (327) sowie Cod. Theod. XI 30,29 (362) auf. Teilweise wurde in den Quellen nur kurz von den refutatorii gesprochen (so in Cod. Iust. VII 62,6,3 (294) sowie in Cod. Theod. XI 30,11 pr (313); Cod. Theod. XI 30,16 (331). Zur Terminologie siehe Litewski, Appellation (I), hier: 267 nebst Anm. 498. 707 Vgl. Kaser, Zivilprozessrecht, 501 f.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

nehmen ist auch die Definition für gesta omnia: alle das Verfahren betreffenden Akten, der Bericht über die Streitsache (consultatio) sowie die Gegendarstellungen der Parteien (preces refutatoriae).708 Der im consultatio (ante sententiam)-Verfahren adressierte Kaiser antwortete hierauf in Form eines rescriptum709, was wiederum an die Parteianfragen erinnert, sich jedoch von diesen in einem entscheidenden Punkt differenziert: Hier war es der Gerichtsherr, der sich an den Kaiser wandte – nicht die Parteien. Der Kaiser wurde bereits in der ersten „Instanz“ in die Rechtsfindung eingeschaltet und erteilte eine verbindliche Anweisung, wie ein Fall durch das immer noch zuständige Gericht, das eine consultatio (ante sententiam) eingeleitet hatte, zu entscheiden war. Dem rescriptum des Kaisers kam jedenfalls keine Urteilswirkung zu. Die consultatio ante sententiam hatte (wie auch eine ordentliche relatio) anders als die appellatio keinen Devolutiveffekt. Im consultatio (ante sententiam)-Verfahren wechselte die urteilssprechende „Instanz“ nicht durch Einlegung. Der das Verfahren der consultatio (ante sententiam) wählende Richter war allerdings in seiner finalen Entscheidung an die Anweisung bzw. Vorgabe des Kaisers zur Entscheidung des Falles gebunden. Die im Reskript enthaltene Entscheidung hatte also Bindungswirkung.710 Mit Blick auf die Verfahrensführung stellte Konstantin in Cod. Theod. XI 30,1 die Bedeutung der Vollständigkeit der seitens des Statthalters zu erstellenden und zu übersendenden Unterlagen heraus. Seit Augustus wird die Erstellung und Vorlage der erforderlichen Unterlagen als Aspekt einer sorgfältigen Verfahrensführung von einem diligens arbeitenden iudex erwartet.711 Dies betraf zum einen die Erstellung des Berichtes durch den Richter, der – wie in Cod. Theod. XI 30,1 gefordert – vollständig und richtig sein sollte.712 War der Bericht (hier: relatio) jedoch unvollständig oder falsch (minus plena vel contraria), konnten die Parteien dies in ihren preces refutatoriae rügen. Zum anderen betraf dies die vollständige Übermittlung des Sach- und Streitstandes nebst dokumentarischer Evidenz. In ähnlicher Lehrbuch708 Zur Übersendung der Prozessakten sowie der zusätzlichen Dokumente im Rahmen eines Appellationsverfahrens siehe Litewski, Appellation (I), 270 f. 709 Vgl. Litewski, Consultatio, 252 nebst Anm. 109. 710 Kritisch sieht dies Laquerrière-Lacroix, Portée, 533. Sie geht zwar auch davon aus, dass der ,erstinstanzliche‘ Richter in derjenigen Position verblieb, aus der heraus der finale Urteilsspruch erfolgte. Ebenso sieht sie kein automatisches Ersetzen der Entscheidung des ,erstinstanzlichen‘ Richters durch den Entscheidungsvorschlag des Kaisers. Ihrer Auffassung nach war der Richter jedoch nicht an den Entscheidungsvorschlag des Kaisers gebunden, sondern weiterhin frei in seiner Entscheidungsfindung: „Le juge paraît rester libre de sa sentence“. Dem ist mit Litewski, Maggio sowie Demichell und nunmehr auch Dillon nicht zu folgen, die dem kaiserlichen Entscheidungsvorschlag Bindungswirkung zusprechen: So Litewski, Consultatio, 253 sowie Anm. 112; Maggio, Note, 303 – 304 nebst Anm. 60, der sich hierfür auf Cod. Theo. XI 30,1 und XI 29,1 bezieht; vgl. auch Demichell, Relatio, 336, der für seine Argumentation Cod Theod. XI 30.6 heranzieht; vgl. auch Dillon, Justice, 202: „… the response of the emperor was equivalent to a statement of law“; „… a consultatio produced rulings reached by the emperor and executed by the provincial judge.“ 711 Vgl. Wankerl, Appello, 237 nebst Anm. 1153 mit Verweis auf Suet. Aug. 51,1 – 3. 712 Vgl. so auch in Cod. Theod. XI 30,11pr (vera et universa).

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Manier wie bereits in Cod. Theod. XI 30,1 ist auch die spätere, ins Jahr 370 zu datierende Konstitution Cod. Theod. XI 30,35713 ausgestaltet: Hierin wurde dem praefectus praetorio Orientis, Modestus714, von Kaiser Valentinian I. aufgezählt, welche Prozessakten er im Rahmen eines consultatio (ante sententiam)-Verfahrens an ihn als nächsthöhere „Instanz“ zu übersenden hatte. Er machte detaillierte Angaben dazu, welche Unterlagen in der verpflichtend zu übersendenden Dokumentation715 enthalten sein mussten: Zusammen mit dem Bericht und den testimonia vel confessiones partium hatte der Richter auch alle den Fall betreffenden Prozessakten zu übersenden, um dem Kaiser als entscheidender „Instanz“ einen Einblick in den Sach-, Streit- und Verfahrensstand zu geben, die maßgeblichen Streitpunkte aufzuzeigen und eine vollständige Aufklärung der Sache zu ermöglichen.716 Sowohl in Cod. Theod. XI 30,1 sowie dem späteren Cod. Theod. XI 30,35 wurde seitens des Kaisers detailliert darauf gedrängt, dass omnia huiusmodi, in quibus causa consistit et habere exitum videatur – alles, was das Verfahren betraf und wovon eine Entscheidung anscheinend abhing, zu übersenden war. Die Dokumentation in ihrer Vollständigkeit sollte dem iudex ad quem die Möglichkeit einräumen, sich mit der Streitsache vertraut zu machen, eine Nachprüfung anzustellen und als effiziente Kontrollinstanz fungieren zu können. Für Letzteres war es nicht nur notwendig, Einblick in die Gerichtsprotokolle und den Bericht des Richters zu bekommen, sondern vor allem auch die Vorwürfe der Parteien, enthalten in den preces refutatoriae sowie die von diesen vorgelegten, schriftlichen Beweismittel sowie (protokollierten) Geständnisse und Zeugenaussagen einsehen zu können. Ohne Letztere war es dem Kaiser bzw. dem der consulatio (ante sententiam) abhelfenden Mitglied seines Stabes nicht möglich, eine sichere Aussage über den Streitfall zu treffen und einen bindenden „Entscheidungsvorschlag“ vorzulegen.717 Den Kaisern kam es 713

Cod. Theod. XI 30,35 (370): Cuncta instrumenta, quae iudiciis offeruntur, subiecta consultationi gesta continere debebunt. Sed et acta, quae sint ante habita, et monumenta transmittenda sunt, hisque adnectenda sunt testimonia vel confessiones partium et omnia huiusmodi, in quibus causa consistit et habere exitum videatur.; „Die Urkunden müssen bei einer consultatio allesamt zusammen mit dieser an den Kaiser übersandt werden und alle Dokumente enthalten, die im Verfahren ausgestellt und vorgelegt wurden. Auch die Akten, welche vorher behandelt wurden und die Urkunden müssen vorgelegt werden. Ferner müssen die Zeugnisse und Geständnisse der Parteien und alles vorgelegt werden, um was es in diesem Verfahren geht und wovon die Entscheidung abhängt.“ 714 Vgl. PLRE I Domitius Modestus, 605 – 608. 715 Zum zwingenden Inhalt der zu übersendenden Dokumentation siehe auch oben S. 164 sowie unten Anm. 727. 716 Vgl. Litewski, Consultatio, 245. 717 Oder wie Dillon, Justice, 206 es formuliert: „The efficiacy of the consultatio procedure depended wholly on the availability of all materials relevant to the case“. Ganz abwegig ist dagegen der Ansatz von Laquerrière-Lacroix, Portée, 534 – 535, die Cod. Theod. XI 30,9 (318 n. Chr.) dahingehend interpretieren will, dass hierin eine neue Handhabung der Konsultationsverfahren zu erkennen sei. Nummehr würde der Kaiser auf eine consultatio hin eine finale Entscheidung treffen, wogegen keine Appellation mehr möglich sei: „… la sentence est définitive et sans appel“. In der Zeit davor hätten die Richter noch selbst die Gesetze interpretiert

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insbesondere auf die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrensablaufs am Gericht ad quem an. Nicht zuletzt gestattete die Aktenübersendung auch eine Kontrolle des iudex a quo und seines officium von Amts wegen.718 c) Relatio, supplicatio und appellatio Auf das Gesetz aus dem Jahr 314 folgten eine Reihe weiterer konstantinischer Gesetze, die – teils unter Verweis auf ebendieses719 – den Hinweis auf die Übersendung der vollständigen gerichtlichen Dokumentation wiederholten und rückbestätigten. Es wurde nicht mehr nur auf die Verfahrensvorschrift für das consultatio (ante sententiam)-Verfahren, die Unterlagen schnellstmöglich und vollständig weiterzugeben, aufmerksam gemacht. Nunmehr wurde dies auch im Rahmen von ordentlichen Relationsverfahren und insbesondere auch in Appellationsverfahren thematisiert. Mit einem Erlass vom 13. August 316720, der in zwei Fragmenten in den Codex Theodosianus eingegangen ist721, richtet sich Kaiser Konstantin an Petronius Probianus, proconsul Africae722, an dessen Gericht es anscheinend zuvor zu Beschwerden, u. a. gegen Probianus selbst gekommen war723 : Das erste Fragment (Cod. Theod. XI 30,5)724 thematisiert sowohl die consultatio (ante sententiam), als auch die ordentliche relatio und die appellatio.725 In allen drei und wären unabhängig von den Vorschlägen des Kaisers zu einer eigenen Entscheidung in den Fällen gekommen. Nunmehr, ab dem Jahr 318, sei der Entscheidungsvorschlag des Kaisers bindend geworden. 718 Vgl. so auch Litewski, Consultatio, 245. 719 So beispielsweise in Cod. Theod. XI 30,5 (316); vgl. dazu auch Dillon, Justice, 206. 720 Zur Datierung siehe Corcoran, Empire, 307; dem folgt Dillon, Justice, 212; anders noch Seeck, Regesten, 165, der auf den 18. August 316 datiert. 721 Vgl. Cod. Theod. XI 30,5 (= Cod. Iust. VII 62,13) sowie XI 30,6 (= Cod. Iust. I 21,2); vgl. Corcoran, Empire, 307, so nun auch Laquerrière-Lacroix, Portée, 531. 722 Vgl. PLRE, Band I, Petronius Probianus 3, 733 f. 723 Petronius Probianus wird in Cod. Theod. XI 30,5 sowie XI 30,6 teils stark in seiner Amtsführung kritisiert. Dies hatte aber offensichtlich keine Auswirkungen auf seinen späteren Werdegang: Petronius Probianus ist für das Jahr 321 mit großer Wahrscheinlichkeit als Prätorianerpräfekt nachweisbar. (Vgl. Cod. Theod. XI 42,1 (321); PLRE, Band I, 734 geht von seiner Stellung als Prätorianerpräfekt aus.) Er bekleidete später zudem das Amt des praefectus urbis Romae, vgl. Symmachus (342 – 402/403), der in einem seiner Briefe über ihn schrieb (epist. I 2.6). 724 Cod. Theod. XI 30,5 (316): Ex illo tempore, quo in civilibus causis, quae inter privatos moventur, consultaturum vel relaturum te esse promiseris vel appellationis a te interpositae sollemnia completa fuerint, nihil posthac tibi quodlibet speciale ac requisitum vel quibuscumque modis favoris gratiam praeferens audiendum est, sed observandum, ut iuxta priora statuta sollemnitatis more expleto gesta ad comitatum omnia dirigantur.; „Von der Zeit an, von der Du versprochen hast, Uns in einer zwischen Privaten verhandelten Zivilangelegenheit zu konsultieren oder Bericht zu erstatten oder nachdem die Formalitäten einer Appellationseinlegung gegen Deine Entscheidung vollständig erfüllt wurden, darf von Dir nichts, keine spezielle Anfrage oder irgendetwas eine Begünstigung involvierendes, Gehör erhalten, sondern es

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Fällen war die Anfertigung eines Berichtes sowie die Weitergabe einer vollständigen Dokumentation an die endgültig über den Fall entscheidende, nächsthöhere „Instanz“ wesentliche Aufgabe des sorgfältigen Richters. Im Grundsatz galt: Wenn der zuständige iudex in Dialog mit den Parteien getreten war und diesen eine Übersendung „versprochen“ hatte (promiseris726), so hatte die Gerichtsakte vollständig zu sein und sollte in ihrer Gesamtheit an den nächsthöheren Richter übersandt werden (gesta ad comitatum omnia dirigantur). Wie Kaiser Konstantin auch im Jahr 321 nochmals bekräftigte, durfte keinesfalls etwas an den kaiserlichen Gerichtshof übersandt werden, quod plena instructione indigeat.727 Die vom „erstinstanzlichen“ Richter vorgelegte Dokumentation war u. a. auch Beweis für eine genaue, gewissenhafte Arbeitsweise des Richters während des ersten Verfahrensstadiums. Das (bereits zur Zeit Augustus bezeugte728) kaiserliche Ideal war mithin eine sorgfältige Aktenführung, die schriftliche Dokumentation der einzelnen Verfahrensschritte und schlussendlich auch die schriftliche Niederlegung des Urteils729, um eine Kontrolle desselben in einer potentiell angerufenen zweiten „Instanz“ und dadurch Rechtssicherheit730 gewährleisten zu können. Dass dieses Ideal bereits mehrfach auch so kommuniziert worden war, zeigt die in Cod. Theod. XI 30,5 enthaltene Formulierung iuxta priora statuta sollemnitatis more expleto gesta ad comitatum omnia dirigantur.731 Den Richtern, bzw. zumindest ihren officia sollte die Regelung zur Übersendung aller Unterlagen bereits bekannt gewesen sein. Da die Einhaltung der Verfahrensvoraussetzungen zur Weitergabe des Verfahrens an das Gericht ad quem, sei es im Rahmen einer consultio (ante sententiam), einer relatio oder appellatio, in den Verantwortungsbereich des Statthalters fiel, hing der Erfolg des Verfahrens im muss von Dir beachtet werden, dass den früheren Vorschriften gemäß alle Formalitäten eingehalten werden und – unter Beachtung der alten Vorschriften – alle Unterlagen an Unseren Gerichtshof eingesandt werden.“ Zu Cod. Theod. XI 30,5 und der darin angesprochenen Problematik der gratia iudicum siehe auch oben S. 59 f. 725 So auch Demichell, Relatio, 334. 726 In Cod. Theod. XI 30,1 verwendet er pronuntiaveris. Die Bekanntgabe der Entscheidung, den Fall dem Kaiser vorzulegen, ist eigentlich als interlocutio einzustufen, da erst nach der kaiserlichen Antwort auf die consultatio eine endgültige Entscheidung des Falles folgen konnte. 727 Vgl. Cod. Theod. II 18,1 (321) (= Cod. Iust. III 1,9): … Nec ad nos mittatur aliquid, quod plena instructione indigeat.; „… Keine Dokumentation, welche an Vollständigkeit mangelt, soll an uns gesandt werden.“ Zur Datierung siehe Corcoran, Empire, 312; siehe auch Seeck, Regesten, 171, ebenso Barnes, Empire, 75. 728 Dazu, dass die Kaiser zunehmend Wert auf die Einhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrensweges legten, siehe Wankerl, Appello, 235, 237 729 Vgl. Cod. Iust. VII 44,1; VII 44,2 (371); VII 44,3 (374). 730 Rechtssicherheit und Rechtskraft als Ausprägungen der Sicherheit und Ordnung finden sich als Begründungselement bereits in den von Wankerl, Appello, 238 untersuchten Digestenstellen (Dig. 26,7,53 sowie Dig. 10,2,41/Dig. 37,14,24, ebd., 193 – 202) und der Inschrift von Athen (ebd., 17 – 67). 731 Es erfolgt hier ein Rückbezug auf die Gesetze Cod. Theod. XI 30,2 sowie Cod. Theod. XI 30,1; zuletzt dazu Laquerrière-Lacroix, Portée, 531.

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Wesentlichen von der Qualität der „richterlichen“ Amtsführung sowie den Intentionen des iudex a quo ab. Gewiss war die Einhaltung der Vorschrift, alles Entscheidungserhebliche an das höhere Gericht zu übersenden, sehr davon abhängig, dass zuvor das Verfahren vor dem Gericht a quo in den acta oder gesta732 nachvollzieh- und prüfbar dokumentiert wurde. Ein Prozess, über den Akten angefertigt und geführt werden sollten, hinterließ nachprüfbare Spuren im System. Die richterliche Prozessführung war dadurch in ganz anderer Art und Weise einer Kontrolle von oben zugänglich.733 Für den Fall, dass das nicht den vorstehend genannten kaiserlichen Idealvorstellungen entsprechende Verhalten des Richters eine Prozesspartei davon abhielt, ihr Recht zu bekommen, wurden im zweiten Fragment (Cod. Theod. XI 30,6) Strafen für den Richter eingeführt. Explizit bezogen auf zwei Szenarien wurde eine mögliche Gegenmaßnahme (hier: supplicatio) für die Parteien vorgestellt (Cod. Theod. XI 30,6; 13. August 316): Supplicare causa pendente non licet nisi forte ei, cui opinionis exemplum negatum est vel instructionis universae subpressa transmissio. Quo facto crimen iudici sacrilegii imminebit, qui hoc commisso litigatori supplicandi necessitatem imponit … „Es ist nicht erlaubt, sich während einer rechtshängigen Sache direkt mit einer supplicatio an den Kaiser zu wenden, außer im Fall eines Prozessführenden, dem eine Kopie des Berichts verweigert wird oder wenn die Übermittlung aller Dokumente des Falles unterdrückt wurde. Wenn dies getan werden sollte, wird der Vorwurf des ,Sakrilegs‘ den Richter bedrohen, der durch eine solche Handlung der Prozesspartei die Notwendigkeit des Bittgesuchs an den Kaiser auferlegt … “

Mit dem Terminus supplicatio734 wurde allgemein jede Bittschrift eines Privaten an den Kaiser bezeichnet,735 mitunter auch die allgemeine Bitte einer Prozesspartei an den Kaiser zur Rechtsgewährung.736 Die Einlegung einer supplicatio setzte voraus, dass der „Instanzenzug“ ausgeschöpft wurde oder aus anderen Gründen nicht begangen werden konnte. Sie war Ultima Ratio. Mitunter war die supplicatio in solchen Fällen eine Art Sonderrechtsmittel, bei denen die Prozesspartei das Urteil des zuständigen Richters als falsch eingeschätzt und/oder der iudex a quo eine appellatio nicht angenommen hatte – so erläuterte es bereits 150 Jahre früher der Jurist 732

Zu den Termini acta und gesta siehe Dillon, Justice, 206. Ein missbräuchlicher Umgang mit Prozessparteien, der jedoch nie dokumentiert wurde, war im Gegenzug nicht nachprüfbar. Dass dies dazu verleitete, in den Akten selbst Veränderungen vorzunehmen, wurde bereits oben auf S. 42 angesprochen. Der Jurist Marcian berichtete beispielsweise auch davon, dass bereits Anfang des dritten Jahrhunderts n. Chr. ein unbekannter Statthalter von Ägypten von Septiminus Severus für die Verfälschung von instrumenta (literae publica, diplomata) nach der Lex Cornelia de falsis bestraft wurde (Dig. 48,10,1,4). Siehe dazu auch Haensch, Statthalterarchiv, 231 nebst Anm. 57. 734 Zur supplicatio und Cod. Theod. XI 30,6 siehe Dillon, Justice, 211 f.; zur supplicatio allgemein vgl. Kaser, Zivilprozessrecht, 432 f.; ebenso Pergami, Appello, 295 – 312, insb. 298 f. 735 Vgl. Kaser, Zivilprozessrecht, 432. 736 Vgl. Pergami, Appello, 250. 733

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Ulpian im vierten Buch seines Werkes De appellationibus.737 Die Kaiser sahen die Möglichkeit der Prozessparteien, sich in bestimmten Fällen direkt an den kaiserlichen Gerichtshof wenden zu können, eher kritisch. Die Bearbeitung solcher Bittschriften beeinträchtigte nämlich die Wahrnehmung ihrer eigentlichen Aufgaben. Insofern ist auch J. Dillon zu folgen, der in Cod. Theod. XI 30,6 primär die konstantinische Intention sieht, auch das Rechtsmittel der supplicatio in seiner Anwendung einzudämmen, die Anzahl dieser außerordentlichen Bittschriften auf ein Minimum zu reduzieren und damit unnötige Verfahrensverzögerungen zu vermeiden.738 Eine allgemeine Verschärfung des Strafmaßes – wie J. Dillon annimmt739 – für diejenigen Handlungen der Richter, die eine solche Bittschrift verursachen konnten, ist Cod. Theod. XI 30,6 jedoch nicht zu entnehmen. Cod. Theod. XI 30,6 betrifft – in Bezug gesetzt zu dem weiteren uns bekannten Fragment des Gesetzes (Cod. Theod. XI 30,5) – nur einen kleinen (Sonder-)Anwendungsbereich der supplicatio: Es wird hier explizit nur der Fall genannt, dass einer Prozesspartei ein opinionis exemplum des Richters verweigert oder die Gerichtsakten nicht an den Kaiser übersandt worden waren (instructionis universae subpressa transmissio). Welche Verfahrensarten betraf also der Terminus opinionis exemplum? In welchen Verfahrensarten wurde der Gebrauch der supplicatio von Konstantin in Cod. Theod. XI 30,6 einer Beschränkung unterworfen? Zur Klärung der Bedeutung des Terminus opinionis exemplum ist ein Blick auf einen Teil des Verfahrensablaufs bei der appellatio740 zu werfen: Die Phase des Verfahrens vor dem iudex a quo umfasste als ersten Schritt nach Einlegung der Appellation und ihrer entsprechenden Annahme oder sofortigen Zurückweisung durch den iudex a quo die Anfertigung eines Berichtes (der auch in diesem Rahmen sogenannten consultatio). Die Erstellung eines solchen Berichtes stand nicht in richterlichem Ermessen. Er enthielt anders als im Rahmen einer consultatio (ante sententiam) keine Anfrage seitens des iudex a quo ans höhere Gericht, sondern lediglich einen sachlichen Bericht, der „wahrhaftige und komplette (vera et universa)

737 = Dig. 49,5,5,1: Non recepta autem appellatione, si quidem principem appellari oportuit, principi erit supplicandum: sin vero alius appellabatur quam princeps, ille erit adeundus.; „Ist nun die Appellation nicht angenommen worden, so wird man, wenn an den Kaiser appelliert werden musste, sich an den Kaiser bittlich zu wenden haben, wenn hingegen an einen Anderen, als den Kaiser appelliert wurde, so muss jener angerufen werden.“ 738 Vgl. Dillon, Justice, 212; so auch Dupont, Constantin, 558 allgemein zur Zielsetzung der konstantinischen Gesetzgebung: „Trois objectifs inspirent la législation constantienne. a) Limiter le recours à la … ,supplicatio‘.“; zur Zweckverfolgung in Cod. Theod. XI 30,6 siehe ebd., 559 f. Dupont sieht die Intention von Cod. Theod. XI 30,6 ganz klar: „Constantin veut seulement éviter des complications et des retards de procédure.“, ebd., 560. 739 So nimmt Dillon, Justice, 212 an. Bei dieser Aussage stützt sich Dillon allein auf Dupont, Constantin, 560 – 561. Hierin wird allerdings nichts zur Verschärfung des Strafmaßes gesagt. 740 Zum Streit über die Existenz einer appellatio more consultationis im Kontext von Cod. Theod. XI 30,9 siehe unten S. 175 f. Zum Ablauf des appellatio-Verfahrens siehe vorstehendes Kapitel appellatio non recipitur ab S. 140 f.

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Angaben“741 enthielt. Dieser fungierte dadurch als eine Art „Urteilsbegründung“742 des iudex a quo, die dem iudex ad quem zur Überprüfung vorgelegt wurde. Dieser Bericht stand hier im Zusammenhang mit der bereits eingelegten und angenommenen appellatio und wurde in diesem Kontext, nach W. Litewskis und nunmehr J. Dillon’s Annahme743, auch mit anderen Termini bezeichnet – insbesondere mit dem Terminus opinio744: „Opinio … consistently accords with a statement by the judge on the grounds for his ruling and the merit of the appellant’s case“745. Nach Abfassung des Berichts war der iudex a quo verpflichtet, dem Berufungskläger ein exemplum seines Berichts auszuhändigen.746 Mit dem Terminus opinionis exemplum war damit die Abschrift (exemplum) des im Rahmen eines Appellationsverfahrens notwendigerweise angefertigten Berichtes (opinio) gemeint. Cod. Theod. XI 30,6 konnte sich somit nur auf die supplicatio nach eingelegter appellatio beziehen.747 Dass mit diesem Terminus nicht auch andere Verfahrensarten angesprochen sein konnten, ergibt sich aus folgender Überlegung: In den Gesetzen finden sich – bezogen auf Relations- und consultatio (ante sententiam)-Verfahren – andere Termini: exemplum consultationis oder relationis748. Wurden also sowohl Verfahrensformalia eines Appellationsverfahrens als auch eines Relations- und Konsultationsverfahrens von

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Litewski, Appellation (I), 265 nebst Bezugnahme auf Cod. Theod. XI 30,11pr. (313). Vgl. Litewski, Appellation (I), hier: 263, der in der consultatio „die Genesis des Systems der Begründung von Urteilen“ sieht. Diese Annahme würde wiederum e contrario voraussetzen, dass – sofern keine Einlegung eines Rechtsmittels erfolgte – die Urteile der iudices a quo keine Begründung erhielten. Zu den Schwierigkeiten, eine Urteilsbegründung in römischer Zeit zu fassen, siehe Bürge, Typisches, 577, der davon ausgeht, dass „Urteile in Rom nicht begründet wurden“. Zu fassen ist jedenfalls der Prozess der Urteilsfindung, der Urteilstenor bzw. Urteilsdispositiv, was jedoch „mehr Hinweis für die künftige Handhabung des Rechts, als […] Anwendung auf den zu beurteilenden Fall“ gibt (ebd., 569 f.). 743 Vgl. Litewski, Appellation (I), 263; siehe auch Dillon, Justice, 227 nebst Anm. 55. 744 Vgl. Litewski, Consultatio, 227: „In den Quellen finden wir Bezeichnungen wie consultatio (iudicis), relatio, opinio, suggestio.“ Ebenso ders., Appellation (I), 263: „Im Zusammenhang damit erhielt die consultatio (sie wurde auch mit anderen Ausdrücken bezeichnet, die bei der consultatio ante sententiam gebildet worden sind, wie relatio, opinio, suggestio) entgegen ihrer Benennung keine Anfrage, sondern war ein sachlicher Bericht.“ So auch Padoa Schioppa, Ricerche, 22. Diese Einschätzung wiederum wird von Pergami, Appello, 98 nebst Anm. 92 sowie 93 kritisiert, der die Textstelle bei Litewski allerdings falsch versteht: Pergami geht fälschlicherweise davon aus, Litewski stelle die verschiedenen Begriffe als Synonyme dar: „Non sembra, infatti, che le due espressioni relatio e opinio possano essere tratatte come sinonimi“. 745 Dillon, Justice, 226 f. 746 So später auch geregelt in Cod. Theod. XI 30,32 (364) nebst 30-tägiger Frist zur Aushändigung an die Parteien. 747 Anders zu Cod. Theod. XI 30,6 dagegen Pergami, Appello, 264. 748 So auch in Cod. Theod. XI 30,1 (314): consultationis exemplum, worin nur das consultatio (ante sententiam)-Verfahren thematisiert wurde. 742

III. Die transmissio suppressa

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den Gesetzgebern geregelt, wurden diese explizit nebeneinander genannt (so in Cod. XI 30,8; 319: opinionis sive relationis exemplum)749. Die supplicatio nach bereits eingelegter appellatio war somit nach Cod. Theod. XI 30,6 nur in den folgenden zwei Ausnahmefällen als „direktes Rechtsmittel“ zulässig:750 Einer Prozesspartei war ein opinionis exemplum des Richters verweigert oder die Gerichtsakten waren durch den iudex a quo nicht an den Kaiser übersandt worden (instructionis universae subpressa transmissio). Für diese „Zuwiderhandlungen“ wurde dem verantwortlichen Richter mit der für ein „Sakrileg“ geltenden Strafe gedroht.751 Hintergrund der Strafandrohung war, dass die verfahrensverzögernde Unterbindung der Weitergabe der Unterlagen und Prozessberichte durch die zuständigen Richter nicht nur die Etablierung eines einheitlichen Systems von primärer und sekundärer Richterzuständigkeit, mithin eines ordnungsgemäßen Verfahrensweges, gefährdete, sondern auch die Rechtssicherheit unterband. Ohne Einhaltung der Verfahrensschritte, insbesondere der Aushändigung von Berichtskopien an die Parteien sowie Übersendung der gesamten Dokumentation, war die Durchführung eines Appellationsverfahrens nicht möglich. Die Aushändigung des Berichtes an den Berufungskläger war für diesen essentiell, um in seinen preces refutatoriae hierauf aufbauen und so erfolgreich vor dem iudex ad quem die Rechtsansichten des iudex a quo widerlegen zu können. Der durch die verfahrensverzögernden Verhaltensweisen des iudex a quo in seiner Rechtsverfolgung gehemmte Berufungskläger schlug in der Konsequenz alternative Wege ein, die die Beteiligung des „erstinstanzlichen“ Richters und seiner Kanzlei nicht voraussetzten – wie die supplicatio. d) Nachbesserungsmöglichkeit bei Unvollständigkeit? In ähnlichem Kontext steht auch eine weitere, in der Forschung752 kontrovers diskutierte Konstitution Konstantins aus dem Jahr 318: In dieser knüpfte er an das an

749 So in Cod. Theod. XI 30,8 (319) (opinionis sive relationis exemplum); XI 30,9 (318) (opinionis vel etiam relationes iudicum). 750 Ganz abwegig interpretiert hier Pergami, Appello, 248 gestützt auf Purpura, Ricerche, 225 – 267, wonach es sich hier nur um den Fall handele, in dem eine supplicatio nur deshalb eingelegt wurde, da die Appellation zuvor aufgrund Unzulässigkeit nicht angenommen worden war; der Ansicht Pergamis, Appello, 94 – 95, es handele sich bei der opinio lediglich um einen Bericht des Richters über die Unzulässigkeit der Appellation, zu dem eine Stellungnahme der Parteien nicht notwendig oder veranlasst war, ist nicht zu folgen; kritisch dazu Dillon, Justice, 226. 751 Die Bestrafung eines ,Sakrilegs‘ variierte stark und konnte sich in Form von Deportation oder auch Todesstrafe ausdrücken, siehe auch Cod. Theod. IX 23,1 (356). Zur Entwicklung der Beschuldigung wegen der Begehung eines ,Sakrilegs‘ vgl. Kelly, Emperors, 143; ebenso Mommsen, Strafrecht, 569 Anm. 7. 752 Vgl. insbesondere die sich zuletzt gegenüberstehenden Positionen von Pergami und Dillon, hierzu siehe untenstehend S. 174 f.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Petronius Probianus erlassene Gesetz an753 und richtete sich an Iulius Severus, vicarius Italiae754. Durch die bereits in Cod. Theod. XI 30,1, XI 30,5 sowie XI 30,6 (teils allgemein, teils personenbezogen) kritisierte, mangelnde Sorgfalt in der Einhaltung der Verfahrensvorschriften war es dem Kaiser als angerufener „Instanz“ oftmals nicht möglich, entsprechenden Rechtsschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten. Die Qualität seiner „zweitinstanzlichen“ Entscheidungen litt unter der mangelnden Vorarbeit durch die iudices a quo (Cod. Theod. XI 30,9; 22. Juni 318755): Ne causas, quae in nostram venerint scientiam, rursus transferri ad iudicia necesse sit, instructiones necessarias plene actis inseri praecipimus. Nam cogimur a proferenda sententia temperare, qui sanximus retractari rescripta nostra ad opiniones vel etiam relationes iudicum data non oportere, quoniam verendum est, ne lis incognito negotio dirimatur adempta copia conquerendi. Quare perennibus inuretur iudex notis, si cuncta, quae litigatores instructionis probationisque causa recitaverint, indita actis vel subiecta non potuerint inveniri. „Damit es nicht notwendig ist, dass Fälle, die vor Uns kommen, wieder an die Gerichte zurückverwiesen werden müssen, ordnen wir an, dass die notwendige Dokumentation vollständig zu den Gerichtsakten gegeben werden soll. Denn wir sind ansonsten gezwungen, keine Entscheidung auszusprechen, weil wir verordnet haben, dass gegen unsere Reskripte, die als Antwort auf opiniones oder relationes von Richtern erteilt werden, nicht vorgegangen werden darf, und weil zu befürchten ist, dass eine Streitsache von uns ohne das hierfür notwendige Wissen entschieden wird, wenn das Recht zur Beschwerde weggenommen wurde. Ein Richter soll mit den ewigen Zeichen756 gebrandmarkt werden, wenn all das, was die Prozessparteien für die Dokumentation vorgelegt haben und als Beweis vorgelegt haben, nicht in den Gerichtsakten gefunden werden kann.“

Bereits von Kaiser Mark Aurel ist uns bekannt, dass er „zweitinstanzliche“ Entscheidungen verweigerte, weil die notwendigen Unterlagen von dem Berufungskläger nicht vollständig beigebracht worden waren: Die von V. Wankerl diskutierte Inschrift von Athen aus dem Jahr 174/175757 enthält in Zeile 20 – 27 zwei Fälle, in denen sich Mark Aurel zum einen mit der Kandidatur bzw. Wahl des Ladikos für das Panhellenion, zum anderen mit einer Berufung des Athenodorus (Streitgegenstand wird nicht genannt) befasst hatte. Er verwies beide Fälle jedoch an die 753 Das Gesetz von 13. August 316 (Cod. Theod. XI 30,5 und XI 30,6). Beide wurden wiederum interpretiert in Cod. Theod. II 18,3, adressiert an Severus, praefectus urbi. 754 Vgl. PLRE, Iulius Severus 25, 836. Letzterer ist möglicherweise identisch mit dem vormaligen und so in Cod. Theod. II 6,1 (6. Mai 316) adressierten praeses Tarraconsensis Iulius Verus, so PLRE Iulius Verus 3, 953. 755 Zur Datierung siehe Corcoran, Empire, 308; siehe auch Barnes, Empire, 144; ebenso bereits Seeck, Regesten, 166. 756 Sowohl Dillon, Justice, 203 („Constantine threatens the judge guilty of suppressing evidence with infamia [perennibus iniuretur notis]“) als auch Slootjes, Governor, 33 sehen in dem Abschnitt Quare perennibus inuretur iudex notis die Bedeutung der ewigen Infamie. So übersetzt auch Haller, Codex, den entsprechenden Abschnitt Quare perennibus inuretur iudex notis in Cod. Iust. VII 62,15. 757 Vgl. Wankerl, Appello, 17 – 68, insb. 40 und 63; zur Datierung siehe Oliver, Marcus Aurelius, 33 f.

III. Die transmissio suppressa

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Quintilii, die die Provinz Hellas in den Jahren 170/171 bis 175 verwalteten. Als Grund hierfür führte Mark Aurel an, dass die Berufungskläger die entsprechende Dokumentation (rpºlmgla – Prozessprotokolle aus dem Archiv des Panhellenion) sowie das „Urteil“ nicht vorgelegt hätten. Auch Konstantin wies in seinem Erlass (Cod. Theod. XI 30,9) eine solche „zweitinstanzliche“ Entscheidung zurück, weil die notwendige vollständige Dokumentation – hier allerdings durch den „erstinstanzlichen“ Richter – nicht vorgelegt worden war. Die unvollständige Aktenführung gefährdete nicht nur Sicherheit und Ordnung sowie das Rechtssystem an sich, sondern auch die kaiserliche Autorität in Rechtssachen.758 Ihm war es nicht möglich, ohne die entscheidende Mit- und Vorarbeit der iudices a quo, eine Entscheidung für den Fall oder über eine Rechtsfrage zu treffen, die rechtlich richtig und unangreifbar war. Die Unterlagen waren überdies für die Bestimmung des Streitgegenstandes von entscheidender Bedeutung, der in erster und zweiter „Instanz“ übereinzustimmen hatte. Wie in Cod. Theod. XI 30,6 wurde auch hier den Richtern, die eine solche Dokumentation unterlassen hatten, eine strenge Strafe auferlegt – hier in Form von ewiger Infamie (perennibus inuretur notis).759 Die in Cod. Theod. XI 30,9 von Konstantin zudem angesprochene Rücküberweisung der Streitfälle lässt folgenden Schluss zu: Der Kaiser räumte den iudices a quo, die eine unvollständige Dokumentation übersandt hatten, auf deren Basis eine „zweitinstanzliche“ Entscheidung nicht erfolgen konnte, die Möglichkeit ein, nochmal nachzubessern und zu ergänzen. Dies ist dem Wortlaut nicht explizit zu entnehmen, allerdings ergibt eine Rückübersendung des Falles – sofern man davon ausgeht, Cod. Theod. XI 30,9 habe ein Appellationsverfahren betroffen – ansonsten keinen Sinn: In der römischen Appellation war das System der Aufhebung des Urteils und Rückübersendung der Sache an das Gericht a quo zwecks Fällung eines neuen Urteils nicht bekannt.760 Eine Rückübersendung der Akten ist uns nur in solchen Fällen geläufig, in denen der Kaiser von einem klaren Wissensvorsprung des „erstinstanzlichen“ Richters, der in der Ortskundigkeit und Kenntnis der lokalen Besonderheiten begründet war, ausgehen musste und so diese gegebenenfalls mit kaiserlichen Handlungsanweisungen versehen an den iudex a quo zur Endentscheidung zurückverwies. Auch zu Cod. Theod. XI 30,9 ist nunmehr die Frage aufzuwerfen, in welchen Verfahrensarten die iudices a quo die gesamte Dokumentation zu übersenden hatten? Welche Verfahrensarten waren hier unter den Termini opiniones vel etiam relationes zu verstehen? Dies wird bezüglich der consultatio (ante sententiam), dem „ordentlichen“ Appellationsverfahren und dem eigenständigen Verfahrenstyp der appellatio more consultationis kontrovers diskutiert.

758 759 760

So auch Dillon, Justice, 208. Vgl. Anm. 619. So schon Litewski, Appellation (I), 271 nebst Anm. 510 und 511.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Nach J. Dillon bezieht sich Cod. Theod. XI 30,9 auf zwei Verfahrenstypen:761 Die consultatio (ante sententiam) und die hiervon zu unterscheidende appellatio more consultationis. Letztere hat sich nach W. Litewski und nunmehr auch J. Dillon762, die sich auf die Darstellung von M. A. v. Bethmann-Hollweg763 stützen, nach den beim consultatio ante sententiam-Verfahren verbindlichen Grundsätzen nebst gewisser Ausnahmen entwickelt und stellt einen eigenständigen Verfahrenstypus dar.764 Die Abweichungen ergaben sich aus funktionellen und strukturellen Unterschieden. Nach W. Litewski unterschied sich das appellatio more consultationis-Verfahren primär in einem Punkt vom klassischen, bzw. von ihm sog. „ordentlichen“ Appellationsverfahren: Eine erneute Durchführung des gesamten Verfahrens unterblieb. Das uns seit Diokletian (Cod. Iust. VII 62,6,3; 294) bekannte und zur Zeit Konstantins in seiner eigentlichen Form entwickelte765 Verfahren der appellatio more consultationis „fand auf der Grundlage des sachlichen Berichts des Gerichts a quo statt, der ihn ergänzenden preces refutatoriae sowie der Akten des Prozesses.“766 Mit ihm war eine Abkürzung des Verfahrens, Verringerung der Kosten sowie eine Entlastung des Richters ad quem verbunden.767 Diese Entwicklung zeigt nicht zuletzt den der Spätantike eigenen Verschriftlichungsvorgang auf – eine „zweitinstanzliche“ Entscheidung erfolgte allein aufgrund der Aktenlage. F. Pergami dagegen sieht in der appellatio more consultationis keinen eigenständigen Verfahrenstyp. Die appellatio more consultationis sei lediglich eine (Sonder-)Möglichkeit, sich direkt an den Kaiser zu wenden, diesen zu befragen und hierbei von den klassischen Formvorschriften abzusehen768 – allein die Überschrift des Titels Cod. Theod. XI 30 (De appellationibus et poenis earum et consultationibus) biete keine Grundlage dafür, von zwei verschiedenen Appellationsverfahrensarten auszugehen. Er verweist insofern auf die Verantwortlichkeit der Kompilatoren hierfür sowie darauf, dass der Titel lediglich bezeuge, dass sowohl ein Konsultations- als auch ein ordentliches Appellationsverfahren nebeneinander existiert hätten.769 Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht: Nach W. Litewski 761

So Dillon, Justice, 207 f.; 244. Vgl. Dillon, Justice, 218 f. gestützt auf Litewski, Consultatio. 763 Vgl. Bethmann-Hollweg, Civilprozeß, 332 – 338, sowie auch Kipp, RE, Band II, appellatio, 206 f. 764 Vgl. hierzu und zu den funktionellen sowie systematischen Unterschieden der beiden Verfahrenstypen Litewski, Appellation (I), 262. Ebenso Padoa Schioppa, Ricerche, 22; vgl. dem folgend auch Gaudemet, Constitutions, 83. Von der Existenz der appellatio more consultationis gehen ebenfalls aus Wankerl, Appello, 58 f. bezogen auf Giglio, Epistola, 589 f. 765 Vgl. Litewski, Appellation (I), 257. 766 Litewski, Appellation (I), 257. 767 Konkrete Anwendungsbeispiele finden sich in den Relationes des Symmachus. Hier sind insbesondere die rel. 28, 32 sowie 33 zu nennen. Hierzu siehe Barrow, Prefect; Vera, Relationes. 768 Vgl. Pergami, Appello, 447 ff sowie auch 46 f. Dazu nunmehr auch ders., Appellatio, 260 f. 769 Vgl. Pergami, Appello, 450. 762

III. Die transmissio suppressa

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handelte es bei der „appellatio more consultationis [um] die einzige Art der Appellation, die durch das kaiserliche Gericht angewandt [wurde]“770. Zudem sind uns mit Cod. Theod. XI 30,18 (329) sowie XI 30,61 (390) zwei gesetzliche Regelungen bekannt, die ausdrücklich eine Gegenüberstellung der an den Kaiser gerichteten appellatio more consultationis zur „ordentlichen“ Appellation beinhalten.771 Nach F. Pergami bezog sich auch Cod. Theod. XI 30,9 nur auf das „ordentliche“ Appellationsverfahren. Er stützt sich in seiner Argumentation772 insbesondere auf eine wesentlich ältere Textstelle des Juristen Macer773, in der dieser das „ordentliche“ Appellationsverfahren behandelte und in Bezug auf kaiserliche mandata festhielt, dass der „erstinstanzliche“ Richter die zweite „Instanz“ zu informieren hatte, sollte er die eingelegte Appellation für unzulässig halten. Diese Information sollte in Form einer relatio erfolgen. Diese relatio enthielt die Gründe für die Unzulässigkeit der Appellation aus der Sicht des „erstinstanzlichen“ Richters. Dies auf Cod. Theod. XI 30,9 übertragend, geht F. Pergami nunmehr davon aus, dass Cod. Theod. XI 30,9 ein ähnlicher Fall zugrunde lag. Er schließt, dass der Terminus opiniones vel etiam relationes gerade hierauf anspielte und es sich hier nur um eine opinio in Gestalt einer relatio handelte. Die opinio beträfe nur den Fall der Unzulässigkeit der eingelegten „ordentlichen“ Appellation.774 Der erstgenannten Ansicht ist aus folgender Überlegung heraus zu folgen: Im Kontext des aus Cod. Theod. XI 30,9 entnommenen Abschnitts (rescripta nostra ad opiniones vel etiam relationes iudicum data) ist auf eine weitere, wenige Jahre nach Cod. Theod. XI 30,9 erlassene Konstitution Kaiser Konstantins (Cod. Iust. III 11,5 (322) zu verweisen, mit der er sich an Maximus, praefectus Urbi wandte und Fristverlängerungen sowohl in appellatio more consultationis-Verfahren als auch in consultatio ante sententiam-Verfahren behandelte:

770

Litewski, Appellation (I), 258. Zur Abgrenzung und in den Gesetzen enthaltenen Gegenüberstellung siehe zuletzt Dillon, Justice, 216 – 218; gestützt auf Litewski, Appellation (I), 258 – 259; dagegen Pergami, Appello, 450 – 451. 772 Vgl. Pergami, Appello, 97 – 99. 773 Vgl. Dig. 49,5,6: Sciendum est, cum appellatio non recipitur, praecipi sacris constitutionibus omnia in eodem statu esse nec quicquam novari, etiamsi contra fiscum appellatum sit: eumque, qui appellationem non receperit, opinionem suam confestim per relationem manifestare et causam, pro qua non recepit appellationem, eiusque exemplum litigatori edere debere mandatis cavetur.; „Man darf nicht unbeachtet lassen, dass, im Falle die Appellation nicht angenommen wird, durch kaiserliche Konstitutionen verordnet ist, dass alles in demselben Stande verbleiben solle und nichts verändert werden dürfe, auch wenn gegen den Fiskus appelliert worden ist. Ferner wird durch mandata verordnet, dass derjenige, welcher die Appellation nicht angenommen hat, alsbald seinen Entscheid und die Ursache, weswegen er die Appellation nicht angenommen habe, in einem Bericht auseinandersetzen und eine Abschrift desselben dem streitenden Teile mitteilen müsse.“ 774 Vgl. Pergami, Appello, 98 – 99. 771

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Cum a nobis fuerit ad appellationem consultationemve rescriptum, sive sit primo iudicio petita dilatio sive ea tributa non sit sive nec petita quidem, eam dare cuiquam non licebit eadem ratione, qua nec in iudiciis quidem cognitionum nostrarum dilatio tribui solet. „Wenn von Uns auf eine Appellation oder Anfrage um Entscheidung reskribiert sein wird, soll, mag nun eine Fristverlängerung im ersten Gericht gebeten und dieselbe nicht erteilt, oder mag nicht einmal um dieselbe gebeten worden sein, niemand eine solche erteilen dürfen, auf dieselbe Weise, wie auch in den Prozessen, welche Unserer Untersuchung und Entscheidung vorliegen, keine Fristverlängerung erteilt zu werden pflegt.“

Hierin nennt Konstantin explizit consultatio und appellatio als verschiedene Verfahrensarten. In der Gegenüberstellung von Cod. Theod. XI 30,9 (opiniones vel etiam relationes iudicum) sowie Cod. Iust. III 11,5 (appellationem consultationemve) ist in beiden Gesetzen klar erkennbar, dass Konstantin jeweils die Intention hatte, zwei gleichwertige Verfahrensarten nebeneinander zu stellen und parallel zu behandeln.775 Damit bezog sich auch Cod. Theod. XI 30,9 sowohl auf das appellatio more consultationis-Verfahren als auch auf das consultatio ante sententiam-Verfahren. Abschließend ist festzuhalten: Kaiser Konstantin wies somit in den vorstehend behandelten Konstitutionen hinsichtlich verschiedener Verfahrensarten, insbesondere für das Verfahren der consultatio ante sententiam (Cod. Theod. XI 30,1 sowie XI 30,9) sowie die appellatio more consultationis (Cod. Theod. XI 30,6 sowie XI 30,9) darauf hin, dass die Berichterstattung durch den iudex a quo vollständig und richtig sein sollte sowie die entsprechende Gerichtsakte und Dokumentation vollständig an das Gericht ad quem zu übersenden war. Dies sollte eine unnötige Belastung der kaiserlichen Kanzlei durch außerinstanzliche Eingaben (supplicationes) verhindern sowie zeitgleich der Beschleunigung und Effizienz der „zweitinstanzlichen“ Ver775 Cod. Iust. III 11,5 ist insbesondere zusammen mit der in den Codex Iustinianus eingegangenen, von den Kompilatoren gekürzten Fassung des Cod. Theod. XI 30,9 (Cod. Iust. VII 62,15) zu lesen: Ne causas, quae in nostram venerint scientiam, rursus transferri ad iudicia necesse sit, instructiones necessarias plene actis inseri praecipimus. Nam cogimur a proferenda sententia temperare, quoniam verendum est, ne lis incognito negotio dirimatur, adempta copia conquerendi …; „Damit nicht die an Unser Wissen gelangten Fälle an die Gerichte wieder zurückgeschickt zu werden brauchen, verordnen wir, dass die Akten vollständige Unterlagen enthalten sollen, denn sonst sind wir genötigt, mit Erteilung des Urteils zuzuwarten, weil zu befürchten ist, dass die Entscheidung erfolge, bevor die Sache vollständig aufgeklärt ist, und dann keine weitere Möglichkeit weiterer Berufung besteht …“ Übersetzung nach Haller, Codex. Cod. Iust. VII 62,15 wurde aus Cod. Theod. XI 30,9 abgeleitet. Nach den Worten sententia temperare, befand sich der Satz: qui sanximus retractari rescripta nostra ad opiniones vel etiam relationes iudicum data non oportere. Dieser Satz wurde bei der Kompilation des Codex Iustinianus gestrichen, was allerdings auch auf eine spätere Fehlinformation zurückzuführen sein kann. Nach Abänderung des Wortlautes ist es nunmehr aufgrund der entsprechenden neutraleren Formulierung möglich, den Gesetzeswortlaut klar auf die appellatio more consultationis zu beziehen. Eher abwegig sind hierzu die Überlegungen von Litewski, Appellation (I), hier: 271 nebst Anm. 510, der davon ausgeht, dass Cod. Iust. VII 62,15 das appellatio more consultationis-Verfahren betraf, sein ,Vorgänger‘, Cod. Theod. XI 30,9 dagegen nur das consultatio ante sententiam-Verfahren. Dies sei alleine daran festzumachen, dass in Cod. Theod. XI 30,9 der Terminus rescribta verwendet worden sei.

III. Die transmissio suppressa

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fahrensführung dienen. Die Grundhaltung, dass der Kaiser bei Nichteinhaltung dieser Vorgaben auch gewillt war, keine eigene Entscheidung zu treffen, tritt aus den behandelten Konstitutionen hervor. e) Imperiale Gegenmaßnahme: Fristen776 Kaiser Konstantin machte in seinem Erlass vom 29. März 319777, gerichtet an Septimius Bassus, praefectus urbis Romae778, in Anlehnung an ein früheres Gesetz779, klare Vorgaben zu den geltenden Fristen für die Übersendung von Unterlagen (Cod. Theod. XI 30,8): … Quod nisi factum fuerit, ab universo officio viginti transactis diebus, quos post latam sententiam placuit supputari, intra viginti alios dies qui sequuntur tantum fisco nostro praecipimus inferri, quanti per aestimationem rationalis emolumentum litis, cuius suppressa fuerat instructio, fidelissime potuerit aestimari … Nam decreta nostra debet ingerere iudicanti ut ipso etiam dissimulante iudice reluctari et tamquam manibus iniectis eos de iudicio producere ac rationum officio traditos statuti prioris nexibus obligare, quorum desideriis violari nostras prospexerit sanctiones. „… Sollte dies nicht geschehen und die 20 Tage, die wir nach der Urteilsverkündung zugestanden haben, verstreichen, so teilen wir mit, dass innerhalb von weiteren 20 Tagen das 776 Zu prozessualen Fristen in den ägyptischen Papyri siehe Taubenschlag, Periods, insb. 359 – 364. Taubenschlag behandelt dabei insbesondere prozessuale Fristen, die seitens der Parteien einzuhalten waren. Interne Fristen, die Gerichtsorganisation betreffend, spricht er dabei nicht an. 777 Zur Datierung siehe Corcoran, Empire, 310; siehe auch Seeck, Regesten, 168. 778 Vgl. PLRE, Band I, Septimius Bassus 19, 157. 779 Cod. Theod. XI 30,8pr. (319): Manente lege, qua praescriptum est, intra quot dies opinionis sive relationis exemplum privatis iudex debeat exhibere et refutatorii libelli intra quot dies rursum iudicibus offerendi sint, tam in privatis quam etiam in fiscalibus causis …; „Das Gesetz bleibt in Kraft, nach welchem es vorgeschrieben ist, innerhalb welcher Anzahl von Tagen ein Richter den Parteien eine Abschrift seines Berichts an den Kaiser ausstellen muss, und innerhalb welcher Anzahl von Tagen dagegen die libelli refutatorii sowohl in zivil- als auch in steuerrechtlichen Fällen an die Richter gegeben werden sollen …“ Cod. Theod. XI 30,8 pr. bezieht sich explizit auf einen früheren Erlass, der mit Gothofredus, Litewski, Appellation (I), hier: 265 nebst Anm. 485 sowie 486, 489, 502, und nunmehr auch Dillon, Justice, 226 als Cod. Theod. XI 30,1 (314) zu identifizieren ist. Contra Pergami, Appello, 94 f., 96, ebenso ders., Amministrazione, 17 ff., der die These aufstellt, Cod. Theod. XI 30,8pr. könne sich nicht auf Cod. Theod. XI 30,1 rückbeziehen. Dies sei allein daran festzumachen, dass Cod. Theod. XI 30,1 nur das consultatio ante sententiam Verfahren betreffe. Dem tritt Dillon, Justice, 226, entgegen, indem er in einem Satz pauschal festhält: „Since the producers were largely identical, it is preferable to assume that the original text of CTh. 11.30.1 originally discussed both the consultatio and appellatio more consultationis“. Diese Annahme ist allerdings wiederum zu pauschal. Allein aufgrund der Identität des Urhebers kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Gesetze, die im Abstand von fünf Jahren nacheinander erlassen wurden, dieselben Verfahrensarten zum Inhalt haben. Insbesondere ist auch der unterschiedliche Adressat zu bedenken. Wurde Cod. Theod. XI 30,1 an Claudius Plotianus, den corrector Lucaniae et Bruttiorum gerichtet, war Cod. Theod. XI 30,8 an Septimius Bassus, praefectus urbis Romae adressiert.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

gesamte Kanzleipersonal den Streitwert der Streitsache in unsere Kasse einzahlen soll, deren instructio unterdrückt wurde und der Wert sollte vom rationalis so genau wie möglich beurteilt werden … Das Kanzleipersonal muss unsere Dekrete dem Richter aufdrängen, und wenn er ihre Empfehlungen ignorieren sollte, müssen sie sich ihm entgegenstellen und durch gewaltsame Ergreifung müssen sie ihn vom Gericht führen, ihn zum Büro des rationalis bringen und ihn gemäß unseren Vorschriften bestrafen lassen, wenn sie erkennen sollten, dass er unsere Vorschriften aus eigenem Antrieb verletzt.“

Das officium debet ingerere iudicanti – hatte als Kontrollorgan eigener Macht die Pflicht den Richter zur Einhaltung der kaiserlichen Vorschriften zu zwingen. Geschah dies nicht, hafteten die Beamten auch hier zusammen mit dem gegen die Vorschriften verstoßenden Richter im Kollektiv.780 Den Kanzleibeamten stand jedoch ein Remonstrationsrecht zu:781 Weigerte sich ihr Vorgesetzter, die gesetzlichen Vorschriften einzuhalten, hatten sie diesen gewaltsam vor den rationalis zu bringen und bestrafen zu lassen.782 Dieses Ideal einer dem officium zukommenden systemimmanenten Kontrollfunktion war in der Realität jedoch nicht gegeben. Wie auch sollte eine Kontrolle eines Vorgesetzten durch die „einfachen“ officiales realiter ausgesehen haben, wenn dieser zum einen die Disziplinargewalt innehatte und zum anderen maßgeblicher Entscheider über Beförderungen war? Zu bedenken ist nicht zuletzt, dass die in Cod. Theod. XI 30,8 angedachte Vorgehensweise, den Statthalter vor den rationalis zu bringen, keineswegs eine reichsweite Möglichkeit darstellte. Darüber, auf welche Verfahrensarten Cod. Theod. XI 30,8 sich bezog, besteht Uneinigkeit: Sowohl W. Litewski783 als auch J. Dillon gehen davon aus, dass Cod. Theod. XI 30,8pr. sowohl das Konsultationsverfahren als auch die appellatio more consultationis behandelte.784 Für die Annahme, in Cod. Theod. XI 30,8 hätte sowohl 780 Zur Kollektivhaftung siehe oben S. 40 f. Hier sei zu den Hintergründen und zum Nutzen der spätantiken Kollektivstrafe sowie zum Faktor der Einflussmöglichkeiten der officiales insbesondere verwiesen auf Haensch, Rôle sowie ders., Kontrolle. 781 Vgl. Cod. Iust. I 49,1 (497); siehe zum ,Remonstrationsrecht‘ der officiales auch Noethlichs, Beamtentum, 35, der hier einen Vergleich zwischen dem spätrömischen und dem modernen ,Beamtentum‘ zieht. 782 Das Gericht des rationalis war eines der ,Spezialgerichte‘. Der rationalis verantwortete die öffentlichen Gelder/die Staatskasse. Vor ihn kamen Fälle in Steuer- und anderen Finanzstreitigkeiten. Vom Gericht des rationalis konnte an den Gerichtshof des comes sacrarum largitionum appelliert werden; vgl. dazu Cassiod., var. 6,7. 783 Vgl. Litewski, Appellation (I), 258 sowie Anm. 458. 784 Vgl. Dillon, Justice, 226, wobei davon auszugehen ist, dass Dillon hier schreiben wollte „… if one allows that CTh 11.30.8 addresses both consultatio ante sententiam and appellatio more consultationis“ und nicht „… if one allows that CTh 11.30.8 addresses both consultatio ante sententiam and consultatio more appellationis“. Wie bereits zu Cod. Theod. XI 30,9 geht auch hier Pergami, Appello, 94 f., 96, davon aus, ein eigenständiges Verfahren der appellatio more consultationis habe es nicht gegeben, sodass er wiederholt darauf abstellt, Cod. Theod. XI 30,8 behandle das ,ordentliche‘ Appellationsverfahren. So auch die ältere Literaturmeinung bei Menger, Zulässigkeit, 28 nebst Anm. 13; Balogh, Libellprozess, 503 nebst Anm. 49 sowie auch Samter, Gerichtsverfahren, 123 f. Gegen die Annahme, Cod. Theod. XI 30,8 behandle das ,ordentliche‘ Appellationsverfahren. Contra nunmehr Dillon, Justice, 226 nebst Anm. 49.

III. Die transmissio suppressa

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das Konsultationsverfahren als auch die appellatio more consultationis behandelt, stellt J. Dillon auf Folgendes ab: Nach ihm sei dies alleine daran klar fest zu machen, dass in Cod. Theod. XI 30,8pr. die Textstelle opinionis sive relationis exemplum enthalten sei und in Cod. Theod. XI 30,8,1 wiederum die Textstelle appellatione vel consultatione pedente. Beides sei zusammen zu lesen.785 J. Dillon ist zuzugeben, dass den beiden Textstellen jedenfalls eine Indizwirkung im Hinblick auf die Behandlung beider Verfahren zukommt. Cod. Theod. XI 30,8,1 spielt unzweifelhaft auf das Appellationsverfahren an und hierin auf die Problematik der supplicationes nach eingelegter appellatio. Der hier verwendete Terminus statuti prioris bezieht sich wiederum klar auf Cod. Theod. XI 30,6786, worin gerade – wie oben gezeigt – die Problematik einer supplicatio nach bereits eingelegter appellatio thematisiert wird. Es werden hier nunmehr explizit ein rechtshängiges Appellationsverfahren sowie ein consultatio ante sententiam-Verfahren (appellatione vel consultatione pendente) genannt. Doch welche Fristen galten für die Übersendung in beiden Verfahrensarten? Zunächst wurde auf Cod. Theod. XI 30,1 rückverwiesen und danach wiedergegeben, was mit dem früheren Gesetz geregelt wurde (zehn Tage für die Übergabe einer Kopie des Berichts an die Parteien; fünf Tage für eine Gegendarstellung durch die Parteien). Hiernach wurde der früheren Regelung eine Ergänzung hinzugefügt, dergestalt, dass nunmehr die Frist von insgesamt 20 Tagen auch für die Übersendung der gesamten Dokumentation gelten sollte – quo fuerit quaestio terminata vel ex quo relationem iudex per sententiam promiserit. Dem Richter wurden mithin fünf Tage zugestanden, um die aus Prozessakten, consultatio sowie preces refutatoriae zusammengefügte Dokumentation zu übersenden. Hiernach wurde nach fruchtlosem Verstreichen der 20-tägigen Frist eine weitere Frist gesetzt. Diese betraf allerdings nicht mehr die Übersendung der Gerichtsakten, sondern die Strafzahlung für den Fall der nicht-fristgerechten oder versäumten Übersendung. Die Strafzahlung in Höhe des potentiellen Streitwertes des unterbundenen Verfahrens wurde dem officium auferlegt. Kaiser Konstantin ging insofern noch einen Schritt weiter. Er war in einem Fall, in dem die Übersendung der instructio unterdrückt wurde, sogar bereit, den zuständigen Richter – nach den vorausgehenden konstantinischen Vorschriften in Cod. Theod. XI 30,1 – wegen eines „Sakrilegs“ zu bestrafen und den rationalis mit der Kapitalstrafe zu belegen.787 Cod. Theod. XI 30,8 regelte für alle einzelnen, in den Prozess eingebundenen Stellen, eine Strafe bei Zuwiderhandlung. Allein dies zeigt die Relevanz des Verfahrensabschnittes – Übersendung der Gerichtsakten – für die Funktionalität und Effizienz des gesamten Rechtssystems.

785

Vgl. Dillon, Justice, 226. Pharr, Code, 323 nebst Anm. 30; nun auch Dillon, Justice, 210 nebst Anm. 49. 787 Vgl. Cod. Theod. XI 30,8: … Cui capitale supplicium imminebit, si rigorem legis quocumque modo mollire temptaverit …; „… Die Todesstrafe wird demjenigen drohen, wenn er versucht haben wird, die Härte des Gesetzes auf irgendeine Weise abzumildern …“ 786

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

An die Fristsetzungen, die durch Kaiser Konstantin in Cod. Theod. XI 30,1 sowie Cod. Theod. XI 30,8 festgelegt wurden, erinnerten auch die nachfolgenden Kaiser immer wieder, wodurch eine gewisse Kontinuität entstand und die Entscheidung der Vergangenheit gefestigt wurde: Kaiser Constantius II. verwies in einem Erlass aus dem Jahr 348 an den praeses Ciliciae, Procopius788, auf die konstantinische Gesetzgebung und bezog sich auf die darin enthaltene Fristsetzung zur Übersendung der acta, ut gesta sunt – der gesamten Dokumentation an die nächsthöhere „Instanz“, für den Fall, dass sich der Richter im Rahmen eines Relationsverfahrens (relatio iudicis)789 an den Kaiser wenden wollte.790 Auch Kaiser Julian erließ mehrere Gesetze in diesem Zusammenhang. Am 22. September des Jahres 362791 wandte er sich an den vicarius urbis Romae, Julius Festus Hymetius792. In seinem Erlass beschäftigte er sich explizit nur mit dem Appellationsverfahren793 und legte 30 Tage als Zeitraum zur Übersendung fest (Cod. Theod. XI 30,29)794. Julian wies Hymetius darauf hin, 788

Vgl. PLRE, Band I, Procopius, 742. Litewski, Consultatio, 228 Anm. 6, ordnet Cod. Theod. XI 30,24 als das Relationsverfahren betreffend ein: Dies sei an der Verwendung des Wortes referre festzumachen, da die entsprechende Handlung eines Richters in einem Relationsverfahren mit referre bezeichnet werde. 790 Vgl. Cod. Theod. XI 30,24 (348): Cum in controversia criminali sive civili iudex ad nos existimaverit referendum, acta, ut gesta sunt, refutatorios libellos, ut oblati sunt, referri oportet: quos quidem exigi et intra praescriptum patria constitutione tempus a iurgantibus flagitari iubemus ac pronuntiamus gravissimam notam esse subiturum, quisquis haec a nobis constituta neglexerit.; „Wenn ein Richter in einer Zivil- oder Strafsache sich an Uns wenden will, sollen die Gerichtsakten und die libelli refutatorii, welche vorgelegt werden, an Uns übergeben werden. Wir ordnen an, dass solche libelli refutatorii von den Parteien innerhalb der Zeitspanne vorgelegt werden müssen, welche in den Konstitutionen Unseres Vaters niedergeschrieben sind. Wir kündigen an, dass wenn irgendjemand diese Bestimmungen vernachlässigt, er mit Infamie bestraft werden soll.“ 791 Datierung nach Seeck, Regesten, 211; dem folgt Brendel, Gesetzgebungswerk, 34 sowie 75. 792 Vgl. PLRE, Band I, Julius Festus Hymetius, 447. 793 Eine besondere Bedeutung der appellatio in der Gesetzgebung Julians kann jedoch nicht festgestellt werden, so zuletzt Brendel, Gesetzgebungswerk, 85 mit Anm. 234 und Anführung der entsprechenden, dies bejahenden Literatur. Brendel übt insoweit an der verbreiteten Auffassung, Julian habe ein besonderes Interesse an der Appellation gehabt, Kritik. Er führt hierzu vor allem an, dass Julian im Cod. Theod. nur drei von insgesamt 121 Gesetzen zuweisbar seien, die sich mit der appellatio beschäftigten. 794 Cod. Theod. XI 30,29 (362): Omnes legitimae appellationes, quaecumque fuerint contra audientiam tuae gravitatis interpositae, indubitanter suscipiantur et post latam sententiam intra triginta dies universa, quae in eiusmodi negotio geruntur, cum refutatoriis precibus seu libellis ad nostrum comitatum mittantur, strenuo videlicet officiali ex his, qui tibi parent, ad hanc sollicitudinem electo, ita ut publicis monumentis confectis dies, quo gerulis gesta tradantur, fideliter designetur. Nam X librarum auri multae constituetur officium obnoxium, si statuta nostra aliqua fuerint dissimulatione violata.; „Alle rechtmäßigen appellationes, welche gegen die Gerichtssitzung Deiner Erhabenheit geltend gemacht werden, sind ohne Zweifel entgegenzunehmen. Und nach gefälltem Urteil ist innerhalb von 30 Tagen alles, was in diesem Fall verhandelt wurde, mit den (das Urteil) zurückweisenden Bittschriften oder Petitionen an unseren Hof zu schicken. (Die Versendung erfolgt) natürlich durch einen tüchtigen officialis von 789

III. Die transmissio suppressa

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universa, quae in eiusmodi negotio geruntur, cum refutatoriis precibus seu libellis ad nostrum comitatum mittantur – alles den Verfahrensstand Betreffende müsse zusammen mit dem Einspruch bzw. der Gegendarstellung der Parteien an das kaiserliche Gericht gesandt werden. Die Vollständigkeit der Unterlagen wurde auch hier als wesentliches Kriterium zur Entscheidungsfindung durch das kaiserliche Gericht herausgestellt. Durch die direkte Anrede und die explizite Benennung von Appellationen am Gericht des Hymetius ist überdies eindeutig, dass es sich hier um Vorfälle handelte, welche lediglich auf das Gericht des vicarius urbis Romae bezogen waren und in denen dieses den gesetzlichen Verfahrensvorschriften zuwidergehandelt hatte. Als Gegenmaßnahme führte Kaiser Julian hier eine weitere Regelung zur Unterbindung einer Verzögerung bzw. Unterdrückung der Übersendung ein:795 Das officium wurde verpflichtet, das Datum der Übersendung der Akten in den Akten niederzulegen, sodass die Absendung überprüfbar war. Innerhalb einer Frist von 30 Tagen hatte die Übersendung der gesamten, vollständigen Dokumentation zu erfolgen.796 Demgegenüber hatte Kaiser Konstantin für ein Relations- bzw. Konsultationsverfahren noch eine Frist von 20 Tagen zur Übersendung der Unterlagen bestimmt.797 R. Brendel798 führt Cod. Theod. XI 30,29 und die darin enthaltene dreißigtägige Frist nicht auf eine explizite Sonderregelung für den vicarius urbis Romae bzw. für den Stadtpräfekten zurück und geht von einer breiteren Anwendung aus. Er bezieht sich hierfür auf das valentinianische Cod. Theod. XI 30,32 (4. Februar 364), adressiert an den ordo civitatis der Stadt Karthago, das ebenfalls eine dreißigtägige Frist regelte.799 Ergänzend sei hier noch auf das zeitlich frühere Gesetz von Kaiser Valens (Cod. Theod. XI 30,34; 9. November 364) an den praefectus urbis denen, die Dir untergeben sind, und der zu dieser Besorgung erwählt wird. Bei der Anfertigung der öffentlichen Aufzeichnungen ist der Tag, an welchem dem Boten (die Berichte über) die vollzogenen (Angelegenheiten) übergeben werden, zuverlässig anzugeben. Es werden nämlich zehn Pfund Gold dem officium als Geldbuße auferlegt, wenn Unsere Anordnungen irgendwie durch Nachlässigkeit übergangen werden.“ 795 Dass in der ägyptischen Wüste – und sicher auch ansonsten im Imperium Romanum – zu diesem Zeitpunkt bereits jahrhundertelang derartige Kommunikationswege bestanden und notiert wurde, zu welchem Zeitpunkt und durch wen welche Information weitergegeben wurde, haben Cuvigny, Reçu; dies., Ostraca; dies., Documents sowie Bülow-Jacobsen, Correspondence; ders., Traffic; ders., Communication an diversen Beispielen herausgestellt. 796 So bereits Gaudemet, Constitutions, 68 f. 797 Zu Cod. Theod. XI 30,1 siehe oben S. 162. Die Debatte um eine weitere zwanzigtägige Frist, mithin eine Frist insgesamt von 40 Tagen zur Übersendung der Dokumente, wie gelegentlich zu lesen ist (vgl. bei Geffcken, Julianus, 73, der die zweiten 20 Tage als Schonfrist einordnet, sowie 143, Andreotti, Gesetzgebung, 150 sowie 184) entbehrt jeder Grundlage in Cod. Theod. XI 30,8; so zuletzt auch Brendel, Gesetzgebungswerk, 76. 798 Brendel, Gesetzgebungswerk, 76 muss allerdings zugeben, dass es durchaus möglich sei, dass Julian für den vicarius Hymetius zunächst einen speziellen Fall geregelt hatte, in dem eine dreißigtägige Frist passend war, und sich diese Frist im späteren Verlauf zu einer breiten Anwendung entwickelte. 799 Vgl. Brendel, Gesetzgebungswerk, 76, gestützt insbesondere auf die Einschätzungen von Litewski, Consultatio, 246 sowie Pergami, Appello, 148 und 153, ders., Appellatio, 129 – 130, ders., Amministrazione, 37.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Romae, L. Aurelius Avianius Symmachus800 hingewiesen, das ebenfalls die dreißigtägige Frist aufgriff, diese für ein Relationsverfahren thematisierte und sich im Wortlaut nicht auf einen Einzelfall bezog.801 Kaiser Julian knüpfte an diese, das Appellationsverfahren betreffende Regelung ein Jahr später nochmals an und führte sie in einem Gesetz als Grundsatz ein, in welchem er sich an Claudius Mamertinus, praefectus praetorio Italiae, Africae et Illyrici802 wandte. Julian ging in Cod. Theod. XI 30,31 auf Fristen ein, die das Relationsverfahren betrafen.803 Im Ergebnis übernahm er die kürzlich in seinem Erlass an Hymetius aufgestellte Fristenregelung auch für Relationsverfahren (Cod. Theod. XI 30,31; 23. März 363804): Quoniam plerique rectores relationes, quas ad nostrae tranquillitatis comitatum destinare promittunt, supprimere vel differre conantur, prava id conscientia faciente conveniri eos ab illustri auctoritate tua praecipimus, ut intellegant sibi quidem denarum librarum auri, officiis vero suis vicenarum imminere condemnationem, si promissa relatio intra triginta dies non fuerit sine aliqua ambiguitate transmissa his officialibus, per quos convenit gesta transmitti. et quia plerumque contingit, ut gerulis litterarum aliquo casu existente tarditatis obstaculum videatur adferri, ne id quod necessitate contingit ad culpam rectorum redundare videatur, actis aput se confectis diem designare debebunt, in quo transmissio gestorum committitur his, qui huic necessitati deputantur. „Weil ja viele Statthalter versuchen, aufgrund ihres schlechten Gewissens zu verschweigen oder zu verzögern, dass sie relationes an Unsere Ruhe zu senden versprachen, verordnen wir, diese durch Deine vornehme Autorität zu ermahnen, damit ihnen bekannt wird, dass ihnen die Verurteilung zu zehn Pfund Gold, ihrem officium aber zu 20 Pfund droht, wenn die versprochene relatio innerhalb von 30 Tagen nicht ohne irgendeine Zweideutigkeit durch die Mitarbeiter im officium, welche geeignet sind, den Bericht zu übermitteln, übersandt wird. Und weil viel geschehen kann, was bei den Überbringern der Briefe eine Verspätung durch ein Hindernis verursacht, muss, damit nicht diese unvermeidlichen Verspätungen den rectores angelastet werden, bei den bei sich angefertigten Schriftstücken der Tag eingetragen werden, an dem die Übersendung des Berichtes durch die damit Beauftragten begonnen wurde.“

Die Problematik der unterbundenen Übersendung von notwendigen Unterlagen wurde hier im Bereich der relationes angesprochen und wieder aufgegriffen. Nicht 800

Vgl. PLRE, Band I, L. Aurelius Avianius Symmachus signo Phosphorius 3, 863 – 865. Zu Cod. Theod. XI 30,34 siehe unten Anm. 807. 802 Vgl. PLRE, Band I, Claudius Mamertinus 2, 540 – 541. 803 Dass zwischen Cod. Theod. XI 30,29 sowie XI 30,31 im Blick auf die darin jeweils behandelten Verfahrensarten ein inhaltlich entscheidender Unterschied besteht, ist allein aufgrund des Wortlauts klar. Mithin ist Brendels Aussage, Gesetzgebungswerk, 83, missverständlich, die beiden Gesetze beträfen „ähnliche Tatbestände“. Cod. Theod. XI 30,29 betrifft klar einen Einzelfall, der sich am Gericht des vicarius urbis Romae zugetragen hatte und auf den Julian hierin reagiert. Cod. Theod. XI 30,31 spricht explizit einen weiten Adressatenkreis an, was für die Einführung bzw. Bekräftigung einer Grundsatzregelung spricht. 804 Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 212, dem folgt nunmehr auch Brendel, Gesetzgebungswerk, 36. 801

III. Die transmissio suppressa

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nur ein Einzelfall wurde thematisiert, in dem es der zuständige Richter unterlassen hatte, die Unterlagen zu übermitteln, sondern plerique rectores werden als diejenigen ausgemacht, die für die Verzögerung (differre) und Unterbindung von Verfahren (supprimere) in der höheren „Instanz“ verantwortlich waren: Die plerique rectores hätten darüber hinaus eine conscientia prava – ein schlechtes Gewissen, weswegen sie die Übersendung unterbunden oder verzögerten hätten. Kaiser Julian nahm mithin eine absichtliche Verzögerung der Verfahren durch die Statthalter an805 und wies nach Feststellung des Missstandes auf mehrere Gegenmaßnahmen hin, um eine solche Handlungsweise und Amtsführung zu unterbinden. Er hielt den Prätorianerpräfekten an, den Statthaltern der Provinz eine Geldstrafe anzudrohen, wenn sie es unterlassen hatten, die relatio zu übermitteln.806 Die Geldstrafe war nicht abhängig vom Einzelfall, sondern sollte für jedes Relationsverfahren gelten, in welchem eine Übersendung der relatio unterblieb. Die Zeitspanne, in welcher die Übermittlung zu erfolgen hatte, wurde gerade nicht genannt. Die Konstitution bezog sich jedoch auf eine Vielzahl von rectores, die vom Adressaten Claudius Mamertinus in seiner Funktion als Prätorianerpräfekt zur Einhaltung der in Cod. Theod. XI 30,31 enthaltenen Regelungen ermahnt werden sollten. In seinem früheren einen Einzelfall betreffenden Erlass an Hymetius verwies Kaiser Julian auf die Kontrollmaßnahme, die Übersendungsdaten in einer öffentlichen Urkunde niederzulegen. Nunmehr – ein Jahr später – adressierte er dies an die Provinzstatthalter. Dies lässt den Schluss zu, dass es immer wieder zu Beschwerden aufgrund unterdrückter, unvollständiger oder manipulierter Übersendung von Gerichtsdokumentation gekommen war. Die Formulierung im weiteren Verlauf lässt allerdings auch noch einen weiteren Gedanken zu. Es hatte wohl in der Zwischenzeit Vorfälle einer falschen Schuldzuweisung gegeben: Allein aufgrund der Tatsache, dass die notwendige Dokumentation nicht am kaiserlichen Gerichtshof eingegangen war, wurde der betreffende iudex a quo bzw. sein officium hierfür haftbar gemacht. Das Verschulden wurde grundsätzlich in der Person des iudex a quo sowie seines officium vermutet. Dem wollte Julian einen Riegel vorschieben: Es wurde nunmehr eine Unterscheidung getroffen zwischen einer Überbringungsverzögerung durch Vorfälle, die in den Verantwortungsbereich der Boten fielen, und einer Verzögerung der Dokumentenübergabe an die jeweiligen Überbringer. Die Statthalter bzw. deren officia waren nunmehr in der Pflicht, bei Übergabe der Gerichtsakten an die zustellenden Kanzleibeamten actis aput se confectis diem designare debebunt – eine öffentliche Urkunde auszustellen, in der der Tag der Übergabe vermerkt wurde. Diese 805

Vgl. so auch Brendel, Gesetzgebungswerk, 84. Die Geldstrafe bezog sich zum einen auf die Person des Statthalters, zum anderen auf das officium. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang die Annahme Pergamis, der die Textstelle anders versteht und annimmt, dass nunmehr dem Prätorianerpräfekten eine Geldstrafe auferlegt wird, vgl. Pergami, Amministrazione, 29. Zu den unterschiedlichen Strafhöhen in Cod. Theod. XI 30,31 für officium und Statthalter vgl. Brendel, Gesetzgebungswerk, 84. Nach Brendel handelt es sich hierbei nicht um eine julianische Neuerung, sondern nur um das Phänomen der spätantiken Kollektivstrafe. 806

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

nunmehr notwendigen Kontrollvermerke stellten wiederum einen Schritt zur Verschriftlichung des Rechtsmittelverfahrens dar. Im Folgenden wurde die dreißigtägige Frist gegenüber verschiedenen Adressaten, jedoch insbesondere in Erlassen an Stadtpräfekten angewandt und fand verbreitet Anwendung – sei es in Konsultations-, Relations- wie auch in Appellationsverfahren. Im Jahr 364807 wurde die Frist von 30 Tagen zur Vorlage der relatio nebst notwendiger Dokumentation von Kaiser Valens thematisiert, der sich an den praefectus urbis Romae, L. Aurelius Avianius Symmachus808, wandte: Richter, die versprachen, ein Relationsverfahren durchzuführen, hatten die relatio innerhalb von 30 Tagen an den Kaiser zu übersenden. Weitere Angaben zum Umfang der Unterlagen wurden nicht gemacht. Es ging jedenfalls nicht mehr darum, dass die Unterlagen unterdrückt oder nicht vollständig übersandt wurden. Allerdings deutet auch die mehrfach wiederholte Fristsetzung auf Praktiken der iudices a quo und ihrer officia hin, die Verfahrensfortführung zumindest zeitlich zu verzögern. Im selben Jahr809 richtete sich Kaiser Valentinian I. an den ordo civitatis der Stadt Karthago, der sich wohl über die Nichtannahme einer Appellation beschwert hatte und erklärte diesem, dass bei Appellationen, die von den zuständigen iudices allesamt anzunehmen seien, die negotii merita ad manusetudinis nostrae scrinia conveniat destinari – mithin die Akten bei der kaiserlichen Kanzlei innerhalb einer Frist von 30 Tagen vorgelegt werden sollten. Für den Fall der Zuwiderhandlung wurde eine Geldstrafe für den zuständigen iudex et officium ausgesetzt. Die Strafe wurde nicht näher bestimmt.

807

Cod. Theod. XI 30,34 (364): … Iudex sane, qui relationem promiserit, nisi intra triginta dies dictae sententiae promissam relationem ad nostra scrinia destinarit, ipse quidem notabili sententia reprehensus X librarum auri condemnatione quatietur, officium vero eius, quod non suggesserit nec commonuerit de relationis necessitate, viginti libris auri fiat obnoxium.; „… wenn ein Richter, der versprochen hat, eine relatio (Bericht) über einen Fall abzufassen, die versprochene relatio über die gesprochene Entscheidung an Unser Büro nicht innerhalb von 30 Tagen übergibt, soll er bestraft werden durch ein Urteil und eine Geldstrafe erhalten von zehn Pfund Gold. Wenn seine Kanzlei ihn nicht an die Bestimmung und die Notwendigkeit einer relatio erinnert und ermahnt hat, sollen sie eine Geldstrafe von 20 Pfund Gold erhalten.“ Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 218. 808 Vgl. PLRE, Band I, L. Aurelius Avianius Symmachus signo Phosphorius 3, 863 – 865. 809 Cod. Theod. XI 30,32 (364) = Cod. Iust. VII 62,24: Iudicibus non solum appellationis suscipiendae necessitas videtur imposita, verum etiam triginta dierum spatia definita sunt, intra quae negotii merita ad mansuetudinis nostrae scrinia conveniat destinari, iudice et officio, si statuta fuerint aliqua parte mutilata, multae subiacente.; „Es ist ersichtlich nicht nur die Notwendigkeit den Richtern auferlegt, die Berufungen anzunehmen, sondern es ist auch vom Tage des Urteils an eine Frist von 30 Tagen vorgeschrieben, innerhalb deren die Akten vorgelegt werden müssen, wobei der Richter und sein Kanzleipersonal, wenn die Vorschriften im Geringsten vernachlässigt worden sind, einer Geldstrafe unterliegen sollen.“ Übersetzung nach Haller, Codex. Zur Datierung siehe Seeck, Regesten, 220.

III. Die transmissio suppressa

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Im Jahr 374810 wurde erstmals eine Abänderung der julianischen Fristverlängerung sowohl für das Appellations- als auch das Relationsverfahren kombiniert angesprochen. Kaiser Valentinian I. wandte sich an den praefectus urbis Romae, Eupraxius811 und thematisierte sowohl Appellations- als auch Relationsverfahren. Für beide Verfahren sollte sich der iudex a quo an das halten, qui constantiniana lege decretus est. Dies beinhaltete klar eine Verschärfung der Rechtslage: Zum einen galt im Gegensatz zum Inhalt der Erlasse aus den letzten zehn Jahren, in denen eine Zeitspanne von 30 Tagen zur Übersendung der Unterlagen geregelt war, nunmehr wieder eine Zeitspanne von 20 Tagen in Anlehnung an Cod. Theod. XI 30,1.812 Des Weiteren wurde wieder auf die verpflichtende Vollständigkeit der Unterlagen hingewiesen, die sowohl in Appellations- als auch in Relationsverfahren übermittelt werden mussten. In beiden Verfahrensarten omnia ad eam de qua refertur causam pertinentia acta transmittat. Die Verschärfung der Rechtslage ist auch in der Strafandrohung sichtbar: Das officium, welches dem Statthalter die Einhaltung der Bestimmungen nicht „empfohlen“ und diesen somit von einer Amtspflichtverletzung abgehalten hatte, wurde hier erstmals – gleich dem zuständigen Richter – mit der für ein „Sakrileg“ geltenden Strafe belegt. Erst am 28. August des Jahres 415 wurde durch Kaiser Honorius, adressiert an Symmachus, proconsul Africae, die Frist zur Übersendung der Unterlagen erneut auf 30 Tage erhöht.813 Über den Zeitraum von knapp 100 Jahren lässt sich die Tendenz in der kaiserlichen Gesetzgebung greifen, klare Regelungen zur Übersendung der notwendigen Dokumentation sowohl für Relations-, als auch Konsultations- und Appellationsverfahren aufzustellen. Allen Verfahrensarten war es gemein, dass ihre Effizienz in entscheidendem Maße von der gerichtsinternen und „zwischeninstanzlichen“ 810 Cod. Theod. XI 29,5 (374): Quicumque iudicum vel appellatione interposita vel ipse dubitans relationem in causa vel civili vel criminali spoponderit sese missurum, exemplum opinionis edendae refutatoriorumque dandorum, sed et transmittendae relationis intra eum diem servet, qui constantiniana lege decretus est, ita ut simul omnia ad eam de qua refertur causam pertinentia acta transmittat. Quod si qui iudicum posthac non ita observaverit cuncta in relationibus dirigendis, quae iam pridem statuta sunt, eo crimine tenebitur una cum officio, quod ordinem servandorum suggerere neglexerit, quo tenentur, qui sacrilegium admiserint.; „Wann auch immer eine Appellation eingelegt wurde oder ein Richter selbst Zweifel hat und versprochen hat, dass er eine relatio des Falles senden wird, egal ob Zivil- oder Strafsache, soll er die Regelungen, enthalten in dem konstantinischen Gesetz, einhalten, die dafür gelten, wenn er eine Abschrift der opinio an die Parteien abgibt und diese ihre refutatorii abgeben und auch für die Übermittlung von relationes und er muss zur selben Zeit alle Akten, die den Fall betreffen, an den Kaiser mitübersenden. Wenn ein Richter diese Regelungen nicht beachtet, welche für diesen Fall der Übermittlung von relationes aufgestellt sind, soll er sich eines ,Sakrilegs‘ strafbar machen, zusammen mit dem Kanzleipersonal, welches vernachlässigt hat, die Beachtung dieser Regularien dem Statthalter zu empfehlen.“ 811 Vgl. PLRE, Band I, Flavius Eupraxius, 299 – 300. 812 Zu den späteren Ergänzungen, Änderungen und Reformen des in Cod. Theod. XI 30,1 Geregelten siehe Litewski, Consultatio, 237 nebst Anm. 37 – 39. 813 Vgl. Cod. Theod. XI 30,65.

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C. Von Gewalt und Unterdrückung: Umgehung der Rechtsmittelinstanz

Kommunikation und Zusammenarbeit abhing. Die Einführung und stete Rückbestätigung der kaiserlichen Fristenregelungen zeugen von dem Versuch, den ordnungsgemäßen Verfahrensweg zu verbessern und durch die Beseitigung von bestehenden Unklarkeiten, insbesondere über die notwendige Einhaltung zeitlicher Vorgaben, zu beschleunigen.

D. Zusammenfassung und Ausblick Im Mittelpunkt dieser Studie stand die Frage nach Problemen der spätantiken „Richteraktivität“ sowie den verschiedenen Formen der Verfahrensverzögerung und -umgehung am Gericht der iudices ordinarii, also insbesondere durch die Provinzstatthalter und ihre officiales, die anhand ausgewählter Kaiserkonstitutionen814 des Codex Theodosianus des vierten und beginnenden fünften Jahrhunderts n. Chr. erfasst werden konnten. Die einzelnen Ausprägungen und Vorwürfe sollten systematisiert und die wesentlichen Zusammenhänge und Veränderungen – soweit greifbar – aufgezeigt und auf die dahinterliegenden Gründe analysiert werden. Bedingt durch den der Untersuchung zugrundeliegenden methodischen Ansatz, primär auf Basis der einzelfallbezogenen Kaiserkonstitutionen, unzulässige „Richteraktivität“, Verzögerungs- und Umgehungspraktiken zu erarbeiten, konnten nur punktuell Entwicklungslinien und „allgemeine“ Spezifika aufgezeigt werden. Ungeachtet dessen war es in den weit überwiegenden Fällen gleichwohl möglich, die für den der jeweiligen Konstitution zugrundeliegenden Einzelfall maßgeblichen richterlichen Aktionsparameter herauszustellen. Hierbei hat es sich – trotz von vorneherein eingeschränkter Quellenbasis – als unumgänglich und durchaus lohnenswert erwiesen, an den entscheidenden Stellen bestimmte Besonderheiten und Begrifflichkeiten näher zu betrachten, um so die Aspekte des „gestörten“ gerichtlichen Verfahrensablaufs und der individuellen Richteraktivität nachvollziehen zu können. Entsprechend wurde auch das umfassende Schrifttum der Hohen Kaiserzeit Spätantike, teils auch im religiösen Kontext, in Auszügen zur Diskussion der relevanten Termini sowie der personellen und zeitlichen Besonderheiten herangezogen. Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse aus den einzelnen Kapiteln resümiert werden. Die neglegentia iudicum kristallisierte sich in den meisten Fällen als undifferenzierter „Vorwurf“ heraus, der in diversen Fällen verallgemeinernd verwendet wurde.815 Die neglegentia im Kontext der Verfahrensverzögerung und -umgehung als Mittel, um allgemein ein teils nicht näher bestimm- bzw. definierbares Fehlverhalten auszudrücken, wurde daher an den Beginn816 der Untersuchung gestellt. Die neglegentia als Antonym der einen – kaiserlichen wie statthalterlichen – Amsträger idealerweise auszeichnenden diligentia war auch in den literarischen Quellen gängiges Mittel der Charakterisierung. Bezogen auf die hier untersuchten drei Kaiser814

Zu Vorgehensweise und Auswahlmethode siehe einleitend S. 20 f. Zum Terminus vindicare neglexerit im Kontext der ,Religionsgesetzgebung‘ siehe oben Anm. 110. 816 Siehe oben ab S. 25 f. 815

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D. Zusammenfassung und Ausblick

konstitutionen817 konnte neben der Beobachtung, dass der Vorwurf in keiner der Konstitutionen für sich alleine stand, festgestellt werden, dass die Kritik der neglegentia durchwegs als Auslöser einer in der Konsequenz untragbaren Situation adressiert wurde. Ob der Vorwurf der neglegentia daher lediglich stilistisch gebraucht wurde, sei dahingestellt. Festzuhalten ist Folgendes: Im literarischen wie auch im gesetzlichen Kontext trat die Kritik der neglegentia iudicum vermehrt additiv mit einer unterlassenen Anhörung durch den (statthalterlichen) Richter auf. Als oberste richterliche Pflicht und Tugend war diese einer der zentralen Werte des römischen Zivil- und Strafprozesses und somit von enormer Brisanz. Ebenso wurde die für die Rechtssicherheit untragbare Situation eines absichtlich falschen Urteilsspruchs auf die neglegentia des zuständigen Richters rückgeführt. Das bereits durch V. Wankerl in Bezug auf Berufungsentscheidungen herausgestellte Entscheidungskriterium – die diligentia – zeigte sich auch hier in den kaiserlichen Konstitutionen und den darin kommunizierten Idealvorstellungen. Zum Ausdruck kam die diligentia zum Beispiel darin, dass für die im Einzelfall gerügten Verhaltensweisen stets ein Gegenmittel präsentiert wurde. So wurde u. a. die Hoffnung auf die – teils jedoch selbst in den Fokus der gesetzlichen Regelungen gerückte – Kontrollinstanz des officium gesetzt. Trotz ihrer unterlegenen Position wurde den Kanzleibeamten diese Kompetenz übertragen sowie partiell auch eine Exkulpationsmöglichkeit eingeräumt. Der auf Vermutungsregeln basierenden Kollektivhaftung konnten sie sich – beispielsweise nach Cod. Theod. XI 30,58 (399)818 – dann entziehen, wenn sie u. a. entsprechende Kontrollvermerke in den Gerichtsakten angebracht hatten. Der – zumindest in Ansätzen – konkretere Vorwurf der gratia iudicum819, der im Kontext der Verfahrensverzögerung und -umgehung immerhin in zehn Konstitutionen820 präsent ist, war differenziert zu betrachten: Die über die Jahrhunderte hinweg stets aktuelle, durchaus in gewissen Formen geduldete und von allen Parteien eines Gerichtsverfahrens für die eigenen Zwecke instrumentalisierte gratia iudicum war keinesfalls ein durchwegs „missbräuchliches“ Verhalten, sondern verfahrensimmanent. Auch auf Basis von außerjuristischen Quellen war nachzuvollziehen, dass nicht nur die Nonexistenz der „unzulässigen“ Ausprägung der gratia iudicum als Charakteristikum eines idealen Amtsträgers gepriesen wurde, sondern sie zu einem großen Teil auch ein attraktives Hilfsmittel in den Händen (finanzstarker) Prozessparteien war. Zu keinem Zeitpunkt war die gratia iudicis in den kaiserlichen Konstitutionen alleiniger und ausreichender Grund für ein sanktionswürdiges, fehlerhaftes Verhalten eines Richters. Kein iudex ordinarius wurde nur deshalb „kritisiert“, weil er 817

Cod. Theod. II 6,2 (318), I 16,3 (318), I 1,5 (325). Dazu oben S. 137 f. 819 Hierzu siehe oben ab S. 43 f. sowie S. 57 f. 820 Cod. Theod. XI 30,5 (316), I 16,3 (318), VII 18,4 (380), II 1,6 (385), XI 30,48 (387), IX 40,15 (392), XVI 10,12 (392), IX 40,16 (398), XVI 5,40 (407), I 20,1 (408). 818

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„parteilich“ war. Dies war u. a. darauf zurückzuführen, dass die oftmals unklare Gesetzeslage für den iudex ordinarius einen breiten (Ermessens-)Spielraum eröffnete, der naturgemäß zu verschiedenen Ausprägungen von gratia führte. Privilegienund personenbezogene Vorgehensweisen und Gerichtsentscheidungen waren daher eine systembedingte Folge. In einigen Fällen muss es aber zu einer Verknüpfung der gratia iudicis mit einem weiteren gerichtlichen (Fehl-)Verhalten, wie beispielsweise dissimulatio, fastidium, pecunia oder eben perperam iudicare, gekommen sein. Erst dann entwickelte sich die systemimmanente, in ihren verschiedenen Ausprägungen in großem Maß geduldete gratia iudicis zu einem „missbräuchlichen“ Verhalten des iudex ordinarius und seines officium. Dass eine förmliche Strafhaft auch in der Spätantike kein Bestandteil der römischen Rechtsordnung war, jedoch faktisch im Rahmen des den (statthalterlichen) Richtern zustehenden Ermessensspielraums zur Anwendung kam, konnte vorliegend anhand zweier Kaiserkonstitutionen821 untersucht und bestätigt werden. Beide formulierten explizit den Zustand der „überlangen Inhaftierung“ als Vorwurf im betreffenden Untersuchungskontext, wobei gerade die nicht erfolgte Unterscheidung in der Behandlung von Untersuchungs- und Exekutionshäftlingen eines der kritisierten Fehlverhalten war. Die Inhaftierung wurde in Cod. Theod. IX 3,6 klar als für Untersuchungshäftlinge sowie Exekutionshäftlinge unzumutbarer Dauerzustand herausgestellt. „Neue“, mehr oder minder erfolgsversprechende Kontrollmechanismen (regelmäßige Berichterstattung, erneute „Haftprüfung“, gegenseitige Kontrolle der iudices und ihrer officiales822) dienten insbesondere auch dazu, eine schnelle Strafvollstreckung der Exekutionshäftlinge sowie eine übermäßige Belastung der Untersuchungshäftlinge mit den teils drastischen Gefängnisbedingungen sowie außerordentlichen Gebührenforderungen des officium custodiae vorzubeugen. Klare Hinweise auf eine faktisch angewandte Strafhaft ließen sich den Konstitutionen nicht entnehmen, allerdings ein Beleg dafür, dass richterliche lenitas in der Durchführung der Strafverfahren zu einer Verlängerung der Inhaftierung und Zunahme der Gefängnisinsassen geführt hatte. Die in Cod. Theod. IX 1,18 gerügte lenitas könnte ebenfalls dafürsprechen, dass die iudices ordinarii ihren Gestaltungsund Ermessensspielraum bei der Strafzumessung ausgenutzt und zur Inhaftierung als „mildere“ Form der Strafe gegriffen hatten. Wie sich auch anhand von außer-juristischen Quellen ergibt, dürfte u. a. die zunehmende Christianisierung zur Hinwendung zu einer „unblutigen“ Verfahrensführung und -vollstreckung geführt haben.823 Insofern handelte es sich hier nicht so sehr um eine Verzögerung des 821

Cod. Theod. IX 3,6 (380), IX 1,18 (396). Was zurecht bereits von Haensch, Kontrolle, insb. 177 nebst Anm. 2 und 186 sowie Palme, Officia, 108 und 113 ausgeführt wurde: Wie soll ein Kontrollsystem durch die Untergebenen funktioniert haben, die von ihrem Vorgesetzten ,abhängig‘ waren und zumal dieser zumeist die Disziplinargewalt innehatte? Weiterführend dazu siehe oben S. 40. 823 Vorsichtig so auch Hillner, Prison, 141 sowie Krause, Gefängnisse, 336 f. 822

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Prozesses, sondern um eine faktisch nachvollziehbare Entwicklung hin zum modernen Verzicht auf Hinrichtungen und zur vermehrten Anwendung von Inhaftierungen. Gegen Mitte des sechsten Jahrhunderts dürfte sich die Situation in den Gefängnissen zumindest in der Stadt Gerasa – aus christlich-humanitärer Sicht – so sehr zugespitzt haben, dass eine Unterscheidung zwischen Untersuchungs- und Strafbzw. insbesondere Exekutionshaft immerhin für die getrennte räumliche Unterbringung von Bedeutung wurde und der Bischof ein eigentlich öffentliches Gebäude wie ein Gefängnis errichtete. Der gleichermaßen geartete Gebrauch der Inhaftierung im Rahmen der Rechtsmitteleinlegung, war nicht verwunderlich. Dass jedoch Appellierenden auch in Zivilverfahren drohte, nach Appellationseinlegung vom zuständigen iudex a quo inhaftiert zu werden, bedurfte insbesondere im Hinblick auf die hierfür zulässige Form der Inhaftierung einer näheren Betrachtung. Die zwei insofern behandelten Konstitutionen824 thematisierten die Verzögerung von Verfahren in der „Rechtsmittelinstanz“ durch Inhaftierung. Unter anderem in Fortführung der Argumentationslinie von J.-U. Krause825 konnte herausgestellt werden, dass das Mittel der Inhaftierung in Cod. Theod. XI 30,2 (carcer) sowie XI 30,15 (carcer sowie custodia militiae) nach zivil- wie auch strafprozessualer Berufungseinlegung – ganz gleich in welcher Form – unzulässigerweise angewandt wurde. Dies war daran festzumachen, dass die richterliche Anordnung einer Inhaftierung sowohl in Zivil- als auch in Strafverfahren nur dann die richtige Vorgehensweise war, wenn der Berufungskläger keinen geeigneten Bürgen stellen konnte. Wurde dennoch inhaftiert, war dies eine falsche Vorgehensweise und hatte mitunter die unzulässige Verzögerung des Rechtsmittelverfahrens zur Folge. Ebenso wurden andere Formen von iniuria – thematisiert in vier Konstitutionen826 – durch die iudices und ihre officia ausgeübt.827 Zu Cod. Theod. XI 30,4 konnte insofern aufgezeigt werden, dass mit dem verwendeten Terminus iniuria zum einen körperliche Gewalt sowie zum anderen die Erhebung übermäßig erhöhter Gebühren impliziert waren. Der maßgeblichen Stellung der officiales im Rahmen von Berufungsverfahren und in der Behandlung der Appellationseinlegenden wurde auch durch die entsprechend erhöhten Strafandrohungen Rechnung getragen. Der metus der Prozessparteien vor unrechtmäßigem Verhalten des „erstinstanzlichen“ Gerichts, angesprochen in Cod. Iust. VII 67,2 sowie Cod. Theod. XI 30,58, bestätigt zum einen das tatsächliche Auftreten der unrechtmäßigen Praktiken der iudices a quo bzw. insbesondere derer officia im Rahmen der „Rechtsmittelinstanz“, 824

Cod. Theod. XI 30,2 (313), XI 30,15 (329). Vgl. Krause, Gefängnisse, 69 nebst Anm. 29. 826 Cod. Theod. XI 30,4 (314), XI 30, 22 (343); Cod Iust. VII 67,2 (361); Cod. Theod. XI 30,58 (399). 827 Hierzu S. 126 f. 825

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zum anderen aber auch die teils verfahrensumgehende Wirkung derselben. Allerdings sollte metus den Prozessparteien gerade nicht in Einzelfällen als Vorwand dienen, ein eigenes verfahrensprozessuales Verschulden (z. B. eine Fristversäumnis) bzw. Fehlverhalten zu rechtfertigen. Das sich im Hinblick auf einen ordnungsgemäßen Verfahrensweg etablierende Rechtsmittel der appellatio in der Kaiserzeit und Spätantike bedurfte gesetzlicher Regelungen, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Gerade die grundsätzliche Annahme der Appellationen, so sie denn beim richtigen iudex a quo eingelegt worden waren, wurde seitens der Kaiser mehrfach herausgestellt und für die Nichtannahme eine Strafe angedroht. Überdies wird hier deutlich, dass die Kaiser – wie bereits in den vorausgehenden Jahrhunderten828 – auf die Einhaltung des ordnungsgemäßen Verfahrensweges und die sorgfältige Einhaltung der Verfahrensvorschriften Wert legten. Besonders Cod. Theod. XI 30,20 (347) zeigt die Grundhaltung – teilweise u. a. gekoppelt an eine christlich-humanitäre Einstellung – auf, dass Appellationen auch in Strafverfahren Beachtung verdienen sollten, in denen der Angeklagte zur Todesstrafe verurteilt worden war. Einem Großteil der vorgenannten Erlasse sind Sanktionen für Zuwiderhandlungen durch die iudices ordinarii und ihrer officia zu entnehmen. Eine Regelmäßigkeit bzw. Kontinuität ließ sich alleine für den „Tatbestand“ der Nichtannahme von appellationes aufzeigen, der stets mit Geldstrafen belegt und in zwei von vier Fällen in der Strafhöhe für iudex und officium identisch ist.829 Bezogen auf alle in dieser Untersuchung behandelten Konstitutionen finden sich ebenfalls zumeist Geldstrafen, die entweder direkt beziffert oder an den Streitwert des zugrundliegenden Verfahrens gekoppelt wurden. Andere Strafarten finden sich nur vereinzelt und sind zumeist situativ bedingt: Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der gratia iudicis wurde dem zuständigen Richter in zwei Fällen der Verlust der existimatio, des guten Rufes, angedroht.830 Den primores officii drohte im Fall der durch gratia unterlassen Strafvollstreckung an einem Deserteur sogar die Todesstrafe.831 In zwei weiteren Fällen, in denen die Nichtübersendung der vollständigen „erstinstanzlichen“ Dokumentation im Rahmen von Relationsverfahren gerügt wurde, drohte den iudices die Strafe, die für ein „Sakrileg“ galt.832

828

Dazu s. Wankerl, Appello, insb. 235 f. Was wiederum die Beobachtung von Noethlichs, Beamtentum, 225 bestätigt, der insofern eine Auflistung der Strafhöhen und eine entsprechende Gegenüberstellung der Strafhöhen für das officium und deren Vorgesetzten vorgelegt und gezeigt hat, dass in genau der Hälfte der von ihm geprüften Konstitutionen die Strafe für das Büro höher ist als die Strafe für den vorgesetzten Statthalter. 830 Vgl. Cod. Theod. I 16,3 (318), dazu o. S. 37; VII 18,4 (380), o. S. 69. 831 Vgl. Cod. Theod. VII 18,4 (380). Dazu o. S. 69. 832 Vgl. Cod. Theod. XI 30,6 (316), o. S. 168; XI 29,5 (374), o. Anm. 810. 829

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Eine Dokumentierungs- und Archivierungspraxis diente nicht zuletzt stets zur Verfahrensoptimierung und damit auch Beschleunigung. Mit R. Haensch833 ist nunmehr anzunehmen, dass eine solche auch an den statthalterlichen Gerichten der Spätantike gegeben war. Im Kontext der Dokumentierungspraxis als administrativstrukturelle Grundvoraussetzung der Funktionalität des Rechtsmittelverfahrens begegnen uns Konstitutionen834, die sich mit der Bedeutung der Vollständigkeit der Gerichtsakten sowie der Relevanz der generellen Übersendung der „erstinstanzlichen“ Akten an die zweite „Instanz“ für die zeitliche Verfahrensführung beschäftigten. So waren insbesondere in consultatio ante sententiam-Verfahren sowie in Relations- als auch Appellationsverfahren ähnliche, unzulässige Verhaltensweisen zu kritisieren: Sowohl die Vollständigkeit der „erstinstanzlichen“ Aktenführung als auch die Vollständigkeit der Übersendung waren Verfahrensessentialia, die teilweise aufgrund conscientia prava (Cod. Theod. XI 30,31) der iudices nicht beachtet wurden. In Einzelfällen wurde auf die Unterschiede der Verfahrenstypen und Bedeutung der Aktenvollständigkeit hingewiesen, um so zum einen eine Entlastung des kaiserlichen Gerichtshofes wie auch eine Kontrolle der ersten „Instanz“ und gerechte Entscheidung in der zweiten „Instanz“ zu ermöglichen. Insbesondere aus Cod. Theod. XI 30,9 tritt klar die uns bereits seit Kaiser Mark Aurel835 bekannte Tendenz hervor, „zweitinstanzliche“ Entscheidungen auf Basis einer lückenhaften und unvollständigen Information über den Streitgegenstand und das „erstinstanzliche“ Verfahren zu verweigern bzw. im Fall von Mark Aurel an iudices dati zur weiteren Behandlung zu verweisen. Zielvorstellung aller in diesem Kontext besprochenen kaiserlichen Konstitutionen war durchwegs die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrensablaufs am Gericht ad quem. Hierfür wurde an die diligentia der iudices a quo und ihrer officia als wesentliches Verfahrensführungscharakteristikum appelliert. In Konsequenz ließ sich zudem der vermehrte Erlass von Fristenregelungen zur Übersendung der vollständigen Gerichtsdokumentation beobachten.836 Beschleunigungsgebot und Verzögerungsverbot837 sind sicherlich moderne Termini, die auf die Prozessführung und richterliche Verfahrensgestaltung im Römi833 Zur Frage, ob es in der Spätantike Statthalterarchive gegeben hat, siehe oben S. 158 nebst Anm. 682; stellvertretend sei genannt Haensch, Statthalterarchive, insb. 339 sowie 346. 834 Cod. Theod. XI 30,1 (314), XI 30,6 (316), XI 30,9 (318), XI 30,8 (319), XI 30,29 (362), XI 30,31 (363), XI 30,32 (364), XI 30,34 (364), XI 30,35 (370), XI 29,5 (374). 835 Die Inschrift von Athen aus dem Jahr 164/175, die Wankerl, Appello, 17 – 68 diskutiert, enthält mehrere Entscheidungen Mark Aurels, in denen er allein aufgrund unvollständiger Unterlagen eine Berufungsentscheidung verweigerte; dazu s. o. S. 172. In zwei Fällen verwies Mark Aurel explizit aufgrund fehlender seitens des Berufungsklägers vorzulegender Unterlagen (u. a. der Prozessprotokolle) – wohl aus Zeitgründen – die Streitsache an die Quintilii zur weiteren Behandlung; dazu siehe Wankerl, Appello, 40, 63. 836 Zu den einzelnen Fristenregelungen siehe oben S. 177. 837 Für das geltende Recht und die Problematik der Verfahrensverzögerung insbesondere in Strafverfahren sei verwiesen auf die jüngste Untersuchung von Pest, Verzögerungsverbot;

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schen Reich nur im Ansatz übertragen werden können. Allerdings kann von einer grundsätzlichen und permanenten Verschleppung oder Umgehung von Verfahren sowie problematischer „Richteraktivität“ am Gericht der iudices ordinarii im hier untersuchten Zeitraum keine Rede sein. Sicherlich lässt sich festhalten, dass einzelne iudices oder einzelne officiales in Zusammenwirken mit den ihnen vorgesetzten iudices ihre Kompetenzen überschritten, sich u. a. durch Macht und/oder Geld beeinflussen ließen oder wohl insbesondere auch aus Überlastung Verfahren in die Länge zogen. Zumeist sind uns dabei auch als Teil der entsprechenden Konstitutionen die angedrohten Sanktionen überliefert. An keiner Stelle jedoch wird sichtbar, dass es sich bei den kaiserlicherseits adressierten Abweichungen vom idealen Verfahrensablauf um generelle Missstände an jedem statthalterlichen Gericht handelte. Die Bedeutung des Zeitmoments für die Verfahrensführung vor dem „erstinstanzlichen“ Gericht der iudices ordinarii wurde von den Kaisern allerdings früh erkannt. Basis aller in dieser Untersuchung besprochener Kaiserkonstitutionen sind die verschiedenen Ausprägungen des „Rechts auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit“. Dass Theorie und Praxis manchmal weit auseinandergingen und die Kaiser als Gesetzgeber zur Reaktion zwangen, ist – auch mit Blick auf die teils problematische Beziehung zwischen Judikative und Legislative in modernen Gesellschaften – nicht verwunderlich. Nur mit allergrößter Vorsicht sind daher die uns bekannten gesetzlichen Regelungen der beiden großen Codices, die hier Behandlung fanden, auf eine allgemeine Annahme im Hinblick auf „Fehlhandlungen“ der Gerichte zu reduzieren. Wie bereits R. Haensch838 herausgestellt hat, waren die spätantiken iudices ordinarii und ihre officiales keineswegs korrupter oder „nachlässiger“ in der Verfahrensförderung als ihre Vorgänger der Kaiserzeit. Die in den Kaiserkonstitutionen aufgegriffenen Probleme und richterlichen Handlungsfehler, mit denen die vormoderne Gesellschaft des Imperium Romanum in Einzelfällen zu kämpfen hatte, lassen sich in Teilen sogar ohne weiteres auf heutige Justizapparate übertragen. Dies zeigt nicht zuletzt ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Immer wieder wurde durch den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die zu lange Verfahrensdauer, insbesondere in Strafsachen, gerügt und u. a. die Einführung innerstaatlicher Entschädigungsregelungen angemahnt.839 Auch der Bundesgerichtshof grundlegend Roxin, Rechtsfolgen, 158 f. sowie Kramer, Menschenrechtskonvention, 196 f.; Scheffler, Dauer, 244 f.; Schlette, Anspruch, 31 f. 838 Haensch, Korruption. So auch Krause, Patronatsformen, 38. 839 In Verfahren, in denen eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde, gelangte die sog. Strafzumessungslösung nicht zur Anwendung. Infolgedessen wurde keine Wiedergutmachung im Sinne der Konvention durch die staatlichen Behörden gewährt. In diesen Fällen wurde die Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verurteilt. Eine lückenlose Wiedergutmachung wurde durch die deutsche Strafzumessungslösung nicht ermöglicht. Vgl. EGMR, Urteil vom 23. 03. 2010 – Nr. 29752/04, 16771/06, S. 10 – Thind und Thind; vgl. auch EGMR, StV 2009, 519 (522) – Ommer Nr. 1; EGMR, HRRS 2009 Nr. 217, Rn. 86 – Ommer Nr. 2; EGMR, StV 2009, 561 (562 f.) – Kaemena und Thöneböhn.

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(BGH) hat sich in seiner Rechtsprechung immer wieder mit zu langen (Straf-)Verfahren auseinandergesetzt und so beispielsweise in seiner Grundsatzentscheidung zur sog. Vollstreckungslösung840 eine Art (Schadens-)Wiedergutmachung für zu lange Strafverfahren eingeführt. Am 3. Dezember 2011 trat das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ in Kraft. Das geltende Recht verbürgt seither einen konventionskonformen Rechtsschutzstandard, um zu langen und verzögerten (Straf-)Verfahren zu begegnen. Durch Erhebung einer sog. Verzögerungsbeschwerde nach § 198 Abs. 3 GVG kann der Betroffene sich gegen das Gericht richten, das nach seiner Ansicht zu langsam arbeitet, und präventiven Rechtsschutz erlangen. Unabhängig davon, dass eine effektive Untätigkeitsbeschwerde in Strafverfahren, mit der eine verfahrensfördernde Verhandlungsführung durchgesetzt werden könnte, weiterhin fehlt, birgt auch diese Neuregelung ein uns aus den hier untersuchten spätrömischen Kaiserkonstitutionen bekanntes Problem. Auch die gesetzliche Neuregelung hat es versäumt, die entscheidenden Kriterien für die elementare Frage festzulegen: Wann kann von einer unverhältnismäßig langen Dauer eines Verfahrens, mithin einer Verzögerung und unzureichenden „Richteraktivität“ ausgegangen werden?841

Hierzu und zur sog. Strafzumessungslösung siehe zuletzt die Ausführungen bei Pest, Verzögerungsverbot, 185 f. sowie 192 f. 840 Vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 (=BGHSt 52, 124 = StRR 2008, 107 = StV 2008, 133). 841 Maßgeblich für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer seien vielmehr (nur) die Umstände des Einzelfalls: Wesentlich bei der Beurteilung der Verfahrensdauer ist danach – unter dem Aspekt einer möglichen Mitverursachung – zunächst die Frage, wie sich der Angeklagte selbst im Ausgangsverfahren verhalten hat. Außerdem sind insbesondere im Hinblick auf die Gerichtstätigkeit zu berücksichtigen: Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles sowie die Bedeutung des Verfahrens, wobei nicht nur die Bedeutung für den Angeklagten selbst von Belang ist, sondern auch die Bedeutung für die Allgemeinheit.

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Stichwortverzeichnis Abschreckung 85, 110, 139 Ägypten 22, 37, 42, 133, 168 Akklamation 38, 112 Ambrosius von Mailand 53, 108, 110 Ammianus Marcellinus 19, 50, 106, 173 Amtsführung 18, 20, 22, 25, 28, 31, 37 ff., 46, 49 f., 54, 57, 86 f., 106, 114, 126, 139 f., 154, 166, 168, 183 Amtspflicht 17 ff., 28, 32, 80, 85, 105, 109, 185 Amtstagebücher 22, 37, 105, 158 Anhörung 31, 34 – 37, 53, 55 f., 61, 92, 95, 103, 137, 188 Appellation 18, 59, 62 ff., 75, 92, 115, 117, 120, 122 ff., 129 ff., 137 ff., 143 – 156, 163 f., 166 ff., 173 – 185, 190 Appellationsschrift 120, 129, 131 f., 147 Apuleius von Madauros 56 f., 160 Arcadius 63, 70, 75, 106, 112 Archivierung 157 f., 159, 192 auditorium sacrum 63 Augustus 16, 27 f., 107, 124, 142, 164, 167 Aulus Gellius 44 Basilius von Caesarea 50 ff., 107 ff. beneficium 35, 48, 56 f. Berichterstattung 38, 84, 159, 163, 176 Beschleunigung 55, 58, 103, 106, 133, 166, 176, 192 Besoldung siehe Gehalt Bestechung (improbitas) 33, 39, 45, 56, 64, 68, 102 ff. Bote 181 f. brevis 37 f., 157 Brutalität 21, 54, 100 Bürgschaft 27, 117 f., 121 f., 149, 190 Bürovorsteher, primores 61 f., 72, 191 carcer 89, 90 ff., 95, 97 ff., 109, 115 ff., 120, 124 f., 147, 190

Cassiodor 23, 96, 101, 107, 110 f. Cassius Dio 35, 119, 141 Christentum 51, 78, 81, 113 Christianisierung 76, 77 f., 189 Cicero 44 ff., 49 ff., 54, 64, 90, 101, 102 f., 116 Codex Iustinianus – Cod. Iust. I 2, 14 158 – Cod. Iust. I 4, 6 75 – Cod. Iust. I 5, 4 82 f. – Cod. Iust. I 5, 20 33 – Cod. Iust. I 11, 7 43 – Cod. Iust. I 11, 8 82 – Cod. Iust. I 14, 11 162 – Cod. Iust. I 21, 2 166 – Cod. Iust. I 26, 3 32 – Cod. Iust. I 49, 1 178 – Cod. Iust. II 3, 28 158 – Cod. Iust. III 1, 9 167 – Cod. Iust. III 1, 13 58 – Cod. Iust. III 11, 5 175 f. – Cod. Iust. VII 12, 1 94 – Cod. Iust. VII 13, 4 71 – Cod. Iust. VII 44, 1 167 – Cod. Iust. VII 61, 1 163 – Cod. Iust. VII 62, 6 164, 174 – Cod. Iust. VII 62, 12 121 ff. – Cod. Iust. VII 62, 13 166 – Cod. Iust. VII 62, 15 172 – Cod. Iust. VII 62, 20 145 – Cod. Iust. VII 62, 21 138 – Cod. Iust. VII 62, 24 184 – Cod. Iust. VII 67, 2 59, 126, 133 f. – Cod. Iust. VIII 35, 12 135 – Cod. Iust. VIII 35, 13 135 – Cod. Iust. IX 4, 2 92 – Cod. Iust. IX 4, 5 97 – Cod. Iust. IX 5, 1 123 – Cod. Iust. IX 27, 6 33 – Cod. Iust. IX 47, 6 93 – Cod. Iust. XII 46, 2 70, 71

224

Stichwortverzeichnis

Codex Theodosianus – Cod. Theod. I 5, 1 34, 36 f., 147 – Cod. Theod. I 5, 2 147 – Cod. Theod. I 5, 3 147 – Cod. Theod. I 5, 9 32 – Cod. Theod. I 15, 1 162 – Cod. Theod. I 16, 4 162 – Cod. Theod. I 16, 3 32, 37 ff., 40, 61 f., 63 f., 72 f., 105 – Cod. Theod. I 16, 6 38, 112 – Cod. Theod. I 16, 7 35, 65 f. – Cod. Theod. I 20, 1 67 – Cod. Theod. I 22, 3 133 – Cod. Theod. I 28, 2 58 – Cod. Theod. II 1, 6 58, 60, 62 – Cod. Theod. II 4, 2 158 – Cod. Theod. II 6, 2 34 f., 37, 39, 61 f. – Cod. Theod. II 6, 1 172 – Cod. Theod. II 11, 1 34 – Cod. Theod. II 18, 1 159, 167 – Cod. Theod. II 18, 3 156, 172 – Cod. Theod. III 11, 1 138 – Cod. Theod. IV 13, 3 156 – Cod. Theod. V 6, 3 156 – Cod. Theod. VI 4, 22 111 – Cod. Theod. VI 18, 1 58 – Cod. Theod. VI 24, 3 58 – Cod. Theod. VI 33, 1 58 – Cod. Theod. VII 1, 5 69 – Cod. Theod. VII 2, 2 58 – Cod. Theod. VII 14, 1 70 – Cod. Theod. VII 18, 1 69 – Cod. Theod. VII 18, 2 70 – Cod. Theod. VII 18, 4 58, 61, 69 ff., 72 – Cod. Theod. VII 18, 5 70 – Cod. Theod. VII 18, 7 70 – Cod. Theod. VII 18, 13 70 – Cod. Theod. VII 18, 14 70, 72 – Cod. Theod. VII 67, 1 140 – Cod. Theod. VIII 4, 12 40 – Cod. Theod. VIII 4, 20 156 – Cod. Theod. VIII 7, 17 132 – Cod. Theod. VIII 7, 20 41 – Cod. Theod. VIII 15, 5 104 f. – Cod. Theod. IX 1, 4 36 – Cod. Theod. IX 1, 18 88, 106 ff., 112 f., 189 – Cod. Theod. IX 2, 1 94

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Cod. Theod. IX 2, 3 99 f. Cod. Theod. IX 3, 1 92 – 95, 98 ff., 102 f. Cod. Theod. IX 3, 2 92 – 95 Cod. Theod. IX 3, 5 105 Cod. Theod. IX 3, 6 88, 97 – 104, 189 Cod. Theod. IX 3, 7 96, 98, 101, 104 f. Cod. Theod. IX 11, 1 123 Cod. Theod. IX 23, 1 171 Cod. Theod. IX 38, 3 90 Cod. Theod. IX 38, 6 90, 111 Cod. Theod. IX 38, 7 90 Cod. Theod. IX 38, 8 90 Cod. Theod. IX 40, 1 120 Cod. Theod. IX 40, 5 104 f. Cod. Theod. IX 40, 15 74 f., 106 Cod. Theod. IX 40, 16 75 f. Cod. Theod. IX 42, 15 106 Cod. Theod. X 3, 7 58 Cod. Theod. X 17, 3 58 Cod. Theod. XI 1, 1 58 Cod. Theod. XI 1, 26 58 Cod. Theod. XI 7, 3 88, 91, 125 Cod. Theod. XI 8, 3 58, 130, 137 Cod. Theod. XI 16, 11 58 Cod. Theod. XI 22, 1 148 Cod. Theod. XI 25, 1 38 Cod. Theod. XI 26, 1 147 Cod. Theod. XI 29, 1 161 f. Cod. Theod. XI 29, 2 127, 161 Cod. Theod. XI 29, 5 159, 185 Cod. Theod. XI 30, 1 161 ff., 164 f., 167, 170, 172, 176 f., 179 ff., 185 Cod. Theod. XI 30, 2 88, 92, 115, 120 ff., 124 f., 127 ff., 147, 150, 167, 190 Cod. Theod. XI 30, 3 147 Cod. Theod. XI 30, 4 120, 126 f., 128 f., 131 f., 190 Cod. Theod. XI 30, 5 59 f., 159, 162, 166 f., 172 Cod. Theod. XI 30, 6 59, 159, 166, 168 – 173, 176, 179 Cod. Theod. XI 30, 8 154, 162, 171, 177 – 181 Cod. Theod. XI 30, 9 159, 165, 169, 172 – 176, 178, 192 Cod. Theod. XI 30, 11 144, 159, 163 f., 170 Cod. Theod. XI 30, 13 145, 147

Stichwortverzeichnis – Cod. Theod. XI 30, 14 163 – Cod. Theod. XI 30, 15 88, 92, 115, 124 f., 144 – Cod. Theod. XI 30, 16 163 – Cod. Theod. XI 30, 17 133 – Cod. Theod. XI 30, 18 159, 175 – Cod. Theod. XI 30, 20 148, 152, 191 – Cod. Theod. XI 30, 22 129 ff., 152 – Cod. Theod. XI 30, 24 162, 180 – Cod. Theod. XI 30, 25 152 ff., 155 f. – Cod. Theod. XI 30, 29 159, 163, 180 ff. – Cod. Theod. XI 30, 30 126, 130, 133 ff., 136 f. – Cod. Theod. XI 30, 31 133, 182 f., 192 – Cod. Theod. XI 30, 32 170, 181, 184 – Cod. Theod. XI 30, 33 153 f. – Cod. Theod. XI 30, 34 181 f., 184 – Cod. Theod. XI 30, 35 159, 165 – Cod. Theod. XI 30, 38 71 – Cod. Theod. XI 30, 43 131 – Cod. Theod. XI 30, 48 58, 62 – Cod. Theod. XI 30, 51 58, 154 – Cod. Theod. XI 30, 56 63 – Cod. Theod. XI 30, 57 75 – Cod. Theod. XI 30, 58 126, 137 ff., 155 f., 188, 190 – Cod. Theod. XI 30, 59 155 f – Cod. Theod. XI 30, 60 156 – Cod. Theod. XI 30, 65 185 – Cod. Theod. XI 34, 1 136 – Cod. Theod. XI 34, 2 136 – Cod. Theod. XI 36, 1 120, 123, 132, 135, 142 f., 147 f., 150 – Cod. Theod. XI 36, 2 146 f. – Cod. Theod. XI 36, 3 135, 147 – Cod. Theod. XI 36, 4 148, 150 f. – Cod. Theod. XI 36, 5 135 – Cod. Theod. XI 36, 7 148 ff. – Cod. Theod. XI 36, 11 135 – Cod. Theod. XI 36, 15 135 – Cod. Theod. XI 36, 16 135 – Cod. Theod. XI 39, 7 159 – Cod. Theod. XI 40, 1 150 – Cod. Theod. XI 42, 1 166 – Cod. Theod. XII 1, 153 111 – Cod. Theod. XII 1, 161 111 – Cod. Theod. XII 1, 172 58 – Cod. Theod. XII 1, 173 38

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– Cod. Theod. XII 12, 1 124 – Cod. Theod. XII 16, 5 58 – Cod. Theod. XII 19, 3 58 – Cod. Theod. XIII 3, 13 58 – Cod. Theod. XIII 5, 2 127 – Cod. Theod. XIII 5, 3 127 – Cod. Theod. XIII 10, 8 58 – Cod. Theod. XIII 11, 5 58 – Cod. Theod. XIII 11, 8 58 – Cod. Theod. XIV 17, 6 58 – Cod. Theod. XV 1, 41 58 – Cod. Theod. XV 12, 2 70 – Cod. Theod. XV 14, 8 158 – Cod. Theod. XVI 2, 27 111 – Cod. Theod. XVI 2, 31 80 – Cod. Theod. XVI 2, 44 43 – Cod. Theod. XVI 5, 7 83 – Cod. Theod. XVI 5, 13 58 – Cod. Theod. XVI 5, 35 111 – Cod. Theod. XVI 5, 40 58, 81 ff. – Cod. Theod. XVI 5, 46 33 – Cod. Theod. XVI 5, 47 82 – Cod. Theod. XVI 5, 65 33, 81 – Cod. Theod. XVI 6, 4 40, 81 – Cod. Theod. XVI 10, 4 33, 81 – Cod. Theod. XVI 10, 10 33, 78, 82 – Cod. Theod. XVI 10, 11 33, 78 – Cod. Theod. XVI 10, 12 77 ff., 82 f. – Cod. Theod. XVI 10, 13 33 – Cod. Theod. XVI 16, 4 111 cognitio extra ordinem 109, 111, 142 commentariensis 98, 104 f., 132 consiliarii 23 Constantius II. 129 f., 136, 145, 148 ff., 152, 180 Constitutiones Sirmondianae – Const. Sirm. 7 90 – Const. Sirm. 8 90 – Const. Sirm. 12 40 – Const. Sirm. 16 58 consultatio (ante sententiam) 59 f., 140 ff., 160 – 176, 178 ff., 192 contestatio 134 ff. contumelia 120, 126, 137 ff., 144 conventus 14 f., 27, 36, 61 crimen publicum 82 f. culpa 26 f., 36 f., 44, 95, 182

226

Stichwortverzeichnis

custodia 92 ff., 97 ff., 101 ff., 105, 115, 117 ff., 124 ff., 150, 189

Gratian 69 f., 72 Guter Ruf 39, 55, 63, 128

decurio 68, 73, 79 defensor 50, 73, 79 f., 83, 137 Desertion 69 ff. diligentia 20, 25 ff., 33, 107, 151, 187 f., 192 Diokletian 18 f., 28, 122, 140, 142, 158, 174 Disziplinargewalt 41 f., 178 f.

Hadrian 28, 41, 93, 104, 109 Haftprüfung 92, 106, 189 Haftung 24, 26, 33, 37, 44 Häresie 81 f. Heidentum 33, 78, 80, 82, 110 honorati 67 ff. Honorius 67 f., 70, 76, 81 ff., 101, 137, 155 f., 185 Humanitär, humanitas 54, 75 f., 96, 98, 107, 190 f.

Edictum Theoderici 130 Effizienz 18, 41, 63, 76, 179, 185 Eisagogeus 42 Entschädigungsanspruch siehe Schadensersatz Erkenntnisverfahren 34, 85, 102 Eutropius 28, 30, 99 f. exceptores 40, 66, 132 existimatio siehe Guter Ruf Firmicus Maternus 92 ff., 103 Freilassung 75, 88, 94, 97, 101 f., 105 Fristen 77, 133, 135, 154, 160, 177, 179, 182, 186 Gebühren 15 f., 19, 42, 66, 100, 104 f., 128, 131, 189 f. Gefängnis 53 f., 56, 76, 84, 87 – 111, 114 – 117, 119 ff., 147, 189 f. Gefängnisbeamte, -aufseher 54, 91, 96, 99, 102, 103 f. Gefängnishaft 89 ff., 94, 105, 107 ff., 115, 119, 124 f., 151 Gehalt (annona) 42 Gehör, rechtliches 28, 31, 35 f., 59, 61, 73, 156 Geldstrafe 40, 42 f., 62, 74, 79, 81, 83, 105, 115, 122, 138 f., 152 ff., 183 ff., 191 Gerechtigkeit 14, 18, 50, 51 f., 59, 75, 114, 128, 134, 144 Gerichtsakte 59 f., 139, 159 ff., 167, 169, 171 f., 176, 179 f., 183, 188, 192 Gerichtsprotokoll siehe Protokoll Gerichtswesen 13 f., 21 f., 24, 43, 68, 109, 144 Gewalt 76, 95, 114 ff., 128, 133 f., 137 gratia 16, 19 ff., 43 – 83, 191

Infamia 128, 145 f., 172 Inhaftierung 54, 84 – 108, 113 – 123 iniuria 20, 78, 115, 120, 126, 128 ff., 137, 190 interventio 76 f. Irenarch 79 f. iudex suspectus 138 f. Johannes Chrysostomus 76 Johannes Lydus 42, 157 Julian 28, 133 f., 180 ff. Jurisdiktion 13 f., 17 f., 31, 68, 85, 115, 142, 147 Kaiserliches Gericht siehe auditorium sacrum Kanzleibeamte siehe officium Kanzleipersonal siehe officium Kleriker 74, 76 ff. Koerzition 115 ff., 125 Kollektivstrafe 22, 41, 75, 178, 183 Konstantin 20 f., 26, 34 ff., 59 ff., 64 ff., 92, 94 ff., 98 f., 112, 115, 120 ff., 124 ff., 129, 136, 140, 144 ff., 150, 159, 161 ff., 169, 171, 173, 175 ff., 179 ff. Kontrollmechanismus 37 f., 105, 189 Kontrollvermerk 41, 139, 184 Konventssystem 14, 19 Korruption 21, 45 f., 66, 104 f., 144 f. Ladung 35 Laktanz 90 lenitas 46, 106 f., 111, 113, 189 Lex Baiuvariorum 43 f.

Stichwortverzeichnis Lex Cornelia de falsis 65, 168 Lex Iulia de vi publica 151 Lex Romana Visigothorum 43 f. Libanius 19, 30 ff., 45, 52 – 57, 68, 84 – 87, 91, 93, 97, 101 f., 111 f., 124, 139 litis denuntiatio siehe Ladung Lukian von Samosata 13 – 16, 19, 30, 48 f., 160 Majestätsverbrechen 82, 100 Manipulation 42 Mark Aurel 28, 61, 142, 172 f., 192 Menander Rhetor 87, 114 Missbrauch 42, 45, 66, 91, 92, 103, 141 Nachbesserung 171 Nachlässigkeit, neglegentia 14, 20, 25 – 40, 59, 61 f., 71, 79, 80, 87 f., 97 f., 100, 102, 105, 130, 154, 181, 187 f. Öffentlichkeit 37, 87, 95, 133, 136 f. officium 21 ff., 37 ff., 40 ff., 48, 56, 67, 74 f, 97 f., 103, 105, 115, 117, 126, 129 ff., 137 ff., 153 ff., 159, 166, 178 ff., 188 f. officium custodiae siehe Gefängnisaufseher opinio 122, 143, 168 – 176, 179, 185 Paganismus siehe Heidentum Parteilichkeit 45 ff., 54, 60 f., 64, 66, 75, 77, 138 pecunia 27, 44 ff., 63 ff., 104, 122 Pelagius 47, 58 Petition 18, 101, 124 f., 180 Philon von Alexandria 42 Plinius der Jüngere 28 poena siehe (Geld-)Strafe potentia 45 – 49, 53, 58, 64 f. praeses siehe Provinzstatthalter praetorium 67 f., 91 preces refutatoriae 163 ff., 171, 174, 179 primates 23, 40 f., 132 Protokollierung, Protokoll 42, 133, 139, 143, 157 – 161, 165, 173, 192 Provinzgericht 18 Provinzstatthalter 17 ff., 21, 23, 29 – 33, 38 ff., 52 ff., 62 – 64, 67 f., 72 f., 79, 83 ff., 93, 105, 112, 123, 130, 133, 157 ff., 187

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provocatio 75, 77, 120 f., 124 f., 127, 129, 134, 136, 138, 140 ff., 145, 147 ff., 153, 155 f. Prozesskosten siehe Gebühren Publikationsbefehl 73 Rechtsmittel 114 f., 123, 125 f., 140 ff., 144, 147, 149, 157, 159, 168 f., 171, 190 f. Rechtsmitteleinlegung 114 ff., 125, 136, 140 Rechtsprechung 17 f., 22, 28, 50, 68, 109, 142, 146 rector siehe Provinzstatthalter Relationsverfahren, relatio 59 f., 116, 127, 144 f., 160 – 164, 166 ff., 170 – 177, 180 – 185, 191 Religionsgesetzgebung 33, 76 ff., 187 Richteraktivität 23, 34, 187, 194 Sakrileg 168, 171, 179, 185, 191 Schadensersatz 34, 37, 61 Schriftlichkeit 157 ff. senatus consultum 65 Seneca 14, 29, 107 Sorgfalt siehe diligentia sportulae 15, 19, 42, 65 f. Statthalterarchiv 22, 158 f. Statthaltersitz siehe praetorium Strafhaft 88 ff., 93 ff., 189 Strafkatalog 90, 96 Strafvollstreckung 74 f., 80, 98, 100, 102, 105, 110, 113, 145, 149 ff., 189, 191 Stratege, Epistratege 37, 61 Streitwert 15, 61 f., 178 f., 191 Sueton 16, 28, 107, 124 supplicatio 159, 168 – 171, 176, 179 supplicium siehe Todesstrafe Theodosius I. 30, 32, 52, 70, 74, 77 f., 80, 97, 99, 112, 154, 158 Todesstrafe 44, 70 ff., 75 ff., 90, 100 f., 103, 108 – 113, 115 f., 123, 148 f., 152, 171, 179, 191 Ulpian 26, 49, 50, 56, 64 f., 89, 104, 118, 128, 143, 149, 163, 169 Untersuchungshaft 88, 91, 94 ff., 101 f., 106, 108, 118

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Stichwortverzeichnis

Valens 19, 51, 69, 157, 181, 184 Valentinian II. 32, 60 ff. Verfahrensdauer 14, 193 f. Verfahrensweg 27, 135, 139, 142, 145, 167, 171, 1861, 191 Verhör 95, 150 Verjährung 34, 36 f., 61 Verwaltung 17, 19, 21, 32 f., 46, 103, 110, 124, 127, 158

Verzögerung 14, 21, 23 f., 26, 30 f., 34, 36 f., 40 , 56, 58, 60 ff., 65, 77, 85, 106, 113, 149, 154, 160, 162, 169, 181, 183, 187 ff., 192 f. vice sacra 136, 146 vincula perpetua 93 vis 126 Zwölftafelgesetz

33, 44 f.