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German Pages 423 Year 2014
TILMAN NAGEL Angst vor Allah?
Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam
Von
Tilman Nagel
Duncker & Humblot · Berlin
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Den vielen Bürgern, die sich durch Verlautbarungen über den Islam ein ums andere Mal hinters Licht geführt fühlen, den Angehörigen der politisch-medialen Klasse, die sich das Nachdenken über die muslimischen Machtansprüche nicht von den Sachwaltern der politischen Korrektheit verbieten lassen, den mutigen Muslimen, die ihren Weg in einen freiheitlichen Rechtsstaat suchen oder schon gefunden haben, ist dieser Band gewidmet. Vielleicht hilft er bei der Beantwortung der Fragen, von denen sie alle bedrängt werden.
Vorwort „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Mit Erstaunen las ich diesen Satz in einer Rede, die im Jahre 2010 der damalige Bundespräsident zum Tag der Deutschen Einheit gehalten hatte. Eine politisch-religiöse Heilsbotschaft, deren Vorschriften wesentliche Teile unserer deutschen Kultur als Unglauben verurteilen,1 nämlich die Musik, die Malerei, die Bildhauerei,2 desgleichen die Früchte unserer Wissenschaft, sofern sie nicht durch den Koran, eine Schrift aus dem frühen 7. Jahrhundert, gerechtfertigt werden, soll nun Teil unserer Geschichte sein!3 Eine Religion, die unsere Volkskultur als pures Teufelszeug verunglimpft, etwa den Karneval und das Oktoberfest! Wieso gehört diese Religion, deren eifrige Anhänger unseren Tageslauf ihren Ritualpflichten unterwerfen und ihren Töchtern den Umgang mit unseren Söhnen verbieten wollen,4 „inzwischen“ zu Deutschland? Haben die Wortführer dieser Religion auch nur in irgendeinem Punkte mit eindeutigen Äußerungen ein Abweichen von ihren sozialen Dogmen, eine Bereitschaft zum Überdenken ihrer diesbezüglichen Maximalforderungen zu erkennen gegeben, und zwar nicht nur vor Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch gegenüber ihren Glaubensbrüdern in der islamischen Welt? Nur dann wäre doch überhaupt von einer „inzwischen“ erworbenen Zugehörigkeit zu reden oder wenigstens vom Willen, dazuzugehören! Jene politisch-religiöse Heilslehre, deren Vordenker eine Grundfähigkeit der deutschen, ja der europäischen Kultur vermissen lassen, nämlich die 1 Vgl.
z. B. Abdullah Leonhard Borek. Islam im Alltag. Eine Handreichung für deutsche Muslime, Hamburg 1999, Einleitung. 2 Die 45-bändige „al-MausūÝa al-fiqhīja“ („Enzyklopädie des islamischen Rechts“, erschienen in Kuweit zwischen 1993 und 2007) enthält unter den Stichwörtern al-ġināÞ, at-tašbīb und (sehr ausführlich!) at-taÒ wīr einen Überblick über die einschlägigen Vorstellungen. Auf einem schlichten Niveau handelt Jusuf al-Qaradawi in seinem in der ganzen Welt verbreiteten Buch „Erlaubtes und Verbotenes im Islam“ (München 1989 und öfter) vielerlei hier einschlägige Bestimmungen ab, z. B. das Verbot von Statuen und Porträtbildern (147–171); Gesang ist nur erlaubt, wenn der Inhalt nicht gegen den Islam verstößt (417–422); es dürfen nur „reine“ Filme angesehen werden, in den Kinos hat strenge Geschlechtertrennung zu herrschen (425 f.) usw. 3 Vgl. Leif Stenberg: The Islamization of Science: Four Muslim Positions. Developing an Islamic Society, New York 1996; zur Verächtlichmachung der euro päischen, nicht vom Koran ausgehenden Wissenschaft in der heutigen Türkei vgl. Martin Riexinger: Die verinnerlichte Schöpfungsordnung (noch nicht erschienene Habilitationsschrift), insbesondere das sehr ausführlich dokumentierte Kapitel 3. 4 Borek, 35 f.
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Vorwort
Fähigkeit zur kritischen Selbstprüfung, die einen dazu drängt, die eigenen Gewißheiten wenigstens vorübergehend hintanzustellen und sich in den Anderen hineinzudenken, soll nunmehr zu Deutschland gehören? Jene Heilslehre mit ihrem rücksichtslosen „sozialen Imperialismus“ (Georges Anawati, vgl. Abschnitt D., Einführung), ihrer Unterdrückung der Frau, ihrer Ablehnung der Religionsfreiheit, soll ein Teil unseres Landes und unserer Geschichte geworden sein, ohne daß ihre Wortführer die Prinzipien unseres säkularen Gemeinwesens, zu denen jene Heilslehre in einem krassen Widerspruch steht, ausdrücklich, vollständig und in verbindlicher Form anerkannt hätten? Eine absurde Vorstellung, selbst wenn der höchste Vertreter der deutschen politischen Klasse sie vorträgt! Längst hat sich im öffentlichen und im veröffentlichen Reden über den Islam eine befremdliche Asymmetrie eingebürgert: Muslime, insbesondere Angehörige der islamischen Interessenverbände, brauchen nur zu behaupten und zu fordern. Wer diese Behauptungen und Forderungen wegen ihrer meist evidenten Unvereinbarkeit mit unserem säkularen Gemeinwesen ablehnt, hat einen bestens dokumentierten Nachweis dieser Unvereinbarkeit zu leisten, der am Ende doch nicht beachtet wird, da es den Argumenten an „islamischer Authentizität“ mangele. Hier schnappt die Falle zu, in die der Europäer gerät, der die Selbstreflexivität des eigenen Denkens, die produktiven Zweifel an der Angemessenheit der eigenen Position auch bei seinem muslimischen Gegenüber unterstellt. Bei jenem aber sucht man sie meist vergeblich; was der Muslim im Dialog mit Nichtmuslimen vorträgt, ist in der Regel keineswegs eine nach innerer Prüfung und Anfechtung errungene und daher revidierbare Ansicht. Es ist für ihn vielmehr die ewige, unanfechtbare Wahrheit: „Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen gestiftet wurde. Ihr gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Allah. Wenn die Schriftbesitzer“ – nämlich die Juden und die Christen – „(ebenfalls) glaubten, wäre es besser für sie. Einige unter ihnen sind zwar“ – im Sinne der koranischen Botschaft – „gläubig geworden. Aber die meisten von ihnen sind Frevler“ (Sure 3, 110). Der Muslim spricht zum Andersgläubigen stets aus der Position des Rechthabenden, warum sollte er sich um Empathie mit dem Unrechthabenden bemühen? Allah hat es so bestimmt, daß die Muslime stets die Überlegenen, die Oberen sind (vgl. den zweiten Abschnitt). So forderte der türkische Ministerpräsident Erdoğan den Abriß eines bei Kars errichteten Mahnmals, das an den Völkermord an den Armeniern erinnerte; es überschatte eine Moschee und die Grabstätte eines Sufis, machte er zur Begründung geltend.5 Im Umgang mit deutschen Regierungsorganen pflegen die Vertreter der muslimischen Verbände ebenso den Ton des Überlegenen, der zu for5 FAZ
vom 20. April 2011, S. 27.
Vorwort9
dern, nicht aber zu geben hat. Und sie haben damit Erfolg. So wurde ich Zeuge, wie ein von der Arbeitsgruppe 1 der ersten Deutschen Islamkonferenz verabschiedeter Text nach einem nachträglichen Einspruch der beteiligten muslimischen Verbandsvertreter ohne Wissen der übrigen Mitglieder abgeändert wurde; der damalige Innenminister verteidigte dieses grob regelwidrige Vorgehen. Man stelle sich einen analogen Vorgang vor, jedoch mit vertauschten Rollen! Er ist nicht vorstellbar. Gern und ausgiebig kritisiert man in der Öffentlichkeit das Christentum, insbesondere die beiden großen Kirchen, sei es aus gutem Grund, sei es einfach aus Konvention. Aber über den Islam, von dem man in der Regel ebenso wenig oder noch weniger weiß, soll kein kritisches Wort fallen. Kommt beispielsweise in der Diskussion nach einem Vortrag die islamische Knechtung der Frau zur Sprache, so finden sich sofort lebhafte Stimmen, die genau wissen, daß es so schlimm gar nicht sei und daß die christlichen Kirchen bis vor kurzem ja ähnliche Positionen vertreten hätten: Was man im Hinblick auf das Christentum nie und nimmer zu dulden gewillt wäre, sondern zum Anlaß schärfster Verurteilung nähme, ist man geneigt, mit Bezug auf den Islam für erträglich zu erklären. Hat man Angst vor Allah? Eine in langjähriger Erfahrung gesammelte Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft vieler, wenn nicht der meisten Mitglieder unserer politisch-medialen Klasse zur nüchternen, wirklichkeitsnahen Wahrnehmung des Islams6 und derjenigen seiner Charakterzüge, die unserer Kultur zuwiderlaufen, hat mich in dem Plan bestärkt, einige meiner Aufsätze und Vorträge, die sich mit dieser Thematik befassen, zusammenzustellen und zum Teil erstmalig zu veröffentlichen. Indem sich die Mehrheit unserer politisch-medialen Klasse auf die politische Korrektheit beruft, verbittet sie sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam.7 Ein solcher Versuch der Einschränkung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit ist nur damit zu erklären, daß man sehr wohl weiß, daß die Kritiker einen wunden Punkt ansprechen. Doch um des lieben Friedens willen und wider besseres Wissen soll mit Bezug auf den Islam die Erinnerung an die Grundwerte 6 Der eingangs zitierte Satz des ehemaligen Bundespräsidenten verdankt sich, wie man hört, keineswegs einer sorgfältigen Sachanalyse, sondern gelangte nach einem beiläufig geäußerten Wunsch eines Journalisten in die Rede zum Tag der deutschen Einheit (vgl. Wolfgang J. Ruf in: Mut Nr. 536, Juli / August 2012, 71) – ein erschreckendes Beispiel für den leichtfertigen, inkompetenten Umgang der politischen Klasse mit dem Thema Islam. Nichtsdestoweniger wird jener Satz seither vielfach zur wichtigsten Hinterlassenschaft des vorzeitig aus dem Amt geschiedenen Bundespräsidenten Wulff hochstilisiert. 7 Vgl. hierzu die grundlegenden Überlegungen von Hans-Peter Raddatz: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft, München 2001, insbesondere Teil II.
10 Vorwort
unserer geistigen, politischen und sozialen Kultur unterbleiben, vor allem aber jeder Hinweis darauf, daß unsere Kultur es wert ist, gegen ihre frommen Verächter muslimischen Glaubens verteidigt zu werden. Freiheit und Rechtssicherheit sind nichts Selbstverständliches. Zuzuschauen, ob sie gleichsam von selbst den Attacken illiberaler Kräfte standhalten, das ist ein unverantwortbares Experiment! Verständnislos beobachten Muslime, die sich bewußt für unser freiheitliches säkulares Gemeinwesen entschieden haben, wie sich viele seiner Verantwortungsträger auf eben dieses Experiment einlassen. Diesen Muslimen Argumente für das Gespräch mit Vertretern der politisch-medialen Klasse an die Hand zu geben, ist eines der Ziele dieses Buches. Zweitens soll es dem nichtmuslimischen Bürger fundierte Aussagen liefern, mit denen er die alltäglichen Schönfärbereien zurückweisen und die Saumseligen und Bequemen der politisch-medialen Klasse zur Wahrhaftigkeit auffordern kann. Druck von unten ist nötig, sowie vor allem eine sachgerechte Unterstützung jener Politiker und Journalisten, die sich ihrer Pflicht zur Bewahrung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht entziehen. Nur scheinbar geben die Umstürze, die seit einiger Zeit die arabische Welt erschüttern, denjenigen recht, die es für ausgemacht halten, daß Demokratie und Islam wahlverwandt (vgl. unten, dritter Abschnitt) seien. Von Freiheit und Selbstbestimmung ist in der Tat viel in den Berichten über jene Ereignisse die Rede. Nirgends aber davon, daß der Islam nicht das oder ein Grundelement der angestrebten neuen Ordnung sein solle. Damit aber bleibt, wie immer die Geschehnisse sich entwickeln werden, die Zugehörigkeit zu dieser Religion das entscheidende Kriterium für die uneingeschränkte Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Wie sich Parlamentarismus und Demokratie unter dieser Bedingung verformen, ist am Beispiel Pakistans zu studieren. Im Jahre 1930 forderte Muhammad Iqbal (1877–1938), auf dem indischen Subkontinent müsse ein eigener islamischer Staat errichtet werden, damit sich der Geist des Islams unter den Voraussetzungen der Neuzeit frei entfalten könne.8 Auf der Basis islamischer Grundsätze sollte, wie 1949 versprochen wurde, eine Verfassung ausgearbeitet werden, die „Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und soziale Gerechtigkeit“ für jeden Staatsbürger garantieren sollte. Dieser 1955 verabschiedeten Verfassung wurde schon ein Jahr später eine Klausel hinzugefügt, in der in allgemeinen Formulierungen bestimmt wurde, daß keinerlei Gesetze erlassen werden dürften, deren 8 Erwin Rosenthal: Islam in the Modern National State, Cambridge 1965, 196 f. Selbst Iqbal nimmt an, daß der Islam zur Gestaltung seiner religiösen, politischen und gesellschaftlichen Zukunft gleichsam ein von ihm allein beherrschtes „Biotop“ benötige; die Wortführer des Islams sind bis jetzt zu einer Auseinandersetzung mit anderen religiösen und politischen Ideen und Systemen von gleich zu gleich und zu politischen Kompromissen nicht fähig oder nicht bereit.
Vorwort11
Inhalt nicht mit dem in Koran und Hadith auffindbaren islamischen Recht, der Scharia, übereinstimme. Bereits geltende Gesetze sollten im Hinblick hierauf überprüft und nötigenfalls geändert werden.9 Die pakistanische Verfassungsgeschichte ist seither als ein Ringen um eine immer strengere Auslegung dieser Klausel zu interpretieren. Die Schriften des pakistanischen Wortführers der totalen Islamisierung, Abū l-ÝAlāÞ Maudūdīs (1903–1979), sind längst ins Arabische übersetzt, und es wäre ein Wunder, wenn die in ihnen propagierten Verheißungen nicht einen großen Teil der jugendlichen Protestierer beflügelten. Unter der AKP-Regierung hat auch die Türkei, die von den meisten Vertretern unserer politisch-medialen Klasse als ein Musterbeispiel für Demokratie im Islam oder für islamische Demokratie gepriesen wird, den Weg zur Islamisierung der Staatsorgane eingeschlagen, der zu einer Einschränkung von Bürgerrechten führt.10 Selbstverständlich geht es in diesem Buch nicht darum, einer Politik weltweiten Eingreifens zugunsten von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit usw. das Wort zu reden. Im Gegenteil, wir sollten erkennen, daß es nicht in unserer Macht steht, unsere politische Kultur in Weltgegenden einzupflanzen, in denen die geschichtlichen Voraussetzungen für die Rezeption ihrer Grundideen fehlen. Inzwischen gibt es genug Beispiele dafür, daß derartige Unternehmungen der Überdehnung der „Vormacht“ des Westens scheitern und vor allem den Haß gegen ihn schüren. Vielmehr wendet sich das Buch an den deutschen Leser, der vor der durch unsere politische Klasse bislang nicht beantworteten Frage steht, ob man es zulassen soll, daß sich innerhalb des säkularisierten freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens eine Bevölkerungsgruppe etabliert, die die Religionszugehörigkeit von einer privaten Angelegenheit zu einem Faktor der Ausübung von Macht erhebt. Soll es hingenommen werden, daß unter Berufung auf die von der Verfassung garantierte Religionsfreiheit die politische Religion Islam für ihre Anhänger ein eigenes Recht durchsetzt, auf welchen Bereichen des Alltags auch immer? Kann es zugelassen werden, daß die gegen unsere säkularisierte Ordnung gerichteten Lehren, die der Koran und das Hadith enthalten, verbreitet werden, ohne daß man ihnen widersprechen dürfte, da sie ja religiös begründet seien? Eine Diskussion über solche Fragen kann nur gelingen, wenn man sich eingehend über den Islam informiert hat. Dann wird es möglich werden, die vorhin erwähnte fatale Asymmetrie des Diskurses über den Islam zu unterlaufen und mit den Wortführern dieser Religion die spannungsgeladenen, aber redlichen Auseinandersetzungen zu führen, die man bislang 9 Ebd.,
209 f. und 224. den Vortrag der unlängst von ihrem Amt zurückgetretenen Obersten Richterin der Türkei, Emine Ülker Tarhans, gehalten bei einer Veranstaltung des Büros für Integration Groß-Gerau, abgedruckt in der FAZ vom 8. April 2011, S. 33. 10 Vgl.
12 Vorwort
so beharrlich gemieden hat. Unserer politisch-medialen Klasse wird dabei hoffentlich aufgehen, welch ein unschätzbares Erbe sie zu wahren und zu mehren hat, ein Erbe, das dann seine Anziehungskraft auch auf die Mehrheit der Muslime in Deutschland entfalten wird. Wie bereits erwähnt, wendet sich das Buch auch an jene muslimischen Mitbürger, die sich bewußt für unseren Staat und seine Gesellschaft entschieden haben. Sie geraten, sobald ihre Religionszugehörigkeit zur Sprache kommt, oft in eine schwierige Lage. Gegen ihren Willen werden sie als Verfechter jener islamischen politisch-religiösen Vorstellungen wahrgenommen, denen ihre schariagebundenen Glaubensgenossen nun auch in Europa zum Durchbruch verhelfen wollen. Wie sollen sie sich verhalten, wenn sie auf ihre vermeintlichen Überzeugungen angesprochen werden? Manche unter ihnen haben die Kraft, das Bekenntnis zum Islam für ihre Privatsache zu erklären und darauf zu bestehen, daß für sie die Einhaltung der Glaubens praxis nur eines der Rechte des Bürgers dieses Staates darstellt: Das Recht der Religionsausübung ist in ihrer Sichtweise lediglich ein Teilaspekt der Rechte und Pflichten des Bürgers eines säkularisierten freiheitlichen Rechtsstaates, die nicht aus einer bestimmten religiösen Heilsbotschaft abgeleitet, sondern selbst mit einer atheistischen Weltanschauung vereinbar sind. Diese „säkularisierten“ Muslime nehmen in Kauf, von einem großen Teil ihrer in Deutschland lebenden Religionsgenossen eben deswegen als Verräter an der Sache des Islams gebrandmarkt zu werden, dem es doch von Allah bestimmt sei, über die Glaubenspraxis hinaus Gesellschaft und Politik zu prägen. Andere, vielleicht die meisten der sich dem säkularen Gemeinwesen verbunden fühlenden Muslime, meiden religiöse Themen und ziehen sich notfalls auf die Position zurück, eine Kritik am Islam sei unzulässig; jene Gruppierungen, die für eine Islamisierung Deutschlands einträten, interpretierten allerdings den Koran falsch. Nähere Erläuterungen, worin die falsche Auslegung denn nun bestehe und, vor allem, warum man nicht öffentlichkeitswirksam gegen sie Einspruch erhebe, unterbleiben. Und damit berühren wir den entscheidenden Punkt: Der nichtmuslimische Bürger fragt sich, warum selbst in wichtige Ämter gewählte „säkulare“ Muslime so viel Zurückhaltung zeigen, wenn es darum geht, die erheblichen Differenzen zwischen den Grundsätzen ihrer Religion und denen des freiheitlichen Rechtsstaates auf den Begriff zu bringen. Wer, wenn nicht sie, ist gefordert, unter den eigenen Religionsgenossen aufklärend zu wirken? Es entspricht sicher den Tatsachen, daß manche Muslime in Deutschland den Islam nur noch „als einen Teil ihrer Identität“ betrachten und somit den „Taufscheinchristen“ vergleichbar sind.11 Doch gerade diejenigen unter ihnen, die in 11 So Cem Özdemir in dem Artikel „Wir sind doch keine statistischen Ausreißer“, Feuilleton der FAZ vom 27. Mai 2011. „Teil der Identität“ ist natürlich ein schwam-
Vorwort13
Deutschland öffentliche Verantwortung tragen, sollten sich, auch wenn es sie nicht sonderlich interessiert, ernsthaft mit dem Konfliktpotential befassen, das in dem Problem „Islam und freiheitlicher Rechtsstaat“ verborgen ist. Schon die Skepsis, mit der viele ihrer Glaubensbrüder ihr Eintreten für unser Gemeinwesen beobachten, desgleichen die Skepsis, mit der der nichtmuslimische Bürger ihre Äußerungen zum Islam aufnimmt, sollten sie dazu anspornen, den solchen Reaktionen zugrunde liegenden Konflikt eingehend zu analysieren und sich nicht damit zufrieden zu geben, daß sie im Augenblick eine unreflektierte Rückendeckung durch die politisch Korrekten genießen. Der Islamwissenschaftler seinerseits ist weder befugt, noch berufen, an ihrer Stelle unter den Muslimen Aufklärungsarbeit zu leisten. Seine Sache ist es, die Grundlinien jenes Konflikts aufzuzeigen. Er kann den säkularen Muslimen helfen, eine Welt zu verstehen, die nicht oder nicht mehr die ihrige ist; er kann darlegen, inwiefern die Gemeinschaft der Muslime in Deutschland gleichsam durch die Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen politisch-religiösen Kulturen gespalten ist. Und er kann die säkularisierten Muslime dazu ermuntern, ihre abseits stehenden Glaubensgenossen an die politische Kultur unseres Gemeinwesens heranzuführen und mit deren Prinzipien vertraut zu machen. Wie aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich ist, habe ich den Stoff in vier Sachgebiete gegliedert. Jedes von ihnen wird durch eine Einführung erschlossen. Ein Teil der in diesem Buch gesammelten Vorträge bzw. Aufsätze wurde schon an anderer, meist recht entlegener Stelle veröffentlicht. Für die Erlaubnis, sie noch einmal abzudrucken, spreche ich den betreffenden Verlagen meinen verbindlichen Dank aus. Der andere Teil wird hier zum ersten Mal in gedruckter Form vorgelegt. Fast alle Arbeiten wurden für ein Publikum geschrieben, dem zusammen mit dem spezifischen Gegenstand auch allgemeine Kenntnisse vom Islam vermittelt werden sollten. Deswegen ergeben sich bisweilen inhaltliche Überschneidungen zwischen einzelnen Beiträgen. Wenn es mir tunlich schien, habe ich die betreffenden Passagen gekürzt. Da jeder Text jedoch ursprünglich für sich allein hatte stehen müssen, war darauf zu achten, daß die Kürzungen nicht den jeweils verfolgten Gedankengang beeinträchtigen. Dransfeld, im Dezember 2013
Tilman Nagel
miger Ausdruck, den letzten Endes selbst der unsere politische Kultur schroff ablehnende Muslim als auf ihn zutreffend billigen würde. Ich halte Herrn Özdemir zugute, daß sein mit diesem Ausdruck verbundener Hinweis auf die Taufscheinchristen belegen soll, daß für ihn die aus den Lehren des Islams resultierenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht mehr zählen. Sich von ihnen klipp und klar und unwiderruflich zu distanzieren, wäre allerdings dem inneren Frieden unseres Gemeinwesens dienlicher.
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Denkverbote und was sie bezwecken sollen . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Tabus und Denkverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Eine aufschlußreiche Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Was auf dem Spiele steht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 A. Grundsätzliches über den Islam Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Der eine Allah und die „Religion des Verstandes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Die „rechtgeleitete“ Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Die uneinholbare Überlegenheit der islamischen umma . . . . . . . . . . . . . . 63 I. Schöpfer und Kosmos im Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Der Beginn der Offenbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Der Ursprung des mohammedschen Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Allah auf dem Thron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Das Menschenverständnis des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Der Mensch als Stellvertreter Allahs und der Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Kämpferische Gläubigkeit und die Freiheit des Willens . . . . . . . . . . . . . 90 3. Die Entmächtigung des geschaffen Werdenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Der Mensch und das „Verborgene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 III. Die muslimische Glaubensgemeinschaft als die Verwirklichung des göttlichen Willens auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Das Hadith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die Islamisierung der Gesellschaft durch die Gelehrten . . . . . . . . . . . . . 105 3. Zweifel an den autoritativen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV. Religion und Staat im Islam seit dem 11. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 V. Die Überbietung der Riten – Gesetzesfrömmigkeit und Sufismus im Islam . 125 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Wert und Unwert der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Der Sinn der Riten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Die Überbietung der Riten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
16 Inhaltsverzeichnis VI. Islam als Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Islam und arabische Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Nationen im Islam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Ideologischer Synkretismus: Islam als diesseitsbezogene Heilslehre . . . . 143 4. Der Totalitätsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 B. Das Weltbild des Christentums und des Islams im Vergleich Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Nicht von dieser Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Offen für das verantwortliche Handeln des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Die theokratischen Grundzüge des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 I. Das Christentum im Urteil des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Die „Torheit des Christentums“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Abwertung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 II. Die „Legitimität der Neuzeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Säkularisierung als eigenständiger Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Die Verklärung der frühen islamischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Geschlossene gegen offene Fortschrittsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4. Formen der Selbstbehauptung gegen religiöse Autorität . . . . . . . . . . . . . 186 5. Verzicht auf ewige, endgültige Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6. Religion im Zeitalter fehlender endgültiger Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . 191 C. Der Islam und der säkulare Staat – Grundlinien eines Konflikts Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Islam und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Die Widersprüchlichkeit schariatischer Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Recht als Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Islamische Säkularität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Kann es einen säkularisierten Islam geben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die Heilslehre des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Die gesellschaftliche und politische Verwirklichung der islamischen Heilslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Islamische Heilslehre und säkularisierte Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 239 II. Staatliche Machtausübung und private Gewalt im Islam . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Die religiös-politische Dimension der Botschaft Mohammeds . . . . . . . . 245 2. Die islamische Machtausübung und die Botschaft des Propheten . . . . . . 249 3. Die zweifache Mediatisierung der Machtausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Inhaltsverzeichnis17 III. Islam oder Islamismus? – Probleme einer Grenzziehung . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Christliche Endzeithoffnung – islamische Diesseitserfüllung . . . . . . . . . . 262 3. Glaube, bewiesen durch die Teilnahme am Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 4. Abstufungen der Gesetzesfrömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 IV. „Erst der Muslim ist ein freier Mensch!“ Die Menschenrechte aus islamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Die Menschenrechte, eine die Kulturen übersteigende Idee? . . . . . . . . . . 269 2. Islamische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Islamisches Menschenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Aktuelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 V. Auszüge aus einem Gutachten, betreffend die Notwendigkeit des Vollzugs des rituellen Gebets in einer staatlichen allgemeinbildenden Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Fazit des ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Zweiter Teil: Die Bedeutung der Pflichtgebete im Rahmen des Rechtssystems der Scharia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 a) Anrufung Allahs versus Pflichtgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Ritualrecht als unabdingbare Grundlage des islamischen Gemeinwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 c) Die Inkompatibilität des Ritualrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 d) Die Befolgung des Ritualrechts als Keimzelle islamischer Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 e) Die kollektivistische, politische Seite des Ritualrechts . . . . . . . . . . . . 297 f) Geltung des Ritualrechts und Ausdehnung des „Gebiets des Islams“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 g) Das „Gebiet des Vertrags“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Fazit des zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 D. Mit Muslimen streiten Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 I. Die Bringschuld der Muslime – Säkularer Staat und religiöser Wahrheitsanspruch im Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Grundlinien der islamischen politischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Über die Religions- und Gedankenfreiheit im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . 319 4. Können die Wortführer des Islams ihr intellektuelles Gefängnis verlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
18 Inhaltsverzeichnis II. Islamophobie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 III. Textkritik und Weltverständnis – Motive für die historisch-kritische Analyse heiliger Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 IV. Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz: Ein thematischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. Die allgemeine Herabwürdigung und Verächtlichmachung Andersgläubiger und Glaubensloser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Die Geringschätzung von Normen und Werten, die nicht auf der Botschaft des Korans, sondern auf eigenverantwortlichem Gebrauch des Verstandes beruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 3. Die Verwerfung der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4. Verweigerung der Religionsfreiheit durch Bedrohung des Austritts aus dem Islam mit der Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 5. Die koranischen Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 6. Gewalt gegen Andersgläubige, Dschihad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 b) Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 c) Der Dschihad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 d) „Kein Zwang im Glauben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 7. „Meine Diener sind die Erben der Erde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 8. Fehlende Gleichberechtigung der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 V. Schariatischer Islam und säkulares Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 1. Voraussetzungen der Argumentation der KRM-Verbände . . . . . . . . . . . . . 383 2. Argumentationsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 a) Die Aussage ist als Metapher zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 b) Argumentationstaktische Leugnung der Maxime „Religion und Politik sind im Islam eins“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 c) Die Wahl des „schonenden“ Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 d) Das Ineinander von Diesseits und Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 e) „Kontextbezogenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 f) Das argumentum ad hominem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Register I. Begriffe und Sachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 II. Personen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 III. Arabische Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 IV. Zitierte oder im Text erwähnte Koranverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
Totalitäre oder autoritäre Regierungsformen weisen sehr oft unauffällige Anfänge und sehr feine Methoden sozialer Kontrolle auf. Erst mit der Zeit wurde uns deutlich, wie geschickt wir manchmal in die Netze des Totalitarismus verwickelt wurden. Václav Havel: Vom Wert der Freiheit (FAZ vom 24. Dezember 2011, S. 7)
Einführung Denkverbote und was sie bezwecken sollen 1. Tabus und Denkverbote „Auseinandersetzungen mit dem Islam“ – gleich in mehrfacher Weise verstößt dieser Untertitel gegen die ungeschriebenen Tabus der politischen Korrektheit.1 Das erste lautet: Den Islam gibt es gar nicht! Und da es ihn nicht gibt, kann man sich auch nicht mit ihm auseinandersetzen. Also: Schluß der Debatte, bevor sie überhaupt begonnen wurde! Den einen Islam gibt es nicht, sondern Sunniten und Schiiten, und diese wiederum lassen sich in Gruppierungen untergliedern, die Sunniten in „gemäßigte“ – was immer das bedeuten mag – und in Muslimbrüder und Salafisten, die Schiiten in Imamiten, Ismailiten und zahlreiche weitere Richtungen. Bekanntlich hat der Islam – oder muß ich korrekterweise hier sagen: die islamische 1 Das Verständnis von Religion, das der politischen Korrektheit zugrunde liegt und von deren Verfechtern irrtümlich für universal gültig gehalten wird, läßt seinen Gegenstand in einer Art unverbindlicher mentaler Wellness aufgehen, zu deren Bezeichnung häufig auch das Wort Spiritualität mißbraucht wird. Da die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland ihre Verkündigung noch nicht völlig hierauf eingestellt haben, wird das Christentum zumindest in seiner kirchlichen Organisationsform durch die politisch Korrekten meist als ewig gestrig abgetan, oft auch mit albernem Spott und ungerechtfertigten Anschuldigungen überzogen. Religiosität im Sinne der politischen Korrektheit vermutet man hingegen bei anderen Glaubenssystemen, von denen man allenfalls spärliche Kenntnisse hat. Die Autoren eines jüngst erschienenen Handbuchs zum Buddhismus sahen sich daher genötigt, ein Kapitel den „Neun beliebten Vorurteilen und populären Irrtümern über diesen Glauben“ zu widmen (der Buddhismus sei die Religion der Gewaltlosigkeit und der Friedfertigkeit; er kenne kein Lehrsystem, sondern gehe in spiritueller Erfahrung und in Meditation auf; er kenne weder Höllenfurcht noch Himmelshoffnung usw.) und die Haltlosigkeit dieser Behauptungen darzulegen (Oliver Freiberger / Christoph Kleine: Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung, Göttingen 2011, 461–482). Auch im Hinblick auf den Islam wäre ein solches Werk dringend nötig. Soweit jedoch die Islamwissenschaft öffentliche Wirksamkeit erzielen möchte, hält sie mit solcher Aufklärung lieber hinter dem Berg und scheut sich nicht einmal, mit abwegigen Aussagen (z. B.: Der Koran ist ein europäischer Text, vgl. dazu unten, S. 31) den Illusionen der politischen Klasse dienstbar zu sein.
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Religion, die muslimische Glaubensgemeinschaft? Was eigentlich? – bekanntlich hat jene religiöse Überlieferung, die vulgo und unkorrekterweise „der Islam“ genannt wird, kein Priestertum hervorgebracht, somit auch keine Lehrautorität. Jeder Muslim sei in seinem Verhältnis zu Allah auf sich selber gestellt,2 heißt es, und hieran zeige sich die vermeintlich grenzenlose Toleranz dieser Religion: Es existiere eine unüberschaubare Fülle von inhaltlich gleichberechtigten „Individualislamen“. Geschützt sei der private Glaube des Individuums durch das angeblich im Koran verkündete Prinzip der Religionsfreiheit; ein jeder „Individualislam“ entziehe sich infolgedessen einer kritischen Bewertung. So hört und liest man es immer wieder. Doch wollen wir uns von dem Spruch: „Den Islam gibt es gar nicht“ wirklich ins Bockshorn jagen und das Nachdenken verbieten lassen? Auch das Christentum läßt sich in Kirchen und Konfessionen unterteilen. Trotz dem Priesteramt, dessen Aufgaben unterschiedlich bestimmt und auf verschiedenartige Weise begründet und aus der Geschichte hergeleitet werden, bleibt jedem Christen eine unüberschaubare Fülle persönlicher Gotteserfahrungen. Was ein jeder als „Nachfolge Christi“ versteht, ist, sobald man ins Detail geht, nicht auf einen Nenner zu bringen. Gleichwohl gibt es unabhängig von Kirchen und Konfessionen und von individuellen Gotteserfahrungen doch das Christentum. Es besteht in der durch das Neue Testament bezeugten Botschaft von der Erlösung des Menschen durch Jesu Opfertod und Auferstehung. Mit dem Islam verhält es sich mutatis mutandis ebenso. Jenseits aller streitenden Glaubensrichtungen und jenseits sämtlicher bekannter und unbekannter „Individualislame“ wird der Islam Tag für Tag durch das Glaubensbekenntnis bezeugt: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter, nämlich der Überbringer des Korans, der Rede Allahs. So wenig wie das Christentum ohne das Neue Testament denkbar ist, ebenso wenig der Islam ohne den Koran. Der Islam ist mithin die in der eben zitierten zweigliedrigen Formel bekundete und vor allem durch den Koran inhaltlich konkretisierte Glaubensausübung, die in der sogenannten umma3 ihre spezifische gesellschaftliche und politische Ausprä2 Murad Hofmann: Jaumījāt almānī muslim (Tagebuch eines muslimischen Deutschen), übersetzt ins Arabische von Ý Abbās Rušdī al-Ý Ammārī, Kairo 1993, 73, 119 f. Der Muslim lebe in einer Welt ohne Klerus und wende sich im Gebet als emanzipierter gläubiger Mensch unmittelbar an Allah, und dies in einer mysterienfreien Religion. Dies stehe einem mündigen Bürger wohl an, der die „wunderselige, … am Sakrament orientierte Atmosphäre in der byzantinischen und katholischen Kirche“ ablehne (ders.: Der Islam als Alternative, München 1992, 36). – Zur angeblichen Selbständigkeit des Muslims vor Allah vgl. unten, S. 75–95 und 198 f. 3 Eine durch die Zugehörigkeit zum Islam definierte politisch-religiöse Gemeinschaftsform, die in der europäischen Geschichte kein Gegenstück hat. Vgl. dazu unten, S. 101–114.
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gung besitzt.4 Ein Muslim, der dies bestritte und sich nicht mehr als ein Glied der wie auch immer aufgefaßten umma empfände, hätte mit seiner Religion gebrochen.5 Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Islam ist infolgedessen sehr wohl möglich. Sie hat sich mit den Aussagen des Korans zu befassen und der Frage nachzugehen, wie jene zweigliedrige Formel im Laufe der Geschichte den Inhalt des Glaubens sowie die Art und Weise seiner Ausübung und die politische Erscheinungsform der muslimischen Glaubensgemeinschaft bestimmt hat. Trotz allem Zwist der muslimischen Richtungen und trotz unüberschaubar vielfältigen individuellen Glaubenserfahrungen bilden der Koran, die Bekenntnisformel und die Mitgliedschaft in der von ihr zusammengehaltenen Gemeinschaft den überindividuellen Kern des Islams, der einer wissenschaftlichen Analyse offensteht und darüber hinaus einer kritischen Bewertung zugänglich ist, sei es in interreligiösen Erörterungen, sei es von der Warte des Säkularismus aus. Das zweite Tabu lautet: Die Auseinandersetzung mit dem Islam in seiner Eigenschaft als Religion verbietet sich; denn nach muslimischer Überzeugung ist dieser Islam durch Allah gestiftet worden, und zwar so, daß er für jeden Ort und jedes Zeitalter tauglich sei, also auch für Deutschland im 21. Jahrhundert. Daraus folge, daß er die Werteordnung eines Rechtsstaats umfasse, wie sie sich u. a. im Grundgesetz niedergeschlagen hat. Jede Debatte beispielsweise über die Vereinbarkeit von Islam und Grundgesetz sei somit verfehlt. Sie zeuge von einem „Generalverdacht“, der Unfrieden säe. Über den Inhalt von Religionen dürfe man ohnehin nicht mit rationalen Argumenten debattieren, weil er eine durch die gesetzlich garantierte Religionsfreiheit geschützte Privatsache sei. Gerne greifen die Verfechter dieser Thesen bestimmte Aussagen auf, die der muslimischen Abwehr gegen den Einfluß der europäischen politischen Zivilisation entstammen: Der Islam sei eine fortschrittsorientierte Religion, die der Befreiung des Menschen aus der Bevormundung durch die Priesterschaft diene, worauf schon hingewiesen wurde. Dem Islam eigne daher ein demokratischer Wesenszug, stehe doch im Koran, daß die wechselseitige Beratung ein Merkmal der muslimischen Gemeinschaft sei (Sure 42, 38). Es sei ferner hervorzuheben, daß der Islam die Religion des Friedens sei; im Wort „Is4 Sehr ausführlich und unter mehreren wesentlichen Aspekten wird diese Thematik behandelt von Hans-Peter Raddatz: Von Allah zum Terror? Der Djihad und die Deformierung des Westens, München 2002. Das von Manfred Kleine-Hartlage erarbeitete Konzept der islamischen „kulturellen Selbstverständlichkeiten“ zeigt, inwiefern die islamische Glaubensausübung auf eine strukturelle Friedensunfähigkeit gegenüber anderen Religionen und Weltdeutungen hinausläuft (Das Dschihadsystem. Wie der Islam funktioniert, Gräfelfing 2010, 50–133). 5 Vgl. hierzu die Ausführungen prominenter Mitglieder des Zentralrats der Muslime Deutschlands (unten Abschnitt C., bei Anm. 5–7).
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lam“ stecke der Begriff „Salam“, der Frieden bedeute. Daher sei der Islam von Anfang an ein durch und durch toleranter Glaube gewesen. Allah selber fordere im Koran, im Glauben dürfe kein Zwang herrschen (Sure 2, 256; hierzu vgl. Abschnitt D., Text IV). An diese Maxime hätten sich die Muslime im Laufe ihrer Geschichte streng gehalten. Wie anders sei denn zu erklären, daß in islamischen Ländern bis auf den heutigen Tag andersgläubige Minderheiten lebten? Meist sind die Gesprächspartner, die so lebhaft oder aufgeregt die vermeintlichen Vorzüge des Islams und die bruchlose Übereinstimmung seiner Lehren mit den Grundsätzen des Rechtsstaates preisen, genau dieselben, die in anderem Argumentationszusammenhang ebenso aufgeregt darauf beharren, den Islam gebe es gar nicht. Insofern als er die geläufig über die Lippen gehenden Merkmale unseres Gemeinwesens aufweisen soll, gibt es ihn offenbar doch. Um so unerwünschter ist jegliche Störung dieses auf tatsächlicher oder gespielter Unwissenheit beruhenden Gaukelbildes durch die Frage nach den verbürgten Tatsachen, die in eine ganz andere Richtung deuten. Zwar wird in den für westliche Ohren bestimmten Verlautbarungen immer wieder eine Frage gestellt, die Sorge um intellektuelle Redlichkeit vortäuscht: „Von welchem Islam reden Sie überhaupt?“ Die Freitagspredigten hingegen, um nur diese zu nennen, handeln stets von dem Islam als der einzig wahren politisch-religiösen Ordnung der Welt, von den Muslimen, die den höchsten Gipfel moralisch geprägten Menschentums einnähmen, da Allah ihren Propheten durch die letzte Botschaft an die Menschheit ausgezeichnet habe. Wenn es Muslimen darum geht, den eigenen Glauben als die religiöse, politische und gesellschaftliche Heilslehre anzupreisen, der es bestimmt sei, den ganzen Erdball zu beherrschen, dann kann sich selbst die erbitterte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten zur Marginalie verkleinern. Dies belegen Schriften so unterschiedlicher Autoren wie Ëumainīs (Ajatollah Chomeini)6 (1902–1989) und des „liberalen“ Marokkaners MuÎammad ÝĀbid al-Éābirī (Jabri) (1935–2010), dem wir uns später zuwenden werden.7 6 „Die Gesamtheit der Gesetze, die in Koran und Sunna niedergelegt sind, wird von den Muslimen anerkannt und befolgt“, schreibt er in seinem programmatischen Essay „Die Herrschaft des Rechtsgelehrten“ (Wilājat-i faqīh, 53). Welcher Sunnit wollte dem widersprechen? Schon in einer 1909 erschienenen Schrift hatte sich der Schiit Nāīnī nicht gescheut, den bei seinen Glaubensgenossen besonders verhaßten zweiten Kalifen ÝUmar als einen Vorkämpfer islamischer Gleichheit zu rühmen (Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich / München 1981, II, 286). Über die Schiitenpolitik der al-Azhar-Hochschule vgl. Rainer Brunner: Annäherung und Distanz. Schia, Azhar und die islamische Ökumene im 20. Jahrhundert, phil. Diss. Freiburg, Berlin 1996. 7 Vgl. unten, S. 219–232.
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Gerade diesem von der erdrückenden Mehrheit der Muslime für selbstverständlich genommenen Islam gelten unsere Fragen:8 Inwiefern stehen der Dschihad gegen Andersgläubige oder gegen innerislamische Widersacher sowie die Gewalt gegen Personen, die den Islam aufgeben, im Einklang mit Toleranz und Glaubensfreiheit? Wie verhält es sich mit der im Koran vorgeschriebenen höchst ungleichen Bewertung von Mann und Frau? – Nach Meinung der politisch Korrekten fragen hiernach nur „Feinde des Islams“, „Islamkritiker“, und darum ist das Aufwerfen solcher Fragen das Zeichen einer krankhaften Furcht vor dem Islam, einer „Islamophobie“. Durch eine Beantwortung solcher Fragen wäre den von ihr Geschlagenen also gar nicht zu helfen. Der Vorwurf der „Islamophobie“ macht aus der Ignoranz eine Tugend, aus dem Wissenwollen ein Vergehen.9 Tabuisiert ist drittens die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Aussagen islamischer autoritativer Texte und bestimmten bei vielen Muslimen beobachteten Rede- und Verhaltensweisen. So dürfen koranische Aussagen über die gattungsspezifische Minderrangigkeit von Nichtmuslimen10 und die alltäglichen Schmähungen andersgläubiger Schüler durch ihre muslimischen Klassengenossen bei politisch-korrekter Betrachtung nicht zueinander in Beziehung gebracht werden. Da nicht alle muslimischen Schüler sich so verhalten, laufe eine solche Verknüpfung auf einen angeblich unzulässigen, weil wissenschaftsgeschichtlich überholten „Essentialismus“ hinaus.11 Derartige scheinbar wohlmeinende Mahnungen sind der Nachhall eines sozialphilosophischen Paradigmenwechsels, dessen Ergebnis zu einem unanfechtbaren Dogma aufgewertet wird. Das die sozialphilosophische Diskussion über lange Zeit beherrschende Problem der Entfremdung setzte voraus, daß es ein 8 Das
vor kurzem erschienene Buch von Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, München 2013 behandelt einige wenige meist in nichtislamischen Ländern arbeitende Muslime, deren Gedankengut für die breite Mehrheit auch der in Europa lebenden Muslime gerade nicht repräsentativ ist und in ihren Heimatländern nicht aufgegriffen wird; vgl. die Besprechung von Irene Schneider in: Religionen unterwegs, 19. Jg., Nr. 4 (Dezember 2013), 31–35. 9 Auch als „Panikmache“ wird die Beschreibung islamischer Vorstellungen und Überzeugungen neuerdings verunglimpft (vgl. das Buch von Patrick Bahners: Die Panikmacher). Gerade Personen, die sich auf ihren kritischen Verstand viel zugute halten, beharren darauf, daß man ihn wegzusperren habe, bevor man islamische Angelegenheiten betrachte. Über den Kampfbegriff „Islamophobie“ vgl. unten, den vierten Abschnitt, Text Nr. 2. 10 Vgl. dazu unten, den vierten Abschnitt, Text Nr. 4. 11 Umgekehrt, zugunsten des Islams, ist „Essentialismus“ hingegen erlaubt. So schließt G. Krämer aus einem – übrigens von ihr mißverstandenen – Textsplitter von Sure 2, Vers 256 „Kein Zwang in der Religion“ auf eine angeblich durch die Geschichte hindurch feststellbare „duldende Toleranz“ des Islams (vgl. unten, 364, Anmerkung 9).
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bestimmbares Wesen des Subjekts gebe und daß dieses in der Lage sei, nach einer Aufklärung über sich selbst die Entfremdung, unter der es leide, zu durchschauen und gegen sie anzugehen. Inzwischen wandte sich die Sozialphilosophie jedoch einem neuen Lehrsatz zu, demzufolge die Wahrheit von Urteilen stets abhängig sei „von der Rechtfertigbarkeit gegenüber den Mitgliedern der eigenen epistemischen Gemeinschaft“.12 Einen nicht durch „kontingente Macht und Wissensregime“13 geprägten Zugang zum Individuum gibt es demnach nicht, dem Individuum kommt keine „Essenz“ zu, weshalb es auch nicht sich selber entfremdet sein kann. Und ebenso wenig darf einem Gedankengebäude eine die Zeiten überdauernde, Mentalitäten formende „Essenz“ zuerkannt werden, denn was immer unter Bezugnahme auf jenes Gebäude ersonnen und ausgesagt wird, ist in Wirklichkeit nur den wechselnden „Wissensregimen“ zuzuordnen. In der Islamwissenschaft wird der Vorwurf des „Essentialismus“ freilich völlig willkürlich ausgesprochen: Einen Zusammenhang zwischen dem religiös bestimmten Individuum und seinem Referenzsystem, dem Islam, darf es nicht geben, weil ein solcher Zusammenhang im Verdacht steht, im Zuge einer „Islamisierung des Islams“ vom Westen erfunden worden zu sein.14 Die Tatsache, daß zahllose muslimische Schüler unablässig ihren andersgläubigen Mitschülern mit üblen Verbalinjurien zusetzen, darf somit nicht zu Fragen nach einer mentalitätsformenden Wirkung bestimmter Elemente der islamischen Botschaft führen; sie muß einzig und allein aus kontingenten gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet werden. Der Inhalt der tagtäglichen religiösen Indoktrinierung – der sich erfreulicherweise viele zu entziehen verstehen – und das diesem Inhalt entsprechende Verhalten zahlreicher Muslime müssen zwei getrennte Sachverhalte bleiben.15 Gleichwohl 12 Ch. Broszies in: Handbuch der PolitischenPhilosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, 1132 (s. v. R. Rorty); vgl. ferner R. Jaeggi, ebd., 273 (s. v. Entfremdung). 13 Ebd., 1238 (s. v. Sozialphilosophie, A. Honneth). 14 A. Al-Azmeh: Die Islamisierung des Islam, Frankfurt / Main 1996, 177–202. 15 „Aufklärung (eines Sachverhalts?, Nagel) und Essentialismus vertragen sich nicht“, lautet das ideologische Credo (Gudrun Krämer in: Forschung und Lehre 2010, 853), das dessen Propagandisten freilich selber nicht durchzuhalten vermögen (vgl. oben, Anmerkung 11). Dennoch wird es unverdrossen verkündet: Eine essentialistische Verknüpfung von religiöser Botschaft und Verhalten sei, wie es in einer wunderlichen Zusammenballung von Worthülsen heißt, eine „Simplifizierung differenzierter und komplexer Prozesse und Konstellationen“ (Irene Schneider: Islamisches Recht zwischen göttlicher Satzung und temporaler Ordnung, in: Christine Langenfeld / Irene Schneider (Hgg.): Recht und Religion in Europa. Zeitgenössische Konflikte und historische Perspektive, Göttingen 2008, 138–190, hier S. 146). – Dem „Essentialismus“ entgegenzustellen ist, wenn ich die Verfechter des Essentialismusverbots richtig verstehe, eine ins Ungewisse vorangetriebene „Differenzierung“ eines jeden Sachverhalts, bis man am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht
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wäre – „Essentialismus“ hin oder her – die Aufklärung darüber, wie solch grobes Fehlverhalten durch Aussagen von Koran und Hadith gerechtfertigt wird, sehr nützlich, beispielsweise für die Erörterung der Frage nach den Diskrepanzen zwischen der koranischen Botschaft einerseits und dem Menschenverständnis eines säkularisierten Gemeinwesens andererseits. Eine vierte Gattung von Tabus, die eben schon anklang, kann man unter den Schlagwörtern „Orientalismus“ und „Alterität“ zusammenfassen. Die Frage nach den Eigentümlichkeiten des Fremden wird nicht nur moralisch diskreditiert, es soll ihr auch die wissenschaftliche Legitimität abgesprochen werden. Der islamische und daher nicht-europäische Charakter der islamischen Welt sei nichts weiter als ein Konstrukt einer verfehlten Orientwissenschaft.16 Diese habe vorgegeben, sich dem Studium außereuropäischer Kulturen zu widmen, um diese zu beschreiben und um sie so zu verstehen, wie sie sich dem forschenden Blick und dem zergliedernden Verstand darböten. Aber in Wahrheit sei es den Gelehrten nur darum gegangen, das Bild einer wesensfremden Kultur zu konstruieren, um vor dem Hintergrund dieses Konstrukts die eigene als vorbildlich und überlegen herauszustreichen. Man müsse sich klarmachen, daß das Fremde nichts weiter als eine Fiktion sei, die man zu benötigen vermeine, um ein spezifisches eigenes Ich zu postulieren. Die inhaltlich definierte Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden ist demnach aufzulösen in die inhaltsleere Gegenüberstellung des Ichs und des Anderen, von Identität und Alterität. Benennbare und beschreibbare Unterschiede in der kulturellen Tradition und religiösen Grundeinstellung werden beiseite gewischt. Den Gegensatz von „fremd“ und „eigen“ gibt es gar nicht; es existieren nur noch Relationen, nämlich letzten Endes bedeutungslose individuelle Befindlichkeiten. Gegen ein schlimmes Tabu verstößt schließlich, wer es wagt, die Gegenüberstellung von „fremd“ und „eigen“ zu einer Debatte darüber zu erweitern, worin sich die islamische Kultur von der europäischen unterscheide und weshalb erstere spätestens seit der frühen Neuzeit der letzteren in mannigfacher Hinsicht unterlegen sei. Max Weber (1864–1920) ist der Erzschelm solch einer verwerflichen Wißbegierde, die allzu oft zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Islam das eine oder andere fehle, das für den Aufstieg mehr zu erkennen vermag. So läßt sich die Frage „Ist der Islam eine politische Religion?“ (Gudrun Krämer in Konrad Paul Liessmann (Hg.): Die Gretchenfrage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“, Wien 2008, 82–103) nach allen von der Autorin dieses Aufsatzes angeführten Tatsachen ehrlicherweise nur mit Ja beantworten. Da diese Antwort aber unerwünscht ist, schließt die Autorin, indem sie die Differenzierbarkeit des Islams für dessen Wesen ansieht („Essentialismus“?), mit der Mahnung, man möge den Islam als eine „Religion der Möglichkeiten“ begreifen. 16 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Hamed Abdel-Samad: Der Untergang der islamischen Welt, München 2010, 49 unten.
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des Westens zu politischer und zivilisatorischer Weltgeltung ausschlaggebend gewesen sei. So hat laut Weber der calvinistische Glaube an die Vorherbestimmung das Bestreben des Individuums gefördert, durch die Tat seine Auserwähltheit unter Beweis zu stellen, während der islamische Prädestinationsglaube dem einzelnen die entmutigende Einsicht vermittelt habe, gegen Allahs Ratschluß könne man ohnehin nichts ausrichten – Tatkraft hier, Lähmung der eigenen Initiative dort.17 Nur nebenbei sei angemerkt, daß dieses Vergleichsverbot den gescholtenen „Essentialismus“ auf einer höheren Ebene nicht nur hoffähig macht, sondern ausdrücklich erfordert. Denn es muß ja zunächst festgestellt werden, daß die westliche Zivilisation und die islamische jede für sich dergestalt in ihrer jeweiligen „Essenz“ befangen sind, daß ein Vergleich so sinnlos ist wie der berüchtigte zwischen Äpfeln und Birnen. Weite Kreise der politisch-medialen Klasse Deutschlands sowie auch der Orientwissenschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten diesen Typen von Tabus anbequemt. Der sogenannte mainstream der Äußerungen über den Islam und über die Schwierigkeiten der Einfügung der Muslime in die deutsche Gesellschaft leidet unter meist unausgesprochenen Vorbehalten, die sich einem oder mehreren der skizzierten Typen von Tabus zuordnen lassen. Nun soll nicht bestritten werden, daß sich diese Tabus aus ursprünglich durchaus angebrachten Mahnungen entwickelt haben. Es wäre in der Tat bedenklich, einen für das Sunnitentum festgestellten Sachverhalt ohne weitere Prüfung auf eine andere Glaubensrichtung zu übertragen. Es wäre intellektuell unredlich, allein Zeugnisse für ein nach unserem Empfinden verwerfliches Handeln Mohammeds zusammenzutragen und dann zu folgern, so sei Mohammed gewesen. Es wäre höchst anfechtbar, wollte man aus einem Koranvers und seinem normativen Gehalt ableiten, daß sich alle Muslime grundsätzlich dementsprechend verhalten. Es wäre gegen jeglichen wissenschaftlichen Standard, bei der Bewertung der Aussagen der Quellen das hartnäckige Streben nach Vorurteilslosigkeit und nach Angemessenheit der Analyse zu vernachlässigen. Das heißt auch, daß Vergleiche der Weberschen Art einer sorgfältigen Einbettung in eine Untersuchung der jeweils obwaltenden geschichtlichen Begleitumstände bedürfen. Doch sind das nicht durchweg Selbstverständlichkeiten? Längst sind solche Ermahnungen zu ideologischen Vogelscheuchen geworden, die den Forschenden umstellen und ihn vom Fragen abschrecken 17 Vgl. hierzu Wolfgang Schluchter: Max Webers Sicht des Islams, Frankfurt / Main 1987, besonders S. 41 f. sowie meinen Aufsatz „Was dich trifft, hätte dich nicht verfehlen können“ – Islamische Konzepte der Vorherbestimmung, in: Reinhard G. Kratz / Hermann Spieckermann (Hgg.): Vorhersehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema, Tübingen 2008, 215–240.
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sollen. Je nach Bedarf wird die eine oder andere drohend vor ihm hin und hergeschwenkt; zu einer in sich stimmigen Auslegung des Islams vermögen sie, wie schon angedeutet, nicht im mindesten anzuregen. Ihre Aufgabe ist allein, das nüchterne, auf die einschlägigen Quellen zurückgreifende Nachdenken über die islamischen Angelegenheiten zu behindern, am besten wohl zu verhindern.18 Das aber ist nicht hinnehmbar. Schließlich erheben viele Muslime den Anspruch, dank ihrer Religion die Lösung aller Probleme nicht nur der islamischen Länder selbst, sondern der ganzen Welt zu kennen, und sie leiten aus diesem Anspruch gesellschafts- und machtpolitische Forderungen ab, auch in Europa. Sie müssen es sich nicht zuletzt deswegen gefallen lassen, daß man ihre Gedankenwelt und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die mit dieser Gedankenwelt zusammenhängen, unter die Lupe nimmt. Es ist höchste Zeit, jene Tabus als intellektuellen Sperrmüll zu entsorgen und endlich auf breiter Front eine an der vielfach schmerzhaften Wirklichkeit orientierte Auseinandersetzung mit den Lehren des Islams und mit den Gewißheiten, Hoffnungen und Befürchtungen der Muslime in Angriff zu nehmen. Glücklicherweise ist es eine Tatsache, daß nicht wenige Muslime zu Bürgern unseres Staates geworden sind und dessen rechtliche, politische und kulturelle Grundlagen uneingeschränkt bejahen. Es ist aber auch eine Tatsache, daß ein erheblicher Prozentsatz muslimischer Zuwanderer das Land, das sie aufgenommen hat und allzu oft auch alimentiert, schroff ablehnt und diese Ablehnung mit Prinzipien des muslimischen Glaubens begründet. Hierin werden sie durch Imame bestärkt, die, meistens des Deutschen nicht mächtig, sich als Pioniere der Islamisierung der „Ungläubigen“ begreifen und den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten Deutschlands im besten Falle verständnislos gegenüberstehen. Immer häufiger machen auch deutsche Islamkonvertiten von sich reden, die im religiösen Überlegenheitsdünkel und im Haß auf den „Westen“ jene Imame noch zu übertreffen bestrebt sind. Wie ist dies alles zu erklären? Um Antworten zu erhalten, wird man nicht darum herumkommen, Fragen an den Islam als eine Religion zu richten. Es kann nicht sein, daß einerseits muslimische Männer sich herausnehmen, ihre Frauen und Töchter zu drangsalieren, um 18 Die Ersetzung des Erkenntnisstrebens durch Moralisieren ist die Leitidee etlicher Beiträge in dem Sammelband „Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen“ (herausgegeben von Thorsten Gerald Schneiders, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2011). So beklagt Kai Hafez, daß die Vorstellung von der Untrennbarkeit von Politik und Religion das weit verbreitete negative Urteil über den Islam nähre. Muß man also, um ein „Feindbild“ abzubauen, diesen von Muslimen selber ad nauseam wiederholten und durch die islamische Geschichte hindurch wirkmächtigen Grundsatz totschweigen; darf man ihn nicht untersuchen und mit den Verhältnissen in anderen Kulturen vergleichen? (vgl. D., Text II).
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sie möglichst von der nichtmuslimischen Gesellschaft fernzuhalten, andererseits aber die Frage danach, inwiefern der Islam solche Unterdrückung rechtfertigt oder gar fordert, mit einem Schweigegebot belegt wird: „Mit dem Islam hat das alles gar nichts zu tun!“ „Die Flucht der Intellektuellen“ überschreibt Paul Berman eine ausführliche Studie, die er dem Ausweichen vieler Wortführer der westlichen veröffentlichten Meinung vor ihrer Verantwortung für die Respektierung der Prinzipien eines freiheitlichen Gemeinwesens gewidmet hat. Als Salman Rushdie 1988 seine Satanischen Verse veröffentlichte und Chomeini im Februar 1989 in einem Fetwa zur Tötung Rushdies und aller Personen aufrief, die an der Publizierung des Textes mitgewirkt hatten, erklärten sich die westlichen Intellektuellen, die Medien und die politische Klasse mit dem Bedrohten solidarisch. Als man 1995 Annemarie Schimmel mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels auszeichnete, erregte dies noch Anstoß, da sie Verständnis für Chomeinis Fetwa bekundet hatte. Einer ihrer entschiedensten damaligen Kritiker, Gernot Rotter, war zwölf Jahre später auf Annemarie Schimmels Position des allumfassenden Verständnisses für den Islam eingeschwenkt, wie aus einem in einer Illustrierten dokumentierten Streitgespräch deutlich wird.19 Aus einem Kritiker war eine Art fellow traveller geworden. Diesen hier mit einem deutschen Beispiel belegten Vorgang beleuchtet Berman anhand vieler analoger Vorkommnisse und äußert am Schluß die Vermutung, daß sich hierin die Auswirkungen des Erstarkens radikal-islamischer Strömungen bis hin zum Terrorismus niederschlügen.20 2. Eine aufschlußreiche Rede Allzu viele Vertreter der politisch-medialen Klasse Deutschlands haben, indem sie jahrzehntelang derartige Tabus aufrechterhielten, den unseren Rechtsstaat zurückweisenden Kräften unter den Muslimen in die Hände gearbeitet. Überdies haben sie mit ihrem angestrengten Wegschauen dazu beigetragen, daß die Zahl der redlich arbeitenden, Steuern zahlenden und gegenüber dem freiheitlichen Gemeinwesen loyalen Bürger, die empfinden, daß „die da oben“ von ihnen nichts mehr wissen wollen, ständig steigt. Der Bürger, dessen Kinder in der Schule als „Schweinefleischfresser“ gedemütigt werden, weiß längst, daß das Palavern über die angeblich tolerante Religion des Friedens nichts mit der ihn umgebenden Wirklichkeit zu tun hat. Er spürt, wie die Verhältnisse schöngeredet werden, spürt auch, wie seine vitalen Interessen jener Klasse gleichgültig sind, und ballt in ohn19 „Der 20 Paul
Stern“, Nr. 25 / 2007. Berman: The Flight of the Intellectuals, New York 2010, 299.
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mächtigem Zorn die Faust in der Tasche. Eben deshalb erzielte das Buch Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ einen so durchschlagenden Verkaufserfolg. Die Klasse reagierte aufgeschreckt und verlangte dienstrechtliche Konsequenzen gegen den Verfasser. Sobald diese durch die formal unabhängige Institution, der er ohne Fehl und Tadel gedient hatte, vollzogen worden waren, wurden sie als respektable Antwort auf die Aussagen des Verfassers gerühmt – da diese „unanständig“ seien, habe er sich moralisch diskreditiert. Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung bewertete dieses Vorgehen als das, was es war: die Ahndung des Aussprechens und Begründens einer unerwünschten Meinung und daher eine gröbliche Einschränkung der Meinungsfreiheit. Dem damaligen Bundespräsidenten fiel in dieser Situation die Aufgabe zu, in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit des Jahres 2010 sowohl das inzwischen deutlich und von vielen Seiten geäußerte Mißbehagen an der Klasse, deren höchster Vertreter er war, zu dämpfen, als auch die seit Jahren eingefahrene Einwanderungs- und Integrationspolitik als im Kern gut zu rechtfertigen. Dies geschah auf die bewährte Weise. Es wurde eingeräumt, daß wegen mangelhafter Durchführung einiger vom Gesetzgeber beschlossener Maßnahmen gewisse Mißstände zu beklagen seien. In Wahrheit jedoch sei man „weiter“, als die Debatten vermuten ließen, lediglich in einigen Bereichen bestehe ein Nachholbedarf. „Ich nenne nur als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse für die ganze Familie, mehr Unterrichtsangebote in den Muttersprachen“ – weshalb eigentlich? – sowie „islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern. Und ja, wir brauchen viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten – etwa bei Schulschwänzern. Das gilt übrigens für alle, die in unserem Land leben.“ Ob diesen Worten Taten folgten oder nur weitere sozialwissenschaftliche Erhebungen, ist schwer auszumachen. Herr Wulff fuhr fort: „Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung: Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem ‚west-östlichen Divan‘ zum Ausdruck gebracht: ‚Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.‘“21 21 Der Text der Rede findet sich in der FAZ vom 4. Oktober 2010 auf Seite 8. Besonders kurios wirken diese Ausführungen vor dem Hintergrund der schon im Vorwort erwähnten Tatsache, daß gerade die Bereiche unserer Kultur, deren wir uns mit Recht rühmen, für viele Muslime nichts als abzulehnender Unglaube (arab.:
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Auf Herkunft oder Glauben soll sich die Zugehörigkeit nicht verengen, forderte der Redner mit Recht. Aber außer der Religion fiel ihm bzw. seinen Redenschreibern nichts ein, worauf sich das „Verständnis von Deutschland“ stützen könnte. Gerade an dieser Stelle wäre die Nennung einender Faktoren jenseits der Religion bzw. der Religionen nicht nur „hilfreich“, sondern sogar notwendig gewesen. Wie angesichts dieser Unterlassung nicht anders zu erwarten, hakten hier die Kritiker ein. Wieso gehört der Islam inzwischen zu Deutschland? Worin bestehen denn seine Beiträge zur heutigen Kultur Deutschlands und zu unserer politisch-gesellschaftlichen Zivilisation? „Deutsche und Türken können dazu beitragen, dass ein demokratieverträglicher Islam in Europa ankommt.“ In diesen Worten, in denen, wie leider üblich, die Muslime mit den Türken gleichgesetzt werden, brachte der „Berliner Tagesspiegel“ zum Ausdruck, daß von einer Zugehörigkeit des Islams zu unserem Land erst in einer rosarot gemalten Zukunft werde die Rede sein können. Nüchtern machten die „Kieler Nachrichten“ auf die tatsächlich gegebenen Verhältnisse aufmerksam: „Das Gerede von der Willkommenskultur ist inhaltsleeres Gesäusel. Man muss nicht jeden gleich umarmen, der fremd ist. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich gegenseitig verstünde. Sind die Muslime bei uns bereit, die Trennung von Staat und Religion anzuerkennen, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau einzutreten, sich nicht nur für Moscheen in Deutschland, sondern auch für christliche Kirchen in der Türkei einzusetzen, das Christentum als gleichrangige Religion neben dem Islam zu akzeptieren? Wenn ja, dann sind Muslime bei uns herzlich willkommen. Wenn nicht, dann gehören sie nicht zu Deutschland.“22 Viel Zustimmung erhielt der Bundespräsident hingegen von muslimischer Seite. „Laut Wulffs Rede fand das Grabgespenst des Vorurteils keine Ruhe“,23 faßte das türkische Massenblatt „Sabah“ die Rede in einer Schlagzeile zusammen: Mithin ging es dem obersten Repräsentanten der politisch-medialen Klasse, so die türkische Sicht, um eine Schelte seiner Landsleute. Daß die Rede, nimmt man einmal den ganzen Text in den Blick, diese Auslegung zuließ, wäre keine gesteigerte Aufmerksamkeit wert. Der deutsche Bürger ist daran gewöhnt, daß ihm seine politisch-mediale Klasse die Leviten liest – und damit oft um Beifall aus dem Ausland oder von stimmkräftigen inländischen Minderheiten buhlt. Was jedoch in diesem Falle ein genaues Hinsehen und einen entschiedenen Widerspruch verlangt, ist die Geschichtsverfälschung, die in der Verengung der Fundamente unseres Geal-kufr) sind: die Musik, die Malerei und Bildhauerei, das Theater; schließlich sogar die Wissenschaft, insofern als sie frei von den Vorgaben des Korans betrieben wird. 22 Abgedruckt in der FAZ vom 9. Oktober 2010, S. 2 23 „Wulff konuşunca önyargı hortladı.“ Sabah, 11. Oktober 2010, Titelseite.
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meinwesens auf das Religiöse liegt. Der Bundespräsident machte sich auf diese Weise die islamische Sicht der Weltgeschichte zueigen: Der Islam ist von Allah dazu bestimmt, die Herrschaft über die ganze Erde zu gewinnen; zuerst war Deutschland christlich-jüdisch, jetzt aber ist der Islam, die endgültige Wahrheit, ein Teil Deutschlands geworden. Endlich hat das Staatsoberhaupt eines der großen Länder Europas verkündet, der Islam gehöre inzwischen zu dessen Wesensart – könnte man sich eine nachdrücklichere Bekräftigung der diesseitsbezogenen muslimischen Heilserwartungen wünschen, die einem der Mann auf der Straße in Ägypten oder der Türkei seit Jahr und Tag ganz unbefangen darlegt? Und warum sollten sich die Muslime hier in eine Gesellschaft und ein Gemeinwesen integrieren, die nach Allahs Willen ohnehin den Weg in den Islam eingeschlagen haben? – Es ist durchaus denkbar, daß den Redenschreibern des Bundespräsidenten solche Vorstellungen bekannt waren; sie haben sie dann eben nicht ernst genommen. Bei meiner Arbeit in staatlichen Gremien, die sich mit dem Thema der Integration befaßten, mußte ich leider allzu oft beobachten, wie Angehörige der Ministerialbürokratie, sofern sie von islamischen Glaubenslehren überhaupt etwas wußten, diese gern als politisch und gesellschaftlich belanglose fromme Phantastereien abtaten; eine Intensivierung der Sozialarbeit werde sie zum Verschwinden bringen. Angefügt sei hier, daß eine für die Vorlieben der politisch-medialen Klasse offene „Wissenschaft“ unlängst herausgefunden hat, daß der Koran ein europäischer Text sei, da er jüdische und christliche Elemente verarbeite – wie denn Europa aus der jüdischen und christlichen Tradition hervorgegangen und ebendeswegen auch islamisch sei.24 Niemand wird in Abrede stellen, daß das Christentum die geistige Grundlage der europäischen und daher auch der deutschen Geschichte ausmacht. Freilich handelt es sich um ein Christentum, das weit mehr umfaßt als eine religiöse Botschaft. Es ist die Heilslehre, die sich den Staatsapparat des Römischen Reiches aneignete. Dies war möglich, weil die Wortführer der Christen lernten, ihre Glaubensüberzeugungen mit dem gedanklichen Instrumentarium der griechischen philosophischen Überlieferung zu erfassen und zu propagieren. Das Christentum, das die einende geistige Kraft des europäischen Mittelalters werden sollte, barg zudem in sich die theologische und 24 So bezeichnete Frau Angelika Neuwirth in einem Vortrag, den sie im Juli 2010 an der Universität Münster hielt, den Koran als „Mitschrift und nicht nur Resultat eines Verkündigungsprozesses, ein ergebnisoffenes Drama“. Er sei ein „verbindendes europäisches (sic!) Vermächtnis“. Denn er stelle sich zwar als ein arabischer Text dar, umfasse aber jüdische, christliche und antik-heidnische Traditionen. „Mohammed war nicht nur ein Prophet, sondern auch der Ausleger älterer Schriften.“ Und so resümierte sie ihre Ansichten: „Aus historischer Perspektive leben wir daher nicht in einem jüdisch-christlichen, sondern in einem jüdisch-christlich-islamischen Europa.“ http://www.uni-muenster.de / Religion-und-Politik / 2010 / jul / pm_vortrag_neuwirth. html, heruntergeladen am 13. Oktober 2010.
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philosophische Hinterlassenschaft der griechischen und lateinischen Kirchenväter. In der Spätantike wuchs die römische Gesittung mit der barbarischen, dem Lebenszuschnitt und Gedankengut der in das Reich eindringenden Völker, zu etwas Neuem zusammen, dessen Leitideen nicht mehr dem heidnischen Rom, sondern dem „romanisierten“ christlichen Glauben verpflichtet waren.25 Zu den großartigen Leistungen jener Übergangszeit zählt das corpus iuris civilis, das Kaiser Justinian (reg. 527–565) in den Jahren 528 bis 534 zusammenstellen ließ. Es handelt sich um eine neue Kodifizierung des römischen Rechts und enthält u. a. Erlasse der Kaiser seit Hadrian (reg. 117–138), wählt den Stoff also nicht nach dem Gesichtspunkt eines Zusammenhangs mit dem Christentum aus, sondern öffnet dieses für das Erbe der vorchristlichen Vergangenheit. Im lateinischen Westen vermochte sich das corpus iuris civilis zunächst nicht durchzusetzen, zumal Italien dem Oströmischen Reich verlorenging. Seit der Mitte des 11. Jahrhunderts bewährte sich das unter Justinian geschaffene Werk jedoch auch hier als die Hauptquelle der aufblühenden Jurisprudenz. Nicht zu Unrecht hat man betont, daß dieses Vermächtnis die unabdingbare Voraussetzung für die Herausbildung des modernen Rechtsstaates gewesen ist.26 Es hätte Herrn Wulff gut angestanden, in seiner dem Thema der Integration gewidmeten Rede auf diesen Sachverhalt hinzuweisen. Denn was sonst könnten die Bürger eines Landes, die entweder einer Religion angehören oder sich als Agnostiker oder Atheisten verstehen, als eine allen gemeinsame Ordnung bejahen, wenn nicht dessen säkulare, rechtsstaatliche Verfassung? Problematisch ist übrigens auch die pauschale Aussage, das Judentum gehöre zu Deutschland. Sollte der Redner den Kanon der Schriften des Alten Testaments gemeint haben, so hat er zweifellos recht. Dieser Kanon ist ähnlich wie das griechisch-römische Erbe als ein unaussonderbarer Bestandteil des Christentums in Europa heimisch. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Jesus bestimmte Erscheinungsformen des Judentums seiner Zeit verwarf, deren Verfechter auf eine strenge Erfüllung der Ritualgesetze sahen, eine theokratische Herrschaft anstrebten und in der Verschmelzung von beidem das Eigentliche der Frömmigkeit zu erkennen glaubten.27 Das Judentum, das, verkürzt gesagt, seine Lebensmitte in den Vorschriften des Talmud findet, existierte zwar seit der Spätantike auf europäischem Boden, es wurde im Mittelalter von der christlichen Mehrheit jedoch keineswegs als 25 Über diese vielschichtigen Entwicklungen unterrichtet umfassend Georg Scheibelreiter: Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert, Darmstadt 1999. 26 Es sei hier nur daran erinnert, daß das römische Recht die Position des Individuums gegen die Eingriffe der Mächtigen stärkte. Daß sich der Einfluß des römischen Rechts bis in das BGB verfolgen läßt, ist eine bekannte Tatsache. 27 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt B., S. 153–155.
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ihr zugehörig empfunden. Wie Jacob Katz in seiner grundlegenden Studie über das Verhältnis von Juden und Nichtjuden im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa gezeigt hat, herrschten auch innerhalb der jüdischen Gemeinden erhebliche Vorbehalte gegen die christliche Umgebung. Erst die Aufklärung, die auf beiden Seiten die Einsicht in das Vorhandensein eines jenseits der religiösen Schranken bestehenden Menschseins förderte, machte eine gegenseitige Toleranz möglich. Aus gegeneinander abgesonderten Fremden wurden gleichberechtigte Staatsbürger.28 Mit dem die Geschichte schönenden Satz: „Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland“ gab der Redner die Gelegenheit aus der Hand, die Muslime auf die integrierenden Kräfte eines die Religionszugehörigkeit übersteigenden Staatsverständnisses hinzuweisen. Dies wäre um so angebrachter gewesen, als die Geschichte des Islams so verlaufen ist, daß er mit dem römischen Recht allenfalls am Rande in Berührung kam. Der Islam drang nicht als ein dem Ursprung nach unpolitischer Glaube in ein bestehendes Staatswesen ein, um diesem eine neue Deutung zu verleihen. Er schuf sich vielmehr gleich zu Anfang ein eigenes Gemeinwesen, das sich durch militärische Expansion Teile des Byzantinischen Reiches – Palästina, Syrien, das östliche Nordafrika – sowie den Iran der Sasaniden einverleibte, der sich vom Zweistromland bis in das westliche Innerasien erstreckte. Die fiskalische Ausbeutung dieser riesigen Landmasse durch die Eroberer erfolgte zunächst nach den jeweils vorgefundenen Verwaltungsrichtlinien, die von Fall zu Fall hinter die Interessen der neuen Herren zurücktreten mußten. Im Zuge der Islamisierung der unterworfenen Gebiete wurde die im Koran bezeugte Auffassung, alle Lebensverhältnisse würden ein für allemal durch Allah geregelt (vgl. Sure 6, 38 und Sure 16, 89), verbreitet und mit Inhalt gefüllt. Es bildete sich die Scharia heraus, ein umfängliches Gefüge von Einzelnormen, die, unmittelbar oder mittelbar, auf Aussagen des Korans oder auf Aussprüche Mohammeds zurückgeführt wurden und daher auf Allahs Rede oder zumindest auf eine von ihm angeleitete Handlungsweise zurückgehen sollten. Seit dem 11. Jahrhundert betrachteten Schariagelehrte dieses System als inhaltlich abgeschlossen und waren zugleich der Überzeugung, es regele sämtliche Lebensbereiche des Muslims – von der Staatslenkung bis hin zu den privaten, intimen Angelegenheiten des Einzelnen: Das ganze Dasein, jede Lebensregung, ist Bewertungen unterworfen, die von Allah herrühren und den Menschen in der einzig wahren Glaubens- und Lebensordnung festhalten, im Islam.29 Das Korpus 28 Jacob Katz: Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval & Modern Times, Oxford 1961. 29 Typisch für die Verdrängung dieser Tatsachen durch herausragende Repräsentanten der deutschen politisch-medialen Klasse ist ein Artikel, den die Bundesjustizministerin Leutheuser-Schnarrenberger am 10. Februar 2010 in der FAZ veröffentli-
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dieser Bewertungen, die Scharia, zeichnet sich dadurch aus, daß es sowohl das irdische Rechtswesen formen als auch das Jenseitsentgelt einer jeden Denk- und Handlungsweise feststellen will; das islamische Recht ist in eine allumfassende aus Koran und Hadith abgeleitete religiöse Moral eingehüllt.30 Für Erlasse heidnischer Herrscher wäre in der Scharia höchstens dann Platz, wenn nachgewiesen werden könnte, daß ihr Inhalt mit den Forderungen des Korans bzw. mit dem Reden und Handeln Mohammeds übereinstimme. Eine Öffnung des Islams hin zu einer nichtislamischen Rechtsordnung, ein corpus iuris civilis justinianscher Prägung, wäre undenkbar. Die Religion ist der oberste Gesichtspunkt, bis auf den heutigen Tag. Die zeitgenössische islamische Rechtswissenschaft plagt sich daher vor allem mit dem Problem ab, wie aus dem Westen importierte Rechtsbereiche wie etwa das Versicherungsrecht als „islamisch“, d. h. von Anfang an in der Scharia enthalten, erwiesen werden können.31 Seit dem 19. Jahrhundert sind in der islamischen Welt Versuche unternommen worden, mittels Anleihen bei europäischen Rechtssystemen Breschen in die Scharia zu schlagen. Allerdings sind solche Versuche stets die Sache kleiner Minderheiten gewesen, die auf die Modernisierung ihrer Länder nach westlichem Muster hinarbeiteten; die breite Masse der Muslime nahm an derlei Bemühungen kaum Anteil. So entwickelten sich vielerorts in der islamischen Welt duale Rechtsverhältnisse: Bereiche, die für die internationalen Beziehungen von Gewicht waren – Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht im weitesten Sinne –, wurden nach westlichem Vorbild gestaltet, andere blieben an die Scharia gebunden. Für das Personenstandsrecht galt dies selbst dann, wenn offiziell europäische Standards eingeführt wurden. Mit dem Verlust an Ansehen, den Europa und der „Westen“ allgemein seit der Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlitten, rückte die eigene, die schariatische Rechtstradition wieder in den Vordergrund. Daß der Islam eine oder gar die Quelle der staatlichen Ordnung und des Rechts sei, steht seitdem in den Verfassungen fast aller islamischen chen ließ. „Jeder Religion die gleiche Chance“ lautete die Überschrift, unter der Frau Leutheuser-Schnarrenberger unter anderem behauptete, eine Erörterung der Rechtsregeln des Islams, die diese nicht als kompatibel mit den hiesigen betrachte, sei „vorurteilsbeladen“ und verrate einen Mangel an Sachkenntnis. Ihr ist gar nicht klar, daß der Religionsbegriff des Grundgesetzes eben nicht derjenige des Islams ist, der seine Glaubensordnung als ein allumfassendes, religiös begründetes politisches und gesellschaftliches System versteht. Entgeistert nimmt der Bürger dieses Landes solches Unwissen zur Kenntnis und ist sich sicher, daß er von jener Klasse ein beherztes Eintreten für unser freiheitliches Gemeinwesen nicht erwarten darf. 30 Vgl. unten, Abschnitt C., S. 214–219. 31 Als ein Beispiel vgl. die Ausführungen von Rüdiger Lohlker: Das islamische Recht im Wandel, Münster 1999 (Internationale Hochschulschriften 291), insbesondere die Dokumentation der ägyptischen Diskussion über Zinsgeschäfte, 204–282.
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Länder und findet sich wie selbstverständlich auch in den Grundgesetzen des Irak und Afghanistans, in denen Streitkräfte unter Führung der USA die Grundlage für den Aufbau demokratischer Verhältnisse schaffen sollen. Auch die AKP-Regierung in Ankara arbeitet zielstrebig darauf hin, den Islam wieder als den Kern des türkischen Selbstverständnisses zur Geltung zu bringen. Politisch korrekt ist es, hierüber den Mantel des Nichtwissens zu breiten. Die aufs neue den Islam zum allgültigen Richtmaß erhebende Türkei soll schließlich auf alle Fälle ein „privilegierter Partner“ der europäischen Union werden, was zumindest mittelfristig den freien Zuzug von Angehörigen der gering gebildeten Schichten bedeutet, die in unserem Sozialsystem komfortabler leben als in ihrem Heimatland. Und welche Vorteile für die türkische Politik die AKP sich davon verspricht, hat Herr Erdoğan in seiner Kölner Rede vom 10. Februar 2008 in dankenswerter Offenheit verkündet. Unverwandt auf die Türkei gerichtet sollten die Augen und Ohren der ausgewanderten Türken sein, forderte er. Man könne von ihnen nicht verlangen, daß sie sich der aufnehmenden Gesellschaft einpaßten; hierauf hinzuarbeiten, sei ein Verbrechen. Drei Millionen Türken bzw. Türkischstämmige – Erdoğan differenziert augenscheinlich nicht zwischen beiden Gruppen – lebten in Deutschland; sie sollten in der Lage sein, in Solidarität mit ihrem Herkunftsland ihr politisches Gewicht zur Geltung zu bringen. Das Erlernen der deutschen Sprache und andere Integrationsbemühungen müßten nach Erdoğans Ansicht vor allem diesem Zweck dienen. Um einer seinen Unwillen erregenden Kritik am Milieu dieser Parallelgesellschaft vorzubeugen, verlangte er, auf einige nach seiner Auffassung anstößige Fernsehsendungen verweisend, eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit.32 Dies alles und mancherlei vergleichbare Zumutungen, die von muslimischer Seite in der jüngsten Vergangenheit vorgebracht worden waren, kamen einem in den Sinn, als der Bundespräsident von der nunmehrigen Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland sprach. Er überging die den einfachen Bürger bedrängenden Probleme mit Schweigen, was ihm immerhin so viel Kritik eintrug, daß sich der Generalsekretär der CDU veranlaßt sah, zu versichern, die Rede mache doch deutlich, daß Herr Wulff für die Werteordnung des Grundgesetzes eintrete.33
32 http://www.welt.de / debatte / article1660510 / Das_sagte_Ministerpraesident_Er dogan_in_der_Koelnarena.html, heruntergeladen am 14. Oktober 2010. 33 FAZ, 9. Oktober 2010, Seite 5.
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3. Was auf dem Spiele steht Zwei Wochen später hielt der deutsche Bundespräsident anläßlich eines Staatsbesuchs in der Türkei vor dem Parlament in Ankara eine Rede. Er bemühte sich um die Eindämmung der Kritik, die in Deutschland seine Ansprache am Tag der Deutschen Einheit ausgelöst hatte, indem er nun unterstrich, das Christentum gehöre „zweifelsfrei“ zur Türkei. Auch wies er darauf hin, daß, wer in Deutschland ansässig werden wolle, sich an die dort geltenden Regeln halten und „unsere Art zu leben“ akzeptieren müsse.34 Zur Erwähnung dieser Selbstverständlichkeiten, die nach wie vor als politisch bedenklich gelten, ließ er sich immerhin herbei. Die muslimische Führungselite der Türkei wird das verschmerzen und nachdrücklicher als zuvor den Geldsegen und den Machtzuwachs einfordern, den sie sich vom Beitritt ihres Landes zur EU verspricht. Denn da der Präsident selbst in Andeutungen nicht die Probleme berührte, die der deutsche Bürger mit dem anmaßenden Auftreten vieler aus der Türkei stammender muslimischer Einwanderer und sie betreuender türkischer Religionsfunktionäre hat, vermittelte er seinen Gastgebern die Gewißheit, daß derlei Mißhelligkeiten in den Augen der deutschen politisch-medialen Klasse auch künftighin ohne Belang sein würden. Warum, so fragt man sich, liegt den meisten Wortführern der politischmedialen Klasse und ihren intellektuellen Ideengebern das Wohl der muslimischen Einwanderer, und zwar gerade derjenigen unter ihnen, die unser Gemeinwesen ablehnen, so sehr am Herzen, daß sie sich nicht trauen, ihnen in klaren Worten abzuverlangen, was für das Wohl des ganzen Landes unabdingbar wäre? Woher kommt diese Respektlosigkeit gegenüber den legitimen Interessen der eigenen Bürger, des eigenen Landes, die sich auch auf anderen Politikfeldern offenbart? Mehrere Antworten sind möglich. Die deutsche politisch-mediale Klasse der Gegenwart hat sich in einem besiegten und zerstörten Land herausgebildet, das wegen zahlreicher in seinem Namen begangener Untaten diskreditiert war und dessen Überleben und Wiederaufstieg zunächst auf Gedeih und Verderb von der Gnade der Sieger abhingen. Es ist nicht angenehm, als Machtloser die elementaren Belange der Geschlagenen und Geächteten bei den Übermächtigen zu vertreten. Deshalb liegt die Versuchung nahe, sich durch Distanzierung von der Geschichte und vom Volk dieses Landes aus der Masse der mit Schmach Beladenen fortzustehlen und sich gleichsam von hinten ein Plätzchen auf dem Siegerpodest zu erschleichen. Die großen Männer und Frauen der frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland haben dieser Versuchung jedoch 34 FAZ,
20. Oktober 2010, Seite 8.
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in erstaunlichem Maße widerstanden. Noch mußte man es scheuen, als „Kanzler der Alliierten“ gebrandmarkt zu werden. Aber seit der Mitte der fünfziger Jahre mehrten sich die Anzeichen dafür, daß im veröffentlichten politischen Diskurs die Häme über alles, was mit Deutschland und den Deutschen zu tun hatte, den guten, richtigen Ton auszumachen begann. Durch Verachtung des Eigenen und durch kritiklose Hochachtung des Fremden erwarb man sich die Aura desjenigen, der die Dinge durchschaut, und zugleich, da das Eigene mit dem schlechthin Verwerflichen in eins gesetzt wurde, den Heiligenschein unanfechtbarer moralischer Überlegenheit. Die zur intellektuellen Pose verfestigte Schmähung des Eigenen macht zudem den Wirklichkeitsbezug solcher Äußerungen zu etwas Zweitrangigem, so daß Lob und Anerkennung auch ohne authentische geistige Anstrengung einzuheimsen sind. Seit den achtziger Jahren und in verstärktem Maße seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums ist der Islam zum wichtigsten Nutznießer dieser Pose geworden. Hier muß ein zweiter Gesichtspunkt ins Spiel gebracht werden. Angesichts der massiven militärischen Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland und ganz Westeuropas durch den Warschauer Pakt hatte sich jene das Gute stets auf der Seite des Anderen vermutende Geisteshaltung insofern radikalisiert, als die von diesem Anderen ausgehende Bedrohung verdrängt bzw. als eine legitime Konsequenz des Bestrebens interpretiert wurde, sich selber und das Eigene vor der Vernichtung zu schützen. Vor lauter Angst wurden an die vermeintliche Tugend der Selbstvergessenheit immer weiter reichende Anforderungen gestellt. Nicht Deutschland, der Westen an sich wurde zur Quelle alles Kritikwürdigen; die freiheitlich-demokratische Ordnung und das liberale, auf die Eigenverantwortung des Individuums zählende Wirtschaftssystem wurden als die bösartigsten Störer des Weltfriedens verunglimpft. In diesem geistigen Milieu der achtziger Jahre machten zum ersten Mal muslimische Immigranten lautstark von sich reden. In den neunziger Jahren, mit dem Wegfall der Bedrohung durch das sowjetische Imperium und der Zunahme der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Taten und Untaten muslimischer Kampfverbände in verschiedenen Gegenden der Welt, übertrug sich die zu verdrängende Feindesangst auf den Islam. In Wahrheit ist die Lage freilich nicht mit der im Kalten Krieg vergleichbar. Denn erstens gibt es kein gegen Europa gerichtetes Militärbündnis islamischer Staaten, und zweites besteht ein Zwanzigstel der Bevölkerung Deutschlands aus Muslimen; eine Frontlinie zum Islam läßt sich somit nicht definieren. Gleichwohl ist die Angst vor dem Islam in den übrigen neunzehn Zwanzigsteln weit verbreitet, und die Kompensierung dieser Angst durch ostentatives Wohlmeinen ist im veröffentlichten Diskurs über den Islam bzw. mit den Vertretern der Islamverbände geradezu endemisch. Das ist übrigens nicht nur in Deutschland zu beobachten. Die koloniale Vergangenheit einiger
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Nachbarländer35 bietet dort den Vorwand für eine ritualisierte Selbstanklage und für eine fahrlässige Duldsamkeit gegenüber muslimischen Herausforderungen. Man wagt es nicht, die Grenzen aufzuzeigen, die ein freiheitliches, säkularisiertes Gemeinwesen den Machtansprüchen einer religiös-politischen Ideologie bzw. einer sich als politische Gemeinschaft verstehenden Religion setzen muß. Dieses intellektuelle Milieu erschwert sowohl den vorurteilsfreien Blick auf den Islam als auch die sachgerechte Einschätzung der eigenen politischen und moralischen Grundsätze. Der nüchternen Beurteilung des Islams stehen die beschriebenen Tabus entgegen. Daß die freiheitlich demokratische Grundordnung der entscheidende Pfeiler unseres Gemeinwesens ist, schwindet aus dem Bewußtsein. Ihre Vorteile genießt man ganz selbstverständlich, ohne den Gedanken an sich heranzulassen, daß der Fortbestand dieser Grundordnung alles andere als selbstverständlich ist und die fortwährende opportunistische Distanzierung von ihr zu ihrem tatsächlichen Verlust führen kann. Die Oberflächlichkeit des politisch-medialen Betriebs begünstigt solche Leichtfertigkeit.36 Die hohen und höchsten Vertreter der politischen Klasse sind nicht zuletzt aus Zeitmangel nicht in der Lage, sich über ein Thema wie den Islam, das doch seit Jahren auf der Agenda steht und 35 In Spanien ist es die Reconquista; die Vernichtung des Westgotenreichs durch muslimische Eroberer wird demgegenüber im Einklang mit der heutigen muslimischen Geschichtsideologie als eine friedliche Landnahme ausgegeben 36 Einen vorläufigen Höhepunkt der der Selbstanklage und der kritiklosen Hochschätzung des Fremden verpflichteten Publizistik bietet das Buch von Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Der Verfasser glaubt, nachweisen zu können, daß die islamischen Kulturen bis ins 19. Jahrhundert von einer hohen „Ambiguitätstoleranz“ geprägt gewesen seien. Erst als sie näher mit der europäischen „Wahrheitsobsession“ in Berührung gekommen seien, hätten auch sie sich auf den Irrweg begeben, „sich über eindeutige Normen und Werte zu definieren. Das tut der heutige Islamismus auf seine Weise – in dem nur scheinbaren Rückbezug auf ‚traditionelle Werte‘. Tatsächlich schaut der Westen im Islamismus auf die Fratze seiner eigenen Wahrheitsobsession“ (Text auf dem Einband). Zur Abstützung seiner These verweist der Verfasser z. B auf den Meinungsstreit der mittelalterlichen islamischen Rechtsgelehrten – aber ist dieser oft mit äußerster Härte ausgefochtene Streit nicht ein Indiz für das Ringen um eine Wahrheit und gerade nicht für das Tolerieren anderer Ansichten? Und ist von der Mehrheit als abweichend empfundenes, aber von einigen Dichtern verherrlichtes Verhalten ein Beleg für die Offenheit der Gesellschaft gegenüber dem von der Mehrheit gebilligten Verhalten wie auch gegenüber jeglichem anderen? Gänzlich enttäuschend an diesem Buch ist im übrigen der Umstand, daß die islamische Literatur des 19. Jahrhunderts, in der sich der vom Verfasser postulierte radikale Umbruch widerspiegeln müßte, gar nicht eigens zur Sprache kommt. Ebenso vergebens sucht man nach einer Analyse heutiger „islamistischer“ Schriften und der Herkunft der in ihnen verarbeiteten Gedanken. Es geht dem Verfasser daher um nichts anderes als um Schuldzuweisungen an den „Westen“.
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dort auch in absehbarer Zukunft stehen wird, eine sachlich fundierte Meinung zu erarbeiten. Was ihnen zu Ohren kommt, ist durch den Filter der Pressereferate gegangen, wo man natürlich weiß, daß auch in der Parteiendemokratie der Überbringer schlechter Nachrichten nicht gut angesehen ist. Die Debatten im Parlament werden in der Regel vom Koalitionszwang bestimmt; die freie Erörterung eines Themas ist ein so außergewöhnliches Ereignis, daß es ausdrücklich vermeldet wird. Weitgehend von Klischees geprägt ist auch der Meinungsstreit – oder besser: der Schlagabtausch – in den sogenannten Talkshows; wehe, jemand versucht dort, vom Reproduzieren der für akzeptabel gehaltenen Gemeinplätze wegzukommen! So hört und liest man allenthalben das, was sich dem engen Korridor durch das juste milieu approbierter Ansichten zuordnen läßt. Daß die Angehörigen der politisch-medialen Klasse ein breites Spektrum von Meinungen verträten und im gemeinsamen Ringen um Erkenntnis schließlich zu an der Sache selbst orientierten Entscheidungen gelangten, wagt der interessierte Bürger, um dessen Belange es doch eigentlich geht, kaum noch zu hoffen. In dieser Oberflächlichkeit und in diesem allgegenwärtigen Streben nach veröffentlichtem Lob und nach dem Gewinn scheinhafter moralischer Überlegenheit hat sich die politische Korrektheit zur wahren Herrin aufschwingen können. Vor ihr hat die gut fundierte, auf sicherer Quellen- und Faktenkenntnis beruhende Expertise zu kuschen. So wurde nach dem 11. September 2001 vielfach hervorgehoben, die Attentate hätten mit dem Islam nichts zu tun, die Terroristen beriefen sich zu Unrecht auf den Koran; denn der Koran enthalte ein generelles Tötungsverbot (Sure 5, 32). Es war unkorrekt, darauf hinzuweisen, daß dieser Vers seinen Ursprung in der Mischna hat und dort, wie noch im Koran erkennbar, das Verbot meint, jemanden aus dem eigenen Volk zu töten (vgl. Abschnitt D., Text IV).37 In eben diesem Sinne, nur eben nicht mehr auf das Volk, sondern auf die Glaubensgemeinschaft bezogen, sagt Mohammed in Sure 4, Vers 92 f., daß ein gläubiger Muslim einen anderen seinesgleichen nur versehentlich töten darf; in einem solchen Fall sind die Erlegung eines Wergeldes sowie Sühneleistungen fällig. Bei vorsätzlicher Tötung eines Glaubensgenossen drohe das Höllenfeuer. Unmittelbar im Anschluß an diese Aussagen läßt er sich über das religiöse Verdienst aus, das der Krieg gegen Andersgläubige einträgt (Vers 94–96). Die Erläuterung dieses Sachverhalts, in Vorträgen dargelegt, löst bei den politisch Korrekten unter den Zuhörern stets wütenden Einspruch aus, der niemals mit Sachargumenten gerechtfertigt wird. „In dieser Situation“ dürfe man dergleichen nicht sagen, zumindest nicht „so“, der Vortragende sei im „Feindbild Islam“ befangen. Die Frage, wann und wie man dies sagen dürfe, bleibt ohne Antwort. 37 Heinrich
Speyer: Die biblischen Erzählungen im Qoran, Darmstadt 1961, 87 f.
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So ist ein weichgezeichneter Islam für die Mehrheit unserer politischmedialen Klasse und ihr Publikum selbstverständlich. Wenn diese Religion Züge hat, die nicht ins Bild passen, so gehören sie eigentlich nicht dazu; betrachtete man den Islam als ein Ganzes, dann schrumpften sie zu belanglosen Randerscheinungen. Bei der Vorstellung eines Buches eines Parteifreundes sagte die Bundeskanzlerin am 4. Oktober 2010: „Wir brauchen nicht drum herumzureden: Die Wahrnehmung dessen, was Islam ist, ist in Deutschland durch die Scharia, durch die fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau, bis hin zum Ehrenmord stark geprägt. Das ist nicht der Islam, wie er ist, aber dadurch ist das Bild geprägt, und es gibt solche Facetten. Es ist ganz klar – ich kann das hier nur unterstreichen: Es gibt hier keine Toleranz gegenüber den Grundwerten unseres Grundgesetzes. Es wird sicherlich die zukünftige Aufgabe sein, die wir mit großem Respekt vor der Religion, aber auch großem Nachdruck durchsetzen müssen, zu sagen: Ein Islam, der mit der Religionsfreiheit in Deutschland hier natürlich willkommen ist, muss ein Islam sein, der sich unseren Grundwerten verpflichtet fühlt. Darüber muss gesprochen werden. Ansonsten würden Ängste zunehmen, und das kann nicht unser Ansinnen sein.“38 Was ist denn wohl der Islam, „wie er ist“? Es wäre dem Büro der Bundeskanzlerin ein Leichtes gewesen, sich hierüber aus erster Hand zu unterrichten. Im Presseorgan „European View“, das den christlichen Parteien des Europaparlaments nahesteht, wurde 2007 ein Artikel des Großmuftis von Bosnien und Herzegowina, Mustafa Cerić, veröffentlicht. Unter dem Titel „The challenge of a single Muslim authority in Europe“ legte er dar, daß sich zur Zeit ein alle Muslime Europas in gleicher Weise prägendes positives Bild ihrer Religion entwickele, was sowohl für unseren Erdteil allgemein als auch für die hier lebenden Bekenner des Islams von Vorteil sei. Eine zu gründende neuartige, vereinheitlichte institutionelle Vertretung39 der Muslime in Europa fuße auf drei Grundlagen, nämlich erstens auf der richtigen Glaubenslehre, zweitens auf der Scharia und drittens auf dem Imamat. Die Glaubenslehre finde ihren Ausdruck im zweigliedrigen Bekenntnis zu Allah und seinem Gesandten – wovon oben schon die Rede war. Es forme die „persönliche Identität des Muslims“, da es ihm unablässig im Herzen gegenwärtig sei, und leite die „persönlichen Empfindungen über Gott und den Glauben, der ein universal gültiges Prinzip der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen ist“. Die zweite Grundlage ist laut Cerić die Scharia. Sie verkörpere die kollektive Identität der Muslime und bestehe in der 38 http://www.bundesregierung.de / Content / DE / Rede / 2010 / 10 / 2010-10-04-mer kel-buchvorstellung.html, heruntergeladen am 13. Oktober 2010. 39 Es bleibt zunächst in der Schwebe, ob der Autor davon träumt, dem von ihm wahrgenommenen einheitlichen Selbstverständnis der europäischen Muslime eine Institutionalisierung in Form einer muslimischen Obrigkeit zu ermöglichen.
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Erinnerung an den Bund, den Allah einst nach der Flut mit Noah geschlossen und mit Mose auf dem Berg Sinai erneuert habe. Wie es in Sure 5, Vers 46 bis 4840 heiße, sei dann Jesus berufen worden, um das Evangelium zu verkünden, gemäß dem die Christen ihre Entscheidungen treffen sollen. Zuletzt habe Allah die Schrift mit der Wahrheit auf Mohammed herabgesandt und ihn beauftragt, sie zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Hätte es Allah anders gewollt, dann hätte er die Menschen zu einer einzigen Glaubensgemeinschaft vereint, so aber müssen alle nach Maßgabe der ihnen zuteil gewordenen Offenbarung den Weg zu Allah finden. Soweit der Koran! Cerić folgert hieraus: „Daher ist der islamische Bund, die Scharia, ewig; sie ist nicht verhandelbar, und ihre Gültigkeit erlischt nie; sie ist ewig, da sie Gottes in die unbegrenzte Vergangenheit reichendes Wort ist; sie ist nicht verhandelbar, weil ihr eine Kraft innewohnt, die Gehorsam erzwingt; sie erlischt nie, weil sie in die unbegrenzte Zukunft hineinreicht.“ Das islamische Recht im engeren Sinne sei eine zeitgebundene Auslegung dieser ewigen Scharia und erlösche daher irgendwann einmal. Die Scharia hingegen sei die unanfechtbare Basis, auf der jede Generation der Muslime ihre Urteile über gut und böse suchen müsse. Schließlich das Imamat, die oberste Führungsinstanz der muslimischen umma! Seit dem Tod des Propheten stelle es das entscheidende Problem dar, mit dem sich die Muslime nicht nur im Zentrum, sondern auch an der Peripherie, in Europa, befassen müßten. Nicht immer sei es gemäß den ewigen Grundsätzen der Scharia ausgeübt worden, räumt Cerić ein. Gleichwohl „ist es das unbestreitbare Recht und die unbestreitbare Pflicht eines Muslims, die edlen moralischen Werte zu verwirklichen, wo immer er lebt, und individuelle wie auch kollektive Wohlfahrt in einem Staat oder einer Gesellschaft zu suchen, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben haben. Somit bedeutet das Imamat die Führungsautorität eines Muslims in seinem bürgerlichen Leben dergestalt, daß, wer es prüfend betrachtet, darin Wahrheit, Grundsätze und Wirklichkeitsnähe entdeckt.“41 Texte wie dieser werden die Theodor-Heuss-Stiftung und die Eugen-BiserStiftung bewogen haben, Herrn Cerić 2007 und 2008 als einen Reformer des Islams und einen Brückenbauer zwischen den Muslimen und der übrigen Bevölkerung Europas auszuzeichnen. Die Scharia erscheint zunächst als ein ganz allgemeines ethisches Prinzip, das der Mensch in einem mehrfach erneuerten Bund mit Allah als Richtschnur anerkannt hat; wie aus dem Inhalt dieses Bundes eine konkrete Gesetzgebung wird, ist in jedem Zeitalter 40 Bei Cerić: Vers 49 bis 51. Er zitiert den Koran in einer anderen Verszählung; ich halte mich stets an die kufische, die auch diejenige der offiziellen ägyptischen Koranausgabe ist. 41 Mustafa Cerić: The challenge of a single Muslim authority, in: European View (2007) 6:41–48, hier 42–44, Online-Fassung, heruntergeladen am 2. November 2010.
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neu zu bestimmen. Infolgedessen ist nach den zitierten Partien aus Sure 5 den Juden und Christen, denen die gleichen allgemeinen Prinzipien mitgeteilt wurden, durch Allah anheimgestellt worden, aus ihnen nach eigener Einsicht die Regeln ihres irdischen Wandels herzuleiten. So muß es der treuherzige nichtmuslimische Leser auffassen. In Wahrheit meint die von Cerić herangezogene Koranstelle dies gerade nicht. Schon der Umstand, daß Cerić zur Bezeichnung des Bundes den islamischen Begriff Scharia verwendet, verrät, daß er den anderen beiden Schriftreligionen ihre Eigenständigkeit abspricht. Er setzt stillschweigend voraus, daß sich im Islam jener hier mit der Gestalt Noahs42 verknüpfte erste Bund fortsetzt. Infolgedessen hat die islamische schariatische Gesetzgebung den Vorrang vor jüdischer und christlicher inne. Dem muslimischen Leser dieser Ausführungen muß das nicht ausdrücklich gesagt werden. Denn er hat im Ohr, wie es in Sure 5 ab Vers 49 weitergeht: Mohammed soll sich davor hüten, Urteile gemäß den Richtlinien der anderen Religionsgemeinschaften zu fällen; was jene lehren, sind bloße Vermutungen, die mit der göttlichen Wahrheit, die ihm zur Verfügung steht, nichts gemein haben! Es schließt sich die dringende Mahnung an, mit Juden und Christen nicht auf freundschaftlichem Fuße zu verkehren. Wenn Herrn Cerićs Argumentation intellektuell redlich wäre, hätte er nach dem Zitat der Verse 46 bis 48 auf Vers 49 verweisen und darlegen müssen, daß diese den Juden und Christen so feindseligen Worte des Korans für ihn keine Gültigkeit mehr haben, eben weil sie auf Verhältnisse gemünzt sind, die sich grundlegend von denjenigen im Europa des 21. Jahrhunderts unterscheiden. Das darf er aber nicht einräumen, eben weil die Scharia ja auf der angeblich ewig wahren Botschaft des Korans beruht. Das in Zweifel zu ziehen, würde ihn im europäischen Fetwarat, dem er angehört43 und der sich die Einpflanzung der Scharia in der überkommenen Form angelegen sein läßt, untragbar machen. Wie dem auch sei, wichtige Vertreter der politisch-medialen Klasse haben gehört, was sie gerne hören wollen,44 und die Bundeskanzlerin ist davon 42 Es ist unwahrscheinlich, daß Cerić hier an die seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. abgeschlossene Liste der sieben Noachidischen Gebote (vgl. Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, VI, Spalte 348 f.) denkt. Diese Gebote, nach der Vorstellung des rabbinischen Judentums Noah, dem Urvater der jetzigen Menschheit, offenbart, enthalten noch nicht das mosaische Gesetz, aber Regelungen, denen zu folgen die ganze Menschheit aufgerufen ist. 43 Cerić ist laut Wikipedia (2. November 2010) ein Gründungsmitglied des European Council for Fetwa and Research, der sich seit 1996 um die Koordinierung der Aktivitäten zur Verbreitung des Schariarechts unter den Muslimen in Europa bemüht. Von deutscher Seite wird der Rat durch die vom Verfassungsschutz beobachtete Organisation Millî Görüş gefördert. 44 Das gilt übrigens auch für die Antwort der 138 muslimischen Gelehrten auf die Regensburger Rede Benedikts XVI. Diese Antwort wurde ebenfalls von Herrn
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überzeugt, der Islam, „wie er ist“, habe mit der Scharia nichts zu tun. Es ist bedrückend, anzusehen, wie wenig fundiert die Urteilsfähigkeit höchster Vertreter dieser Klasse in schicksalhaften Fragen der Zukunft ist. Die Verdrängung der Tatsache, daß Europa eben nicht allein auf den religiösen Lehren des Christentums und des Judentums fußt, sondern vor allem auf dem antiken Erbe der Staatsverwaltung, Rechtspflege und Politik, macht die Lobredner Cerićs denn auch blind für dessen ausdrückliche Abkehr von der europäischen politischen und gesellschaftlichen Überlieferung. Er schreibt am Ende seines Aufsatzes: „Der europäischen Führungselite zum Trotz, die die Frage des Islams und der Muslime in Europa immer noch für ein vorübergehendes Problem hält, wird eine einheitliche institutionelle Vertretung der Muslime in Europa über kurz oder lang kommen; denn junge europäische Muslime, die ihrer islamischen Identität den Vorrang vor der nationalen oder ethnischen einzuräumen vermögen und sich in ihrer europäischen Identität zusammen mit ihrer islamischen Erziehung wohlfühlen, verlangen (nach einer solchen Institution).“45 Zu wahrhaften europäischen Bürgern erklärt Cerić mithin die Muslime, die einer Institution ergeben sind, die ihre Legitimität aus dem islamischen Glauben, der Scharia und dem Imamat herleitet. Eine solche Institution soll eine von mehreren Sachwalterinnen der politischen Kultur werden, auf der das vereinigte Europa zu errichten ist. Das eben ist das Bedenkliche: Um der ephemeren Vorteile einer appeasement-Politik willen sind hochrangige Vertreter der politisch-medialen Klasse bereit, die europäischen Staaten und Nationen allenfalls noch als einen einheitlichen Wirtschaftsstandort wahrzunehmen, dessen Grundlagen, wie man kürzlich lesen konnte, ohnehin schon durch den Islam im Mittelalter vorweggenommen worden sein sollen.46 Damit die Illusion der Existenz Cerić unterzeichnet. Sie geht auf die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft, das der Papst in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt hatte, überhaupt nicht ein. Stattdessen beschäftigt sie sich mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten, angeblich den zwei Wurzeln, aus denen sowohl Islam als auch Christentum gesprossen seien. Zitate aus dem Koran und dem Neuen Testament sollen dies belegen, wobei selbstverständlich die islamische Sicht der Dinge maßgeblich ist. Dies soll der in Sure 3, Vers 64 vermeintlich von Mohammed bzw. von Allah vorgeschlagene Dialog „auf Augenhöhe“ sein: Anerkennung des Monotheismus im mohammedschen Sinn. Abgeschlossen wird das Schreiben mit dem uns nunmehr bekannten Zitat aus Sure 5, selbstverständlich ohne einen Hinweis auf die Verse 49 bis 51. Worüber soll man sich mehr wundern, über die Dreistigkeit der Desinformation, oder über die wohlmeinenden nichtmuslimischen Kommentatoren, die ihr auf den Leim gehen? 45 Cerić, The challenge, 47 f. 46 Es ist, wie könnte es anders sein, Ibn Ëaldūn (gest. 1406), der neuerdings „die Elemente und Institutionen (der sozialen Marktwirtschaft, T. N.), welche die Ökonomen um Walter Eucken entwickelt haben, bereits im 14. Jahrhundert erkannt“ haben soll, „wenn er auch ein anderes Vokabular verwendete“ (Rainer Hermann in
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eines mit dem heutigen Europa vereinbaren Islams nicht beschädigt wird, muß man an der so ganz anders gearteten Lebenswirklichkeit großer Teile der in Europa eingewanderten Muslime angestrengt vorbeischauen. So ist es nicht der Rede wert, wenn Moscheeprediger einem Glaubensbruder das Geschäft ruinieren, der sich nicht an die Vorgaben der Scharia hält.47 Ab und an liest man sogar über Politiker, die islamisch begründete Straftaten gegen Muslime decken, die sich von der Scharia abgewandt haben. Die Bürgermeisterin des Ortes Cunit bei Tarragona empfahl einer muslimischen kommunalen Angestellten, die sich weigerte, ein Kopftuch zu tragen und deswegen vom örtlichen Imam drangsaliert wurde, sie möge sich um des lieben Friedens willen eine andere Tätigkeit suchen; man werde ihr hierbei behilflich sein – nicht etwa bei der Abwehr der Übergriffe jenes Predigers und seiner Gefolgsleute. Die Angestellte pochte jedoch auf ihre Bürgerrechte, ging gerichtlich gegen die eifrigen Schariaanhänger vor und hatte das Glück, einen Richter zu finden, der nicht der Religionsfreiheit den Vorrang vor den Grundrechten des Individuums einräumte.48 „Wir haben es verlernt, gegen die Zumutungen der Religionen zu kämpfen, die über den Rahmen des Spirituellen hinausgreifen. Das ist das Lösegeld, das wir für den Religionsfrieden gezahlt haben, den wir eindeutig dem Laizismus verdanken. Wir leben in der Epoche der weichen und wohlwollenden Staatsautorität, die den pädagogischen Tugenden das letzte Gesetz des Handelns zuschiebt – ‚lieber überzeugen als zwingen‘ lautete der Weisheit letzter Schluß in der Kopftuchaffäre. Auf diese Weise bekräftigt man das islamische Verständnis von den Beziehungen mit den Andersgläubigen, das durch eine ‚Einbahnstraßentoleranz‘ gekennzeichnet ist.“ Es verhält sich so, als hätte man die Verkehrspolizei damit beauftragt, die Beachtung der Verkehrsampeln durchzusetzen, ihr allerdings gesagt, im Falle von Verstößen müsse sie darauf verzichten, ein Protokoll aufzunehmen, da es besser sei, Erläuterungen zu geben als zur Regeltreue zu zwingen.49 Mit diesen Sätzen beschreiben zwei französische Autorinnen die von Blindheit und Angst beherrschte Haltung der politischen Klasse ihres Landes gegenüber den mit anschwellender Lautstärke vorgetragenen Forderungen von Muslimen, die den freiheitlichen Rechtsstaat als ein gottloses Teufelswerk vereinem Bericht über drei Konferenzen der Konrad-Adenauer-Stiftung in FAZ, 5. November 2010, Seite 10). Dieses Vokabular ist offenbar so anders, daß man ihn zu DDR-Zeiten für einen Vorläufer des Marxismus hat halten können (vgl. den Aufsatz von Höpp in D. Sturm (Hg.): Ibn Ëaldūn und seine Zeit, Halle / Saale 1983, 47–60). 47 Sema Meray: Wir verschließen die Augen, in: Mut, Nr. 516 (Oktober 2010), 19–21. 48 Bericht in FAZ, 4. November 2010, S. 6. 49 Kaltenbach, Jeanne-Hélène / Tribalat, Michèle: La République et l’islam. Entre crainte et aveuglement, Paris 2002, 135.
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werfen. Nachgiebigkeit in einem scheinbar nebensächlichen Fall zieht nur zu leicht ein weitergehendes Verlangen nach sich. Verpflichtet sich eine Werksküche, künftighin nur noch Gerichte ohne Schweinefleisch auszugeben, dann folgt das Begehren, auch den Ausschank von Bier und Wein zu unterbinden, da ein Muslim, der dem Genuß von berauschenden Getränken tatenlos zusieht, sein Heil gefährde; es muß also für die „Ungläubigen“ ein separater Speiseraum geschaffen werden. Dem schließt sich die Forderung an, daß das dort verwendete Geschirr, da es mit unreinen Speisen in Berührung gekommen ist, auch im sauberen Zustand nicht in den „muslimischen“ Eßsaal gelangt.50 Von der politisch-medialen Klasse weitgehend unbeachtet, entsteht so in Westeuropa innerhalb der Gesellschaft ein abgesonderter Bereich, in dem die allgemein anerkannten Normen des freiheitlichen Rechtsstaates nicht nur fortwährend in Zweifel gezogen, sondern als minderwertig, weil eben nicht auf Allahs „ewig wahren“ Äußerungen fußend, verunglimpft werden. In Großbritannien entbrannte 2008 ein lebhafter Disput über die Frage, ob die Scharia zur Schlichtung von Streitfällen herangezogen werden dürfe, an denen Muslime beteiligt sind. Der Erzbischof von Canterbury hatte sich in diesem Sinne geäußert. Der Lord Chief Justice, der Vorsitzende des Londoner Obergerichts, vertrat zur selben Zeit die Auffassung, es gebe keinen Grund, die Scharia oder ein anderes auf einer Religion basierendes Rechtssystem nicht zur Grundlage von Vermittlungen oder anderen Verfahren der Beilegung von Konflikten heranzuziehen. Nun geht es bei Vermittlungen um den Interessenausgleich zweier streitender Parteien; der Schlichter leitet deren Verhandlungen, hat aber nicht das Recht, seine Sicht der Angelegenheit als die maßgebliche durchzusetzen. Davon zu unterscheiden ist das Schiedsverfahren, das sich auch an fremden Systemen orientieren darf. Seine Urteile können bei den Zivilgerichten registriert werden und auf diese Weise Rechtskraft erlangen. Die Schiedsgerichtsbarkeit erstreckt sich jedoch ausdrücklich nicht auf Strafsachen und auch nicht auf Fragen der Ehescheidung und des Sorgerechts. Das Muslim Arbitration Tribunal, eine bereits an vielen Orten in Großbritannien tätige inoffizielle Organisation, sah sich durch Äußerungen wie die eben zitierten zu einer nunmehr halboffiziellen Einrichtung der Rechtspflege erhoben, die befugt ist, das Scharia 50 Ebd., 258 f. Die Einrichtung eines getrennten Speiseraums wurde in einem Fetwa gefordert, das auf einen angeblichen Ausspruch des Engels Gabriel zurückgreift, der Mohammed versichert haben soll, Allah verfluche nicht nur denjenigen, der Wein trinke, sondern auch alle, die auf irgendeine Weise damit zu tun hätten (AÎ mad b. Í anbal: Musnad, neue Ausgabe, Nr. 2899; alte Ausgabe, I, 316). Das Bundesarbeitsgericht hat sich die Aussagen dieses Hadithes jüngst zueigen gemacht: Ein in einem Supermarkt angestellter Muslim darf nicht mit dem Stapeln von Bierkästen beschäftigt werden (FAZ vom 25. Februar 2011, S. 1).
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recht unter den Muslimen Großbritanniens durchzusetzen. Hierbei werden die Grenzen der Zuständigkeit, die der Schiedsgerichtsbarkeit gesetzt sind, schlicht ignoriert.51 Es werden Fetwas verbreitet, deren Inhalt den Prinzipien eines den Menschenrechten verpflichteten freiheitlichen Staates hohnsprechen. Wie sollen die vielen Muslime, die die Bedeutung dieser Tribunale nicht sachgemäß einzuschätzen vermögen, sich deren angemaßter Autorität entziehen? Eine Sammlung von Fetwas jener Institute zeigt, wie sehr sie das Recht Großbritanniens mißachten. Es sei nicht nötig, eine Eheschließung nach den hier geltenden Gesetzen vorzunehmen. Eine Christin, die mit einem Muslim eine Ehe vor dem Standesamt schloß, stellte verwundert fest, daß Glaubensgenossen ihres Mannes sie als unverheiratet betrachteten. So sei es in der Tat, beschied sie ein Shaykh Muhammad Salih al-Munajjid; gültig sei allein eine nach den Regeln der Scharia vereinbarte Ehe.52 Daher ist nach Ansicht der Tribunale die Polygamie selbstverständlich zulässig, und dem Ehemann steht es zu, seine Frau(en) zum Geschlechtsverkehr zu zwingen.53 Ebenso darf er seiner Frau verbieten, die Wohnung allein zu verlassen. Eine Ehefrau war auf Anraten ihrer Eltern aus der Wohnung des Ehemannes ausgezogen, da es zu Zerwürfnissen mit dessen Verwandten gekommen war, während sich dieser als Gastarbeiter in den Golfemiraten aufhielt. Ein Akt der „Illoyalität“ gegenüber dem Ehemann berechtigt diesen zudem, die Unterhaltszahlungen einzustellen.54 Gilt nur die schariatische Form der Eheschließung, dann natürlich auch die schariatische Form der Scheidung: Es genügt, wenn der Ehemann sie dreimal ausspricht, und wäre es im Affekt. Die Ehe kann nur wiederhergestellt werden, indem die Frau zuvor einen anderen Mann heiratet, mit ihm Geschlechtsverkehr hat und danach verstoßen wird. Wie immer man diese Regelung beurteile, sie sei nun einmal ein Befehl Allahs.55 Der Regelungsanspruch der Scharia-Tribunale reicht aber weit über das Eherecht hinaus. Darf ein Arzt den Leib von Patientinnen betrachten oder gar berühren? Und wie soll er sich verhalten, wenn ein Antidiskriminierungsgesetz Großbritanniens ihn zum Behandeln von Frauen zwingen sollte? Nur die Körperpartien darf er anschauen oder betasten, deren Untersuchung unumgänglich ist; er muß dabei völlig frei von jeglicher Wollust sein. Am 51 Denis MacEoin: Sharia Law or One Law for All?, London 2009, Vorwort. In Deutschland sind die Verhältnisse nicht viel anders, wie das 2011 veröffentlichte Buch von Joachim Wagner: Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, belegt. 52 MacEoin, op. cit., 101, 117. 53 Ebd., 75 f., 84, 102, 110, 115. 54 Ebd., 108 f., 112. 55 Ebd., 83 f., 93 f.
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besten wäre es, wenn er für sich eine Freistellung von den Bestimmungen eines Antidiskriminierungsgesetzes erwirkte. – Im Erbfall gilt allein das schariatische Erbrecht. – Es ist verboten, Versicherungsverträge einzugehen; nach der Scharia sind Versicherungen unter drei Gesichtspunkten untersagt: Sie sind mit Zinsen, Glücksspiel und Ungewißheit über den Vertragsgegenstand verbunden. – In der Polizei darf man nur Dienst tun, wenn sichergestellt ist, daß man nie einen Befehl erhält, der gegen islamische Lehren verstößt. Im übrigen sollten die Muslime gegen die USA den Dschihad führen.56 – Immer wieder wird in den Fetwas die Auffassung deutlich, daß die Scharia den Vorrang vor dem britischen Recht habe. Einem muslimischen Absolventen der Ausbildung zum Juristen gibt man mit auf seinen Berufsweg: „Die Rechtspflege darf nur innerhalb der Grenzen der Scharia erfolgen. Es ist einem in diesem Beruf nicht gestattet, Rechte zu verteidigen, die nicht mit dem Islam vereinbar sind, z. B. Zinszahlungen einzufordern oder für die Rechte von Homosexuellen und / oder Lesbierinnen zu kämpfen.“57 Im Falle einer muslimischen Ehefrau, die unter Berufung auf das Schweizer Recht Unterhaltszahlungen von ihrem Ehemann, von dem sie sich getrennt hatte, einklagen wollte, wurde kategorisch festgestellt: „Es ist nicht statthaft, nach etwas anderem als der Scharia Allahs zu urteilen“ und „Man darf sich nicht den von Menschen gemachten Gesetzen zuwenden, um jemanden daran zu hindern, Dinge zu tun, die Allah erlaubt hat.“58 Selbst die koranischen Strafen, etwa die Steinigung zur Ahndung des Ehebruchs, sind in Großbritannien keineswegs aufgehoben: „Die Muslime sollten in dieser Frage mit Güte und Klugheit vorgehen. Das impliziert jedoch nicht, daß man diese Strafen auf sich beruhen läßt oder gar aufhebt. Diese Strafen stellen einen Teil des Islams dar und können nicht widerrufen werden.“ Der Vollzug koranischer Strafen müsse aufgeschoben werden, sie dürften aber nicht aufgegeben werden, wie der Frager zu empfehlen scheine.59 Natürlich hat die politisch-mediale Klasse Ausflüchte gefunden, die es ihr ermöglichen sollen, denjenigen ins Unrecht zu setzen, der unter Verweis auf Fakten wie die eben angeführten auf die uneingeschränkte Geltung der Gesetze und der Leitkultur des demokratischen Rechtsstaates pocht und Vorschläge unterbreitet, die die Ausweitung der islamischen Parallelgesellschaften rückgängig machen sollen. So wird unweigerlich hervorgehoben, daß doch nicht alle Muslime solcherlei Fetwas einholen; überdies sei ungewiß, welche Wirkungen sie hätten und ob sich überhaupt jemand daran halte. Die Ungewißheit besteht in der Tat; denn über vielerlei Gegenstände 56 Ebd.,
77, 82 f., 98–100, 107, 120 f. 94 f., 104, 126. 58 Ebd., 118 f. 59 Ebd., 119. 57 Ebd.,
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werden statistische Erhebungen vorgenommen, hierüber jedoch bis jetzt nicht. Zu betonen ist freilich, daß es sich um die Aussagen der Meinungsführer handelt,60 die durch muslimische Organisationen gestützt werden. In Deutschland war es der Zentralrat der Muslime (ZMD), der im Jahre 2002 eine sogenannte Charta veröffentlichte, die den Begriff der Integration mit neuem Inhalt zu füllen beabsichtigte: Die Muslime werden integriert sein, sobald sie auch in Deutschland nach den Bestimmungen des Korans und der Sunna des Propheten leben werden.61 Es war mithin eine Verlautbarung, die sich nicht nur an Politiker und an die Presse richtete, sondern gerade auch die politisch uninteressierten Glaubensgenossen wachrütteln und zur Opferbereitschaft für den Islam, nämlich für seine Wortführer, anspornen sollte. Der Erfolg gibt dem ZMD und anderen Islamverbänden recht: Sie waren zur Deutschen Islamkonferenz geladen und galten der Ministerialbürokratie als die eigentlichen Vertreter des Islams; die Stimmen einzelner muslimischer Intellektueller, die bewußt für unser freiheitliches, säkularisiertes Gemeinwesen eintraten, fanden immerhin Gehör, waren aber meistens unwillkommen und wurden aus der zweiten Islamkonferenz ausgeschlossen, die nach der Bundestagswahl 2009 organisiert wurde. Und die vielen noch unpolitischen ritentreuen Muslime, die es von den Vorzügen unserer politischen Zivilisation zu überzeugen gälte? Sie hatten und haben keine Stimme; man duldet es, daß sie die Zielgruppe der Verbandsaktivitäten bilden.62 Nicht alle Muslime wollen nach der Scharia leben; deswegen braucht man die Versuche der Wortführer des Verbandsislams, sie zu einem Leben gemäß der Scharia zu drängen, nicht ernstzunehmen. Diese Scheinlogik der politisch-medialen Klasse wird oft durch eine pseudowissenschaftliche Schlaumeierei garniert: Es gebe einen himmelweiten Unterschied zwischen 60 Vgl.
Kaltenbach / Tribalat, op. cit., 238 f. dazu unten, dritter Abschnitt, Text V. 62 Am 23. Februar 2011 veröffentlichten die Landesregierung von NRW und der Koordinierungsrat der Muslime Deutschlands (KRM) eine gemeinsame Erklärung zum einzuführenden islamischen Religionsunterricht. Die Landesregierung gesteht dem KRM das Recht zu, die Mitglieder des Beirats zu bestimmen, der der institutionelle Partner des Landes bei der inhaltlichen Ausgestaltung des islamischen Religionsunterrichts sein wird. NRW verpflichtet sich, die Bemühungen der im KRM zusammengeschlossenen politisch-religiösen Lobbyverbände zu unterstützen, den Status einer Religionsgemeinschaft zu erlangen. Bei den Verbänden handelt es sich um den deutschen Ableger (DITIB) der staatlichen türkischen Religionsbehörde sowie um den Verband der islamischen Kulturzentren in Deutschland (VIKZ), den Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD) und den Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD); allen diesen Organisationen sind muslimische Mitbürger, die sich vom Diktat der Scharia befreien wollen, ein Dorn im Auge. Über die Beschaffenheit der durch die Islamverbände kontrollierten „wissenschaftlichen“ Religionslehre unterrichtet u. a. der Artikel von Hans-Thomas Tillschneider: Fragwürdiges Plädoyer für eine infantile Theologie (FAZ vom 7. Juni 2013, S. 7). 61 Vgl.
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dem toleranten Volksislam und dem schariagebundenen Islam der Gelehrten und Verbandsfunktionäre. In der Tat konzentriert sich die Religiosität des muslimischen Arbeiters und Angestellten auf den Vollzug der Riten; er liest den Koran, kennt vielleicht die „schönsten Hadithe“ in der Auswahl anNawawīs (gest. 1277) und weiß einiges von den hagiographischen Erzählungen über Mohammed. Die Frage, inwieweit die Politik, die Wirtschaft, die Jurisprudenz des Landes, in dem er wohnt, den Regeln der Scharia folgen, berührt ihn selten unmittelbar. Deswegen verhält er sich ihr gegenüber gleichgültig, was eine falsche Wahrnehmung zu der Ansicht verleitet, sein Islam sei „tolerant“. Es gibt aber keinen toleranten Islam, sobald jene Fragen auf das Tapet gebracht werden. Es gibt keine toleranten volksislamischen Aussagen zum Geltungsanspruch des Islams in Staat und Gesellschaft, sondern eben einzig und allein die diesbezüglichen Lehren der Scharia.63 Sie sind der Gegenstand, mit dem sich die Gelehrten und die muslimischen Politfunktionäre befassen. Wenn der schlichte ritentreue Muslim sich über dieses Sachgebiet informieren, wenn er hier gar sein Denken und Verhalten entsprechend seinem Glauben formen will, dann steht ihm nichts anderes zur Verfügung als eben das, was die Schariakenner lehren und was sich in Texten wie den zitierten Fetwas niederschlägt. Die Situation ähnelt den sprachlichen Verhältnissen in der arabischen Welt: Unterhält man sich über den Alltag, wählt man den Dialekt; geht es um die Politik, die Religion, die Philosophie, muß man auf den hocharabischen Wortschatz des einschlägigen Schrifttums ausweichen, denn hier gibt es kaum dialektspezifische Wörter. Irreführend wie die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Volksislam und Gelehrtenislam ist übrigens der mindestens ebenso oft beschworene angebliche Unterschied zwischen dem als streng und verknöchert charakterisierten „Gesetzesislam“ und dem milden, toleranten Sufismus. Fast reflexhaft verweisen manche Publizisten auf den Sufismus, sobald die Sprache auf die Scharia und deren Untauglichkeit für ein an den Menschenrechten 63 Deren alltägliche Konsequenzen werden übrigens in einer ausufernden Traktätchenliteratur unter die Leute gebracht. Man gehe einmal in Kairo in einem „Volksislam“-Viertel zum Friseur und vertreibe sich die Wartezeit mit der Lektüre der aufliegenden Fetwa-Heftchen! Ein populärer Prediger und Gelehrter wie ašŠaÝrāwī erreichte mit seinen zwischen Dialekt und Hocharabisch schwankenden Predigten und Fetwas ein Millionenpublikum, übrigens auch bei arabischsprachigen muslimischen Familien in Europa. Dies gilt auch für Jusuf al-Qaradawis in der islamischen Welt weitverbreitetes, seit 1989 auch auf deutsch in mehreren Auflagen publiziertes Schariahandbuch „Erlaubtes und Verbotenes im Islam“. Daß einzelne muslimische Denker versucht haben, den Geltungsanspruch der Scharia – wohl nicht des Islams – zu relativieren, ist mir bewußt. Ich habe aber noch nicht bemerkt, daß etwa die Vorstellungen NaÒr Íāmid Abū Zaids (1943–2010) über den Seinsstatus der Rede Allahs, die einen der Grundpfeiler des Sunnitentums in Frage stellen, einen Widerhall im sogenannten Volksislam gefunden hätten.
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orientiertes Gemeinwesen kommt. Da es den Sufismus gebe und dieser so überaus tolerant sei, erübrigten sich alle Bedenken gegen ein Vordringen des Islams in Europa. Es gibt aber weder eine sufisch-islamische Staatslehre noch ein sufisch-islamisches Recht. Vielmehr setzt die sufische Frömmigkeit die strenge Befolgung der Scharia voraus (vgl. Abschnitt A., Text V). Sie will deren Regeln so weit im einzelnen Muslim verankern, daß er in absolutem Gehorsam gegen Allah sein Ich abstreift, „in Allah entwird“, wie man sagt, und dadurch die Hinwendung seines Selbst zu Allah, den islām,64 vollendet. Idealtypisch soll natürlich Mohammed diese Lebenshaltung verkörpert haben, und da er recht oft gegen Andersgläubige Krieg führte, zählt die Ausübung von Waffengewalt zu den geschichtlichen Erscheinungsformen des Sufismus. Dieses sufische Gedankengut beflügelte beispielsweise die auf den Balkan vorrückenden Truppen der Osmanen, ja, prägte den Gründungsmythos dieser Dynastie.65 Inspirierter Überschwang sowie das Bedürfnis, das „Entwerden in Allah“ nicht nur auf dem mühevollen Weg der Überbietung schariatischer Vorschriften zu erfahren, sondern eine Ekstase auch durch den Gebrauch anderer Mittel – Rauschmittel, Musik, schnelle und andauernde Drehung des Körpers – herbeizuführen, zogen dem Sufismus die Kritik mancher Schariagelehrten zu. Aus diesem Umstand zu schließen, der Sufismus sei ein Gegner des „Gesetzesislams“, ist nicht zu rechtfertigen. Kommen wir nun auf die breite Masse der in Deutschland bzw. Westeuropa eingewanderten Muslime zurück! Sie machen den Islam aus, der laut der vorhin zitierten Rede des Bundespräsidenten zum Tag der deutschen Einheit 2010 nunmehr ein Teil Deutschlands ist. Sie wissen kaum etwas von den intellektuellen Anstrengungen einzelner Glaubensbrüder um die Quadratur des Kreises, nämlich um die inhaltliche Anpassung der Scharia an die Grundlagen eines säkularisierten Rechtsstaates bei gleichzeitiger Bewahrung des absoluten Wahrheitsanspruchs wenigstens des Korans, möglichst aber auch des Hadith. Sie wissen hingegen, daß die islamische Lebensweise die einzig richtige ist, eben weil sie sich unmittelbar aus Allahs Rede ergibt. Wie weit diese Lebensweise ihren Alltag bestimmt, bleibt offen. Man kann sich mit den Verhältnissen in einem „ungläubigen“ Land arrangieren, wenn man sich vorwiegend im Kreis von Glaubensgenossen bewegt. Dann läßt sich die von den Moscheepredigern hervorgehobene Gottlosigkeit, ja Widergöttlichkeit eines säkularen Staates ertragen, der irgendwann „am Ende“ 64 Vgl.
hierzu unten Abschnitt A., Text II. einen Einblick in diese Mentalität zu bekommen, lese man Richard F. Kreutel (Übers.): Vom Hirtenzelt zur Hohen Pforte. Frühzeit und Aufstieg des Osmanenreiches nach der Chronik „Denkwürdigkeiten und Zeitläufte des Hauses ÝOsman“ vom Derwisch Ahmed, genannt ÝAşık-Paşa-Sohn, Graz 1959 (Osmanische Geschichtsschreiber 3). 65 Um
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dem Islam wird weichen müssen. So hat man es seit den Kindertagen immer wieder gehört. Mit Schaudern mag man auch davon gehört haben, daß einzelne Muslime die Religion auf die Ritualpraxis beschränken wollen,66 aber diese Vorstellung ist zu frivol, als daß man sich mit ihr befassen müßte! Damit könnte es sein Bewenden haben – aber sind nicht Situationen denkbar, in denen Ratschläge willkommen sind, wie sie in den vorhin zitierten Fetwas gegeben werden? Mit fahrlässiger Duldung durch die Mehrheit der Angehörigen der politisch-medialen Klasse nicht nur in Deutschland verändert eine an Zahl bedeutende Minderheit ihren Charakter: Aus einer Bevölkerungsgruppe, die die Segnungen eines freiheitlichen, sozialen Rechtsstaates wie selbstverständlich genießt und zu deren materieller Sicherstellung im Rahmen des geltenden Rechts beiträgt, wird ein Fremdkörper, der die ihn umgebende Gesellschaft als unrein und von falschen Gesetzen bestimmt wahrzunehmen beginnt – ein Fremdkörper überdies, dem von Allah die Aufgabe zugedacht ist, der „Wahrheit“ zum Durchbruch zu verhelfen. Dem allen zuzusehen, ohne energisch auf die uneingeschränkte Beachtung des eigenen, europäischen Staatsverständnisses der Neuzeit zu pochen, führt in Konflikte hinein, deren Umstände man sich lieber nicht ausmalt. Doch auch auf andere Weise gefährdet die politisch-mediale Klasse, die auf die unentwegte Bekräftigung ihrer moralischen Überlegenheit nicht verzichten mag, den inneren Frieden. Ihr Schweigen oder, wenn sich der Unmut der nichtmuslimischen Bevölkerung über muslimische Anmaßungen doch einmal Luft verschaffen sollte, ihre Beschwichtigungsversuche beschleunigen den Verlust des Vertrauens der Bürger auf die Regierenden, ohne das ein freiheitliches Gemeinwesen keinen Bestand haben kann. Die Energiepolitik, die Finanzpolitik, die Europapolitik und eben auch die Integrationspolitik sind wichtige Bereiche einer Regierungstätigkeit, die, so empfindet es der von den Maßnahmen betroffene Bürger, von seinen legitimen Interessen nicht mehr oder unzureichend Kenntnis nimmt. Den Unmut hierüber äußert er, wie jene Klasse zu wissen glaubt, am von ihr verachteten „Stammtisch“, jenem Ort, an dem die Sorgen besprochen werden, die sie nicht jucken. Der Verzicht auf eine an den Interessen der aufnehmenden Bevölkerung ausgerichteten Integrationspolitik ist ein wesentlicher Faktor der grassierenden Politikverdrossenheit, die die Fundamente unserer Demokratie untergräbt. Der Verfasser weiß, daß diese Zeilen und dieses Buch nichts bewirken können. Darauf zu rechnen, wäre vermessen. Ohnehin kommt ein hervorra66 Dies ist die Konsequenz, die beispielsweise aus den Büchern von Frau Kelek zu ziehen ist; klar ausgesprochen wird dies von Hamed Abdel-Samad in seinem Buch „Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose“, München 2010.
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gender Kenner der Einwanderungspolitik nach Sichtung der Fakten zu dem ernüchternden Ergebnis, daß die gesetzlichen Möglichkeiten zur Auswahl der Personen, die nach Deutschland kommen wollen, längst verspielt sind.67 Wenn Politiker beteuern, künftig werde man nach dem Vorbild Kanadas nur noch gut ausgebildeten Menschen die Einwanderung gestatten, dann handelt es sich um leere Worte. In dieser Lage kann es nur noch darum gehen, denjenigen Argumente an die Hand zu geben, die den Mut haben, wahrzunehmen, welche Gefährdung unserer politischen Kultur aus der ihr wesensfremden des Islams erwächst. Ein vermehrtes Wissen vom Islam verringert die Scheu, den oft haltlosen Behauptungen seiner Sachwalter entgegenzutreten. Zugleich erschwert man es den Advokaten der politischen Korrektheit, ihre auf Tabus und Denkverboten beruhende scheinbare moralische Überlegenheit auszuspielen. Wer unseren säkularen Staat im Disput mit einem schariagebundenen Muslim verteidigt – und dazu will dieses Buch ermuntern –, der lasse sich auf dessen Denkweise ein! Es genügt oft, sich die Koranstellen zeigen zu lassen, auf die jener sich im konkreten Fall beruft, und man lese dann, was darauf folgt und was vorausgeht, meist genügt schon das, um die Behauptung zu widerlegen, der Islam, „tauglich für jeden Ort und jede Zeit“,68 sei einem freiheitlichen, säkularen Rechtsstaat wahlverwandt. Vor allem aber ist es unerläßlich, sich Klarheit über die Grundzüge unserer eigenen politischen Kultur zu verschaffen, die niemals rein religiöser Natur und daher auch niemals mit theokratischen Prinzipien zu vereinbaren waren. Schon in der antiken Polis konnte sich keine Theokratie herausbilden, und die römische Herrschaft in Judäa war nicht in der Lage, mit der theokratisch argumentierenden jüdischen Priesterschaft zu Vereinbarungen von gleich zu gleich zu gelangen.69 Jesus dagegen erkannte die Legitimität einer nicht von Gott eingesetzten Staatsmacht ausdrücklich an, desgleichen Paulus, und Augustinus warnte davor, das christlich gewordene Römische Reich mit dem künftigen Reich Gottes zu verwechseln. Bis zu dessen Anbruch ist jegliche Staatlichkeit Menschenwerk und fehlbar. Mohammed dagegen pochte auf die Endgültigkeit und für ewige Zeiten unanfechtbare Wahrheit der von ihm 67 Stefan
S. 8.
68 Eine
Luft: Einwanderung ohne Steuerung, in FAZ vom 17. November 2010,
unter schariagebundenen Muslimen beliebte Floskel (vgl. dazu unten, Abschnitt C.). 69 So lautet die Quintessenz der Vorträge der Althistoriker Egon Flaig und Kai Trampedach, die im Oktober 2010 während des Heidelberger Symposiums „Im Namen Gottes. Das theokratische Argument und seine politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich“ gehalten wurden (Theokratie und theokratischer Diskurs, herausgegeben von Kai Trampedach und Andreas Pečar, Tübingen 2012, 75–100 und 117–142).
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verkündeten religiösen, gesellschaftlichen und machtpolitischen Bestimmungen, die er als Allahs unmittelbare Rede verstand. Was er predigte, lief auf die Errichtung des Reiches Gottes hier und jetzt hinaus. Wäre es nicht seltsam, wenn die aus solchen Voraussetzungen hervorgegangenen Vorstellungen von Staat, Religion und Gesellschaft einen säkularen Staat nach europäischem Muster ertrügen, wie er schließlich aus dem Christentum hervorging, das das Erbe des römischen Rechts in sich aufgenommen hatte?
A. Grundsätzliches über den Islam Einführung 1. Der eine Allah und die „Religion des Verstandes“ Macht die Liebe zum Forschungsgegenstand den Gelehrten blind, dann verfällt er auf merkwürdige Gedanken: Anders, als im Streit um die Vereinbarkeit des Islams mit säkularer Staatlichkeit und Gesellschaft immer wieder gefordert werde, brauche der Islam keinesfalls eine Aufklärung zu durchlaufen, meint der Religionswissenschaftler Bernhard Uhde. Denn der Islam sei seinem Selbstverständnis gemäß „Aufklärung“. In Sure 4 werde versichert, der Messias Jesus sei es zufrieden, Allahs Knecht zu sein; er beanspruche nicht die Göttlichkeit (Vers 172). Was seien diese Worte anderes als eine Aufklärung über den Selbstwiderspruch des Christentums? Der Islam trage, da er die Dreifaltigkeit verwerfe, eine „widerspruchsfreie Wahrheit“ vor, „die jedem mit dem Verstande Beschenkten einsehbar ist, jenem Verstand, der alle Menschen auszeichnet“. Uhde greift hier die Vorstellungen auf, mit denen Muslime in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Eingottglauben als die Religion rühmten, die der höchsten Entwicklungsstufe der Menschheit angemessen sei: Der allein durch seinen Verstand geleitete Mensch erkenne zwangsläufig, daß es nur einen allmächtigen und allwissenden Schöpfergott geben könne. Das Christentum mit seiner Lehre von der göttlichen Dreifaltigkeit stehe für eine niedrigere Stufe, auf der die Menschen noch nicht dem Verstand zu folgen vermöchten, sondern ihren Emotionen überantwortet seien (vgl. Abschnitt B., Text I). Indem der eine Allah im Koran selber spreche und sich dabei auf den Verstand berufe, den er dem Menschen anerschaffen hat, stifte er eine Ethik, „die als Praxis nachvollziehbar (ist) und überlieferbar, weil verstandesbegründet in der Praxis des Propheten“, meint Uhde im Einklang mit den Ideen der eben angesprochenen muslimischen Apologetik. Mohammed hat nach islamischer Überzeugung unter ständiger Anleitung durch Allah gehandelt. Der Verstand muß also dem Menschen nahelegen, daß die Nachahmung der Praxis des Propheten die Erfüllung der gottgewollten Ethik gewährleiste. „Dies ist die Auffassung des Islam, der damit eine Art ‚Aufklärung‘ gegenüber Christentum und Judentum vollzieht.“1 Da die 1 Der Koran. Vollständig übersetzt von Ahmad Milad Karimi, Freiburg 2009, 544. Uhde bezieht sich hier auf zwei Aufsätze aus eigener Feder: Christentum und
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Muslime sich im Besitz einer widerspruchsfreien verstandesgemäßen Wahrheit wissen, entbehrt die Forderung, sie hätten die europäische Aufklärung „nachzuholen“, um den Anschluß an die moderne Welt zu finden, des Sinnes; sie sind schon aufgeklärt. Indessen übersieht Uhde, daß der Verstand, mit dem Allah den Menschen begnadete, gerade nicht befugt ist, aus den Sachverhalten und Vorgängen, die er in der Welt wahrnimmt, eigene Schlüsse zu ziehen. Abraham erkennt, daß Sonne, Mond und Sterne keine anbetungswürdigen Gottheiten sind, da sie untergehen, ihnen mithin ein beständiges Sein fehlt. Aber dieses Verstandesargument ist für das Verbot, sie zu verehren, allenfalls zweitrangig. Entscheidend ist, daß Abraham durch Allah ausdrücklich zu jenem Verstandesargument hingeführt wurde (Sure 6, 75) und daß Allah keine Vollmacht zum Kult der Gestirne herabgesandt hat (Sure 6, 81). Von einer Religion des selbstverantworteten Gebrauchs des Verstandes kann mithin keine Rede sein, und von Aufklärung als einer Überwindung selbstverschuldeter Unmündigkeit erst recht nicht! Als Allah aus Ton die Gestalt Adams geschaffen hatte, befahl er den Engeln, vor ihr niederzufallen. Sie gehorchten – bis auf den Satan, der die Proskynesis vor dem leblosen tönernen Körper verweigerte; er, ein Engel, sei aus Feuer geschaffen und daher von edlerer Natur als jene Gestalt. Jemanden außer dem Schöpfer anzubeten ist nach islamischer Vorstellung die schlimmste Sünde. Doch wenn Allah eine solche Handlung wünscht, dann sind Erwägungen des Verstandes unzulässig. Der Satan wurde des Paradieses verwiesen, weil er sich auf den eigenen Verstand verlassen hatte (Sure 7, 11–17 und Sure 15, 26–34). So ist denn die im Koran verkündete und durch Mohammed vorgelebte Wahrheit nur unter der Voraussetzung widerspruchsfrei, daß man ohne eigenes Räsonieren den auf Allah zurückgeführten Normen gehorcht. In diesem Zusammenhang von Aufklärung zu sprechen, ist absurd. Der eine Allah ist ein Despot, und der Verstand rät dem Menschen, diesen Despoten nur ja nicht zu reizen. In der islamischen Theologie hat man verzweifelt um die Beantwortung der Frage gerungen, was denn überhaupt die Aufgabe des Verstandes in einer Welt sein könne, die dessen Einsatz in zweierlei Hinsicht ins Leere laufen läßt: In fortwährender Schöpfung gestaltet Allah den Weltenlauf und das Lebensschicksal aller Lebewesen, aber wie er dabei vorgeht und warum so und nicht anders, das vermag Neuzeit – Neuzeit und Islam? oder Bedarf der Islam einer Aufklärung? Bemerkungen zu einem Missverständnis, in: Wilhelm Metz / Karlheinz Ruhstorfer (Hgg.): Christlichkeit der Neuzeit – Neuzeitlichkeit des Christentums. Zum Verhältnis von freiheitlichem Denken und christlichem Glauben, Paderborn 2008, 179 ff. sowie Islamischer Glaube versus christliche Kultur. Zur Kritik an der These vom Aufklärungsbedarf des Islam, in: Thomas Böhm (Hg.), Glaube und Kultur. Begegnung zweier Welten?, Freiburg 2009, 141 ff.
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der Verstand des Menschen grundsätzlich nicht zu entschlüsseln; die Normen des rechten Verhaltens in dieser Welt werden ebenfalls unmittelbar von Allah gestiftet und stehen in keinem begreifbaren Verhältnis zu den Erscheinungen des fortwährenden Schöpfungsvorganges. So bleibt dem Verstand einzig die Aufgabe, zu erkennen, daß es ihm verwehrt ist, eigenständig und unabhängig von den autoritativen Aussagen Allahs das Wesen dieser Welt zu ergründen und nach Normen für das Verhalten des Menschen in ihr zu suchen. Der Verstand hat den Menschen dazu anzuhalten, sich ohne Widerspruch dem Walten des einen Allah zu fügen, die Gebote des Korans zu befolgen und das überlieferte Vorbild des Propheten nachzuahmen. Der sogenannte Thronvers (Sure 2, 255) ist die unzählige Male rezitierte und in gottesfürchtiger Versunkenheit erwogene Verdichtung des muslimischen Eingottglaubens: „Allah. Es gibt keinen Gott außer ihm! Er ist der Lebendige, (in sich selber) Beständige. Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Wer ist es, der bei ihm Fürsprache einlegen dürfte ohne seine Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen und was hinter ihnen ist; sie aber erfassen von seinem Wissen nur das, von dem er es will. Sein Fußschemel umschließt die Himmel und die Erde. Beides zu bewahren, strengt ihn nicht an. Er ist der Hohe, Gewaltige!“ Der hier bezeugte Glaube, Allah sei ein Schöpfergott, der niemals ruhe, unterscheidet den Monotheismus des Islams im Grundsätzlichen von dem des Judentums und Christentums.2 Auch im islamischen Rationalismus bleibt Allah der ununterbrochen alles schaffende und lenkende Gott. Damit der Verstand die ihm eigene analysierende und Normen erschließen2 Ich habe mich daher entschieden, den islamischen Schöpfergott stets Allah zu nennen. Im christlich-islamischen Dialog wird zwar hiergegen immer wieder vorgebracht, Allah sei ein Eigenname, dessen Gebrauch die Gleichartigkeit des für die Juden, Christen und Muslime charakteristischen Monotheismus verdunkele; es sei anstelle Allahs von Gott zu sprechen. Dem ist entgegenzuhalten: Auch „Gott“ im jüdischen und christlichen Gebrauch ist kein Appellativum, sondern trägt zumindest Züge eines Eigennamens. „Am Anfang schuf Gott …“ heißt es – ohne Artikel – und nicht: „Am Anfang schuf der Gott …“ Wichtiger ist aber, daß, wie dargelegt, die muslimischen Quellen selber gegen den am siebten Tag ruhenden, der Welt also ein gewisses Maß eigener Seinsmacht überlassenden Schöpfer polemisieren (außer Sure 2, 255 vgl. auch Sure 55, 29). Diesen Unterschied zu verwischen, bedeutet, den Islam in seiner Eigenständigkeit nicht ernstzunehmen. Übrigens spielt der Koran auf das Sechstagewerk nur an; eine Schöpfungsgeschichte nach Art des Alten Testaments kennt er nicht. Muslimische Gelehrte waren sich des Umstandes bewußt, daß sich eine solche Geschichte nur schwer mit dem fortwährenden Wirken Allahs vertrüge (Tilman Nagel: „Natur“ im von Allah gelenkten Diesseits, in: Böttigheimer / Fischer / Gerwing (Hgg.): Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, Münster 2008, 241–252). Ohnehin spricht nichts dafür, daß Mohammeds Monotheismus schlichtweg eine Kopie des jüdischen oder des christlichen sei (vgl. in diesem Abschnitt, Text I).
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de Funktion wahrzunehmen vermag, wurde unterstellt, daß Allahs schöpferisches Handeln stets das Wohl des Menschen anstrebe, eine vielfach im Koran belegte Ansicht (vgl. z. B. Sure 16); Allah handele grundsätzlich in einer den Interessen des Menschen dienlichen Weise. Dieser Umstand könne mittels des Verstandes nachgewiesen werden. Ferner werde Allah dem Menschen am Jüngsten Tag eine sich am Maßstab des Menschen orientierende Gerechtigkeit widerfahren lassen. Diese Thesen des Rationalismus besagten, daß die Bestimmungen des Korans mit denjenigen harmonieren mußten, die der Verstand selbständig aus innerweltlichen Kriterien herzuleiten vermochte, und zwar prinzipiell und nicht erst seit dem Auftreten Mohammeds. Die Herabsendung der göttlichen Rede, des Korans, büßte demnach ihre einzigartige Heilswichtigkeit ein. Diese Konsequenz des Rationalismus verdammte ihn dazu, die Sache einer kleinen Minderheit zu bleiben. 2. Die „rechtgeleitete“ Gemeinde Allah, der alles Diesseitige und Jenseitige nach seinem unergründbaren Ratschluß bestimmt, legt selbstverständlich auch den Inhalt der Gesetze und Normen, denen seine Geschöpfe zu gehorchen haben, nach eigenem Gutdünken fest. Er gewährt ihnen nicht die Freiheit, diesbezüglich schöpferisch tätig zu werden. Daß der Mensch selber zur Ermittlung von Normen befähigt und auch aufgerufen sei, meinte nur die kleine Schar der Rationalisten, die man unter der Bezeichnung MuÝtaziliten zusammenfaßt; schon im 10. Jahrhundert verschwanden sie fast völlig aus der islamischen Geistesgeschichte. Nach der Glaubensüberzeugung der erdrückenden Mehrheit der Muslime sind Allahs Regelungen, nach denen die mit dem Verstand begabten Menschen das Diesseits durchwandern sollen, im Koran auffindbar sowie im Hadith, d. h. in den Überlieferungen über das durch Allah „rechtgeleitete“ Reden und Handeln Mohammeds sowie über Handlungen, die dieser stillschweigend geduldet habe. Da Allah jenseits der Zeit ist, gelten die auf ihn zurückgeführten Regelungen als ewig wahr und unveränderlich. Der Koran und die Überlieferungen bilden somit das Korpus autoritativer Texte, auf denen die islamische Ethik und Jurisprudenz, die Gesellschafts- und Herrschaftslehre aufgebaut werden müssen. Die vornehmste Aufgabe muslimischer Gelehrsamkeit besteht infolgedessen darin, diesem Korpus mittels bestimmter Methoden der Textauslegung die einschlägigen Regelungen abzugewinnen. Auf den einzelnen Menschen bezogene Kriterien wie etwa Erwägungen der Billigkeit dürfen in diesem Prozeß der Entbergung des von Allah ein für allemal festgelegten Regelwerkes, der Scharia, nicht beachtet werden. Wenn für die schariatische Beurteilung eines Sachverhalts beim besten Willen und unter Aufbietung aller Künste der Rabulistik kein autoritativer Text entdeckt werden kann, dann ist hilfsweise die Frage nach dem
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Vorteil für den Islam zu stellen. Ist der genannte Sachverhalt den Belangen des Islams dienlich, so ist er zu billigen; denn es ist schlechterdings undenkbar, daß Allah nicht den Triumph des Islams in dieser Welt anstrebe. So sind die westliche Musik und die westliche Art des Tanzens schon viele Male von Schariagelehrten verdammt worden. Da es sie in Mohammeds Umfeld nicht gab, wird man keinen autoritativen Text finden, der sie auch nur erwähnt. Hingegen drängen sich viele Überlieferungen auf, die vor Musik und Gesang als den Fallstricken des Satans warnen, und der nicht durch einen Ehevertrag oder durch den Sklavenstatus der Frau legalisierte Kontakt zwischen Männern und Frauen ist Allah ohnehin ein Greuel. Demgegenüber wird man schwerlich einen muslimischen Gelehrten aufspüren, der seinen Glaubensbrüdern den Einsatz der Kalaschnikow mit dem Argument verwehrte, dieses Tötungsgerät sei Mohammed noch nicht bekannt gewesen. Daß Muslime über moderne Waffen verfügen, liegt im Interesse des Islams. Der Regelungsanspruch der Scharia ist in den ersten vier Jahrhunderten islamischer Geschichte stetig gewachsen und umfaßte schließlich über das Ritual-, das Vertrags- und das Strafrecht hinaus sämtliche Bereiche des Daseins des Menschen. Alle nur denkbaren Lebensregungen sollten durch die Scharia beurteilt und im Hinblick auf Allahs Gesetzeswillen bewertet werden können. Wer beispielsweise von Skrupeln darüber geplagt wurde, ob Allah das Schachspielen erlaube, der konnte nun dieses Problem einem Schariasachverständigen, einem Mufti, vorlegen und erhielt von diesem ein Fetwa, ein Gutachten, das ihm unter Bezugnahme auf die einschlägigen autoritativen Texte Allahs Urteil über solchen Zeitvertreib verdeutlichte. Es galt und gilt als geboten, sich an das Ergebnis zu halten, zu dem das Fetwa gelangt. So finden die Schariagelehrten nicht nur in der Gerichtsbarkeit ein weites Tätigkeitsfeld, sondern sind auch die Spezialisten der islamischen Lebensformung. Das schariatische Rechtswesen zu pflegen und eine unablässig voranschreitende innere Islamisierung zu gewährleisten, werden neben der ständigen Ausbreitung der Herrschaft des Islams als die Grundpflichten jeglicher Form von islamischer Machtausübung begriffen. Die Schariagelehrten stehen daher an der Spitze der islamischen Gesellschaft; sie sind es, die dafür sorgen, daß Allahs Aussage über die Muslime den Tatsachen entspricht: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen gestiftet wurde. Ihr gebietet, was zu billigen ist, verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah! …“ (Sure 3, 110). Jegliche Form islamischer Staatlichkeit ist ihrem durch Allah selber beglaubigten Anspruche gemäß die Verwirklichung der gottgewollten Ordnung im Diesseits. Der Gegensatz zum Christentum könnte größer und deutlicher nicht sein: In den synoptischen Evangelien wird erzählt, wie der Teufel
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Jesus versuchte, indem er ihm die Herrschaft über das Diesseits anbot. Jesus wies ihn ab: „Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen“ (Matth 4, 10). Mit weltlicher Machtausübung ist der Dienst an Gott laut Jesu Wort gerade nicht gleichzusetzen. Der Dienst an dem alles schaffenden und lenkenden Allah kann hingegen nichts anderes sein, als allen Menschen die Tatsache seiner bereits bestehenden diesseitigen Herrschaft einzuschärfen sowie deren aus den autoritativen Texten ableitbare Gestalt aufzuzeigen und mit allen Mitteln durchzusetzen. Das „Reich Allahs“ besteht bereits, das christliche „Reich Gottes“ wird erst am Ende aller Tage kommen. Die Aufrechterhaltung bzw. Festigung der Merkmale der Herrschaft Allahs bilden somit – neben der territorialen Ausdehnung islamischer Machtausübung – den Kernbereich der Tätigkeit des islamischen Staates, der als eine Theokratie zu definieren ist. Jeglicher Theokratie ist die Schwäche eigen, daß der eigentliche Herrscher, hier Allah, abwesend ist und sich auf Dauer vertreten lassen muß. Mohammed erfüllte diese Aufgabe vortrefflich; so jedenfalls mutet sein Handeln und Reden aus der Rückschau die Muslime späterer Geschlechter an. Schließlich war er es gewesen, den Allah immer wieder ansprach; zu Mohammeds Zeit war alles vollkommen. Als durch Allah rechtgeleiteter Prophet war er das zuverlässige Medium der autoritativen Texte gewesen, deren normativer Gehalt besser und besser auf den Begriff zu bringen und anzuwenden ist – das ist die niemals vollkommen lösbare Aufgabe der Schariagelehrten. Nach dem Tode Mohammeds gelang es den islamischen Machthabern nicht, mit ihrer Machtausübung die Zuständigkeit für die Auslegung der autoritativen Texte zu verbinden. Sobald die Verhältnisse der „besten Gemeinschaft“ nicht mit den aus den autoritativen Texten erschlossenen Regelungen Allahs übereinstimmen, sehen sich die Machthaber genötigt, eine solche Übereinstimmung wenigstens formal herzustellen. Nicht sie gebieten über die Auslegung der Texte, sie müssen sich von den Schariagelehrten sagen lassen, wie alles eigentlich zu sein hätte. Die Gelehrten ihrerseits tun freilich gut daran, aus den autoritativen Texten nur das herauszulesen, was den Machthabern, von denen sie alimentiert werden, nicht gänzlich ungelegen kommt. Daher durchzieht die theokratische Machtausübung ein unangenehmer Ton intellektueller Unredlichkeit. Wie anders sollten Menschen mit der furchtbaren Last umgehen, allzeit den unmittelbaren Normen des Schöpfers genügen zu sollen? Die folgenreichste Methode, diese Last zu verringern, wurde zu eben der Zeit gefunden, als der Geltungsanspruch der Scharia allumfassend geworden war, im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert. Der Koran macht den Muslimen zur Pflicht, an das „Verborgene“ zu glauben (Sure 2, 3). Dieser Passus gewann nun erst eigentlich Bedeutung. Denn man lernte, zwischen
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den verworrenen und oft unheilvollen Erscheinungen zu unterscheiden, die Allahs Fügung im Diesseits, im „Offenkundigen“, anzunehmen pflegt, und deren reiner, klarer Vorform, in der eben diese Erscheinungen im „verborgenen“ Seinsbereich auftreten. „Verborgen“ ist dieser Seinsbereich, weil er nicht mit den fünf Sinnen wahrgenommen werden kann. Zum Schauen oder, wie man sagte, zum „Schmecken“ Begabte vermögen jedoch die noch von Raum, Materie und Zeit unabhängige Vorform des unablässig von Allah Geschaffenwerdenden intuitiv zu erfassen und den übrigen Gläubigen zu erläutern. Ein ums andere Mal enthüllt sich dergestalt gerade auch im Schariawidrigen, im Unheilvollen, die tiefe Weisheit, mit der Allah bei seinem ununterbrochenen Schöpfungshandeln zu Werke geht. „Allah Nahestehende“, „Gottesfreunde“, nannte man die Personen, die die Fähigkeit des „Schmeckens“ des „Verborgenen“ für sich in Anspruch nahmen und denen man hierin Glauben schenkte. Bis in das 19. Jahrhundert konkurrierten sie mit den Schariagelehrten um die Gunst der Herrscher wie auch der breiten Masse. Nicht, daß sie die autoritativen Texte für ungültig erklärt hätten, das gewiß nicht! Aber sie machten sich anheischig, zu ergründen, was hinter diesen Texten stehe, und behaupteten auch, auf spirituelle Weise mit den Urhebern dieser Texte, dem Propheten Mohammed und Allah selber, zu kommunizieren. Sie halfen dem gemeinen Mann, das Zurückbleiben hinter den Forderungen der Scharia und die Garstigkeit der durch Allah geschaffen werdenden Welt zu ertragen. Manche von ihnen gewannen fast den Rang von Heilsvermittlern und damit eine Funktion, die im Islam eigentlich nicht vorgesehen ist. Die Schwäche theokratischer Machtausübung, die ständige Abwesenheit des wesensmäßig legitimierten Herrschers, wird durch die Gottesfreundschaft vermutlich wirkungsvoller verschleiert als durch die Schariagelehrten. Unter ersteren wie unter letzteren und auch zwischen beiden Lagern tobt jedoch der nicht enden wollende Kampf um die richtige Auslegung dessen, was im einzelnen Fall und ebenso in umfassenderen Sachverhalten der Wille oder die Absicht des eigentlichen Souveräns, Allahs, sei. Hierbei spielen der radikale Typ theokratischer Machtausübung, repräsentiert durch den unmittelbar von Allah angesprochenen Propheten, und der nomokratische, bei dem die Schariagelehrten um die jeweils benötigte Interpretation der autoritativen Texte ringen, im Laufe der islamischen Geschichte in unterschiedlichen Formierungen gegeneinander. Der radikale Typ verschwand nämlich keineswegs mit dem Tod Mohammeds, sondern lebte in einigen schiitischen Strömungen weiter, die bestrebt waren, unter der Führung eines Imams aus der Nachkommenschaft ÝAlīs, des Vetters des Propheten, oder eines Onkels Mohammeds aufs neue die medinensische Urgemeinde zu errichten. Dieses Gedankengut ist bis in die Gegenwart wirksam. Auch innerhalb des Sunnitentums, das am ehesten die Nomokratie verkörpert, entstehen
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immer wieder Bewegungen, die den Herrschenden einen Abfall von den Grundlagen des Islams nachsagen und die Rückkehr nach Medina fordern. Das Hinübergleiten in die radikale Theokratie ist stets mit der Forderung verbunden, zu den Waffen zu greifen, weil anders „Medina“, die rechtgeleitete Urgemeinde, nicht wiederzugewinnen sei. Da die Anführer solcher Bewegungen alle ihre Handlungen durch die autoritativen Texte zu rechtfertigen vermögen, ist es den gelehrten Verfechtern der nomokratischen Theokratie kaum möglich, den Schriftbeweis für die Unbilligkeit der Forderungen und Untaten der Aufrührer anzutreten: Sie verfügen über keine Lehrautorität, die sie gegen die auf derselben Ebene wie sie argumentierenden Aufrührer in die Waagschale werfen könnten. So sind beispielsweise die sogenannten Selbstmordattentate unter Berufung auf die autoritativen Texte nicht schlüssig zu verurteilen. Und nicht durch den Islam legitimierte Normen, z. B. die allgemeinen Menschenrechte, sind nicht einschlägig, eben weil sie sich nicht auf islamische autoritative Texte stützen. Auch in weniger dramatischer Weise äußert sich der Umstand, daß es in der Theokratie kein Auslegungsmonopol und daher auch kein Gewaltmonopol des irdischen Machthabers geben kann: Wenn dieser eine seiner wesentlichen Pflichten, nämlich den Kampf gegen die Andersgläubigen, vernachlässigt, dann obliegt es allen Muslimen, sich dem Dschihad zu widmen. Wer aber stellt diese Vernachlässigung fest, wenn nicht einzelne Muslime? Das am Islam so oft ganz unkritisch gepriesene Fehlen einer geistlichen Hierarchie, das ja auch unseren Behörden den Umgang mit den Angehörigen dieser Religion so außerordentlich erschwert, offenbart schon in diesem Zusammenhang, in dem ein Umsturz gar nicht zur Debatte steht, die Unvereinbarkeit von theokratischer Macht einerseits und von Politik als einem unter Bürgern verabredeten vernunftorientierten Handeln andererseits.3 Solche Erfahrungen „republikanischer Politik“ mit theokratischen Gemeinwesen reichen weit in die Geschichte zurück. Schon die Römer bemerkten, daß im besetzten Judäa keine Polisbildung in Gang kam, die der Verwaltung der Eroberer gleichgeartete Verhandlungspartner gegenübergestellt hätte. Die auf den Tempel ausgerichtete jüdische Theokratie verhinderte dies.4 3 Egon Flaig: Radikale Anthroponomie – Wieso griechische Polis und Theokratie diametrale Gegensätze sind, in: Kai Trampedach / Andreas Pečar (Hgg.): Im Namen Gottes. Das theokratische Argument und seine politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich, Heidelberg 2012. Es ist anzumerken, daß der Begriff „Politik“ im Arabischen keine Entsprechung hat; der seit dem 19. Jahrhundert hierfür verwendete arabische Begriff sijāsa spielt gerade nicht auf ein Gemeinwesen von Bürgern an, sondern auf die vom Herrscher jenseits der schariatischen Bestimmungen betriebene Machterhaltung. 4 Kai Trampedach: Schwierigkeiten mit der Theokratie. Warum die römische Herrschaft in Judäa scheiterte, in: Kai Trampedach / Andreas Pečar (Hgg.) (wie vorige Fußnote).
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3. Die uneinholbare Überlegenheit der islamischen umma Eine Gemeinschaft, deren Dasein sich der Verkündung einer religiösen Heilsbotschaft verdankt, ist von dem Glauben durchdrungen, daß sie und nur sie den göttlichen Gesetzeswillen kenne und daher berufen sei, die Herrschaft über die ganze diesseitige Welt zu erringen und ein für allemal innezuhaben. Es ist somit ausgeschlossen, daß sie auf Dauer andersgläubige Gemeinden duldet. Im Verhältnis zum Islam sind alle anderen Religionen minderrangig, und das bedeutet, daß deren Angehörige, sobald sie unter islamische Herrschaft kommen, entweder dem „wahren“ Glauben beitreten oder sich mit der Stellung eines Untertanen geringeren Rechts abfinden müssen. Sie müssen damit zugestehen, daß ihr Glaube und ihre Gemeinde zum Aussterben verurteilt sind: So will es Allah! Ein dem westlichen Völkerrecht vergleichbares System von Regeln, die das Verhältnis zwischen gleichrangigen kollektiven Rechtssubjekten ordnen, ist daher im Islam nie entstanden – eben weil es der muslimischen Glaubensgemeinschaft (arab.: al-umma) im Rang gleichgestellte kollektive Rechtssubjekte gar nicht gibt. Die Scharia ordnet lediglich, wie Muslime mit nichtmuslimischen Gemeinwesen zu verfahren haben, wobei grundsätzlich feindliche Beziehungen vorausgesetzt werden. Denn solange andersgläubige Gemeinwesen existieren, wird Allahs Gesetzeswille noch nicht überall befolgt, lastet mithin noch die Pflicht der Ausbreitung der islamischen Herrschaft auf der umma. In den letzten Jahren seines Wirkens in Mekka begann Mohammed, sich nicht nur als einen Gesandten Allahs, sondern auch als dessen Propheten zu verstehen (vgl. Sure 7, 156 und 158).5 Als einem Gesandten Allahs hatte ihm die Aufgabe oblegen, die Menschen zu lehren, daß es den einen Allah gebe, der das Diesseits in jedem Augenblick erschaffe und nach seinem unauslotbaren Ratschluß gestalte; daß die Menschen diesem einen Schöpfer unermeßlichen Dank schulden, den sie durch den eifrigen Vollzug der Riten abstatten; daß sie am Ende der Zeiten von Allah auferweckt und je nach der Art und Weise abgeurteilt würden, in der sie die Dankesschuld beglichen hätten. Als einem Propheten fiel Mohammed jetzt auch die Pflicht zu, den Menschen genau jene richtige, von Allah selber approbierte Ritualordnung beizubringen, in der die Dankesschuld zu begleichen sei; darüber hinaus seien sie in allem zu unterweisen, was Allah entweder billige oder verabscheue, wenn nicht gar verbiete. Im Prinzip war damit eine das Leben des Menschen insgesamt normierende gottgegebene Ordnung gemeint, die aber vorerst vor allem in rituellen Bestimmungen bestand. Sure 2, etwa andert5 Hierüber vgl. Nagel: Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 165– 180; ders.: Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime, München 2010, siebtes bis neuntes Kapitel.
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halb Jahre nach der Vertreibung Mohammeds aus Mekka verkündet, weist jedoch auch schon darüber hinausgehende Regelungen auf. Der Besitz der authentischen, von Allah selber erlassenen Rechtsordnung wurde rasch zum identitätsstiftenden Merkmal der Anhängerschaft Mohammeds. Über diese Ordnung zu verfügen, berechtigte Mohammed und die „Gläubigen“ zum Krieg gegen das heidnische Mekka, das an den „verfehlten“ Kultformen festhielt und Mohammed von der Teilnahme an den Pilgerriten ausschloß. Darin liege eine Anfechtung, die man nicht hinnehmen dürfe; darum sei gegen die Heiden ohne jegliche Nachsicht vorzugehen, bis jene Anfechtung unmöglich gemacht worden sei (Sure 2, 190–193). Denn es lasse sich für das Festhalten am Heidentum nicht der geringste Grund mehr anführen; wer aus diesem Umstand den einzig richtigen Schluß ziehe, nämlich daß die Götzenverehrung absurd sei, der sei ohne Wenn und Aber auf der sicheren Seite (Sure 2, 256). In Sure 8 blickt Mohammed auf den ersten Sieg über die Mekkaner zurück, den er im Jahre 624 bei der Örtlichkeit Badr am Rande der Tihama errang. Irgendwelche freundschaftlichen Verbindungen zu den Ungläubigen darf es nicht mehr geben; man muß sie als Feinde betrachten und entsprechend mit ihnen verfahren, sonst könnten sie versuchen, die „Gläubigen“ in ihrer Standhaftigkeit wankend zu machen, sie Anfechtungen auszusetzen. (Vers 73). Als Mohammed 630 Mekka gewonnen hat, braucht er gegen die Ungläubigen keine Rücksicht mehr walten zu lassen. Eine Abmachung mit ihnen, in der er ihnen den Vollzug der alten Pilgerriten gestattet hatte, sollte nach dem Ablauf der bevorstehenden Wallfahrtszeit nicht mehr gelten. Die Heiden, wo immer sie sich aufhalten mögen, haben ihr Lebensrecht verwirkt, sofern sie nicht zum Islam übertreten (Sure 9, 1–5). Die Befolgung der durch Mohammed propagierten Ritualordnung ist auch den Juden und Christen dringend anzuraten. Sie bekennen doch einen Schöpfergott und fürchten das Gericht am Ende aller Zeiten; sie verfügen, wie nunmehr auch die Muslime, beide über eine von Allah stammende heilige Schrift. Als Schriftbesitzer sollten sie unverzüglich einsehen, daß die jetzt den Muslimen übergebene Ritualordnung nichts anderes ist als diejenige, die einst Abraham von Allah empfangen hatte. Abraham aber lebte vor Mose und Jesus, und vor Abraham hat Allah niemanden mit einer Ritualordnung ausgezeichnet. Deshalb entsprechen die abrahamischen, jetzt erneut verkündeten Bestimmungen vollkommen der natürlichen Seinsart (arab.: al-fiÔ ra), in der Allah die Menschen erschafft. Sie sind ohne jede Entstellung oder Verfälschung. Im Vollzug dieser Riten liegt somit nichts Beschwerliches, das dem Menschen als eine bedrückende Last erscheinen könnte (Sure 2, 256 und Sure 22, 78). Mit diesem Gedanken grenzt sich Mohammed deutlich von den Juden und Christen ab, fordert sie aber gleichzeitig auf, seine Vorschriften zu übernehmen. Denn Juden und Christen
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haben nach seiner Überzeugung die abrahamischen Ritualvorschriften eigenmächtig erschwert, haben lästige Speisegebote ersonnen, das Mönchtum erfunden und überdies die von Allah so sehr gewünschten Tieropfer abgelehnt. Da sie aber wenigstens an den Schöpfer Allah und an den Jüngsten Tag glauben, mögen sie, sofern sie die von ihm überbrachten Regelungen ablehnen, als zum Verschwinden verurteilte minderrangige Minderheiten in Allahs Gemeinwesen fortexistieren; diese Großzügigkeit haben sie den wahren „Gläubigen“ durch die Zahlung einer Kopfsteuer zu entgelten. Sure 3, Vers 110 bringt diese Gedanken knapp auf den Begriff: „Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen gestiftet wurde. Ihr gebietet, was zu billigen ist, verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah. Wenn die Schriftbesitzer ebenfalls glaubten, wäre es besser für sie. Zwar sind einige von ihnen gläubig, aber die meisten sind Missetäter!“. Die Überzeugung, daß der Islam als ein System der Gestaltung des Diesseits allen übrigen Systemen der Machtausübung überlegen sei, teilen bis in die Gegenwart alle die Muslime, die den Säkularismus ablehnen. Dabei läßt sich beobachten, daß das religiöse Element vielfach in den Hintergrund tritt. Das Bekenntnis zu dem einen Allah und dessen rituelle Verehrung nehmen Züge einer Bekundung einer diesseitsgerichteten Heilserwartung an: Der Islam verwandelt sich fast vollständig in eine Ideologie, die in ihrem totalitären Habitus den europäischen politischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbar ist. In einem wesentlichen Gesichtspunkt unterscheidet sie sich allerdings von ihnen: Sie verwarfen jegliche Fundierung ihrer Dogmen im Transzendenten; die Islamideologie hingegen leitet ihren Wahrheitsanspruch bewußt aus dem Transzendenten ab. Sie versucht auf diese Weise, sich gegen jegliche an der Vernunft orientierte Kritik abzusichern und kann sich, falls nötig, als einen reinen Gottesglauben tarnen, der durch die in den europäischen Verfassungen garantierte Religionsfreiheit geschützt ist.
I. Schöpfer und Kosmos im Koran Dieser und die beiden nächsten Texte fassen einige Erkenntnisse zusammen, die ich im Rahmen einer umfangreichen Biographie Mohammeds ausführlich darlege und begründe (Mohammed. Leben und Legende sowie Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, beide im Jahre 2008 im Oldenbourg-Verlag München erschienen; desgleichen im Jahr 2010 ebenda eine verkürzte Fassung unter dem Titel Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime); ferner fußen sie auf der Untersuchung Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, erschienen in Göttingen 2001 in den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Band 244. – Die drei im folgenden abgedruckten Texte entstanden als Beiträge zu einer im Studienjahr 2004 / 5 an der Universität Göttingen veranstalteten Ringvorlesung mit dem Thema Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike. Die Ringvorlesung wurde unter dem Titel Götterbilder. Gottesbilder. Weltbilder 2005 im Verlag Mohr Siebeck in Tübingen als Band 17 und Band 18 der Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe durch Reinhard Gregor Kratz und Hermann Spieckermann herausgegeben (2. Auflage 2008). Die drei Beiträge über den Islam finden sich in jener Ausgabe im zweiten Band. Dem Verlag Mohr Siebeck danke ich aufrichtig für die Erlaubnis, sie hier in leicht überarbeiteter Fassung abzudrucken.
Es gibt Vorurteile, die man nicht ausrotten kann. Ein solches Vorurteil ist die Behauptung, der Islam sei eine Religion der Wüste. Man sieht ihn vor dem geistigen Auge, den Propheten Mohammed, in einer mit Felsbrocken übersäten Einöde, des Nachts natürlich, unter klarem Sternenhimmel, unvermittelt von Allah angeredet mit Worten der reinsten Wahrheit und des tiefsten Tiefsinnes. Was soll uns dieses Zitat des Islamkitsches am Beginn einer Vorlesung über diese Religion? Auch Kitsch birgt eine Aussage in sich, und so weist der einsame Mohammed unter dem nächtlichen Wüstenhimmel auf eine stillschweigend angenommene Prämisse hin: Die Offenbarung, die Mohammed erhielt, ist etwas ganz Besonderes, liegt fernab von aller banalen Lebenswirklichkeit; der Koran ist gleichsam ein Text ohne Kontext, hineingesandt in die barbarische Welt des heidnischen Arabien. Unvermittelt wurde dieses Heidentum beiseite geräumt und ersetzt durch die höchste der Menschheit überhaupt erreichbare Stufe der Zivilisation, durch den Islam, Allahs ewig wahren Gesetzeswillen. So haben es die Muslime schon seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert den unterworfenen Andersgläubigen, die sich nicht gern den kulturell rückständigen Eroberern beugten, weiszumachen versucht, und selbst die europäische Orientforschung hat sich mehr
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oder minder stark von den Vorstellungen beeindrucken lassen, deren Verbildlichung der Prophet in der Wüste ist. Da es uns in dieser Vorlesung aber um religionsgeschichtliche Erkenntnis geht, muß man sich von jener Fiktion freimachen. Wenn man den religionsgeschichtlichen Ort des Islams ermitteln will, dann ist der Koran eben nicht Allahs ewiges Wort, sondern die Rede des Menschen Mohammed, der sich in einer bestimmten geschichtlichen Situation als einen von Allah berufenen Propheten verstand und die damit verbundenen Ansprüche religiöser und politischer Führerschaft einem Teil seiner Zeitgenossen auferlegen konnte. Wie dies geschah, welches Gottesbild er hierfür fruchtbar machte und welche langfristigen Folgen sein Werk zeitigte, das ist der Gegenstand der drei Vorlesungen über den Islam im Rahmen unseres Graduiertenkollegs. 1. Der Beginn der Offenbarungen Die ältesten Worte der Offenbarung – nicht die älteste Sure – sind laut muslimischer Überlieferung die Verse, die an den Anfang von Sure 74 zu stehen gekommen sind. Sie lauten: „Der du dich in dein Obergewand gehüllt hast! Stehe auf und warne! Und deinen Herrn, den rühme! Und deine Kleider, die reinige! Und den Schmutz, den meide!“ Verknüpft wird die Entstehung dieser Worte mit einem religiösen Brauch, den man in Mekka übte: Einzelne nach der Vertiefung ihrer religiösen Erfahrungen strebende Männer begaben sich zum unweit der Stadt gelegenen Berg ÍirāÞ und verbrachten dort eine längere Zeit in einsamen Andachtsübungen. Diesem Brauch folgte auch Mohammed, und eines Tages fand er sich von einer Vision Allahs überwältigt. In panischer Angst stürzte er nach Hause, wo er seiner Ehefrau Ëadīºa zurief, man möge ihn bedecken; der Anblick, der ihm zuteil geworden war, hatte ihn zutiefst erschreckt. Sure 53, die der erste Text gewesen sein soll, mit dem er sich um 612 an die Öffentlichkeit wandte und ihr jenes Erleben preisgab – gemäß der uns in Ansätzen überlieferten Chronologie der mekkanischen Jahre Mohammeds lag es ungefähr drei Jahre zurück –, spricht von mehreren Visionen solcher Art. Die spätere muslimische Korandeutung, besorgt um das Dogma von der Unsichtbarkeit Allahs im Diesseits, behauptet, es sei in Sure 53 vom Engel Gabriel die Rede; aber es wird dort von dem, der Mohammed erschien, allein in Topoi geredet, die der Koran auf Allah bezieht. „Beim Stern, wenn er fällt! Euer Gefährte“ – nämlich Mohammed – „geht nicht in die Irre und ist nicht fehlgeleitet! Er redet nicht nach Belieben! Es ist nichts anderes als eine Eingebung, die ihm eingegeben wird. Jemand mit starken Kräften hat sie ihn gelehrt, jemand mit Macht. Er hatte sich aufrecht gesetzt, dort ganz oben am Horizont. Dann kam er näher und ließ sich herab, zwei Bogen-
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spannweiten oder näher. Nun gab er seinem Knecht ein, was er ihm eingab. Das Herz lügt nicht, was es sah. Wollt ihr ihm bestreiten, was er sieht? Und er sah ihn ein anderes Mal herabkommen, beim Christdorn ganz am Ende, dort, wo der Garten mit dem Ruheplatz ist. Der Blick wich nicht, war aber auch nicht aufdringlich. Er hatte von den Wunderzeichen seines Herrn das größte gesehen“ (Vers 1–18). Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß Mohammed hier seine Visionen erwähnt, um das, was er verkündet, als wahr zu rechtfertigen – „Er gab ihm ein, was er ihm eingab“. Wir wissen mit diesem Zitat aus Sure 53 freilich noch nicht, wer es ist, der sich ihm zeigte. Aus den folgenden vier Versen können wir jedoch vorläufigen Aufschluß gewinnen. „Was meint ihr von al-Lāt, al-ÝUzzā und von Manāt, der anderen, dritten? Euch behaltet ihr die Söhne vor, ihm (sollen bloß) die Töchter gehören? Das ist eine ungerechte Verteilung!“ Die Mekkaner möchten dem „Herrn“ weniger Prestige zugestehen, als sie für sich selber beanspruchen. So verhalten sie sich, wie man aus der reichhaltigen Überlieferung zum vorislamischen Arabien weiß, auch bei den Opfern. Die drei Göttinnen bedenken sie stets reichlich, Allah, von den alten Arabern als deren Vater betrachtet, lassen sie nur wenig zukommen. Er ist ihnen zu weit weg; seine drei Töchter sind den alltäglichen Anliegen näher und taugen als Fürsprecherinnen. Es folgt nun Vers 23, der stilistisch wie dem Inhalte nach aus dem Rahmen fällt; er setzt eine, wenn auch rohe, theologische Reflexion voraus, wie sie der Koran erst in jüngeren Partien aufweist. Man wird ihn also als einen späteren Einschub betrachten müssen. Nach muslimischer Überlieferung, die sich mit den philologischen Befunden der Koranforschung deckt, hat Mohammed den Text seiner „Lesung“ vielfach revidiert; ein großer Teil dieser überarbeiteten Stellen ist der frühen muslimischen Korangelehrsamkeit bekannt gewesen. Nimmt man diese Angaben ernst, dann eröffnet sich ein erstaunlich klarer Blick auf den Gang der Entwicklung des mohammedschen Gottesverständnisses. Vers 23 von Sure 53 lautet: „(Die Göttinnen) sind nichts weiter als Namen, die ihr und eure Väter ersonnen haben. Allah hat (hierfür) keine Vollmacht herabgesandt. Sie“ – nämlich die Gegner des Propheten – „folgen allein ihren Vermutungen und dem, was sie sich zurechtlegen, und dies, obgleich zu ihnen schon die Rechtleitung von ihrem Herrn gekommen ist.“ Vergleichbare Erwägungen findet man erst in der spätmekkanischen Sure 6, in der Abraham sich ebenfalls auf die ihm bereits geschenkte Rechtleitung beruft und die Vielgötterei nicht nur wegen der Machtlosigkeit der von den Heiden verehrten Gestirne, sondern vor allem deswegen ablehnt, weil Allah zu solch einem Kult keine Vollmacht erteilt habe. In ganz anderem Zusammenhang werde ich auch auf diese Thematik in den nächsten beiden Vorlesungen zurückkommen.
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Nach diesem spätmekkanischen Einschub heißt es in Sure 53 weiter: „Oder wird dem Menschen etwa zuteil, was er wünscht? Allah gehören das Diesseits und das Jenseits!“ Diese Sätze, Vers 24 und 25, bilden den inhaltlichen Anschluß an Mohammeds empörten Ausruf: „Euch behaltet ihr die Söhne vor, ihm (sollen bloß) die Töchter gehören? Das ist eine ungerechte Verteilung!“ Dann wieder ein Einschub: In den Versen 26 bis 32 läßt sich Mohammed über die Fürsprache aus, die sich manche von Engeln erhoffen. Doch nur wenn Allah es will, wird sie irgendeine Wirkung haben; überhaupt hat Allah, anders als jene Polytheisten vermuten, alles allein in der Hand; er vermag am Ende gerecht zu urteilen, auch verzeihen kann er. Er schuf die Menschen aus Erde und ließ sie als Leibesfrucht heranwachsen. Er weiß am besten, wer gottesfürchtig ist. Dann kehrt der Text zu den knappen, impressionistischen Ausdrücken zurück, die den Anfang von Sure 53 prägten. Ich gebe den Text von hier an wörtlich und vollständig wieder: „Was meinst du von dem, der sich abwendet? Der nur wenig gibt und knausert? Weiß er vom Verborgenen, so daß er es sieht? Oder wurde ihm nicht gesagt, was in den Schriftstücken des Mose steht? Und Abrahams, der (alles) erfüllte? Daß dem Menschen nur zuteil wird, was er erstrebt? Und daß man das Ergebnis des Strebens sehen wird? Daß ihm dann voll entgolten wird? Daß bei deinem Herrn alles endet? Daß er es ist, der Lachen und Weinen macht? Sterben und leben läßt? Daß er das Paar schafft, männlich und weiblich? Aus einem Samentropfen, wenn dieser hervorgestoßen wird? Daß (Allah) auch die andere Hervorbringung (am Jüngsten Tag) obliegt? Daß er Reichtum und Besitz schenkt? Daß er der Herr des Hundssterns ist? Daß er das alte Volk der ÝĀd vernichtete? Und die Õamūd, und niemanden am Leben ließ? Und davor die Leute Noahs? Sie waren frevlerisch und aufsässig! Daß er die dem Untergang Geweihte zugrunderichtete und dabei ganz bedeckte? Welche Wohltaten deines Herrn willst du bestreiten? Dies ist eine von den Warnungen. Die Katastrophe steht bevor! Außer Allah vermag niemand sie abzuwenden! Ihr wundert euch über solche Rede? Ihr lacht? Ihr weint nicht? Frivol wie ihr seid? Werft euch (lieber) vor Allah nieder und betet (ihn) an!“ 2. Der Ursprung des mohammedschen Monotheismus Von diesen Texten aus, vom Anfang der Sure 74 und von Sure 53 her, wollen wir nun Mohammeds Vorstellungen von Allah und Kosmos erkunden und danach fragen, in welche Richtung sie sich im Laufe seiner Verkündigungen weiterentwickelt haben. Beginnen wollen wir unseren Gang durch die altarabische und frühislamische Religionsgeschichte mit einer Erörterung des vielleicht rätselhaftesten Verses aus Sure 53: Die Menschen, an die sich Mohammed wendet, machen sich nicht ständig bewußt, daß
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Allah der Herr des Hundssterns ist (Vers 49). Mit dieser Bemerkung stellt der „Gesandte Allahs“, wie Mohammed sich zu nennen beginnt, einen Bezug zur heidnischen Religion seiner Zeit her. Deren auffälligste Riten waren die vielen Pilgerreisen, die man nicht nur nach Mekka unternahm, sondern die die Menschen auch an andere Orte der Arabischen Halbinsel führten. Ein vielschichtiges Geflecht aus unterschiedlich gearteten Beziehungen einzelner Stämme zu den vielen uns namentlich bekannten Wallfahrtsorten prägte die religiöse Praxis jener Epoche. Manche dieser Orte wurden von einer bestimmten Sippe betreut, die von den Einkünften lebte, die der Ritenvollzug für sie erbrachte. Die mekkanischen Quraišiten sind das bekannteste Beispiel. Es gab aber auch heilige Orte, die keine ständigen Bewohner hatten. Der Pilgerverkehr war natürlich nur dann möglich, wenn die Stämme während der Zeit des Kultes Blutfehden ruhen ließen und überhaupt Frieden wahrten. Dies durchzusetzen, verlangte den vom Heiligtum lebenden Sippen ein hohes Maß an politischem Geschick ab. Dies zu den allgemeinen Lebensverhältnissen, wie sie für Mohammed selbstverständlich waren! Sobald sich nun die Mitglieder eines Stammes einem heiligen Bezirk genähert hatten, bekundeten sie der dort verehrten Gottheit die Bereitschaft, ihr zu dienen. Jeder Stamm hatte seine charakteristischen Huldigungsrufe; sie leben noch heute in dem vereinheitlichten „Labbaika Allāhumma labbaika!“ der Mekkapilger fort. Aus der Überlieferung kennen wir eine große Anzahl vorislamischer Rufe, von denen einer unsere Aufmerksamkeit weckt. Er war bei dem jemenischen Stamm der Banū MaÆÎiº in Gebrauch, die ihn an ihrem der Gottheit Jaġū× geweihten Pilgerheiligtum verwendeten. Jaġū× – der Name bedeutet „er hilft“ – wird übrigens in der frühmekkanischen Sure 71 erwähnt, die Noah gewidmet ist. Mohammed empfindet sich hier dem Schicksal dieses von ihm als Vorgänger betrachteten Mannes an und läßt ihn darüber klagen, daß sein Volk nicht bereit sei, die heidnischen Gottheiten aufzugeben; diese tragen durchweg arabische Namen, darunter Jaġū× (Vers 23). – Wie also huldigen die MaÆÎiº ihrem Jaġū×? „Dir zu Diensten (labbaika)!“ rufen sie, „dir zu Diensten, Herr des Hundssterns, Herr der höchsten Himmel, Herr von al-Lāt und al-ÝUzzā!“ Was bedeutet diese Huldigungsformel? In dem Augenblick, in welchem sich die Banū MaÆÎiº dem Heiligtum des Jaġū× nähern, bekunden sie, daß er nun der höchste Herr sei, Herr auch der Göttinnen al-Lāt und al-ÝUzzā. Diese Aussagen gelten selbstverständlich nur unter diesen Umständen; beträte man einen Ort, an dem al-ÝUzzā verehrt wird, dann wären solche Worte unmöglich; ihr müßte man anders huldigen und dabei ihr den höchsten Rang zuerkennen. Eine solche kultische Verehrung einer einzigen Gottheit bei Anerkennung der Existenz vieler anderer Götter (Monolatrie) nimmt Mohammed in den erwähnten Versen 23 und 26 bis 32 von Sure 53 aufs Korn. In der ältesten
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Textschicht hat er sich lediglich über die Vermutung der Mekkaner mokiert, Allah könnte sich mit den wenig Prestige eintragenden Töchtern begnügen. Die Argumente, die jetzt in den Versen 23 sowie 26 bis 32 dargelegt werden, sind hingegen grundsätzlicher Natur und setzen eine Auffassung von Allah und der Welt voraus, die sich in dem langen aus rhetorischen Fragen bestehenden Schlußteil klar bekundet: Allah ist der Schöpfer und der Lenker der Geschichte, bei ihm endet alles! Da dies so ist – so der Gedankengang der später eingefügten Verse 23 und 26 bis 32 –, steht den irrtümlich als den Töchtern Allahs und als Göttinnen angerufenen al-Lāt, al-ÝUzzā und Manāt gar keine eigene, von Allah unabhängige Macht zu Gebote: Infolgedessen ist es sinnlos, sie anzurufen. Eine solche Verallgemeinerung hätte den Banū MaÆÎiº keineswegs eingeleuchtet, da sie ja nur aus den gegebenen Umständen heraus Jaġū× als dem Herrn des Hundssterns huldigten. Wir stehen damit vor der Frage, was Mohammed dazu veranlaßte, sich zu einer Verehrung Allahs als des höchsten Herrn durchzuringen, die von den an den einzelnen Wallfahrtsheiligtümern jeweils geltenden Umständen abzusehen vermochte. Wenden wir uns noch einmal dem Hundsstern zu. Er wurde auch im vorislamischen Mekka verehrt, insbesondere von den ËuzāÝiten. Diese waren im überlieferten genealogischen System ein wie die Banū MaÆÎiº zu den jemenischen Arabern gerechneter Stamm, der, so die erinnerte Geschichte Mekkas zur Zeit Mohammeds, die Stadt und das Heiligtum der Kaaba beherrscht hatte, bevor die Quraišiten dort das Regiment übernahmen. Die Quraišiten waren um 500 aus dem syrisch-palästinensischen Raum zugewandert, hatten Mekka besetzt und dem Kaabakult eine neue Deutung gegeben. Sie verbanden ihn mit der Gestalt Abrahams, auf den sie über Ismael die eigene Abstammung zurückführten. Es ist hier nicht der Ort, die weitreichenden politischen, religiösen und wirtschaftlichen Folgen dieser Usurpation zu beschreiben, obgleich deren Kenntnis für eine angemessene Beurteilung des Lebenswerks Mohammeds förderlich ist. Jedenfalls galten in quraišitischer Zeit die Pilgerreisen nach Mekka der Verehrung des in der Kaaba gegenwärtigen Allah; Örtlichkeiten in der Nähe Mekkas, die heute in die muslimischen Pilgerriten einbezogen sind, waren damals anderen Gottheiten geweiht. Folglich hatten die Quraišiten dort auch nicht das Sagen; sie wohnten, und das war das Ungewöhnliche an den mekkanischen Verhältnissen, um die Kaaba herum unmittelbar im heiligen Bezirk, in dem eine ganzjährige Friedenspflicht galt. Also nicht nur eine Sippe von Kultdienern lebte hier – derartiges kannte man auch von anderen arabischen Heiligtümern –, sondern fast ein ganzer Stamm, von dessen Mitgliedern nur einige für die Riten verantwortlich waren. Außerdem lebten in und bei Mekka zu Mohammeds Zeit noch etliche der aus der Herrschaft gedrängten ËuzāÝiten, mit denen der Gesandte Allahs in der mütterlichen Linie verwandt war. Sein
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ÌuzāÝitischer Ururgroßvater soll nun darauf bestanden haben, man dürfe nur den Hundsstern anbeten, da dieser allein, wie es wörtlich heißt, „den Himmel in der ganzen Breite überquert“, mithin also eine Bestimmungsmacht besitzt, die derjenigen aller übrigen Gestirne überlegen ist. An diese Lehren hätten sich die Quraišiten erinnert gefühlt, als Mohammed sich mit seinen Vorstellungen an sie gewandt habe. Auch der Hundsstern, das wirkmächtigste Gestirn, hat aber einen Herrn über sich, erkannten die Banū MaÆÎiº, nämlich Jaġū×. In der situationsbedingten Monolatrie gibt es stets einen höchsten Herrn, eine höchste Herrin. In Sure 53 wird diese Aussage ins Prinzipielle gewendet: Allah ist der Herr des Hundssterns, ja der höchste Herr überhaupt. Dies zu begründen ist die Aufgabe der Einschübe, in denen Mohammed gegen die Verehrung von alLāt, al-ÝUzzā und Manāt argumentiert; diese drei sind allen übrigen Geschöpfen gleich, können nur nach Allahs, des Schöpfers, „Vollmacht“ handeln. Der Gedanke, daß selbst der Hundsstern nur ein Geschöpf sei, findet sich zum ersten Mal übrigens nicht im Koran, sondern in einem Gedicht, das ÝAbdallāh b. az-ZibaÝrā, ein mekkanischer Heide, verfaßte, als Mekka den Angriff des äthiopischen Herrschers im Jemen, Abrahas, heil überstanden hatte (vgl. Sure 105): „Gepeinigt wichen (die Äthiopier) von der Talschaft Mekkas zurück. Seit ewigen Zeiten vergriff sich niemand am heiligen Bezirk. Der Hundsstern war (noch) nicht geschaffen in jenen Nächten, als (Mekka) schon für unverletzlich erklärt wurde.“ Mohammeds Botschaft nimmt also Bezug, so wollen wir hier vorerst bilanzieren, auf eine religiöse Strömung, in der sich unterschiedliche Formen der Monolatrie auflösen. Was die Monolatrie untergräbt und schließlich gleichsam unglaubwürdig macht, ist die Vorstellung von einer Schöpfung bzw. die Gleichsetzung des höchsten Herrn mit dem Schöpfer. Wie Schöpfung in diesem Zusammenhang aufgefaßt wird, muß uns in Kürze ausgiebig beschäftigen. Wir müssen uns zuvor noch einmal den ältesten Texten des Korans, insbesondere Sure 74, Vers 1 bis 5 zuwenden, die wir zwar zitiert, aber bisher nicht in unsere Betrachtungen einbezogen haben. Dort war vom Rühmen des Herrn die Rede und vom Reinigen der Kleider. Allah ist, wie wir jetzt wissen, der „höchste Herr“; so wird er in den ältesten Texten des Korans genannt, noch nicht der einzige. „Preise den Namen deines höchsten Herrn!“ beginnt Sure 87, „(des höchsten Herrn), der schuf und dann ebenmäßig ausrichtete …“ Oder: „Niemand hat bei ihm eine Wohltat gut, die entgolten werden müßte! Man ist wohltätig allein im Streben nach dem Antlitz des höchsten Herrn!“ (Sure 92, 19 f.). Wie die meisten Quraišiten gehörte Mohammed einem Kultbund an, dessen Namen man mit „die Strengen“ übersetzen könnte. Die Mitglieder dieses Bundes hatten zweierlei Aufgaben: Zum einen versorgten sie Pilger fremder Stämme mit der für die Umrundung der Kaaba vorgeschriebenen
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rituell reinen Kleidung, ja waren während der heiligen Tage gewissermaßen Paten je eines auswärtigen Pilgers; zum anderen aber, und das ist für uns wichtig, beanspruchten sie für sich ein besonders enges Verhältnis zu dem an der Kaaba verehrten Allah, dem sie sowohl als dem Herrn des Hundssterns wie auch als dem „Herrn der dritten, anderen, und Herrn von al-Lāt und al-ÝUzzā“ huldigten – wir rufen uns Sure 53 ins Gedächtnis zurück. Dieser Herr ist es, den Mohammed nach den Aussagen von Sure 53 geschaut haben muß, und er hat ihn nicht bloß geschaut, sondern von ihm auch einen Auftrag empfangen. Er soll aufstehen und die Menschen warnen, und er soll die Kleidung reinigen. Die „Strengen“, so wird uns berichtet, mußten sich stets der Tatsache bewußt sein, daß die Kaaba ein heiliger, unverletzlicher Ort sei; die Kaaba selber hieß „die Strenge“ und bildete den Mittelpunkt des Bundes, der seinen Mitgliedern nicht gestattete, während der Pilgersaison die außerhalb Mekkas gelegenen, anderen Gottheiten geweihten Kultorte aufzusuchen. Darüber hinaus waren den „Strengen“ eine Reihe weiterer Dinge verboten, die den übrigen Pilgern gestattet waren. Die „Strengen“ durften im Weihezustand bestimmte Milchprodukte wie klares Butterfett nicht herstellen; sie durften kein Zelt aus Tierhaaren betreten; einen Säugling nur dann von der Mutterbrust entfernen, wenn er sich sattgetrunken hatte; sie durften sich nicht die Haare und Nägel schneiden, keine wohlriechenden Essenzen verwenden; sie mußten neue, reine Gewänder anlegen und durften die Kaaba nur beschuht umkreisen, denn der Boden durfte wegen seiner Heiligkeit nicht mit bloßen Füßen berührt werden. Der Sinn, den diese merkwürdigen Bräuche haben, wird uns gleich deutlich werden; er ist als rohe Vorstufe des Kosmos- und Schöpfungsverständnisses des Korans in Mohammeds Verkündigungen gleichsam sublimiert worden. Den Schmutz zu meiden und die Kleidung zu reinigen, lautete der Auftrag, den Mohammed der am Horizont geschaute, dann aber beängstigend nahe rückende Herr erteilt hatte. Wenn wir die Überlieferungen zu den rituellen Bräuchen der „Strengen“ genauer überprüfen, dann ergibt sich folgendes: Wenn jemand zum ersten Mal die Wallfahrt zur mekkanischen Kaaba unternimmt, muß er diese entweder nackend umrunden und die abgelegte Kleidung an der Kaaba zurücklassen, oder er muß sich das Gewand eines der „Strengen“ leihen, notfalls gegen ein Entgelt. Die abgelegte Kleidung wurde übrigens nicht wieder benutzt, sondern blieb, man weiß nicht genau, wo, auf dem nicht eben großen Platz um das Heiligtum liegen, bis sie von der Witterung und von den Füßen der Pilger ganz verschlissen war. In Sure 7 polemisiert der Prophet gegen diese heidnischen Sitten. Es ist der Satan, der Adam und Eva überredet, sie sollten sich nackt ausziehen, damit sie ihre Scham betrachten könnten (Vers 27); in Wahrheit habe Allah den Menschen die Kleidung geschenkt, damit sie sie gerade auch an den Kultstätten trügen (Vers 31 f.). Waren in der Zeit, in der Mohammed zum Mann
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reifte, die Nacktheit vor Allah oder die Anwesenheit vor ihm in geliehenen rituell reinen Kleidern nur während des Pilgerkultes üblich, so folgt aus der Aufforderung, die der Herr an den Propheten richtete, ein ganz anderes, die herkömmliche Verfahrensweise von Grund auf veränderndes Vorgehen: Wenn man sich in die Gegenwart des höchsten Herrn begibt, dann möge man dies in rituell gereinigten Gewändern tun, und zwar immer – die Aufforderung ist allgemein gefaßt – und unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kultbund. Neben der Auflösung der Monolatrie ist diese Entschränkung die zweite Verallgemeinerung eines Rituals, die wir im Zusammenhang mit dem Wirken Mohammeds beobachten. Auf die Verallgemeinerung der Reinheitsgebote, die sich heutzutage als ein Grundelement des Ritualrechts wiederfindet – nur in rituell reiner Kleidung dürfen die Riten vollzogen werden –, beziehen sich die ältesten Zeugnisse einer Wahrnehmung der von Mohammed begründeten Glaubenspraxis durch Dritte. Die Quraišiten bezeichneten ihn und seine Anhänger als „ÑābiÞer“, sich zu ihm zu bekennen hieß „taÒabbaÞa“, „ÑābiÞer werden“. Mit diesem Namen belegte man die Verfechter gnostischer Religiosität, ohne daß man den arabischen Quellen entnehmen könnte, ob eine spezifische Gruppierung gemeint war. Spuren eines gnostischen Menschenbildes erkennt man in einzelnen, kurzen Passagen früher Suren. So erfahren wir, Allah habe den Menschen zwar in schönster Ausrichtung geschaffen, ihn dann gleichwohl „zum Untersten der Unteren“ gemacht, abgesehen von denen, die glauben und fromme Werke tun; diese erhalten einen Lohn, der keineswegs als eine Gnadengabe zu werten sei (Sure 95). Das Paradies, ein Ort, durch den „unten“ das Wasser fließt – eine Reminiszenz an den durch das Wasser und den Leviathan von der Welt hermetisch abgeschlossenen Bereich des guten Gottes – ist den „ihm Nahegebrachten“ unter den Menschen schon zugesagt; daneben gibt es zu seiner Rechten diejenigen, die sich diesen bevorzugten Platz verdient haben, und zu seiner Linken die Verworfenen. Diese Dreiteilung der Heilsnähe (Sure 56, 7–14 und 88–94), die in der sonstigen koranischen Eschatologie nicht vorkommt, dürfte die gnostische Einteilung der Menschen in Hyliker, Psychiker und Pneumatiker widerspiegeln. Ganz ungewöhnlich ist auch eine Passage in Sure 74: die Hölle müsse jedermann zur Warnung dienen, „denen unter euch, die vorankommen wollen oder zurückbleiben. Jede Seele ist Geisel dessen, was sie erwarb“ (Vers 32–38). Der Bagdader Religionsgeschichtler aš-Šahrastānī (gest. 1154) legt ausführlich dar, worin das ÑābiÞertum bestehe. Wieder vermissen wir den Bezug zu einer greifbaren Gruppierung, der Bezug zu koranischen Formulierungen ist aber deutlich: Reinheit ist das wesentliche Element ihrer Frömmigkeit, sie herbeizuführen, ist ein Akt des „Erwerbens“, für den jeder Mensch selber verantwortlich ist. Aš-Šahrastānī stellt dieser Überzeugung gegenüber, was er als „unsere Leh-
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Suren 69 und 80: Das Urteil am Jüngsten Tag fällt nach dem Inhalt des an diesen Stellen „kitāb“ genannten schriftlichen Verzeichnisses der Handlungen im Diesseits aus; diese Verse stehen demnach im Einklang mit der Selbsterlösung, zum mindesten aber mit dem Gedanken, daß das Urteil Allahs je nach dem Stand an Activa und Passiva ergehen wird, die der einzelne Mensch in seinem Erdendasein aufgehäuft hat. Die Schriftstücke in Sure 53 heißen jedoch „ÒuÎuf“, ein Wort, das die Idee eines umfangreichen Dokuments oder Codex’, nicht einer Liste evoziert. Die „Schriftstücke des Mose“ meinen das Diktat, das im „Buch der Jubiläen“ ihm ein Engel übermittelt; dieses Diktat erzählt die ganze Heilsgeschichte seit dem „Beginn der Schöpfung“. Abraham, der, wie es in Sure 53, Vers 37 heißt, alles ihm Auferlegte erfüllte, ist demgemäß der Abraham des „Buches der Jubiläen“, wo man liest: „Und er trennte sich von seinem Vater, damit er nicht die Götzen anbeten mußte. Und er fing an, anzubeten den Schöpfer aller Dinge, daß er ihn errette aus dem Irrtum der Menschenkinder …“ Kurze Zeit nach der Entstehung von Sure 53 wird Mohammed in Sure 19 und Sure 26 den Streit Abrahams mit seinem Vater um die Nichtigkeit des Götzendienstes schildern; in Sure 37, etwa aus der gleichen Zeit, treibt der jugendliche Abraham seinen Spott mit den Idolen, denen seine Eltern und das ganze Volk Verehrung zollen. Die Erwähnung der „Schriftstücke“ Moses und Abrahams deutet demnach auf das Eindringen einer ganz anderen Thematik als derjenigen der selbstverantwortlichen Heilssuche in die mohammedschen Offenbarungen hin: Der höchste Herr bestimmt das Geschick des von ihm geschaffenen Diesseits, und zwar vollkommen und, wie im „Buch der Jubiläen“ angedeutet, über den ganzen Zeitraum der Geschichte hinweg. Er ist der Herr, der lachen und weinen macht, dem man den Reichtum verdankt, auf dessen souveränes Entscheiden das Schicksal der ÝĀd und der Õamūd zurückzuführen ist, die Sintflut desgleichen und die Vernichtung von Sodom, der dem Untergang geweihten Stadt (Vers 54). „Welche der Wohltaten deines Herrn willst du denn bestreiten?“ muß sich Mohammed im nächsten Vers fragen lassen. Indem diese Gottesidee – Allah als der souveräne Schöpfer und Lenker des Diesseits – Macht über den Gesandten Allahs gewinnt, schließt sich gleichsam die Tür zu allen theologischen Konzeptionen, in denen dem Kosmos – und mit ihm dem Menschen – ein gewisses Maß an Autonomie, eigener Seinsmächtigkeit, persönlicher Heilsverantwortlichkeit zugestanden wird. In seiner Tragweite werden wir diesen Sachverhalt in den nächsten beiden Vorlesungen erkunden, wobei wir den engen zeitlichen Rahmen, die Jahre des Wirkens Mohammeds, überschreiten werden. Als der allein alles Schaffende und alles Lenkende kann Allah nicht mehr der höchste Herr sein; er ist jetzt unbedingt der Einzige, und in der Tat wird
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er von Mohammed nicht mehr als der höchste Herr bezeichnet. Und auch die Wendung „der Herr des Hundssterns“ kann nun nicht mehr das gleiche meinen wie zuvor. Eine situationsbedingte Monolatrie verbietet sich ganz und gar. Eine Episode, die man schon im 8. Jahrhundert am liebsten aus der Vita Mohammeds getilgt hätte, nämlich die Affäre um die sogenannten „satanischen Verse“, verdeutlicht am klarsten die nach der überlieferten Chronologie im fünften Jahr nach der Berufung abgeschlossene folgenreiche Wandlung in Mohammeds Gottesauffassung. Die von Mohammed eingeführten Riten enthielten ein Element, das seinen mekkanischen Kritikern gänzlich fremd war und ihren Ärger oder Spott herausforderte: die Prosternation oder vielleicht besser, die Proskynesis, über deren Sinn gleich einiges gesagt werden soll. Einige Sympathisanten mit Mohammeds Ideen entschlossen sich in jenem fünften Jahr, nach Äthiopien auszuwandern, wo sie ihrem Kult ohne Störung nachgehen konnten. Bald darauf erreichte sie aber die Nachricht, Mohammeds Gegner hätten nun ebenfalls während des Vortrags des Korans die Proskynesis vollzogen. Die Asylanten begaben sich auf den Heimweg, erfuhren dann jedoch die näheren Umstände, unter denen es zu diesem Zugeständnis der Mekkaner gekommen war: Die drei Töchter Allahs seien hoch in den Himmel hinauffliegenden Vögeln vergleichbar, deren Fürsprache man erhoffen dürfe, hatte Mohammed eingeräumt und seinen mekkanischen Feinden dadurch ein Festhalten an ihren monolatrischen Vorstellungen ermöglicht. Aber kurz darauf zog Mohammed dieses Zugeständnis zurück, die Spannungen mit den heidnischen Mekkanern verschärften sich wieder, mehr Anhänger des Eingottglaubens als zuvor zogen nach Äthiopien. Der umstrittene Satz hatte freilich die in Sure 53 geäußerte Kritik daran, daß die Mekkaner Allah weniger Prestige zugestehen wollten als sich selber, keineswegs zurückgenommen und betonte sogar die Geschöpflichkeit von al-Lāt, al-ÝUzzā und Manāt. Wenn aber Allah die Geschichte, das Handeln der Menschen in ihr und zuletzt auch das Urteil über die Menschen am Jüngsten Tag allein nach seinem unauslotbaren Ratschluß festlegt, dann geht es keineswegs an, jenen drei eine autonome Fürsprache zuzubilligen. Mohammed zog deshalb den einen Kompromiß andeutenden Satz zurück, an seiner Stelle finden sich jetzt die Erwägungen über den rein fiktiven Charakter jener Göttinnen, zu deren Verehrung Allah keinerlei Vollmacht erteilt habe. Später, als er nach Medina gehen mußte, bereute Mohammed übrigens seine Kompromißbereitschaft ausdrücklich und lastete sie den Machenschaften des Satans an (Sure 22, 52–55). Die muslimische Geschichtserinnerung übergeht diese Episode am liebsten, weil sie sich einem bestimmten dogmatischen Bild von der Funktion eines Gottesgesandten in einem von Allah gelenkten Universum verpflichtet fühlt. Für den Historiker ist jedoch gerade diese Episode ein äußerst wert-
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volles Zeugnis für das innere Ringen Mohammeds um eine klare Gottesvorstellung, hinter der zuletzt auch Erwägungen politischer Opportunität zurückstehen müssen. Besser vielleicht als lange Zitate aus dem Koran veranschaulicht jenes Ereignis, wie sich der von Mohammed verkündete Allah bis in die mittelmekkanische Zeit zu einer alles bestimmenden Macht entwickelt hat, der der ganze Kosmos, das Diesseits, als eine seinsmäßig durch und durch von ihm abhängige Gegebenheit gegenübergestellt ist. Die alles beherrschende Metapher für dieses Verhältnis von Gott und Kosmos ist der auf seinem Thron sitzende, von dort herab die Welt, sein ständig im Geschaffenwerden begriffenes Werk, lenkende Allah. „Bei denen, die in Reihen stehen! Die dabei verscheuchen, dann eine Mahnung vortragen! Euer Gott ist einer! Der Herr der Himmel und der Erde und dessen, was zwischen beiden liegt, der Ostgegenden (und der Westgegenden)!“ Sure 37 beginnt mit diesen Worten; sie gehört bereits in die mittleren mekkanischen Jahre Mohammeds, die Zeit etwa zwischen 614 und 619. Daß Allah einer sei, ist hier klar ausgesprochen, aber nicht nur das. Wir finden in diesen Sätzen deutliche Hinweise auf das Gottesbild, das Mohammed vor Augen steht. Eine Analyse der einleitenden Schwurformeln wird uns dafür die Augen öffnen. Die altarabische Literatur kennt zahlreiche Beispiele für derartige Formeln. Der Eid ist in jener Kultur der kräftigste Beweis für eine Behauptung, und so war es üblich, daß die Wahrsager ihre Sprüche mit solchen Formeln einleiteten. Sehr oft wurden Wahrsager von zwei in einen Ehrenstreit verwickelten Personen oder Parteiungen aufgesucht, damit sie entschieden, wem der höhere Rang zukomme. Man durfte allerdings nicht mit der Tür ins Haus fallen; zuerst mußte man prüfen, ob der Seher in guter Verfassung war. Auf dem Weg zu ihm las man irgendeinen nicht alltäglichen Gegenstand auf und verbarg ihn. Ehe der Seher mit der eigentlichen Frage konfrontiert wurde, mußte er raten, wo was versteckt sei. „Ich schwöre beim Licht und beim Mond! Bei der Klarheit und der ewigen Zeit! Bei den Winden und den Gestalten! Ihr habt mir den Kadaver eines Geiers versteckt, in einem Tuch aus Haar, bei einem Burschen von den Banū NaÒr!“ So äußerte sich ein Wahrsager in einem Zwist unter quraišitischen Sippen, und weitere Eide stellte er seiner Entscheidung voran. Mit ähnlichen Schwüren leitete Mohammed manche seiner ältesten Offenbarungen ein – eben um ihre Wahrheit zu bekräftigen. Wie auch bei den Schwüren der Wahrsager belegt, handelte es sich bei den von Mohammed angerufenen Wesenheiten bisweilen um die Überbringer der danach verkündeten Botschaft: „Bei denen, die losgelassen sind, mit fliegender Mähne! Bei denen, die wie ein Sturm daherbrausen! Bei denen, die ausgreifende Schritte tun, etwas deutlich machen, eine Mahnung verkünden!“ (Sure 77). Eine Mahnung, als solche versteht Mohammed seine Botschaft in den frühen Suren, eine Mahnung übermitteln in Sure 37 auch die, die in Reihen
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stehen und verscheuchen. In Fällen wie den eben zitierten denkt die alte islamische Kommentarliteratur an Pferde; Pferde als Boten des Jenseits sind in der Religionsgeschichte eine geläufige Erscheinung; aber auf Sure 37 kann man diese Erklärung offensichtlich nicht anwenden. Ein Blick in die hochreligiöse altarabische Dichtung, die zu Mohammeds Lebzeiten einige herausragende Vertreter aufweist, hilft uns weiter. Umaija b. abī Ò-Ñalt, der bekannteste von ihnen, setzte den Erzählstoff vor allem des Alten Testaments in arabische Verse, von denen uns viele überliefert sind. Zur Ausleuchtung des Hintergrundes der entsprechenden koranischen Textpartien hat man Umaija in der Forschung möglichst nicht herangezogen. Befangen in der Vorstellung, der Koran müsse das Primäre sein, die unter Umaijas Namen überlieferten Verse mithin in einem nicht abschätzbaren Maß apokryph, schlichte Versuche also, die koranischen Erzählungen in das den Arabern geläufige Genre der Poesie zu übertragen, hat man sie zwar ediert, nicht aber in eine Analyse des frühen Islams einbezogen. Da für die Richtigkeit dieser Hypothese nichts außer einer Vermutung im Sinne unseres eingangs beschriebenen Islamkitsches spricht, werfen wir sie über Bord, schauen uns bei Umaija um – und werden sogleich fündig. In einem in unterschiedlichen Quellen bezeugten Gedicht beschreibt er den Kosmos, der nach frühislamischer Vorstellung aus sieben untereinandergeschichteten „Erden“ und sieben übereinandergetürmten Himmeln besteht, deren unteren der Mensch erblickt. Dieser Himmel gleicht, so Umaija, einem windstillen Meer; am Rande sind Engel postiert, die vom zweiten Himmel beschattet werden: Allah selber west im siebten auf einem Thron, der wie ein mit Edelsteinen verzierter Tragsessel aussieht und von vier Cherubim gehalten wird, die die Gestalt eines Mannes, eines Stieres, eines Adlers und eines Löwen haben. Viele Engel verharren vor Allah in Anbetung, viele andere durchfliegen mit seinen Anweisungen die sieben Himmel. Wir sind damit unversehens bei den Anfangsversen von Sure 37 gelandet. Die Wächterengel, die den ersten Himmel umstehen, verscheuchen die Satane, die heimlich lauschen, was im höchsten Rat verhandelt wird, und das, was sie aufschnappen, den Wahrsagern einflüstern, die auf diese Weise ihre betrügerischen Geschäfte betreiben. Damit ist es vorüber, seit Mohammed von Allah zum Sprecher auserwählt wurde. „Wir“, so heißt es in Sure 37 weiter, „schmückten den untersten Himmel mit dem Zierat der Sterne, und dies zum Schutz vor jedem aufsässigen Satan. Sie lauschen nicht mehr der höchsten Ratsversammlung, man wirft nach ihnen von überall her, um sie zu verjagen. Und es steht ihnen eine ewige Strafe bevor! Nur manch einer erhascht etwas, und sogleich folgt ihm eine lodernde Sternschnuppe!“ (Vers 6–10). Allah, der eine Gott, regiert von seinem Thron herab sein Schöpfungswerk, mit seinen Befehlen durchqueren zahllose Engel den Raum. Die Satane, die den Wahrsagern erlauschte Worte zutragen, sind keine berufenen Sprecher des
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Einen auf dieser Erde. Der eine Allah hat nur einen befugten Sprecher, und das ist selbstverständlich Mohammed. Nicht nur eine Mahnung überbringen die, die wie ein Sturm dahinbrausen, oder auch die, die in Reihen stehen. In den Schwüren von Sure 79 sind es wieder Pferde, „die rasch dahinschweben“, „im Rennen gewinnen“, und die einen Botendienst leisten. Was sie austeilen (Vers 5), ist die göttliche Fügung, arabisch „al-amr“. Dieser Begriff ist im Koran der allgemeinste, der das ununterbrochene Handeln Allahs in und mit seiner Schöpfung zum Ausdruck bringt, und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem göttlichen Schaffen, ist mit ihm aber nicht deckungsgleich. Betrachten wir, um weiteren Aufschluß zu gewinnen, einen Abschnitt aus der spätmekkanischen Sure 7! „Euer Herr ist Allah“, lesen wir in Vers 54, „der die Himmel und die Erde in sechs Tagen geschaffen und sich danach auf seinen Thron gesetzt hat. Er macht, daß die Nacht den Tag bedeckt, wobei sie ihn eilends zu erreichen sucht. Und die Sonne, den Mond und die Sterne hat er durch seine Fügung (den Menschen) dienstbar geschaffen. Wirklich, sein sind die Schöpfung und die Fügung. Voll Segen ist Allah, der Herr aller Menschen.“ Alles, was Allah unentwegt herstellt, empfängt eine Zweckbestimmung durch die Fügung, die er ihm zuweist. Folgen wir Sure 7 noch um weitere vier Verse: „Ruft euren Herrn in Demut und Furcht an! Er liebt nicht die, die den Anstand verletzen. Stiftet kein Unheil im Land, nachdem es in Ordnung gebracht worden ist, und ruft ihn als den, den ihr fürchtet und nach dem ihr verlangt! Die Barmherzigkeit Allahs ist denen nahe, die Gutes tun. Er ist es, der den Wind als Freudenbotschaft vor seiner Barmherzigkeit aussendet. Wenn er dann schwere Wolken hochhebt, führen wir (d. h. Allah) diese an einen leblosen Ort. Dort lassen wir das Wasser hinabregnen und bringen dadurch Früchte aller Art hervor. So werden wir dereinst auch die Toten hervorbringen. Vielleicht laßt ihr euch mahnen. Und die Pflanzen des guten Ortes treiben mit Erlaubnis des Herrn hervor; am schlechten Ort jedoch gedeihen sie nur spärlich. So wandeln wir die Wunderzeichen ab für Leute, die dankbar sind“ (Vers 55–58). Die Fügung stiftet zwischen allen von Allah geschaffenen Erscheinungen und Wesenheiten einen dem Menschen einleuchtenden Zusammenhang, sie erst macht aus allem einen Kosmos, der im Koran fast immer in ganz naiver Weise als dem Menschen zu Nutz und Frommen beschrieben wird. Aber nicht nur das! Sie stiftet auch einen Zusammenhang zwischen dem, was jetzt ist, und dem, was am Ende des Diesseits kommt, und sie zeigt dem aufmerksamen Beobachter, daß nicht er selber es ist, der irgendeine Handlung begeht und durch sie ein angestrebtes Ergebnis erzielt. In diesen beiden aus dem Konzept der Fügung Allahs hergeleiteten Konsequenzen unterscheidet sich die von Mohammed skizzierte Welt diametral von derjenigen
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seiner meisten arabischen Zeitgenossen. Diese nämlich, so heißt es in zahlreichen polemischen Passagen des Korans, rechnen sich die Ergebnisse ihrer Handlungen selber zu und leugnen die Auferstehung und das Gericht. Daß sie nach ihrem Tode noch einmal für ihren irdischen Lebenswandel Rede und Antwort stehen sollen, betrachten sie als eine Zumutung. Die Fügung, die Allah austeilen läßt, macht demnach nicht nur aus dem Raum und den Dingen der Schöpfung einen durch und durch von ihm bestimmten Kosmos, sondern auch aus der Zeit, die von der Gestaltung der Welt aus dem Nichts bis zu deren Vernichtung einen linearen Verlauf nimmt. Die Fügung ist, indem sie letzteres leistet, nicht allein der einzige dem Menschen erkennbare Daseinsgrund dessen, was er um sich herum wahrnimmt, sie ist zugleich auch das Gesetz, das Allah allem, also auch dem Menschen, gibt und das sich in unverfälschter Form in Allahs Worten, im Koran, niederschlägt bzw. niedergeschlagen hat. Dies geht beispielsweise aus der mekkanischen Sure 97 hervor, die gemeinhin auf den Vorgang der Offenbarung bezogen wird. „Wir haben ihn“ – wohl: den Koran – „in der Nacht der göttlichen Bestimmung hinabgesandt. Woher weißt du, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist steigen in ihr mit Erlaubnis ihres Herrn hinab, jegliche Art von Fügung. Voll Heil ist sie bis zum Anbruch der Morgenröte.“ Was der Geist sei, machte schon Mohammeds Zuhörern Probleme; in Sure 17, Vers 85 klärte er sie darüber auf, daß der Geist ein Teil der Fügung Allahs sei, befähigt, so haben wir zu ergänzen, die Fügung Allahs in menschliche Worte umzuformen und Mohammed vorzu tragen. Mit seiner Rede bezeugt sich Allah unmittelbar als im Kosmos gegenwärtig, was wir sonst lediglich, wie vorher erwähnt, aus den Wirkungen erschließen können – der Regen beispielsweise bringt Nahrung hervor. In der späteren Theologie wird man leidenschaftlich über den Seinsstatus dieser Rede streiten – gehört sie ganz dem göttlichen Sein zu, ist sie Teil seiner Schöpfung, oder ist sie etwas Drittes, das es eigentlich angesichts der klaren Gegenüberstellung von Allah, dem schöpferischen Sein, und dem Diesseits, dem geschaffenen Sein, gar nicht geben dürfte? Für Mohammed selber, der ja kein Theologe war, stand außer Frage, daß in den Worten des Korans, die er und seine Anhänger vortrugen, ein jenseits der gewöhnlichen Dinge und Erscheinungen des Kosmos liegendes Sein gegenwärtig war, oder besser: im Vortragen vergegenwärtigt wurde. Eben deshalb verlangte er auch von den Zuhörern der Koranrezitation die Proskynesis, was, wie erwähnt, bei den Mekkanern auf Widerwillen stieß. Im Gebetsritual und in den vereinzelten Niederwerfungen, die bei der Rezitation bestimmter Stellen des Korans empfohlen werden, ist dieses Verlangen Mohammeds gleichsam kanalisiert
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worden. Der Glaube an das „Verborgene“, wie er beispielsweise am Beginn von Sure 2 zur Pflicht gemacht wird, ist ebenfalls ein Ausdruck für Mohammeds Idee vom Kosmos, der letzten Endes nicht durchschaut werden kann und daher hingenommen werden muß. Diese Vorstellungen – der Kosmos als ein von Allah souverän gestalteter Prozeß, in den auch der Mensch ganz und gar einbezogen ist – sind für Mohammed so übermächtig, daß demgegenüber das Bild des Schöpfers, der „am Anfang“ die Welt aus dem Nichts ins Leben ruft, vollkommen verblaßt. Wir finden im Koran keinen Schöpfungsbericht, keine Darstellung des Sechs-Tage-Werkes, wohl aber einige ferne Anklänge an die biblische Szenerie. „Seit ihr etwa schwieriger zu schaffen oder der Himmel?“ fragt Mohammed in Sure 79 und fährt fort: „Er hat ihn gebaut, hat sein Dach oben errichtet und ihn ebenmäßig ausgedehnt, machte die Nacht des Himmels dunkel und ließ sein Sonnenlicht hervortreten. Und die Erde hat er danach hingebreitet. Wasser und Weide brachte er aus ihr hervor, und die Berge verankerte er fest, euch und eurem Vieh zum Gebrauch“ (Vers 27–33). Am Ende der Passage steht gleich wieder die Zweckbestimmung, das, was der Fügung zu danken ist. Diese ist hier nicht genannt, aber sie ist mitgedacht, so daß dem Werk Allahs der Charakter des Einmaligen, des Anfangs genommen und das Wirken in die Gegenwart hinein verlängert wird. Ähnliches beobachten wir an vielen Stellen im Koran, wir wollen es hier bei dem einen Beispiel bewenden lassen. Worauf es Mohammed im Zusammenhang mit der Schöpfung ankommt, erkennen wir an den insgesamt sieben Stellen im Koran, an denen er summarisch auf den Anfang zu sprechen kommt (7, 54; 10, 3; 11, 7; 25, 59; 32, 4; 50, 38; 57, 4): „Er ist es, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen schuf. Dann nahm er auf dem Thron Platz. Er weiß, was in die Erde eindringt und was aus ihr heraustritt, was vom Himmel herabkommt und was in ihn hinaufsteigt. Er ist mit euch, wo immer ihr seid. Allah durchschaut alles, was ihr tut“ (Sure 57, 4). Der Thron, oder genauer, daß Allah auf ihm sogleich nach Beendung der Schöpfung Platz nimmt, um sein Werk wie ein allzuständiger, allmächtiger Herrscher zu regieren, das fasziniert Mohammed, und von dieser Vorstellung aus entwirft er das Verhältnis von Allah und Welt. Allein was den Menschen betrifft, so finden wir im Koran immer wieder eine eigenartige Doppelung, die seine Ausnahmestellung im Kosmos plausibel machen soll. In Sure 53 fehlt diese Doppelung noch; Allah schafft den Menschen aus einem Samentropfen, hieß es dort – Schöpfung allein als das Bewirken des alltäglichen Vorganges der Zeugung und seiner Folgen. In den mittelmekkanischen Suren tritt ein Motiv hinzu: „Wir haben den Menschen aus einem erlesenen Stück Lehm geschaffen. Darauf machten wir ihn zu einem Samentropfen an einem festen Ruheplatz, schufen dann aus dem
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Tropfen einen Embryo, aus dem Embryo einen Fötus, dann aus dem Fötus Knochen, die wir mit Fleisch bekleideten. Hierauf bildeten wir ihn zu einem anderen Geschöpf um. Voller Segen ist Allah, der beste Schöpfer“ (Sure 23, 12–14). An die Erschaffung des Menschen aus Lehm knüpft Mohammed öfter die Aussage, Allah hauche ihm etwas von seinem Geist ein (z. B. Sure 32, 7–9). Der Geist aber ist, wie dargelegt wurde, ein Teil der von Allah ausstrahlenden Fügung. Zu ihr hat der Mensch somit eine engere Beziehung als die übrige Kreatur, ein Gedanke, der sich in der islamischen Anthropologie, wie wir in der nächsten Vorlesung hören werden, nur unter erheblichen Behinderungen Geltung verschaffen konnte gegenüber dem Menschenbild, das der bloßen Kreatürlichkeit, dem ununterbrochenen Geschaffenwerden alles Seienden und so auch des Menschen, entspricht und seinen Inbegriff im Herrschaftsthron Allahs hat. In der altarabischen hochreligiös geprägten Dichtung taucht das Motiv des Thrones selbstverständlich auf. Er ist wie in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 4, von den Symbolen der Evangelisten umgeben, und er ist bei Umaija b. abī Ò-Ñalt ein wesentlicher Teil der Szenerie des Weltgerichts. Solche Darstellungen der Wiederkunft des erhöhten Herrn mögen Mohammed und seine arabischen Zeitgenossen in Syrien kennengelernt haben; sie waren ein vielfach belegtes Motiv der byzantinischen Kunst. Doch auch eine andere Quelle ist denkbar. Es ist die syrische Hymnenliteratur, ausgehend von Ephraim im 4. Jahrhundert, wesentlich bereichert von Romanos im 5. Jahrhundert, dessen religiöse Hymnen (kontakia) auch auf syrisch Verbreitung fanden. Die thematischen Überschneidungen zwischen dem Koran, der für arabische Ohren damals so verführerisch neuen „Lesung“, und jenen Literaturdenkmälern sind verblüffend; manche Suren, so die 26. und die 55., ahmen sogar den Strophenbau der kontakia nach. Doch müssen wir hier dies alles auf sich beruhen lassen. Das Bild des erhöhten Christus, so dürfen wir annehmen, diente Mohammed als Anregung, als er den Weg zum Eingottglauben beschritt. Er verwandelte das Bild freilich seinen eigenen religiösen Ideen an, die, wie gezeigt, sich aus unterschiedlichen Quellen speisten – von der heidnischen situationsbedingten Monolatrie bis zu gnostischen Vorstellungen vom Erwerb der Reinheit und des Heils, übertönt aber schließlich durch das Íanīfentum, das den Menschen als in unveränderlicher Weise von Allah auf Allah hin geschaffen betrachtet, und ganz und gar durch dessen Fügung bestimmt, wie der ganze Kosmos. Wie in einem Brennpunkt ist dieses mohammedsche Verständnis von Allah und Kosmos in Sure 2, Vers 255 zusammengefaßt, der in der islamischen Frömmigkeit nicht von ungefähr immer wieder zitiert und durchdacht wird. Diese im Deutschen als Thronvers bezeichneten, in Wirklichkeit vom Fußschemel vor Allahs Thron han-
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delnden Zeilen lehnen sich an die nicht nur in der Ostkirche verbreitete Vorstellung von der Erde als Christi Fußschemel an (nach Apg 7, 49 unter Bezug auf Jes 66, 1 f.). Sie preisen Allah als das einzige in sich selber beständige Wesen, von dessen Schöpfungshandeln das ganze Diesseits in jedem Augenblick vollständig abhängig ist; sein Fußschemel umschließt das gesamte Diesseits, dessen einzelne Gegebenheiten nur Allah zur Gänze kennt. Alles, was der Mensch davon in Erfahrung bringt, gesteht Allah ihm zu; ohne Allahs Erlaubnis weiß der Mensch gar nichts.
II. Das Menschenverständnis des Islams Vgl. die Bemerkungen vor dem Text Nr. I in diesem Abschnitt.
Allah und Kosmos sind im Koran, wie wir in der vorigen Vorlesung ausführten, unmittelbar aufeinander bezogen. Die Fügung, arabisch al-amr genannt, geht ununterbrochen von Allah aus und gewährleistet, daß alles, was ist, nicht einen Augenblick lang ohne eine unmittelbare Bindung an den Ratschluß des Schöpfers bleibt. Dieser wird von Mohammed als ein souveräner Herrscher auf dem Thron verstanden. Unklar ist freilich der Seinsstatus dieser Fügung sowie auch ihrer speziellen Erscheinungsform, der göttlichen Rede, die im Koran zu Buche geschlagen ist. Mohammed hat über dieses Problem nicht reflektiert und seiner Nachwelt den schwierig zu deutenden Begriff des „Verborgenen“ (arab.: al-ġaib) hinterlassen. An dieses Verborgene zu glauben, ist laut Sure 2, Vers 3 Pflicht. Da das, was im Verborgenen wirkt, ein von Allah ausgehendes Seiendes ist, muß es selbstverständlich geschaffen sein, aber eben nicht von der Art, wie das Diesseits, das wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. Der Mensch ist ein Teil des in ständigem Geschaffenwerden befindlichen Kosmos, und damit könnte es für uns sein Bewenden haben – wenn nicht immer wieder davon die Rede wäre, daß das Diesseits von Allah auf den Menschen hin geordnet wäre, gleichsam ihm zum Nutzen. Immer wieder wird nach der Einverleibung des Ideengutes des Íanīfentums darauf hingewiesen, daß der Mensch begreifen soll, daß er zu Allah hin geschaffen ist und daß er diese Einsicht in seine ursprüngliche Wesensart (arab.: al-fiÔ ra) durch die Riten auf Dauer zu stellen hat. Schließlich habe Allah seine dem Menschen verständliche Rede herabgesandt, eine nur den Menschen angehende, ihn belehrende Erscheinungsform der göttlichen Fügung. Der Mensch ist ein Teil des von Allah in allen Einzelheiten gelenkten Kosmos; trotzdem hat es mit ihm etwas Besonderes auf sich, dem ich in dieser Vorlesung auf die Spur kommen möchte. Indem sich uns dieses Besondere in seinen Umrissen enthüllt, werden wir besser begreifen, von welcher Art Allah und sein Kosmos sind. 1. Der Mensch als Stellvertreter Allahs und der Islam Wenn wir von den ganz frühen Andeutungen einer Möglichkeit der Selbsterlösung des Menschen absehen, die, wie in der letzten Vorlesung
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erörtert, durch den Îanīfischen Begriff des Schöpfers, veranschaulicht mit dem Bild des Thronenden, völlig überlagert werden, dann entdecken wir im Koran der mittelmekkanischen Periode die ersten Indizien für eine Neubestimmung des Menschen im Kosmos. Wir sprachen von seiner eigenartigen Qualität, die uns beispielsweise in Sure 23, Vers 12 bis 14 begegnete: „Wir haben den Menschen aus einem erlesenen Stück Lehm geschaffen. Darauf machten wir ihn zu einem Samentropfen an einem festen Ruheplatz“, worauf die Umgestaltung zum Embryo, zum Fötus usw. erfolgt. Der irdenen Form haucht Allah etwas von seinem Geist ein (z. B. Sure 15, 29), der – wie die Rede Allahs – eine Erscheinungsform der Fügung ist. Die Sonderstellung des Menschen innerhalb des Schöpfungsgeschehens wird im Koran stets nur angedeutet, niemals aber klar auf den Begriff gebracht. Ich werde hier zwei Stellen genauer betrachten. In der Sure 2 teilt Allah den Engeln mit, daß er auf der Erde einen Ì alīfa einsetzen werde. Das Wort ist mehrdeutig, sofern man den Sinn im Auge hat, den es im späteren religiös-politischen Diskurs annimmt. Es bezeichnet zum einen den „Nachfolger“ des Propheten in der Herrschaft über die Muslime, den „Kalifen“, oder aber den „Stellvertreter“; gemeint ist hiermit der „Stellvertreter Allahs“ in der Welt, ein Konzept, das um die Mitte des 7. Jahrhunderts in die Kalifatsideologie eindringt. Beides wird in Sure 2 noch nicht unter Ì alīfa verstanden. Mit diesem Wort bezeichnete man damals den Sachwalter, den Mohammed mit der Leitung der rituellen Gebete in Medina betraute, wenn er Raub- oder Kriegszüge befehligte und deswegen diese Aufgabe nicht selber wahrnehmen konnte. Ë alīfa ist im allgemeinsten, wörtlichen Sinn der beim Troß und den Nichtkombattanten „Zurückgelassene“ eines kriegführenden Stammes. Allah also will auf der Erde einen Ì alīfa zurücklassen, worauf die Engel ihn warnen, dieser werde womöglich Unheil anrichten, während sie, völlig Allah ergeben, wie sie seien, doch unentwegt dem Gotteslob oblägen. „Ich weiß, was ihr nicht wißt!“ Mit dieser Wendung verbittet sich Allah die Warnungen. „Und (Allah) lehrte Adam alle Namen. Hierauf legte er den Engeln (alles Geschaffene) vor und forderte: ‚Tut mir deren Namen kund!‘ … Sie erwiderten: ‚Gepriesen seist du! Wir haben kein Wissen außer dem, das du uns (eigens) mitteiltest!‘“ Auf Geheiß Allahs trägt Adam nun den Engeln die Namen aller geschaffenen Wesen vor, die Allah ihn gerade gelehrt hat (Sure 2, 31–33). Darauf befiehlt Allah den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen; sie gehorchen bis auf Iblīs – eine Verballhornung von diabolos –, der, wie es an dieser Stelle heißt, sich einem Akt der Verehrung des Menschen verweigerte (Vers 34). In Sure 15 erhalten wir näheren Aufschluß über Iblīs’ Weigerung und deren Beweggründe. Allah erschuf den Menschen aus feuchtem Ton, die unsichtbaren Geister und Engel hingegen aus Feuer. „Sobald ich (Adam) geformt und ihm dann etwas von
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meinem Geist eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder!“ forderte Allah, und alle Engel außer Iblīs taten, wie von ihnen verlangt worden war. Von Allah zur Rede gestellt, rechtfertigte er sich damit, daß er aus Feuer, einem edleren Material als Ton, gebildet worden sei. Allah verfluchte ihn, vertrieb ihn aus dem Paradies, räumte ihm aber die Möglichkeit ein, die Menschen zur Abwendung von Allah zu verführen, solange das Diesseits besteht. Allein über die Allah gehorsamen Diener werde Iblīs keine Macht erringen (Sure 7, 11–18 und Sure 15, 26–43). Der Mensch ist demnach Allahs Ì alīfa, weil dieser ihm etwas von seinem Geist einhauchte – nur etwas, das sei hier schon betont! Alles Geschaffene ist in jedem Augenblick seines Seins unmittelbar zu Allah. Alles Geschaffene außer dem Menschen verhält sich dementsprechend, kann sich gar nicht anders verhalten; es ist Allah als dem Quell seines Seins unverbrüchlich zugewandt. Allein der Mensch erhielt, indem Allah ihm etwas von seinem Geist einhauchte, die Gelegenheit – und die schwere Pflicht –, sich diese Grundwahrheit seines Seins unablässig bewußt zu machen, eine um so schwerere Pflicht, als Allah Iblīs gestattete, in dieses Ringen des Menschen um die ständige Gewißheit der Geschöpflichkeit störend einzugreifen. Deshalb mahnt Mohammed im Koran ein ums andere Mal, man möge sich die Tatsache der Geschöpflichkeit ständig vor Augen halten und Allah gegenüber Dankbarkeit bekunden. Das Verweigern der Dankbarkeit gegenüber Allah – für das in jedem Augenblick durch ihn bestimmte Dasein – entspricht somit dem, was wir als Unglaube bezeichnen würden. Indem Allah Adam alle Namen des Geschaffenen lehrte, schenkte er ihm die Möglichkeit dazu, sich die Geschöpflichkeit bewußt zu machen und, indem er diesen Sachverhalt zu durchschauen lernt, seiner Dankespflicht nachzukommen. Alles Geschaffene außer dem Menschen, so wird man später sagen, spendet mit seinem Dasein spontan Allah Lob – so auch die Engel, die ganz und gar von seiner Fügung geprägt sind. Einzig der Mensch ist aufgerufen, das Lob in Erwägung des göttlichen Schöpfungswerkes zu spenden, und wird deswegen, wie wir sehen werden, zum herausgehobenen Partner Allahs. Hätte Allah Adam den Geist vollständig eingehaucht, so wäre Adam ihm gleich geworden. Das war nicht der Fall, und so ist es möglich, daß Adam in seinem Erkennen der Geschöpflichkeit und in der Dankbarkeit hinter dem Geforderten zurückbleibt, zumal, wie erwähnt, Iblīs ihn zu verwirren vermag. Der Mensch darf sich mithin nicht darauf verlassen, daß er in seinen diesbezüglichen Bemühungen stets Erfolg haben wird. Jeder autonome Gebrauch jener Quantität eingehauchten Geistes, die man in der islamischen Theologie mit der Ratio gleichsetzt, wäre verhängnisvoll. So wird uns zwar in Sure 6 geschildert, wie Abraham aus der Tatsache, daß Sterne, Mond und Sonne untergehen, mithin einem Wechsel unterworfen sind, den Schluß zieht, daß sie nicht der eine, ewige, beständige Schöpfergott sein können
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und folglich keine Anbetung verdienen. Dieser „rationale“ Schluß ist aber keineswegs die Grundlage seines Eingottglaubens, den er fortan seinem Volk predigt. Entscheidend ist vielmehr, daß Allah wollte, daß Abraham zu dieser Einsicht kam: „So zeigen wir Abraham (unser) Herrschen über Himmel und Erde und damit er einer von denen sei, die Gewißheit erlangen“ (Sure 6, 75). Und wenig später führt Abraham im Streit mit seinen Leuten als wichtigstes Argument gegen deren Vielgötterei an, daß Allah ihnen dazu keine Vollmacht herabgesandt habe (Vers 81). Auch die Verfehlung des Iblīs besteht ja darin, daß er autonom aus seiner Beschaffenheit den Schluß zog, Adam müsse durch ihn nicht verehrt werden, zumal die Anbetung eines geschaffenen Wesens von Allah ohnehin mit strengsten Strafen geahndet wird. Allahs Handeln und Wollen können eben auch von der Art sein, daß die Ratio des Menschen, die ja nur „etwas von seinem Geist“ umfaßt, dieses Handeln und Wollen irrtümlich als widerrational wahrnimmt. Die sichere, seinem Heil in keinem Fall abträgliche Haltung, die der Mensch deshalb gegenüber Allah einnehmen kann, ist der islām im eigentlichen Sinn, eine Beziehung zu seinem Schöpfer, die, bildlich gesprochen, von Angesicht zu Angesicht besteht und bei der im unverwandten Blicken des Menschen auf Allah, den Schöpfer, die Schöpfung nicht störend ablenkt. „Ich richte das Gesicht auf denjenigen, der die Himmel und die Erde schuf!“ sagt Abraham, sobald ihm einsichtig geworden ist, was es mit den Gestirnen auf sich hat (Sure 6, 79). Auf diese Geste, mit der der Mensch sich in die Lebenshaltung hineinfindet, die seiner ursprünglichen Geschaffenheit zu Allah hin angemessen ist, kommt Mohammed im Koran des öfteren zu sprechen, so etwa in Sure 3, Vers 20: „Wenn (die Andersgläubigen) gegen dich argumentieren wollen, dann sprich: ‚Ich wende das Gesicht (ausschließlich) zu Allah, und auch diejenigen, die mir folgen!‘“ In der Polemik mit den Juden und Christen sowie mit den Heiden soll sich Mohammed auf Abraham berufen, und zwar auf jenen Augenblick in dessen Leben, als dieser seine Geschöpflichkeit in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt. Diese das ganze Dasein des Menschen beherrschende Tatsache verlangt eine neue Art von Frömmigkeit, die diejenige der „Strengen“ weit hinter sich läßt. Diese verzichteten während der Pilgertage auf bestimmte Annehmlichkeiten der Zivilisation, die man als Eingriffe in das Wirken des an der Kaaba verehrten Allah verstehen mußte – Körperpflege, Verarbeitung von durch Allah gewährten Lebensmitteln, Betreten der Zelte bzw. Häuser durch den dafür vorgesehenen Eingang (vgl. Sure 2, 189). Allah, der nimmer ruhende Schöpfer, konnte sich mit solchen zeitlich begrenzten Handlungen der Verehrung und der Bekundung des Dankes nicht zufriedengeben. Er verlangte eine Verstetigung der ihm zu zollenden Ehrerbietung. Diese Verstetigung benennt Mohammed mit dem Wort islām: Die Geste des Hinwendens des Gesichts zu Allah wird seit der mittleren mekkanischen
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Periode seiner Verlautbarungen mit dem transitiven Verbum aslama beschrieben; es gibt das Ausliefern, Im-Stich-Lassen einer Sache oder einer Person wieder und ist in unserem Zusammenhang insofern angebracht, als Abraham bzw. Mohammed das Gesicht, nämlich alles Trachten und Denken, ausschließlich auf Allah konzentrieren und im Idealfall die Schöpfung gar nicht mehr als etwas Beachtenswertes empfinden sollen. In Vers 19 der vorhin zitierten 3. Sure steht in eben diesem Sinn das Verbalnomen alislām: „Die (einzige) Glaubenspraxis ist nach Allahs Auffassung der islām. Diejenigen, die das Buch erhielten, entzweiten sich (über den rechten Glauben) erst, als das Wissen schon zu ihnen gekommen war, wobei sie sich gegeneinander auflehnten …“. Abraham war, wie man ebenfalls in Sure 3 hört, weder Jude noch Christ gewesen, sondern hatte die von Allah ursprünglich den Menschen zugedachte Glaubenspraxis, den islām, begründet. Dessen Entartung haben wir in Judentum und Christentum vor uns, weshalb Mohammed sich im Streit mit deren Bekennern auf Abraham berufen soll: „Ich wende das Gesicht ausschließlich zu Allah …“. „Frage“, so heißt es in Vers 20 weiter, „(doch) diejenigen, die das Buch erhielten, und die Heiden: ‚Wendet auch ihr?‘ und wenn sie (es) wenden, dann haben sie den richtigen Weg gefunden …“ Juden und Christen irrten von dieser Urfrömmigkeit ab; nun haben sie die Gelegenheit, diesen Fehler zu korrigieren. Den arabischen Heiden hingegen bietet sich jetzt erst- und letztmalig die Möglichkeit, die einzig wahre Deutung des Daseins und ihre rituellen Konsequenzen aufzugreifen. Der islām, wie eben beschrieben, entspricht den über die übrige Schöpfung hinausreichenden Fähigkeiten des Menschen, dem Allah „etwas von seinem Geist“ eingehaucht hat. Dieses „Etwas“ langt aus, um mit Allahs Hilfe und mit seiner Vollmacht die Geschöpflichkeit und die aus ihr folgende Dankesschuld zu erkennen und abzustatten. Diese zusätzlichen Fähigkeiten sind aber zu gering, um Allahs Schöpfungshandeln zu durchschauen oder gar in dieses einzugreifen und die Resultate solchen Eingreifens einem eigenen Handlungsvermögen zuzuschreiben. Der islām ist, recht verstanden, zugleich ein Schutz gegen derartige Allah verhaßte Verirrungen. Sich Allah ganz zuzuwenden, der vollkommene islām mithin, findet seine Ergänzung in der Hinwendung Allahs zum muslim – dies ist das Partizip aktiv zu aslama und islām. Die heilvolle Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf vollendet sich in einer gegenseitigen Zugewandtheit, deren Gelingen freilich auch nicht das Werk des Geschöpfes, sondern einzig Allahs ist. Allah als Gegenüber ist, auch das sei nicht vergessen, keineswegs der Vater, als den Jesus Gott wahrnahm. Allah als Gegenüber seines Geschöpfes bleibt stets der Weltenherrscher auf dem Thron, wie wir ihn in der ersten Vorlesung erörtert haben. Vor ihm befindet sich der Mensch im Status des Knechtes, wie Mohammed dies in Sure 51, Vers 56 klar ausdrückt: „Ich habe die
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Dschinnen und die Menschen nur dazu geschaffen, daß sie mir dienen“, sagt Allah und fügt hinzu, daß er keineswegs von den Opfern abhänge, die man ihm darbringe; vielmehr sei er es, der allen Menschen ihren Lebensunterhalt gewähre. 2. Kämpferische Gläubigkeit und die Freiheit des Willens Diese gänzliche Abhängigkeit des Menschen von Allahs Schöpfungshandeln, die wir vorhin beschrieben, kann nach Mohammeds Vorstellung nur in einem einzigen klar umrissenen Zusammenhang überwunden werden, nämlich im Kampf „auf dem Pfade Allahs“, wie es im Koran an zahlreichen Stellen heißt. Wenn man zu den Waffen greift, um den Machtinteressen des muslimischen Gemeinwesens dienstbar zu sein, dann gibt man Allah ein Darlehen, das man reichlich verzinst am Ende der Geschichte zurückgezahlt bekommen wird (z. B. Sure 57, 11 und 18). Geld gegen hohe Zinsen zu verleihen, ist verboten. Es wäre ein Eingriff in den von Allah festgelegten Lebensunterhalt; anders verhält es sich allein mit dieser Art von Darlehen, das einem anderen Zweck dient: Es ist in höchstem Maße erwünscht. Denn jemand, der Allah auf diese Weise das eigene Leben, womöglich auch den ganzen Besitz als einen Kredit überschreibt, der darf sich zu den wahrhaft Gläubigen rechnen. Diese Definition von Gläubigkeit, die sich beweist, indem man sich vorbehaltlos den politischen und militärischen Zielen Mohammeds zur Verfügung stellt, findet sich zum ersten Mal in Sure 8, die kurz nach dem Sieg bei Badr im Jahre 624 entstand. Dort heißt es: „Diejenigen, die gläubig wurden, (nach Medina) auswanderten und mit ihrem Hab und Gut und ihrem Leben auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen, und diejenigen, die (diese) beherbergen und unterstützen, die sind einander freund … Diejenigen, die gläubig wurden, auswanderten und auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen, sowie diejenigen, die jene beherbergen und unterstützen, das sind die wahrhaft Gläubigen …“ (Sure 8, 72 und 74). Glaube ist demnach deutlich vom islām, von der rituellen Hinwendung des Gesichts bzw. der Person auf den einen Schöpfer, zu unterscheiden. Man kann Muslim sein, d. h. die Riten vollziehen, ohne daß man gläubig ist. In Sure 8 hatte Mohammed unmißverständlich dargelegt, daß es unzureichend sei, sich zwar zu den von ihm angeordneten Riten zu bekennen, aber nicht „auszuwandern“ und sich nicht seinem Befehl zur Verfügung zu halten. Bei Badr waren auf mekkanischer Seite etliche Muslime gefallen, die nicht den Weg nach Medina gegangen waren; laut Sure 4, Vers 97, etwa aus derselben Zeit stammend, werden die Engel diesen Muslimen am Jüngsten Tag vorhalten, daß sie die Auswanderung zu Mohammed versäumten, und dann haben sie die Höllenstrafe zu gewärtigen. Später mußte Mohammed einsehen, daß
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unmöglich alle, die sich seinen Riten anschlossen, auch die Hedschra vollziehen konnten. Insbesondere die Beduinen mußten mit ihrem Vieh von Weideland zu Weideland ziehen und hätten beim besten Willen nicht nach Medina kommen können, um sich in die Truppen der Gläubigen einzugliedern. In Sure 49, Vers 14 beharrt Mohammed darauf, daß sich solche Beduinen nicht als gläubig bezeichnen dürfen. Da sie nicht „mit ihrem Vermögen und ihrem Leben auf dem Pfade Allahs fechten“, sind sie allenfalls Muslime. Wahre Gläubigkeit beweist sich im aktiven Mittun in einer Kampfgemeinschaft auf dem Pfade Allahs. Diese in den medinensischen Suren allgegenwärtige Überzeugung wirkte nach Mohammeds Tod fort und fand reichliche Betätigungsgelegenheiten in den einsetzenden Eroberungszügen, deren Geschichte hier nicht nacherzählt werden kann. Die frühesten noch ganz rohen theologischen Texte des Islams spiegeln diese Situation wider. Sie legen beispielsweise Sure 53, Vers 38 nun im Sinne der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Jenseitsschicksal aus. Wie erinnerlich, war in Sure 53 von den Schriften des Abraham und des Mose die Rede, in denen der ganze Weltenlauf niedergelegt ist, so daß am Ende der Zeiten jeder sehen kann, daß es mit ihm genau so gekommen ist, wie von Allah vorgesehen: Kein Mensch brauchte die Last eines anderen zu tragen. Jeder muß sich selber unter Einsatz aller Kräfte um ein gutes Tatenkonto kümmern, so versteht man das nun und will überhaupt jegliche Entscheidung, die im Koran auf das Endgericht verschoben wird, schon hier und heute fällen, und zwar im Sinne einer radikalen Erfüllung der kämpferischen Gläubigkeit. Wenn zum Beispiel in Sure 10, Vers 93 Allah ankündigt, er werde Streitfälle, die unter den einander bekämpfenden Richtungen der Israeliten aufgekommen seien, am Jüngsten Tag entscheiden, dann darf dergleichen unter den Muslimen nicht gelten. Die Entscheidung muß jetzt sofort gefällt werden, damit überhaupt gar nicht erst Streit ausbrechen kann, und ein sofortiges Urteil ist nur denkbar, indem man den Koran zur Richtschnur erhebt, der ja unmittelbar Allahs Wort sein soll. Mithin müssen die medinensischen Verhältnisse, wie sie unter der Herrschaft des Propheten gegeben waren, in die Gegenwart hinein fortgelten, und ist dies nicht der Fall, dann müssen sie wiederhergestellt werden. Die kämpferische Gläubigkeit, in der ein Muslim „Allah ein gutes Darlehen zu geben“ vermag, aktualisiert sich durch die ganze islamische Geschichte hindurch stets in, sagen wir: „Streßsituationen“, in der eine Restaurierung der prophetischen Urgemeinde von etlichen Muslimen für wünschenswert erachtet wird. Die Propagandarhetorik der iranischen Revolution nahm unmittelbar auf diese Vorstellungen Bezug, aber auch radikale sunnitische Gruppierungen wurzeln in diesem Gedankengut, indem sie den bestehenden Staat für ungläubig erklären und von ihren Gefolgsleuten eine Wiederholung der Hedschra fordern.
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Ausgehend von diesen Ideen, hat man seit dem frühen 8. Jahrhundert versucht, die Handlungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen unabhängig von solchen Streßsituationen in ein islamisches Dogma zu gießen. Löst man freilich die Forderung nach selbstbestimmter Mehrung des Jenseitsverdienstes vom „Kampf auf dem Pfade Allahs“ ab, um sie zu verallgemeinern, gerät man allzu rasch mit dem islām im Sinne der geschöpflichen Hingewandtheit zu Allah in Konflikt, die ja stets als das löbliche Gegenteil einer als frevelhaft empfundenen Freude an der eigenen Leistung empfohlen wurde. Der islām mußte in diesem Zusammenhang als das Vertrauen darauf gedeutet werden, daß Allahs Schöpfungshandeln prinzipiell das Beste, Tauglichste (arab.: al-aÒ laÎ ) bewirke, und der Mensch könne dies dank seinem Verstand auch erkennen; unter Zugrundelegung der in ihrem Sinn ebenfalls rational erfaßbaren göttlichen Bestimmungen könne der Mensch im klug berechneten irdischen Handeln Jenseitsverdienst aufhäufen. Diese Theologie, deren Verfechter unter dem Namen MuÝtaziliten bekannt wurden, blieb die Sache einer Minderheit, und dies vor allem aus zwei Gründen: a) Der Inhalt des Begriffs des Tauglichsten ließ sich nicht näher bestimmen, und wenn Allah sein Schöpfungshandeln an ihm orientierte, wieso scheiterten dann so viele Menschen trotz all ihrer ernsthaften Anstrengungen, und wieso fiel anderen alles in den Schoß? Im übrigen konnte die Rationalität der rituellen Handlungen nur unter abschreckenden Haarspaltereien verfochten werden. b) Damit wurde die Würde des islāms, der Hingewandtheit zum Schöpfer, in Frage gestellt und letzten Endes auch die Würde Allahs, der vom unausrechenbaren Souverän zu einem berechenbaren Sachwalter menschlicher Heilsinteressen degradiert wurde. Der Mensch aber hat nur „etwas von dessen Geist“ eingehaucht bekommen, und was hiermit gesagt sein sollte, habe ich erörtert. So ist es kein Wunder, daß, noch während man sich über die Eigenverantwortlichkeit des Menschen die Köpfe heiß redete, eine vom islām her argumentierende Strömung Profil gewann und schon im Laufe des 9. Jahrhunderts auch unter den Gebildeten dem muÝtazilitischen Rationalismus den Rang ablief, freilich nicht ohne bei ihm reiche geistige Anleihen aufzunehmen. 3. Die Entmächtigung des geschaffen Werdenden Die MuÝtaziliten hatten den Kosmos, also auch den Menschen, aus Substanzpartikeln und diesen inhärierenden Akzidentien bestehen lassen; letzteren rechneten sie auch das Erkenntnis- und das Handlungsvermögen nebst
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den Kräften des Willens zu. Diese, sagen wir: „geistigen“ Akzidentien machten aus der Anhäufung von Materiepartikeln, aus denen jeder Mensch bestand, einen erkennenden, wollenden, handelnden Organismus. Dieser wiederum war ein Teil des von Allah nach dem Prinzip des „Tauglichsten“ geschaffen werdenden Kosmos, und er war durch Allahs Wort dazu aufgerufen, sich in diesem Kosmos durch eigenverantwortliche Einhaltung der Gesetze zu bewähren und das Anrecht auf ein glückhaftes Jenseits zu erwerben. Der Koran, die Gesetzesrede Allahs, Teil seiner Fügung, wurde zu einer Verkündigung in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation entsakralisiert. Er war die letzte Verkündigung Allahs. Aber eben darum konnte er nur ein von Allah der Menschheit übermittelter Fingerzeig sein, ein allgemeiner Hinweis darauf, wie sie unter Nutzung des Verstandes fortan das Leben gestalten müsse, um beim Endgericht zu bestehen. Wir hörten in der vergangenen Vorlesung, daß Mohammed die Pros kynesis beim Koranvortrag verlangte, weil in der koranischen Rede Allahs Fügung gegenwärtig ist, mithin ein Sein, das von anderer Art ist als das diesseitige durch unsere fünf Sinne erfaßte. Diese numinose Qualität der Gottesrede, der Eckstein der im rituellen Gebet immer aufs neue vollzogenen Hinwendung zu Allah, des islāms im eigentlichen Sinne, wurde durch diese Entsakralisierung und Historisierung der Rede Allahs geschleift; desgleichen wurde die Autorität Mohammeds als des Quells des von Allah selber sanktionierten islamischen Handelns und Verhaltens untergraben: Wie man die Riten praktizierte, wie man einen Pachtvertrag abschloß, wie man den Dschihad führte, war nunmehr zumindest ein erhebliches Stück weit der Verantwortlichkeit des Menschen anheimgegeben. Sie hatten diese Fragen unter Beachtung der sich wandelnden Lebensumstände immer wieder neu zu beantworten. Schon damals aber war die Sunna, die im Hadith überlieferte Verhaltensweise des Propheten, in den Augen der Mehrheit der Muslime das übergeschichtliche und daher von den Veränderungen der Welt unabhängige Vorbild eines schariagemäßen Lebensvollzugs. Für den Koran galt dies um so mehr: Sein Inhalt war eine verpflichtende ewige Wahrheit und keineswegs nur eine Anregung zu selbständigem Suchen nach Normen. In der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus formierte sich somit die Hauptrichtung des Islams, das Sunnitentum, dessen Grundsätze sich mutatis mutandis auch bei den meisten schiitischen Denominationen wiederfinden. Es stellte den alles gestaltenden Allah, den Schöpfer und Lenker des Diesseits, in den Mittelpunkt des theologischen Denkens und hob den numinosen Charakter seiner Rede hervor. Der Eckstein des islāms wurde, um im Bild zu bleiben, restauriert und in einen schützenden theologischen Rahmen gefaßt: Übergeschichtlich, nicht von dieser Welt sei die Rede Allahs, und nicht nur sie, sondern auch die Sunna; denn war diese nicht die von Allah selber ins
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Werk gesetzte Auslegung seiner Gesetzesrede? Erkauft wurde das so unentbehrliche Dogma von der Übergeschichtlichkeit der Rede Allahs und der Sunna seines Propheten durch die radikale Entmächtigung des Geschaffenen, in Sonderheit des Menschen. Allah verpflichtet die Muslime zum rituellen Gebet; dies sagt er mit eigenen Worten im Koran; wie jedes der Pflichtgebete im einzelnen zu vollziehen ist, erfährt der Muslim aus den in der Sunna überlieferten Aussagen über Mohammeds Art zu beten. Diese ist genau zu imitieren, unabhängig von den sich wandelnden Umständen; sie ist ein für allemal den Erwägungen des Verstandes entzogen. Auf den Ebenen der Physik und Metaphysik erzwingt das Sunnitentum aus den eben angedeuteten Motiven gegenüber dem islamischen Rationalismus eine radikale Vereinfachung. Der Mensch bleibt eine Anhäufung von Substanzpartikeln; aber diese sind nicht mehr in einer aus den diesseitigen Verhältnissen heraus begründbaren Weise aufeinander bezogen – der Mensch ist kein Organismus mehr. Das Wollen des Menschen hatte nach rationalistischer Deutung die Substanzpartikeln eines Menschen insgesamt affiziert, wäre also nicht in einer einzelnen Partikel oder einigen wenigen zu isolieren gewesen. Genau letzteres soll nun aber der Fall sein, zumal jede Substanzpartikel nur noch je ein Akzidens anzunehmen vermag. Ist ihr Akzidens etwa das Rot des Blutes, dann niemals zugleich auch eines des Erkennens oder Handelns. Daß eine Partikelanhäufung „Mensch“ überhaupt erkennt oder handelt, ist aus ihr selber nicht zu begreifen, sondern einzig und allein aus der Tatsache, daß Allah im Augenblick des Geschehens der Handlung bestimmten Partikeln die Fähigkeit zu eben dieser Handlung verleiht. Daß Allah alles in seiner Schöpfung bestimme, und zwar in jedem Augenblick ihres Bestehens, dieser von Mohammed im Koran immer wieder geäußerte Gedanke wird somit in der sunnitischen Metaphysik des 10. und 11. Jahrhunderts auf eine absurde Spitze getrieben. Dem allein Seinsmacht besitzenden Allah steht eine in Substanzpartikeln aufgelöste seinsohnmächtige Schöpfung gegenüber. Diese Substanzpartikeln versieht Allah von Augenblick zu Augenblick mit je einem Akzidens, und dies nach seinem undurchschaubaren Ratschluß. Allahs Rede als Teil seines Bestimmens bleibt auch in dieser Metaphysik ohne einen herausgehobenen Seinsstatus, aber sie ist unauslotbar wie alles, was das Diesseits ausmacht, und für den frommen Beter, der sich um die physischen und metaphysischen Spekulationen nicht kümmert, ist das die Hauptsache. Wer jedoch mit diesen Spekulationen konfrontiert wurde, und das waren viele sunnitische Gelehrte jener Jahrhunderte, konnte an ihnen irre werden. Denn wozu dient das Gesetz, wenn die Geschöpfe gar nicht die Möglichkeit haben, es aus sich heraus zu befolgen? Es ist ein Hinweis darauf, wie nah oder fern ein jeder Mensch im Augenblick einer jeden an ihm geschehenden Handlung dem Heil ist, so die Er-
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klärung eines Gelehrten des 11. Jahrhunderts. Denn ob ein Mensch das Heil erlangen wird, unterliegt natürlich Allahs Bestimmen. Und wozu dient der dem Menschen verliehene Verstand? Allein dazu, so antwortet derselbe Gelehrte, daß der Mensch die eigene Seinsohnmacht erkenne; daß er erkenne, daß er sich des Verstandes eben nicht zu etwas anderem bedienen dürfe als zu dem, wozu Allah ihn bevollmächtigt, um auf die Ausdrucksweise des Korans zurückzugreifen. 4. Der Mensch und das „Verborgene“ Das 11. Jahrhundert ist für den sunnitischen Islam die Zeit einer tiefen krisenhaften Unsicherheit, in ihrer Tragweite derjenigen vergleichbar, die ihn im 19. Jahrhundert überkam und deren Zeugen wir immer noch sind. Der Islam versteht sich als eine Glaubenspraxis, in der der Mensch das abrahamische Innewerden der Hingeschaffenheit zu Allah, der fiÔ ra, in sich festhält, um seinen ganzen Daseinsvollzug daran auszurichten. Das Wissen vom islām und von dessen lebenspraktischen Konsequenzen, auf Allah zurückgehend und im Koran und in der Sunna verbürgt, soll den Muslim so beherrschen, daß es sich unentwegt in seinem Handeln manifestiert, zuerst in den Riten, die den Kern des Handelns des Geschöpfes bilden, dann von diesen ausgehend auch in allem Übrigen, was das Leben des Menschen ausmacht. Das von Allah stammende Wissen und das ebenfalls von ihm bestimmte Handeln bilden im Idealfall eine Einheit. Nahm man die sunnitische Physik und Metaphysik ernst, dann war eben diese Einheit, das Kennzeichen der Heilsbestimmtheit, nicht mehr rational zu erfassen; denn nichts in der total durch Allah bestimmten Welt ließ sich aus den Erscheinungen ebendieser Welt heraus erklären. Diese erschütternde Einsicht stieß den wirkmächtigsten sunnitischen Theologen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts, al-Ġazālī (gest. 1111), auf einen leidvollen Weg aus der Krise, an dessen Ende er das bis auf den heutigen Tag immer wieder studierte Werk „Die Belebung der Wissensarten vom praktizierten Glauben“ niederschrieb, das schnell in der ganzen islamischen Welt verbreitet wurde. Es erschloß dem sunnitischen Islam neue Möglichkeiten der Selbstauslegung, Möglichkeiten, die ihm bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Verfügung blieben und erst durch den bisweilen kruden Literalismus des sogenannten Reformislams verschüttet wurden. Al-Ġazālī erkannte, daß weder die sunnitische Gelehrsamkeit die den Heilszustand ausmachende Einheit von Wissen und Handeln verbürge, denn das gelehrte Wort und die Lebenswirklichkeit klafften allzu oft auseinander; noch das Schiitentum, das die Unterwerfung unter die Anweisungen der Imame forderte, noch auch die Philosophie. Was als Dogma verkündet werde, werde
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von denen, die es verkündeten, nicht befolgt, klagte er. Allein im Sufismus kämen Wissen und Handeln zu der in der islamischen Heilsbotschaft verheißenen Deckung. Was er mit dieser in seiner Bekenntnisschrift „Der Erretter aus dem Irrtum“ aufgestellten These meinte, wollte er seinen Glaubensgenossen in der monumentalen „Belebung“ darlegen, deren 35. Buch wir uns jetzt widmen (vgl. hierzu meinen Aufsatz „Der Textbezüglichkeit entrinnen? AlĠazālīs Erneuerung der Lehre vom tauÎ īd“, in: Der Islam 83 / 2007, 414– 448). Es ist dem Bekenntnis der „Einsheit (arab.: at-tauÎ īd) Allahs“ gewidmet, und wir werden sehen, daß „Einsheit“ im Sinne des koranischen islām auch bei al-Ġazālī gerade nicht in einer Gotteslehre aufgeht. Doch zuvor einige Worte zum Sufismus, auf den al-Ġazālī sich ja beruft. Auch hier gilt es zunächst, ein im Westen allgemein verbreitetes Mißverständnis zu beheben, das den Sufismus als eine dem göttlichen Gesetz fernstehende, es womöglich mißachtende Individualfrömmigkeit ausgibt – woraus dann desweiteren ein Gegensatz zwischen einem strengen, unduldsamen Gesetzesislam und einem duldsamen mystischen Islam konstruiert wird, der sich im gottestrunkenen Besingen von Rose und Nachtigall ergeht. Wir lassen uns, wenn wir dies für wahr halten, wiederum von einer Facette des schon in der vorigen Vorlesung genannten Islamkitsches beeindrucken. Um zu verstehen was es mit dem Sufismus auf sich hat, zitiere ich Sure 29, Vers 45: „Trage vor, was dir an Schrift eingegeben wurde, und verrichte das rituelle Gebet. Das Gebet verbietet einem, abscheuliche und verwerfliche Handlungen zu begehen. Allahs zu gedenken ist allerdings noch bedeutungsvoller.“ Die Riten – hier sind nur die Pflichtgebete genannt – stellen den Menschen vor Allah von Angesicht zu Angesicht. Ganz zu ihm hingewandt, wird der Mensch in den Zeitspannen des Ritenvollzugs nicht in frevelhafter Weise in Allahs Bestimmen einzugreifen versuchen, um sich einen ihm nicht zugedachten Vorteil zu verschaffen. In den übrigen Zeiten des Daseins fehlt ein vergleichbarer Schutz vor Übeltaten; er kann aber hergestellt werden, indem der Mensch bei allem profanen Tun unablässig Allahs gedenkt. Damit haben wir den Kerngedanken des Sufismus freigelegt: Die Ritualpflichten sind sorgfältig zu befolgen; im profanen Alltag ist nicht nur die Scharia zu beachten, alles Handeln muß im Gedenken Allahs geschehen. Der Sufismus strebt die Stabilisierung der Hingewandtheit zum Schöpfer, der fiÔ ra, über das für einen Muslim obligatorische Mindestmaß hinaus an. Dies geschieht auf vielfältige Weise: Man kann die Pflichtriten durch zusätzliche ritualisierte Handlungen der Gottesverehrung ergänzen oder die Pflichtriten unter erschwerenden Begleitumständen der Askese und Selbstkasteiung vollziehen und diese Begleitumstände möglichst weit in die profanen Zeitabschnitte hinein beibehalten; man kann die profanen Zeitabschnitte mit dem bewaffneten Kampf gegen die Andersgläubigen fül-
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len; man kann sich der Sorge um den eigenen Lebensunterhalt so weit wie irgend erträglich entschlagen und im Vertrauen auf Allah, der jedem Menschen den Lebensunterhalt im voraus bestimmt hat, mit Gottesgedenken in den Tag hinein leben; man kann schließlich das Gottesgedenken dergestalt in Regeln fassen, daß es, vor allem wenn es in der Gemeinschaft Gleichgesinnter geübt wird, zu Zuständen der Ekstase führt, in denen die Welt nicht mehr wahrgenommen wird und das Ich des Gedenkenden in dem aufgeht, dessen es gedenkt. Der islām, die Hinwendung zum einen Schöpfer und Lenker, ist in den kurzen Augenblicken, in denen dies gelingt, vollkommen geworden, das Wissen und das Handeln sind zu deckungsgleicher Übereinstimmung gebracht. Diese sufische Vorstellung greift al-Ġazālī auf und legt sie seinen Erwägungen über das Bekenntnis zur Einsheit Allahs zugrunde, das, wie nochmals deutlich wird, kein dogmatisches, sondern ein existentielles sein soll. Al-Ġazālī übernimmt das sufische Lebensideal, in der sufischen Terminologie als tawakkul, als „bedingungsloses Vertrauen auf Allah“ bezeichnet, freilich nicht kritiklos. Im Gegenteil, er tadelt scharf bestimmte Erscheinungsformen dieses tawakkul, so etwa daß man sich ohne Proviant und Geld auf eine Reise begibt und abwartet, daß Allah einem Unterhalt verschaffe. Man könnte das Vertrauen auf Allahs Zusage, er ernähre seine Geschöpfe, auch so weit treiben, daß man bewegungslos verharre und warte, daß einem die Speise in den Mund gelange. Gegen derartige Vorstellungen verwahrt sich al-Ġazālī entschieden. „Bedingungsloses Vertrauen“ dürfe nicht als Untätigkeit mißverstanden werden. – Nach der zuvor skizzierten sunnitischen Theologie seiner Zeit wäre eine solche Interpretation des tawakkul naheliegend; denn eine in der Schöpfung angelegte Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln gibt es ja gar nicht. – Indem al-Ġazālī den, wie er meint, mißverstandenen tawakkul mancher Sufis verwirft, setzt er sich unwillkürlich von den Prämissen jener Theologie ab, die annimmt, Allahs ununterbrochenes Schöpfungshandeln sei für den Menschen unauslotbar. Nicht ausdrücklich distanziert sich al-Ġazālī von jenen Lehren, mit denen er ja selber groß geworden war; er beachtet sie einfach nicht und wagt einen Neubeginn. Wir folgen seinem Gedankengang in thesenhafter Verkürzung: Das richtig verstandene Bekenntnis der Einsheit Allahs ist die Grundlage des „unbedingten Gottvertrauens“, in dem Wissen und Handeln zur Übereinstimmung kommen. Die unterste Stufe des Bekenntnisses ist das Aussprechen des „Es gibt keinen Gott außer Allah“, wobei das Herz diesen Satz noch nicht für wahr erkennt. Dies geschieht erst auf der zweiten Stufe, womit bereits die Glaubensart der Mehrzahl der Muslime umschrieben ist. Auf der dritten Stufe wird einem die Einsicht zuteil, daß es nur einen einzigen Handelnden gibt, nämlich Allah, eine Wahrheit, die nicht mehr über autoritative Texte wie Koran oder Hadith vermittelt werden kann, sondern
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geschaut werden muß. Wer sich bis zu dieser Stufe emporgearbeitet hat, wird freilich immer noch bemerken, daß sein Herz die einmal geschaute Wahrheit in einer bewußten Anstrengung festhalten und sich immer aufs neue verdeutlichen muß. Auf der höchsten, der vierten Stufe gilt es nicht mehr, sich die Erkenntnis, daß der Handelnde Einer ist, zu erarbeiten. Aus dem Koran wissen wir, daß wir durch einen Verstandesschluß zu der Einsicht gelangen sollen, daß Allah den Regen schickt, hierdurch das Gras zum Sprießen bringt usw. Wenn aber die einzelnen Phänomene, die der Eine, der wirklich Handelnde, ins Werk setzt, gleichsam durchscheinend werden, dann nimmt man in ihnen allen trotz ihrer sich den fünf Sinnen aufdrängenden Vielheit nur noch den Einen selber wahr. Die Vielheit der Erscheinungen zeigt sich nun als das Unwahre, und damit enthüllt sich das Herr-Sein Allahs. Dieses letzte Ziel des durch Enthüllung und Schauen erlangten Wissens lasse sich nicht in einem Buch niederlegen, warnt al-Ġazālī, aber er umspielt das Thema dann doch auf vielfältige Weise. Wir brauchen ihn dabei nicht zu beobachten. Wenn hinter allen Erscheinungen der Eine erkannt wird, dann kann die Welt der Erscheinungen nicht mehr eine Wirrnis von willkürlichen Bestimmungsakten Allahs sein; sie ist nun vielmehr ein angemessener Ausdruck seines Seins, das der Mensch zwar nicht in plausibler Weise auf den Begriff bringen kann. Aber dieses Sein Allahs, das in der Fülle der Erscheinungen greifbar wird, ist wieder ein Kosmos, eben weil diese Erscheinungen ihren Bezugspunkt in ihm haben. Was das heißt, können wir nur in einzelnen Fällen verstehen, wenn wir staunend erkennen, wie Allah in seiner Weisheit dieses und jenes zueinander in Beziehung setzt, z. B. Regen und Pflanzenwachstum. Und wenn wir intuitiv das Wirken seiner schöpferischen Weisheit begreifen, dann dürfen, ja müssen wir auch mit dieser Weisheit rechnen: Das eben meint „bedingungsloses Gottvertrauen“. Dieses äußert sich gerade nicht im untätigen Abwarten, sondern im tätigen Umgang mit den durch Allahs Weisheit vorgegebenen Möglichkeiten des Handelns. Diese Möglichkeiten, die in Allahs Sein einen dem Menschen nicht faßbaren Grund haben, konstituieren, eben weil sie letzten Endes Allah selber sind, die beste aller nur denkbaren Welten. Indem al-Ġazālī auf diese Weise islamisches Wissen und islamisches Handeln – islamisch immer im dargelegten koranischen Sinn – zusammenfügt, führt er in das Sunnitentum aufs neue den schon in Sure 2, Vers 3 als Glaubenswahrheit bezeichneten Seinsbereich des Verborgenen ein. Das Diesseits ist offenkundig; es ist alles, was der Mensch mit den Fünf Sinnen erfaßt. Allah ist das absolute, in sich nicht zergliederbare Sein. Zwischen beidem liegt das verborgene, nicht sinnlich wahrnehmbare Reich göttlichen Schaffens und Waltens; dem Schauenden ist es in Augenblicken, in denen er zur vierten Stufe der Erkenntnis der Einsheit Allahs vorstößt, vergönnt,
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dieses Schaffens und Waltens mit geistigem Auge ansichtig zu werden – der Geist ist ein Teil der Fügung, wie wir uns erinnern, Allah hauchte dem aus Lehm gestalteten Menschen etwas von seinem Geist ein. Nicht nur das nach-ġazālīsche Sunnitentum, auch Strömungen des Schiitentums werden sich bis ins 19. Jahrhundert an diesen Vorstellungen abarbeiten, um sie mit dem gewaltigen Korpus der kanonischen Texte – Koran und Hadith –, die längst vor al-Ġazālī vollendet waren, zu versöhnen. Nicht wenige Konsequenzen, die sich aus der Einbeziehung eines verborgenen Seinsbereichs in die islamische Theologie und Rechtswissenschaft ergaben, erschienen den Kennern und Interpreten der kanonischen Texte schier unerträglich. Die erbitterten Auseinandersetzungen hierüber, die bis in die Gegenwart andauern, werden wir in der nächsten Vorlesung unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der muslimischen Gemeinschaft erörtern. Denn der Muslim, der die vierte Stufe des Einheitsbekenntnisses erklommen hat und unter Abstreifung seines den islām behindernden Ichs rückstandslos in Allahs Bestimmen aufgegangen ist, leistet, um es mit Ibn ÝArabī (gest. 1240), einem der wirkmächtigsten Interpreten des „Verborgenen“ zu sagen, Allah erst eigentlich den ihm übertragenen Dienst. „Ich habe die Menschen und die Dschinnen nur geschaffen, damit sie mir dienen“, oder „mich verehren“, hieß es in Sure 51, Vers 56. Und dieser Dienst besteht eben darin, daß sich Allah im in die Vielheit hinaus entfalteten Sein erst eigentlich zu erkennen vermag, da ja Erkennen zumindest eine Zweiheit voraussetzt, die in seinem einförmigen Sein aber nicht gegeben ist. Daß Allah sich selber erkennt, wäre ohne sein im Verborgenen ablaufendes Bestimmen und ohne das zur Anschauung kommende Diesseits nicht möglich; das im Verborgenen ablaufende Bestimmen gewährleistet, daß das Diesseits in jedem Augenblick unmittelbar zu Allah ist. Nach Ibn ÝArabī ist dies der tiefste Ausdruck der islamischen Heilsbestimmtheit aller Schöpfung: „Kein Tier gibt es“, versichert Mohammed in Sure 11, Vers 56, „das (Allah) nicht beim Schopfe hielte“ – in diesen Worten ist die im Knechtsdienst des Diesseits und vor allem des Menschen begründete Botschaft vom Heil der Erschaffenheit zu Allah hin (arab.: alfiÔ ra) in der ganzen Fülle ihres Sinnes enthalten, meint Ibn ÝArabī. Der mit der vierten Stufe des Einheitsbekenntnisses begnadete Mensch befindet sich, so ÝAbd al-Qādir al-Gīlānī (gest. 1166), auf dem Thronschemel Allahs, der, wie wir uns erinnern, laut Sure 2, Vers 255 das Diesseits, die offenkundige Welt, umfaßt. Dort, im Grenzbereich zwischen Schöpfer und Schöpfung, ist er der Stellvertreter, der Ì alīfa, Allahs „auf (Allahs) Erde und in seinen (anderen) Welten. Wenn Allah etwas durch ihn bewirken will, wandelt er ihn von Bild zu Bild, von Gestalt zu Gestalt. Dann gewährt er ihm Einblick in die Schatzkammern der Geheimnisse, denn ihm allein ist die Regentschaft zugestanden, er ist der Vertreter der Propheten Allahs, der Verweser
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seines Reiches zu (dieser) seiner Zeit …“. So taucht aufs neue und dringlicher als zuvor die Frage nach Sinn, Zweck und metaphysischer Begründung des Gesetzes auf, nach Sinn, Zweck und Begründung des Daseins eines machtvollen islamischen Herrschaftsapparats – wozu dies alles, wo doch, nehmen wir diese Lehren beim Wort, selbst die Andersgläubigen auf der ihnen von Allah vorgezeichneten „geraden Straße“ wandeln?
III. Die muslimische Glaubensgemeinschaft als die Verwirklichung des göttlichen Willens auf Erden Vgl. die Bemerkungen zum Text Nr. I in diesem Abschnitt.
Als al-Ġazālī seine „Belebung der Wissensarten vom praktizierten Glauben“ niederschrieb, war der islamische Westen, der Maghreb und das maurische Spanien, unter der Herrschaft der beiden Almoraviden Jūsuf b. Tāšufīn (reg. 1061–1106) und ÝAlī b. Jūsuf (reg. 1106–1142) vereint worden; man hatte 1086 Alfons VI. von Leon und Kastilien in der Schlacht von Zallāqa nahe Badajoz besiegt und dadurch den christlichen Reichen eine Rückeroberung der Iberischen Halbinsel über Toledo hinaus vorerst unmöglich gemacht. Im ganzen islamischen Westen, im Gebiet vom heutigen Tunesien bis an den Atlantik, den islamischen Teil Spaniens eingeschlossen, bestimmten die malikitischen Gesetzesgelehrten das geistige Milieu. Die unter den Berbern entstandene Bewegung der Almoraviden suchte deren Funktion weiter zu festigen und überzog ihren Machtbereich mit Maßnahmen, die man als im höchsten Grade jedem freien Gedanken abträglich charakterisieren muß. ÝAlī b. Jūsuf blieb es vorbehalten, während seiner Regierungszeit das Studium von al-Ġazālīs „Belebung“ zu verbieten und die Exemplare des Werkes, deren seine Späher habhaft wurden, zu verbrennen. Von diesem Autodafé wissen wir zum einen aus der westislamischen Historiographie, zum anderen aus dem großen Kommentar zur „Belebung“, den der jemenitische Gelehrte al-MurtaÃā az-Zabīdī (gest. 1790 / 1) knapp siebenhundert Jahre nach jenen Ereignissen erarbeitete. Er ermittelte aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen, was man damals al-Ġazālī vorgeworfen hatte. Die meiste Zeit seines Lebens habe sich al-Ġazālī in strenger Wissenschaftlichkeit dem Studium des in der Form des Hadith von Mohammed ausstrahlenden gottgegebenen Wissens befleißigt, auf dessen autoritärer Auslegung durch die Rechtsgelehrten das muslimische Gemeinwesen fuße. Dann aber habe sich al-Ġazālī plötzlich der eigenen Intuition überlassen und Dinge geschrieben, die, da sie mit dem Gedankengut der Philosophen und eines radikalen Sufismus durchsetzt seien, sich von jenem wahren Wissen entfernt hätten. Dessen Aufgabe bestehe darin, die schariatischen Beziehungen der Muslime untereinander zu regeln, und dieses Wissen sei das einzige, das niedergeschrieben werden dürfe. Die „Belebung“ zu verbrennen, so einer der heftigsten Kritiker al-Ġazālīs, sei ein Akt der
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Rettung des muslimischen Gemeinwesens, vergleichbar der von den Prophetengefährten vorgenommenen Verbrennung der Koranexemplare, die den Text der Eingebungen nicht in der von ÝU×mān (reg. 644–656) festgelegten Reihenfolge und mit einigen meist geringfügigen Abweichungen im Wortlaut enthielten. Wenn al-Ġazālī für wahr erachtete, was er darlegte, dann sei es folgerichtig, ihn für einen Ungläubigen zu erklären. Wenn wir diese und weitere Anwürfe der Feinde al-Ġazālīs analysieren, dann werden wir unversehens mit der Angst konfrontiert, die die Muslime umtreibt, die ihr Leben und dasjenige ihrer Glaubensgenossen an jenem Wissen ausrichten wollen, das nach ihrer Ansicht allein verdient, niedergeschrieben zu werden. Al-Ġazālī hatte die Angst vor dem Auseinanderfallen von Wissen und Handeln, die ich in der vorigen Vorlesung erörterte, überwunden, indem er dem Schauen in den Seinsbereich des Verborgenen einen eigenen, legitimen Erkenntniswert zugesprochen hatte. Die bloße Aufnahme und Weitergabe autoritativer Texte erschien ihm unzureichend, wenn Wissen und Handeln – wieder – zu einer Einheit zusammengefügt werden sollten. Er hatte sich davon überzeugt, daß demjenigen, der die Einsheit Allahs auf der höchsten dem Geschöpf erreichbaren Stufe bekennt, Allah in allen Phänomenen des Diesseits aufscheint. Deren Wirrsal, mit der sich die Schariagelehrsamkeit unablässig abplagt, ist nur die Oberfläche, nur das Offenkundige, den fünf Sinnen Zugängliche. Wenn man dies für das Eigentliche nimmt, wird man daran irre, versperrt sich den Weg zum richtig verstandenen Gottvertrauen und bleibt in der Pein befangen, die einem das vermeintliche Auseinanderklaffen von Wissen und Handeln bereitet. Den an den Grund der koranischen Heilsbotschaft von der Hingeschaffenheit zu Allah rührenden Konflikt, der hier offen aufbrach und seither nicht zu lösen, höchstens zu kaschieren war, wollen wir in dieser Vorlesung auf den Begriff zu bringen und zu verstehen suchen. Wir müssen zu diesem Zweck noch einmal kurz in die frühe Geschichte des Islams zurückkehren. 1. Das Hadith In den letzten Jahren vor der Hedschra hatte Mohammed seine Kräfte darangesetzt, den Kaabakult entsprechend seinen Einsichten in die Einsheit Allahs, des alles wirkenden Schöpfers, umzugestalten. Die prominenten Quraišiten jener Zeit wollten von dem besonderen Verhältnis zu Allah, das die Hāšimiten seit ÝAbd al-MuÔÔalib, Mohammeds Großvater, für sich beanspruchten, nichts wissen. Sie wiesen den Gesandten Allahs in die Schranken. Dieser reizte sie heftiger denn je, indem er sie in Sure 7 als den verstockten Anhang Pharaos verunglimpfte, sich selber als Mose sehend, der den Untergang jener Feinde Allahs herbeiführt. Sobald man Mohammed aus
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Mekka vertrieben und dieser in Medina eine Bleibe gefunden hatte, änderte sich der Inhalt der von ihm als Offenbarung vorgetragenen Koranverse. Aus dem Empfehlen, im Interesse des eigenen Jenseitsglückes bestimmte Verhaltensweisen zu beachten, wird das Befehlen, dieses oder jenes zu tun, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Jenseits, sondern gerade auch in Ansehung der Gegebenheiten hier und jetzt. Die Offenbarungen gewinnen eine zweite, sehr handgreifliche Bedeutungsebene, ohne daß die erste, die jenseitsbezogene, verdrängt worden wäre. Wenn die Muslime „Allah und seinem Gesandten“, wie es jetzt mehrmals im Koran heißt, unbedingten Gehorsam leisten, dann dürfen sie nicht nur auf den Einlaß in das Paradies hoffen. Sie zählen schon jetzt, im Diesseits, zur „besten Gemeinschaft, die je für die Menschen gestiftet wurde“, wie Mohammed in Sure 3, Vers 110 versichert. Denn sie tun, was Allah billigt, unterlassen, was er verwirft, und glauben an ihn. Und daß sie stets richtig, so, wie Allah es will, handeln, gewährleistet Mohammed, Allahs erwählter Sprecher, und zwar nicht nur im Verkünden des Korans, der durch den „Geist“ in menschliche Sprache übertragenen Fügung Allahs, sondern auch in seinen nichtkoranischen Anordnungen, die dank seiner prophetischen Autorität aller Kritik enthoben waren. Mit seinem Tod wurde diese Art durch Allah gewirkter „Rechtleitung“, von der der Koran des öfteren redet, jäh unterbrochen. Unter dem Deckmantel seiner überragenden Persönlichkeit schon lange glimmende Konflikte loderten nun auf und wurden mit faulen Kompromissen, zum Teil auch mit Gewalt erstickt, keineswegs aber im gemeinsamen Einvernehmen der Parteiungen beigelegt. Hierbei schob sich allmählich die Frage in den Vordergrund, wie denn nach dem Tod des unmittelbar von Allah angeredeten Propheten die als irdischer Heilszustand verklärten Verhältnisse der Urgemeinde bewahrt, und wenn sie schon beeinträchtigt worden sein sollten, wiederhergestellt werden könnten. Da in der Rückschau die Person Mohammeds allein als der Garant der urgemeindlichen Rechtleitung erschien, drehte sich die Erörterung der Möglichkeit ihrer Fortsetzung zunächst ausschließlich um die Person des Herrschers über die Muslime. Konnte er glaubhaft machen, daß er der legitime Inhaber der Macht des Propheten war, dann war hierdurch zugleich die Anwartschaft der unter ihm lebenden Muslime auf das Paradies gewahrt. Bis weit in das 9. Jahrhundert hinein blieb die Frage nach dem richtigen, „islamischen“ Lebensvollzug der Muslime an die Frage der „islamischen“ Legitimität des „Imams“ geknüpft, des Kalifen oder der gegen ihn agierenden Anführer unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen. Indessen wuchs seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert eine spezifisch islamische Literaturgattung heran, das Hadith, deren Ziel es war, die Erinnerung an die verklärten medinensischen Jahre des Wirkens Mohammeds zu bewahren und alles das, was, wie man meinte, der Prophet gesagt, getan
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oder auch nur schweigend geduldet hatte, so lebendig zu erhalten, als werde es nach wie vor durch ihn gesagt, getan oder stillschweigend geduldet und daher gutgeheißen. Mit anderen Worten: Im Hadith wuchs dem legitimen Kalifen in Bezug auf die tagtägliche Machtausübung und Rechtspflege in seinem Reich eine schwer auszurechnende, geschweige denn zu kontrollierende Konkurrenzinstanz autoritativen Wissens heran. Scharfe Auseinandersetzungen zwischen den Kalifen als den Erben eines Teils des Charismas Mohammeds und den Sachkennern des Hadith erschütterten schon die ersten Jahrzehnte des abbasidischen Kalifats, dem es nicht gelang, jene auf seine Seite zu ziehen. Kalifen versuchten, den Einfluß der Hadithgelehrten auf die breiten Massen durch die Einsetzung einer Inquisition auszuschalten. An der Stelle des Hadith sollte der „Befehlshaber der Gläubigen“ als die dank der Abstammung aus der Sippe Mohammeds berufene Autorität in allen Angelegenheiten des Islams etabliert werden. Diese Pläne scheiterten um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Bereits um 800 soll aš-ŠāfiÝī (gest. 820), der in seinen theoretischen Abhandlungen die Funktionen des Hadith bei der Rechtspflege und bei der vom Herrscher voranzutreibenden vollständigen Islamisierung des Lebens durchdachte, den Kalifen Hārūn ar-Rašīd (reg. 786–809) von den Vorzügen dieses Mediums zu überzeugen versucht haben. Bezeichnenderweise geschieht dies in einem Streitgespräch, das aš-ŠāfiÝī in Anwesenheit des Kalifen mit einem berühmten Vertreter der damals üblichen islamischen Rechtswissenschaft geführt haben soll. Dessen Erwägungen, auch die von dessen Lehrer Abū Íanīfa, dem Gründungsvater der Schule der Hanafiten, wischt aš-ŠāfiÝī mit dem Hinweis auf die umfassenden eigenen Kenntnisse von allen Lebensumständen Mohammeds beiseite. „(Weißt du überhaupt) wie der Gesandte Allahs“ – bei der Inbesitznahme seiner Vaterstadt im Jahre 630 – „in Mekka einzog; in welche Gasse er hineinritt, wo er Quartier nahm; wie seine ersten Worte bei seinem Eintritt lauteten, welche Kleidung er damals trug, welches Kamel oder welche Stute er benutzte?“ Nichts von alledem wußte sein Gegenüber. Für die Rechtsfindung waren dergleichen Kenntnisse bislang bedeutungslos gewesen; vereinzelt hatte man sich zwar auf juristisch relevante Äußerungen Mohammeds bezogen, in der erdrückenden Mehrzahl der Rechtsfälle waren dergleichen Texte aber gar nicht überliefert, und so setzte man auf den eigenen Sachverstand. Man tat das auch dann, wenn Aussagen Mohammeds oder auch Verse des Korans zu einem bestimmten Rechtsfall vorlagen, jedoch zu einem Ergebnis gelangten, das dem Sachverstand und etwaigen Billigkeitserwägungen widersprach. Für aš-ŠāfiÝī ist dergleichen unerträglich. Wie kann ein muslimisches Leben gottgefällig sein, wenn es nicht in strenger Nachahmung dessen gelebt wird, der zumindest in Medina in jedem Augenblick seines Daseins in der Rechtleitung Allahs stand? Die Erwägungen, die jene Juristen in der Nachfolge
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Abū Íanīfas im Auftrage des Kalifen anstellen, sind doch nichts als ein blindes Umhertappen, sind bloßes Meinen und Vermuten – während es doch das sichere Wissen gibt, allerdings außerhalb jenes juristischen Expertentums! Das wahre Wissen ist vorhanden in der Überlieferung über Mohammeds Reden, Tun, stillschweigendes Billigen. Dieses Wissen ist in seinem Bestand unabhängig von jenen Erwägungen; es wird von diesen gar nicht berührt, wird durch sie weder verringert noch vermehrt noch irgendwie verändert. Das wahre Wissen ist übergeschichtlich, letzten Endes nicht in das diesseitige Geschehen hineingezogen. Gleichwohl birgt es in sich alle Regelungen und Bewertungen diesseitiger Vorgänge, und die Aufgabe der Rechtsgelehrsamkeit ist es, jene Regelungen und Bewertungen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, aufzudecken und der Gemeinschaft der Muslime in einer ihr verständlichen Weise mitzuteilen, damit sie sich danach richte und demzufolge wieder ein Stückchen weiter sich den Verhältnissen annähere, wie sie zur Zeit der Urgemeinde in Medina herrschten. Damals, in jenen von Heil erfüllten Tagen, war solch eine mühselige Arbeit der Deutung der Sunna nicht nötig gewesen. Jene glücklichen Altvorderen verstanden, so glaubte man, die Winke Mohammeds spontan. Worin die Rechtleitung Allahs bei jedem nur erdenklichen Sprechen und Tun bestand, das mußte nicht eigens auf den Begriff gebracht und in Worte gefaßt werden. Für die Spätgeborenen ist der Weg über die Worte hingegen nicht zu vermeiden. Und so müssen sie sich zunächst das Wissen von der Sunna, vom nachahmenswerten Vorbild des Propheten, in allen Einzelheiten, auch in den von aš-ŠāfiÝī erwähnten scheinbaren Belanglosigkeiten, aneignen; sobald dies geschehen ist, dann setzt die Arbeit der Auslegung ein, mit der dieses Wissen für die immer weiter voranzutreibende Islamisierung von Herrschaft und Gesellschaft fruchtbar zu machen ist. 2. Die Islamisierung der Gesellschaft durch die Gelehrten Die Aufgabe, für den Fortbestand der von Mohammed gegründeten „besten Gemeinschaft“ zu sorgen, wurde mit dem im 10. Jahrhundert beginnenden Siegeszug des schafiitischen Konzepts des Wissens den Herrschern entwunden. Sie, der Kalif und dessen zahlreiche, halb oder ganz frei von seinem Einfluß agierende Machthaber, rein formal als seine Statthalter legitimiert, stellten gewissermaßen nur noch den unentbehrlichen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen, von ihnen unbeeinflußbar, die Gelehrten, die Kenner der Überlieferung und der immer weiter verfeinerten Methoden ihrer Nutzbarmachung, die Islamisierung der Gesellschaft vorantrieben. Das 10. und 11. Jahrhundert, die Epoche der Regionalisierung und Zersplitterung islamischer Herrschaft und des Entstehens des Sultanats, ist die erste hohe Zeit des Einflusses der Gelehrten auf Herrscher und Glaubensgemeinschaft.
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Das Sultanat bezog geradezu seine Legitimität daraus, daß es die Gelehrten förderte und dafür sorgte, daß sie in möglichst vielen Lebensbereichen ihre aus dem übergeschichtlichen Wissen abgeleiteten Auffassungen zur Geltung bringen durften – wenn sie als Gegenleistung dafür nur stets die islamische Legitimität der Machthaber verkündeten! Gemäß der älteren Staatstheorie, die zu den Glanzzeiten des Kalifats entwickelt worden war, hatte der Nachfolger des Gottesgesandten mit diesem verwandt zu sein. Und nur als Statthalter des Kalifen konnte jemand von anderer Herkunft legitime Macht innehaben. Die meisten Herrscher waren somit Usurpatoren. Doch indem sie ihre Macht dazu benutzten, den Gelehrten die Gelegenheit zu ihrem Werk der Islamisierung zu verschaffen, tilgten sie nach den nun obwaltenden Vorstellungen den Makel der Illegitimität, der der Usurpation anhaftete. Al-Éuwainī (gest. 1085), Zeitzeuge des Aufstiegs des seldschukischen Sultanats und zeit seines Lebens in der Gunst der neuen Machthaber, paßte die überkommene islamische Staatstheorie den neuen Verhältnissen an. Der Kalif hatte, wie erwähnt, bislang Quraišite zu sein, also ein Angehöriger des Stammes des Propheten. Denn aus der Verwandtschaft zu Mohammed hatte man die Qualifikation abgeleitet, dessen medinensische Amtsführung im Sinne der Erhaltung der „besten Gemeinschaft“ fortzusetzen. Al-Éuwainī sprach das Unerhörte aus, nämlich daß die Zugehörigkeit des Oberhauptes der islamischen Glaubensgemeinschaft zur Verwandtschaft Mohammeds keineswegs erforderlich sei. Die Abstammung begründet keine zur Amtsführung unerläßliche Kompetenz und verleiht dem Kalifen daher auch keine Legitimität. Vielmehr ist es so, daß das Vorhandensein des von Gelehrten immer feiner und genauer explizierten unveränderlichen Wissens, das Vorhandensein der Scharia mithin, den Muslimen die Einsicht aufzwingt, daß die Berufung eines Oberhauptes notwendig ist. Man kann aber nicht behaupten, daß dieses aus der Scharia selbst heraus seine Macht gewinnt, so daß der beste Kenner jenes Wissens die Muslime regieren müßte. Richtig ist vielmehr die Auffassung, daß es um der Scharia willen einen obersten Herrscher geben muß, dessen wichtigste Eigenschaft nicht die Gelehrsamkeit ist, sondern die Tauglichkeit für die Ausübung seiner Funktion. Diese Tauglichkeit beweist er, indem er die Macht an sich reißt und seine Herrschaft mit äußerster Energie und Wirksamkeit über das gesamte Gebiet der Glaubensgemeinschaft der Muslime ausdehnt. Legitimität entspringt nun letzten Endes allein der Tatsache des Machtausübens, sofern irgend glaubhaft gemacht wird, daß dies um der Scharia willen geschieht. Und dies kann der Machthaber, der, wenn man genau hinsieht, grundsätzlich ein Usurpator ist, am besten belegen, indem er sich mit zahlreichen Sachkennern jenes übergeschichtlichen Wissens umgibt und sich unablässig mit ihnen berät. An vielfältigen Belegen läßt sich ablesen, daß sie es jetzt sind, von denen in Wahrheit der Fortbestand der „besten Gemeinschaft“ abhängt. Und ihre
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Zuständigkeit kennt – zumindest nach ihrer eigenen Überzeugung – keine Grenzen mehr, so wie sich auch jenes Wissen nicht bestimmten Bereichen der conditio humana zurechnen läßt und andere davon unberührt bleiben. Es mag, so argumentierte man, Dinge und Ereignisse im Diesseits geben, die auf den ersten Blick nicht in jenem Wissen bedacht sind und daher keiner schariatischen Bewertung unterliegen, mithin gebraucht oder getan werden mögen oder auch nicht. Die Erkenntnis dieses Umstandes ist aber erst nach dem gründlichen Studium jenes Wissens zu erlangen und daher doch einzig und allein diesem abgewonnen. Noch im 8. Jahrhundert, in der Zeit vor aš-ŠāfiÝī, gab man sich bescheidener. Die Scharia umfasse, so formulierte man damals, die Ritualpflichten, die koranischen Strafen sowie Gebot und Verbot. Im 12. Jahrhundert war der Inhalt der Scharia deckungsgleich mit dem, was nach Sure 3, Vers 110 die „beste Gemeinschaft“ generell ausmacht, mit dem Anbefehlen alles dessen, was Allah billigt, mit dem Verbieten alles dessen, was er verbietet. Sie war zur Quelle der Regelung aller überhaupt denkbaren Verhaltensweisen geworden. Die mit der Rechtspflege betrauten Kadis vermochten diesen ungeheuren Zuwachs an Aufgaben, mit denen die Schariagelehrsamkeit nunmehr belastet wurde, nicht aufzufangen. Ein neuer Typ von Schariagelehrten trat auf den Plan: der Mufti, der Spezialist für die Anwendung des übergeschichtlichen Wissens auf alles, was die Zivilisation des Menschen zum Inhalt hat. Noch bis weit ins 9. Jahrhundert hinein hatten sich die Kenner der Prophetenüberlieferung gescheut, aus dieser abgeleitete Ratschläge anderen als sich selber zur islamgemäßen Lebensführung zu erteilen. „Wer unter euch den größten Mut zur Auskunft hat, der hat auch den größten Mut zur Hölle!“ Diese Warnung legte man Mohammed in den Mund. Wer konnte schon wissen, ob er zu einer bestimmten Frage auch jede verborgene Andeutung des Korans, jede auch nur von fern einschlägige Aussage des Gesandten Allahs kenne? Eine falsche Auskunft aber würde nicht so leicht den Frager ins jenseitige Verderben reißen, sondern viel eher den Gelehrten, der sich sorglos der eigenen doch stets unvollkommenen Kenntnisse bediente. Spätestens im 11. Jahrhundert waren derartige Skrupel überholt. Der uns schon bekannte al-Éuwainī verfaßte eine Abhandlung, die zu dem Ergebnis kam, ein Gelehrter, der ein Fetwa erteile, werde, sollte es nicht der Scharia entsprechen, jedenfalls dann für seinen Irrtum von Allah nicht zur Rechenschaft gezogen, wenn er selber sich danach richte. Die subjektive Ehrlichkeit würde ihn vor der Hölle retten. Der Zug zur totalen Islamisierung des Lebens verlangte solche Nachsicht. Al-Éuwainī schlug dem seldschukischen Wesir NiÛām al-Mulk übrigens in einer staatstheoretischen Abhandlung vor, aus der Tätigkeit des Muftis ein besoldetes Amt zu machen – zahlreiche Gelegenheiten taten sich vor dem Machthaber auf, seine Herrschaft mit dem Eintreten für die Scharia zu legitimieren.
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Al-Éuwainīs Vater wird die älteste Sammlung von Fetwas zugeschrieben; in späteren Jahrhunderten folgten unzählige andere – reichhaltige und oft sehr lebensnahe Quellen für die Weltanschauung und die Alltagssorgen der Menschen in der „besten Gemeinschaft“. Ein einziges Beispiel mag uns verdeutlichen, worum es geht. Da erhielt ein Kairiner Gelehrter des 14. Jahrhunderts die Frage vorgelegt, ob das Schachspiel ein schariatisch zulässiger Zeitvertreib sei. Die ausführliche Antwort, die wir stark verkürzt wiedergeben, beginnt, wie üblich, mit der Zusammenfassung der Ergebnisse: Das Schachspiel ist weder ausdrücklich erlaubt noch verboten; es ist zu verabscheuen – eine schariatische Bewertung. Der Mufti beginnt nun seine Darlegungen, indem er in die islamische Kulturgeschichte zurückgreift und einige bekannte Persönlichkeiten erwähnt, die nachweislich Schach spielten. Unter ihnen befindet sich ein berühmter Kenner der Prophetenüberlieferung aus dem 7. Jahrhundert, der sich auf diese Kunst sogar „hinter dem Rücken“ verstanden habe. Die Gegner führen Worte des Schwiegersohnes Mohammeds ins Feld, wonach Schach den verbotenen Glücksspielen ähnlich sei; außerdem seien die benutzten Figuren Geschöpfen Allahs nachgebildet und infolgedessen eine Beleidigung des Schöpfers. Ferner soll ein Prophetengefährte gesagt haben: „Schach ist noch übler als Tricktrack“. Und Mohammed selber habe angeordnet: „Wenn du bei diesen Leuten vorbeikommst, die Lospfeile werfen, Schach und Tricktrack spielen, dann entbiete ihnen nicht den ‚Salām!‘“ Freilich ist gerade die letztgenannte Überlieferung mit einer unbefriedigenden Gewährsmännerkette versehen, so daß aus diesem Grund sich aus diesem Wort Mohammeds kein Verbot des Schachspiels ableiten läßt. Befürworter wie Gegner des Schachspiels können keine wirklich eindeutigen Textzeugen für ihre Ansicht beibringen. So sei es am besten, das Schachspiel zu meiden; sollte man diesem Zeitvertreib so ausgiebig frönen, daß man darüber rituelle Pflichten vergesse, dann freilich sei er einem streng verboten. Aus der unüberschaubar vielfältigen Lebenswirklichkeit wird dank der Arbeit der Gelehrten ein dergestalt zurechtgeschnittener Daseinsvollzug, daß in allem ein Bezug zu dem übergeschichtlichen Wissen nachweisbar ist. Wenn dieser Zustand erreicht ist, dann vermag auch der Textgelehrte mit Genugtuung festzustellen, daß die Stellvertreterschaft des Menschen über das von Allah gelenkte Diesseits Wahrheit geworden ist. Ein wesentlicher Unterschied zu der in der vorigen Vorlesung beschriebenen Art der Stellvertreterschaft ist allerdings hervorzuheben. Das al-Ġazālīs Idee der Einheit von Wissen und Handeln fortbildende sufische Konzept der Stellvertreterschaft sah vor, daß der einzelne Muslim sein Ich tilge und sich bedingungslos und ohne alles eigene Streben der von Allah ausgehenden Fügung unterwerfe. Die Stellvertreterschaft ist ein individuelles Heilserleben. Anders verhält es sich in dem Zusammenhang, den wir hier erörtern. Für den
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schariatischen Juristen ist alles Handeln und Reden nur dann einer Bewertung gemäß dem übergeschichtlichen Wissen zugänglich, wenn es in bewußt gefaßter Absicht erfolgt ist. Die Wahrnehmung der Stellvertreterschaft meint demnach ein gezieltes Reden und Handeln; und das Ziel ist die Verwirklichung der „besten Gemeinschaft“. Wenn auch Allahs Ratschluß und damit der Beweggrund, um dessen willen er die eine oder andere Vorschrift jenem Wissen einverleibte, unerforschlich ist, so ist doch eines nicht zu bezweifeln: Der allgemeinste Zweck, zu dem dieses Wissen gestiftet wurde, sind das Gedeihen und schließlich der weltweite Triumph der „besten Gemeinschaft“. Wenn ein Muslim dies stets im Auge behält, ist ein Scheitern seiner Bemühungen um die Stellvertreterschaft Allahs nicht zu befürchten. Der Nutzen der „besten Gemeinschaft“ ist daher der oberste Gesichtspunkt bei aller auf den Alltag bezogenen Auslegung des übergeschichtlichen Wissens. Der andalusische Rechtsgelehrte aš-ŠāÔibī (gest. 1388), der in der heutigen Schariawissenschaft eine beeindruckende Renaissance erlebt, zitiert, um diesen Gedanken näher auszuführen, Sure 6, Vers 165: „(Allah) ist es, der euch zu Stellvertretern (auf der) Erde einsetzte und euch auf unterschiedlich hohe Stufen stellte, um euch in den Dingen, die er euch brachte, zu erproben.“ Die Stellvertreterschaft wird hier zu einem allgemein geltenden Wesenszug der conditio humana; der eine übt sie lediglich in seiner Familie aus, der andere, der Herrscher, über die Gesamtheit der Muslime, das Ziel ist in beiden Fällen gleich. Und so ist denn auch eine islamische Welt, in der die Usurpation und die faktische Tyrannei alltäglich sind, nicht nur dank der schariatischen Beratung des Usurpators oder Tyrannen dabei, hier und jetzt die „beste Gemeinschaft“ zu verwirklichen. Die Untertanen, oder um im Bild zu bleiben, das nicht nur aš-ŠāÔibī in diesem Zusammenhang verwendet, die Herde ihrerseits erfüllt ihre diesbezügliche Pflicht, indem der einzelne in seinem Lebenskreis seine individuellen Belange in denjenigen der „besten Gemeinschaft“ aufgehen läßt. 3. Zweifel an den autoritativen Texten In der historischen Epoche, in der sich dieses – um einen heutigen Begriff zu verwenden – totalitäre religiös-politische Gedankengebäude der Vollendung näherte, im späten 11. Jahrhundert, wuchsen auch die ersten Zweifel an seiner Wahrheit. Konnten die überlieferten Texte, die jenes Wissen in sich bargen, alles das gewährleisten, was man ihnen nun abfordern mußte? Und war der Verstand des Menschen, das Werkzeug, mit dem die Arbeit an den Texten durchzuführen war, nicht viel zu unzuverlässig, als daß er in Fragen, die das jenseitige Heil wie auch das diesseitige Wohl der Muslime betrafen, eingesetzt werden dürfte? In Sure 15 ist nachzulesen, wie der Satan sich gegenüber Allah auf eine Analogie beruft, um zu begründen,
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weshalb er einem Befehl des Schöpfers nicht gehorchte; Allah verfluchte ihn darum. Und wie sollte der Mensch überhaupt eigenverantwortlich das übergeschichtliche Wissen auslegen, wo doch die Welt in sich keine Kontinuität hatte, sondern von Augenblick zu Augenblick nach Allahs souveräner Entscheidung so gestaltet wurde, wie sie sich zeigte? Angesichts der Diskontinuität des Diesseits, wie sie die sunnitische Metaphysik lehrte, konnte man an der Aufgabe der Entbergung des Inhalts des Wissens verzweifeln. Und die besten unter den Schariagelehrten sind, so sie diese Aporie nicht verdrängten, an ihr verzweifelt. Al-Éuwainī, einer der Lehrer al-Ġazālīs, gelangte zu der Einsicht, der Mensch dürfe den Verstand nur gebrauchen, um sich klarzumachen, daß er ihn nicht eigenmächtig gebrauchen dürfe, und er verwünschte den Tag, an dem er das Metier des schlichten Schariagelehrten verlassen und nach einer metaphysischen Fundierung seines Tuns geforscht hatte. Dies ist die geistige Situation, in der al-Ġazālī seine „Belebung der Wissensarten vom praktizierten Glauben“ in Umlauf setzte, wovon schon in der vorhergehenden Vorlesung ausführlich gesprochen wurde. Er hatte die Krise seines Lehrers al-Éuwainī ebenfalls durchlitten, ihm aber war es gelungen, einen Ausweg zu finden: Der Seinsbereich des Verborgenen, von Mohammed für ein wesentliches Merkmal seines Verständnisses von Schöpfer und Kosmos zum Gegenstand des Glaubens erklärt, dann aber aus der sunnitischen Metaphysik als eigenständige Größe eliminiert, wurde aufs neue entdeckt, und zwar nicht bloß als ein Thema metaphysischer Spekulation, sondern als die Grundvoraussetzung für den gelebten islām. Denn indem sich das wohlverstandene Bekenntnis zur Einsheit Allahs in der Daseinshaltung des unbedingten Gottvertrauens (arab: at-tawakkul) manifestiert, wird das mit den fünf Sinnen wahrgenommene Offenkundige durchscheinend, und der islām erfüllt sich im Einswerden mit der geschauten Fügung Allahs. Solches Einswerden, das in beglückenden Augenblicken als die Stellvertreterschaft Allahs erfahren werden kann, ist freilich nicht mehr dank dem Studium des zu Texten geronnenen Wissens zu erreichen, es setzt aber dieses Studium voraus. Al-Ġazālī wie auch die islamischen Denker, die die von ihm formulierten Vorstellungen weiterentwickelten, hielten für selbstverständlich, daß die Abstreifung des Ichs erst dann versucht werden darf, wenn man sich die aus dem Wissen abgeleiteten Normen des Denkens und Handelns so unverrückbar fest angeeignet hat, daß sie einem gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen sind. Trotz allem aber ist klar, daß der Ausweg aus der Krise, die durch die Einsicht in die Unerreichbarkeit der vollkommenen Islamisierung der Glaubensgemeinschaft mittels der Auslegung der autoritativen Texte ausgelöst wurde, eben nicht durch eine noch weiter vorangetriebene Textwissenschaft zu finden war, sondern in deren Übersteigung. Das aber hieß, daß die alles beherrschende Position, die die Gelehrten
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in der Gesellschaft und gegenüber den Machthabern errungen hatten, keineswegs endgültig war. In der Epoche, in der die gelehrten Sachwalter des Wissens ihren Triumph feierten, zeigten ihnen al-Ġazālīs Schriften, daß dieser Triumph allein in ihrem Wunschdenken stattgefunden hatte. Daß sie al-Ġazālī diese ungebetene Ermahnung verübelten, kann einen nicht verwundern. Und es geschah ebenfalls im islamischen Westen, daß wenige Jahrzehnte nach seinem Tod eine auch politisch höchst erfolgreiche Bewegung auftrat, die sich ausdrücklich auf al-Ġazālī berief und von sich behauptete, seine Ideen von der Einsheit Allahs in die Tat umzusetzen und das nunmehr endgültig wahre islamische Gemeinwesen zu errichten: die Almohaden, deren Name (al-muwaÎÎ idūn) ja die „Bekenner der Einsheit (attauÎ īd) Allahs“ bedeutet. Ihre Gründerfigur, Ibn Tūmart, umriß in seinen Lehrgesprächen, mit denen seine Anhänger regelmäßig indoktriniert wurden, wie der Kosmos, das von Allah nach bestimmten Voraussetzungen entworfene „konditionierte“ Sein, und das diesem entsprechende Handeln der Muslime den wahren, den urgemeindlichen islām des Propheten wieder Wirklichkeit werden lassen, eine Wirklichkeit, die nur zum Teil in den Texten des Wissens zu finden ist, jedoch vollständig in den – ohne den Umweg über die Texte – unmittelbar von Generation zu Generation gewissermaßen wortlos weitergereichten Arten des Verhaltens des Propheten verbürgt wird. Im Osten der islamischen Welt entlud sich die von al-Ġazālī angestoßene Kritik am totalen Geltungsanspruch der Textgelehrsamkeit und an ihrem Unvermögen, ihre Versprechen zu erfüllen, nicht in religiös-politischen Bewegungen. Vielmehr etablierten sich die Wortführer dieser Kritik innerhalb der muslimischen Gesellschaft und lagerten sich an den Machtapparat an. Als ein Beispiel wollen wir ÝAbd al-Qādir al-Gīlānī heranziehen, einen vermutlich um 1077 in Gilan südlich des Kaspischen Meeres geborenen Mann, der in seiner Jugend nach Bagdad gelangte und dort an einer der hanbalitischen Rechtsschule zugerechneten Medresse die übliche viele Jahre währende Ausbildung in den „islamischen Wissenschaften“, also in arabischer Sprache, Koran, Hadith und Scharia, durchlief. Eines Tages, die auf ihn zurückgehenden Bruderschaften datieren das Erweckungserlebnis auf den Vormittag des 25. Oktober 1127, schaute er den Gesandten Allahs. „Mein Sohn, was redest du nicht?“ fragte dieser, worauf ÝAbd al-Qādir antwortete: „Väterchen, ich bin kein Araber! Wie sollte ich in Bagdad zu denen reden, die des reinen Arabisch mächtig sind?“ „Öffne den Mund!“ befahl Mohammed und spie ihm siebenmal hinein und fuhr dann fort: „Rede zu den Menschen und rufe auf zum Pfad deines Herrn mit Weisheit und guter Mahnung!“ (vgl. Sure 16, 125). Der Prophet verschwand, dessen Vetter und Schwiegersohn ÝAlī b. abī Óālib war plötzlich unter der rasch anwachsenden Menschenmenge. Es entspann sich das gleiche Zwiegespräch, ÝAlī spie ihm sechsmal in den Mund. „Warum nicht siebenmal?“ fragte ÝAbd
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al-Qādir. „Aus höflicher Scheu vor dem Gesandten Allahs“, beschied ihn ÝAlī, worauf ÝAbd al-Qādir ihn aus den Augen verlor. Nun aber vermochte er zu reden, und er sprach zur Menge die folgenden Sätze: „Der Perlentaucher des Denkens taucht im Herzensmeer nach den Perlen der Erkenntnisse und bringt sie dann empor an das Gestade der Brust. (Die Zunge), der Makler des Dolmetschers Sprache, ruft sie aus um den teuren Preis guten Gehorsams in Häusern, die zu errichten Allah erlaubte.“ Merkwürdige Sätze fürwahr! Sie versuchen eben das zu veranschaulichen, was es, wenn es nach den Sachwaltern des Wissens geht, gar nicht geben darf: das unmittelbare Schöpfen heilswichtigen, von Allah selber ausgehenden Wissens im durchscheinend gewordenen Seinsbereich des Verborgenen. Im Herzen nämlich trägt der Mensch jene Grenze in sich, an der sich das schauend Erkannte in die diesseitige Sprache übersetzen läßt. Wie man sich dies im einzelnen vorzustellen habe, darüber ist in der islamischen Welt vom 12. bis 19. Jahrhundert unüberblickbar viel geschrieben worden. Wem eine Berufung wie diejenige al-Gīlānīs zuteil wurde, der ist schon weit auf dem Wege zum Stellvertreter Allahs fortgeschritten und vermag für Augenblicke sein Ich abzustreifen und an der Stelle des Schöpfers die Fügung zu lenken. Was sollen ihm am Ende noch die Bücher, mit deren Stoff sich die Gelehrten abplagen? Der Weg zu diesem Erleben führt aber allein, das haben fast alle mit derartigem Erleben Begnadete betont, über das ernsthafte und mühevolle Studium eben dieser Bücher. Wenn al-Éuwainī in tiefer Resignation zu erkennen glaubte, daß das äußerste Ziel der Erkenntnis, zu dem man den Verstand treiben könne, die Erkenntnis seiner Ohnmacht ist, so treffen wir hier, im Milieu der „Gottesfreunde“ oder der „Allah Nahestehenden“, wie man ihren Namen wörtlich wiedergeben kann, die Überzeugung, daß das Ziel des Studiums des Wissens in der Überwindung der Angewiesenheit auf das Wissen besteht. Nicht Resignation durchweht die zahllosen Belege dieser Religiosität der „Gottesfreunde“, sondern eine frappierende Erhöhung des Ichs, dessen Abstreifung einem die Charakterzüge Allahs eintragen soll. Kühn wie niemand sonst in der islamischen Kultur forderten die „Gottesfreunde“ die Sachwalter des Wissens heraus. Diese beschäftigten sich, wie es in einem geflügelten Wort hieß, mit der Rede Toter, die durch Tote verbürgt sei. ÝAbd al-Qādirs Worte, wir hörten es, übermitteln das Lebendige, im Verborgenen Geschaute, wo der Prophet und ÝAlī nach wie vor für die Muslime wirken, von den Schriftgelehrten unbemerkt. Über Jahrhunderte zog sich die Polemik hin, ob die eine Seite oder die andere die wahre Hüterin der „besten Gemeinschaft“ sei, ein erbitterter Streit, der erstaunliche intellektuelle Leistungen hervorbrachte wie auch plumpeste Verunglimpfungen. Die „Gottesfreunde“ stachen nicht selten die Gelehrten in der Gunst der Machthaber aus, denn der Blick in das Verborgene konnte auf
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vielfache Weise nützlich sein. Das Osmanische Reich schaffte es ab dem 15. Jahrhundert, beide Richtungen seinen Machtinteressen dienstbar zu machen. Die ersten Ansätze einer Überarbeitung des schariatischen Rechts, das bei zahllosen konkreten Fällen des Alltags je nach Schulrichtung ganz unterschiedliche Bewertungen nahelegte und daher für den gemeinen Mann zu einer schweren Bürde geworden war, verdanken sich „Gottesfreunden“, die im Verborgenen erkannt zu haben glaubten, wie man der von dieser Undurchschaubarkeit ausgehenden Heilsgefährdung entkommen konnte. 4. Schlußbemerkung Bis ins frühe 20. Jahrhundert war das Schauen der Gottesfreunde ein fester Bestandteil des islamischen Diskurses, und er wurde als vollkommen legitim aufgefaßt. Mit dem Eindringen westlicher Technik und mit der Aneignung der Methoden westlicher wissenschaftlicher Forschung wurde erneut die Frage laut, ob die auf der Interpretation der Texte des übergeschichtlichen Wissens fußende Formung der „besten Gemeinschaft“ je ihr Ziel erreichen werde. Noch schwieriger war im Lichte des westlichen Rationalismus freilich das Hineinspähen in den Seinsbereich des Verborgenen begreiflich zu machen. War nicht alles das, was die jenem spirituellen Erleben nachjagenden Bruderschaften betrieben, fauler Zauber? Daß dies so sei, wurde für zahllose Muslime, die mit dem Westen in Berührung gekommen waren, eine ausgemachte Sache. Und gerade die Verfechter der Textwissenschaft gaben und geben sich als begeisterte Anhänger der aus dem Westen in die islamischen Länder einströmenden in den Naturwissenschaften begründeten Weltsicht. Für sie ist deren Rationalismus der „Beweis“ für die Wahrheit des eigenen im Auslegen der Texte praktizierten Rationalismus. Das Schauen geriet dementsprechend in Mißkredit und damit ein erheblicher Teil des über die Jahrhunderte angehäuften geistigen Erbes der Muslime. Bis auf den heutigen Tag werden selbst Texteditionen einschlägiger Werke be- oder verhindert, und eine erstaunliche, vielleicht auch beklemmende Einschränkung der veröffentlichten geistigen Tätigkeit auf das Aufbereiten des überzeitlichen Wissens und auf das Edieren und Neuedieren der ihm seit mehr als einem Jahrtausend gewidmeten Handbücher hat um sich gegriffen. Neuerdings stehen sie auf CD-ROM zur Verfügung, und das hat ihre Handhabung nun in der Tat von allen mühsam zu erwerbenden Expertenkenntnissen unabhängig gemacht. Daß der Koran Allahs unverfälschtes, auf ewig verpflichtendes Wort sei und daß Mohammed zu allen vorstellbaren Lebenslagen eine normierende Äußerung getan habe, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Stützpfeiler einer Ideologie geworden, deren Kernsatz lautet: „Der Islam ist die Lösung“. Die Auswirkungen dieser Ideologie lassen sich in vielen Weltgegenden studieren, nicht zuletzt auch
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bei uns, wo sie eine fruchtbare Teilhabe der Muslime am öffentlichen Diskurs verhindert. Denn wie soll man mit jemandem ein offenes Gespräch über gemeinsam interessierende Probleme führen, der zu allem sagt: „Ich weiß schon, was richtig ist; denn Allah und sein Gesandter haben es mir mitgeteilt!“ Unsere bitteren Erfahrungen mit totalitären Gedankengebäuden, die auf alles eine vorgefertigte, von den zu verhandelnden Tatsachen gar nicht mehr berührte Antwort hatten, mußten wir im 20. Jahrhundert machen. Erst wenn die Wortführer der Muslime, die im Interesse der Islam-Ideologie in ihren Äußerungen nur auf einen schmalen Ausschnitt ihres Erbes Bezug nehmen, sich wieder dessen Mannigfaltigkeit eingestehen und damit die Geschichtlichkeit dessen, was sie für übergeschichtlich ausgeben, bejahen, werden sie geachtete – und nicht nur mit Skepsis beäugte – Glieder in der Gemeinschaft der Kulturen der Welt geworden sein.
IV. Religion und Staat im Islam seit dem 11. Jahrhundert Dieser Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 5. Juni 2002 in der Gedenkstätte „al-Imam al-Buhari“ bei Samarkand auf einem Symposium gehalten habe, das unter dem Thema „Islam und säkularer Staat“ durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Internationale Stiftung al-Imam al-Buhari veranstaltet wurde. Er wurde 2003 in Taschkent in dem Sammelband Islam und säkularer Staat, herausgegeben von Z. I. Munawwarow und W. Schneider-Deters, veröffentlicht. Der Friedrich-EbertStiftung danke ich aufrichtig für die Erlaubnis, ihn hier in leicht veränderter Form noch einmal abzudrucken.
Wie so oft hatte MaÎmūd von Ghazna (reg. 999–1030), der Eroberer Indiens, des Nachts mit seinen Heerführern gezecht. Als der Vormittag anbrach, wollte einer von ihnen im Zustande starker Trunkenheit den Palast verlassen und nach Hause reiten. MaÎmūd riet ihm dringend davon ab; der Marktvogt könnte den Rausch bemerken und die von der Scharia vorgesehene Bestrafung vollziehen. Doch jener wollte nicht hören und nicht im Palast bleiben, bis er wieder nüchtern wäre, und so nahm das Unheil seinen Lauf: Der Marktvogt trat ihm auf dem Heimweg entgegen, ließ den Schwankenden vom Pferd heben und schritt ohne Zögern zum Vollzug der schariatischen Strafe. „Wie ist es dir ergangen?“ fragte MaÎmūd, als ihm einige Tage später der Heerführer wieder unter die Augen trat. Dieser entblößte den Rücken und zeigte dem Herrscher die Wunden. MaÎmūd brach in Lachen aus und rief: „Nun gelobe, daß du nie wieder betrunken den Markt passierst!“ Der seldschukische Wesir NiÛām al-Mulk (gest. 1092) erzählt diese Anekdote in seinem berühmten Buch der Staatsführung. Worauf es ihm dabei ankommt, ist nicht etwa die Entlarvung MaÎmūds als eines Heuchlers, sondern die, wie er meint, bewundernswert wirksame Unterwerfung der Untertanen unter die islamische Ordnung. „Da man die Herrschaft und das Fundament der Machtausübung gut und fest gegründet hatte, wurden Islam und Gerechtigkeit in solcher Weise hochgehalten und verwirklicht“, kommentiert NiÛām al-Mulk.1 Indessen mag sich unser Befremden ein wenig mildern, wenn wir die von al-Éuwainī (best. 1085) dem Wesir gewidmete Abhandlung über das Wesen islamischer Herrschaft in die Debatte einführen. Al-Éuwainī macht sich Gedanken darüber, wie Herrschaft – er spricht 1 NiÛ ām
al-Mulk: Sijāset-nāme, ed. Köğmen, Ankara 1976, 45 f.
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vom Imamat2 – in einer Zeit beschaffen sein müsse, in der der Kalif als der Erbe der prophetischen Führerschaft eine machtlose Figur sei. Gewiß trägt unter solchen Zeitumständen die Abstammung des Imams bzw. Kalifen aus der Verwandtschaft Mohammeds nichts zu seinen geringen Möglichkeiten bei, die ihm formal zustehende Macht zur Geltung zu bringen. Die Macht durchsetzen, die Scharia anwenden, das aber sind die vornehmsten Aufgaben des islamischen Herrschers, ja, man kann sagen, daß das Imamat die notwendige Folge des Vorhandenseins der Scharia ist. – Bereits an diesen Ausführungen al-Éuwainīs erkennt man den grundsätzlichen Unterschied zum staatspolitischen Denken des lateinischen Europa, das die Herrschaft als eine unvermeidliche, später als die vernünftige Konsequenz des weltlichen Daseins auffaßt und nicht erst aus einer göttlichen Gesetzgebung hervorgehen läßt, deren Anwendung sie zu ihrer Aufgabe gemacht habe. – Al-Éuwainī also argumentiert, das Vorhandensein der Scharia bedinge die Notwendigkeit des Imamats, und zwar nicht eines formalen, scheinhaften Imamats, wie man es spätestens seit dem frühen 10. Jahrhundert im Falle der Abbasiden zur Genüge kannte. Nein, das Imamat müsse von einer Person wahrgenommen werden, die tatsächlich in der Lage sei zu herrschen. Der Imam müsse selber über die unerläßlichen Machtmittel verfügen; es sei nicht statthaft, daß er sich in der Ausübung seines Amtes durch andere vertreten lasse. Für al-Éuwainī ist die faktische Macht, die nach seiner Meinung in den einsatzbereiten militärischen Mitteln sowie in den ausreichenden Kräften zur Wahrung der schariatischen Ordnung im Innern besteht, entscheidend wichtig. Die Legitimierung des Imams durch die Abstammung von den Quraiš und die genaue Kenntnis der Scharia sind demgegenüber zweitrangig, wenn nicht bedeutungslos. Denn wie könnten sie die Kampfkraft des Imams erhöhen? Es muß allerdings unbedingt gewährleistet sein, daß selbst ein in den Fragen der Scharia ganz ungebildeter Imam stets den Zweck seiner Herrschaft, nämlich die Stärkung des Islams im weitesten Sinne, im Auge behält. Dies zu gewährleisten, ist die vornehmste Pflicht der Gesetzesgelehrten, wie denn auch der Herrscher verpflichtet ist, sich bei seinen Amtsgeschäften ohne Unterlaß mit ihnen zu beraten.3 Betrachten wir die von NiÛām al-Mulk erzählte Anekdote und al-Éuwainīs theoretische Überlegungen, so haben wir ein Auseinanderfallen von Mittel und Zweck festzustellen. Die Mittel, deren sich der Herrscher zum Erhalt 2 Imamat ist in islamischen staatstheoretischen Abhandlungen der allgemeine Begriff für die Staatsautorität. Das Wort bezeichnet auch die Funktion des Vorbeters beim Vollzug des rituellen Gebets. Über den Sachzusammenhang zwischen beidem vgl. unten, Abschnitt C., Text VI. 3 Tilman Nagel: Gab es in der islamischen Geschichte Ansätze einer Säkularisierung? in: Festschrift B. Spuler, Leiden 1981, 275–288; ders.: Die Festung des Glaubens, München 1988, 293–323.
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und zur Anwendung seiner Macht bedient, mögen in schariatischer Hinsicht fragwürdig sein, ihr Zweck nützt der Beachtung des göttlichen Gesetzes und heiligt sie daher. Zechgelage in der Gemeinschaft der Großen des Reiches festigen deren Zusammenhalt und die Bindung an den Sultan, sie sind ein wesentliches Element des Hofzeremoniells. NiÛām al-Mulk widmet ihnen ein eigenes Kapitel. Dabei legt er Wert auf die Regel, daß nur ein beschränkter Personenkreis Zutritt habe dürfe; die Eingeladenen sollten nur je einen Diener mitbringen; ganz ungehörig sei es, in Begleitung eines Mundschenken zu erscheinen oder gar Wein oder Speisen zum Gelage mitzubringen. Durch solches Fehlverhalten werde symbolisch die Stellung des Sultans als des Herrn der Welt in Zweifel gezogen. Vielmehr entspreche es der Etikette, daß die Gäste mit Geschenken versehen auf den Heimweg entlassen werden, damit ihr Untertanenrang sichtbar sei.4 Die Beachtung solcher Regeln, ihre geschickte, aber unnachsichtige Befolgung, das eben ist Führerschaft (arab.: as-sijāsa), wie NiÛām al-Mulk sie verstanden wissen will; ihr widmet er sein Buch. Sijāsa ist demnach etwas ganz anderes als schariatische Machtausübung; sijāsa ist deren Voraussetzung. Blicken wir kurz in die islamische Geschichte vor dem 11. Jahrhundert zurück, damit uns der Bruch deutlich werde, der damals stattfand und der die neue, in wesentlichen Zügen bis in die Gegenwart geltende Vorstellung von islamischer Staatlichkeit hervorbrachte. Die Kalifen, zu Anfang die tatsächlichen Inhaber der Macht, später mehr oder weniger nur noch Übermittler von Legitimität an Dritte, verkörperten das Bestehen der einen gottgewollten Gemeinschaft auf der Erde, nach Sure 3, Vers 110 die beste, die je für die Menschen errichtet wurde. Wie der Prophet selber als Sachwalter des Schöpfers nicht nur den Anspruch erhoben hatte, ein Techniker des Herrschens zu sein, sondern Vorbild der inhaltlichen Verwirklichung des göttlichen Gesetzeswillens, so erwartete man von den Kalifen als den „Stellvertretern Allahs“ (vgl. Sure 2, 30 und Sure 38, 26), daß sie in der Praxis vorlebten, was die Scharia forderte. Mittel und Zweck der Machtausübung waren ununterscheidbar eines. Zumindest von den ersten Nachfolgern Mohammeds glaubten die Sunniten zu wissen, daß es sich bei ihnen tatsächlich so verhalten habe. Das Amt des Marktvogts und die Kadi-Gerichtsbarkeit etablierten sich als Hilfsinstitutionen zur Durchsetzung der Regeln der „besten Gemeinschaft“, zu der auch der Kalif zählte. Um jeden Zweifel hieran auszuräumen, propagierte man in unterschiedlicher Form die Idee einer wechselseitigen Verantwortlichkeit von Herrschern und Beherrschten; am Jüngsten Tag werde Allah entsprechend urteilen.5 4 NiÛ ām
al-Mulk, op. cit., Kapitel 29. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich / München, Bd. I, 163 ff. und 340. 5 Tilman
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Der religiöse Nimbus des Kalifen zeigte sich unter anderem in der Pflicht, den Freitagsgottesdienst zu leiten, ja, überhaupt in seiner Verantwortung für den ordnungsgemäßen Vollzug der Riten, deren Befolgung den Muslimen die Anwartschaft auf das Paradies eröffnet. Die im 9. Jahrhundert einsetzende Regionalisierung des islamischen Reiches stellte die heilswichtige Funktion des Kalifen noch nicht grundsätzlich in Frage. Aber es erhob sich das Problem, wie es sich mit den Muslimen unter der Herrschaft von Usurpatoren verhalte, die sich selber formal nicht mehr als Funktionsträger des obersten „Imams“ in Bagdad begriffen. Gehörten sie und ihre Untertanen zur „besten Gemeinschaft“? Offensichtlich nicht, zumal Abspaltungen für unvereinbar mit den religiös-politischen Absichten Allahs galten (z. B. Sure 3, 103). Al-Māwardī (gest. 1058), dessen Abriß der sunnitischen Staatslehre die damals dahinschwindenden Verhältnisse beschreibt, schlägt darin vor, der Kalif solle Usurpatoren nachträglich legitimieren, indem er sie zu Statthaltern mit unbegrenzten Befugnissen einsetze. „Der Kalif vollzieht (durch diesen Akt) mit der Erlaubnis (des Usurpators oder Allahs) die Bestimmungen der göttlichen Ordnung, damit diese aus der Verdorbenheit in die Richtigkeit … trete“, schreibt al-Māwardī. Zwar ist ein solches Vorgehen nicht unbedenklich, doch wäre es ganz unklug, auf die hierdurch ermöglichte Wahrung der Scharia zu verzichten.6 Mit der Entstehung des Sultanats verblaßt jedoch die Idee einer nicht nur im Religiösen, sondern auch im Politischen einheitlichen Glaubensgemeinschaft. Indem man die Idee des Nutzens für den Islam zur politischen Leitidee erhebt, werden die Folgen dieser Wende zum Sultanat überdeckt: die faktische Zersplitterung islamischer Machtausübung und die Inkompetenz der Machthaber, das Erbe des Propheten zu verkörpern. Die gesellschaftliche Ausprägung des neuen Verständnisses von Herrschaft kann man wie folgt beschreiben: Es entsteht eine Symbiose zwischen den Inhabern der militärischen Macht und den prominenten Sachkennern der „islamischen Wissenschaften“. Nicht selten sind es fremdbürtige Verbände, die die Herrschaft an sich reißen; die Seldschuken bieten ein frühes Beispiel hierfür. Am schärfsten akzentuiert wird dieser Typus vom Regime der Mamluken in Ägypten und in der Levante. Wegen ihrer Herkunft und des Verfahrens der Rekrutierung von Nachwuchs muß man sie als eine von der autochthonen Bevölkerung abgeschottete Kaste charakterisieren, deren Daseinszweck das Kriegshandwerk ist. Sowohl im mamlukischen Hofzeremoniell als auch bei außergewöhnlichen Ereignissen pflegt sich der Sultan mit den höchsten Vertretern der islamischen Gelehrsamkeit zu umgeben; der abbasidische Kalif und die Oberkadis der vier Rechtsschulen haben sich bei ihm auf der Festung einzustellen. Wie die Quellen zeigen, ist ihr Wort bis6 Ebd.,
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weilen von Gewicht, zumal dann, wenn die Militärkaste von Parteikämpfen erschüttert wird. Den Spitzen der Gelehrtenschaft selber, teils aus einheimischen Notablenfamilien hervorgegangen, teils aber auch durch den Sultan aus ihm ergebenen Zuwanderern ausgewählt, ist an der Stabilität der Herrschaft des Militärs gelegen. Denn der Sultan und seine hohen Offiziere verfügen über das bebaubare Land und über Manufakturen, deren Erträge sie vielfach in Form von Stiftungen den Gelehrten, den Ý ulamāÞ (Sg. alÝ ālim), zukommen lassen. Diese erhalten dadurch die Gelegenheit, in Medressen ihren Nachwuchs heranzubilden und in Sufiherbergen Jenseitsverdienst aufzuhäufen, das im Endgericht auch den Stiftern von Vorteil sein wird. Häufige Klagen über die Veruntreuung von Stiftungsvermögen durch die gelehrten Verwalter weisen auf den inoffiziellen Grund des Interesses der Ý ulamāÞ an der Herrschaft der Mamluken hin. Der Gedanke, daß eine gute Regierung die Fähigkeiten aller Glieder des Gemeinwesens zum Nutzen aller zu fördern habe, konnte unter solchen Voraussetzungen kaum an Kraft gewinnen. Er wurde in einem dritten Milieu, demjenigen der Gottesfreunde (arab.: Pl. al-aulijāÞ ), gepflegt, jedoch unter Begleitumständen, über die gleich noch einiges zu sagen sein wird. Zuvor möchte ich in einigen Sätzen auf die Funktion der Gelehrten bei der Errichtung und Bewahrung der „besten Gemeinschaft“ eingehen. Seit dem 9. Jahrhundert findet man die Sachkenner der Prophetenüberlieferung und ihrer Ausdeutung mit den Aufgaben der Rechtsprechung betraut; sie können ferner Verwaltungsaufgaben wahrnehmen und als Prediger und Marktvögte amtieren. Mit anderen Worten: Sie erfüllen die hoheitlichen Aufgaben des in der Nachfolge der medinensischen Urgemeinde stehenden kalifischen Staates. Dieser kümmert sich nicht systematisch um die Ausbildung von Ý ulamāÞ . Sie erfolgt vielmehr in privaten Studienzirkeln, betrieben von Männern, die einem ungelehrten Broterwerb nachgehen. Für die Wahrung des islamischen Charakters des öffentlichen Raumes ist allein der Marktvogt verantwortlich, und wie weit der private Bereich nach Maßgabe der Scharia zu formen sei, liegt zumindest offiziell außerhalb der Zuständigkeit der Obrigkeit. Noch aÔ-Óabarī (gest. 923) schreibt in seinem Korankommentar unter Bezugnahme auf Sure 45, Vers 18, die Scharia umfasse die kultischen Pflichten, die koranischen Strafen und die Gebote und Verbote, mithin alles das, wodurch sich der islamische Staat nach außen hin darstellt. Das ändert sich ab dem 11. Jahrhundert grundsätzlich, indem von nun an zum Daseinszweck islamischer Herrschaft die vollständige Islamisierung der Gesellschaft erhoben und in ihrem weitestmöglichen Sinne interpretiert wird. Die Trennung zwischen der Machtausübung einerseits und deren Zweck andererseits führt überraschenderweise gerade nicht zur Abschwächung der Durchdringung des profanen Lebens mit islamischem Gedankengut, sondern im Gegenteil zu einer spürbaren Förderung dieses Vor-
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ganges.7 Dies geschieht zum einen auf einer offiziellen, durch die Machthaber selber finanzierten Ebene, zum anderen auf einer inoffiziellen, die dem Eingreifen der Herrschenden weitgehend entzogen bleibt, trotzdem aber für die Stabilisierung ihrer Regime von großem Gewicht ist. Ich wende mich zunächst der offiziellen Ebene zu, deren unübersehbares Sinnbild die Medresse ist. Sie ist die Institution der Professionalisierung des islamischen Gelehrtentums, das Symbol seiner Unterwerfung unter den Daseinszweck islamischer Machtausübung. Ihre materielle Absicherung obliegt, wie bereits erwähnt, den Inhabern der Herrschaft. Der Siegeszug dieser Institution geht einher mit einer außerordentlichen Ausweitung des Inhalts des Begriffs der Scharia. Sie benennt nun nicht mehr nur die von aÔ-Óabarī umrissenen Sachgebiete des islamischen Rechts, sondern wird mit der islamischen Gesittung (arab.: Pl. al-ādāb) schlechthin gleichgesetzt. Darunter versteht man die Stilisierung des gesamten Lebensvollzugs des Muslims und seiner Vorstellungswelt nach dem Maßstab des überlieferten vorbildlichen Handelns und Redens Mohammeds. Es werden jetzt Sammlungen von Hadithen erarbeitet, die den Muslim befähigen sollen, in jeder nur denkbaren Lebenssituation den passenden Ausspruch Mohammeds herzusagen; nicht nur die Augenblicke des Ritenvollzugs, sondern auch die Zeitspannen profaner Tätigkeit sollen dem doch gewiß gottgefälligen Lebenswandel des Propheten angeglichen werden. Vor allem die dieser Thematik gewidmeten Schriften an-Nawawīs (gest. 1277) wurden rasch populär und wirken bis in die Gegenwart fort.8 Nicht alle Absolventen der Medressen konnten auf eine einträgliche Beschäftigung hoffen. Viele widmeten sich daher dem Erteilen von Fetwas, und zwar, wie die Sammlungen solcher Gutachten belegen, in großem Maße auch zu Fragen des islamischen Lebenszuschnittes. Bis in das frühe 11. Jahrhundert hinein galt den Gelehrten das Erteilen entsprechender Ratschläge als zu risikoreich. Sie fürchteten, für Irrtümer dereinst von Allah zur Rechenschaft gezogen zu werden. Al-Éuwainī, dessen Vater schon auf diesem Felde tätig gewesen war, vertrat eine ganz andere Ansicht. In einer Abhandlung zur Rechtfertigung des Erteilens von Fetwas legt er dar, Allah werde dem Mufti Irrtümer verzeihen, sofern dieser subjektiv ehrlich ent7 Näheres über diesen Wandel erläutere ich in meiner Arbeit „Raja – ein Schlüsselbegriff islamischer Staatlichkeit und seine Geschichte“, in: Reinhard Lauer / Hans Georg Majer (Hgg.): Osmanen und Islam in Südosteuropa, Berlin 2014 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, Band 24), 37–101, besonders 50–67. 8 Über dieses Thema handele ich ausführlich in „Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams“, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, phil-hist. Klasse, dritte Folge, Bd. 244), vor allem 495–650.
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schieden habe und sich selber ebenfalls an die Ratschläge halte. In der NiÛām al-Mulk zugeeigneten Abhandlung über die Staatskunst macht sich al-Éuwainī überdies dafür stark, den Muftis ein Gehalt zu zahlen, also die Islamisierung des Alltags und des Denkens der Massen als eine Angelegenheit des Staates zu begreifen.9 Die Ý ulamāÞ als die Garanten des islamischen Zwecks der Machtausübung und der allumfassenden Islamisierung sind die alleinigen Agenten auf der ersten, der offiziellen Ebene der ideologischen Absicherung der Herrschaft. Eifersüchtig wachen sie über dieses Monopol. So schreibt einer der ihrigen, der Kairoer Tāº ad-Dīn as-Subkī (gest. 1369), einen Traktat über die Aufgaben der verschiedenen Berufe seiner Zeit. Die Schariagelehrten üben den wichtigsten aus, und deshalb ist es die Pflicht des Sultans, fortwährend für ihr Wohl zu sorgen.10 Al-Ġazzī, der Verfasser eines berühmten prosopographischen Nachschlagewerks zum 16. Jahrhundert, tadelt im Vorwort seine Konkurrenten, die neben den Mächtigen und den Gelehrten so unbedeutende Personen wie Kaufleute und Handwerker berücksichtigt hätten. Als einzig möglichen Grund für derartige Mißgriffe kann sich al-Ġazzī den Wunsch jener Autoren denken, keine Stelle im Alphabet unbesetzt zu lassen, so daß sie in Ermangelung geeigneter Persönlichkeiten sich mit ganz belanglosen hätten begnügen müssen. Kommen wir nun zur zweiten, zur inoffiziellen Ebene, die von den Gottesfreunden besetzt wird! Die gesellschaftlichen Ideale, für die sie stehen, sind in zwei immer wieder zitierten Texten wie in den beiden Brennpunkten einer Ellipse zusammengefaßt. Der erste ist Sure 29, Vers 45, wo es heißt, daß der Vollzug des rituellen Gebets schändliche Handlungen untersage – eben weil sich der Muslim im Augenblick des Gebets von Angesicht zu Angesicht vor Allah befindet –, daß es aber noch weit wichtiger sei, Allahs ständig zu gedenken, also auch in den Zeiträumen profaner Tätigkeit. Der andere ist ein sogenanntes heiliges Hadith, eine Mitteilung, die Mohammed außerhalb des Korans unmittelbar von Allah empfangen haben soll. In dem in Rede stehenden Hadith versichert Allah seinem Propheten, der Mensch könne sich durch supererogative Leistungen der Gottesverehrung so weit dem Schöpfer nähern, daß dieser ihn liebe, und wenn dieser Zustand erreicht sei, dann sei der betreffende Fromme gleichsam das Auge und das Ohr Allahs, die Hand, mit der Allah zupackt, die Zunge, mit der er spricht.11 Der Muslim soll also nicht nur streng seine schariatischen Pflichten erfüllen, er soll während seines ganzen Lebens sein Denken und Fühlen und 9 al-É uwainī:
Ġijā× al-umam, ed. ad-Dīb, 2. Auflage, Kairo 1401 h, 246, § 352. Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 151. 11 W. Graham: Divine Word and Prophetic Word in Early Islam, Den Haag / Paris 1977, 173. 10 T.
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auch sein Handeln auf den einen Schöpfer und Lenker der Welt ausrichten. Das ganze Leben soll, wie aus Sure 51, Vers 56, zu folgern ist, Gottesdienst sein. Die Gottesfreunde bringen dies fertig, und indem sie die übrigen Muslime, sofern diese sich ihnen gegenüber loyal verhalten, in diesem Sinne erziehen, schaffen sie unermüdlich an der in Sure 3, Vers 110, geforderten „besten Gemeinschaft“. Da die Gottesfreunde ihr Werk verrichten, nachdem sie sich aller ichhaften Regungen entledigt haben und mit dem ununterbrochenen göttlichen Bestimmen eins geworden sind, verstehen sie sich als die wahren „Stellvertreter Allahs“. Diese Grundgedanken halten die seit dem 11. Jahrhundert entstehenden sufischen Gemeinschaften (arab.: aÔ Ô arīqa) zusammen. Studiert man das überreiche diesen Kreisen zuzuordnende Schrifttum, dann erkennt man, daß die Gottesfreunde auf die breite Masse anziehend wirkten, weil sie auf die Sorgen und Nöte des kleinen Mannes eingingen, freilich nicht, um diese Nöte – wie wir sagen würden – in diesseitsorientierter Weise zu lindern, sondern um zu lehren, wie man den beschwerlichen Alltag in einen immerwährenden Gottesdienst verwandeln könne. Die Gottesfreunde vermitteln den Muslimen eine spirituelle Geborgenheit, angesichts deren die Wirrsal der meist schrecklichen Wirklichkeit und vor allem die bedrückenden Folgen der herrscherlichen sijāsa zu etwas Zweitrangigem werden: Das alles muß man hinnehmen. Denn es bedeutet nicht viel im Vergleich zu der Gewißheit, daß man während des unermüdlichen Gedenkens Allahs ein Glied der „besten Gemeinschaft“ ist, der das Paradies zugesagt wurde. Im schlimmsten Fall darf man sich darauf verlassen, daß der Gottesfreund, an den man „glaubt“, bei der bösartigen Obrigkeit Fürbitte einlegen wird, und nicht selten wird diese Obrigkeit ihre eigenen Regeln verletzen, um mittels der spirituellen Kraft der Gottesfreunde ebenfalls dem Einen näher zu kommen. Der von den Gelehrten betriebenen Islamisierung wohnt die Tendenz inne, dem aufmerksamen Beobachter die nach Maßgabe der Scharia oft verwerfliche Herrscherpraxis durchschaubar zu machen. Das Verhältnis zwischen den Machthabern und den von ihnen besoldeten Gelehrten kann, wie gleich zu zeigen ist, deswegen nicht spannungsfrei sein. Die inoffizielle Ebene der Gottesfreundschaft vermag diese Spannungen abzumildern. Zwar untergräbt sie die Loyalität der Untertanen gegenüber den Herrschenden, aber sie stabilisiert sie zugleich, indem sie den Machthabern endgültig ihre Heilswichtigkeit nimmt. Daß das Osmanische Reich in seiner Blüte im 16. Jahrhundert sowie in der darauffolgenden langen Epoche des Niederganges von revolutionären Erschütterungen verschont blieb, ist dem subtilen Ineinandergreifen der offiziellen und der inoffiziellen Ebene der Islamisierung zu verdanken. Bedeutende Vertreter der Gelehrtenschaft waren auf beiden Ebenen tätig, die Schnittmenge der auf beiden Ebenen vermittelten Ideale war außerordentlich groß. Und so ist vermutlich zu erklären, daß sich
IV. Religion und Staat im Islam seit dem 11. Jahrhundert123
die Keime grundsätzlicher Kritik an der überkommenen Ordnung erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert zu regen begannen, als außenpolitische Mißerfolge die Überlegenheit Europas zeigten. Doch selbst in dieser Lage gab man sich der Hoffnung hin, die Übernahme einiger technischer Fertigkeiten und die Einpflanzung westlicher Formen der Staatslenkung würden ausreichen, um mit dem Westen gleichzuziehen. Am Schluß wende ich mich noch einmal der sijāsa zu, dem Bereich herrscherlichen Handelns, der von der strengen Befolgung der Scharia absieht und dem Machterhalt des Herrschers dient. Dieser Bereich ist keinesfalls als ein Freiraum rein weltlich orientierter, „säkularer“ Herrschaft mißzuverstehen. Das geht schon deshalb nicht an, weil der Zweck der sijāsa nicht in der Entfaltung der Talente aller Individuen des Staates liegt, sondern eben in der Wahrung und Mehrung der Macht des Herrschers, die wiederum islamisch legitimiert ist. Viele Schariagelehrte betrachteten zudem die unschariatische sijāsa als einen blinden Fleck innerhalb der „besten“, islamischen „Gemeinschaft“, den es mit schariatischen Prinzipien zu erhellen galt. Mit dieser Absicht schrieb Ibn Taimīja (gest. 1328) seinen Traktat über die schariatische sijāsa. Er berief sich auf Sure 4, Vers 58 f.: „Allah befiehlt euch, Güter, die man euch anvertraute, ihren Eigentümern zurückzuerstatten und, wenn ihr unter den Menschen als Schiedsmänner tätig werdet, gerecht zu urteilen! … Ihr, die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen unter euch, die Befehlsgewalt innehaben!“ Nur in der Art eines Depositums, so Ibn Taimīja, verfügen die Herrscher über ihre Macht, und sie haben selbstverständlich über deren Verwendung vor Allah Rechenschaft abzulegen – und sind dementsprechend sehr wohl an die Scharia gebunden. Nur weil dies so ist, dürfen sie überhaupt von den Untertanen Gehorsam verlangen. Der politische Anlaß, der Ibn Taimīja zu diesen Überlegungen drängte, waren Versuche der Herrscher, Ruhe und Ordnung herzustellen, indem sie mit Räubern und Aufrührern Abmachungen trafen. Doch niemals dürfe sich eine islamische Obrigkeit bei schwerwiegenden Verletzungen des inneren Friedens den Vollzug der von Allah hierfür vorgesehenen Strafen abhandeln lassen. Da es das Prinzip säkularer Machtausübung in der islamischen Welt nicht gibt, wurde die Einführung westlicher Techniken und Verwaltungsformen als eine anstößige Ausweitung der sijāsa der Herrscher interpretiert. Diese diene allein der Erleichterung des Zugriffs der Machthaber noch auf die fernsten Provinzen ihrer Reiche, mithin der Stärkung des Despotismus. Dieser Eindruck war sicher nicht unbegründet; er belegt den Fortbestand des tradierten islamischen Staatsverständnisses sowohl auf der Seite der Regierenden als auch der Untertanen, und wieder suchte man, den Schwierigkeiten mit der Forderung nach von der Scharia bestimmter sijāsa beizukommen. Dies belegt z. B. eine 1931 veröffentlichte Abhandlung des ägyp-
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tischen Ministerialbeamten ÝAbd al-Wahhāb Ëallāf (gest. 1956), die die Verfassung, die auswärtigen Beziehungen und das Finanzwesen des modernen Staates in der Scharia zu verankern trachtet. Bei der Ausarbeitung seiner Thesen griff der Verfasser auf ältere literarische Vorbilder zurück.12 Nicht viel anders, freilich ohne wirkliche Kenntnis der Geschichte der islamischen Staatsidee, argumentiert die heutige sich bisweilen bis zum Terrorismus verschärfende muslimische Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen islamischer Länder, und deren Regime fühlen sich genötigt, durch entsprechende Maßnahmen und Verlautbarungen den Kritikern entgegenzukommen. Sofern man in der islamischen Welt ernsthaft an der Übernahme säkularer Elemente in die Staatsführung interessiert ist, sollte man den Bereich der sijāsa ganz aus dem schariatischen Begründungszusammenhang entlassen, ihn zugleich jedoch durch Anleihen bei den religionsunabhängigen Menschenrechten vom Geruch des Despotismus befreien.
12 T.
Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, 313–317.
V. Die Überbietung der Riten – Gesetzesfrömmigkeit und Sufismus im Islam Überarbeiteter Auszug aus einer der Vorlesungen, die ich im Sommersemester 2007 unter dem Titel „Was ist Sufismus?“ gehalten habe.
1. Vorbemerkung Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert trifft der Sufismus auf das Interesse gebildeter Kreise in Europa. Die Vorstellungen, die man sich seitdem von dieser spezifischen Form islamischer Frömmigkeit und Gotteserfahrung macht, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sufismus meint die zuversichtliche Hingabe an das jede menschliche Vernunft übersteigende Wollen des Einen, Höchsten, eine Hingabe überdies, die, eben weil sie jeder festgelegten Ritualisierung ledig bleibt, grenzenlos tolerant ist – der Grenzen ziehende, Definitionen suchende Verstand kann sich ihrer nicht bemächtigen. Vulgarisiert taucht diese von Goethe, aber auch von Lessing, Rückert und anderen geteilte Auffassung heute in dem weitverbreiteten Diktum auf, dem strengen, unduldsamen „Gesetzesislam“ stehe der tolerante Sufismus gegenüber. Ein flüchtiger Blick in die islamische Geschichte offenbart sogleich die Unhaltbarkeit dieser Behauptung: Vom 11. Jahrhundert bis in die Gegenwart finden sich sufische Bewegungen, die die praktische Erfüllung ihres religiösen Gedankenguts im Kampf gegen Andersgläubige suchen. Sufische Gemeinschaften trieben die Islamisierung Innerasiens voran, die militärische Besitzergreifung der Osmanen von großen Teilen Europas ist ohne das Gedankengut des sufischen Glaubenskriegertums gar nicht zu verstehen. Was also ist Sufismus? Diese Frage drängt sich auf, sobald man sich darüber Rechenschaft gibt, daß die schwärmerische Auffassung der deutschen Klassiker an der Wirklichkeit scheitert. Im ersten Schritt meiner Überlegungen werde ich ganz knapp die Heilsbotschaft des Islams umreißen und dann auf deren lebenspraktische Konsequenzen zu sprechen kommen. Dann werde ich aufzeigen, daß der Sufismus diese lebenspraktischen Konsequenzen zu einer vertieften religiösen – meinetwegen auch spirituellen – Erfahrung auszubauen bestrebt ist.
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2. Wert und Unwert der Welt Der Gott des Korans ist vom Monotheismus der Juden und Christen durch die Erfahrung der Gnosis geschieden. Ihr war die Welt nicht mehr ein Ort der Bewährung des Menschen gewesen, sondern das Machwerk des verruchten Demiurgen, ein Gefängnis, dem es zu entkommen galt. Jenseits der Welt, ihr völlig transzendent, weste die gute Gottheit, die mit der Entstehung der Welt und ihrem Schicksal nichts zu tun hatte. Weder durch die treue Erfüllung eines Gesetzes der guten Gottheit – das es gar nicht gab – noch durch einen von dieser ins Werk gesetzten Akt der Erlösung konnte der Gnostiker das Heil gewinnen, sondern nur indem er die Verruchtheit der Welt erkannte und dann selber alles nur Denkbare unternahm, um seine Seele, die ihrem Wesen nach in den transzendenten Seinsbereich gehörte, aus der Verstrickung in die Welt zu befreien. Die koranische Verkündigung kann in Teilen als eine radikale Umkehrung gnostischer Theologie gedeutet werden. Die Welt ist nicht der Unwert an sich, sondern sie wird in einer bis dahin in der Religionsgeschichte ungekannten Weise aufgewertet: Sie ist nicht etwa das Werk einer bösen, finsteren Macht, sondern die Schöpfung des einen allmächtigen, allwissenden Allah, und dies nicht nur, wie im alten Testament, „am Anfang“, sondern immer und in jedem Augenblick ihres Bestehens. Der koranische Allah ruht nie (Sure 55, 29; Sure 2, 255); unmittelbar nach Beendigung der Schaffung des Diesseits aus dem Nichts hat er auf seinem Thron Platz genommen, um sie bis in die kleinste Kleinigkeit hinein zu regieren (Sure 7, 54; Sure 10, 3 und öfter). Da der Mensch ein Teil des ununterbrochenen Schöpfungswirkens Allahs ist, kann er nicht mit einer Erbsünde belastet sein. Er selber hat ohnehin nicht die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem, autonomem Handeln. Das christliche Spannungsverhältnis zwischen dem, „was des Kaisers ist“, und dem, „was Gottes ist“, kann es im Islam nicht geben, desgleichen nicht die Hoffnung als eine Kardinaltugend. Ja, die „Kürze der Hoffnung“ wird als ein Ideal gepriesen, wie auch aus einem gesetzeskonformen Verhalten des Muslims nicht auf einen Eintritt ins Paradies geschlossen werden darf. So wie Allah das Diesseits in jedem Augenblick souverän leitet und die dabei befolgten Prinzipien sich dem Verstand des Menschen nicht erschließen, so liegt auch deren Jenseitsschicksal ganz in seiner souveränen Entscheidung. Das jedenfalls ist die Lehre der sunnitischen und der meisten schiitischen Richtungen. Da nun Allah alles diesseitige Geschehen determiniert und nach seinem Willen die Muslime diejenigen Menschen sind, die diesen Umstand in seiner ganzen Tragweite zum Inhalt ihres Glaubens und ihres alltäglichen Lebens machen, bilden sie die vortrefflichste Gemeinschaft überhaupt. „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je den Menschen gestiftet wurde. Ihr be-
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fehlt, was zu billigen ist, verbietet, was abscheulich ist, und glaubt an Gott. Wenn auch die Schriftbesitzer gläubig würden, wäre es für sie am besten. Einige von ihnen glauben, doch die meisten von ihnen sind Missetäter.“ So steht es in Sure 3, Vers 110. Und damit ist nicht gemeint: „… die beste Gemeinschaft im Jenseits“, sondern im Diesseits. Schon hier und jetzt ist ein gottgewolltes Gemeinwesen vorhanden, allerdings nicht als eines, das sich seine Gesetze selber schafft. Das wären Verhältnisse, in denen man dem Kaiser geben könnte, was des Kaisers wäre (vgl. Abschnitt B., S. 155). Die Muslime hingegen verfolgen ihren Weg durch das Diesseits innerhalb eines Gemeinwesens, das sich gerade nicht den Erwägungen der Vernunft des Menschen verdankt. Es geht vielmehr auf einen Stiftungsakt Allahs zurück, beruht auf seinen Gesetzen und ist daher unüberbietbar gut und richtig. Diese Betrachtungsweise verliert die Wirklichkeit in ihrer Vielgestaltigkeit aus dem Auge, desgleichen die Leistungen und das Versagen der Handelnden; sie wird vielmehr von der Furcht umgetrieben, das Vorbild des idealisierten prophetischen Medina zu verfehlen. Dekadenzphantasien durchziehen die Darstellungen der überlieferten islamischen Geschichte. Sie fungieren als die Einfallstore, durch die die gnostische Weltverachtung aufs neue von den Gemütern Besitz ergreift. Auch die von Allah geschaffene und in jedem Augenblick ihrer Existenz erhaltene Welt – entspricht ihr Wert angesichts der unbeschreibbaren Macht und Seinsfülle des Einen nicht kaum dem eines Mückenflügels? Warum also soll man sich um die Welt als solche kümmern? An und für sich besitzt sie keine Bedeutung, eben weil sie, wie der Mensch selber und wie sein Lebensweg, nichts weiter als das Erscheinen der unzählbar vielen Schöpfungsakte des Einen ist. Das Handlungsvermögen wird dem Menschen im Augenblick des Geschehens der betreffenden Handlung von Allah verliehen; so formuliert dies die im Sunnitentum vorherrschende Theologie; das Handlungsvermögen des einzelnen ist demnach nichts Kontinuierliches, über das er nach eigenem Entschluß verfügen könnte. 3. Der Sinn der Riten Kommen wir nun zu den lebenspraktischen Konsequenzen der muslimischen Heilszusage, deren Inhalt man wie folgt zusammenfassen kann: Der Mensch, wie das ganze Diesseits, ist unmittelbar zu Allah. Aus eigener Kraft und aus eigenem Planen vermag er nichts zu bewirken. So wird er seinem irdischen Dasein nur dadurch Sinn verleihen, daß er sich vollkommen auf das ununterbrochene göttliche Bestimmen einstellt; er muß seinen Knechtsstatus ohne Wenn und Aber annehmen. Er muß, wie einst Abraham, sich ganz und gar zu dem Einen hinwenden und alles Sinnen und Trachten,
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das sich auf anderes als ihn richtet, ausschalten. Mit diesen Worten greifen wir die koranische Formulierung auf, mit der dort der Inhalt der Botschaft Mohammeds auf den Begriff gebracht wird. „Wer zeichnet sich durch einen besseren praktischen Glauben aus als jemand, der sein Gesicht (ganz) zu Allah wendet und dabei gut handelt und der Gemeinschaft Abrahams folgt, der doch ein Gottsucher war? Gott nahm sich Abraham zum Freund“, versichert Mohammed in Sure 4, Vers 125. Die Hinwendung des Gesichts zu Allah – ein Akt, der das eben skizzierte Verhalten zu der in einem ständigen Schöpfungsakt begriffenen Welt versinnbildlicht – ist laut diesem in Medina entstandenen Koranvers die beste Art der Religionsausübung und geht mit dem guten, dem richtigen Handeln einher. Denn da man, so zu Allah hingewandt, bewußt und ohne inneren Widerspruch an sich geschehen läßt, was der Schöpfer mit einem vornimmt, ist alles, was an einem als Handlung in Erscheinung tritt, der bejahte Wille Allahs. Dieses bedingungslose Hinwenden des Gesichts zum Schöpfergott bezeichnet der Koran mit dem Wort „Islam“, ein „Muslim“ ist derjenige, der diese Handlung, oder besser, diesen sein ganzes Dasein erfassenden Gesinnungswandel vollzieht. „Ich habe die Menschen und die Dschinnen nur geschaffen, damit sie mich verehren“, sagt Allah nach Sure 51, Vers 56. Das Wort „verehren“ ist eben jenes, mit dem der Vollzug der Pflichtriten bezeichnet wird – sie alle, das rituelle Gebet, die Abführung der Läuterungsgabe, das Fasten, die Pilgerfahrt und, in allen Riten wiederkehrend, das Aussprechen der Bekenntnisformel, sie alle verfolgen das Ziel, die von Abraham zuerst vollzogene Geste der vermeintlichen Urreligion, die Hinwendung zu dem Einen, im Laufe des Lebens ungezählte Male zu wiederholen und dadurch der spirituellen Ausrichtung des Menschen auf den, der die Schöpfung bewirkt, Stetigkeit und Dauer zu verleihen. Daß die Riten im Islam von überragender Bedeutung sind, ja daß sie im Grunde den Kern des Islams ausmachen, wird nunmehr einsichtig. Im Vollzug der Pflichtriten vergewissert sich der Muslim des ihm von Allah zugedachten Knechtsstatus, der zugleich Ausdruck der Heilsbestimmtheit durch den Schöpfer ist. In einem muslimischen Katechismus, den der Gottesfreund ÝAbd al-Wahhāb aš-ŠaÝrānī (gest. 1565) für seine Adepten niederschrieb, erfahren wir diesbezüglich folgendes: Wer sich zur Verrichtung des rituellen Gebets aufstellt, der verläßt jedesmal das Diesseits und betritt den Bezirk, in dem Allahs Fügung unmittelbar geschaut werden kann, jenes Reich, in das Abraham hatte einen Blick tun dürfen, damit er für immer den Einen zu erkennen begehrte. Das Herz, worin sich das Offenkundige und das Verborgene auf eine nur in kühnen Bildern ausdrückbare Weise berühren können, erlebt in ebendiesem Augenblick die Anwesenheit vor dem Höchsten; sobald der Beter dann die Arme hebt und mit dieser Geste bekundet, daß er sich von allem Geschaffenen losreißt, da er einzig
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des Schöpfers bedarf, weiß er sich im Vorhof des Fürstensitzes des Einen. Mit dem „Allāhu akbar!“ hat er das Diesseitige zurückgelassen – „Allah ist zu groß“, als daß sein Knecht etwas anderes außer Ihm wahrnehmen dürfte. Und so ist es mit allen folgenden Gesten und Worten der fünf täglichen Pflichtgebete – sie bekräftigen, was geschah, indem man sich aufstellte, die Hände emporreckte, „Allāhu akbar!“ sprach. Klarer noch deutet das rituelle Fasten auf die ständige Fürsorge Allahs für seine Schöpfung: Er nährt sie, bedarf selber aber keiner Nahrung. Fasten heißt darüber hinaus, sich tagsüber all der Regungen zu enthalten, die Allah für die Zeit des Ramadan verboten hat – nur nachts darf man essen, trinken, sich dem Beischlaf hingeben. Der helle Tag gehört dem von Allah rechtgeleiteten Tun, hat doch der Prophet einst gesagt: „Allah schuf die Kreaturen in der Finsternis, dann ließ er etwas von seinem Licht über sie hinfluten, und wer von einem Strahl dieses Lichtes getroffen wird, der geht den rechten Weg, und wen das Licht verfehlt, der bleibt im Irrtum befangen.“ Darum kann man niemals sonst Allah so ähnlich werden wie an den Tagen des Ramadan: Im Verzicht auf alles Nehmen sich ganz dem immer gebenden Allah anempfindend, wird der Muslim von allem frei, was ihn an das Diesseits binden könnte, frei, um einzig und allein im Lichte des göttlichen Bestimmens zu stehen – er wird des tiefsten Sinnes seiner Geschöpflichkeit inne. Alle Kreatur außer dem Menschen hält, solange Allah sie existieren läßt, ohnehin ständige Fasten ein, denn wie sollte sie, die niemals wider des Schöpfers Fügung löckt, je Regungen der Eigenmächtigkeit zeigen? – In gleicher Weise wird der Ritus der Wallfahrt nach Mekka als eine Hinwendung zu dem alles erhaltenden Einen gedeutet. Mohammed rechnet, wie in Sure 73 ausdrücklich vermerkt wird, allerdings damit, daß sich die Menschen den ihnen von Allah zugedachten Lebensunterhalt erarbeiten müssen. Sie können mithin nicht ihr ganzes Dasein in der rituell stabilisierten Hingewandtheit zu ihrem Schöpfer verbringen. In den Augenblicken des Ritenvollzugs stehen sie in der urreligiösen Verbindung mit dem Einen, irren also nicht zu einem selbstbestimmten und damit den göttlichen Willen verfehlenden Handeln ab. Ihr Heil ist aber außerhalb des Ritus aufs höchste gefährdet. Sure 29, Vers 45 bringt diese Vorstellung auf den Punkt: „Verlies, was dir von der Schrift offenbart wurde, und verrichte das (rituelle) Gebet! Das Gebet verbietet Abscheuliches und Verwerfliches. Allerdings ist es noch wichtiger, Allahs zu gedenken.“ Aus diesem Ratschlag entwickelt sich eine vielfältige Technik des Gottesgedenkens, deren Ziel es ist, auch die alltäglichsten Verrichtungen als Akte der Gottesverehrung zu interpretieren und sich diese Interpretation während dieser Verrichtungen unentwegt vor Augen zu halten, damit keine weltbezogenen Wünsche oder Mutmaßungen den Islam im oben skizzierten Sinne beeinträchtigen.
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4. Die Überbietung der Riten Nun ist, und damit stoßen wir auf das Spezifische des Sufismus, eine solche Lebenshaltung nicht jedermanns Sache, aber es gibt im Islam seit seinen Anfängen eine wirkmächtige Strömung, die auf die angedeutete Weise die Ritentreue zu überbieten sucht. Mit freiwilligen Übungen der Annäherung an den Einen werden die ritenfreien Zeiten des Tageslaufes gewissermaßen überbrückt, was sowohl in Gemeinschaft als auch in Abgeschiedenheit geschehen kann. Die dem Menschen anerschaffene Hingewandtheit zum Schöpfer kann während des freiwilligen Gottesgedenkens so weit überboten werden, daß der Muslim mit Allah verschmilzt. In einem unzählige Male zitierten Hadith versichert Allah dem Propheten: „… Mit nichts könnte sich mein Knecht mir nähern, das mir lieber wäre als die Ritualpflichten, die ich ihm auferlegte. Und noch weiter nähert er sich mir mit den freiwilligen Riten der Verehrung, so daß ich ihn liebe. Und wenn ich ihn liebe, dann bin ich sein Ohr, mit dem er hört; sein Auge, mit dem er sieht; seine Hand, mit der er zupackt; sein Fuß, mit dem er geht. Bittet er mich, dann will ich ihm geben. Fleht er mich um Beistand gegen den Bösen an, dann will ich ihm Schutz gewähren.“ Durch die peinlich genaue Einhaltung der Vorschriften des gottgegebenen Gesetzes, ja durch deren Übererfüllung wird die in der Heilsbotschaft des Korans beschriebene ursprüngliche Veranlagung der Kreatur erst eigentlich in vollkommener Weise zum Ausdruck gebracht; die Hinwendung zum Einen wird dadurch vollendet, daß die Triebseele von ihren Verstrickungen in das Geschaffene geläutert wird, so daß sie sich in die zuversichtliche Seele verwandelt, der Allah einen Willkommensgruß entbietet (vgl. Sure 89, 27 f.); das Ich wird abgestreift und erscheint, für Augenblicke jedenfalls, gleichsam getilgt. Das spirituelle Erleben, das der Heilsbotschaft zugrunde liegt, wird mit solchen und ähnlichen Wendungen verdeutlicht. Die Ausarbeitung dieser Gedanken und ihre Überführung in ein eigenes Ritual, welches in den Kreisen des Sufismus geübt wurde, beginnt im späten 11. Jahrhundert. Erst um diese Zeit hatte man im Islam gelernt, daß die Seele neben dem geschaffenen Leib auf der einen Seite und dem diesen Leib in jedem Augenblick neu schaffenden Allah eine dritte seinsmäßig eigenständige Gegebenheit sei. Die Überbietung der Ritenfrömmigkeit hatte sich bis dahin in der übergenauen Gesetzeserfüllung und in der peinlichen Selbstbeobachtung erschöpft: War man bestrebt, die Scharia um ihrer selbst willen zu befolgen, oder mischte sich in diese Absicht unmerklich der Wunsch, mit der eigenen Ritentreue bei den Glaubensbrüdern Eindruck zu schinden – das wäre verwerfliche Heuchelei und wegen der Ichbezogenheit auch nicht mehr als Islam, als unverbrüchliche Hingewandtheit zu Allah, zu bewerten! Die sufische Literatur bis ins 11. Jahrhundert besteht demgemäß
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vor allem in der Mahnung, streng der prophetischen Glaubenspraxis zu folgen und dabei eine schonungslose Ichanalyse vorzunehmen, um dadurch das Entwerden in dem einen Schöpfer zu gewinnen – in dem unüberbietbaren Heilszustand, der bereits laut Sure 7, Vers 172 vor aller Zeit den Geschöpfen zugesagt war: „Und damals, als dein Herr aus dem Rücken der Kinder Adams deren Nachkommenschaft nahm und sie wider sich selber bezeugen ließ: ‚Bin ich nicht euer Herr?‘ Hierauf pflichteten sie bei: ‚Jawohl, wir bezeugen es!‘“ Nun also griff man die vor allem von Avicenna (gest. 1037) in den Islam eingeführte antike Seelenlehre auf und islamisierte sie: In jedem Individuum wirkt eine von der Allseele abgespaltene Partikel, die es zur „zuversichtlichen“ muslimischen Seele zu erziehen gilt, bevor sie den Körper wie ein Werkzeug aus der Hand legt und sich wieder mit der in Allahs Gegenwart wesenden Allseele vereinigt. Aus der skrupelhaften Selbstbeobachtung wird so die schariakonforme Erziehung der Seele bzw. der jeweils dem Einzelnen zugeteilten Seelenpartikel, die zur Vereinigung mit der Allseele bereitgemacht werden muß; denn diese Allseele wird nun identifiziert mit dem Seinsbereich des von unseren diesseitigen Sinnen nicht unmittelbar wahrnehmbaren reinen göttlichen Bestimmens. Diese Erziehung kann natürlich nur gelingen, wenn alle schariatischen Pflichten befolgt, ja, wenn diese gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen sind und die einzelnen Akte des Befolgens gewissermaßen schon unbewußt – oder besser: überbewußt – geschehen. „Die Gnadengaben der Erkenntnisse“ heißt die bis heute im Sunnitentum intensiv studierte Abhandlung des ÝUmar as-Suhrawardī (gest. 1234), in der diese Erziehung in allen Aspekten beschrieben wird. Deren Ergebnis ist die Stellvertreterschaft des Propheten, die nach der vollkommenen Läuterung der Seele, nach der Ausmerzung aller ichhaften Regungen, eintreten wird. Was nun geschieht, beschreibt as-Suhrawardī (Ausgabe Beirut 1966, 419) so: „Der Spiegel des Herzens wird blank, es werden durch ihn zurückgeworfen die Licht(strahlen) der göttlichen Majestät, es erscheint (im Herzen) die Schönheit des (islamischen) Einheitsbekenntnisses, die geistige Sehkraft wird zum Licht der Erhabenheit der anfangslosen Ewigkeit, der niemals schwindenden Vollkommenheit gezogen … Das ist das Erbteil der Läuterung!“ Nur wenn man die Voraussetzungen, unter denen solche Sätze geschrieben wurden, mißachtet – wie die romantisierende Orientkunde es tut –, kann man den Sufismus für den Inbegriff gesetzesfreier Individualfrömmigkeit erklären. Mit der Stellvertreterschaft des Propheten ist der Weg des Sufis aber noch nicht durchmessen. Nach dem vorhin zitierten Wort Mohammeds soll er doch Allahs Auge, Ohr, Zunge werden. So mündet denn die sufische Spekulation in die Erringung der Stellvertreterschaft Allahs, von der ja in Sure 2, Vers 30 ausdrücklich die Rede ist: „Ich“, sagt Allah, „bin im Begriff,
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auf der Erde einen Stellvertreter einzusetzen“, und kündigt damit die Schaffung des Menschen an. Für den Schariagelehrten ist diese Stellvertreterschaft Allahs erreicht, sobald der Muslim unter methodisch einwandfreier Ausdehnung des Inhalts von Koran und Sunna auf jede noch so winzige Gegebenheit seines irdischen Daseins dieses vollkommen dem göttlichen Gesetzeswollen einbeschreibt. Der Sufismus widerspricht dieser Ansicht nicht, aber ihm reicht das auf der Gelehrsamkeit fußende Vorgehen nicht. Durch den vollständigen Verzicht auf das Ich wird sein Herz, wie ÝAbd al-Qādir al-Éīlānī es 1165 formulierte, in die traute Nähe des Einen gerückt. Dort schaut es die Geheimnisse der abrollenden Schöpfungsakte und greift, da ganz ohne eigensüchtige Regung, an Stelle Allahs in sie ein. So sitzt der vollendete Sufi „auf einem Podest zwischen … Schöpfung und Schöpfer … Allah machte ihn zu seinem Stellvertreter auf seiner Erde und in seinen (anderen) Welten …“. Daß der solchermaßen zum Stellvertreter Allahs gewordene Sufi in Allahs Bestimmen eingreife, wurde und wird im Islam weithin geglaubt. Auch die Fähigkeit, verborgene Sachverhalte der Vergangenheit und der Zukunft zu schauen, traut man ihm zu. In der islamischen Historiographie sind die Belege hierfür Legion. Der Grund für die enge Symbiose zwischen Sufismus und Herrschern, die sich seit dem 13. Jahrhundert anbahnte und im Osmanischen Reich ihren Höhepunkt erreichte, leuchtet unmittelbar ein. Doch will ich diesen Gesichtspunkt nicht weiter verfolgen und stattdessen die theologische Auslegung dieser Erfahrung der Stellvertreterschaft Allahs präzisieren. Ibn ÝArabī (gest. 1240), der bis in die Gegenwart wirkmächtigste Künder dieser Ideen, sieht in ihnen die Vollendung der islamischen Heilsbotschaft. Er beruft sich auf Sure 11, Vers 56: „Kein Tier gibt es, das nicht von Allah am Schopfe gehalten würde! Mein Herr ist auf einer geraden Straße!“ Alles Existierende, Geschaffene ist insofern, als es unmittelbar zu Allah ist, im Heil. Und das bedeutet: Es ist auf einer geraden Straße, der geraden Straße der Tatsache, daß es so und nicht anders durch Allah gewollt und geschaffen ist. Unter den Augen des an die Verhältnisse des Diesseits angepaßten Menschen ist ein Bogen gekrümmt, aber insofern als er eben deswegen eine Manifestation des göttlichen Wollens ist, ist er gerade – denn alles, was eine Manifestation des Einen ist, kann nicht anders als richtig, gerade sein: „Mein Herr ist auf einer geraden Straße“, denn so ist sein absolutes Sein. Ist mit solchen Vorstellungen nicht tatsächlich das Gesetz, die Scharia, aufgehoben? Nämlich wenn alles Krumme und auch Gesetzeswidrige, das es ja gibt, unmittelbar zu Allah und seine Manifestation sind? Nicht erst die europäischen Sufi-Enthusiasten haben Ibn ÝArabī nur bis hierher gelesen. Auch viele seiner zahlreichen muslimischen Kritiker machen hier Halt und
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werden nicht müde, ihn und alle, die sich mit seiner Auslegung der islamischen Heilsbotschaft einlassen, als künftige Hölleninsassen zu schmähen, da sie in Wahrheit die Scharia aufhöben. Sie übersehen dabei, daß Ibn ÝArabī ja keineswegs den Knechtsstatus der Kreatur leugnet, sondern im Gegenteil in ihm den einzig möglichen Sinn alles Seienden, geschaffen Werdenden findet. Der Kosmos ist schließlich nicht Allah selber; aber er wird in jedem Augenblick von Allah geschaffen, weil Allah nur so, aus der Komplementarität und Koinzidenz mit dem Geschaffenen, sich selber als den Ewigen, Ungeschaffenen, Schaffenden erkennen und vor sich selber seiner Göttlichkeit innewerden kann. Das bedeutet, daß der Kosmos, und in ihm der Mensch, im tiefsten, kaum ganz auszulotenden Sinne Allah einen Dienst erweist, und darin liegt seine einzige Bestimmung, eine außerordentliche freilich.1
1 Zu dieser Thematik vgl. auch meinen Aufsatz „Der Diener Allahs. Zum Personenverständnis im Islam“, in: Religionen unterwegs, 15. Jahrgang / Nr. 2, Mai 2009, 4–10.
VI. Islam als Ideologie Überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich nach 2002 mehrere Male bei vom Seminar für Arabistik der Universität Göttingen durchgeführten Fortbildungsveranstaltungen für Rundfunk- und Fernsehredakteure von ARD und ZDF gehalten habe.
1. Islam und arabische Nation Im Jahre 1964 besuchte Nikita Chruschtschow Ägypten; er wurde von Gamāl ÝAbd an-NāÒir zu einer Bootsfahrt auf dem Nil eingeladen. Bei dieser Gelegenheit wurde dem hohen Gast auch der irakische Staatspräsident Aref vorgestellt. Chruschtschow weigerte sich, diesem die Hand zu geben; Aref sei für die Verfolgung der Kommunisten in seinem Land verantwortlich. Dem Gastgeber war dieser Vorfall äußerst peinlich; er versuchte, auf Chruschtschows feindselige Haltung gegen Aref einzuwirken, indem er ihn darauf hinwies, daß der Islam die kulturelle Substanz des arabischen Nationalismus bilde; die Araber seien unter gar keinen Umständen bereit, diese vom Himmel stammende Religion aufzugeben, um welchen Preis auch immer. „In der arabischen Welt hat der Kommunismus keine Zukunft!“1 Der bekannte ägyptische Journalist und eingefleischte Anhänger ÝAbd anNāÒirs, MuÎammad Íasanain Haikal, berichtet diese Episode in seiner großen Bestandsaufnahme der Ära NāÒir; ob Haikal immer ein scharfsichtiger Augenzeuge gewesen ist und ob er stets zuverlässig berichtet, bleibe dahingestellt. Nehmen wir die Äußerung NāÒirs über den Islam ernst, dann gerät die ganze Ära, in der die Geschicke der arabischen Welt von diesem Staatsmann bestimmt werden, in ein eigenartiges Zwielicht. Glaubten wir nicht zu wissen, daß etwa seit der Mitte der fünfziger Jahre – seitdem der Einfluß der Muslim-Brüder auf die ägyptische Politik ausgeschaltet war – der sogenannte arabische Sozialismus einen wenn auch vagen Rahmen der Ausrichtung nasseristischer Politik gebildet habe? Was Haikal hier erzählt, scheint dem zu widersprechen. Denn der Islam, und zwar ausdrücklich als eine vom Himmel stammende Religion gekennzeichnet, wird von NāÒir dem Kommunismus entgegengestellt; der Islam wird auf eine Ebene gesetzt mit der Ideologie, die von Intellektuellen im damaligen Osten, vor allem aber im Westen als die segensreiche Alleslöserin bejubelt wurde. Lassen wir 1 MuÎ ammad Í asanain Haikal: Íarb ×alā×īna sanatan. Sanawāt al-ġaljān, Teil 1, Kairo 1988, 256.
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zunächst auf sich beruhen, was NāÒir in seiner Belehrung Chruschtschows mit der „kulturellen Substanz des arabischen Nationalismus“ gemeint haben könnte; ziehen wir nur den sich aufdrängenden Schluß, daß er mit dieser Formulierung die religiöse, jenseitsbezogene Ebene, wie sie in der tagtäglich geübten muslimischen Frömmigkeit und der diese vertiefenden Spiritualität aufscheint, nicht angesprochen hat oder zumindest nicht in erster Linie, denn der Ausdruck „kulturelle Substanz“ verweist, sofern man nicht einen bewußt irreführenden Gebrauch unterstellt, auf etwas anderes. Ehe wir hierauf des näheren eingehen, müssen wir fragen, ob sich auch in anderem Zusammenhang in den sechziger Jahren Belege dafür finden, daß Islam und arabische Nation als zwei untrennbar miteinander verwobene Gegebenheiten gewertet werden. Michel ÝAflāq (1910–1989)2 beschrieb in einer 1959 zum ersten Mal gedruckten, vielfach aufgelegten Broschüre unter dem Titel „Um der Wiedererweckung willen“ (Fī sabīl al-baÝ×), was arabischer Nationalismus nach seiner Auffassung sei. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Annahme, die arabische Nation sei mit einer „ewigen Sendung“ beauftragt. Diese bestehe in der Aufgabe, die Einheit der Nation unter den wechselhaften Zeitläuften der nahöstlichen Geschichte herzustellen bzw. zu bewahren, die Freiheit ihrer Mitglieder zu schützen und sie alle zu einer Gesellschaft zu verschmelzen, deren wichtigster Charakterzug der Sozialismus sein müsse. Die ersten beiden Ziele, Einheit und Freiheit, verstehen sich aus den Erfahrungen, die die arabische Welt nach ihrer scheinhaften Befreiung von der osmanischen Herrschaft am Ende des Ersten Weltkrieges durchlebt hat; das dritte ist Ausdruck der unser Zeitalter überschattenden marxistischen Illusionen, über deren Verführungskraft der französische Historiker François Furet vor kurzem in einem umfangreichen Buch Rechenschaft abgelegt hat.3 ÝAflāq dürfte das sozialistische Gedankengut während seines Studiums in Paris von 1928 bis 1932 in sich aufgenommen haben. Was seine 1959 verfaßte Darstellung der Ideologie der syrischen BaÝ×-Partei jedoch grundlegend von marxistischen Geschichtskonstruktionen unterscheidet, ist die Beschränkung des Blickes auf die arabische Nation: Sie hat, wie er ausführt, die ihr aufgegebene Sendung schon in einem ersten Versuch zu erfüllen getrachtet, nämlich beginnend mit dem Auftreten Mohammeds, und dieser erste Versuch wird von dem – übrigens aus christlichem Milieu stammenden – ÝAflāq zu einer Vorwegnahme dessen umgedeutet, was auch nun nottut. Der Begriff der „Sendung“ wird mit einem Wort (risāla) zum Ausdruck gebracht, das für jeden arabischen Leser eine spezifisch islamische Färbung aufweist – die Gottesgesandtenschaft der großen Propheten. Diese, also z. B. 2 Kurzinformation: 3 Das
Lexikon Arabische Welt, Wiesbaden 1994, 20. Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996.
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Mose, Jesus und Mohammed, überbrachten nach muslimischem Glauben ihrem Volk und darüber hinaus der ganzen Menschheit ein Offenbarungsbuch. Ebenso bedient sich die Beschreibung jenes ersten „Versuchs“ (taº riba) notgedrungen eines eindeutig islamisch besetzten Vokabulars, und dieses wird dann auch in die Schilderung der nunmehr unerläßlichen Wiederholung des Versuchs hineingenommen: Daß den Arabern diese „Sendung“ aufgebürdet wird, ist Ausfluß der „Weisheit der Bestimmung“ (Î ikmat al qadar) – der Muslim assoziiert unversehens die „Weisheit des göttlichen Ratschlusses“. Der Prophet Mohammed verkündete den Ruf (daÝ wa); in der Redeweise der Quellen zum frühen Islam ist es die Aufforderung, den neuen Glauben anzunehmen. Vom Glauben (īmān, Ý aqīda) spricht ÝAflāq ebenfalls fortwährend, meint damit freilich die unbedingte Ergebenheit, die der Anhänger den Zielen der BaÝ×-Bewegung schuldet. Und so wie die Einleitung des ersten Versuchs der Verwirklichung der ewigen Sendung durch den Propheten Mohammed Zeugnis ablegt für dessen Inspiriertheit (waÎ j) durch Allah, so ist auch die erwartete arabische Revolution eine Offenbarung an die ganze Welt; sie wird zur Versittlichung der allgemeinen Beziehungen der Menschen untereinander beitragen und Tugenden wie Wahrhaftigkeit (Ò idq) und unerschütterliche Treue (iÌ lāÒ ) fördern.4 Die Aufladung der nationalistischen Rhetorik der BaÝ×-Partei mit islamischem Ideengut kann sogar so weit gehen, daß die Haltung der selbstlosen Ergebenheit als taÒ auwuf bezeichnet wird,5 mithin die Vorstellung von jener Lebenshaltung erweckt, deren sich die Frömmigkeitsbewegung des Sufismus verschreibt: das Entwerden der individuellen Persönlichkeit im Einen nach Ausschaltung aller ichhaften Regungen. ÝAflāq ist sich dessen durchaus bewußt, daß er die wesentlichen Bausteine seines ideologischen Gebäudes der islamischen Gedankenwelt entnimmt, und zwar nicht irgendwelchen Randbereichen, sondern dem Kern. „Die arabische Nation zeichnet die Tatsache aus, daß ihr nationales Erwachen mit einer religiösen Sendung verbunden ist. Das Arabertum ist ein Körper, dessen Geist der Islam ist“, schreibt er.6 Es ist höchst aufschlußreich, diese gegen Ende der fünfziger Jahre niedergelegten Gedanken mit einer Einschätzung des arabischen Nationalismus zu vergleichen, die ein französischer Beobachter gegen 1946 in Kairo zu Papier brachte. Auch er ist davon überzeugt, daß die Berufung Mohammeds zum Propheten der entscheidende Anstoß dazu war, daß die Araber sich zu einer Nation zusammenfanden, aber der Islam als Quelle eines Empfindens nationaler Zusammengehörigkeit verliere jetzt an Bedeutung. „Der politi4 Werner Schmucker: Studien zur Baath-Ideologie (Teil I), in: Die Welt des Islams XIV, 47–80, hier: 60–69. 5 Ebd., Teil II (Die Welt es Islams XV, 146–182), 155. 6 Ebd., Teil I, 76.
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sche Nationalismus hat an Stärke hinzugewonnen, was das religiöse Empfinden unter dem Einfluß des modernen Rationalismus verlieren konnte. Bei den arabischen Völkern läßt sich diese Erscheinung Tag für Tag beobachten. Gewiß wahrt die Religion ihre Rechte insbesondere offiziell“, und es gebe eine Art panislamischer Solidarität. „Auf alle Fälle hat der arabische Nationalismus in den letzten vierzig Jahren einen beträchtlichen Aufschwung genommen und bildet nun, nach dem religösen Empfinden, die aktive Kraft, die neue Triebfeder der orientalischen Seele.“7 Nationalismus und Islam zeigen sich für diesen Autor noch als zwei zwar nicht unbedingt miteinander verfeindete, jedoch wesensmäßig unterschiedene Kräfte, und es wird deutlich, daß die Zuneigung des Autors dem „modernen Rationalismus“ gehört, in dem die wahre Grundlage des Nationalismus vermutet wird. Es bleibe dahingestellt, ob dies schon 1946 eine Fehldiagnose war, die dem sorglosen Übertragen europäischer Vorstellungen auf den Orient anzulasten ist oder ob die damalige geistige Ausrichtung des arabischen Nationalismus zutreffend charakterisiert wird. Festzuhalten ist, daß dessen Ideologie, wie sie in den fünfziger Jahren in der BaÝ×-Partei politisch wirksam geworden ist, zielstrebig wesentliche Elemente des Islams für sich in Anspruch nimmt. Daß seit den späten fünfziger Jahren eine stark islamisch geprägte Auslegung des arabischen Nationalismus um sich greift, läßt sich im übrigen noch auf andere Weise belegen. Das Standardwerk zur frühen arabischen Nationalbewegung war lange Zeit das 1938 in London zum ersten Mal gedruckte Buch von George Antonius „The Arab Awakening“. Der Verfasser zeichnete den arabischen Nationalismus als eine die Religionen übergreifende Strömung, die die Loslösung der arabischen Länder von Konstantinopel und die Schaffung eines – wie auch immer verfaßten – unabhängigen Staates anstrebte. Zain Nūr ad-Dīn Zain, Professor an der amerikanischen Universität Beirut, veröffentlichte 1958 eine Studie über denselben Gegenstand. Im Vorwort der überarbeiteten arabischen Ausgabe von 1966 merkt er an, daß ihm seit 1958 nicht weniger als fünfundzwanzig Bücher bekannt geworden seien, die sich mit dem arabischen Nationalismus und seinem Verhältnis zum Islam beschäftigen. Mit den Autoren dieser Bücher wisse er sich in der Überzeugung einig, daß der arabische Nationalismus in der Zeit seiner Entstehung und auch danach nicht vom Islam zu trennen sei.8 Dies mag genügen, um den sehr pointierten Ausspruch NāÒirs vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse als möglich zu erweisen. Es fragt sich nun freilich, was „Islam“ im Kontext der arabischen Nationalbewegung eigentlich heißen kann. Denn eine Nationalbewegung betrachtet die Nation, aus der sie hervorgeht, als die eigentliche Lebensmitte ihrer Glie7 Jean 8 Zain
Lugol: Le panarabisme. Passé-présent-avenir, Kairo 1946, 286. Nūr ad-Dīn Zain: al-Qaumīja al-Ýarabīja, 2. Auflage, Beirut 1972, 9 f.
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der, die ja unterschiedlichen Religionen und Konfessionen angehören. „Islam“ kann hier nur einen gewissen Bestand an Überzeugungen und Verhaltensnormen meinen, der auch unabhängig von seinem spezifisch religiösen Bedeutungszusammenhang als für die Mitglieder der Nation verbindlich aufgefaßt wird. In der besprochenen Abhandlung Michel ÝAflāqs sind wir diesem Phänomen schon begegnet, das wir jetzt genauer betrachten müssen. Dabei ist auf das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Islam und Nation einzugehen. 2. Nationen im Islam? Es sei nur kurz angemerkt, daß schon in der frühen Geschichte des Islams die Tatsache, daß es ein arabischer Prophet gewesen war, der mit der, wie jeder Muslim glaubt, endgültig letzten und endgültig wahren Gottesbotschaft betraut worden war, die Beziehungen der Araber zu anderen zum Islam übergetretenen Völkern belastete. Deren Geschichte und Überlieferung bis zu dem Zeitpunkt der Annahme des neuen Glaubens schienen entwertet, diejenige der Araber hingegen dank Mohammed in unerhörter Weise aufgewertet zu sein. Von besonderem Gewicht war dieser Gesichtspunkt für die Iraner, die vom 10. Jahrhundert an die Erinnerung an die eigene große Vergangenheit gegen die vorwiegend von Arabern ausgeübte islamische Herrschaft ins Spiel brachten und, ohne an ein Aufgeben des Islams zu denken, eben als Muslime an die Tradition iranischer Staatskunst anzuknüpfen gedachten. Der Islam war für sie gerade nicht ein unaussonderbarer Teil ihrer völkischen Eigenart. Schon dieser knappe Hinweis läßt erkennen, daß ein arabischer Nationalismus, der seine Ideologie im wesentlichen auf Versatzstücke aus der islamischen Überlieferung gründet, die übrigen Nationen muslimischen Glaubens nicht unberührt läßt. Sie werden ihrerseits gerade die universalen, die Nationen übersteigenden Seiten der prophetischen Botschaft zur Geltung bringen. Islam kann für sie nicht Teil eines auf eine Nation bezogenen Gedankengebäudes sein, sondern nur eines Konzeptes, das die Beglückung der ganzen Menschheit verspricht. Wir fragten uns, was „Islam“ in Kontext der arabischen Nationalbewegung meinen könne. Der Lebensweg Mohammeds und die politische Leistung seiner Gefährten führte zur Einheit der arabischen „umma“, ein Begriff, der hier mit „Nation“ gleichgesetzt wird. Durch die Verkündigung Mohammeds erwachte in der arabischen Nation das Bewußtsein ihrer selbst, meint Michel ÝAflāq. Dadurch wurde diese Nation beflügelt, zum ersten Mal in ihrer Geschichte den großen „Versuch“, ihre politische Selbstfindung, ins Werk zu setzen. Die Entbindung des wahren nationalen Geistes durch die Botschaft des Islams bewirkte, daß sich die Araber mit den äußeren Aspekten ihres Daseins aussöhnten und in dieser Harmonie von Geist und Leib
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die in ihnen angelegten individuellen Tugenden entfalteten. Diese individuellen Tugenden sind freilich von einer Art, die sie nicht in Individualismus münden läßt; sie laufen vielmehr auf die Verwirklichung von Einheit, Freiheit und Gleichheit hinaus. „Die restlose Überzeugung von der Wahrheit der Offenbarung“ – und hier ist wieder der Doppelsinn der Terminologie zu beachten: „Gottesgesandtenschaft“ muß man lesen, wenn man den frühen Islam im Auge hat, „Sendung“ der arabischen Nation meint dasselbe Wort im Kontext der nationalen Ideologie; die göttliche Inspiration, die der Prophet empfängt, bezieht sich auf Mohammed, die aus dem Geist der Nation genährte Inspiration bezeichnet dasselbe Wort bei Michel ÝAflāq – diese restlose Überzeugung also „drängt zur Tat“, zu dem großen Versuch, zur Revolution. „Eine so gewaltige Nation wie die arabische, die es gewohnt ist, eine Sendung zu tragen und … die auf das Leben wie auf eine Mission blickt“, fühlt sich ihrer Vergangenheit verpflichtet, der Urmission, die der Islam gewesen ist.9 Der Islam erscheint hier deutlich als die der Nation, einer gesellschaftlichen Gegebenheit mithin, zugeordnete Denkweise, als der Grund all ihrer Wertvorstellungen, die in ihrer Gesamtheit politischen und gesellschaftlichen Zielen nutzbar sind und in dieser Zweckgerichtetheit auch schon ihre ganze Erfüllung finden. Michel ÝAflāq stammte, wie angedeutet, aus orientalisch-christlichem Milieu. Dies mag uns verstehen helfen, daß sich, wie überhaupt in der BaÝ×-Ideologie, bei ihm kaum handgreifliche aus der islamischen Tradition hergeleitete Hinweise darauf entdecken lassen, wie denn das Gemeinwesen der arabischen Nation gegen Ende des erneuten großen Versuchs beschaffen sein solle. Wenn wir uns nun muslimischen Autoren zuwenden, so wird sich zeigen, daß sie diesbezüglich mehr zu sagen wissen; letzten Endes tritt jedoch auch bei ihnen die Dürftigkeit alles ideologiegebundenen Denkens zutage. Kehren wir zur Frage der Nation zurück! Welches sind die Faktoren, die sie konstituieren, fragt MuÎammad al-Mubārak, Professor in Damaskus und später in Saudi-Arabien. Auch er hat, entsprechend dem Bereich seiner Erfahrungen, zuallererst die arabische Nation im Auge, aber als Muslim ist er, wie schon angemerkt, stets auch gehalten, weiter zu blicken. Und so sind für ihn die Nationen, oder, wie er sagt, die nationalen Gemeinschaften, nicht das Ziel und auch nicht die eigentlichen Subjekte der Geschichte. Denn sie sind Glieder umfassenderer Völkergemeinschaften, die sich nach Weltanschauungen ausrichten. Al-Mubārak meint hier die islamische, die kommunistische, die christlich-demokratische und eine, wie er schreibt, heidnische Welt. Aus diesem Ansatz wird bereits deutlich, daß al-Mubārak in den Nationen nicht die höchste Stufe der politischen Ordnung zu erkennen vermag. Er behauptet, die Menschheitsgeschichte entwickle sich dergestalt, daß 9 Schmucker,
Teil I, 66 f.
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die Mittel der inneren Bindung der Gemeinschaften immer vielschichtiger würden und dabei sich der Umfang der Gemeinschaften immer mehr ausweite. Der Muslim al-Mubārak verwirft also nicht den Gedanken, der Islam sei der Inbegriff der Gesellung und entfalte jene positiven Kräfte, die auf die Schaffung von Einheit, Freiheit und Gleichheit hinarbeiten. Doch sind bei ihm diese Kräfte nicht bei jedem „Versuch“, wie ÝAflāq sagen würde, die gleichen, sondern in einer wesensmäßigen Höherentwicklung begriffen. Unter solcher Verschiebung der Perspektive, die für islamische Denker seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht untypisch ist, wird es leicht gelingen, den Islam in einer für den Muslim annehmbaren, d. h. den einmaligen weltgeschichtlichen Rang der Berufung Mohammeds wahrenden Form in die Debatte um die Ideologien einzubringen. Den Beginn aller politischen Ordnung sieht al-Mubārak in dem von den Mitgliedern als Geburtsgemeinschaft erfahrenen Stamm, in dem das Prinzip der Solidarität unangefochten herrscht. Allmählich – der Leser erfährt nicht, warum – entstehen zwischen den Mitgliedern einzelner Stämme Beziehungen, und die ursprünglich nur für den eigenen Stamm eingeforderte Solidarität beginnt, dessen Grenzen zu überschreiten und jene anderen Menschen mit einzubeziehen. Eine größere Gemeinschaft wird sichtbar, die zunächst noch von einem Zusammengehörigkeitsgefühl geeint wird, das demjenigen des einzelnen Stammes gleicht. Das Übergangsstadium vom einzelnen Stamm zu einer größeren Gemeinschaft sei, wie al-Mubārak meint, heutzutage in Afrika noch zu beobachten. Den Rahmen des Überganges bildeten dort die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen, und er werde von oben gefördert, nämlich durch den innerhalb jener Grenzen agierenden Staatsapparat. So wird hier künstlich das über die Stammessolidarität hinausgreifende Bindemittel erzeugt, das sich sonst im Laufe langer historischer Erfahrungen herausbilden muß und in älteren Volksgemeinschaften erkennbar wird an der Gemeinsamkeit des Siedlungsraumes, der Herkunft, der Sprache, der Weltanschauung und der Bräuche. Je kräftiger und älter solche Gemeinschaften seien, desto klarer zeigten sich die individuellen Konturen, und dann könne man mit Recht von Nationalismus sprechen. Doch auch die Völker sind nicht der Endpunkt der Entwicklung; sie wachsen zu den umfassenden Einheiten der Völkergemeinschaften zusammen. Stamm, Volk, Völkergemeinschaft, in diese Entwicklungslinie fügt alMubārak nun ein, was er als Nation (umma) im eigentlichen Sinne verstanden wissen will. Nation stellt einen besonderen Grad der Qualität dar, den die inneren Bindungen der Gemeinschaften der zweiten Entwicklungsstufe, also die Völker, erreichen können, einen Grad allerdings, der über diese zweite Stufe auch schon hinausweist. Die gemeinsame Kultur und Geschichte, das einende Band eines jeden Volkes, bringt „eine lebendige gesellschaftliche Einheit hervor, die wir Nation nennen“, schreibt er, und von
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nun an spürt man, wie sich die Ideologie der BaÝ×-Partei bei ihm Geltung verschafft. „Der meist anzutreffende Zustand einer solchen Nation ist der, daß sie ein einziges politisches Gebilde besitzt, in welchem sie bewahrt wird, d. h. daß sie einen Staat bildet. Das grundlegende Charakteristikum, das die Nation kennzeichnet, ist das Vorhandensein des allgemeinen Wunsches, gemeinsam zu leben, d. h. die Harmonie zwischen ihren Individuen, so daß aus der Gesellschaft eine lebendige Einheit entsteht, die wir Nation nennen können.“ Von einer Nation werden fünf Gegebenheiten besonders lebhaft erfahren: das gemeinsam bewohnte Land, der gemeinsame Ursprung, die Sprache, die Kultur und die Geschichte. Doch nicht allein hierin liegt der Unterschied zwischen Nation und Volk. Sprache, Kultur und Geschichte können das Wesen der Nationen nur deshalb so nachhaltig formen, weil sie ihre Wirkkräfte auf dem Boden einer umfassenden Gleichgestimmtheit der Individuen entfalten können. Sie wird von al-Mubārak als die Übereinstimmung der „grundlegenden Begriffsinhalte, der allgemeinen Überzeugungen und Gedanken, der großen ideellen Ausrichtung“ beschrieben, als „die allgemeine Anschauung, die jene Nation vom Leben und den gemeinsamen Überzeugungen besitzt“. Was nun die arabische Nation betrifft, so garantiert für ihn als einem Muslim mehr noch als für ÝAflāq der Islam jene geistig-sittliche Gleichgestimmtheit, die der Sprache, Kultur und Geschichte dieses Volkes die eigentümliche Ausformung verliehen und es damit zur Nation gemacht hat. Der Islam schuf den Arabern jene Ordnung, als deren Träger sie in das helle Licht der Geschichte traten. Er belud sie aber auch mit einer schweren Verantwortung; denn er ist seinem Wesen nach ja auch eine Botschaft, die sich an die ganze Menschheit richtet. Insofern als sie für die ganze Menschheit Verantwortung trägt, ist die arabische Nation auch für al-Mubārak mit keiner anderen vergleichbar. Al-Mubārak löst demnach das heikle Problem des Verhältnisses zwischen Islam und Nationalismus, indem er dem religiös, d. h. nicht mehr politisch-sozial aufgefaßten Faktor Islam die überragende Bedeutung bei der Entstehung der arabischen Nation beimißt. Da er – und das unterscheidet ihn von ÝAflāq – zugleich die Auflösung der Nationen in größeren Ordnungen, etwa der Welt des Islams, postuliert, gerät er in keinen Widerspruch zum universalen Inhalt des Islams. Im Gegenteil! Der Faktor Islam, der den spezifischen Geist der arabischen Nation ausmache, solle auch für andere Nationen zum geistig-sittlichen Lebensgrund werden. Ein von der arabischen Nation errichteter Staat muß also auf die Schaffung einer islamischen übernationalen Ordnung hinwirken, die al-Mubārak als eine dem sozialistischen und dem westlichen, demokratischen Lager gleichrangige betrachtet. Der Islam übernähme hiermit die Funktion einer Ideologie einer durch bestimmte politische Ziele, Wertvorstellungen und gesellschaftliche Gegebenheiten geeinten Formation von Staaten.
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Der Pakistaner Maudūdī, dessen Schriften über den islamischen Staat einen ganz außerordentlichen Einfluß auf das gegenwärtige politische Denken im Islam erlangt haben, kann sich für eine solche national-arabische Interpretation der Botschaft Mohammeds naturgemäß nicht erwärmen. Stammessolidarität und Nationalbewußtsein deutet er als zerstörerische, wider die Sittlichkeit gerichtete Kräfte, die der Islam von Anfang an bekämpft habe. Die beiden arabischen Autoren bezogen das arabische Wort umma auf ihre eigene Nation, sie setzten die arabische und die islamische Geschichte in eins, wobei al-Mubārak eine über das Arabertum hinausweisende Mission des Islams annimmt. Beiden Autoren kann der Pakistaner Maudūdī nicht folgen; in seiner Sicht bezeichnet umma die Gemeinschaft aller Muslime, welcher Nationalität auch immer. Diese umma wurzelt gerade nicht in naturgegebenen emotionalen Bindungen an Stamm und Volk, vielmehr ersetzt Maudūdī sie durch den Glauben, was für den Muslim soviel bedeute wie durch den Verstand. Ich werde hierauf in anderem Zusammenhang noch eingehen. Maudūdī erklärt: „Daher wendet sich der Islam an alle Völker … auf der Ebene des Glaubens und der Gesetzgebung. … Er löst das Problem des Nationalismus, indem er die Völker auf der Ebene der Menschheit vereint und sie dadurch miteinander verbindet, daß er ihnen eine inhaltliche Vorstellung vom Dasein und gemeinsame Auffassungen vom Leben (schenkt). So koordiniert (der Islam) die Völker und richtet sie dahingehend aus, daß sie einander kennenlernen und helfen …“. Man beachte hier die rein diesseitsbezogene Funktion des Glaubens!10 Ohne den Umweg über die arabische Nation und deren ewige Sendung tritt mithin bei dem Pakistaner Maudūdī der Islam in Konkurrenz mit anderen Ideologien, die eine umfassende Antwort auf die Gesamtheit der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen verheißen, mit denen die Menschheit ringt. Die die Nationen übergreifende Auslegung der Islam-Ideologie scheint mir seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Oberhand gegenüber der national-arabischen gewonnen zu haben. Angesichts der Bestrebungen zur Schaffung größerer Staatengemeinschaften wie der europäi schen scheint diesem Verständnis für muslimische Autoren ein höheres Maß an Plausibilität innezuwohnen. Diese Sichtweise drängt freilich in ganz besonderem Maße dazu, die Punkte zu benennen, in denen der Islam den übrigen übernational wirksamen politischen Heilslehren überlegen sei.
10 Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich / München 1981, Band 2, 223–233.
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3. Ideologischer Synkretismus: Islam als diesseitsbezogene Heilslehre Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben muslimische Denker immer wieder pauschale Vergleiche des Islams mit anderen Weltreligionen erwogen. Das Ziel war, wie nicht anders zu erwarten, die Hervorhebung der Überlegenheit des Islams als der letzten großen Offenbarungsreligion, vor allem auch gegenüber dem Christentum. Denn die aus diesem hervorgegangene Zivilisation wurde nicht zu Unrecht als eine Bedrohung der eigenen Existenz aufgefaßt. Man versicherte sich also, daß man am Ende doch der Siegreiche sein werde; nicht daß man im Besitze der glaubwürdigeren Heilszusage sei und ein glückhaftes Jenseits zu erwarten habe, war hierbei das ausschlaggebende Argument, sondern daß man dank der an Mohammed ergangenen Offenbarung über das geeignetste Rüstzeug zur Gestaltung des Diesseits verfüge. Man griff Gedanken auf, die vielleicht durch Auguste Comte angeregt worden waren: Die Menschheit entwickle sich auf die vollkommene rationale Erfassung und Nutzung der Welt hin, und die Stufen, die diese Entwicklung nehme, könne man an der Nähe der jeweils vorherrschenden Religiosität zur Rationalität ablesen. Auf das heidnische Zeitalter irrationaler Heldenverehrung und magischer Vergottung von Naturkräften sei die vorwiegend die Emotionen ansprechende christliche Religion gefolgt, deren Epoche in weiten Teilen der Welt durch den rein rationalen Islam abgelöst worden sei. Die Ratio, das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, kommt also nach dieser Geschichtsdeutung im Islam zum vollen Durchbruch. Es sei kurz eingeflochten, daß diese Vorstellung insofern an die koranische Offenbarung anknüpft, als dort den zweifelnden Mekkanern vorgehalten wird, sie sollten die Botschaft vom richtenden Schöpfergott nicht einfach stumpfen Sinnes ablehnen; vielmehr sollten sie sich ihres Verstandes bedienen und erkennen, was Allah im Diesseits wirke und wie dies alles zu ihrem Nutzen ins Werk gesetzt werde. Allerdings ist mit der Wiederaufnahme dieser Ideen in der islamischen Apologetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Interpretation der Funktion des Verstandes verbunden. Galt er als die Instanz im Menschen, die ihn dazu bewege, das göttliche Gesetz ohne Widerworte einzuhalten, so wird nun die Perspektive verschoben: Die Einhaltung des Gesetzes, zu der der Verstand drängt, ist gleichbedeutend mit der zweckmäßigsten Gestaltung des Diesseits. Somit ist der Boden dafür vorbereitet, daß etwa seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Islam nicht mehr nur mit anderen Weltreligionen verglichen wird, sondern eben auch mit den großen ideologischen Systemen, wobei deutlich wird, daß dieser Vergleich sowohl apologetischen als auch – nach innen gewandt – gesellschaftsverändernden Zielen
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dient. Alles, was unter dem Schlagwort Kolonialismus zusammengefaßt werden kann, ist als verwerflich und wider die Menschheitsgeschichte gerichtet zu verdammen. In diesem Sinne kann beispielsweise in dem Mitte der sechziger Jahre geschriebenen Buch des Libanesen ÓuÝaima „Der Islam und der gesellschaftliche Fortschritt. Eine Studie über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Vervollkommnung im Islam“ verkündet werden, Babylon, das alte Indien, Iran, Rom, sie alle hätten den Götzenkult benutzt, um gesellschaftliche Widersprüche zu zementieren und eine den Herrschenden dienende Unwissenheit aufrechtzuerhalten. Kaum anders urteilt der Autor über das alte Ägypten oder über China, und selbstverständlich war auch die altarabische Stammesgesellschaft von inneren Widersprüchen zerrüttet, und dies, obwohl sich doch im Beduinentum ein unverdorbenes Menschentum bewahrt habe. – Diese Art der Romantisierung des Beduinentums, die sich vielfach auch bei Predigern des arabischen Nationalismus findet, geht auf eine oberflächliche Rezeption von Ideen Ibn Ëaldūns zurück. Hier nun wird der Topos vom angeblich reinen, durch böse äußere Umstände an der ihm zukommenden Entfaltung gehinderten Beduinentum benötigt, um plausibel zu machen, weshalb mit dem Auftreten Mohammeds auf einmal alles anders werden konnte. – Denn „Allah erlaubte, daß die Morgenröte der Menschheit über diesem Sumpf aufging, in welchem sich vor dem Zeitalter des Islams die Widersprüche aller menschlichen Gesellschaften abgelagert hatten.“ Das Arabertum sei die Gemeinschaft geworden, in der „alle menschlichen Erfahrungen in eine Praxis eingefügt wurden“, die aus göttlicher Rechtleitung erwachsen sei. Der Mensch habe nun alle regionalen Eingrenzungen abbauen können und alle Wahnideen überwunden, die den Weg seiner Entwicklung blockiert hätten. Der von den falschen Kulten erlöste Mensch des Islams ist im wahrsten Sinne frei, meint der Verfasser, allerdings nicht im Sinne westlicher Individualität, sondern viel umfassender: Alle Menschen sollen wie der Muslim frei und gleich sein in ihrer Verantwortung vor ihrem Schöpfer; hierin liege das neue Leben begründet, das der Islam verheiße. Man habe, schreibt der Autor, dem Islam oft zum Vorwurf gemacht, er verfüge über keine Wirtschaftstheorie. Das sei falsch, denn die Scharia regle selbstverständlich auch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Erzeugung und Vermarktung von Waren auftauchen. Ein Blick auf die Quellen des islamischen Rechts lehre, daß es in einzigartiger Weise „die menschliche Gesellschaft vor den Widersprüchen des Kapitals und seiner Vervielfachung und vor den Verlusten aus dem Kommunismus des Vermögens mit all seinen Begleiterscheinungen bewahrt“. Der Islam lasse nichts anderes zu, als daß das Volksvermögen verteilt und von einzelnen oder von Verbänden nach Maßgabe des Nutzens der islamischen Gesellschaft eingesetzt
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werde. In der Scharia sei eine dem Gemeinnutz verpflichtete Wirtschaftstheorie enthalten, die den anderen modernen Theorien in nichts nachstehe. Der Islam nämlich verbiete den Zinsgewinn, das Grundübel des Kapitalismus. Seit dem 18. Jahrhundert haben, so weiß der Verfasser, fortschrittliche Denker sich mit dem Problem des Privateigentums abgemüht. Sie hätten erkannt, daß es die Ursache für die Aufspaltung der Menschen in Klassen sei und dem Besitzenden die Gelegenheit gebe, seine Mitmenschen auszubeuten. Der Marxismus habe diese Widersprüche wenigstens halbwegs mildern können. Ganz anders dagegen der Islam, der die endgültige Lösung des Problems bereithalte! Privateigentum sehe er nicht unbedingt vor, aber es gebe es nun einmal. Deshalb verlange der Islam von jedem Eigentümer, seine Güter „in jeder Form zu einem Mittel zu machen, das zur Wohlfahrt und zur Ausbreitung des Geistes der Zusammenarbeit dient. Schauen wir doch einmal alle auf diesen göttlichen Pfad im Islam, der auf die Veredelung und die Loslösung der menschlichen Seele von den Fesseln der Materie zielt, so daß der Islam die Unterschiede einander annähert und gewährleistet, daß das Vermögen in den Händen aller zirkuliert. Allah sagt (Sure 4, 8): ‚Und wenn bei der Erbteilung Verwandte, Waisen und Arme zugegen sind, dann gebt ihnen Unterhalt vom Erbe und sprecht anständig mit ihnen!‘“ Die islamische Ethik setze mithin dem Privateigentum enge Grenzen, indem es dessen Verwendung an strenge Maximen binde. „So wird das Privateigentum Teil eines großen Ganzen, der Gesellschaft, die muslimisch ist dank dem muslimischen Vermögen und die weder die Klassengegensätze noch die Widersprüche des Kapitals kennt.“11 Diese hier zitierten Ausführungen sind typisch für die politisierende Literatur, die seit den ausgehenden sechziger Jahren die islamische Welt, vor allem wohl die arabischen Länder, geradezu überschwemmt. Es ist ohne weiteres erkennbar, daß hier Versatzstücke der marxistischen Ideologie, man könnte sagen, islamisch aufbereitet werden. Freilich fußt dies alles nicht mehr auf einer unter welchen Zielen auch immer vorangetriebenen Analyse politischer oder gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern findet seine Rechtfertigung in der schon erwähnten Behauptung, der Islam sei das Regelwerk für die in den Zustand der Reife gelangte Menschheit, die sich in einer islamischen Gesellschaft organisieren werde. Sie zu formen, wird nun zum eigentlichen Daseinszweck des Islams erhoben. Eine Religion wie das Christentum habe nur die Liebe der Einzelmenschen zueinander gepredigt – dies ist die postulierte emotionale Ausrichtung des Christentums –, der Islam hingegen bilde das Individuum neu und mache es bereit, Glied der 11 Vgl. hierzu Tilman Nagel: Theologie und Ideologie im modernen Islam, in: Der Islam. III Islamische Kultur – Zeitgenössische Strömungen – Volksfrömmigkeit, herausgegeben von Annemarie Schimmel, Stuttgart 1990, 1–59, hier S. 37–40.
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Weltgesellschaft zu werden. Dies ist die These eines 1963 in Kairo erschienenen Buches mit dem Titel „Die Elemente und Werte der islamischen Gesellschaft“. Der Verfasser Ibrāhīm ÝIwaÃain entwickelt seine Vorstellungen in bewußter Ablehnung des vermeintlich siegreichen westlichen Gesellschaftsmodells. Was eine Gesellschaft zusammenfüge, sei ein bewußtes Wollen, das Befolgen der Impulse, die einer heilen natürlichen Veranlagung (al-fiÔ ra as-salīma) entspringen. Mit dieser Formulierung gewinnt der Autor Anschluß an die Redeweise des Korans, wo es in Sure 30, Vers 30 heißt: „Richte dein Antlitz als Gottsucher auf die wahre Glaubenspraxis. Dies ist die Veranlagung, mit der Allah die Menschen geschaffen hat. Die Veranlagung, mit der Allah die Menschen geschaffen hat, kann man nicht austauschen.“ Zwei weitere Verse drängen sich dem Autor auf (Sure 33, 62): „Du wirst keinen Austausch der Verfahrensweise Allahs finden“ und (Sure 35, 43): „Du wirst keinen Wechsel in der Verfahrensweise Allahs finden.“ Es gibt Gesellschaften, denen eine andere Lebensmitte als die heile natürliche Veranlagung eigen ist – es mögen ein bestimmtes Siedlungsgebiet, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Interessen sein – doch alles dies kann eine Gesellschaft nur in höchst unvollkommener Weise zusammenhalten, denn es sind „künstliche Faktoren, die ihre Wirkung verlieren“. Im Eingottglauben islamischer Art, der ganz der natürlichen Veranlagung der Menschen entspricht, liegen für ÝIwaÃain die völlige Freiheit und die völlige Gleichheit der Menschen begründet. Werden im Westen Freiheit und Gleichheit als zwei einander ausschließende Gegebenheiten betrachtet, sobald sie je für sich und ohne Augenmaß angestrebt werden, so ist für unseren Autor ein solcher Widerspruch zwischen beiden gar nicht erkennbar. Denn nicht im Einzelmenschen und vom Einzelmenschen her verwirklichen sich Gleichheit und Freiheit. Der Bezugspunkt beider liegt vielmehr in Allah. Vor ihm sind alle Geschöpfe gleich; denn sie nehmen ihm gegenüber den Status des Knechtes ein; „(Allah) ist es, der sie alle davor bewahrt, Knechte von Knechten zu sein.“ Aus dieser Feststellung wird in der heutigen Islamideologie stets die Freiheit des Menschen abgeleitet. Die natürliche Veranlagung des Menschen kann sich mithin nicht entfalten, solange er sich über Allah und den Kosmos im unklaren ist und über sich falsche Herren vermutet. Die wahre Gleichheit und Freiheit werden den Menschen aber nicht ohne ihr Zutun zuteil, betont ÝIwaÃain und spricht damit das subversive Potential seiner Ideologie an. Er zitiert Sure 4, Vers 97, wo von den Menschen gehandelt wird, die sich zu Lebzeiten nicht zum Islam bekannt haben und sich im Gericht für dieses Versäumnis verantworten müssen. „Wenn die Engel diejenigen, die wider sich selbst frevelten, abrufen, fragen sie: ‚Welcher Art waren eure Lebensumstände?‘ Jene antworten: ‚Wir wurden im Lande unterdrückt!‘ Dann fragen die Engel weiter: ‚War denn Allahs Erde nicht weit genug, so daß ihr hättet auswandern können?‘ Die Hölle
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wird ihre Behausung sein – ein schlimmes Ende!“ Zur Herbeiführung der das Unheil der Menschen behebenden wahren islamischen Gesellschaft kann es also nötig sein, sich ganz bewußt außerhalb des Bestehenden zu stellen, wie es radikale islamische Strömungen in den letzten Jahrzehnten immer wieder gefordert haben. Die Werte der islamischen Gesellschaft harmonisieren mit der natürlichen Veranlagung des Menschen. Diese muß freilich von allem Schmutz befreit werden, der sich abgelagert hat; dazu dienen die kultischen Handlungen, etwa das rituelle Gebet. Danach werde die Erziehung zur Verantwortung, Freiheit und Solidarität gelingen, zu einem Verhalten, das man gemeinhin demokratisch nenne. Die kultischen Handlungen, die Verantwortung für das Gemeinwesen, die Beratschlagung über die gemeinsamen Belange und die Kooperation seien die erhabensten Werte der islamischen Gesellschaft; ÝIwaÃain zitiert Sure 17, Vers 70: „Wir haben die Kinder Adams huldreich beschenkt, gaben ihnen Schiffe zur Reise auf dem Meer, Reittiere zur Reise auf dem Lande, gewährten ihnen guten Unterhalt und zeichneten sie weit vor anderen Geschöpfen aus.“ Er bemerkt hierzu: „Im Lichte seines Glaubens sah der Mensch, daß der Islam sich nicht mit einem der Theorie hingegebenen Leben seiner Anhänger zufrieden gibt. Er sah vielmehr, daß er befreit ist für eine Wirklichkeit, deren Belebung und Hebung beabsichtigt ist. Machte der Mensch sich nicht an diese Aufgabe, hätte jene in ihm angelegte Bereitschaft keinen Wert. So begann der Mensch im Handeln die wirklichkeitsnahe Wiedergabe seines Glaubens zu erkennen.“ So wird der Mensch als Glied der islamischen Gesellschaft zu sich selbst befreit, indem seine natürliche Veranlagung freigelegt wird. Er ist nun nicht mehr entfremdet, sondern eine freie Persönlichkeit, was soviel bedeute wie: „Er soll ein Ziegelstein im Gebäude der Gesellschaft sein.“12 4. Der Totalitätsanspruch Mit der Verheißung der Aufhebung der Entfremdung, mit der Inaussichtnahme der Lösung der durch Privateigentum und Kapitalaufhäufung verbundenen Probleme, der Lösung auch des Spannungsverhältnisses von persönlicher Freiheit und Verantwortung für das Ganze, mit dem Versprechen schließlich, die ideale, auf den Menschen passende Gesellschaft herbeizuführen, nimmt die Islamideologie alle die Themen auf, die den politischen Meinungsstreit in Europa seit weit mehr als einhundert Jahren beherrschen. Freilich findet sich viel öfter die Behauptung, der Islam werde alles richten, 12 Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Unterwegs zum universalen Gottesstaat? Der Islam als realisierte prophetische Botschaft“, Teil 2: „Ansätze zum arabischen Gottesstaat in unserer Zeit“, in: Religionen unterwegs, 3. Jahrgang / Nr. 2, Mai 1997, S. 4–9.
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als eine Aussage, wie dies im einzelnen geschehen solle. Auch die inzwischen uferlose Diskussion über die islamische Wirtschaft bzw. über die islamischen Banken hat ja keine neue Art von Wirtschafts- bzw. Finanzwissenschaft hervorbringen können. Wir haben es mit der seltsamen Erscheinung zu tun, daß die genannten Themen und vielfach auch die façon de parler aufgegriffen werden, aber es bleibt dann bei einer Art islamischer Rechtfertigung dafür, daß diese Themen erörtert werden, und besten- oder schlimmstenfalls werden sie in ihrer islamischen Verkleidung als propagandistische Begleitung politischer Aktionen verwendet. Woran das liegt, wird sich hier nicht ergründen lassen. Was uns zum Abschluß jedoch beschäftigen soll, ist die Disposition des Islams zur Übernahme ideologischer Elemente und zu deren Verarbeitung in einer eigenen Ideologie. Es gibt gewiß keine Universalreligion, die sich einseitig auf das Jenseits orientiert, aber es ist doch erstaunlich, in welcher Ausschließlichkeit sich die Botschaft Mohammeds seit den sechziger Jahren wenigstens im Bewußtsein vieler ihrer Bekenner zur Ideologie eines – gewiß recht vagen – politischen Programms gewandelt hat. „Der Islam ist die Lösung!“ Überall in der arabischen Welt stößt man auf diese Parole. Wir müssen uns zunächst ins Gedächtnis rufen, daß die religiöse Botschaft, die Mohammed empfing, ihre spezifische Ausprägung durch dessen politisches Wirken erhielt. Das Christentum richtete sich in einem Jahrhunderte währenden Kampf in einem vorhandenen Staatswesen ein und vermochte es schließlich so weit zu beherrschen, daß es der rituellen Pflege der christlichen Heilslehre dienstbar war. Es blieb aber das Bewußtsein dafür, daß dieser Staat, das Römische Reich und seine Nachfolger, nicht das Eigentliche und Eigene des Christentums seien. Das war weiterhin die hier auf Erden nicht erreichbare civitas dei. Ganz anders liegen die Verhältnisse im Islam. Schon die medinensische Gemeinde war ein der neuen Botschaft entsprechendes, ein eigenes Gemeinwesen, und aus der Rückschau wurde es zu dem Eigentlichen des Islams, weil es uneingeschränkt dem durch den Propheten verkündeten Willen des Schöpfergottes unterworfen war. Der Lebensweg der Muslime, der ein Weg des eigenen Heilserwerbs sein soll, vollzieht sich im Idealfall in einem islamischen Staat, der ganz allein darauf ausgerichtet ist, das Beschreiten dieses Weges zu organisieren, zu erleichtern und zu fördern. Das bedeutet aber auch, daß die Führer dieses Staatswesens im Besitze des hierfür erforderlichen, durch die Verkündigung Mohammeds vermittelten Heilswissens sind bzw. es sich jederzeit verschaffen können. Denn ihre Maßnahmen und Anordnungen müssen vom Verfügen über jenes Wissen zeugen. Allem Handeln der Obrigkeit wird mithin ein Begründungszusammenhang unterstellt, den man als allumfassend bezeichnen muß. Er wird dadurch konstituiert, daß nach islamischer Ansicht das diesbezügliche Wissen zuerst
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Adam und dann allen weiteren Propheten übergeben worden ist. Dieser Wissensschatz, mit dessen Hilfe das irdische Leben des Menschen zu einem Heilsweg geformt wird, kann durch eigenständiges Forschen der Menschen niemals überboten oder erweitert werden. In Sure 2, Vers 31 bis 33 heißt es: „Allah lehrte Adam alle Namen. Dann stellt er den Engeln (die von ihm geschaffenen Wesen vor und befahl: ‚Teilt mir die Namen von diesen hier mit, wenn ihr wirklich immer die Wahrheit sprecht!‘ Sie erwiderten: ‚Preis sei dir! Wir wissen nur, was du uns lehrst. Du bist der Allwissende und Weise!‘ Da sagte Allah: ‚Adam, teile du ihnen die Namen mit!‘ Als Adam dies getan hatte, sprach Allah: ‚Habe ich euch nicht gesagt, daß ich das Verborgene in den Himmeln und auf der Erde weiß, daß ich weiß, was ihr offenlegt und verschweigt?‘“ Adam, der erste Mensch und erste Prophet, wird, indem er die Namen von allem und damit das Wissen von allem empfängt, als Stellvertreter des Schöpfers über die Erde eingesetzt. Allah hat, so führt der oft als Reformer des Islams gepriesene ägyptische Theologe MuÎammad ÝAbduh (gest. 1905) zu dieser Passage des Korans aus, in Adam „das Wissen von allen Dingen angelegt – ohne Begrenzung oder Spezifizierung … Das wache Wissen aber besteht im Erfassen aller wißbaren Dinge an sich. Die Wörter, die sie bezeichnen, ändern sich von Sprache zu Sprache je nach der in ihr verabredeten Terminologie … Der Sinn aber ist unveränderlich. Allah lehrte Adam (mithin) jedes Ding – hierbei ist es kein Unterschied, ob Adam dieses Wissen in einem oder in vielen Augenblicken zur Verfügung steht … Doch ist diese Fähigkeit des Wissens dem ganzen Geschlechte Adams zuteil geworden. Es folgt (aus den obigen Koranversen) mithin nicht, daß die Söhne Adams vom ersten Tag an die Namen kennen. Es genügt zum Nachweis des Vorhandenseins dieser Fähigkeit, daß sie die Dinge durch Forschung und logische Schlüsse wissen können …“. Alles dem Menschen mögliche Wissen ist ihm von Allah übermittelt worden; es ist identisch mit der Fülle des Inhalts der Botschaft, die Adam entgegennahm. Gebraucht der Mensch seinen Verstand, dann mag es ihm gelingen, die Unvollkommenheit seiner Verfügung über jenes Wissen zu beheben, aber hinausführen über das, was Allah Adam lehrte, kann ihn das eigene Forschen nie.13 Dies bedeutet nun zweierlei: Alle Kenntnisse der Verwaltung und Steuerung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Vorgänge sind, wenn sie denn einem muslimischen Gemeinwesen angemessen sein sollen, Teil jenes unveränderlichen, von Allah der Menschheit übergebenen Wissens und damit in einer nicht mehr zu steigernden Art und Weise gerechtfertigt. Die Verwirklichung dieser Ideen in der Praxis läuft auf die Errichtung der gerechten Gesellschaft schlechthin hinaus, auf das Endziel aller Menschenge13 MuÎ ammad
Ý Abduh: al-AÝmāl al-kāmila, ed. ÝAmmāra, Kairo o. J., III, 15–22.
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schichte, und daß diese Verwirklichung auch möglich ist, dafür steht die überlieferte Geschichte der prophetischen Urgemeinde von Medina. Der Islam als der Inbegriff des hierfür tauglichen Wissens erwirbt damit den Charakter einer allzuständigen und unfehlbaren politischen Handlungsanweisung. Diese Handlungsanweisung, und damit komme ich zum zweiten Punkt, ist nun so geartet, daß in eklektischer Manier Teile fremden Gedankengutes eingearbeitet werden können, sofern diese als islamisch, d. h. als Teil jenes Adam übergebenen Wissens gedeutet werden können. In den vorhin genannten Beispielen war dies implizit oder explizit der Fall: Nation oder übernationale Ordnung waren im Islam fundiert; die die Fehler von Kapitalismus und Marxismus meidende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist islamisch; die in der modernen technischen Zivilisation westlichen Zuschnitts beklagte Entfremdung des Menschen von sich selbst ist im Islam aufgehoben. Auf diese Weise hat die islamische Welt Anteil an dem, was man den Diskurs der Moderne zu nennen pflegt. Aber es ist eine unfruchtbare Teilhabe; und die von manchen Orient-Politologen vertretene These, alle großen Kulturregionen des Erdballs hätten in gleicher Weise Teil an einer Weltzivilisation, in der zu je gleicher Zeit in jeder Kultur die je gleichen Fragen erörtert und bearbeitet werden, ist nicht zu halten. Denn das, was in Europa – und eben nicht in der islamischen Welt – zur Herausbildung der großen Themenkreise etwa der Entfremdung, der Verteilung von Kapital und Arbeit, des Begriffes der Nation geführt hat, wird nicht weiter zur Kenntnis genommen, und so kann in alldem auch keine echte Herausforderung oder Erschütterung der eigenen Position gespürt werden. In einer solchen so erstaunlich wirksamen Absicherung des Eigenen, über die die westliche Zivilisation schon lange nicht mehr verfügt, können wir die dritte, vielleicht wichtigste Funktion des Islams als einer Ideologie erblicken.
B. Das Weltbild des Christentums und des Islams im Vergleich Einführung 1. Nicht von dieser Welt Vor einigen Jahren veröffentlichte der Rechtsphilosoph Martin Kriele im Feuilleton der FAZ einen Artikel, in dem er auf einen befremdlichen Umstand hinwies: Manchem Repräsentanten der Kirchen sei die Religionsfreiheit peinlich. Den Hintergrund dieser Thematik bildete die sogenannte Kopftuchdebatte, die in mehreren Bundesländern dazu führte, daß den muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts untersagt wurde.1 Ausdrücklich ließ demgegenüber der badenwürttembergische Gesetzgeber die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ zu. Das Bundesverwaltungsgericht hielt diese ungleiche Behandlung von islamischen und christlichen Symbolen für verfassungsgemäß, und zwar mit einer Begründung, die Kriele seltsam anmutete: „Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte von neutraler Warte ist etwas anderes als die Bekundung eines individuellen Bekenntnisses. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“ Der Begriff des „Christlichen“ bezeichne nämlich, ungeachtet seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich, eine von Glaubensinhalten losgelöste, jedoch aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche. Dazu gehörten die Grundrechte der Freiheit und Gleichheit sowie „humane Werte“ – allgemein gesprochen, die Prinzipien der Aufklärung. Kriele fährt fort: „Daß diese Prinzipien, die den Kirchen mühsam abgerungen wurden, tatsächlich einen christlichen Hintergrund haben, läßt sich nur in komplexen theologischen und historischen Darlegungen ermitteln und wird Nichtchristen nicht ohne weiteres einleuchten. Darauf kommt es dem 1 Der Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der staatlichen Neutralität, zu dem am 7. Juli 2004 im Hessischen Landtag eine Anhörung stattfand, zielte unter anderem auf dieses Problem. Für diese Anhörung verfaßte ich eine ausführliche Stellungnahme.
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B. Das Weltbild des Christentums und des Islams
Bundesverwaltungsgericht auch nicht an. Es stellt nicht darauf ab, daß man als Christ zugleich Aufklärer sein kann oder sogar muß. Es privilegiert christliche Symbole, weil diese keine religiöse Bedeutung mehr haben. Das Tragen des Kreuzes wäre nur dann unzulässig, wenn der Lehrer damit ein individuelles religiöses Bekenntnis verbände.“ Ich will die von Kriele im Anschluß hieran entwickelte These nicht weiter kommentieren, wonach sich die Amtsträger der Kirchen der Zusammenarbeit mit dem „atheistischen“ Kampfmilieu linker Kreise schuldig gemacht hätten, um selber aus deren Schußlinie zu kommen und sich durch die totale Entchristlichung der Gesellschaft ein – in geradezu peinlicher Weise unangefochtenes – Nischendasein zu sichern.2 Es geht mir nicht um Spekulationen über die Befindlichkeiten unserer Kirchenoberen. Vielmehr möchte ich auf die „komplexen theologischen und historischen Zusammenhänge“ eingehen, die, wie Kriele vermutet, den Nichtchristen nur schwer vermittelt werden können, die aber, und das ist wirklich besorgniserregend, auch den Gebildeten unter unseren Verantwortlichen in Presse und Politik vielfach unklar sind. Ich werde den Stoff dieses Abschnitts so darlegen, daß durch einen vergleichenden Blick auf den Islam die spezifischen Unterschiede deutlich werden, die zwischen der politischen Kultur des Islams und derjenigen bestehen, die sich auf dem Boden des Christentums gebildet hat. Zunächst müssen in großen Zügen bestimmte religiöse und kosmologische Vorstellungen des Christentums und des Islams skizziert werden. Dies soll dem Leser den Weg zum Verständnis der jeweiligen Weltsicht im allgemeinen und der politischen Ordnungsvorstellungen im besonderen ebnen. In Sure 2, Vers 31 heißt es, daß Allah Adam die Namen aller Dinge lehrt; Adams Wissen von der Welt geht nicht auf eigenes Nachsinnen zurück, sondern ist ihm von seinem Schöpfer vollständig übermittelt worden. Es kann durch den Menschen prinzipiell nicht erweitert oder modifiziert werden, ein Umstand, der auch im heutigen Islam noch so gesehen wird.3 Dem Inhalt nach deckt sich dieses Wissen mit dem allumfassenden Schöpfungshandeln Allahs, das alle Vorgänge im Diesseits in jedem Augenblick determiniert. Es 2 FAZ
vom 17. Februar 2005, S. 37. gibt eine umfangreiche islamische Literatur, die sich damit beschäftigt, die Erkenntnisse der westlichen Naturwissenschaften so auszulegen, daß sie in den Koran und in das Hadith hineingelesen werden können. Da der Westen die Naturwissenschaft ohne Rückbezug auf den Koran betrieben habe, sei sie als widergöttlich und „materialistisch“ zu verwerfen. „Aufklärungsschriften“ dieses Inhalts werden unter anderem auch von der staatlichen türkischen Religionsbehörde gefördert (vgl. Martin Riexinger: Die verinnerlichte Schöpfungsordnung, von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen 2009 angenommene Habilitationsschrift, Kapitel 3 „Gott und die Welt“). 3 Es
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ist kein Raum, kein Zeitpunkt denkbar, der von dieser Determinierung frei wäre. Der Mensch nimmt das Diesseits als einen Kosmos wahr, dies aber gelingt ihm nicht deshalb, weil der Weltenlauf durch dem Diesseits immanente Gesetze bestimmt würde, sondern nur, weil der weise Allah sein ununterbrochenes Schöpfungshandeln so gestaltet, daß wir eine – scheinbare – Regelhaftigkeit wahrnehmen (vgl. Abschnitt A., Text I und II). In diesem ganz und gar durch Allah bestimmten Kosmos ist dem Menschen die Funktion des Stellvertreters des Einen zugedacht (Sure 2, 30). Was das heißen soll, ist in der islamischen Theologie unterschiedlich beantwortet worden. Eine Auffassung, die vor allem im Sufismus erörtert wurde, nimmt an, daß der Mensch, der sich seiner Ichhaftigkeit entäußert und auf diese Weise völlig im ununterbrochenen Bestimmen Allahs aufgeht, damit zum Stellvertreter Allahs wird und in seltenen, glückvollen Augenblicken sogar die Fähigkeit erlangt, in Allahs schöpferisches Wirken einzugreifen. In der islamischen Rechtswissenschaft ist man dagegen überzeugt, daß der Mensch zum Stellvertreter Allahs wird, sobald er durch die fehlerfreie Explizierung des Gesetzeswillens Allahs aus den autoritativen Texten und durch uneingeschränktes Befolgen dieses Gesetzeswillens die eigenen Absichten mit denjenigen Allahs verschmolzen hat (vgl. Abschnitt A., Text V).4 Das politische Denken des lateinischen Christentums entfaltet sich von ganz anderen Voraussetzungen her. Diese finden sich im Kern schon im Alten Testament. Dort nämlich stellt Gott – anders als Allah im Koran – dem Menschen die Benennung der Geschöpfe anheim (Gen 2, 19 f.). In diesem Akt der Großzügigkeit und des Vertrauens drückt der Schöpfer aus, daß der Mensch zumindest bis zu einem gewissen Grad in eigener Verantwortlichkeit mit der Welt befaßt ist. Adam empfängt die Schöpfung als ein Treuhänder, Gott kann am siebten Tag ruhen, wogegen der Koran darauf beharrt, daß Allah niemals vom Schlaf befallen werde (Sure 2, 255), unentwegt sei er tätig (Sure 55, 29). Der Mensch, den das Alte Testament zeichnet, ist mit der Treuhänderschaft vielfach überfordert, er zieht sich den Zorn Gottes zu. Obwohl jedoch das Handeln des Menschen in der Welt nur selten das Wohlgefallen Gottes findet, wendet dieser sich in einer Handlung unüberbietbarer Liebe dem unvollkommenen, sündhaften Menschen zu und opfert den eigenen Sohn; Gott selber wird Mensch, um damit zu bekunden, daß er die Welt und den Menschen nicht verwirft. Im Gegenteil, sündig wie dieser ist, darf er doch auf Erlösung hoffen, sofern er an Jesus glaubt und „ihm nachfolgt“. Jesus ist der Weg, der in das „Reich Gottes“ führt, das die Mängel des Diesseits hinter sich gelassen haben wird. 4 Nagel: Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002, 301; ders.: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 270 f.
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B. Das Weltbild des Christentums und des Islams
Jesus bewirkt demnach nicht schon hier und jetzt die alles umgreifende Wende zum Heil. Vielmehr vergleicht er sein Auftreten mit der Arbeit eines Sämanns (Mk 4, 9): Ein großer Teil des Saatgutes fällt auf unfruchtbaren Boden und wird nicht keimen, geschweige denn Frucht bringen; manches Saatkorn wird jedoch Wurzeln schlagen, zu einer Pflanze heranwachsen, und die volle Ähre wird ausreifen. Durch Jesu Ankunft wird mithin die Unvollkommenheit der durch den Menschen gestalteten irdischen Verhältnisse erst eigentlich sichtbar gemacht, damit jeder im Hinblick auf das Jenseits seine Entscheidung treffen könne, und die Entscheidung wird im Diesseits keineswegs Eintracht erzeugen, sondern den Zustand der Vermischung verdeutlichen, in welchem Gläubige und Ungläubige, Gute und Böse bis zum Jüngsten Gericht befangen sein werden. Mit einer Gestaltung des Diesseits nach Maßgabe einer Stellvertreterschaft Gottes rechnet Jesus offensichtlich nicht. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, obwohl es in Gestalt jener Menschen, die sich für ihn entschieden haben, bereits in dieser Welt gegenwärtig ist. Mit dieser Auffassung stellte sich Jesus in einen schroffen Gegensatz zu den Zeloten, den Verfechtern einer jüdischen Theokratie und somit den erklärten Feinden der eben nicht nach Maßgabe des offenbarten Gesetzes, der Tora, handelnden römischen Besatzungsmacht. Der Zelotismus hatte sich aus dem Pharisäertum heraus entwickelt. Dieses trat für eine peinlich genaue Erfüllung des mosaischen Gesetzes ein. Insbesondere die kultischen Reinheitsvorschriften und die Verzehntungsgebote waren streng zu befolgen, und wie Mohammed es Jahrhunderte später seinen Anhängern abverlangte, so strebten die Pharisäer eine vollkommene Gestaltung des Lebenszuschnitts nach Maßgabe der geltenden rituellen Regelungen an.5 Indem diese Ziele zu einem gegen die römische Herrschaft gerichteten religiös-politischen Programm zugespitzt wurden, entstand die Bewegung der Zeloten. Sie traten für die „Alleinherrschaft Gottes“ ein, verfochten mithin die Idee einer Theokratie. Eine wie auch immer geartete Obrigkeit des Kaisers duldeten sie nicht und ebenso wenig die Erhebung von Steuern und Zöllen durch den römischen Fiskus.6 Aus den Reihen der Zeloten stammten die Juden, die Jesus durch die Frage auf das Glatteis führen wollten, ob die Römer zu Recht Abgaben einzögen. Dies zu bejahen, hätte Jesus zum Verräter an den heiligsten 5 Bernd Kollmann: Einführung in die Neutestamentliche Zeitgeschichte, 2. Auflage Darmstadt 2011, 51; Mohammeds Streben nach Verallgemeinerung des Gebots ritueller Reinheit: vgl. Nagel: Mohammed. Leben und Legende, 110 f.; Erfassung fast des gesamten Tageslaufs durch die Gebetszeiten: ebd., 276 f.; jenseits der Gebetszeiten soll der Muslim unablässig Allahs gedenken: Sure 29, Vers 45 (vgl. Abschnitt A., Text V). 6 Kollmann, 87.
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Grundsätzen des Judentums abgestempelt, es zu verneinen, wäre ein Affront gegen die Besatzungsmacht gewesen. Jesus ließ sich einen Dinar bringen und fragte, wessen Abbild und Inschrift die Münze trage. „Des Kaisers!“ antworteten jene und räumten damit ein, daß auch sie es mit der Theokratie, die Kaiserbilder in ihrem Herrschaftsbereich untersagte, so ernst nicht nahmen. Da sprach Jesus die berühmten Worte: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mk 12, 13–17).7 Jesus verwarf die theokratischen Ideale, die von vielen seiner jüdischen Zeitgenossen verfolgt wurden. Er eröffnete dadurch den „Zöllnern“, allgemein gesprochen, den Unterstützern des römischen Staates, den Weg zum Heilsgewinn. Das sich herausbildende Christentum war daher seinem Wesen nach und von Anfang an mehr als eine jüdische Sekte. Eine Episode aus dem Leben des Apostels Paulus wirft ein Schlaglicht auf den die völkisch-religiöse Enge des damaligen Judentums überwindenden Charakter des neuen Glaubens: Die Juden wiegelten die Bewohner Jerusalems gegen Paulus auf, indem sie ihn verdächtigten, zusammen mit einem Griechen den allen Nichtjuden verbotenen Tempelbezirk betreten zu haben (Apg 21, 28 f.).8 In seinem Brief an die Römer stellt Paulus das Verhältnis der sich auf Jesus Berufenden zum – römischen – Staat und seinen Organen klar: Jede Obrigkeit ist durch Gott eingesetzt und steht somit in seinem Dienste; sie darf daher nicht mißachtet werden. Sie erhebt Steuern und Zölle, um ihre Aufgaben zu erfüllen, von denen jedermann seinen Nutzen hat. Die vom Staat ins Werk gesetzte Rechtsordnung soll in christlicher Sicht jedoch durch die gegenseitige Liebe der Menschen überwölbt und veredelt werden. Denn „die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13, 10). Jenseits des Tempelkults und jenseits der Treue zu den mosaischen Ritualvorschriften9 und weder durch das eine, noch durch das andere erzwingbar, liegt der Bereich christlicher Gemeinschaft. Die weltliche Macht wird von den Christen ernstgenommen; sie ist die unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der über sie hinausweisenden christlichen Brüderlichkeit. 2. Offen für das verantwortliche Handeln des Menschen Diesen Kerngedanken der Verkündigung Jesu greift Augustinus (gest. 430) in seiner Schrift „De civitate Dei (Über den Staat Gottes)“ auf, einem Werk, das für das Selbstverständnis des lateinischen Europa grundlegend geworden ist. Traute schon der Gott der Schöpfungsgeschichte des Alten Testa7 Ebd.,
89. 107. 9 Ebd., 103. 8 Ebd.,
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ments den Menschen den eigenverantwortlichen Umgang mit der Welt zu, so der von Jesus verkündete Gott und Vater um so mehr: Er verwirft den unvollkommenen Menschen und das unvollkommene Menschenwerk nicht, sondern liebt die Welt so sehr, daß er mit dem Opfertod des Sohnes die Sünder auslöst. Eine beglückendere Aufwertung der Welt ist nicht denkbar. Sie eröffnet dem Menschen unüberschaubar weite Möglichkeiten des Handelns, das freilich nie die Vollkommenheit des Reiches Gottes hervorbringen wird. Sie ist erst für die Zeit nach dem Ende aller irdischen Tage zugesagt. Nur in einzelnen Gottesfürchtigen, denen die Nachfolge Christi schon hier und jetzt gelingt, ist das verheißene Reich auf Erden gegenwärtig. Solche Nachfolge zu gewährleisten, ist aber nie die Aufgabe der Staatsmacht. Sie unterliegt nicht der Ethik der Bergpredigt, sondern sie schützt und erhält ein Gemeinwesen aufrecht, in dem Menschen von höchst unterschiedlicher Bereitschaft leben, die Forderungen dieser Ethik zu verwirklichen. Weil dies so ist, läßt sich die Staatsmacht nur die Befolgung menschengemachter Gesetze angelegen sein. Augustinus bringt den Zustand dieser Vermischung als das im Diesseits unaufhebbare Miteinander von civitas terrena (irdischem Staat) und civitas Dei auf den Begriff. Das dem Irdischen verhaftete Gemeinwesen und dasjenige Gottes haben ihren Ursprung in je einer spezifischen Art von Liebe. Die civitas terrena entspringt der Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigern kann; die Angehörigen der civitas Dei lieben Gott so sehr, daß sie bisweilen zur Verachtung ihrer selbst gelangen. Da die Menschen, die von je einer Art der Liebe beherrscht werden, ununterscheidbar miteinander leben, ergibt sich, daß der diesseitige Staat in dieser Welt gar nicht die höchste, vollkommenste Form eines Gemeinwesens sein kann. Damit er für seine Mitglieder erträglich wird, muß er allerdings der Gerechtigkeit verpflichtet sein. Diese Gerechtigkeit ist jedoch nicht das Ergebnis eines durch ein gottgegebenes Gesetz geleiteten Handelns. Sie besteht vielmehr in der Beachtung von Regelungen, die alle Angehörigen dieses Staates, also auch die Gottlosen, untereinander verabredet haben. Augustinus wollte mit seinem Werk vor dem unter seinen christlichen Zeitgenossen verbreiteten Irrtum warnen, das seit Kaiser Konstantin formal christlich gewordene Römische Reich sei die civitas christiana. Nach Augustinus ist dies keineswegs der Fall, ja das christliche Gemeinwesen ist auf einen weltlichen Staat gar nicht angewiesen; es ist mit ihm nur verbunden, indem auch die der Gottesliebe verfallenen Menschen Angehörige dieses Staates sind.10 10 Ich folge hier der sehr klaren Zusammenfassung der politischen Gedanken Augustinus’ durch Hans Maier in: Klassiker des politischen Denkens, Bd. I, München 1968, 87–113.
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Auf dem von Augustinus so deutlich vorgezeichneten Weg schritt das politische Denken des lateinischen Europa während des Mittelalters zügig voran. Es durchlitt den Dualismus von Kaiser und Papst, von weltlicher Herrschaft und kirchlichen Machtansprüchen. Ohne auf die Ereignisse näher einzugehen, möchte ich nur darauf aufmerksam machen, daß ein Mann wie Thomas von Aquin (gest. 1274), in dem die katholische Kirche einen ihrer bedeutendsten Denker verehrt, der Überzeugung war, daß sich die staatliche Autorität durchaus nicht von der kirchlichen herleite. Nur in Angelegenheiten, bei denen die weltliche Macht die Heilsinteressen der Christen berührt, gestand er dem Papst das Recht zum Eingreifen zu. Der Herrscher aber hat selbstverständlich die Befugnis, alle übrigen Belange gesetzlich zu regeln und diese Regelungen bei sich wandelnden Umständen zu verändern.11 Unter den mittelalterlichen Autoren, denen entscheidende Anstöße zur Herausbildung eines Gemeinwesens zu verdanken sind, das man später als säkular bezeichnen wird, ragt Marsilius von Padua (gest. 1342 / 3) hervor. Er lehrte am Beginn des 14. Jahrhunderts an der Pariser Universität, beteiligte sich aber auch an der großen Politik jener Zeit, in der der Papst, die Fürsten und der Kaiser miteinander um die Bestimmung der Reichweite ihrer Macht rangen. Noch ehe Marsilius in die Dienste des 1328 in Rom zum Kaiser gekrönten bayerischen Königs Ludwig trat, war sein – zunächst anonym in Umlauf gesetztes – Hauptwerk, der „Verteidiger des Friedens (Defensor pacis)“, zum Gegenstand heftiger Debatten geworden. Schon Augustinus hatte erkannt, daß der Friede innerhalb eines Gemeinwesens auf Verabredungen – unter den Zugehörigen – und auf der Fähigkeit des Machthabers beruht, diese Verabredungen durchzusetzen. Diese Ansicht verficht auch Marsilius, und zwar mit Entschiedenheit. „Die Menschen haben sich also des befriedigenden Daseins wegen zusammengeschlossen, weil sie fähig waren, sich … notwendige Güter zu verschaffen und sie untereinander auszutauschen. Dieser Zusammenschluß, so vollkommen und sich selber im höchsten Maße genug, heißt Staat.“ Das diesseitige Gemeinwesen ist mithin weder aus einer überweltlichen Zwecksetzung heraus entstanden, noch durch eine solche zu legitimieren. Während Augustinus die Ichsucht der Mitglieder der civitas terrena als die maßgebliche politische Kraft hinnimmt, weil anders Anarchie herrschte, wertet Marsilius sie von Grund auf positiv; sie erscheint bei ihm als der Wunsch eines jeden vernünftigen Menschen, „ein befriedigendes Dasein zu führen und das diesem Schädliche … (zu) meiden“. Freilich ist es nicht so, daß die christliche Heilsbotschaft mit diesem Staat überhaupt nichts mehr zu tun hätte. Aber das göttliche Regiment über die Christenheit und die Machtausübung durch Menschen gehen nicht ineinander über. Gott hat das Christentum gestiftet, 11 O.
Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, 131.
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und das von ihm begonnene Heilswerk ist den Menschen durch Offenbarung kundgegeben worden. Das ändert aber nichts daran, daß der Mensch die Ordnung des Diesseits mittels der ihm ebenfalls von Gott geschenkten Vernunft zu schaffen hat, und zwar auf sich selber gestellt. Indem Marsilius den Wunsch des Menschen nach einem erträglichen irdischen Dasein vom Makel der Ichsucht befreit, erschließt er sich die Möglichkeit, rein sachbezogen die Formen und Institutionen einer guten, also die Talente der Menschen zu gemeinsamem Nutzen entfaltenden Regierung zu erörtern. Er nimmt damit in den Blick, was in den meisten späteren Staatslehren Europas im Mittelpunkt stehen wird: nicht die Herrschaft an sich und deren Legitimierung, sondern die Aufgaben, die sie zu leisten hat, und die geeignete Art und Weise ihrer Bewältigung.12 Die Wurzeln des modernen Territorialstaates, der alle seine Bürger erfaßt und sie nach Gesetzen regiert, die den sich stetig wandelnden Lebensbedingungen auf vernünftige Weise angepaßt sind, reichen mithin bis in das Mittelalter zurück. Er bedient sich rationaler und sachbezogener Institutionen, die so geartet sind, daß sie den persönlichen Interessen ihrer Funktionsträger einen möglichst geringen Spielraum lassen und vor allem anderen die Belange des Staates, verkörpert durch den Souverän, zur Geltung bringen. In diesem Staatsmodell, das in zahlreichen Varianten während des Zeitalters des sogenannten Absolutismus eine erste Blüte erlebte, steht der Souverän über dem Gesetz, eben weil er dank der Fülle der ihm zugetragenen Kenntnisse die Fähigkeit hat, mit Blick auf das Ganze Entscheidungen zu fällen und Gesetze zu ändern. Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß ein solcher Staat als säkular zu gelten hat. Denn, wie Marsilius andeutet, auch die Herrschaft eines solchen Souveräns rechtfertigt sich durch die Zuordnung des weltlichen Lebensbereiches des Menschen zu dem von der Kirche verwalteten geistlichen. Die von Autoren wie Marsilius vorangetriebene Entgeistlichung der irdischen Macht verlangt zunächst noch nach einer religiösen Rechtfertigung der außerordentlichen Überhöhung des Herrschers. Man spricht daher im 16. und 17. Jahrhundert vom „göttlichen Recht der Könige“; der Herrscher sei „von Gottes Gnaden“, d. h. er übe die Macht, die sich von religiösen Vorgaben gelöst hat, mit der ausdrücklichen Zustimmung des Allerhöchsten aus. Doch nur vorübergehend konnte auf diese Weise das Fragen nach der Legitimität staatlicher Gewalt aufgehalten werden. Denn wenn einmal der Daseinszweck des Staates in der Entfaltung der Talente seiner Bürger und in der Sicherung ihres Wohls erkannt worden ist, unterliegen die Maßnahmen des Herrschers einer an diesen Gesichtspunkten ausgerichteten Kritik. Der Einzelne beginnt zu erwägen, inwiefern die Ge12 H. Rausch in: Klassiker des politischen Denkens, Bd. I, München 1968, 172–197.
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setzgebung vernünftig im Hinblick auf seine eigenen Interessen sei. Mit anderen Worten, die Entgeistlichung der Herrschaft wirft die Frage nach der Würde des Individuums auf. Die Würde des Individuums wird nun zum Kristallisationspunkt des Nachdenkens über das Gemeinwesen, dessen integrierende Kraft nicht mehr der Glaube ist, der den Weg zur Erlösung weist.13 Die christlichen Kirchen des lateinischen Europa haben seit der frühen Neuzeit an der hier ganz grob skizzierten Herausbildung der Idee der individuellen Menschenrechte nicht mehr aktiv teilgenommen. Im Gegenteil, sie haben sie vielfach als gegen sich selber gerichtet wahrgenommen und abgelehnt. Die Gründe hierfür können hier nicht mehr erörtert werden.14 Man geht aber nicht fehl, wenn man feststellt, daß das Christentum eine conditio sine qua non der Entstehung des säkularen Staates und der Menschenrechte gewesen ist. Daher ist dem Rechtsphilosophen René Marcic beizupflichten, wenn er feststellt: „So hat das institutionalisierte Christentum in der kritischen Zeit, da der Gedanke der Menschenrechte endlich allerwärts im geschriebenen Recht Fuß zu fassen beginnt, das Werk, zu dessen Vollendung es eine solche Menge Bausteine herbeigeschafft hatte, völlig vernachlässigt und damit unbegreiflicherweise auf die Publizität seiner Mitautorschaft wie seiner Mitverantwortung verzichtet … In dem Maße, wie die Menschenrechte zur Mitte der nationalen Rechtssysteme und zur Mitte der internationalen Weltrechtsordnung rücken, vollzieht sich gewissermaßen die heimliche Christianisierung der Menschheit“.15 3. Die theokratischen Grundzüge des Islams Vor vierzig Jahren schrieb Marcic jene Zeilen nieder. Sein Urteil über die Rolle des Christentums bei der Herausbildung des säkularen Staates und der individuellen Menschenrechte ist nach wie vor unanfechtbar. Aber der Blick in die Zukunft, den Marcic damals wagte, hat getrogen. Zwar ist in politischen Verlautbarungen häufig von den Menschenrechten die Rede, und die Vereinten Nationen unterhalten einen Menschenrechtsrat. Aber dort 13 Stark verkürzte Fassung meiner Ausführungen in „Die Entwicklung des säkularen Staates im lateinischen Europa“, in: Z. I. Munavvarov / W. Schneider-Deters (Hgg.): Islam und säkularer Staat, Taschkent 2003, 168–176 (Internationale Stiftung al-Imam al-Buhari / Friedrich-Ebert-Stiftung). Der Friedrich-Ebert-Stiftung danke ich aufrichtig für die Erlaubnis, diesen Text in veränderter Fassung erneut zu verwenden. 14 Vgl. Lukas Wick: Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der Moderne?, Würzburg 2009, 33–54 (Zusammenfassung der wissenschaftlichen Diskussion hierüber). 15 René Marcic: Geschichte der Rechtsphilosophie. Schwerpunkte – Kontrapunkte, Freiburg 1971, 51.
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führen Staaten das Wort, deren Prinzipientreue auf diesem Gebiet anzuzweifeln ist. Nicht zuletzt viele islamische Staaten geben in dieser Hinsicht Anlaß zur Sorge. Mit dieser Bemerkung wenden wir uns wieder dem Islam zu. In einer Broschüre, die Muslimen Ratschläge für die Mission in Deutschland erteilt, schreibt Dr. Rüschoff, ein deutscher Konvertit, folgendes: „Als Muslime werden wir bei der ‚DaÝwa‘“, – d. h. bei der an Andersgläubige gerichteten Aufforderung, zum Islam überzutreten – „schnell feststellen, daß ein Christ ein völlig anderes Verhältnis zu seiner Religion hat als ein Muslim. Während der Islam eine handfeste Sache ist, die man kennen muß, um sie in der täglichen Praxis als Muslim auch leben zu können, ist für den Christen seine Religion mehr eine Art Motivation, aus der heraus er sein normales tägliches Leben lebt. Die christliche Lehre ist in erster Linie ein (an einer Person orientiertes) Für-Wahr-Halten von etwas, dem zwar die Tat, jedoch eben nicht die spezielle Tat folgen muß.“ Anders als das Christentum sieht sich der Islam mithin im Besitz eines Wissens, nach dem das Diesseits zu gestalten ist. Rüschoff verwendet das Adjektiv „handfest“ und meint damit konkrete Normen, die ein bestimmtes Tun und Lassen vorschreiben, Normen zudem, die nicht nach innerweltlichen Kriterien ausgelegt werden können, sondern die gelten, weil sie von Allah so und nicht anders dem Propheten Mohammed mitgeteilt worden sind. Ganz im Einklang mit der sunnitischen Theologie schreibt Rüschoff etwa zum Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch: „Es ist zwar nicht zu bestreiten, daß Schweinefleisch nicht das Beste und Gesündeste ist“ – ein innerweltliches Argument – „daß das jedoch der (im Original gesperrt!) Grund für das Verbot ist, wage ich nicht zu behaupten. Daß dieses Verbot uns von Gott im Quran gegeben wurde, ist für uns Muslime ausschlaggebend“.16 Das Leben des Muslims ist mithin an Verhaltensnormen gebunden, die sehr „handfest“ sind und die letzten Endes nicht auf ihren Grund hin analysiert werden können (vgl. Abschnitt C., Text VI, zweiter Teil). Da ihnen ein göttlicher Ursprung zugesprochen wird, sind sie vollkommen. Der Mensch ist weder aufgerufen noch befähigt, sie auf eigene Faust zu beschneiden oder zu ergänzen. Er ist lediglich gehalten, sie so streng und genau wie möglich zu befolgen, dann wird sich das Diesseits dem gottgewollten Zustand annähern: Das Reich Gottes, um hier den christlichen Begriff zu verwenden, ist hier und jetzt zu verwirklichen. Es wird errichtet sein, sobald sich der ganze Erdkreis zum Islam bekennt und demgemäß sich an die von Allah selber erteilten Gebote und Verbote hält. Für den Muslim ist dies keine Hoffnung – die Hoffnung gehört gerade nicht zu den musli16 Da’wa unter Nichtmuslimen, Schriftenreihe des Islamischen Zentrums München Nr. 11 / 1983
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mischen Tugenden, sondern eher zu den Lastern, ist es doch frivol, Allahs Normen auf die leichte Schulter zu nehmen und dabei auf ein gutes Ende zu hoffen. Die Verwirklichung der göttlichen Normen ist eine harte Verpflichtung, denn es hat ja einmal in der Menschheitsgeschichte den Ort und die Zeit gegeben, wo sie uneingeschränkte Wirklichkeit gewesen sein sollen: in Medina unter dem Regiment des Propheten Mohammed. Von den damaligen Verhältnissen künden nach muslimischer Überzeugung zum einen der Koran, den man als Allahs ureigenes, unverfälscht auf uns gekommenes Wort zu betrachten habe, und zum anderen das normsetzende Alltagshandeln und -reden Mohammeds, die sogenannte Sunna. Kein Lebensbereich sei denkbar, zu dem der Koran und die in zahllosen Einzelüberlieferungen auf die Nachwelt gekommene Sunna nichts zu sagen hätten. Daß die Sunna dem Inhalte nach, nicht dem Wortlaute, ebenfalls unmittelbar auf die göttliche Anleitung Mohammeds zurückgeht, ist von islamischen Theologen auf unterschiedliche Art und Weise begründet worden. Alle Begründungen setzen voraus, daß das zur Meisterung des Diesseits unerläßliche Wissen von den göttlichen Normen – unabhängig von den Überlegungen und Spekulationen der einschlägigen Fachleute – in den über die Generationen weitergereichten Quellenzeugnissen aus medinensischer Zeit vorhanden ist und dank dieser Unabhängigkeit keinen Veränderungen oder gar Schmälerungen ausgesetzt ist. Daß die von Menschen ersonnenen Gebote und Verbote, deren allgemeine Zusammenfassung beispielsweise das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bietet, demgegenüber nur Zweitrangigkeit beanspruchen dürfen, liegt auf der Hand. Denn das Grundgesetz ist ja nicht dem Medina Mohammeds verpflichtet. Vielmehr verleiht es einem Gemeinwesen, das sich keineswegs als die Verwirklichung des Willens Allahs begreift, eine Rahmenordnung, die Menschenwerk ist. Um die muslimischen Vorstellungen zu begreifen, wollen wir uns kurz auf die Geschichte des islamischen Gesetzes, der Scharia, einlassen. Die entscheidenden Jahrzehnte ihrer Herausbildung fallen in die ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts n. Chr. und sind mit dem Namen aš-ŠāfiÝīs (gest. 820) verbunden. Gewiß ist er nicht der einzige, der die von nun an obsiegende Linie der Entwicklung vorgab; aber er war der erste, der sie in eine Theorie zu fassen verstand. Bis in seine Zeit war es üblich, den „islamischen“ Charakter der „besten Gemeinschaft“ (Sure 3, 110) als durch das Charisma des legitimen Herrschers gewissermaßen pauschal gewährleistet anzunehmen und in den Fragen des alltäglichen Kultus – des Ritualrechts – und des allgemeinen Daseinsvollzuges den eingespielten Bräuchen zu folgen und bei Rechtsstreitigkeiten dem juristischen Sachverstand der Kadis zu vertrauen. Diese konnten ihre Entscheidungen durch Zitate aus dem Koran oder der Prophetenüberlieferung absichern, mußten es aber nicht. Aš-ŠāfiÝī nun forderte, die gesamte
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Rechtspflege der „besten Gemeinschaft“ müsse in nachprüfbarer, jedermann sichtbarer Weise an den Gesetzeswillen Allahs rückgebunden werden. Der Koran und die überlieferten Aussprüche und Handlungen Mohammeds bilden in der Theorie aš-ŠāfiÝīs die von Allah selber den Menschen übergebene Gesamtheit des Wissens, alles Wißbare überhaupt. Erkenntnisse, die jenseits dieses Korpus von wahrem Wissen liegen, sind kein Wissen, sondern ein durch den Menschen in der Abgewandtheit von Allah, also außerhalb des Islams, fabriziertes Scheinwissen, das selbstverständlich bei der Lenkung der „besten Gemeinschaft“ außer Betracht zu bleiben hat. Aš-ŠāfiÝīs Begriff des Wissens macht aus diesem eine Gegebenheit, die zur Gänze unmittelbar zu und von Allah ist und die unabhängig vom menschlichen Sachverstand bleibt. Die intellektuellen Anstrengungen des Menschen berühren diesen von Allah gestifteten Schatz echten Wissens überhaupt nicht, sie vermögen ihn weder zu vermehren noch zu verringern oder zu verändern. Die einzige legitime geistige Tätigkeit des Menschen besteht demzufolge in der weiter und weiter vorangetriebenen Angleichung aller Lebensverhältnisse an den Inhalt dieses Wissens; ist diese Angleichung vollendet, dann herrschen für die Dauer der irdischen Geschichte genau jene Daseinsformen, wie sie unter dem Propheten in Medina kennzeichnend waren – die vollkommene Rechtleitung durch Allah. Der Seinsgrund des Islams erfüllt sich!17 Die völlige Entwertung der Erkenntniskraft und des Sachverstandes des Menschen führt dazu, daß in Gesellschaft und Politik, in der Bewertung von Handlungen und Anschauungen innerweltliche Kriterien nur dann zur Geltung kommen dürfen, wenn ihre Geltung durch Textstellen im Koran oder der Prophetenüberlieferung legitimiert ist. Ein Beispiel: Des öfteren ist im 20. Jahrhundert darüber gestritten worden, ob es zulässig sei, die Fliegenplage durch den Einsatz von Insektiziden einzuschränken. Hiergegen steht nämlich ein angebliches Wort Mohammeds, demzufolge in einem Flügel der Fliege Gutes, im anderen Schlechtes verborgen sei; wenn eine Fliege in die Suppe falle, sei sie zunächst ganz einzutauchen und erst dann zu entfernen. So werde gewährleistet, daß man sich auf jeden Fall des Guten versichere. Eine vorsorgliche Vernichtung der Fliegen ist somit nicht vonnöten. Daß Fliegen Seuchen übertragen, erscheint in diesem Zusammenhang als eine unsinnige Behauptung der Europäer, die die von Allah stammende Allwissenheit des Propheten in Zweifel ziehen.18 Nun waren schon in der islamischen Welt des Mittelalters die Lebensverhältnisse nicht so statisch, daß Zitate aus Koran und Prophetenüberlieferung 17 Vgl.
oben, S. 101–114. Nagel: Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008, 27–39. 18 T.
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genügt hätten, um den Lebensvollzug aller Muslime vollständig zu bestimmen. Vielmehr sah man sich gezwungen, im Koran und in der Überlieferung nicht unmittelbar Erwähntes mittels Analogieschlüssen zu bewerten und dadurch mit dem unveränderlichen Wissen in Einklang zu bringen. Die Methode der Analogie zeitigt aber oft unbefriedigende Ergebnisse. Ein modernes Beispiel: Der Abschluß eines Versicherungsvertrages wäre nach der Scharia unzulässig, denn der Zahler der Prämien weiß nicht, welchen Gegenwert er bekommt; derartige „Risikogeschäfte“ versuchen in frevelhafter Weise, den Lebensunterhalt, den Allah für jedes Geschöpf souverän festgesetzt hat, zu korrigieren. In solchen Fällen tritt nun das einzige innerweltliche Kriterium in Erscheinung, das die Schariawissenschaft seit dem 11. Jahrhundert entwickelt und zugelassen hat: das Interesse des muslimischen Gemeinwesens, der „besten Gemeinschaft“. Man kann letzten Endes nicht wissen, warum Allah Risikogeschäfte verboten hat, gleichwie man nicht in Erfahrung bringen kann, warum er fünf, nicht aber vier oder sechs rituelle Gebete am Tag vorschrieb. Was man aber sicher wissen kann, ist doch, daß die Wohlfahrt der „besten Gemeinschaft“ und deren Triumph seinen Absichten entsprechen. Die Einführung eines Versicherungswesens läßt sich daher mit dem Nutzen der Gesamtheit der Muslime rechtfertigen. Es ist unmöglich, hier auch nur einen knappen Überblick über die Gegenstandsbereiche zu geben, die seit dem Mittelalter mit diesem Denkmuster „islamisiert“ worden sind. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß das Inte resse des einzelnen an der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in diesem Zusammenhang gerade keine Rolle spielt. Die prinzipielle Freistellung des gesamten Normensystems des Islams von der Bezugnahme auf innerweltliche Kriterien findet ihre gesellschaftliche Ausprägung in der Führerschaft der gelehrten Sachwalter der Auslegung des „Wissens“, in den Ý ulamāÞ . Bis ins 19. Jahrhundert waren sie so eng mit den Machthabern verbunden, daß man von einer Symbiose sprechen kann. Die Nachahmung westlicher Herrschaftsinstitutionen lockerte vorübergehend dieses Verhältnis, das sich nun in den meisten islamischen Ländern, auch in der Türkei, de facto wieder enger gestaltet. Die Tatsache, daß die Ergebnisse der Interpretationsarbeit der Schariagelehrten letzten Endes nicht den naheliegenden Erfordernissen dieser Welt und den legitimen Interessen des einzelnen zu entsprechen brauchen, erzeugt ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen den Lehren der Ý ulamāÞ einerseits und der realen Welt und dem Individuum andererseits. Nicht umsonst spricht man vom endogenen Radikalismus des Islams, der sich gegen jeden wendet, der sich dem „Wissen“ der Gelehrten nicht zu unterwerfen bereit ist.19 Eine Duldung 19 A. Ignatenko: Ėndogennyj radikalizm w islame, in: Central’naja Azija i Kawkaz, 2 / 2000, 112–128. Vgl. dazu in Abschnitt C., Einführung, S. 196–198.
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des Strebens nach Befreiung von diesem „Wissen“ würde, das spüren nicht nur die sogenannten Islamisten, sondern alle im beschriebenen System des von Allah gestifteten „Wissens“ befangenen Muslime, alles zum Einsturz bringen. Darum halten auch die Muslime, denen islamistische Umtriebe fernliegen, an dem gesamten Schatz des „Wissens“ fest, und das bedeutet, daß sie auch jene Teile dieses Schatzes, mit denen die Islamisten ihre politischen, ja terroristischen Aktionen legitimieren, als unaussonderbare Elemente des von Allah gestifteten „Wissens“ verteidigen müssen – eben weil deren Aussonderung unausweichlich das Zulassen eines innerweltlichen Maßstabes zur Folge hätte, mit dem man ermitteln könnte, was von jenem Schatz heute noch zuträglich ist und was man verwerfen muß. So darf beispielsweise die Erklärung der Menschenrechte nicht als Kriterium für den Inhalt des „Wissens“ und für die Ausscheidung der obsolet gewordenen Anteile verwendet werden. Man formuliert daher lieber eine eigene, „islamische“ Menschenrechtscharta, die darauf hinausläuft, daß erst der Muslim den Menschen in all seinen Daseinsmöglichkeiten darstellt, und die der Menschheit daher nahe legt, sich zum Islam zu bekehren.20 In diesem Abschnitt des Buches und im folgenden sollen wichtige Bereiche der Differenzen zwischen Christentum und Islam bzw. zwischen säkularem Staat und Islam näher betrachtet werden. Erst die Kenntnis dieser Differenzen ermöglicht ein sachgerechtes Urteil über die Möglichkeiten der Integration jener Muslime, die in unseren aus dem Christentum hervorgegangenen säkularen Staat die ihnen vertrauten theokratischen Prinzipien einpflanzen möchten, die mithin in einer freiheitlichen individualistischen Gesellschaft der Scharia zur Geltung zu verhelfen und diese Gesellschaft auf die Länge der Zeit hin nach deren Grundsätzen umzugestalten bestrebt sind. Solche Bestrebungen werden von einem großen Teil der in Deutschland seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts heimisch gewordenen bzw. hier geborenen Muslime befürwortet, sei es aus Unkenntnis über unser Gemeinwesen, sei es, weil sie es bewußt als „unislamisch“ ablehnen und daher die Ausweitung der Herrschaft der „wahren Religion“ anstreben. Der politischen Korrektheit entspricht es, die erwähnten Differenzen nicht auf den Begriff zu bringen, sondern auf sich beruhen zu lassen, und zwar in der durch nichts gerechtfertigten Annahme, sie würden im Laufe der Zeit von selber verschwinden. Oft ist zu hören, der Islam sei sechshundert Jahre später als das Christentum entstanden; er befinde sich in seinem 15. Jahrhundert, und so, wie sich am Ende des 15. Jahrhunderts der christlichen Geschichte die Vorboten der Reformation gezeigt hätten, so werde sich nun 20 Zur ersten Orientierung sehe man in Wikipedia unter dem Stichwort „Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ nach, wo man auf weitere Literatur verwiesen wird. Vgl. ferner unten in Abschnitt C. die Texte IV und V.
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bald eine islamische Reformation ankündigen.21 Sieht man von der völlig haltlosen Parallelisierung von Geschichtsverläufen ab, so bleibt zu betonen, daß die religions- und gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen des Entwicklungsganges des Christentums einerseits und des Islams andererseits dagegen sprechen, daß letzterer den Weg zur Säkularität einschlagen wird.
21 Es sind bereits etliche islamische „Luther“ gesichtet worden; im vorliegenden Buch geht es allerdings um den real existierenden Islam (vgl. im übrigen Martin Kramer: Ivory Towers on Sand, passim).
I. Das Christentum im Urteil des Islams Dieser am Himmelfahrtstag 2007 im Kloster Bursfelde gehaltene Vortrag wurde als Nr. 24 der Bursfelder Universitätsreden im Verlag des Göttinger Tageblatts veröffentlicht. Herrn Professor Dr. Joachim Ringleben, dem Abt von Bursfelde, danke ich herzlich für die Erlaubnis, diesen Vortrag hier noch einmal abzudrucken.
1. Die „Torheit des Christentums“ „Im Grunde“, sagt der weißbärtige Mann mit der sanften Stimme, „im Grunde verhält es sich mit den Christen ganz einfach: Sie nutzen den Verstand nicht“. Jeden Abend nach dem ausgiebigen Festmahl und dem rituellen Gebet strahlt das jemenitische Fernsehen im Ramadan 1990 eine Sendung aus, in der ŠaiÌ ŠaÝrāwī (1911–1998) aus dem Stegreif den Koran auslegt. Vor ihm hocken dichtgedrängt weiß gekleidete Männer jeglichen Alters, hängen an seinen Lippen. ŠaiÌ ŠaÝrāwī ist – oder besser: war bis vor kurzem – eine Institution in der islamischen Welt: Er galt als einer der beliebtesten volkstümlichen Prediger, als Rufer zu einem schlichten Islam der kleinen Leute. Ein eigener Verlag sorgt für die Verbreitung seiner erbaulichen Traktate. Mitschnitte seiner Predigten auf Kassetten sind bei zahllosen arabischsprachigen Familien in Gebrauch, auch hier in Deutschland. In Dutzenden von Einzelheften findet man überarbeitete Mitschriften seiner Kommentierungen des Korans, zwischen dem Hocharabischen und dem ägyptischen Dialekt wechselnd, immer bemüht um Erläuterungen, die der Erfahrungswelt der einfachen Leute entsprechen. Heute abend geht es um die Schriftbesitzer, in Sonderheit um die Christen und die Trinität. In einer schriftlichen Fassung seiner Ausführungen befaßt sich ŠaÝrāwī in diesem Zusammenhang einzig und allein mit dem niederen, den Muslimen unterlegenen Rang der Schriftbesitzer. Der Islam ist die Wahrheit. Wie in Sure 9, Vers 30 bis 33 nachgelesen werden kann, lehrt er nicht, daß Allah einen Sohn hat, denn, so der moderne Kommentator, alle Beweggründe, die Menschen zum Zeugen von Kindern veranlassen, treffen auf Allah nicht zu. „Woher können sie nur auf solche Lügen gebracht werden?“ (Vers 30). Jedenfalls haben sie die Kopfsteuer innerhalb der Gemeinschaft, der durch Allah der Islam vorherbestimmt ist, in ergebener Weise zu entrichten, ein jeder für sich selber, kleinlaut und demütig, „weil Allah für den Islam wollte, daß er oben ist“. Schließlich verdanken die Schriftbesitzer den Muslimen viel: „Sie haben sie nicht getötet und nicht zum Eintritt in den Islam ge-
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zwungen“, da könne man von ihnen doch wohl Demut verlangen (Tafsīr aš-ŠaÝrāwī, Heft 63, S. 5031). Die Christen nutzen also den Verstand nicht. Welche Konsequenzen für sie daraus folgen, das deutet Allah mit Sure 9, Vers 29 an, der Stelle, die an jenem Abend im jemenitischen Fernsehen zur Debatte steht. Sie lautet: „Kämpft gegen diejenigen unter den Schriftbesitzern, die nicht an Allah und den Jüngsten Tag glauben und die nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben und nicht der wahren Glaubenspraxis folgen, bis sie als Minderrangige, ein jeder aus seiner Hand, die Kopfsteuer entrichten!“ „Minderrangig“, das meinte in der bis ins 19. Jahrhundert belegten Praxis: Jeder Christ, ja jeder Andersgläubige hat einmal im Jahr eigenhändig – sich vertreten zu lassen, ist nicht statthaft – die Kopfsteuer zu zahlen und erhält dabei einen leichten Schlag auf den Nacken zum Zeichen seiner niederen gesellschaftlichen Stellung. ŠaÝrāwī blendete, wenn ich mich recht erinnere, diese vielfach bezeugte Verfahrensweise aus. Was wir entsprechend dem klassischen Wortsinn mit „minderrangig“ übersetzen, gehört zu einer arabischen Wortwurzel, die heute auch den Begriff der Minderjährigkeit bezeichnet: Christen sind wie Minderjährige, die noch nicht über einen ausgereiften Verstand verfügen, denn sonst wären sie ja Muslime geworden. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zieht sich dieser Topos durch die muslimische Literatur zum Christentum. Schon MuÎammad ÝAbduh (gest. 1905) hat in seiner Polemik gegen Ernest Renan (1823–1892) geltend gemacht, erst mit dem Islam gelange die Menschheit in das Endstadium ihrer Entwicklung. Denn er sei die Religion des Verstandes, das Christentum dagegen diejenige der Emotionen, die ihrerseits das Menschentum der Antike abgelöst habe, das in der Verehrung von Heroen befangen gewesen sei. Ein schiitischer Autor, der der ersten iranischen Revolution von 1905 / 6 nahestand, lehnte die Gleichberechtigung nichtmuslimischer Iraner mit dem Hinweis ab, Kinder seien ja auch nicht den Erwachsenen gleichgestellt. Diese Beispiele mögen genügen. Die, sagen wir es so, entwicklungsgeschichtliche Zurückgebliebenheit des Christentums läßt sich in der Sicht des Muslims leicht aus vielzitierten Koranstellen herleiten, die durchweg aus der medinensischen Zeit, also aus Mohammends letztem Lebensabschnitt, stammen. In der mekkanischen Sure 19, „Maria“, ist diese Thematik noch nicht anzutreffen. Aber wenn wir Sure 9 vom 30. Vers an weiterlesen, dann finden sich alle Zutaten der polemischen Betrachtungsweise, die in islamischen Universitäten übrigens unter dem Rubrum der Religionswissenschaft bis auf den heutigen Tag gepflegt wird. „Die Juden sagen: ‚Ezra ist Allahs Sohn.‘ Die Christen sagen: ‚Der Messias ist Allahs Sohn.‘ So reden sie mit ihrem Mund. Sie ahmen damit die Rede derjenigen nach, die schon vor ihnen ungläubig waren. Allah bekämpfe sie! Woher können sie nur auf
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solche Lügen gebracht werden! Sie nahmen sich ihre Rabbiner und Mönche und auch den Messias, den Sohn der Maria, an Allahs Stelle zu Herren. Dabei war ihnen nur aufgetragen worden, einen einzigen Gott zu verehren. Es gibt keinen Gott außer ihm. Hochgepriesen sei er vor allen, die sie ihm beigesellen! Sie wollen mit ihrem Gerede das Licht Allahs auslöschen. Allah aber will nichts anderes als sein Licht vollenden, selbst wenn dies den Ungläubigen mißfällt. Er ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtleitung und der wahren Glaubenspraxis schickte, um diese über jegliche andere Glaubenspraxis triumphieren zu lassen, selbst wenn dies den Beigesellern mißfällt. Ihr, die ihr glaubt! Viele von den Rabbinern und Mönchen verzehren zu Unrecht das Eigentum der Menschen und bringen sie vom Pfade Allahs ab. Denjenigen, die Gold und Silber horten und nicht auf dem Pfade Allahs ausgeben, künde eine schmerzhafte Strafe an!“ (Verse 30–34). In Sure 4 und Sure 5 kommt Mohammed auf einige im weitesten Sinne theologische Argumente zu sprechen, die zeigen sollen, wie jene „auf solche Lügen gebracht wurden“. Die Juden, so hören wir in Sure 4, Vers 156 ff., brüsten sich damit, daß sie Jesus getötet haben. In Wirklichkeit hatten sie jedoch nicht den Messias, sondern einen ihm ähnlichen Mann gekreuzigt; Allah habe den Messias zu sich in den Himmel entrückt. Um ihrer vermeintlichen Untat willen, deren sie sich rühmten, wurden den Juden strenge Speisegebote auferlegt, meint Mohammed; sie hätten mit ihren Täuschungen viele vom Pfade Allahs abgebracht. Diese Unterstellung scheint sich bereits auf die Christen zu beziehen, die ja in der Sicht des islamischen Propheten den Eingottglauben aufgaben und sich verführen ließen, in Jesus einen Sohn Allahs zu sehen. Ab Vers 171 werden sie deswegen zurechtgewiesen: „Ihr Schriftbesitzer! Überschreitet nicht die Grenzen in eurer Glaubenspraxis und sagt über Allah nichts als die Wahrheit! Der Messias Jesus, der Sohn der Maria, ist nur Allahs Gesandter, das Wort, das er Maria übermittelte, und ist nur Geist von ihm. Darum glaubt an Allah und seine Gesandten und sagt nicht: ‚Drei!‘ Unterlaßt das! Das ist besser für euch. Allah ist nur ein einziger Gott. Zu hoch gepriesen ist er, als daß er ein Kind haben könnte. Ihm gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Allah ist ein trefflicher Sachwalter. Nie wird es der Messias verschmähen, ein Knecht Allahs zu sein, und auch nicht die Engel, die Allah nahestehen …“ Ein letzter Passus sei vorgetragen. Es sind die Verse 17 und 18 aus Sure 5: „Ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‚Allah ist der Messias, der Sohn der Maria.‘ Sprich: ‚Wer könnte denn bei Allah etwas ausrichten, wenn dieser den Messias, den Sohn der Maria, und seine Mutter und alle, die auf Erden leben, vernichten will?‘ Allah gehört die Herrschaft über die Himmel und die Erde und über das, was zwischen beidem ist. Er schafft, was er will. Er hat zu allem Macht. Die Juden und die Christen sagen: ‚Wir sind die Söhne und die Lieblinge Allahs.‘ Sprich: ‚Weshalb straft er euch dann
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um eurer Sünden willen? Nein, ihr seid Menschen wie die anderen, die er geschaffen hat.‘ Er verzeiht, wem er will, und er bestraft, wen er will. Ihm gehört die Herrschaft über die Himmel und die Erde und was zwischen beidem ist. Auf ihn strebt alles zu!“ Damit fürs erste genug an Koranzitaten! Betrachten wir den theologischen Rahmen, in den sich diese Aussagen einfügen! Das ganze Diesseits wird in jedem Augenblick durch Allahs Fügung bestimmt; sie legt auch die Handlungen des Menschen fest. Allah ganz allein besitzt Bestimmungsmacht. Der Mensch selber und alles, was er um sich herum wahrnimmt, ist in jedem Augenblick durch Allah determiniert. Sobald in Mohammeds frühester Verkündigung aus Allah, dem höchsten Herrn, Allah der einzige Gott geworden ist – und dies geschieht schon kurz nach dem Beginn der Offenbarungen –, schärft Mohammed in immer neuen Beispielen seinen Zuhörern die völlige Abhängigkeit des geschaffenen Seins von dem einen Schöpfer ein. „Allah gehört die Herrschaft über die Himmel und die Erde und über das, was zwischen beidem ist,“ wir hörten diese im Koran mehrfach wiederholte Formulierung. Nur mit Allahs Vollmacht geschehen Dinge, die der oberflächliche Blick des Unwissenden einem geschaffenen Wesen zusprechen mag. Diesen Gedanken hat Mohammed in seiner Polemik gegen die heidnischen Gottheiten entwickelt, und er steht auch hinter der Aussage, der Messias werde es nicht verschmähen, ein Knecht Allahs zu sein, ganz wie die Engel. Diese koranischen Ansätze werden in der islamischen Theologie systematisiert. Das schöpferische Sein Allahs unterscheidet sich in jeder nur denkbaren Hinsicht vom Sein des Geschaffenen. Und da das Geschaffene existiert und darüber hinaus einen gewissen Sinn erkennen läßt, kann es nur das Werk einer einzigen alles bestimmenden Macht sein. So argumentierte – in stark verkürzter Form – der islamische Rationalismus des 9. und 10. Jahrhunderts, dem es erklärtermaßen um die Abwehr christlicher Trinitätslehren sowie des iranischen Dualismus einerseits, antiker Vorstellungen von der Welt als einem ewigen Prozeß andererseits ging. Mit dem Triumph des Sunnitentums im 10. Jahrhundert wurde das Postulat, Allahs ununterbrochenes Schöpfungshandeln folge wenigstens zum Teil einem durch den Menschen zu entschlüsselnden Sinn, fallengelassen, ja als sündhafte und verwerfliche Infragestellung der göttlichen Souveränität geradezu verfemt. An der Schroffheit der Ablehnung der christlichen Trinität änderte dies freilich nichts. Nirgendwo dokumentiert sich der Wunsch, diese Lehre einmal genauer zu ergründen. Sie ist und bleibt in muslimischen Augen eben töricht. Der Verstand sagt, daß es nur eine allmächtige Wesenheit geben kann, wie absurd also, dem Menschen Jesus und gar seiner Mutter das ungeschaffene, unentwegt schöpferische Sein Allahs zuzuerkennen!
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Schon früh dringt ein weiteres Motiv in das muslimische Bild vom Christentum ein; es wird ebenfalls bereits in Sure 5 angedeutet. Juden und Christen, so Mohammed, behaupten, sie seien die Lieblinge Allahs. „Weshalb straft er euch dann um eurer Sünden willen?“ fragt er polemisch. Sure 5 ist eine der letzten in der Chronologie der mohammedschen Offenbarungen, sie fällt in die Zeit, in der Mohammed, von ersten Erfolgen ermutigt, sich anschickt, in das Byzanz unterstehende Jordanland einzufallen. Dies ist der zeitgeschichtliche Bezug dieser Frage – wir werden sehen, daß es noch einen anderen gibt, der uns den Ort Mohammeds in der vorderasiatischen Spätantike erschließen hilft. Jetzt also geht es um Mohammeds erste Erfolge außerhalb Arabiens, erste Unterwerfungsverträge, abgeschlossen mit jüdisch besiedelten Ortschaften, mit christianisierten arabischen Stämmen sowie mit den Christen von Nadschran, Verträge, die, werden sie eingehalten, das Absterben der bezwungenen Religion verursachen sollen. In einem literarisch überlieferten Schreiben, das Hārūn ar-Rašīd an den byzantinischen Kaiser Konstantin VI. (reg. 780–797) richten ließ, um diesen zum Übertritt zum Islam zu bewegen, erscheint der militärische und machtpolitische Erfolg des Islams als das wesentliche Argument für die Wahrheit dieses Glaubens. Wie könnte der Islam nicht wahr sein, wo Allah ihm doch binnen kurzem weite Teile der bekannten Welt unterworfen hat! Diese schlichte Feststellung wird bis auf den heutigen Tag Christen entgegengehalten. Kann man, wie eben dargelegt, auch nicht die Absichten aufklären, die Allah im einzelnen mit der Schöpfung verfolgt, so ist doch dies eine gewiß, nämlich daß er seine wahre Religion zum Triumph führen will. Schließlich hat er schon den zweiten Nachfolger Mohammeds, den Kalifen ÝUmar (reg. 634–644), veranlaßt, demütigende Bedingungen für den dauernden Aufenthalt Andersgläubiger auf muslimischem Territorium zu erlassen. In Wahrheit stammen die sogenannten „Ýumarschen Bedingungen“ erst aus der Zeit gegen 700, aber ÝUmar hatte alle Andersgläubigen aus der Arabischen Halbinsel vertreiben wollen und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Der Text der „Bedingungen“, dessen älteste Fassung auf einen 697 gestorbenen Rechtsgelehrten zurückgeht, belegt, daß sie sich zu allererst gegen Christen richten. „Daß wir in unserer Stadt keine neue Kirche errichten und in der Umgebung kein Kloster, keine Einsiedelei, keine Mönchszelle; daß wir keine verfallene Kirche wiederherstellen und keine, die in den Quartieren der Muslime liegt; daß wir den Muslimen nicht verwehren, in unseren Kirchen des Nachts und am Tage abzusteigen; daß wir deren Tore offenhalten für die Vorbeigehenden und die Kämpfer auf dem Pfade Allahs und in den Kirchen und unseren Wohnungen keinen Späher beherbergen und nicht heimlich Verrat an den Muslimen üben; daß wir die Ratsche nur leicht betätigen, und zwar im Innern der Kirche; daß wir an der Kirche kein Kreuz
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öffentlich zeigen; daß wir, sofern Muslime zugegen sind, in unseren Kirchen weder die Gebete noch die Lesung laut vortragen; daß wir weder Kreuz noch Buch auf den Markt der Muslime hinausbringen, weder zu Ostern noch an Pfingsten (zur Prozession) ausziehen; daß wir bei Leichenbegängnissen weder unsere Stimmen erheben noch auf den Märkten der Muslime dabei Fackeln zeigen; daß wir in ihrer Nachbarschaft weder Schweine halten noch Wein verkaufen; daß wir keinen Polytheismus treiben und niemanden für unsere Glaubenspraxis zu gewinnen trachten, noch zu ihrer Annahme auffordern; daß wir keine Sklaven freikaufen(?), die als Beuteanteil Muslimen zufallen; daß wir niemanden von unseren Verwandten behindern, der den Islam annehmen will; daß wir unsere Tracht anlegen, wo immer wir sind; daß wir uns nicht den Muslimen ähnlich machen, indem wir eine lange, spitz zulaufende Kopfbedeckung oder einen Turban aufsetzen, Sandalen anziehen, das Haar scheiteln oder indem wir ihre Reittiere benutzen, in ihrer Redeweise sprechen, uns bei ihnen übliche Vatersnamen zulegen; daß wir den vorderen Teil des Haupthaares scheren und nicht unsere Stirnlocken scheiteln; daß wir uns um die Hüfte gürten; daß wir unsere Siegelringe nicht mit arabischen Inschriften versehen; daß wir keine Sättel verwenden, uns keine Waffen zulegen und tragen, uns kein Schwert umhängen; daß wir den Muslimen, wenn sie zusammen sind, ehrerbietig begegnen, ihnen den richtigen Weg zeigen, für sie aufstehen, wenn sie sitzen möchten; daß wir nicht (von unseren Dächern) in ihre Häuser schauen; daß wir unseren Kindern nicht den Koran beibringen, daß wir mit keinem Muslim ein gemeinsames Handelsgeschäft beginnen, es sei denn, er hätte zu bestimmen; daß wir jeden durchreisenden Muslim drei Tage als Gast aufnehmen und so angemessen wie möglich verköstigen. Dies garantieren wir dir, wir, unsere Nachkommen, Ehefrauen und die Armen unter uns. Wenn wir etwas von dem ändern oder verletzen, was wir als Bedingung für den Erhalt des Pardons auf uns nehmen, dann gehen wir des Schutzes (arab.: aÆ -Æ imma) verlustig, und du magst an uns verüben, was an Widerspenstigen und Zwietracht Säenden zu verüben ist.“ Diese „Bedingungen“ sind in islamischen Ländern z. T. noch heute de facto gültig bzw. können jederzeit angewendet werden, sofern in den Verfassungen steht, der Islam sei eine bzw. die Quelle des Rechts. Als in Kairo nach dem Erdbeben von 1995 die Gebäude von Schulen, die durch christliche Organisationen geleitet werden, hergerichtet werden sollten, beriefen sich die Behörden vielfach darauf, daß die Ergebnisse der Instandsetzungen von außen nicht zu sehen sein dürften. Kann man bei Verstand sein und solche Widrigkeiten auf sich nehmen? Kann man zu den von Allah ausgewählten Verlierern gehören wollen? Und damit komme ich zum letzten, seit dem 10. Jahrhundert propagierten Argument gegen das Christentum. Das in jener Zeit triumphierende Sunnitentum
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B. Das Weltbild des Christentums und des Islams
beruht auf dem Glauben, es verfüge über sämtliche Gesetze Allahs und über alle von ihm geforderten Verhaltensweisen und Denkmuster, und dieses Wissen sei zum einen im Koran, in Allahs wortwörtlicher Rede, verbürgt, zum anderen in dem unüberschaubar großen Korpus an überlieferten Aussagen und Handlungsweisen des Propheten Mohammed. Für jede dieser Aussagen und Handlungsweisen bürge eine Anzahl von Überlieferern; zudem könne man deren Lebensdaten in riesigen prosopographischen Enzyklopädien nachschlagen und sich zugleich über die von Experten festgestellte Zuverlässigkeit eines jeden Bürgen ins Bild setzen lassen. Wie erbärmlich sei demgegenüber die Quellengrundlage des Christentums – vier Evangelien, jedes nur je von einer Person bezeugt. Und eine von Allah ausgegangene Scharia fehle ganz! Die Christen haben sich ihre Gesetze und Normen selber verfertigt – und so hoffen sie, im Jüngsten Gericht vor Allah zu bestehen! Eine fast schon verwegene Torheit! Auch dieser Gedankengang hat sich bis in die Gegenwart gehalten. So gibt es, wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt, einen Leitfaden für die islamische Missionierung unter deutschen Christen. Der Verfasser ist ein deutscher Konvertit, und er hebt hervor, ein Christ werde mit der Frage, was er in dieser oder jener Lage tun solle, alleingelassen, der Muslim dagegen genieße den unschätzbaren Vorteil des unanfechtbar sicheren Wissens. 2. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Abwertung des Christentums Damit bin ich am Ende des ersten Teils, der nicht mehr sein sollte als eine knappe Darlegung des Befundes. Im zweiten möchte ich der Frage nachgehen, wie dieser Befund in die vorderasiatische Religionsgeschichte einzuordnen ist. Zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen wähle ich einen immer wieder mißverstandenen Passus aus Sure 2, nämlich den Vers 256, wo es angeblich heißt: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ – Worte, die man im Sinne einer von Mohammed angeblich zugestandenen Religionsfreiheit auffassen möchte (vgl. Abschnitt D., Text IV und V). Die Ausräumung dieses Mißverständnisses wird uns, so hoffe ich, in der Erkenntnis der tiefgreifenden Unterschiede zwischen Christentum und Islam weiterbringen; sie wird zudem aufhellen, warum die Muslime die eben beschriebene Haltung zum Christentum einnehmen. Übersetzen wir den Vers, und zwar den ganzen, zunächst einmal wortgetreu, und stellen ihn in seinen Zusammenhang! Er schließt sich unmittelbar an den sogenannten Thronvers an, in dem Allah als der nimmerruhende Schöpfer gepriesen wird. Wer könnte bei ihm Fürsprache einlegen, es sei denn, mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis. – Die mekkanischen Heiden hatten ihre Göttinnen als Vermittler bei dem Einen angesehen. – Niemand
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erfaßt auch nur das winzigste Teilchen von Allahs Wissen, es sei denn, Allah wollte es so. Sein Thron – genauer: der Fußschemel vor dem Thron – umschließt die Himmel und die Erde, beides zu erhalten, fällt Allah nicht schwer. Und nun Vers 256: „In der Glaubenspraxis (arab.: ad-dīn) gibt es kein Zwingen. Der Unterschied zwischen dem rechten Wandel und dem (religiösen) Irrtum ist nunmehr deutlich geworden. Wer daher nicht an das Götzentum glaubt, sondern an Allah, der hat die festeste Schlinge ergriffen, die sich nicht öffnen kann. Allah ist allhörend, allwissend.“ Allah, so geht es weiter, ist der Freund der Glaubenden, er führt sie aus der Finsternis zum Licht; die Ungläubigen haben die Götzen zu Freunden, sie enden in der Hölle. Von Religionsfreiheit ist mithin nicht die Rede. Was das Befolgen der richtigen, der islamischen Glaubenspraxis angeht, so resultiert es nicht aus einem Zwingen, sondern aus der nunmehr gegebenen Möglichkeit, Irrtum und Wahrheit klar voneinander zu trennen. – Aber noch ein anderer Sinn schwingt mit; er wird im Schlußvers der etwas jüngeren Sure 22 offen ausgesprochen: „Führt um Allahs willen seinen“ – d. h. den ihm angemessenen – „wahren Dschihad. Denn er erwählte euch und bürdete euch in der Glaubenspraxis (ad-dīn) keinerlei Beschwerlichkeiten auf – wie es sich schon mit der Gemeinschaft eures Vaters Abraham verhielt. Allah nannte euch ‚(das Gesicht zu ihm) Hinwendende (muslimīn)‘, und zwar schon vorher (zu Abrahams Zeit) und jetzt, damit der Gesandte (Mohammed) euch gegenüber (Allahs) Zeuge sei und ihr den Menschen gegenüber (Allahs) Zeugen. Verrichtet daher das rituelle Gebet und erlegt die Läuterungsgabe und haltet an Allah fest – er ist euer Herr, welch guter Herr und welch guter Helfer!“ Die muslimischen Riten, die Allah einst den Gefolgsleuten Abrahams und nun denen Mohammeds auferlegt, insbesondere das Gebet und die Läuterungsgabe, enthalten keine unzumutbare Belastung; dies mögen sich die Muslime vor Augen stellen, wenn der Prophet von ihnen den Einsatz im Dschihad fordert – dieser Einsatz ist nicht zuviel verlangt! Diese Aussage nötigt mir eine kurze Abschweifung in die Ereignisgeschichte ab, ehe ich den Faden der religionsphänomenologischen Analyse wieder aufnehme. Im elften Jahr seiner Berufung kam Mohammed während der Pilgersaison mit einigen Wallfahrern aus Medina in Kontakt. Die Lehren, die er inzwischen verbreitete, waren, wie ich noch erörtern werde, Gemeingut einer heidnischen Frömmigkeitsströmung, die unter anderem auch in Medina Anhänger hatte. Ein Jahr später schloß Mohammed mit einigen – insgesamt angeblich zwölf – der ihr zugehörigen Medinenser ein Abkommen, in dem diese sich verpflichteten, einen sittlich einwandfreien Lebenswandel zu führen, dazu den von Mohammed vorgeschriebenen Gebetsritus zu befolgen, in dessen Verlauf auch Passagen des von ihm verkündeten Buches zu rezitieren sind. Er gab ihnen zwei namentlich bekannte
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Koranleser mit, und die Medinenser versprachen, übers Jahr während der Pilgerzeit wieder mit ihm die Verbindung zu suchen. Während dieser Zeit machte Mohammed den Mekkanern unverblümt klar, was er anstrebte: eine durchgreifende Veränderung des mekkanischen Kultes nach Maßgabe des Eingottglaubens, was eine Entmachtung, wenn nicht gar Vertreibung der führenden mekkanischen Persönlichkeiten nach sich gezogen hätte. Die damalige mekkanische Stadtsage kennt mehrere solcher Umbrüche. Mohammed drohte seinen Feinden in Sure 7, die aus jenen Tagen stammt, eine religiöse und politische Niederlage an – er selber verbirgt sich hinter der Gestalt des Mose, der Pharao und die Ratsversammlung stehen für die Notabeln der Stadt. In Sure 7 stoßen wir auch auf den ersten Widerschein seiner Beziehungen nach Medina: Im 157. Vers nennt er sich selber zum ersten Mal einen Propheten. Bisher ist er nur der Gesandte Allahs gewesen, der Überbringer des göttlichen Buches, das die Menschen den Eingottglauben lehrt. „(Die Gläubigen) sind diejenigen, die dem Gesandten, dem heidnischen Propheten“ – an-nabī al-ummī steht im arabischen Text, al-ummī ist vom hebräischen ummō× haÝ ōlām abgeleitet, dem spätantiken jüdischen Begriff für die Nichtjuden – „die dem Gesandten, dem heidnischen Propheten folgen, den sie niedergeschrieben in Tora und Evangelium finden, der ihnen das befiehlt, was zu billigen ist, und ihnen das Tadelnswerte verbietet, ihnen das rituell Unbedenkliche gestattet, das Schlechte untersagt und die drückende Verpflichtung und die Fesseln, die auf ihnen lasteten, abnimmt …“ Ummījūn, Heiden, nannten die medinensischen Juden ihre nichtjüdischen arabischen Mitbewohner; letztere fühlten sich, wie man aus anderen Stellen im Koran weiß, von den Juden nicht für voll genommen. Mohammed, mit vielen Mekkanern in einem Verhältnis äußerster Spannung lebend und nur durch das alt arabische Schutzrecht vor Übergriffen gesichert, deutet nun an, daß er, wenn er nach Medina ginge, dort nicht nur als Verkünder des Eingottglaubens auftreten, sondern auch die – vom jüdischen Standpunkt aus gesehen – heidnische Rückständigkeit wettmachen werde, indem er diesen Heiden ein von Allah gestiftetes Gesetz bringen werde. Mohammed erkannte nämlich, daß er, trotz allen Drohungen, von Mekka aus sein Ziel der Umgestaltung der Pilgerriten nicht erreichen werde und zudem um sein Leben fürchten mußte. Daher einigte er sich während der dreizehnten und letzten von ihm in Mekka seit seiner Berufung miterlebten Pilgersaison mit den Vertretern seiner medinensischen Gemeinde darauf, daß sie ihn als einen gefährdeten Fremdling bei sich aufnehmen und auf dem eigenen Territorium beschützen würden, wie das Gewohnheitsrecht es verlangte. Daß man ihm schon damals die Zusage gegeben habe, mit ihm in den Krieg gegen Mekka zu ziehen, ist eine dreiste spätere Verfälschung der belegbaren Vorgänge. Kaum in Medina, bildete Mohammed einzig aus mek-
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kanischen Gefolgsleuten, die bereits vorher dort Unterschlupf gefunden hatten, Stoßtrupps, um die mekkanischen Handelswege nach Norden zu unterbrechen. Medinenser nahmen an diesen – nach dem Gewohnheitsrecht unzulässigen – Kampfhandlungen nicht teil. Unterdessen schuf Mohammed mit Sure 2 „Die Kuh“ das, was er in Sure 7 angekündigt hatte: eine auf die damaligen Bedürfnisse zurechtgeschnittene, von Allah herstammende Regelung der Riten. Hierbei beachtete er, daß diese Riten nicht als eine drückende Last empfunden wurden. Man lese beispielsweise die Verse 183 bis 187, in denen er vom Ramadanfasten handelt. Gleich danach kommt er auf die ihm und seinen Anhängern nunmehr unmögliche Wallfahrt zu sprechen und fordert einen erbarmungslosen Kampf gegen die mekkanischen Feinde. Wie wir aus den umfangreichen Quellen zu seinen medinensischen Kriegen wissen, betrachteten seine Anhänger Sure 2 damals als den Kern der mohammedschen Lehren. „Jāl sūrati l-baqara“, „O ihr Leute der Kuh-Sure“, lautete ein mehrfach bezeugter Schlachtruf. Und damit kommen wir wieder auf die spätantike vorderasiatische Religionsgeschichte im engeren Sinn zurück. Der Beiname „Kuh-Sure“ für die 2. Sure mag befremden. Er enthält jedoch den Schlüssel zum Verständnis der tiefen und breiten Kluft, die den Islam vom Christentum trennt, zum Verständnis auch des eigentümlichen Überlegenheitsgefühls der Muslime den Christen gegenüber. Suren werden nach einem als besonders wichtig erscheinenden Passus benannt. In Vers 60 bitten die in der Wüste umherziehenden Israeliten, Mose möge ihnen von Allah abwechslungsreichere Speisen erflehen. Mose ist empört; das sei ein schlechter Tausch gegen die gerade errungene Befreiung aus Ägypten. Die Israeliten verfielen dem Zorn Allahs, auch deswegen, weil sie später die zu ihnen gesandten Propheten töteten. Damals – also noch in der Wüste – verkündete Mose, Allah befehle den Israeliten, eine Kuh zu schlachten. Die Israeliten wollten dies nicht glauben und machten Einwände gegen das Tieropfer. Mose aber beharrte darauf, und Allah präzisierte seinen Opferwunsch: Es soll eine gelbe, makellose, noch nie als Arbeitstier eingesetzte Kuh sein. Erst jetzt ließen sie sich zum Schlachten bewegen, fast hätten sie es nicht getan (Vers 71). – Dies ist natürlich eine Erinnerung an 4. Mose 19: Gott befiehlt Mose und Aaron, eine Kuh zu opfern und zu verbrennen; die Asche soll verwahrt bleiben und dem Reinigungswasser zugesetzt werden, mit dem man jemanden läutern soll, der einen Toten berührt hat (Vers 11). In mißverstandener Weise taucht diese Bestimmung auch bei Mohammed auf: Werde jemand erschlagen, dann möge er mit einem Stück der geopferten Kuh berührt werden; der Tote werde zum Leben erwachen und gegen seine Mörder Zeugnis ablegen (Vers 73). Doch ist dieser im Koran sich wie ein Zusatz ausnehmende Passus im zur Debatte stehenden Zusammenhang ohne Gewicht. – Beinahe hätten die Is-
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raeliten das Opfer verweigert, nur mühsam setzte Mose den Willen Allahs durch. Mohammed nimmt die auf dieses Geschehen folgende Historie der Israeliten in den Blick: Sie werden erniedrigt, Allah zürnt ihnen, sie mißachten seine Zeichen, übertreten seine Gebote (Vers 61). Sie zeigen sich widerspenstig, und die Ablehnung des Tieropfers ist ein Beispiel hierfür – und ist es nicht so, daß die Juden seither Allah überhaupt keine Tieropfer darbringen, und dies, obwohl Allah doch schon vorher Abraham darauf verwiesen hat, daß er Tieropfer gnädig annehme! Das ist der Zusammenhang, in dem für Mohammed die zur Stiftung eines Opferritus umgedeutete Stelle aus dem vierten Buch Mose steht. Nun wissen wir aus neueren Arbeiten zu den altsüdarabischen Inschriften, daß die seit dem 4. Jahrhundert auch in historiographischen Quellen bezeugte christliche wie auch jüdische Missionierung ihre Spuren auf der Arabischen Halbinsel hinterließ. Vorstellungen aus dem – der Einfachheit halber sei der Ausdruck verwendet – hochreligiösen Bereich schlagen sich in bis dahin unbekannten Redeweisen nieder, z. B. „der Herr der Himmel und der Erde“, sowie in syrischen Fremdwörtern wie Ò lt (lies: Ò alāt, rituelles Gebet) oder zkt (lies: zakāt, Läuterungsgabe), die im Koran dann viele Male gebraucht werden sollten. Auch im Nordarabischen der mohammedschen Verkündigung ist das religiöse Vokabular ja fast durchgängig syrischer Herkunft, und jetzt weiß man, daß der Prozeß der Entlehnung schon vor Mohammed einsetzte. An den südarabischen Inschriften ist aber auch abzulesen, daß es kaum in größerer Zahl zu Übertritten zum Judentum oder Christentum gekommen ist. Eine Ausnahme bildet der himjarische Herrscher Åū-Nuwās (Anfang 6. Jh.), der Jude wurde, sich Jūsuf nannte und gegen die südarabische christliche Gemeinde Krieg führte, was in Byzanz ein lebhaftes Echo auslöste. Man muß also mit einer Anreicherung der heidnisch-arabischen Denkund Redeweise durch Vorstellungen hochreligiöser Herkunft rechnen, mit einem Vorgang, der im 6. Jahrhundert dank der Popularität der auf Ephraim den Syrer, den Meloden Romanos und andere zurückgehenden syrischsprachigen christlichen Hymnenliteratur beschleunigt wurde. Zu Mohammeds Zeit lag der Erzählstoff dieser Hymnen in der Form der altarabischen Poesie auch auf arabisch vor, Mohammed erschuf ihm mit der koranischen Reimprosa ein rhetorisch wesentlich wirkungsvolleres Medium. Doch zurück zum Opfer! Eine Wallfahrt, deren Riten mit einem Tieropfer endeten, kannten Juden und Christen nicht. Ein in Hebron bis ins 4. Jahrhundert am Grabe Abrahams geübter heidnisch-arabischer Brauch war laut dem Kirchenhistoriker Sozomenos durch Kaiser Konstantin untersagt worden. Für die heidnischen Araber war ein solches Opfer aber wesentlich. Auf der ganzen Halbinsel gab es Wallfahrtsorte, die zu unterschiedlichen Daten
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des Sonnenjahres von bestimmten Stämmen zu diesem Zweck aufgesucht wurden. Der Sammeleifer der arabischen Philologen des 8. Jahrhunderts hat uns viele wertvolle Zeugnisse hierfür erhalten. Die hochreligiöse Durchdringung, desgleichen die grobe Kenntnis der christlichen und der jüdischen Religion, erzeugten im arabischen Heidentum eine Frömmigkeitsströmung, die gewissermaßen eine nach dem Vorbild von Judentum und Christentum durch Allah, den höchsten oder gar den einen Gott, sanktionierte Ritualpraxis erträumte, die freilich das Tieropfer einschließen mußte. Man wäre auf diese Weise den Juden und Christen ebenbürtig geworden, ohne das eigene Erbe preiszugeben. Es gibt eine ganze Reihe aufschlußreicher Belege für diese Denkungsart. So klagt ein medinensischer Heide, ein älterer Zeitgenosse Mohammeds, er habe sich mit jenen beiden Religionen befaßt, aber sie hätten leider keinen Platz für die buntgeschmückten Opfertiere, die die Wallfahrer mit sich führen. Mit der „Kuh-Sure“ zeigt sich Mohammed als derjenige, der diesen Mangel aufhebt – der Zwang, vom Tieropfer zu lassen, besteht nicht. Ohnehin fehlt den wahren Riten (dīn), die zu verkünden Allah ihm aufgetragen hat, alle Bedrückung, jegliches Ungemach. Denn Mohammed ist der Abraham redivivus; Abraham aber hatte gewirkt, bevor es Juden und Christen gab (Sure 3, 67 f.); bevor also die Juden sich dem Wunsch Allahs widersetzen konnten, bevor die Christen in ihrer Unvernunft den Propheten und Knecht Allahs, Jesus, zu einem gottgleichen Wesen erheben konnten. Die Christen und die Juden, das glaubte man schon in der heidnischen Frömmigkeitsbewegung zu wissen, unterlagen wegen dieser Verfehlungen dem Zorn und dem Fluch Allahs – die neue, das Tieropfer einschließende, von Allah selber gestiftete Glaubenspraxis, die die alte abrahamische sein mußte, würde hiervon frei sein. Sie ist diejenige der Gläubigen, denen Allah nicht zürnt und die nicht in die Irre gehen, wie sich die Muslime Tag für Tag mehrere Male versichern (Sure 1). Warum aber gehen sie nicht in die Irre? Weil sie den Verstand, die beste Gabe Allahs, richtig zu nutzen wissen, und was das bedeutet, steht unter anderem auch in der Kuh-Sure. Allah faßt den Entschluß, den Menschen zu schaffen, und zwar als seinen Stellvertreter auf der Erde. Die Engel wenden ein, der Mensch werde Unheil anrichten. Allah weist diesen Einwand zurück: „Ich weiß, was ihr nicht wißt!“ Er lehrt Adam die Namen aller Dinge, legt diese den Engeln vor und fordert: „Gebt mir die Namen kund, wenn ihr schon glaubt die Wahrheit zu sagen!“ Sie vermögen es nicht, wohl aber Adam, der sie ja gerade von Allah gelernt hat. „Habe ich euch nicht gesagt“, hält Allah den Engeln vor, „daß ich das Verborgene der Himmel und der Erde kenne …“ Allah befiehlt den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen; sie gehorchen, abgesehen von Iblīs, der sich eigenmächtig und stolz weigert. Er gehört nämlich zu den Ungläubigen (Vers 30–34).
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Nur Allah kennt das Verborgene, an das zu glauben Vers 3 der „KuhSure“ die Muslime verpflichtet. Das Verborgene ist die jeden Augenblick von Allah in sein Schöpfungswerk einfließende Fügung, die dieses Werk in allen Einzelheiten bestimmt. Keinem Geschöpf ist es gegeben, diese Fügung zu durchschauen oder gar in die Zukunft zu extrapolieren, Allahs Bestimmen vorwegnehmend. Genau dies habe aber Iblīs getan, wie wir aus Sure 15 erfahren. Allah befahl den Engeln, sich vor dem aus Ton gebildeten Adam niederzuwerfen. Iblīs, dem Eingottglauben verpflichtet, gab zu bedenken, er könne sich unmöglich vor einer aus Ton geformten Gestalt niederwerfen; wegen dieses Aktes des Ungehorsams wurde er des Paradieses verwiesen (Vers 26–35). Der eigenverantwortliche Gebrauch des Verstandes, die Vernunft, führt ins Unheil. Allah hat dem Menschen den Verstand anerschaffen, damit er eben dies erkenne und sich dieser Erkenntnis entsprechend verhalte, wird man in der islamischen Theologie sagen. Die Juden nutzten den Verstand nicht, als sie sich der von Mose überbrachten Forderung Allahs widersetzten: Sie hätten erkennen müssen, daß Allahs Forderung mit innerweltlichen Argumenten weder zurückgewiesen noch bekräftigt werden kann – sie ist einfach zu befolgen. Dies verkennend, zogen sie sich den Zorn Allahs zu. Die Christen vergotteten Jesus, was Allah niemals von ihnen verlangt hatte. Sie nutzten ihren Verstand nicht und verfielen Allahs Fluch. „Ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‚Allah ist der Messias, der Sohn der Maria.‘ Sprich: ‚Wer vermöchte gegen Allah etwas auszurichten, falls er den Messias, den Sohn der Maria, dessen Mutter und alle, die auf der Erde sind, zugrunderichten wollte?‘“ – Das ist das „Verstandesargument“ gegen die Trinität, wie Mohammed es in Sure 5, Vers 17 formuliert. „Allah hat die Herrschaft über die Himmel und die Erde und was dazwischen ist. Er schafft, was er will, und hat zu allem Macht.“ An seinem ständigen Vorgehen mit seinem Schöpfungswerk scheitert die Vernunft des Menschen. Juden und Christen betrachten sich als Lieblinge Allahs; er aber züchtigt sie. „Er vergibt, wem er will, er bestraft, wen er will.“ Auch sein Vorgehen mit den Menschen, im Diesseits wie im Gericht, entzieht sich jeglicher Vernunftspekulation. „Ihr Leute der Schrift!“ heißt es in Sure 5, Vers 19 weiter, „nunmehr ist unser Gesandter zu euch gekommen, um euch … Klarheit zu geben …“. Seid verständig, so können wir ergänzen, nehmt den Islam an und befreit euch vom Zorn und vom Fluch Allahs! Erwerbt den Vorzug, dessen sich die Muslime laut Sure 1 erfreuen dürfen!
II. Die „Legitimität der Neuzeit“ Dieser Vortrag wurde im Frühjahr 2007 vor der Arbeitsgruppe 1 der – ersten – Deutschen Islamkonferenz (DIK) gehalten; er wurde im Dezember 2008 neben anderen einschlägigen Texten durch die DIK ins Internet gestellt. Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch die Geschäftsstelle der Deutschen Islamkonferenz, der ich meinen verbindlichen Dank ausspreche.
Dieser Vortrag war bereits niedergeschrieben, als mich die Nachricht erreichte, daß der sogenannte Koordinierungsrat der Muslime die Zustimmung zu den allgemeinen Maximen zurückgezogen hatte, die die Arbeitsgruppe 1 der Islamkonferenz erarbeitet hatte. Dieser Vorgang macht deutlich, daß ein Verständnis der beide Seiten prägenden, oft gar nicht eigens zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen noch nicht im entferntesten erreicht wurde. Ein solches Verständnis wäre aber unumgänglich, wenn die Gespräche – sowohl in der erwähnten Arbeitsgruppe als auch in der breiteren Öffentlichkeit – überhaupt zu den wichtigen kontroversen Themen vordringen sollen. Die Überschrift „Die ‚Legitimität der Neuzeit‘“ erscheint mir, wie ich gleich darlegen werde, geeignet, den Rahmen der Fragen abzustecken, innerhalb dessen wir uns werden bewegen müssen, wenn wir den Konflikt begreifen wollen, in dem wir stehen. Die Formulierung stammt nicht von mir. Ich entlehne sie einer Studie, die der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) 1966 vorgelegt und 1974 in einer vollständig überarbeiteten Fassung veröffentlicht hat, der er den Titel „Säkularisierung und Selbstbehauptung“ gab. Ich beziehe mich auf diese zweite Fassung und skizziere kurz das Konzept der Säkularisierung als eines eigenständigen geistigen Sachverhalts. Es öffnet uns den Blick für die fundamental verschiedenen Möglichkeiten der Selbstbehauptung des Menschen gegen religiöse Autorität, die sich im lateinischen Christentum einerseits und im Islam andererseits herausgebildet haben. Am Schluß wird deutlich werden, daß Säkularität zwar den Verzicht auf die Durchsetzung vermeintlich ewiger Wahrheiten verlangt, keineswegs aber einen Verzicht auf die Offenheit für das Transzendente meint. 1. Säkularisierung als eigenständiger Sachverhalt Blumenberg weist in seiner Studie mit überzeugenden Argumenten die von Karl Löwith in dessen Werk „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ aufgestellte These zurück, derzufolge die Säkularisierung als eine Verwelt-
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lichung des Christentums zu verstehen sei; Säkularisierung bestehe, so Löwith, in einer Herauslösung gesellschaftlicher und politischer Normen aus einem religiösen Begründungszusammenhang, mithin aus ihrer heilsgeschichtlichen Deutung. Hierzu einige knappe Erläuterungen: Das frühe Christentum richtete sich in einer vorgefundenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung ein. Entsprechend der Episode mit dem Zinsgroschen (Mt 22, 15–22; Mk 12, 13–17; Lk 20, 20–26) war dem Kaiser zu geben, was er für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung mit Recht fordern durfte. Eine spezifisch christliche Gemeinschaft, die sich am Ideal der Nächstenliebe orientiert (Röm 13, 1–10), wird erst am Ende der Geschichte zu erreichen sein. Diese stellt sich als ein zielgerichteter Prozeß dar, der mit dem Erreichen des ihm innewohnenden Ziels abbrechen wird. Säkularisierung im Sinne Löwiths bedeutet nun, daß an die Stelle des religiös begründeten Strebens nach der Civitas Dei der sich aus innerweltlichen Gegebenheiten speisende Fortschrittsgedanke getreten ist. Demgegenüber macht Blumenberg geltend, daß die Idee des Fortschritts kein klar umrissenes Ziel ansteuert, nicht auf ein Ende und einen Abbruch der Geschichte zuläuft – dergleichen galt nur für die politischen Heilslehren des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Idee des Fortschritts ist vielmehr prinzipiell offen, sie kennt kein benennbares Ende, keinen unübersteigbaren Heilszustand, den sie als ihre endgültige Erfüllung bezeichnen könnte. Sie ist, wie Blumenberg formuliert, „die ständige Selbstrechtfertigung der Gegenwart durch eine Zukunft, die die Gegenwart sich gibt angesichts der Vergangenheit, mit der sie sich vergleicht.“1 Mit anderen Worten, das, was vergangen ist, gilt als zu übersteigen, und zwar so, daß das Richtmaß dieses Übersteigens nicht in der Gegenwart und schon gar nicht in der Vergangenheit zu finden ist, sondern in einem Entwurf der Zukunft. Da die Zukunft offen ist, gibt es auch keine privilegierte Kenntnis dieser Zukunft. Niemand hat ein exklusives Recht auf Kenntnis des angestrebten Kommenden und infolgedessen auch kein Recht auf Unterwerfung der anderen unter das von ihm bevorzugte Zukunftsmuster. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Fortschrittsidee im grundsätzlichen von den politischen Heilslehren und ebenso vom religiösen Konzept der Heilsgeschichte.2 Blumenberg bestreitet nicht, daß es ohne das Christentum keine Säkularisierung und keine „Neuzeit“ gegeben hätte, aber er verwirft die vordergründige Ableitung der Säkularisierung aus dem christlichen Verständnis von Heilsgeschichte. Die „Neuzeit“ trägt ihre Legitimation in sich selber.
1 Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main 1974, 41. 2 Ebd., 45.
II. Die „Legitimität der Neuzeit“
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2. Die Verklärung der frühen islamischen Geschichte Bevor ich darauf näher eingehe, sei mir ein kurzer vergleichender Blick auf die islamische Geschichte gestattet. Unter hier nicht näher zu erörternden Umständen verfolgte Mohammed in Medina das Ziel, das eine von Allah für richtig befundene Gemeinwesen aufzubauen. Bestehende gesellschaftliche, politische und religiöse Gegebenheiten verloren mit seiner Verkündigung ihre Daseinsberechtigung. Sie waren angesichts dessen, was „Allah und sein Gesandter“ für recht befanden, schlicht unwahr geworden. Das, was nach der christlichen Auffassung von Heilsgeschichte erst am Ende eintreten würde, sollte nach Mohammeds Vorstellung bereits hier und jetzt Wirklichkeit geworden sein: die menschliche Gesellung im Heilszustand. „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je für die Menschen gestiftet wurde“, läßt Mohammed Allah sagen, und weiter: „Ihr gebietet, was recht und billig ist, und verbietet, was tadelnswert ist, und glaubt an Allah!“ (Sure 3, 110). Wenn andere eurem Beispiel folgten, wäre es für sie am besten. „Allah und sein Gesandter“ sind somit unmittelbar für die Geschicke ihrer Gemeinde verantwortlich, und was recht und billig ist, läßt sich nicht aus den Erwägungen der diesseitigen Gegebenheiten ableiten, sondern resultiert aus den Setzungen Mohammeds, für die er die Autorität Allahs in Anspruch nimmt. Wegen der Unmöglichkeit, die Normen rechten Redens und Handelns aus einer kritischen Prüfung der irdischen Verhältnisse abzuleiten, wurde der Tod Mohammeds für die Urgemeinde ein ihre Existenz bedrohendes Problem. Zwar war es angesichts der äußerst günstigen Verhältnisse, die sich den militärischen Erfolgen unter Abū Bakr und ÝUmar verdankten, unbestritten, daß man von einer Fortsetzung des Lebenswerks Mohammeds sprechen konnte. Aber die ab etwa 645 einsetzende rapide Verringerung der zu verteilenden Kriegsbeute und der Tribute, die von den Unterworfenen auf den eroberten Ländereien zu erwirtschaften waren, machten die Frage nach den Einzelbestimmungen einer islamischen Gerechtigkeit dringlich. Die faktische Abwesenheit der durch den Propheten übermittelten göttlichen Rechtleitung ließ die Spekulationen darüber ins Kraut schießen, wie Mohammed verfahren wäre, und insbesondere die Jüngeren unter den Prophetengenossen, diejenigen, die ihn erst während seiner letzten Lebensjahre auf dem Höhepunkt seiner Macht kennengelernt hatten und jetzt im besten Mannesalter waren, behaupteten von sich, darüber ganz genau Bescheid zu wissen. Zwischen ihnen und den alten Auswanderern, die zum Teil schon vor Mohammed nach Medina gekommen waren und nach dessen Tod das Heft in die Hand genommen hatten, bauten sich erhebliche Spannungen auf, denn letztere pochten auf ihre in langer Praxis unter Beweis gestellte Urteilsfähigkeit. Der Erste Bürgerkrieg (656–660) entzündete sich an diesem Konflikt. Sein Ergebnis war, daß mit den Omaijaden ein quraišitischer Klan an
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die Macht gelangte, dessen prominente Vertreter sich spät, nämlich erst bei Mohammeds Einzug in Mekka im Januar 630, dem Islam unterworfen hatten. Sie verstanden es nun, ihr Kalifat wenigstens zum Teil durch die Zusammenarbeit mit einigen Herausragenden unter den jungen Prophetengenossen zu legitimieren.3 Was zunächst wie ein kluger Schachzug aussah, wirkte sich auf die Länge der Zeit jedoch fatal aus. Je weiter man sich von Mohammeds Lebenszeit entfernte und je eifriger man das, was man über ihn zu wissen glaubte, mit der Wirklichkeit zusammenhielt, desto kritischer beurteilte man diese und desto schärfer diagnostizierte man ein – vermeintliches – Versagen der Machthaber: Die Sachwalter der vor allem von den jüngeren Prophetengefährten in Umlauf gesetzten Überlieferung über Mohammeds inzwischen verklärtes Handeln entwanden den Kalifen die Deutungshoheit über das, was als islamische Herrschaft, als islamisches Gemeinwesen, anzusehen sei. Der in der Mitte des 8. Jahrhunderts von den Abbasiden ins Werk gesetzte Umsturz war nicht zuletzt auch ein Versuch, diese Mediatisierung der islamischen Herrschermacht durch die Gesetzesgelehrten aufzuhalten und rückgängig zu machen, ein Versuch übrigens, der scheiterte.4 Der Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Vorgehen der Machthaber und dem verklärten Bild der medinensischen Gemeinde unter Mohammed ist ein Grundmotiv der politischen Geschichte des Islams wie auch der Geschichte der muslimischen politischen Ordnungsvorstellungen. Auf unterschiedliche Weise hat man daran gearbeitet, diesen Widerspruch zu überdecken, und zwar stets so, daß die faktische Herrschaft sich an dem medinensischen Ideal messen lassen muß unter der meist ausdrücklichen Zusage der Herrschenden, alles daranzusetzen, diesem Ideal nahezukommen. Das islamische Denken über Regierung und Regierte wird niemals in ein Erwägen der irdischen Fakten an und für sich selber entlassen. So findet man in einer zum Geburtstag Mohammeds im Jahre 1977 veröffentlichten Sonderbeilage der Zeitschrift „Minbar al-islām“ folgende Ausführungen: „Gestatte mir, Gesandter und Geliebter Allahs, daß ich mich aus Anlaß deines Geburtstags mit einem offenen Wort an dich wende, den von jeder gläubigen Seele Geliebten, die die Sendung des Menschen in diesem Dasein kennt“. Mohammed, so hat ihn der Verfasser der Zeilen beim Studium der Prophetenbiographie (arab.: as-sīra) kennengelernt, liebte seinerseits die Menschen und wandte sich ihnen mit Langmut zu, selbst wenn sie ungläubig waren. 3 Diese Vorgänge beschreibe ich ausführlich in den Kapiteln VI bis VIII meines 2008 erschienenen Buches Mohammed. Leben und Legende. 4 Hierzu ist zu vergleichen T. Nagel: Verstehen oder nachahmen? Grundtypen der muslimischen Erinnerung an Mohammed, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2006, München, 73–94 und meine ebenfalls 2008 erschienene Studie Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens.
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Mohammeds Erbarmen war grenzenlos; nur so vermochte er die Menschen an sich zu binden, und wenn er einen Entschluß faßte, dann stets im Vertrauen auf Allah und nicht nach eigenem Bestreben (Sure 3, 159). „Die Verwirklichung der idealen Gesellschaft oder Utopias war der Traum der Philosophen und Denker, o Gesandter Allahs, seit alters her. Platon träumte ihn ein Jahrtausend vor deiner Geburt, dann Thomas Morus und andere Autoren, die im 16. Jahrhundert nach Christus, fast tausend Jahre nach dir, hervortraten. Doch keiner von ihnen allen und den anderen, die von dieser Gesellschaft träumten, verwirklichte ihn, nicht einmal in der Phantasie. Denn sie blickten auf den Menschen nicht wie auf einen Menschen“ – der unmittelbar zu Allah ist und daher nicht analysiert werden kann – „sondern unter der Prämisse, daß er ein vergesellschaftetes Lebewesen sei“ – der Verfasser spielt auf den griechischen Begriff des zōon politikon an – „ein vergesellschaftetes Lebewesen, das von einer Anzahl von Instinkten bewegt und gelenkt wird und dessen Bedürfnisse dementsprechend aus einer Anzahl wirtschaftlicher Belange bestehen, die ihm Speise und Trank, Kleidung und Wohnung und ein gewisses Maß an Sicherheit gewährleisten.“5 Kurz gesagt, dank Mohammed und der Unberührtheit seiner Anordnungen von allem Diesseitigen wurde aus der Utopie der Philosophen die Realität – des vergangenen Medina und der islamischen Welt von morgen. 3. Geschlossene gegen offene Fortschrittsidee Eine inhaltlich offene Fortschrittsidee kennt man im islamischen Denken mithin nicht; denn das Ziel ist bereits vorgegeben: In den autoritativen Texten, im Koran und im Hadith, ist es nach muslimischer Auffassung bereits vollständig dargelegt worden, da ja diese beiden Quellen Mohammeds Wirken in Medina umfassend beschreiben. Die Frage, ob diese Annahme einer historisch-kritischen Untersuchung standhielte oder nicht, genauer: ob tatsächlich eine ungebrochene Weitergabe dieses „Wissens“ über die Urgemeinde stattgefunden hat, ist in unserem Zusammenhang ohne Belang. Wichtig ist uns allein die Überzeugung der Muslime, daß dies der Fall sei, desgleichen, daß dieses Wissen, da der Inhalt göttlichen Ursprungs sei, eine übergeschichtliche Wahrheit darstelle, deren Gültigkeit durch den Wandel der Zeiten und der Lebensumstände gar nicht angefochten werden könne. Zu unterstreichen ist ferner, daß die vollkommene Kenntnis dieses Wissens den Überlieferungs- und Schariagelehrten vorbehalten ist, die sich in der islamischen Geschichte auf unterschiedliche Weise mit den Machthabern verbanden. Die Gelehrten sind es, die den Herrschern, aber auch den einfachen Muslimen in allen erdenklichen Lebenssituationen mitteilen, was sie 5 Minbar
al-islām, Sonderbeilage März 1977, 11 f.
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gemäß dem, was man von Mohammed und der Urgemeinde weiß, zu tun und zu lassen haben, um die Anwartschaft auf das Paradies zu festigen. Hinzuzufügen ist, daß die Anweisungen, die den Muslimen im Hinblick auf jenes überzeitliche Wissen zuteil werden, stets unter der Voraussetzung erfolgen, daß das Diesseits, obzwar es gemäß den göttlichen Geboten zu vervollkommnen ist, das „Gebiet des Vergehens“ (arab.: dār al-fanāÞ ) sei und deswegen nicht der eigentliche Ort menschlichen Bestrebens, sondern lediglich die Durchgangsstation auf dem Weg zum „Gebiet der Dauer“ (arab.: dār al-baqāÞ ). In den letzten Jahrzehnten ist nun zu beobachten, wie im Zuge der Rückbesinnung auf das eigene, das muslimische Erbe diese Perspektive schwindet. Allgegenwärtig ist die Parole: „Der Islam ist die Lösung!“ Sie meint nicht: die Lösung für die Frage nach der Sicherstellung eines glückhaften Jenseits, was ja nur die Wiederholung einer altbekannten und nie bestrittenen Überzeugung wäre, sondern für ein glückhaftes Diesseits. Anders gesagt, der in die Zukunft gerichtete Grundzug der neuzeitlichen europäischen Kultur wird übernommen; zugleich aber wird er seiner Offenheit beraubt, denn die islamische Zukunft hat ja im Medina des Propheten bereits stattgefunden, und es kann nur darum gehen, sie zu wiederholen. Ein mustergültiges Zeugnis für diese Art neuislamischen Denkens bietet das in den 90er Jahren in London herausgegebene vielbändige Werk „Muhammad. Encyclopedia of Seerah“ (d. i. as-sīra, Biographie des Propheten), dessen erklärtes Ziel es ist, Mohammed als den großen Heilsbringer des Diesseits zu zeichnen. Ihm verdankt man, wenn man den Verfassern Glauben schenkt, allen zivilisatorischen und gesellschaftlichen Fortschritt; er war der große, entscheidende Anreger der Wissenschaften, von der Chemie bis zur Archäologie, er war derjenige, der in sich alle Merkmale der das diesseitige Zusammenleben der Menschen erst eigentlich ermöglichenden Ethik vereinigte. Mohammed wird hier gewissermaßen zum Gründungsvater einer den europäischen politischen Heilslehren des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbaren Ideologie umgedeutet. Der Jenseitsbezug des Islams wird nur noch zu dem Zweck herangezogen, den Westen als gottlos und materialistisch zu verunglimpfen. Die Kennerschaft des diesseitsbezogenen Heilswissens manifestiert sich freilich zu allererst in einer radikalen Wendung gegen die bestehenden Regierungen in der islamischen Welt, in Aktivitäten, die bis hin zu terroristischen Anschlägen reichen. Bevor ich auf den Islam zurückkomme, ist es nötig, einiges über die Entstehung der zukunftsoffenen europäischen Fortschrittsidee zu sagen. Sie nährt sich aus zwei Wurzeln, die miteinander verwachsen sind. Die eine ist in der Erschütterung und Verstörung über die Erkenntnis zu sehen, daß Gottes Schöpfung keineswegs endlich und überschaubar ist, sondern sich im Grenzenlosen verliert. Angesichts dieser Erkenntnis, die in dem Augenblick
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zur Gewißheit wurde, als man im 16. Jahrhundert mit dem Fernrohr in die Weiten des Alls hinauszuspähen begann, geriet die These von der Einzigartigkeit des Menschen in einer auf ihn ausgerichteten Welt in den Geruch der Absurdität. Nicht, daß man Gott geleugnet hätte, war eine der beklemmenden Konsequenzen dieses neuen Kosmos, in dem diese Erde und die Menschen auf ihr zu einer Marginalie herabgewürdigt wurden. Gott, der Schöpfer, erschien, wenn man die unfaßbare Größe seines Werkes erwog, viel zu gewaltig, als daß er sich des Menschen annehmen könnte. Gar daß er sich um des Heils des Menschen willen selbst geopfert haben sollte, hielt der Dominikaner Giordano Bruno, der unbeirrbare Künder der neuen Unendlichkeit, für eine unsinnige Mißachtung dessen, was das Universum, nüchtern betrachtet, darstellte. Die Lehre von der Vielheit der Welten solle er widerrufen, verlangte die Kirche von ihm, klar erkennend, daß ihre Heilsbotschaft und damit ihre Daseinsberechtigung in Gefahr gerieten. Als Bruno im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen gefesselt war, hielt man ihm, wie erzählt wird, zur letzten Gelegenheit der Heilssicherung den Kruzifixus entgegen, er aber soll sich abgewandt haben.6 Die unfaßliche Erniedrigung des Menschen geschah jedoch, als mit seiner unerhörten Selbsterhöhung bereits die zweite Voraussetzung für die Idee des offenen Zukunftshorizontes gegeben war; ja, die Erniedrigung, so kann man sagen, brachte die Selbsterhöhung erst eigentlich zur Geltung. Deren wesentliche Momente lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Für Augustinus (354–430) war, wie er in „De civitate Dei“ darlegte, die irdische Geschichte von ihrem Ausgangs- und ihrem Endpunkt her zu betrachten; der Sündenfall und die Erlösung waren die wesentlichen Geschehnisse, von denen aus alles in den Blick zu nehmen und zu werten war. In Sonderheit das Ziel, die Erlösung, hatte alles Irdische zu bestimmen, nur der Verfolgung dieses Zieles hatte es zu dienen. Im 15. und 16. Jahrhundert brach sich jedoch die Vorstellung Bahn, daß das Irdische an sich eine ihm eigene Würde besitzt und daher auch ohne eine stetige Rechtfertigung durch das Ziel die Kräfte und das Planen des Menschen beanspruchen darf. 2. Der Mensch selber wird als ein Schöpfer begriffen. Die Welt ist ihm nicht durch Gott gegeben, um die Lebensfristung sicherzustellen – wie dies das islamische Konzept des rizq besagt7 –, sondern sie ist durch Gott geschaffen worden, damit der Mensch selber sie sich in einem zweiten, 6 Hans Blumenberg: Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit, Frankfurt am Main 1981, 438. 7 Das Wort bedeutet „Lebensunterhalt“ im weitesten Sinn; dieser wird durch Allah einem jeden Menschen in einem vor aller Zeit festgelegten Maß zugeteilt (vgl. z. B. Sure 30, 40 und T. Nagel: Der Koran. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 1983, 172–184).
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ununterbrochen fortdauernden Schöpfungsakt aneigne. „Welt“ heißt demgemäß das durch den Menschen zu Nutz und Frommen seines irdischen Daseins Gestaltete. Insofern wird der Mensch zum von Gott berufenen „Repräsentanten des Alls“, wie Cassirer (1874–1945) in seiner Studie „Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“ schreibt. Schon bei Cusanus (1401–1464), hebt Cassirer hervor, erscheine der Mensch „als das Band der Welt – nicht nur, weil er alle Elemente des Kosmos in sich vereinigt, sondern weil sich in ihm gewissermaßen das religiöse Schicksal des Kosmos entscheidet … Die Erlösung des Menschen bedeutet also nicht seine Loslösung von der Welt, die selbst als die schlechthin niedere sinn liche Sphäre liegenbliebe – sondern sie erstreckt sich nunmehr auf das Ganze des Seins“.8 3. In der auf die Erlösung zulaufenden Geschichte ist die von Gott geschaffene Welt daher nicht das fertig Gestaltete, sie ist das, was zu gestalten ist, und alle Vernunft des Menschen hat sich der Aufgabe der Gestaltung zuzuwenden. „O Erforscher der Dinge, rühme dich nicht des Wissens um die Dinge, die die Natur in ihrem gewöhnlichen Lauf hervorbringt: sondern freue dich, das Ziel und Ende der Dinge zu kennen, die von deinem Geist entworfen sind“.9 Mit diesen Sätzen verleiht Leonardo da Vinci (1459– 1519) der neuen Sicht auf Mensch und Welt Ausdruck. 4. Marsilio Ficino (1433–1499), als Lehrer an der von Cosimo Medici gestifteten Platonischen Akademie in Florenz tätig, löste den Geist des Menschen kühn aus dem von der Heilsgeschichte gesteckten Rahmen: Das Wissen von der Zeit und ihrem unendlichen Fortgang und die Schaffung der festen Maßeinheiten heben den Geist über die Zeit hinaus, wie auch der Wille des Menschen über alle „endlichen Zwecksetzungen hinausgreift. Wenn alles natürliche Dasein und Leben sich in einem bestimmten Kreise befriedigt, wenn es in einem erreichten Zustand verharren will, so erscheint dem Menschen alles Erreichte geringfügig, solange es noch irgendetwas zu erwerben gibt.“ Dies die Worte Cassirers.10 4. Formen der Selbstbehauptung gegen religiöse Autorität Bei Giordano Bruno werden diese Vorstellungen zu einer ungekannten Selbstbehauptung des Ichs umgeformt. Gott ist, wie sein unendliches Schöpfungswerk bezeugt, über alles menschliche Fassungsvermögen hinaus gewaltig. Es gibt die von der Kirche verwaltete Möglichkeit, ihn auf schon 8 Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 4. Auflage, Darmstadt 1987, 68. 9 Ebd., 71 f. 10 Ebd., 74 f.
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seit Jahrhunderten gebahnten Wegen zu erkennen, und es mag sein, daß derjenige, der sich die Erkenntnis Gottes auf ebendiesen Wegen verschafft, in den Besitz eines unübertrefflichen Wissens gelangt. Die durch Gott im Menschen angelegte humanitas verwirklicht aber nur derjenige, der sich selber zur Suche nach dem Göttlichen aufschwingt. „Die erstgenannten sind verehrungswürdig wie der Esel, der die Hostien trägt; die zweiten wie die, die selber etwas Heiliges sind. In den erstgenannten wird das Göttliche in seinem Wirken sichtbar und es wird bewundert, angebetet, und man gehorcht ihm; in den zweiten zeigt sich das herausragende Wesen der humanitas selbst“.11 Werfen wir nun wieder einen Blick hinüber in die islamische Welt, und zwar zunächst in jene der Jahrhunderte der europäischen Renaissance. Auch dort war die Frage nach den Möglichkeiten des Menschen nach eigener Bestimmung seines Weges durch das Diesseits heftig umstritten. Es ging aber nicht um die Bestimmung seines Weges in einem aus dem unmittelbaren Jenseitsbezug herausgerückten Diesseits und erst recht nicht um dessen schöpferische Gestaltung. Was vielmehr zur Debatte stand, war die uneingeschränkte Autorität der überlieferten Texte, aus der die Masse der Schariagelehrten ihrerseits ihre unangreifbare Autorität zur Festlegung und Wahrung der Normen der islamischen Gesellschaft ableiteten. Ibn ÝArabī (gest. 1240), der sich als den Vollender der islamischen Heilsbotschaft begriff, hatte nämlich verkündet, daß in Übereinstimmung mit Sure 51, Vers 56, jegliche Kreatur von Allah nur zu dem einen Zweck geschaffen werde, ihm zu dienen, und jede Kreatur erfülle diesen Dienst, indem sie ihre irdische Existenz so durchlebe, wie sie sie nun einmal durchlebe. Was immer an ihr in Erscheinung trete an Worten und Taten, entspreche dem göttlichen Lenken; denn „kein Tier“ – und Ibn ÝArabī legt das an dieser Stelle gebrauchte Wort dābba im Sinne von „Lebewesen“ aus – kein Lebewesen „gibt es, das nicht durch Allah beim Schopfe gehalten würde!“ (Sure 11, 56). Diese Verheißung aus Sure 11, zusammen mit der in Sure 51 genannten göttlichen Zwecksetzung der Schöpfung, bildet laut Ibn ÝArabī den Kern der islamischen Heilsbotschaft. Mit anderen Worten, Ibn ÝArabī radikalisiert und unterläuft zur gleichen Zeit die Lehre von der Vorherbestimmung. Denn der einzelne könnte ja auch für die Verdammnis prädestiniert sein. Ibn ÝArabī nimmt der Vorherbestimmung jedoch den in einer solchen Drohung liegenden Stachel: Alle Kreatur wird von Allah am Schopfe gehalten, ist unmittelbar zu ihm – ist mithin ein Teil der göttlichen Selbstentäußerung, mit der der Eine sich selber Rechenschaft von seiner Schöpfermacht gibt, Teil auch seines Gesetzeswortes, dessen Wahrheit nur aus dem Kontrast, aus der gesetzeswidrigen Handlung heraus offensichtlich 11 Ebd.,
103.
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werden kann. Das von Allah bestimmte Sein und das ebenfalls von ihm in Form der Scharia festgelegte Seinsollen kommen im Einzelfall nicht immer zur Deckung, aber das ist kein Grund zur Angst um das Jenseitsheil: Auch die Verfehlung, ja gerade sie ist Dienst an Allah im Sinne von Sure 51, Vers 56; sie entspricht dem je individuell aufgefaßten „geraden Weg“, auf dem sich Allah mit den Geschöpfen laut Sure 11, Vers 56 befindet. Der „gerade Weg“ ist nach Ibn ÝArabī für jedes der unmittelbar durch Allah gehaltenen Geschöpfe ein anderer. „Für jeden von euch haben wir einen Weg und einen Pfad gebahnt!“ versichert Allah in Sure 5, Vers 48. Indem jede Kreatur sich gemäß der ihr zugedachten „Geradheit“ verhält, kommt der von Allah in jedem Augenblick seines Schöpfungshandelns vorgesehene Kosmos zustande. Die Scharia ist demnach die Voraussetzung für die Wahrnehmung des Unvollkommenen, Fehlerhaften. Sie ist aber nicht die Grundlage einer Ahndung dieses Fehlerhaften, sondern, wie gesagt, der Erkenntnis des Fehlerhaften, die wiederum der Erkenntnis der Gesetzgebereigenschaft Allahs dient – sei es, daß der Mensch sie erkennt, sei es, daß Allah selber sich in ihr erfährt.12 Dies bedeutet jedoch, daß das existentielle Gewicht der Befolgung der in den autoritativen Texten enthaltenen Normen außerordentlich verringert und damit auch die Stellung der Schariafachleute in der Gesellschaft angetastet wird. Das schauende Wahrnehmen der in jedem Augenblick von Allah gewirkten „Geradheit“ beansprucht den Vorrang vor der auf Texte konzentrierten Arbeit der Gelehrten, die, wie Ibn ÝArabī meinte, sich mit den Aussagen Toter abmühen. Die Nachwirkungen dieser Gedanken hielten äußerst lange an. Im 16. Jahrhundert berief sich aš-ŠaÝrānī (gest. 1565) auf ihn. Wie schon vor ihm as-SujūÔī (gest. 1505), behauptete er, dank seinen Fähigkeiten, Einblick in das Verborgene zu nehmen und dort zu erkennen, worauf Allahs angebliches Bestimmen abziele; somit sei er zum „absoluten iÊ tihād“ berufen, dürfe mithin unabhängig von den jeweiligen Traditionen einer jeden der vier Rechtsschulen entscheiden, wie bestimmte schariatische Normen aufzufassen seien. In Erfüllung dieser Berufung schuf er schariarechtliche Abhandlungen, die darlegten, daß jeder Muslim nicht die Normen gemäß der einen oder anderen Schule zu befolgen habe, sondern stets in Ansehung seiner eigenen Leistungsfähigkeit. Denn wenn auch die Normen in einem bestimmten Fall je nach Schule sehr unterschiedlich ausfielen – worüber die Fachgelehrten stritten, indem sie je für sich allein die Wahrheit beanspruchten –, so waren alle diese Normen nebeneinander 12 Tilman Nagel: Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002, 446–494. Die sunnitische Lehre von der „Abschlußhandlung“ und vom bloßen Zeichencharakter der schariatischen Bestimmungen (vgl. Nagel: Festung des Glaubens, 110) findet in der Lehre Ibn ÝArabīs ihre eigentliche islamische Begründung.
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wahr, trotz aller Widersprüchlichkeit. Es handle sich in Wirklichkeit nur um unterschiedliche Stufen der Belastung, und der Stärkere solle eine schwerere auf sich nehmen, womit er, um an Ibn ÝArabī zu erinnern, die ihm zugedachte Geradheit erreicht.13 Bis in die Gegenwart hinein tobt in der islamischen Welt der Kampf zwischen den Verfechtern der Textgelehrsamkeit und jenen Gelehrten, die eine auf die jeweilige Wirklichkeit bezogene Auslegung der schariatischen Grundlagen der islamischen Gesellschaft befürworten. Im 16. Jahrhundert sah es so aus, als könnten diese die Oberhand gewinnen, da die osmanischen Sultane mit ihnen sympathisierten. Ein Sieg dieser Richtung hätte dem Sultanat ein höheres Maß an Gesetzgebungskompetenz eingeräumt, ohne daß die islamische Legitimität dieser Gesetze hätte in Frage gestellt werden können. Problematisch war allerdings, daß diese – sagen wir es in verkürzender Formulierung – „wirklichkeitsbezogene“ Auslegung des Islams untrennbar mit einer weltentsagenden Spiritualität verbunden war, der es nicht darum zu tun war, das Diesseits zu gestalten, sondern, im Bewußtsein der „Geradheit“ auf Allah schauend und sein Bestimmen hinnehmend, zu durchwandern. Die sufischen Orden, die diese Spiritualität pflegten, bildeten im Osmanischen Reich zwar einen wesentlichen Machtfaktor, ihre Mitglieder strebten aber mitnichten nach der Selbstbehauptung des Menschen in einer Welt, aus der, wie im Europa der Renaissance, Gott sich in unerreichbare Ferne zurückzog und die deswegen dem Menschen als dem zweiten Schöpfer anheimgegeben war. 5. Verzicht auf ewige, endgültige Wahrheit Damit komme ich am Schluß wieder zu Blumenbergs Begriff der „Legitimität der Neuzeit“. Angesichts des Schöpfertums, das der Mensch Tag für Tag gegen die unfaßbare Gottheit auf diesem Erdball, einem winzigen Punkt im unermeßlich weiten All, zur Geltung bringt, hat er sein Tun und Lassen im einzelnen nicht vor einem Gott zu rechtfertigen, der ihm in dieser Hinsicht mit vermeintlich überzeitlichen Regelungen ins Handwerk pfuscht. Das ist die Grunderfahrung, aus der heraus die europäische säkularisierte Gesellschaft ihre Schaffenskraft gewinnt, deren Errungenschaften auf der ganzen Erde begehrt werden. Auf den Begriff gebracht und durchdacht wird diese Grunderfahrung in der sogenannten Aufklärung. Sie haben wir zu verstehen als die Selbstverständigung des Menschen über seine Möglichkeiten und seine Grenzen. Sich hierüber Klarheit zu verschaffen, gelingt dem Menschen eben nicht aus der Geborgenheit in einer fremdbestimmten reli13 In einer im Manuskript abgeschlossenen umfangreichen Studie über aš-ŠaÝrānī, die ich in Kürze zu veröffentlichen hoffe, gehe ich ausführlich auf dieses Thema ein.
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giösen Botschaft heraus, sondern in der ganz selbstverantworteten Erörterung seiner Befindlichkeit in dieser Welt. Der Prozeß der Selbstverständigung führt nicht zu endgültigen Ergebnissen, nicht zu letzten Wahrheiten. Diese sind, so formuliert es der durch die Aufklärung hindurchgegangene Mensch mit Lessing, Gott vorbehalten. Welche Aufgabe kann nun die Religion im „aufgeklärten“ Denken und im säkularisierten Gemeinwesen erfüllen, ja sollte sie übernehmen? Sicher nicht diejenige der Lieferantin fertiger Verhaltensnormen, wie die meisten Muslime es meinen. Die Aufgabe der Vernunft liegt ja gerade darin, die aus der Vergangenheit ererbten Normen kritisch zu prüfen und nötigenfalls zu ändern. „Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen“, sagt Goethe in den „Maximen und Reflexionen“.14 „Jene bekümmert sich nicht: wozu? – dieser fragt nicht: woher? – Sie erfreut sich am Entwickeln. Er“ – d. h. der Verstand, dessen arabische Entsprechung al-‛aql ein Fesseln, Festhalten meint – „wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne.“ Das Richtmaß bei diesem Prüfen und Verändern ist keine dank einer bestimmten Religionszugehörigkeit, sondern allein die dank dem Menschsein an sich gegebene Würde. Die vor allem im sunnitischen Islam dem Verstand angesonnene Funktion, den Menschen im Gehorsam gegen Allah festzuhalten, ist hiermit allenfalls partiell zu vereinbaren. Die durch den Menschen im Ausspielen seiner Rolle als des eigenverantwortlichen Gestalters des Diesseits geprägte Neuzeit trägt ihre Legitimität in sich selber; das folgt aus dem, was vorher gesagt wurde. Ein Rückgang hinter die in dieser Erfahrung und im Streben nach Erweiterung des dem Menschen Möglichen und Zuträglichen geschaffene Zivilisation ist nicht zu erwarten und würde von ihren Schöpfern und Erhaltern auch nicht zugestanden. Mit anderen Worten, Medina und das Arabien des frühen 7. Jahrhunderts sind nicht nur kein Zukunftsmodell; sie weisen auch in Ansätzen keine Kompatibilität mit den Fragen auf, die das europäische Denken seit dem 18. Jahrhundert beschäftigen. Das vielbändige Werk „Muhammad. Encyclopaedia of Seerah“ bietet ein beklemmendes Beispiel hierfür. Zwar behaupten ihre Autoren unentwegt, Mohammed habe bereits alle Probleme des Diesseits gelöst, und sie versichern, der Prophet habe nicht nur ein neues, das endgültig wahre, Menschentum gestiftet und sei auf allen Gebieten der humanitas der Vorreiter gewesen, von der Archäologie bis zur Mathematik. Aber kein einziges Beispiel findet sich dafür, daß die Verfasser sich tatsächlich mit einem dieser Wissensgebiete abgemüht, den letzten Stand erkundet und dann dargelegt hätten, worin denn nun der wegweisende Beitrag Mohammeds zu erkennen sei. Es handelt sich vielmehr um zahllose Prophetenhadithe und ähnliches Material aus 14 Hamburger
Ausgabe in 14 Bänden, Bd. XII, 438, Nr. 538.
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den autoritativen Texten des Islams, deren Beziehungslosigkeit zu den heutigen Problemen und Methoden der jeweiligen Wissensgebiete auf der Hand liegt. Und anders kann es ja auch gar nicht sein – nahezu vierzehn Jahrhunderte trennen uns von Mohammed! Und das, was man damals auf dem Weg über die Religion, über die Offenbarung zu lösen hoffte, ist ihr im Europa der Neuzeit ein für allemal entwunden worden. Einen Weg zurück in die Geborgenheit des Offenbarten gibt es nicht, wie bedeutende Denker des Islams im 20. Jahrhundert erkannten: Eine zerstörerische Neuauslegung sei vonnöten, erklärte beispielsweise Amīn al-Ëūlī (gest. 1966).15 Gibt es also für die Religion, die offenbarte zumal, gar keinen Platz in der ihre Legitimität in sich selber tragenden Neuzeit? Diese Position ist in der Tat vertreten worden, und sie ist im Kontext der schöpferischen humanitas auch nicht schlüssig zu widerlegen. Erinnern wir uns aber an Giordano Bruno! Die Unendlichkeit der Welt bedeutet zuletzt auch ihre Unverfügbarkeit – Unverfügbarkeit zunächst als Bühne für das von der Kirche gelehrte Erlösungsdrama, dann aber auch als Raum der schöpferischen humanitas. Das Leid wird durch letztere niemals ganz aufgehoben. In ihm tritt dem Menschen das ihm schlechthin Überlegene entgegen. Auch in anderen Momenten menschlicher Existenz hat man das Unverfügbare verspürt und begrifflich zu klären versucht. 6. Religion im Zeitalter fehlender endgültiger Wahrheit Die Aufgaben der Kirchen, der institutionalisierten Religion, sind demnach in der säkularisierten Welt keineswegs verschwunden. Sie bestehen aber nicht, ich wiederhole es, im Verkünden ewiger Normen, nach denen Staat und Gesellschaft „funktionieren“ sollen; sie bestehen vielmehr in der Versittlichung der der Veränderbarkeit unterliegenden Gesetze, wie sie Paulus in der eingangs zitierten Stelle im Römerbrief (Röm 13, 1–10) andeutet. An dieser Versittlichung mitzuarbeiten, sind aber auch die Atheisten und die Bekenner anderer Religionen aufgerufen, seien sie organisiert oder nicht – sofern sie nur Rechtsgenossen der jeweiligen Verfassung sind. Die Legislative und die Kräfte der – sagen wir der Einfachheit halber – nicht in Paragraphen zu fassenden Versittlichung wirken gemeinsam, indem beide auf die vollständige Durchsetzung der ihnen je eigenen Belange verzichten. Ich habe den Eindruck, daß die Notwendigkeit und der Sinn dieses auf beiden Seiten zu leistenden Verzichts von den Wortführern der muslimischen Verbände nicht hinreichend verstanden und anerkannt werden. 15 Nasr Hamed Abu Zeid: Heaven, which way?, in: Al-Ahram Weekly Online Nr. 603, 12–18, September 2002.
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Ich will zum Abschluß, um ein Beispiel für den neuzeitlichen, der absoluten Geltung und der unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Wirksamkeit entsagenden Zugang zum Transzendenten zu nennen, auf Karl Jaspers (1883–1969) verweisen. Die Welt ist ihm das Ungeschlossene; sie ist nicht auf ein einziges Prinzip zu bringen.16 Wahre Aufklärung ist daher die Aufklärung des Menschen über seine Grenzen und über das, was jenseits dieser Grenzen seinem Zugriff verwehrt bleibt. Diese Grenzen sind aber nicht statisch, lassen sich also nicht aus einer theologischen Definition des Verhältnisses zwischen Gott und Welt ableiten. „Alles, was uns Gegenstand wird, und sei es das Größte, ist doch für uns stets noch in einem Anderen, ist nicht alles. Wohin wir auch kommen, der Horizont, der das Erreichte einschließt, geht weiter und zwingt, jedes endgültige Verweilen aufzugeben … Nun aber leben und denken wir doch jederzeit in einem Horizont. Dadurch, daß ein Horizont ist, sich also ständig ein Weiteres ankündigt, das den gewonnenen Horizont weiter umgreift, entsteht die Frage nach diesem Umgreifenden. Das Umgreifende ist noch nicht der Horizont, in dem uns jede bestimmte Weise des Wirklichen und des Wahrseins vorkommt, sondern das, worin jeder einzelne Horizont als in dem schlechthin Umfassenden, das nicht mehr als Horizont sichtbar wird, beschlossen ist“.17 Des Umgreifenden innezuwerden, ist ein je individueller Akt; er kann, muß aber nicht, mit Zügen positiver Religion verknüpft werden. Der Kampf um eine feste Grenze, an der die Welt und das Transzendente aneinanderstoßen, ist in Jaspers’ Augen ein Kampf gegen die Aufklärung und ein Ringen um die Fixierung einer fürs erste rettenden Scheinordnung. „Es gibt einen Drang der Glaubenslosigkeit, der Glauben will und ihn sich einredet. Und der Machtwille meint die Menschen gefügiger zu machen, je mehr sie in blindem Gehorsam der Autorität folgen, die ein Mittel dieser Macht wird.“ Im Erleben des Umgreifenden, das sich der Dogmatisierung entzieht, erkennt Jaspers die Wahrheit und den Ursprung der, wie er sagt, „biblischen Religion“. Deren Ursprung und Wahrheit „sind lebendig in der echten Aufklärung, werden von der Philosophie erhellt, die vielleicht teilnimmt an der Ermöglichung der Bewahrung dieser Gehalte für das Menschsein in der neuen technischen Welt.“18 Jaspers ist nur ein Beispiel für die Einbeziehung des Religiösen in das Weltverständnis der Neuzeit. Andere könnten den um ein Verständnis Europas und seiner neuzeitlichen Kultur bemühten Muslimen ebenfalls empfoh16 Karl
Jaspers: Was ist Philosophie?, München 1980, 78. in: Geschichte der Philosophie, Band XIII: Rainer Thurnher/Wolfgang Röd/Heinrich Schmidinger: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. 3. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, München 2002, 176. 18 Jaspers, 85. 17 Zitiert
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len werden. Über ein Werk wie die „Encyclopaedia of Seerah“ führt kein Weg zu einer fruchtbaren Teilhabe an ihr. Das ist, so hoffe ich, deutlich geworden. Wer meint, er verfüge mit Gewißheit über eine von Allah selber stammende Lösung für die Probleme dieser Welt, wird in dem geistigen Kosmos, den wir Europa nennen, niemals heimisch werden.
C. Der Islam und der säkulare Staat – Grundlinien eines Konflikts Einführung 1. Islam und Politik Häufig berichten Presse und Fernsehen über politisch motivierte Untaten und Terrorakte, die von Muslimen begangen werden, meistens in der islamischen Welt, jedoch auch in Europa oder Nordamerika. Die Kommentierung der Geschehnisse durch die politisch-mediale Klasse folgt in der Regel zwei eingefahrenen Mustern: Erstens seien das Elend der Massen in den islamischen Ländern und die Perspektivlosigkeit einer im Durchschnitt sehr jungen Bevölkerung die wesentlichen Ursachen für jene Verbrechen – mit dem Islam hätten sie nichts zu tun, was schon aus der Tatsache erhelle, daß Muslime die Mehrzahl der Opfer ausmachten. Zweitens sei das Elend durch die verfehlte Politik des Kolonialismus verschuldet worden, deren Folgen nach wie vor spürbar seien und durch vermehrte Hilfs- und Aufbauleistungen des Westens gemildert werden müßten. Die beiden Erklärungsmuster sind abzuwandeln, wenn sich wie bei den Anschlägen des 11. Septembers 2001 herausstellen sollte, daß die Täter keineswegs zu den Verarmten und Entrechteten gehörten: Man überspringt den Hinweis auf die Massenarmut und konzentriert sich ganz auf die Exkulpierung des Islams; dieser sei nämlich eine durch und durch friedfertige Religion.1 Die Täter seien jedoch der Ideologie des Islamismus erlegen, des Einsatzes des islamischen Glaubens zu politischen Zwecken. Diese Ideologie sei streng vom Islam an sich zu unterscheiden, der die gottgegebene Ordnung des harmonischen Zusammen1 „Islam bedeutet Frieden“, behauptet beispielsweise Aiman A. Mazyeck in einer wohl als Aufklärungsschrift über den Islam gedachten und aus Steuermitteln finanzierten Publikation des Deutschen Kulturrats „Islam. Kultur. Politik“ (Januar– Februar 2011, S. 4). Da diese allein schon sprachlich unhaltbare Behauptung in dem Dossier nirgends richtiggestellt wird, muß man dieses zumindest in Teilen als ein Dokument der Desinformation betrachten. Ungeniert schreibt Mazyeck dort in anderem Zusammenhang (S. 36): „Der Islam mit seiner 1400-jährigen Geschichte belegt ja nur allzu deutlich, dass er friedliche Absichten hat, niemand kann das leugnen.“ Vergleichbare Versicherungen kennt man von den Verfechtern eines anderen Gedankengebäudes mit totalem Geltungsanspruch, des Marxismus-Leninismus: Sobald dieser die ganze Welt erobert haben wird, wird sein (Friedhofs-)Friede herrschen.
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lebens aller Menschen sei. Bisweilen wird dieser Behauptung noch der Satz hinzugefügt, erst die Kreuzfahrer hätten die Muslime genötigt, ihrer Religion einen kämpferischen, politischen Zug beizulegen, der jedoch der Not geschuldet und dem Islam eigentlich fremd sei. Der politisch korrekte Nichtmuslim fühlt sich angesichts solcher Aussagen zutiefst beschämt. Wie hatte ihm nur in den Sinn kommen können, daß im Namen dieser Religion schauderhafte, brutale Mordanschläge verübt würden? Zwar mag ihm einfallen, daß bei anderer Gelegenheit seine muslimischen Gesprächspartner hervorgehoben hatten, im Islam seien Religion und Politik bzw. Machtausübung nicht voneinander zu trennen, was ein unschätzbarer Vorzug gegenüber dem Christentum sei. Auch hatte man ihm versichert, daß die Wahrheit des Islams zweifelsfrei aus den durch Allah gewirkten Triumphen der muslimischen Heere folge (vgl. Sure 8, 7 f.).2 Aber diese Aussagen waren sicher irgendwie anders gemeint gewesen, und schließlich will man sich ja nicht dem Vorwurf des Essentialismus aussetzen, indem man dem muslimischen Gesprächspartner die Stimmigkeit seiner Aussagen abverlangt. Mag also die Entwicklungshilfe vermehrt werden, und mag man die „Migranten“ durch weitere Unterstützungsmaßnahmen fördern! Muslime, die hier in der „Diaspora“ ihre Religion mißverstehen, nämlich als eine politische Ideologie, können durch den Verfassungsschutz überwacht werden, und alles ist gut. Was aber, wenn die Maßnahmen nicht die erhoffte Wirkung zeigen? Wenn bei muslimischen Einwanderern der zweiten und dritten Generation die Ablehnung des säkularen Gemeinwesens zunimmt anstatt zu schwinden? Anderswo gibt man sich mit den erwähnten beiden Erklärungsmustern nicht mehr zufrieden; die Frage, ob sie wohl ausreichen, um eine für die nichtmuslimische Gesellschaft und den säkularen Staat tragbare Politik des Umgangs mit dem Islam zu formulieren, ist so dringlich geworden, daß man nicht umhinkommt, prüfende Blicke auf seine Geschichte und auf seine Lehren zu richten. „Der endogene Radikalismus im Islam“ überschrieb der russische Politologe und Islamwissenschaftler Aleksandr Ignatenko einen Aufsatz, der, wie der Titel andeutet, einen anderen Zugang zur politi2 In Sure 8, die nach Mohammeds Sieg bei Badr entstand (Tilman Nagel: Mohammed. Leben und Legende, 316–322; ders.: Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime, 123–125), zitiert Mohammed an dieser Stelle sich selber: In der in Mekka abgefaßten Sure 10, Vers 82 heißt es, Allah verhelfe durch seine Worte der Wahrheit zum Sieg, selbst wenn dies den Verbrechern mißfalle. Ebendiese Wendung greift Mohammed in Sure 8, Vers 8 auf, verknüpft sie aber mit dem Kriegsgeschehen (Vers 7) und formuliert dann, Allah habe durch seine Worte der Wahrheit zum Sieg verhelfen und „die Andersgläubigen ausrotten“ wollen, selbst wenn dies den Verbrechern mißfalle. Es wird deutlich, wie Mohammed in Medina sich seine Kriegspolitik durch Allah legitimieren läßt. Vgl. ferner Abschnitt B., Text I.
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schen Gedankenwelt heutiger Muslime sucht. Ignatenko richtet dabei sein Augenmerk natürlich in erster Linie auf den Nordkaukasus mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, bezieht seine Ausführungen jedoch auch auf andere Länder wie Großbritannien und die USA, Weltgegenden also, in denen während der letzten Jahrzehnte muslimische Minderheiten entstanden sind. Die Verelendung als die wichtigste oder gar einzige Ursache des „Islamismus“ büßt bei einer derartigen Weitung des Blickwinkels ihre Erklärungskraft ein. Man ist, ob man es will oder nicht, auf die Lehren des Islams verwiesen, die heute in gedruckter Form, vor allem aber im Internet in einer bisher ungekannten Dichte verbreitet werden.3 Kennzeichnend für den Islam sind die Totalität und Unzergliederbarkeit seines Regelwerks, das auf Allahs Gesetzeswillen zurückgeführt wird. Das gilt für Kleidungs- und Speisevorschriften, für Normen im Umgang mit Glaubensbrüdern und Andersgläubigen oder Atheisten, für die Ahndung von Straftaten, für die Teilnahme am politischen Leben in islamischen wie nichtislamischen Staaten, die Nutzung des Internets, die Organverpflanzung usw. usf. In der Sicht des Europäers gehören diese Beispiele unterschiedlichen Normensystemen an, für den Muslim zählen sie allesamt zur Scharia, deren Bestimmungen sich, und wäre es über verzweigte Analogieschlüsse, auf den Koran und die Prophetenüberlieferung zurückführen lassen.4 Eine scharfe Spannung zwischen diesen Normen und einer vielschichtigen, im Wandel begriffenen Wirklichkeit, und damit auch ein heftiges Ressentiment gegen diese ganz anderen Normen unterliegende Wirklichkeit, sind infolgedessen in der muslimischen Gläubigkeit latent enthalten. Es kommt auf die Umstände an, ob und wann sich diese Spannung in politischen oder gar terroristischen Aktionen gegen die Wirklichkeit entlädt. „Ein Muslim ist derjenige, der die Gesetze Gottes in allen Lebenssituationen befolgt“, stellt der jetzige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland lakonisch fest,5 gewiß eine Stimme, die nicht im Verdacht steht, in politisch unkorrekter Weise den Islam zu beurteilen. Und so drückt sich der bekannte Konvertit Murad Hofmann aus: „Die gesamte Rechtsordnung wird am 3 Weder die christlichen Kirchen noch gar der säkulare Staat unternehmen Vergleichbares, um über ihre Grundprinzipien aufzuklären; ihre verantwortlichen Eliten geben sich der Illusion hin, die westliche politische Kultur könne nicht erschüttert werden und werde sich überall auf der Welt nahezu von alleine durchsetzen. Die Beispiele Afghanistans, des Iraks, des „arabischen Frühlings“ und Syriens lehren zwar, daß es sich um eine verhängnisvolle Fehleinschätzung handelt. Doch ist die politisch-mediale Klasse noch weit davon entfernt, hieraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. 4 A. Ignatenko: Endogennyj radikalizm v islame, in: Zentral’naja Azija i Kavkaz, Nr. 2(8) 2000, 112–128, hier S. 113. 5 Islam. Kultur. Politik (wie Anmerkung 1, S. 195), 4.
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Koran als oberstem Grundgesetz ausgerichtet. Der Muslim hat das Wort Allahs so, wie er es vorfindet, anzunehmen, ohne in philosophischer Hybris nach dem Wie zu fragen.“ Jeder Muslim sei insofern ein Fundamentalist, als er bei der Glaubensausübung stets auf die Fundamente, den Koran und die Prophetenüberlieferung, zurückgreife. Gerade im Politischen sei Mohammed das Vorbild. Den Islam zu praktizieren, Muslim zu sein, sei ohne den Koran, die nach muslimischem Glauben wortwörtlich offenbarte Rede Allahs, ausgeschlossen. „Die Anerkennung des Korans als Allahs Wort ist für den Muslim konstitutiv. Wer das nicht glaubt, ist kein Muslim.“6 Daher sei es für einen jungen Menschen das Wichtigste, den Korantext zu memorieren, auch ohne den Inhalt zu begreifen. Den Koran verstehen zu lernen, sei eine lebenslange, nie endende Aufgabe.7 Der Koran ist, worauf Hofmann ebenfalls verweist, das Buch, „in dem wir (d. h. Allah) nichts übergingen“ (Sure 6, 38). Er sei somit der eine allumfassende Referenztext, auf den der Muslim seinen gesamten Lebensvollzug, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse zu beziehen hat. Und der Koran selber sei es, der dem Muslim abverlange, sich nach dem Vorbild des Propheten, nach der Sunna, zu richten, wenn sich im Koran kein Hinweis auf eine für einen bestimmten Sachverhalt geltende göttliche Norm entdecken lassen sollte. Der totale Regelungsanspruch des Islams soll durch diese – wegen des insgesamt dürftigen normativen Gehalts des Korans notwendige – Aufwertung des Hadith eingelöst werden.8 Die totalitären Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts verzichten auf die göttliche Autorität, ja verwerfen sie ausdrücklich, wenngleich auch sie ihre „heiligen Schriften“ haben, die ein ums andere Mal zitiert werden müssen, weil ihre Aussagen endgültige Wahrheiten enthalten sollen. Doch ist dies nicht der wichtigste Gesichtspunkt, unter dem sich die modernen Politreligionen vom Islam als einer diesseitsbezogenen Heilslehre unterscheiden: Sie verheißen ein künftiges Zeitalter der Erfüllung (vgl. Abschnitt B., Text II), wohingegen der Islam sogleich in der Form seiner Erfüllung in die Geschichte eingetreten sein soll. Im Medina des Propheten Mohammed, während des Jahrzehnts zwischen 622 und 632, ist nach muslimischer Überzeugung Allahs Herrschaft, die Garantin der unübertreffbar besten Gemeinschaftsform, Wirklichkeit gewesen. Mohammeds Tod bedeutete das Ende 6 M. W. Hofmann: Koran, Diederichs kompakt, München 2002, 12 (zitiert in Wikipedia s. v. Murad W. Hofmann). 7 Ebd., 105 f. 8 Ders.: Islam, Diederichs kompakt, München 2001, 17 und 50–53. Auf das unwissenden Andersgläubigen gern vorgeführte Verwirrspiel mit der Berufung auf die Sunna, die immer dann für eine Quelle göttlicher Normen ausgegeben wird, wenn es dem muslimischen Gesprächspartner paßt, anderenfalls aber für zweitrangig gegenüber dem Koran zu gelten hat, gehe ich auf S. 203–214 und 399 f. ein.
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der unmittelbaren Rechtleitung der Muslime durch Allah. Aber das heißt nicht, daß Allah seinen Gläubigen von da an gestattet hätte, in einer weniger vollkommenen Gemeinschaftsform zu leben, deren Werte und Gesetze, wie beim Fehlen der unmittelbaren Anleitung durch Allah eigentlich unvermeidlich, zumindest in Teilen auf Erwägungen der Menschen beruhen dürfen. Ein solcher Humanismus ist unzulässig. Vielmehr sind alle Kräfte der Muslime darauf zu verwenden, das Gemeinwesen so einzurichten, daß es seinen „medinensischen“ Charakter bewahrt oder ihn, sofern er geschmälert wurde, in vollem Umfang zurückgewinnt. Die Forderung nach Abwehr bzw. Rückgängigmachung etwaiger Heilsminderungen ist allerdings leicht erhoben, ihre Erfüllung ist jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Denn selbst wenn man annähme, die Lebensverhältnisse wären seit dem mohammedschen Medina unverändert geblieben und überall auf der Erde gleich, so müßte sich doch ein einschneidender Mangel an handfesten, konkreten Vorschriften auf verhängnisvolle Weise bemerkbar machen. Denn man schätzt, daß es kaum mehr als dreihundert Koranverse gibt, die Normen mitteilen, und auch die Zahl der einschlägigen Hadithe soll sich nur auf etwa fünfhundert belaufen.9 Dies ist die schmale Grundlage, auf der man das gigantische Gebäude der Scharia errichtete, die seit dem 11. Jahrhundert nicht nur den Ritenvollzug sowie den profanen Alltag, die Machtausübung und alle Strafen nach dem ewigen Willen Allahs regeln soll, sondern darüberhinaus das rechte Denken, Reden und Handeln überhaupt.10 Es leuchtet ein, daß der Anspruch, eine derart umfassende und auf vermeintlich ewig wahre göttliche Weisungen zurückgeführte Gesetzesordnung zu schaffen, anzuwenden und aufrechtzuerhalten, nur mittels komplizierter Verfahren der Ableitung schariatischer Bestimmungen aus den genannten autoritativen Quellentexten zu befriedigen war und ist. Als man jenen Anspruch erhob, hatte man freilich die Hoffnung, man werde mittels der ersonnenen Verfahren bei gleichen Sachverhalten zu gleichen Urteilen gelangen, bereits stillschweigend fahren lassen. Man nahm es hin, daß die einzelnen sogenannten Rechtsschulen, deren Anzahl im sunnitischen Islam damals de facto auf vier zurückgegangen war, jeweils in der Methodik der Ableitung voneinander abwichen und infolgedessen in einem gegebenen Fall zu ganz unterschiedlichen Urteilen gelangen konnten. Ein jedes von ihnen sollte als die allein gültige Konsequenz der göttlichen Gesetzgebung anerkannt werden, jedenfalls von den Anhängern der betreffenden Rechtsschule. Erbitterte Feindschaft war unter diesen daher 9 Ignatenko,
114. Nagel: Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Band 244), 230. 10 T.
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nicht eben selten. Aber nicht nur das! Der gemeine Muslim erhielt widersprüchliche Antworten, wenn er wissen wollte, ob er die zakāt-Abgabe auf eine Handelsware zu entrichten habe, sobald er diese länger als den Zeitraum eines Jahres lagerte, gerechnet vom Tag des Erwerbs an, oder ob sie erst fällig wurde, wenn sie sich vom ersten bis zum letzten Tag eines Kalenderjahres in seinem Besitz befunden hatte. Die Versuchung war groß, von Fall zu Fall der günstigsten Rechtsschule zu folgen; solcher Opportunismus war jedoch streng verpönt. Schließlich war auch eine Quisquilie keine Bagatelle, denn es ging um die von Allah geforderte Verwirklichung der besten Gemeinschaft im Diesseits, und wer sich darin eine Nachlässigkeit zuschulden kommen ließ, über den würde Allah am Jüngsten Tag streng urteilen. Eine formal geregelte Zugehörigkeit zu einer der Rechtsschulen gab es nicht, und sie waren nicht in allen Teilen der islamischen Welt gleichmäßig vertreten. Die Hanafiten herrschten in Innerasien vor, desgleichen im islamischen Indien und im Osmanischen Reich, die Schafiiten behaupteten sich in Ägypten, im westlichen Nordafrika hatten die Malikiten ihre Hochburgen. Das ewig wahre eine gottgegebene Recht hatte aber nicht nur vier unterschiedliche Ausprägungen. Auch innerhalb einer Schule konnten die Gelehrten gerade in Fragen der islamischen Lebensgestaltung zu gegensätzlichen Auffassungen gelangen.11 Wenn ein Muslim nicht weiß, wie er sich in einem bestimmten Fall schariagerecht verhalten soll, kann er von einem Rechtsgelehrten eine gutachterliche Stellungnahme, ein Fetwa, erbitten;12 im Hinblick auf die Verwirklichung der „besten Gemeinschaft“ und auf das Urteil, das Allah am Jüngsten Tag über ihn fällen wird, sollte der Inhalt sorgfältig befolgt werden. Bis ins 10. Jahrhundert scheuten sich die Gelehrten, solche Auskünfte zu erteilen, wußten sie doch, wie fragwürdig und anfechtbar die Schlüsse waren, die sie aus den autoritativen Texten zogen. Sie fürchteten, am Ende der Zeiten auch die Verfehlungen verantworten zu müssen, die wegen ihrer womöglich gar nicht dem göttlichen Gesetzeswillen entsprechenden Auskünfte die Frager begehen würden. Der Druck hin zu einer wenigstens formal ganz und gar von der Scharia durchherrschten Gesellschaft, zur „besten Gemeinschaft“, war freilich so stark, daß man im 11. Jahrhundert solche Skrupel beiseite11 So bestimmt das malikitische Recht, daß ein Mädchen, das das Alter von zehn Jahren erreicht hat und „dessen Lasterhaftigkeit zu befürchten steht, sofern es nicht verheiratet wird“, nicht durch einen mit der Aushandlung des Ehevertrags bevollmächtigten Vormund verheiratet werden darf, wenn es nicht einverstanden ist. Umstritten aber ist, ob das Mädchen sein Einverständnis klar aussprechen muß oder ob bereits das Schweigen als Einverständnis gilt (Ý Abd ar-RaÎ mān al-É azīrī: al-Fiqh Ýalā l-maÆāhib al-arbaÝa, 5 Bde., Kairo o. J., Bd. IV, 45). 12 Die staatliche türkische Religionsbehörde unterhält einen entsprechenden Internetdienst. Vgl. unten, Anmerkung 60.
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schob. Wer ein Fetwa erteilte, ein Mufti, mußte seine Auskunft zumindest subjektiv ehrlich und nach bestem Wissen erteilt haben, und zum Zeichen seiner Aufrichtigkeit hatte auch er selber den Inhalt seines Fetwas zu befolgen:13 Die Scharia, das ewig wahre und unveränderliche Gesetz Allahs, verwirklicht sich seither mithin in zahlreichen letzten Endes subjektiven Auslegungen der autoritativen Texte. Jede dieser Auslegungen soll, da sie ja, wenngleich über mehrere Schritte vermittelt, auf den Koran oder das rechtgeleitete Handeln Mohammeds Bezug nimmt, den ewig wahren und unveränderlichen Gesetzeswillen Allahs verbürgen, dessen Erfüllung den Heilsgewinn im Diesseits und im Jenseits garantiert. Dieser eigenartige und unauflösbare Widerspruch treibt die islamische Geschichte bis in die Gegenwart um. Heute wird er meist durch Lobpreisungen der angeblichen Biegsamkeit der Scharia überdeckt, die für jeden Ort und jedes Zeitalter die passende Regelung bereithalte. Dieser Widerspruch ist ein sehr wichtiger Aspekt der in anderem Zusammenhang angesprochenen Schwäche des islamischen Staates und seiner Institutionen. Sie wird, wie wir sahen (vgl. Abschnitt A., Text III und IV), allein durch den Despotismus ausgeglichen, dessen fadenscheinige Legitimierung darin besteht, daß man ihm bestätigt, er geschehe zu Nutz und Frommen des Islams. Die muslimische Obrigkeit, deren wichtigste Aufgabe gemäß dem Selbstverständnis des Islams als einer totalen religiös-politischen Ordnung in der Gewährleistung der Rechtleitung der muslimischen Untertanen besteht, gibt die Kompetenz, über den Inhalt dieser Rechtleitung zu befinden, an die Gelehrten ab,14 zu deren Kontrolle ihr die institutionellen Voraussetzungen fehlen. Dieser Vorgang mündet in eine von politischen Interessen beherrschte spannungsreiche Symbiose zwischen den Machthabern und den Gelehrten, in der letztere nach ihrem eigenen Verständnis den entscheidenden Part innehaben: Sie sind die Sachwalter des gottgegebenen Gesetzeswissens, ihnen gebührt in der muslimischen Gesellschaft der erste Rang.15 Der Unantastbarkeit des heilswichtigen Expertentums der Schariagelehrten dient der formale Zustand ihres Tätigkeitsfeldes. Die Scharia liegt nicht in kodifizierten, nach Paragraphen geordneten Werken vor, in Büchern also, die zum Zwecke der unmittelbaren Rechtsanwendung geschaffen worden wären. Vielmehr finden sich ihre Bestimmungen in den Schriften früher Repräsentanten einer jeden der Rechtsschulen, in denen, nach den Kerngebieten des Ritualrechts, der Beziehungen der Menschen untereinander sowie der Strafen gegliedert, der Bestand an einschlägigen Angaben der autorita13 Hierzu
T. Nagel: Die Festung des Glaubens, München 1988, 324–329. die Bemerkungen von Norbert Oberauer: Verpflichtungskonzepte im Kalām, Würzburg 1999, 94. 15 T. Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 150–152. 14 Vgl.
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tiven Texte zusammengetragen und gemäß den Leitideen der Schulgründer oder ihrer wichtigsten Schüler und Enkelschüler ausgelegt wird. Die Handhabbarkeit des Stoffes in der Rechtspflege spielte in diesen Werken, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. An diese Grundtexte lagerten sich im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Kommentare und Glossierungen an, so daß äußerst vielschichtige und unübersichtliche Werke heranwuchsen, deren Inhalt sich erst nach einem intensiven Studium erschließt.16 Die sogenannte Mecelle, zwischen den Jahren 1869 und 1876 im Osmanischen Reich geschaffen, stellt den ersten Versuch dar, die schariatischen Bestimmungen wenigstens eines Teilbereichs, nämlich des Wirtschafts- und Geschäftslebens, aus jenen Werken herauszuziehen und unter Absehung vom Streit der Rechtsschulen nach Paragraphen geordnet darzustellen.17 Trotz diesem revolutionären Schritt wurde die Rechtsgeschichte der islamischen Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von Bestrebungen geprägt, durch die Übernahme meist nur leicht überarbeiteter europäischer Gesetzeswerke eine Modernisierung in Gang zu setzen, mithin Abstand von der Scharia zu gewinnen. Es gelang aber nicht, die herkömmliche Schariawissenschaft vollständig zu verdrängen. Sie überlebte an etlichen Universitäten; ihre Grundlagen sind, zumindest in sehr allgemeiner Form, den Imamen und Moscheepredigern bekannt und beeindrucken Konvertiten, wie das Beispiel Murad Hofmanns lehrt. Das Ritualrecht blieb von den Versuchen, das Rechtssystem der muslimischen Länder westlichen Vorbildern anzugleichen, ohnehin unberührt. Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist eine zunehmende Beschäftigung auch mit den übrigen Bereichen der Scharia zu beobachten. Sie soll für eine authentische, „islamische“ Regelung der heutigen Lebensverhältnisse fruchtbar gemacht werden. Insbesondere bei der Einbeziehung neuer, der klassischen Scharia noch unbekannter Sachgebiete, beispielsweise des Versicherungswesens, in das gottgegebene Recht des Islams setzt sich ein Umgang mit den autoritativen Quellen und ihren Auslegungen durch, der über die methodischen und inhaltlichen Differenzen der Rechtsschulen hinwegsieht. Das einst so verpönte „Zusammenflicken“ von Aussagen mehrerer Schulen bei der Beurteilung eines Rechtsproblems ist üblich geworden. Überdies arbeitet man an der Schaffung von nach Sachstichworten geordneten Enzyklopädien, die den Inhalt des gesamten schariatischen Schrifttums leicht zugänglich machen und dadurch der Rechtspolitik zur Verfügung stellen wollen. Die Rechtspo16 Einen Eindruck vom Aufbau dieser Werke vermittelt die Abbildung Nr. 7 / 1 in: T. Nagel (Hg.): Begegnung mit Arabien. 250 Jahre Arabistik in Göttingen, Göttingen 1998, 37. 17 Über die Bedeutung der Mecelle unterrichtet mit zahlreichen Literaturhinweisen der entsprechende Artikel von C. V. Findley in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, VI (1991), 971 f.
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litik folgt in den islamischen Staaten der Gegenwart mehr und mehr dem inzwischen in den meisten Verfassungen verankerten Prinzip, daß der Islam eine oder die eine Quelle der Rechtsordnung zu sein habe.18 Im vierten Abschnitt werden wir erfahren, wie die 2007 fertiggestellte kuweitische Scharia-Enzyklopädie, die größte bisher abgeschlossene, das Thema der taktischen Unwahrhaftigkeit behandelt und dabei die schariatische Überlieferung fruchtbar macht. 2. Die Widersprüchlichkeit schariatischer Urteile Jetzt aber ist ein anderer Gesichtspunkt des Schariaschrifttums wieder ins Blickfeld zu rücken, der schon gestreift wurde. Die ewig wahre von Allah selber gestiftete allumfassende Rechtsordnung der „besten Gemeinschaft“ ist durch immer weiter ins Detail gehende Deduktionen aus den autoritativen Quellentexten zu verwirklichen und zu bewahren. Für die Richtigkeit dieser Deduktionen steht kein anderer Maßstab zur Verfügung als die subjektive Ehrlichkeit des betreffenden Gelehrten. Das bei der Ermittlung des schariatischen Gehalts des Korans angewandte Prinzip, daß bei Widersprüchen zwischen zwei Aussagen der spätere Vers den früheren außer Kraft setze, findet hier keine Anwendung. Es gibt keine Verfahrensweise und keine Autorität, die einem Fetwa zu einer bestimmten Frage die Geltung vor anderen Fetwas verschaffen könnte, die in derselben Frage zu anderen Ergebnissen gekommen sind, etwa weil ihre Verfasser mit anderen Analogien argumentieren oder einigen der gegeneinander abgewogenen Quellentexten einen anderen Autoritätsgrad zuerkennen, als dies im ersten Fetwa geschehen ist. So veröffentlichte Jusuf al-Qaradawi, der Vorsitzende des europäischen Fetwarats, während einer Sitzung, die dieses Gremium Anfang Juli 2003 in Stockholm abhielt, ein Gutachten, in dem er Selbstmordattentate gegen die Andersgläubigen, insbesondere gegen Israel, ausdrücklich lobte; es handle sich in Wahrheit nicht um Selbstmord, der eine egoistische Handlung sei, sondern um eine Kampfhandlung, bei der man sich um eines höheren Zieles willen selber zum Opfer darbringe. Denn man wünsche, Allahs Wohlgefallen zu erringen und in das Paradies einzugehen: Wer im Kampf auf dem Pfade Allahs getötet wird, dem wird dieser unschätzbare Lohn zuteil (Sure 4, 74) – welch ein vorteilhafter Handel (vgl. Sure 9, 111)! Daß bei solchen kriegerischen Aktionen auch unbeteiligte Muslime den Tod 18 Der Artikel Dustūr in der Encyclopaedia of Islam, New Edition, II (1965), 638–678 gibt einen detailreichen Überblick über die Verfassungsgeschichte in den islamischen Länder bis in die frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Vgl. ferner Monika Tworuschka: Die Rolle des Islams in den arabischen Staatsverfassungen, Walldorf 1976; Hans-Georg Ebert: Die Interdependenz von Staat, Verfassung und Islam im Nahen und Mittleren Osten der Gegenwart, Frankfurt / Main 1991.
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fänden, sei im Interesse des Islams hinnehmbar.19 Im Frühjahr 2010 trat ein pakistanischer Schariagelehrter namens Taher al-Qadri (geb. 1951) mit einem Fetwa an die Öffentlichkeit, das zu einem ganz anderen Ergebnis gelangte, und die europäische Presse sah ihre schönsten Hoffnungen auf einen „moderaten“ Islam Wirklichkeit geworden: Die Selbstmordattentate seien „unislamische“ Verbrechen und führten den, der sie verübe, auf geradem Weg in die Hölle. „Theologische Widerlegung des radikalen Islam“ titelte der Kölner Stadtanzeiger am 2. März 2010 in völliger Verkennung der Wirklichkeit. Nur zu bald zeigte sich, daß die Reaktion der britischen Muslime, für die vor allem al-Qadri seine sehr umfangreiche Schrift ausgearbeitet hatte, ganz lau ausfiel.20 Ein außerislamischer Maßstab der Beurteilung wird nicht anerkannt; ein innerislamischer fehlt, und so bleibt am Ende das seit den Anfängen der Schariawissenschaft ein ums andere Mal strapazierte argumentum ad hominem: Wer ist schon Taher al-Qadri im Vergleich zu Jusuf al-Qaradawi! Dem ausgeprägten Subjektivismus bei der Verwirklichung der „besten Gemeinschaft“ entspricht die Instabilität der Institutionen des islamischen Staates. Desweiteren wird deutlich, daß die so oft beschworene Trennung zwischen Islam und Islamismus dem westlichen Wunsch entspringt, „gute“ Muslime von „bösen“, mit dem politischen Geltungsanspruch des Islams ernstmachenden Muslimen zu scheiden. Dies aber ist, wenn man von einem islamischen Standpunkt aus urteilt, ein Ding der Unmöglichkeit. Daß im Umgang mit der westlichen politisch-medialen Klasse erfahrene Muslime deren Phantasien für die Förderung der eigenen Interessen nutzen, darf man ihnen nicht vorwerfen. Tadelnswert ist allein die intellektuelle Trägheit jener Klasse, die nicht zu begreifen vermag, daß dem „gemäßigten“ Muslim gar kein Weg offensteht, auf dem er „radikale“ Positionen seiner Glaubensbrüder als nach den Methoden der Scharia unzulässig und unhaltbar entkräften könnte. Diesen Sachverhalt möchte ich anhand eines Artikels aus der vermutlich al-Qaida nahestehenden Zeitschrift „Ñaut al-ºihād“ („Die Stimme des Dschihad“) verdeutlichen, die eine Rubrik „Das Dschihadrecht“ unterhält. In dieser wird im Heft Nr. 15 (April / Mai 2004) das Problem erörtert, ob vor der Aufnahme des Dschihads jemand um Erlaubnis gebeten werden müsse, und falls ja, wer – die Eltern durch die Kinder, der islamische Machthaber durch die Kampfwilligen? Für den Verfasser des Aufsatzes steht außer Frage, daß der Dschihad unter gewöhnlichen politischen Umständen keineswegs die Pflicht eines jeden Muslims ist. Die islamische Staatsmacht muß jedoch unablässig dafür 19 Middle
East Media Research Institute, Special Dispatch Nr. 542, 24. Juli 2003. (heruntergeladen am 7. Februar 2011). 20 http://de.qantara.de / show_article.php / _c-468 / _nr-1326 / i.html
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Sorge tragen, daß sich eine hinreichende Anzahl von Muslimen dieser Aufgabe widmet, und Anordnungen, die der Machthaber diesbezüglich erteilt, müssen von denjenigen, an die sie sich richten, genau befolgt werden. Unter solchen Umständen stellt sich die Frage, ob der Machthaber um die Erlaubnis zur Beteiligung am Dschihad gebeten werden muß, natürlich nicht. Hingegen wird sie dringlich, sobald der Staat seine Pflicht, eine hinreichende Anzahl von Muslimen in den Dschihad zu schicken, vernachlässigt. In diesem Falle wird der Dschihad zu einer einem jeden Muslim obliegenden Glaubenspflicht, und der in dieser Hinsicht säumige Machthaber braucht nicht um Erlaubnis angegangen zu werden. Denn eben wegen seiner diesbezüglichen Säumigkeit – die man fast allen heutigen islamischen Staaten vorhalten könnte – verwandelt sich der Dschihad ja aus einer Pflicht der hinreichenden Anzahl (arab.: farà al-kifāja) in eine jedem obliegende Pflicht (arab.: farà al-Ý ain). Dieser der klassischen Scharialiteratur entnommene Gesichtspunkt leitet die Erörterungen über den Dschihad. Dem Staatsoberhaupt obliegt es, den Dschihad niemals völlig zum Erliegen kommen zu lassen; das wäre eine Widersetzlichkeit gegen Allah. „Kein Gehorsam bei einer Widersetzlichkeit gegen Allah! Gehorsam wird allein bei dem gefordert, was recht und billig ist!“ habe der Prophet gesagt. Auch Averroes (gest. 1198) habe sich in diesem Sinne geäußert. Das Argument, der Dschihad sei eine nur in der Gemeinschaft zu erfüllende Glaubenspflicht und müsse daher in jedem Falle durch das Staatsoberhaupt genehmigt werden, sei nicht stichhaltig. Denn auch das rituelle Gebet sei in Gemeinschaft zu vollziehen und sei trotzdem nicht eigens zu gestatten. Wenn freilich der islamische Staat seiner Dschihadpflicht nachkomme und der Krieg gegen die Andersgläubigen durch eine hinreichende Anzahl wahrgenommen werde, dann sei es selbstverständlich geboten, beim Staatsoberhaupt die Zustimmung zur Beteiligung an bestimmten militärischen Unternehmungen einzuholen, denn der Befehlshaber müsse den Überblick über die ihm zur Verfügung stehenden Truppen behalten, und es leuchte ein, daß man sich auch nur mit Erlaubnis wieder aus dem Kampf entfernen dürfe. „Wenn (die Gläubigen)21 sich mit (Mohammed) in einer gemeinsamen Unternehmung befinden, dürfen sie nur fortgehen, sofern sie ihn um Erlaubnis gebeten haben“, schreibe Sure 24, Vers 62 vor. Freilich seien es nur die Unzuverlässigen gewesen, die Mohammed in gleisnerischer Weise gefragt hätten, ob sie beim Dschihad mittun dürften; insgeheim hätten sie gehofft, er werde es ihnen verbieten. Dies belegt der Verfasser mit Sure 9, Vers 44 und 45, die entstanden, als unter den Medinensern Kriegsmüdigkeit um sich 21 Zum Ideal der kämpferischen Gläubigkeit im medinensischen Islam vgl. Tilman Nagel: Mohammed. Leben und Legende, 314–324, 336–338.
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gegriffen hatte.22 Mohammed rief damals seine Anhänger zu einem Feldzug gegen die byzantinische Grenzregion zusammen, zu einem, wie Ibn Taimīja (gest. 1328) feststelle, nicht der Verteidigung, sondern der Ausweitung der islamischen Macht dienenden Krieg, und eben wegen des offensiven Charakters sei es statthaft gewesen, bei Mohammed um Dispens nachzusuchen: Es habe sich um einen Dschihad gehandelt, der wegen der obwaltenden Umstände keine Individualpflicht gewesen sei. Die Glaubenseifrigen hätten allerdings darauf verzichtet, Mohammeds Erlaubnis für die Teilnahme einzuholen; sie bildeten aus freien Stücken die hinreichende Anzahl der Dschihadkrieger – woraus im Sinne des Verfassers zu schließen ist, daß es für die Absicht des Freiwilligen, am staatlich organisierten Dschihad teilzunehmen, keiner elterlichen Einwilligung bedarf, da es sich um die Erfüllung der Pflicht einer hinreichenden Anzahl handelt. Der Verfasser wechselt nun den Blickwinkel, indem er darauf hinweist, daß man nur unter der Voraussetzung von einem legitimen islamischen Staatsoberhaupt sprechen kann, daß dieses den Dschihad als eine Pflicht einer hinreichenden Anzahl aufrechterhält.23 Dies belegt der Verfasser mit einem Wort aus der Omaijadenzeit und mit einem Hadith. Ein gewisser Ijās b. MuÝāwija al-Muzanī (gest. 740), der unter dem Kalifen ÝUmar b. ÝAbd al-ÝAzīz (reg. 717–720) das Kadiamt von Basra innehatte,24 soll befunden haben: „Dreierlei benötigen die Menschen: Sie kommen nicht ohne sichere Wege aus; ferner nicht, ohne daß jemand mit dem Befehl über sie betraut wird, so daß sie in gerechter Weise beherrscht werden; und drittens, daß man sich der Grenzgegenden annimmt, die zwischen ihnen und ihrem Feind liegen. Wenn sich die Herrschaft mit diesen drei Dingen befaßt, ertragen die Menschen die Eigenmächtigkeiten und Widerwärtigkeiten, die von ihr ausgehen mögen.“ Danach führt der Verfasser das Hadith an, dessen ältester Bürge ein gewisser ÝUqba b. Mālik al-Lai×ī ist: Eine unterschiedlich erzählte Episode endet damit, daß ein von Mohammed zur Bekämpfung Andersgläubiger entsandter Stoßtrupp seinen Auftrag nicht erfüllt, wofür man zunächst den Anführer verantwortlich macht;25 Mohammed tadelt aber alle 22 Mohammed.
Leben und Legende, 437–439. die schariatischen Vorstellungen zu diesem Gegenstand unterrichten Majid Khadduri: War and Peace in the Law of Islam, Baltimore 1955, und Hans Kruse: Islamische Völkerrechtslehre, 2. Auflage, Bochum 1979. 24 Ë alīfa b. Ë aijāÔ : TaÞrīÌ, ed. al-Ý Umarī, Nadschaf 1967, 330 f. 25 Der Text zitiert die bei Abū DāÞ ūd: Sunan (ed. MuÎ ammad MuÎ jī d-Dīn Ý Abd al-Í amīd, 2. Auflage, Kairo 1950), kitāb al-ºihād, Kapitel 96, Nr. 2627 verbürgte Version. Andere Versionen, die aber alle den Ausspruch Mohammeds enthalten, auf den es in unserem Zusammenhang ankommt: AÎ mad b. Í anbal: Musnad, Bulaqer Ausgabe, IV, 110 sowie Ibn Í aº ar al-Ý Asqalānī: al-IÒāba fī tamjīz aÒ-ÒaÎāba, Ed. Kairo 1328 h, II, 491, Nr. 5611. 23 Über
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Teilnehmer scharf: „Wart ihr denn, da ich einen Mann entsandte, der sich nicht an meinen Befehl hielt, nicht in der Lage, einen anderen an dessen Stelle zu berufen, der meinen Befehl ausgeführt hätte?“ Wie man mit jenem dem Propheten Ungehorsamen damals hätte umgehen müssen, so doch auch heute mit jemandem, der die unbestreitbare schariatische Pflicht der Abwehr eines Aggressors vernachlässige. Da ÝUqba b. Mālik al-Lai×ī zu den sehr selten zitierten Überlieferern gehört, schließt sich eine Erörterung seiner Glaubwürdigkeit an. Unter Bezugnahme auf Autoritäten der frühen HadithWissenschaft führt sie zu dem Ergebnis, daß man ihn sowie den von ihm übernehmenden Bürgen als zuverlässig zu bewerten habe. Nach dem Zitat dieses Hadithes nimmt die Debatte eine andere Richtung; sie springt unvermittelt in die Neuzeit. ÝAbd ar-RaÎmān b. al-Íasan, ein Enkel MuÎammad b. ÝAbd al-Wahhābs (gest. 1792), des Gründers der Wahhabitenbewegung, habe erklärt, es gebe kein rechtmäßiges islamisches Staatsoberhaupt ohne Dschihad, hingegen sehr wohl Dschihad ohne ein rechtmäßiges islamisches Staatsoberhaupt. Somit brauche ein Muslim, der sich dem Dschihad verschreibe, niemanden um Erlaubnis hierzu zu bitten. Das bedeute aber nicht, daß eventuelle Befehle, die der Machthaber zur Koordinierung des Dschihads erteile, mißachtet werden dürften. Dem Verfasser liegt an dem Nachweis, daß in einer Situation, in der die Muslime sich gezwungen glauben, ihre Feinde in die Schranken zu weisen, die Teilnahme am Dschihad eine Pflicht sei, deren Erfüllung weder durch das legitime Staatsoberhaupt – noch durch die Eltern, wie es am Ende der Ausführungen heißt – gestattet werden müsse; wenn das Staatsoberhaupt den Dschihad unterbinde und dadurch die Legitimität verwirke, dann werde die Beteiligung am Dschihad unabweisbar und bedürfe ohnehin keiner Erlaubnis. Von der schariatischen Pflicht, unter bestimmten Umständen ohne Erlaubnis in den Dschihad zu ziehen, ist deutlich das Verhalten während eines durch einen Befehlshaber kommandierten kriegerischen Unternehmens zu unterscheiden: Dem Befehlshaber ist zu gehorchen, solange seine Anordnungen den Zielen dienen, zu deren Erreichen er ernannt wurde.26 Stark verkürzt habe ich diese genau den Regeln der Schariawissenschaft folgende Erörterung wiedergegeben.27 Was könnte ihr ein Muslim entge26 Der Verfasser gibt seinen Namen mit ÝAbdallāh b. an-NāÒir ar-Rašīd an; es handelt sich wegen der vorbildlichen religiösen Bedeutung dieser Kombination – „der rechtgeleitete Diener Allahs, Sohn desjenigen, der (dem Islam) zum Sieg verhilft“ – um ein Pseudonym. 27 Die Debatte über die Frage, ob ein junger Mann ohne die Erlaubnis der Eltern in den Dschihad ziehen dürfe, ist übrigens schon alt. Der Rechtsgelehrte Ibn abī Zaid al-Qairawānī (gest. 996) dokumentiert sie in seinem Handbuch des malikitischen Rechts (vgl. Mathias von Bredow: Der heilige Krieg (Éihād) aus der Sicht der malikitischen Rechtsschule, Beirut 1994, arab. Text, 12–16).
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C. Der Islam und der säkulare Staat
gensetzen, der die Konsequenzen, die aus ihr folgen, ablehnt, der beispielsweise als Vater seinen Sohn davon abbringen möchte, sich dem Dschihad zu widmen? Schon der Koran besagt doch, daß gerade die Glaubensstarken nicht um die Erlaubnis zur Erfüllung dieser Pflicht nachsuchten. Und legitime islamische Staatsmacht ohne Dschihad gibt es nicht! Der Vater könnte auf den Grundsatz verweisen, den der Verfasser bei Averroes entlehnt: „Dem (islamischen) Staatsoberhaupt zu gehorchen ist notwendig, selbst wenn dieses nicht den Status der Unbescholtenheit erreicht – solange es nur keine Widersetzlichkeit gegen Allah befiehlt.“ Eine Widersetzlichkeit wäre „das Verbot, den eine Individualpflicht bildenden Dschihad zu führen“. In zwei unterschiedliche Richtungen könnte dieser Grundsatz durch den besorgten Vater weiterentwickelt werden. Erstens könnte er anführen, daß sich die Staatsmacht sehr wohl die Ausbreitung des Islams angelegen sein lasse, im Falle Ägyptens etwa durch die Finanzierung der an der al-Azhar-Hochschule bestehenden Fakultät für den „Ruf“ zum Islam; es könne also nicht die Rede davon sein, daß der Dschihad wegen diesbezüglicher Untätigkeit des Staates zu einer Individualpflicht geworden sei. Der nicht aus den autoritativen Quellen zu widerlegende Hinweis darauf, daß der Dschihad den Kampf mit der Waffe meine, nimmt einer solchen Argumentation jedoch ihre Überzeugungskraft. Anders wäre es, wenn ein völlig neuer Gesichtspunkt in die Debatte geworfen würde: die Pflicht des Muslims, sich an die Gemeinschaft (arab.: alº amāÝ a) zu halten, und zwar selbst dann, wenn der Machthaber nicht nur nicht unbescholten ist, sondern sogar gegen die Scharia verstößt. Schließlich werden in einem solchen Fall am Jüngsten Tag nicht die Untertanen bestraft, die die widerschariatischen Anordnungen befolgten, sondern allein der Herrscher, der sie erließ.28 Hingegen wird es den Muslimen übel angerechnet, sich aus der Gemeinschaft fortgestohlen zu haben. Es ist nicht bloß zu bedenken, daß sie leicht eine Beute des Satans werden – so wie der Wolf die verirrten Herdentiere reißt. Ein Muslim verliert sein Recht auf Leben, sobald er seinen Glauben verleugnet, indem er aus der Gemeinschaft ausbricht. „Wer die Gemeinschaft verläßt und die Führerschaft in den Schmutz zieht, der wird Allah (am Jüngsten Tag) treffen, ohne bei ihm Beachtung zu finden.“ „Wer den Gehorsam aufkündigt und die Gemeinschaft verläßt und dann stirbt, dessen Tod ist derjenige eines Heiden!“ Dreierlei habe der Gesandte Allahs dringend empfohlen: Aufrichtig zu handeln, der Obrigkeit gegenüber treu und lauter zu sein und die Eintracht der Muslime zu verteidigen. Solche und viele andere Überlieferungen vergleichbaren Inhalts legen es nahe, die Aufnahme des Dschihads ohne ausdrückliche Erlaubnis des islamischen Herrschers sehr skrupelhaft zu bedenken. Indessen gibt es andere Hadithe, die zwar das 28 AÎ mad
b. Í anbal: Musnad, Bulaqer Ausgabe, III, 22 und 55.
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Festhalten an der Gemeinschaft als hohe Tugend preisen, es allerdings in eine Reihe stellen mit dem Gehorsam gegen die Obrigkeit und mit dem Auszug in den Dschihad,29 zwischen denen man also eine Wahl zu treffen hat. Man mag noch so tief graben, aus den autoritativen Texten läßt sich am Ende niemals schlüssig belegen, daß die Scharia den von keiner Obrigkeit gestatteten Dschihad verbiete, und auch die elterliche Gewalt zählt gegen den Entschluß des einzelnen zum Dschihad nichts. Was zählt, ist allein die Überzeugung des einzelnen, daß die Obrigkeit ihre Dschihadpflicht verabsäume. Genau so gerechtfertigt wäre es freilich, der vermeintlich oder tatsächlich ihre Dschihadpflicht vernachlässigenden Obrigkeit zu gehorchen und das Urteil über sie Allah anheimzustellen. Eine aus der Scharia ableitbare Lösung des Konflikts gibt es mithin nicht. Und von Menschen ersonnene nicht-schariatische, nicht-islamische Normen zählen nicht. Was könnte eine Berufung auf die Charta der Menschenrechte nützen angesichts der unüberbietbaren Wahrheit der von Allah selber stammenden Gesetze? Welches Gewicht kann das Recht der Andersgläubigen auf Religionsfreiheit gegenüber dem aus dem Koran und dem Hadith auf vielerlei Wegen herleitbaren Willen Allahs beanspruchen, die von ihm selber gestiftete Religion in der ganzen Welt zum Triumph zu führen? Haben nicht die 1981 veröffentlichte Allgemeine islamische Menschenrechtserklärung des Islamrats für Europa und die Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 in Anbetracht dieses Willens Allahs nahegelegt, jeder Mensch solle Muslim werden, um die ihm von Allah zugedachte Bestimmung voll und ganz zu erfüllen?30 Nur wenn man „islamische“ Argumente dafür beibringen könnte, daß die „beste Gemeinschaft“ und ihre Machthaber grundsätzlich auf den Dschihad verzichten dürfen, verschaffte man sich im innerislamischen Diskurs überhaupt Gehör. In welche argumentative Not Muslime geraten, die in allgemeiner Weise für eine Befreiung des Politischen von der Scharia eintreten, lehrt das Beispiel MuÎammad SaÝīd al-ÝAšmāwīs. Bis 1993 bekleidete er hohe Ämter im ägyptischen Justizwesen. Aufsehen erregte er vor allem bei westlichen Intellektuellen mit seiner These, der Inhalt der Scharia sei ständig neu zu bestimmen und dürfe sich nur auf das Ritualrecht sowie auf die Ethik und die Leitlinien einer muslimischen Gesellschaft erstrecken. Der Dschihad als Krieg gegen die Andersgläubigen bliebe folglich außerhalb des schariatischen Regelungswerks und büßte die Funktion eines Rechtfertigungsgrundes für die Existenz islamischer Staatlichkeit ein. Wie aber kann man eine solche Einschränkung des Geltungsbereiches der Scharia fordern, wenn in29 Vgl. die Belege bei T. Nagel: Rechtleitung und Kalifat. Versuch über eine Grundfrage der islamischen Geschichte, Bonn 1975, 260–263. 30 Vgl. unten, Text IV, den Aufsatz „Erst der Muslim ist ein freier Mensch!“.
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C. Der Islam und der säkulare Staat
nerweltliche Gründe – z. B. die Schaffung eines Gewaltmonopols des Staates durch Aufhebung der Möglichkeit des einzelnen, politische Glaubenspflichten nach Maßgabe eigener Einsichten zu vollziehen – gar nicht ins Gewicht fallen? Es muß ein entsprechendes Prophetenwort her! Al-ÝAšmāwī kann damit dienen. Nach dem Sieg bei Badr, behauptet er, habe Mohammed auf dem Rückweg nach Medina gesagt: „Wir kehren vom kleinen Dschihad zurück – zum großen Dschihad!“ Und dieser „große Dschihad“ sei das Ringen des einzelnen Muslims gegen die widergöttlichen Regungen des Selbst.31 In der im Westen geführten Islampropaganda ist diese angeblich durch Mohammed angeordnete Zweiteilung des Dschihad in einen kleinen, mit Waffengewalt ausgetragenen und den großen, der die Selbstislamisierung des Individuums meine, ein beliebter Topos geworden. Er paßt schließlich so schön zu der Behauptung, Islam bedeute Frieden, und taugt als immer wieder nutzbarer Scheinbeleg für die von der politisch-medialen Klasse so zäh festgehaltene Unterscheidung zwischen einem friedfertigen Islam und einem nur von einer Minderheit verfochtenen militanten Islamismus. Bedauerlich ist freilich, daß es jenen Satz in den für den innerislamischen Diskurs einschlägigen autoritativen Texten überhaupt nicht gibt. Er fehlt im Koran, dessen medinensische Suren durchweg die kriegerische Gläubigkeit rühmen.32 In den sechs kanonischen Hadithsammlungen sucht man ihn vergebens, desgleichen im umfangreichsten Werk dieser Gattung, dem nicht unter die sechs gerechneten „Musnad“ AÎmad b. Íanbals (gest. 855), und in verwandtem Schrifttum. Auch in der historiographischen Überlieferung ist er nicht zu entdecken, und ebenso wenig in der neueren muslimischen Geschichtsschreibung über Mohammed, die den Propheten des Islams vielfach als einen Militärführer zeichnet, von dessen Vorbild sich die heutigen Muslime leiten lassen sollten, um die einstige Macht des Islams zu restaurieren.33 Auch die klassische Schariawissenschaft kennt die Zweiteilung nicht; dies lehrt beispielsweise ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der von Ibn abī Zaid al-Qairawānī (gest. 996) dem Dschihad gewidmeten Abhandlung.34 31 Zitiert bei Ignatenko: Endogennyj radikalizm (wie Anmerkung 4, S. 197), 121. Die Behauptung einer angeblich ursprünglichen Zweiteilung des Dschihads wird inzwischen von europäischen Historikern unbesehen übernommen (Jonathan Phillips: Holy Warriors. A Modern History of the Crusades. London 2009, 29 f.) und zum „Beleg“ für die frei erfundene These mißbraucht, erst die Kreuzzüge hätten den „militärischen Dschihad“ ausgelöst (so Michael Borgolte in der Besprechung der deutschen Übersetzung des Buches von Phillips, FAZ vom 26. November 2011, S. L 22). 32 Vgl. oben, Anmerkung 21. 33 Beispiele bei T. Nagel: Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008, 16 und 363. 34 Vgl. die Inhaltsübersicht bei Mathias von Bredow: Der heilige Krieg (Éihād) aus der Sicht der malikitischen Rechtsschule, wie Anmerkung 27, 63–132.
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Hingegen findet sich jener Ausspruch in einer allgemeinen, nicht auf die Schlacht bei Badr bezogenen Fassung in der Kurzbiographie eines Sufis, der ihn im Jahre 450 h (begann am 28. Februar 1058) in Bagdad verbreitete, nachdem er ihn angeblich in Buchara gehört hatte.35 Etwa zur selben Zeit wird dieser Satz in ein dem sufischen Ideal der Askese gewidmetes Werk eingetragen.36 Die damals im Entstehen begriffenen Sufi-Gemeinschaften verschrieben sich einer Vertiefung der schariatischen Frömmigkeits praxis, die die Ausübung von Waffengewalt gegen Andersgläubige einschloß,37 da sie ja durchaus dem Vorbild Mohammeds entsprach. In Belegen aus frühislamischer Zeit ist übrigens von strenger Askese als einem probaten Mittel zur Schärfung der Kampfesleidenschaft, zur Förderung des Dschihad die Rede.38 Wie der Dschihad zu den sufischen Idealen der Selbstzucht und gottgefälligen Askese paßt, beschreibt ein gewisser 35 al-Ë aÔ īb
al-Baġdādī: TaÞrīÌ Baġdād, Ausgabe in 14 Bänden, XIII, 493, Nr. 7345. Kitāb az-zuhd, ed. ÝĀmir AÎmad Íaidar, Beirut 1987, 165, Nr. 373. Die Überlieferung Nr. 741 (S. 286) in ebendiesem Werk führt uns unmittelbar in das religiöse Milieu, in dem die Ausdehnung des Dschihadbegriffs auf das gesamte Dasein des frommen Muslims erfolgt. Ein gewisser Íātim al-AÒamm (gest. 851 / 2) stellte fest: „Der Dschihad ist von dreierlei Art: Der Dschihad in deinem Inneren gegen den Satan, damit du seine Kraft brichst; der Dschihad in aller Offenheit zum Zwecke der Erfüllung der Glaubenspflichten, damit du sie so erfüllst, wie Allah sie anordnete; der Dschihad gegen die Feinde Allahs, um die Macht des Islams (zu vollenden).“ Dieser Íātim al-AÒamm fand seinen Tod als muº āhid, d. h. jemand, der den Dschihad führt, in der Nähe eines Forts am Oxus (as-Sulamī: Óabaqāt aÒ-Òūfīja, ed. Nūr ad-Dīn Šuraiba, 2. Auflage Kairo 1969, 91; ebd., 95 f. der eben zitierte Ausspruch). Die Unterscheidung zwischen großem und kleinem Dschihad taucht allerdings, wie schon ausgeführt wurde, erst in Quellen des 11. Jahrhunderts auf. 37 Ein eindrucksvolles, aussagekräftiges Beispiel für diese Lebenshaltung bildet die von Fritz Meier herausgegebene Vita des Abū IsÎāq al-Kāzarūnī (gest. 1035): MaÎ mūd b. Ý U× mān: Firdaus al-muršidīja, Leipzig 1948 (Bibliotheca Islamica 14). Während Abū IsÎāq al-Kāzarūnīs Bewegung um Schiraz wirkte, entstanden wenig später im islamischen Westen mit den Almoraviden und den Almohaden ähnliche Gemeinschaften. Bei ihnen scheint übrigens der besagte angebliche Ausspruch Mohammeds keine Rolle gespielt zu haben, ebenso wenig bei den Sufi-Gemeinschaften, die das osmanische Glaubenskämpfertum beflügelten. 38 Man vergleiche das Beispiel des Abū Muslim al-Ëaulānī, eines Zeitgenossen des ersten omaijadischen Kalifen MuÝāwija (reg. 660–680). Abū Muslim wird in der sufischen Literatur unter die achtzig herausragenden Asketen der ersten Generation nach den Prophetengenossen gerechnet und war an den Kriegen gegen das Byzantinische Reich beteiligt. Er pflegte, so wird erzählt, vor der Schlacht streng zu fasten, da „fette Pferde“ im Rennen nicht gewinnen (Abū NuÝ aim: Íiljat al-aulijāÞ, II, 127). Ein Autor der frühen Kreuzzugszeit, ÝAlī b. Óāhir as-Sulamī (gest. 1107), zitiert dies in einer Abhandlung über den Dschihad unter der Überschrift „Die Verbindung vom Dschihad gegen sich selber mit dem Dschihad gegen die Feinde in der Hoffnung auf gute Entlohnung und Entgelt (im Jenseits)“ (Suhail Zakkār : ArbaÝat kutub fī l-ºihād min ÝaÒr al-Îurūb aÒ-Òalībīja, Damaskus 2007, 135). 36 al-Baihaqī:
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MuÎammad b. ÝĪsā al-AqsarāÞī (gest. 1372), und bei ihm findet sich neben einigen Aussagen früher Sufis zu diesem Thema auch das folgende Zitat, dessen Urheber jenem Autor nicht bekannt ist: „Der Dschihad um Allahs willen ist der Dschihad gegen sich selber. Denn wenn du gegen dich selber den Dschihad führst, dann ist dieser Kampf gegen das Selbst nichts anderes als ein Kampf um des Herrn des Selbst willen. Daher sagte (der Prophet): ‚Wir kehrten vom kleinen Dschihad zurück zum großen Dschihad.‘“ Was die sufischen Gemeinschaften nach ihrem eigenen Verständnis von den gewöhnlichen Muslimen abhob, war die skrupelhafte Selbsterforschung, die zu einer bruchlosen Einfügung des Selbst in den Gesetzeswillen Allahs und in sein fortwährendes Bestimmen und Lenken der irdischen Verhältnisse führen sollte. Aus diesem die Person des Gläubigen als ein ganzes umfassenden Kampf bildete der Kampf gegen die Andersgläubigen nur einen kleinen Ausschnitt. Das ist der eigentliche Sinn jenes Satzes.39 Versteht al-ÝAšmāwī sich als einen Verkünder sufischer Lebensideale? Dafür gibt es keine Belege. Aber er greift jenen angeblichen Ausspruch Mohammeds auf, den man im 11. Jahrhundert fabrizierte, um eine bestimmte Lebenshaltung zu legitimieren, und setzt ihn nun zu einem anderen Zweck ein. Wie einst jene Sufis so verschafft auch al-ÝAšmāwī jetzt seinen Gedanken, die es zu Mohammeds Zeit gar nicht gegeben hatte, den Anschein einer Rechtfertigung durch einen autoritativen Text; denn anders kann er seine Vorstellungen im islamischen Milieu nicht stützen.40 Daß er auf diese Weise eine Änderung eingewurzelter muslimischer Haltungen bewirken könnte, ist nicht zu erwarten. Allzu leicht läßt sich sein Textzeugnis als nach den Maßstäben der Schariawissenschaft wertlos erweisen. Denn ihm stehen in Fülle Hadithe wie dieses entgegen: „Welcher Dschihad ist der vortrefflichste?“ wurde Mohammed gefragt, und er antwortete: „Der Dschihad desjenigen, dessen Reittier getötet wurde (so daß er zu Fuß kämpfen mußte) und dessen Blut vergossen wurde!“41 Ja, der Dschihad auf dem Pfade Allahs ist nach den Worten Mohammeds die Handlung, die Allah 39 Suhail Zakkār, op. cit. 305. Dieses „Prophetenwort“ ist apokryph und erst innerhalb der sufischen Dschihad-Bewegungen fabriziert worden; der Herausgeber des Textes hat es in den autoritativen Hadithsammlungen nicht nachweisen können. 40 Ein weiteres Beispiel für eine nicht in den kanonischen Sammlungen belegte, offensichtlich mehrere Jahrhunderte nach Mohammeds Tod fabrizierte Prophetenüberlieferung ist das Hadith: „Die Unterschiedlichkeit meiner Gemeinde (in Dingen der Scharia) ist (ein Zeichen der) Barmherzigkeit (Allahs).“ Dieser Ausspruch soll die erheblichen Differenzen zwischen den Urteilen der Rechtsschulen über zum Teil recht alltägliche Sachverhalte legitimieren. Im Koran hingegen werden Meinungsverschiedenheiten mit schweren Jenseitsstrafen bedroht (Nagel: Das islamische Recht, 284–288). 41 Abū DāÞ ūd (wie Anmerkung 25), witr 12; weitere Belege bei Wensinck: Concordance et indices de la tradition musulmane, IV, 296, rechte Spalte.
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mehr als alle anderen schätzt. „Ihr, die ihr glaubt! Weshalb sagt ihr, was ihr nicht tut? Allah verabscheut sehr, daß ihr sagt, was ihr nicht tut! Allah liebt diejenigen, die auf seinem Pfade kämpfen in einer Schlachtreihe, als wäre sie ein fest gefügtes Bauwerk!“ (Sure 61, 2 f.).42 So verwundert es nicht, daß man beispielsweise im Internet rasch auf Fetwas stößt, die den Dschihad zur Ausdehnung der Macht des Islams befürworten.43 Die in Kuweit veröffentlichte Schariaenzyklopädie widmet dem Thema einen sehr ausführlichen Artikel. Im gemeinsprachlichen Sinn bedeute das Wort Dschihad den Kampf gegen den Feind; dies könne „mit der Hand oder mit der Zunge“ geschehen oder mit anderen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. Der Feind sei von dreifacher Natur: die zu bekriegenden Andersgläubigen, der Satan, die widerspenstige Seele. Allenfalls diesen – übrigens ebenfalls in das 11. Jahrhundert gehörenden44 – Ausspruch könnte man als eine Anspielung auf al-ÝAšmāwīs Belegsatz lesen, wenngleich die Unterscheidung zwischen einem großen und einem kleinen Dschihad fehlt. Ansonsten gilt für die Autoren der Enzyklopädie: „Als Terminus technicus (der Scharia) bedeutet Dschihad den Kampf des Muslims gegen einen Ungläubigen, der (zu den Muslimen) in keinem Vertragsverhältnis steht, und zwar nachdem der (Ungläubige) zur Annahme des Islams aufgefordert worden ist und er dies abgelehnt hat; (der Dschihad dient somit) der Erhöhung des Wortes Allahs.“45 Selbstverständlich wird auch in der Enzyklopädie der Unterschied zwischen der Pflicht der hinreichenden Anzahl und der Individualpflicht erläutert, welch letztere unter bestimmten Umständen entsteht, und man 42 Vgl.
al-BuÌ ārī: ÑaÎīÎ, ºihād 1; mit dem Koranvers auch ad-Dārimī: Sunan, ºihād 1. 43 Ein Beispiel, verfaßt von einem gewissen Dr. Imad Mustafa: http://www.jpost. com / Opinion / Columnists / Article.aspx?id=203876 (21. Januar 2011) 44 Er stammt von dem Theologen ar-Rāġib al-IÒfahānī (gest. 1108). 45 Die letzten Worte zitieren mittelbar Sure 9, Vers 40, in dem Mohammed auf seine Vertreibung aus Mekka zurückblickt. Allah gab ihm Zuversicht, indem er ihm die himmlischen Heerscharen zeigte, die für ihn ins Gefecht ziehen würden. „So verwies (Allah) das Wort der Ungläubigen nach unten, während das Wort Allahs das obere war.“ Das erste große arabische Konversationslexikon, das 1886 in Beirut erschienene „Kitāb dāÞirat al-maÝārif“, teilt unter dem Stichwort Éihād (VI, 572) ebenfalls mit, daß die Andersgläubigen zur Annahme des Islams aufgefordert werden müßten; sollten sie sich diesem „Ruf“ verschließen, hätten sie zu gewärtigen, daß die Muslime gegen sie Krieg führten; die Bedingungen, unter welchen den besiegten Andersgläubigen Sicherheit für Leben und Eigentum gewährt werden dürften sowie die Behandlung der Kriegsgefangenen sind die weiteren Themen des Artikels – ein nicht zu entkräftender mittelbarer Beleg dafür, daß die Umdeutung des º ihād zum Kampf gegen das Selbst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, die die islamische Geschichte und den Islam selber vom Makel der Verknüpfung der Religion mit dem Krieg befreien soll. Sie verallgemeinert Gedankengut, das dem Sufitum des 11. Jahrhunderts angehört.
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stößt auf viele Gedanken, die in der Zeitschrift „Ñaut al-ºihād“ mit dem gleichen Ergebnis erörtert wurden.46 Was letztere vor allem vom Enzyklopädieartikel unterscheidet, ist die eingehende Betrachtung der innigen Verflechtung der Legitimität islamischer Machtausübung mit dem Dschihad, eine Thematik, die eine mit staatlichen Geldern geförderte Publikation natürlich meiden muß. 3. Recht als Moral Schon mehrfach ist angeklungen, daß die islamische Rechtsgelehrsamkeit im 9. Jahrhundert jenen Weg einschlägt, dem sie bis in die Gegenwart treu bleibt: Nicht mehr der juristische Sachverstand soll die Quelle von Grundsätzen des Rechts sein und auch nicht von einzelnen Urteilen. Viel zu unsicher wäre eine solche Rechtsfindung, da doch Allah der eine Gesetzgeber ist. Das kann nichts anderes heißen, als daß sich seine legislativen Offenbarungen eben nicht in den Ansichten gewöhnlicher, wenn auch sachkundiger Menschen manifestieren, mögen sich diese auch durch ein feines Gespür dafür auszeichnen, was recht und billig ist. Das Prophetentum ist seit dem Tod Mohammeds endgültig abgeschlossen. Die göttliche Botschaft, die er überbrachte, ist allumfassend. Daher genügt es nicht, daß in menschengemachte Urteile oder Rechtsgrundsätze ab und an Aussagen des Korans oder des Hadith einfließen – der Koran und das Hadith müssen vielmehr die Quellen sein, auf die die gesamte Jurisprudenz zurückzuführen ist, und zwar so, daß eigene Erwägungen der Juristen über Recht und Unrecht außer Betracht bleiben. Aš-ŠāfiÝī (gest. 820) erhob und durchdachte diese Forderung als erster und legte seine Erkenntnisse in einer Theorie der Herleitung sämtlicher rechtlicher Bestimmungen aus den beiden autoritativen Textgattungen nieder: Die Rechtspflege mit all ihren Sachbereichen wird nächst dem Vollzug der Pflichtriten der wichtigste Ausdruck der sich im islamischen Gemeinwesen verwirklichenden Herrschaft Allahs. Weder der Inhalt des Korans noch derjenige des Hadith ist jedoch auf die Themen der Jurisprudenz beschränkt. Der Koran kommt auf alles zu sprechen, was im Gesichtskreis Mohammeds lag; das Hadith zeigt dem Leser darüber hinaus alles, was die Mitglieder des frühen islamischen Gemeinwesens bewegte, vom Parteienhaß, der im 7. Jahrhundert die Gemeinde zerriß, bis hin zu den Einzelheiten des Dschihads, der Landnahme, des Kultes, der Kleidung, des Essens, des Beischlafs und zu Antworten auf die Frage, wer ein guter Muslim sei und was ihn im Endgericht und danach erwarte. Es gab, wenn man den Lebenszuschnitt und die Mentalität des frühmittelalter46 al-MausūÝa al-fiqhīja, 45 Bände, Kuweit 1993–2007, hier: Online-Ausgabe, XVI, s. v. al-ºihād.
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lichen Muslims zugrunde legt, wohl nichts, was in Koran und Hadith nicht angesprochen worden wäre. Dieser Umstand war die Voraussetzung für die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Scharia ins ungewisse, die, wie schon beschrieben wurde, im 11. Jahrhundert abgeschlossen war und in der Gestalt des Muftis die professionelle Ausprägung fand. Die Gutachten der Muftis konnten, wie ebenfalls bereits erläutert, in ein und derselben Angelegenheit höchst unterschiedlich ausfallen, ein Mangel, der durch das Erfordernis der subjektiven Ehrlichkeit ausgeglichen werden sollte. Doch nicht allein durch diese letzten Endes unbestimmte Hoffnung wurde die Unstimmigkeit der schariatischen Bewertungen erträglich gemacht, sondern vor allem durch die immer wieder beschworene Behauptung, daß alle diese Bewertungen für die Herrschaft der gottgewollten Moral bürgten. Die Scharia, wie verwirrend die Aussagen auch sein mögen, in denen sie zur Geltung gebracht wird, ist ganz unabhängig hiervon der edelste dem Menschen erreichbare Moralkodex. Es ist kaum eine Freitagspredigt denkbar, in der den Zuhörern dieses Dogma nicht wörtlich oder wenigstens in Anspielungen eingehämmert würde. Da sie Muslime sind, sind sie die Menschen mit der höchsten Moral, sofern sie sich nach der ihnen durch die Gelehrten ausgelegten Scharia richten; es gibt keine Glaubensgemeinschaft, die in dieser Hinsicht der islamischen gliche. Eine 1947 von der Universität Paris angenommene Dissertation eines späteren Dozenten der al-AzharHochschule enthält einen umfangreichen Katalog von Koranstellen – zumeist handelt es sich um Bruchstücke von Versen –, aus denen dieser Stoff geschöpft werden kann. Zur islamischen Moral des einzelnen gehören das Wandeln auf dem geraden Weg (Sure 11, 6) und das Läutern der Seele, das den Gewinn des Glücks verheißt (Sure 91, 9 f.); das demütige Benehmen ist den Frauen abzuverlangen (Sure 24, 30–33 und 60); die Gottesfurcht wird mit dem Paradies belohnt (Sure 79, 40 f.) usw.47 Vielfältig sind die moralischen Verpflichtungen, die die Bindungen zwischen den Ehegatten stärken; die Männer stehen über den Frauen (Sure 2, 228 und Sure 4, 34), sie haben daher einen größeren Anteil an Nachlässen zu beanspruchen (Sure 2, 236 f.), niemand darf ihnen den durch Allah festgelegten Anteil neiden (Sure 4, 32).48 Es folgen Blütenlesen zum moralischen Verhalten gegenüber den übrigen Mitmenschen, zur Moral der Staatsmacht und schließlich zur religiösen Moral. „Du bist wahrhaftig ein Mann von höchster Moral!“ läßt sich Mohammed in Sure 68, Vers 4 durch Allah versichern. Mohammed braucht sich um sein moralisches Handeln freilich nicht zu bemühen, denn es ist seinem Wesen 47 M.
A. Draz: La morale du Koran, Kairo 1950, 554–557. 579, 583, 585.
48 Ebd.,
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eigen (Sure 38, 86).49 Solche Sätze zeigen, daß der arabische Begriff alÌ uluq, Pl. al-aÌ lāq, den man mit Moral übersetzt, durch dieses Wort nicht hinreichend genau wiedergegeben wird. Wie Sure 38, Vers 86 belegt, meint das Wort einen Charakterzug, der sich spontan im Verhalten niederschlägt, sofern dieses nicht dem Einfluß äußeren Zwanges unterliegt. Es fehlt dem arabischen Begriff das ihm nach europäischer Vorstellung eigene präskriptive Moment: Mohammed handelt moralisch, weil ihm durch Allah diese Art des Handelns anerschaffen ist. Für die Muslime hingegen ist das präskriptive Moment selbstverständlich: „Ich wurde (zum Gesandten) berufen, um die fromme Moral zu vervollkommnen“, soll Mohammed gesagt haben.50 „Den vollkommensten Glauben hat der Gläubige, der die schönste Moral hat …“.51 Dieses Hadith setzt die Gläubigkeit mit der erfolgreichen Ausbildung einer islamischen Moral, eines islamischen Charakters, gleich. Dieser ist entschieden mehr als die bloße Beachtung der einzelnen Bestimmungen der Scharia. Wenn man sich, indem man die eigene Charakterstärke oder die eigene Schwäche nüchtern in Rechnung stellt, nach besten Kräften um ein schariatreues Dasein bemüht, dann eben führt man ein im islamischen Sinn moralisches Leben. Dies ist der Grundgedanke, mit dem der Rechtsgelehrte und Gottesfreund aš-ŠaÝrānī (gest. 1565) die Nöte des um die Einhaltung der oft widersprüchlichen Schariavorschriften ringenden kleinen Mannes zu beheben hofft. Bei ein und demselben Sachverhalt fordern sie, je nach Rechtsschule, oft ein ganz unterschiedliches Verhalten; der Ungewißheit darüber, was richtig ist, entkommt man, indem man der Regelung folgt, die einen für sich selber am beschwerlichsten dünkt. Mit diesem Grundsatz, der „Moralisierung“ des Rechts, glaubt aš-ŠaÝrānī, das Werk aš-ŠāfiÝīs vollendet zu haben.52 Daß damit die Rechtsunsicherheit prinzipiell wird, ist für ašŠaÝrānī offensichtlich kein Anlaß zur Sorge. In der seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebhaft geführten Debatte um die Möglichkeiten der erneuten Fundierung des Rechts der islamischen Länder auf der Scharia spielt das moralische Moment des islamischen Rechts eine wichtige Rolle. Dieses Moment mache die Überlegenheit der Scharia über das westliche Recht aus, liest man beispielsweise in der Einführung zu einer seinerzeit in Angriff genommenen, bis heute nicht vollendeten enzyklopädischen Übersicht über die gesamte schariatische Überlieferung. Der Verfasser legt dar, wessen sich das islamische Recht unter anderem rühmen dürfe: „1. Der spirituelle, den Zustand 49 Vgl.
ar-Rāzī: MafātīÎ al-ġaib, XXX, 71 f., zu Sure 68, Vers 4. b. Í anbal: Musnad, II, 381; neue Ausgabe, Bd. XVII, 79, Nr. 8939, daselbst weitere Belege. Eine häufige Variante lautet: „… um die edle Moral zu vervollkommnen“. 51 Ebd., II, 250; neue Ausgabe, Bd. XIII, Nr. 7396. 52 T. Nagel: Das islamische Recht, 292. 50 AÎ mad
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der Knechtung (des Menschen vor Allah) zum Ausdruck bringende Charakter, der einer jeden schariatischen Bestimmung anhaftet und die Ausbildung des spirituellen Gewissens und des in der Glaubenspraxis enthaltenen zügelnden Faktors verbürgt; in beidem liegt der mächtigste Garant für den Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Die positiven Rechtssysteme weisen nichts dergleichen auf. – 2. Die schariatischen Bewertungen haben eine größere Reichweite als diejenigen der positiven Rechtssysteme, vor allem insofern, als sie auch die tugendhaften und die lasterhaften Verhaltensweisen betreffen. Denn alle tugendhaften Verhaltensweisen werden in der Scharia (den Menschen) befohlen; sie sind mithin Pflicht. Alle lasterhaften sind untersagt, mithin verboten. In den (diesbezüglichen) Bestimmungen einer jeden der beiden Arten finden sich eine ethische und eine spirituelle, auf die Knechtung bezugnehmende Bedeutung. So weisen sie eine allumfassende Kraft auf, anders als die positiven Rechtssysteme. Denn, trocken wie sie sind, nehmen sie tugendhafte und lasterhafte Verhaltensweisen nur vom Materiellen her in den Blick. – 3. Sowohl den schariatischen Bestimmungen als auch den positiven Rechtssystemen stehen weltliche Institutionen zu Gebote, die deren Anwendung und dergleichen beobachten. Allerdings zeichnen sich die schariatischen Bewertungen durch einen ungleich höheren Beobachter aus, nämlich durch den Allwissenden, Allkundigen, der vom verräterischen Blick und von allem weiß, was die Herzen verbergen. Wer gegen ein positives Gesetz verstößt und der (irdischen) Beobachtung entrinnt, dem widerfährt nichts. Wer gegen die islamische Scharia verstößt und den irdischen Institutionen der Beobachtung entgeht, der wird nicht der Beobachtung durch den Höchsten entkommen und in jedem Fall seine Strafe erhalten. Dies ist einer der größten Vorzüge schariatischer Gesetzgebung, einer der stärksten Beweggründe für den Gehorsam und die Beachtung der Bestimmungen im Geheimen und in der Öffentlichkeit.“53 Aleksandr Ignatenko hatte seine Überlegungen zum endogenen Radikalismus des Islams aus der Tatsache abgeleitet, daß das Postulat der göttlichen Herkunft aller Normen dazu zwingt, immer wieder auf ein und denselben Grundstock von autoritativen Aussagen zurückzugreifen. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto störender macht sich der kulturelle und intellektuelle Abstand zu den Verhältnissen bemerkbar, die sich in jenen Aussagen widerspiegeln – und desto heftiger ist für die Gläubigen der Impuls, die Forderungen der autoritativen Texte in „reiner“ Form zu verwirklichen. Die zahllosen und widersprüchlichen Bewertungen, die die Schariawissenschaftler aus einzelnen Aussagen herleiteten und die in umfangreichen, über Jahrhunderte gewucherten Kompendien aufgezeichnet sind, erscheinen in dieser Sicht als Schutt, der endlich weggeräumt werden muß, um das Eigentliche 53 Ebd.,
337 f.
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wieder freizulegen. Der Koran und das Hadith selber sollen sprechen. Was das im praktischen Leben heißt, ist freilich ebenso wenig eindeutig wie die konkreten Bestimmungen der Scharia oder die Fetwas. So hielten es die Mitglieder der ägyptischen Gruppe at-Takfīr wal-hiº ra54 für geboten, den Dschihad gegen die als ungläubig wahrgenommene Gesellschaft mit Schwert, Lanze, Pfeil und Bogen zu führen, mit den Waffen eben, die man zur Zeit des Propheten kannte und die daher in den autoritativen Texten erwähnt werden. Die Mehrzahl der radikalen, an den „reinen“ Quellen orientierten Muslime geht so weit nicht; sie nutzt Kalaschnikows, Mobiltelefone und andere Errungenschaften der Gegenwart für ihren Kampf.55 Die immer wieder ins Werk gesetzte „Erneuerung“, die in einem Zurück zu den „unbefleckten“ Aussagen des Korans und des Hadith besteht, bezieht ihre Durchschlagskraft jedoch nicht allein aus der numinosen Autorität dieser beiden Textgattungen. Weit kräftiger und in jeglicher Art islamischer Rhetorik, mag sie politischen, gesellschaftlichen oder intellektuellen Themen gelten, mittels allfälliger Topoi tausendfach beschworen, wirkt auf den Muslim die Botschaft von der moralischen Mission, die ihm aufgetragen sei. Allein deswegen glaubt er, einen eigenen, den richtigen Weg der Weltbewältigung zu kennen. Denn die materiellen und geistigen Errungenschaften der Gegenwart lassen sich nun einmal nicht aus der islamischen Überlieferung herleiten; sie sind die Frucht einer fremden Kultur, die, weil menschengemacht, im öffentlichen Diskurs der islamischen Welt in aller Regel zutiefst verabscheut, im privaten Alltag aber heiß begehrt wird.56 Von Muslimen in die Debatte geworfene Behauptungen wie „Dem Islam verdankt Europa die Kunst des Rechnens!“ werden zwar von den politisch Korrekten mit gespielter Ehrfurcht aufgenommen, aber sowohl sie wie die betreffenden Muslime wissen, daß dies nicht stimmt. Wie hätten wohl der Parthenon in Athen oder das Pantheon in Rom ohne die Fertigkeit des Rechnens errichtet werden sollen? Der Beitrag der islamischen Kultur zur Moderne ist verschwindend gering. Und so bleibt eben vor allem die angeblich unübertreffliche Moral als das Generalthema muslimischer Selbstvergewisserung. Je bedrängender die westliche Zivilisation erscheint, je uneinholbarer der Rückstand zu den Ländern der sogenannten Ersten Welt, desto verlockender ist für viele Muslime die Zuflucht in einer immer radikaler 54 D. h. die Gesellschaft „für ungläubig zu erklären“ und „die Auswanderung aus ihr zu vollziehen“, wie einst Mohammed das ungläubige Mekka verließ, es dann mit Krieg überzog, um die Bewohner zum wahren Glauben zu zwingen. 55 A. Ignatenko (wie Anmerkung 4), 117. 56 Vgl. hierzu Bernard Lewis: The Muslim Discovery of Europe, London 1982. Die Welt der Ungläubigen war, wenn man von Handelsreisenden absieht, kein Gebiet, das ein Muslim zu betreten begehrte, es sei denn als muº āhid. Das „Zeitalter der Entdeckungen“ ist für die europäische Geschichte kennzeichnend.
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ausgelegten moralischen Mission. Diese Zuflucht ist im Islam selber angelegt; die Radikalisierung der Ablehnung des Nichtislamischen ist ein seit Jahrhunderten zu beobachtender Vorgang, der seit einiger Zeit eine Zuspitzung erfährt. Selbst muslimische Denker, die im Geruch der Liberalität stehen, sind hiervon betroffen, wie gleich zu erörtern ist. 4. Islamische Säkularität? Die religiösen Züge des Islams scheinen in dieser Instrumentalisierung der Botschaft Mohammeds in den Hintergrund zu rücken (vgl. Abschnitt A., Text VI). Es geht um das Festhalten einer islamischen Identität unter geschichtlichen Umständen, die womöglich auf eine Streichung der Botschaft Mohammeds aus dem Gedächtnis der Menschheit zulaufen. Dies zu unterbinden, ist ein im weitesten Sinn politisches Ziel, weswegen man heute gern von einer Politisierung und Ideologisierung des Islams spricht. Das ist insofern gerechtfertigt, als die in der heutigen islamischen Welt allgegenwärtige Parole „Der Islam ist die Lösung!“ unterstellt, man solle Politik allein auf den Grundlagen dieser Religion betreiben. „Islam“ erscheint somit als ein totalitäres Gedankengebäude, das die Menschen ohne Rücksicht auf ihre individuellen Bestrebungen vereinnahmt und einem unbegrenzten Machtanspruch unterwirft. Die zur Moral ausgeweitete Scharia erzwingt in der Tat diese Auslegung, die inzwischen selbst in der islamischen Welt ihre Befürworter hat: Der Islam ist eine Ideologie, die dem Kommunismus in ihrem allumfassenden Herrschafts- und Geltungsanspruch vergleichbar ist. „Wir bemerken, daß die zeitgenössischen Bewegungen des politischen Islams, indem sie nach Macht und Herrschaft streben und den Verstand gegen das Erfassen des Tatsächlichen und der Wirklichkeit abschirmen dergestalt, daß er im Einklang mit der Ideologie zu einem Instrument wird, das sich willig der Sichtweise ihrer Theoretiker fügt, sich durch die Entwürfe des Vergangenen inspirieren lassen. Dies geschieht entsprechend einer unzulänglichen, stückweisen Lektüre der Schariawissenschaft und der theologischen Dogmatik. Denn diese Bewegungen begnügen sich nicht mit Glaubensvorstellungen (mit theoretischer Erkenntnis), sondern beharren darauf, die Vergangenheit zur Gegenwart herzuzerren. Sobald sie aber damit scheitern, beginnen sie mit einer entgegengesetzten Tätigkeit – sie zerren Gegenwart und Zukunft hin zur Finsternis des Vergangenen.“ So bringt ein arabischer Autor das intellektuelle Elend des ideologisierten islamischen Denkens der Gegenwart auf den Punkt.57 Was den Islam gegenüber dem Kommunismus allerdings auszeichnet und von diesem Autor, wie von vielen anderen 57 SāmiÎ MuÎ ammad IsmāÝ īl: Īdijūlūºijā l-islām as-sijāsī waš-šujūÝīja. Dirāsa muqārana, Beirut 2010, 202.
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auch, außer Betracht gelassen wird, ist der Umstand, das dem Kommunismus die äußerst nützliche Stütze eines tagtäglich zu übenden Ritus fehlt. Frömmigkeit, und wäre es auch irregeleitete Frömmigkeit, bildet den jahrhundertealten Boden, in dem die Islamideologie wurzelt und aus dem sie sich nährt. Denkt man allerdings den Begriff „Ideologie“ von der europäischen politischen Zivilisation aus, dann kommt einem eine Verwurzelung in der Religion erst zuallerletzt in den Sinn. Denn die Religion erscheint bestenfalls als Religionsersatz; eher ist an die Vertreibung der Religion aus Gesellschaft und Politik zu denken. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben westliche Beobachter auch in der islamischen Welt Anzeichen für eine solche Vertreibung zu erkennen geglaubt, die vorschnell für ein vom Westen ausgegangenes weltweites und unumkehrbares Phänomen erklärt wurden. Das religiöse Empfinden, das die Gemeinschaft (arab.: al-umma) der Muslime eine, trete zugunsten des nationalen in den Hintergrund; die islamische Welt stehe im Begriff, sich in Nationalstaaten nach europäischem Vorbild zu gliedern. Das Paradebeispiel hierfür schien die Türkei zu bieten. Hatte nicht Atatürk 1924 das Kalifat abgeschafft und seinem Staat den Laizismus als das nunmehr verpflichtende Ideal auferlegt? So jedenfalls wollte und will es die deutsche politisch-mediale Klasse bis in die Gegenwart wahrhaben. Man übersieht dabei freilich, daß Atatürk die Frage nach der Stellung des Islams in seiner Republik keineswegs aus Desinteresse beiseite geschoben oder gar offengelassen hat. Er hat sie durchaus entschieden. „Weil das Kalifat an und für sich in dem Inhalt und Sinn der Begriffe Regierung und Republik eingeschlossen liegt, wird das Amt (Hervorhebung von mir, T. N.) des Kalifats abgeschafft“, heißt es in der einschlägigen Verlautbarung der atatürkschen Regierung vom März 1924.58 Die die geplante Modernisierung störenden Rechtsgelehrten und Muftis, als deren Oberhaupt man den Kalifen betrachtete, waren nunmehr ihres Einflusses auf die Staatsführung beraubt,59 nicht aber ihres Einflusses auf die sunnitische Bevölkerung. Wenn die türkische Republik, auf welche Art auch immer, das Kalifat verkörpert, dann folgt daraus, daß nur Sunniten Glieder dieses Körpers sind. In verhüllter Form wird das Sunnitentum zur Staatsreligion erklärt, und die ebenfalls 1924 gegründete staatliche Religionsbehörde, die damals wie heu58 Naşit
Hakki Uluğ: Halifeliğin sonu, Istanbul 1975, 190. Lewis: The Emergence of Modern Turkey, Oxford 1961, beschäftigt sich wiederholt mit dem Widerstand der Rechtsgelehrten gegen die Reformbestrebungen der Sultane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: über die Verhältnisse unmittelbar vor der Abschaffung des Kalifats vgl. 396–410. Wie negativ die von Eu ropa inspirierten Reformen in unterschiedlichen Teilen der islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert aufgenommen wurden, vermittelt der Essay von Elie Kedourie: Der Islam heute, in: B. Lewis (Hg.): Welt des Islam, Braunschweig 1976, 321–334. 59 Bernard
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te gewährleisten soll, daß im Staate und unter den Türken im Ausland das Sunnitentum in der „richtigen“ Form praktiziert wird,60 macht diesen Sachverhalt öffentlich. Das von Atatürk in Gang gebrachte Reformprogramm faszinierte die westlichen Beobachter, zog aber die Aufmerksamkeit von dem Umstand ab, daß das Sunnitentum de facto seine staatstragende Rolle behalten hatte. Der Laizismus wurde zusammen mit fünf weiteren auf die atatürksche Staatsform bezogenen Schlagwörtern zu den „sechs Pfeilen“ erhoben, die das Programm der Staatspartei symbolisierten, 1937 fanden diese „Pfeile“ sogar Eingang in die Verfassung. Sie standen für das Selbstverständnis der neuen, verwestlichten Elite des Landes, die es jedoch verabsäumte, eine vertiefte, grundsätzliche Debatte über die Funktion des Islams in der Republik zu führen. So blieb der Islam der Kern des Selbstverständnisses der breiten Masse, die sich die vermeintlichen und tatsächlichen Fehler der Elite mit deren Mangel an islamischer Gläubigkeit erklärte. Allmählich zerbröckelte das Fundament des Laizismus der politischen Elite, die gegenwärtig durch jene Kräfte aus der Macht gedrängt wird, die aus dem „islamisch“ geäußerten Unmut des „kleinen Mannes“ geschickt politisches Kapital zu schlagen verstehen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Ankara eingerichteten religions- und islamwissenschaftlichen Studiengänge spiegelten die skizzierten unentschiedenen Verhältnisse wider. Sie wurden zwar westlichen wissenschaftlichen Einflüssen geöffnet, beachten aber, sofern die islamische Theologie betroffen ist, deren für unanfechtbar geltenden Wahrheitsanspruch. Die westliche Wissenschaft und das islamische „Wissen“ werden gewöhnlich nicht streng auseinandergehalten, sondern de facto in eins gesetzt und vom islamischen „Wissen“ aus erörtert, wie dies in anderen Teilen der islamischen Welt ebenfalls üblich ist. Auf das islamische Recht, soweit es die Bereiche staatlicher Gesetzgebung berührt, darf jene Religions- bzw. Islamwissenschaft natürlich nicht ausgedehnt werden. Der Begriff Scharia wird mit Bezug auf die türkische Republik nicht verwendet, obwohl deren staatliche Religionsbehörde in Verfolg ihres Auftrags unablässig Fetwas zu Fragen des 60 Vgl. den Internetauftritt der staatlichen türkischen Religionsbehörde (Diyanet İşleri Başkanlığı), Eintrag „Temel İlkeler ve Hedefler“ (http://www.diyanet.gov. tr / turkish / default.asp, heruntergeladen am 23. April 2009). Die ihr zugeordneten Mufti-Behörden unterhalten einen Telefondienst „Hallo Fetwa!“, dessen Zweck der Mufti von Erzurum am 23. Juli 2010 wie folgt beschrieb: „Im Kopf unseres Menschen können sich immer wieder Fragen und Zweifel bilden. Das ist eine ganz natürliche Sache. Unser ‚Hallo Fetwa!‘ geht in Betrieb, um unserem Volk in solchen Situationen zu dienen. Was in religiösen Fragen unternommen werden mußte oder unternommen werden muß, die Formen des Verhaltens und Benehmens, die Bestimmungen“ – der Scharia? – „die Maßstäbe und Fundamente werden dank dieser Einrichtung zum Nutzen unserer Landsleute angeboten.“ (http://www.erzurumgaze tesi.com.tr. / default.asp?.page=haber&id=43006, heruntergeladen am 7. Juni 2011).
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Ritus und vor allem auch der allgemeinen Lebensführung erteilt. Auch dies verrät den erwähnten unbestimmten Stand des Verhältnisses zwischen Laizismus und Staatsreligion. In Ankara hat man sich darum bemüht, diese Sachlage islamisch zu legitimieren: Die Aussparung der staatlichen Legislative aus der unmittelbaren Zuständigkeit der Scharia wird damit gerechtfertigt, daß die konkreten herrscherlichen Maßnahmen schon zu Mohammeds Zeit von den jeweils obwaltenden Begleitumständen abhängig gewesen seien, heute demnach anders ausfallen müßten als seinerzeit. Um den Zusammenhang zwischen der jeweils einmaligen Situation und der auf sie zugeschnittenen gottgewollten, durch den Propheten verkündeten Gesetzgebung Allahs zu verdeutlichen, beschäftigt sich die „Ankaraner Schule“ der Islamwissenschaft ausführlich mit der „Vorgeschichte der Herabsendung“ bestimmter Koranverse.61 Irrtümlich wird meist angenommen, man betreibe in Ankara auf diese Weise die Historisierung der Gestalt Mohammeds, wie dies in Europa seit dem 19. Jahrhundert mit Bezug auf Jesus geschieht (vgl. Abschnitt D., Text IV). In Wirklichkeit steht jedoch nicht der geschichtliche Prophet zur Debatte, sondern die Rettung des Schariakonzepts: Was den Umständen sowie den Interessen der Muslime angemessen ist, entströmt dem ewig wahren und unveränderlichen Gesetzeswillen Allahs. Auch anderswo in der islamischen Welt begann man in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts darüber nachzudenken, inwiefern der Islam eine Religion und zugleich ein politisches System sein könne oder müsse. „War (Mohammed) auch Schöpfer eines politischen Staates und Oberhaupt einer Regierung, so wie er der Gesandte einer religiösen Mission und der Führer einer religiösen Einheit gewesen ist?“ fragte der ägyptische Richter ÝAlī ÝAbd ar-Rāziq (1888–1966) in seiner 1925 veröffentlichten Schrift „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“. Den Lesern, so befürchtet der Autor, werde diese Frage ungeheuerlich erscheinen. Er beschwichtigt sie: Den Kern des islamischen Glaubens taste sie gerade nicht an, denn bloße Machtausübung, in der Vergangenheit meist als Königtum apostrophiert, hätten die Muslime nicht mit der Herrschaft des Propheten gleichgesetzt. Mohammed ist nach ÝAlī ÝAbd ar-Rāziqs Ansicht eine Ausnahmeerscheinung in der Menschheitsgeschichte. Er war Prophet, und seinem Handeln eignet sehr wohl der Aspekt der Machtausübung. Indessen gab es unter ihm, wenn überhaupt, dann nur sehr wenige und ganz unfertige staatliche Institutionen – Mohammed habe die Menschen allein schon dank seiner spirituellen Kraft um sich zu scharen vermocht. Diese Gabe besaßen die islamischen Machthaber nach ihm nicht mehr; sie waren auf den Ausbau der Institutionen angewiesen. So erklärt sich ÝAlī ÝAbd ar-Rāziq, daß der islamische Staat, 61 Ich behandele diesen Gegenstand in: Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008, 112–116.
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welche Form auch immer er angenommen haben mochte, niemals ein Erbe der mohammedschen Machtausübung in Medina habe sein können. Wie sonst solle man verstehen, daß die Wirklichkeit islamischer Herrschaft meist der pure Despotismus sei? Sultanat, Kalifat, sie alle seien abzulehnen. Nur wenn Gleichheit und Brüderlichkeit, also allgemeine Kennzeichen der medinensischen Epoche, wieder die Oberhand gewönnen, verschwände dieser Despotismus; eines einheitlichen islamischen Staatswesens – ÝAlī ÝAbd arRāziq denkt vermutlich an ein neues Kalifat – bedürfe man zum Erreichen jener hochgesteckten Ziele nicht.62 Skeptische Stimmen wie diejenige ÝAlī ÝAbd ar-Rāziqs blieben selten. Der Hauptstrom des muslimischen politisierenden Schrifttums sieht in der islamischen Verquickung von Religion und Staat die ideale politische Ordnung und versucht, in der Geschichte deren Vorzüge zu entdecken und diese für die glückliche Zukunft der gesamten Menschheit anzupreisen. Es gehört zum Standard dieser meist ganz oberflächlich und unseriös argumentierenden Traktate, Kernbegriffe der europäischen politischen Zivilisation für ursprünglich islamische Errungenschaften auszugeben. Es muß dabei allerdings die unangenehme Frage abgewehrt werden, weshalb jene Errungenschaften in der fast 1400 Jahre währenden Geschichte des Islams nie wirklich zur Geltung kamen – außer, wir ahnen es, in der medinensischen Urgemeinde. Am Ende sind an diesem Versagen meist die Europäer schuld, die Kreuzfahrer, die Imperialisten, bisweilen sogar die Orientalisten. Diese Diskurse, deren Dokumentierung nicht die Mühe lohnt, versteigen sich nicht selten in die Behauptung, das wahrhaft freiheitliche, demokratische Staatswesen, das islamische, beruhe auf der durch Allah in Sure 42, Vers 38, erwähnten Beratung, die die Muslime untereinander halten sollten. Ein demokratisches Gemeinwesen der islamischen Art vermag mithin zu existieren, ohne daß es ein freigewähltes Parlament und politische Parteien gibt, ohne ein Gewaltmonopol des Staates und ohne Gewaltenteilung. Es genügt, daß die Inhaber der Macht sich irgendwelche in der Scharia beschlagenen Berater zulegen. Westliche Islamenthusiasten wie die US-Amerikaner J. O. Voll und J. L. Esposito vermögen im Islam sogar eine „demokratische Essenz“ zu erkennen, die sich in den fundamentalistischen Bewegungen Bahn breche.63 In dieser Sicht der 62 Ý Alī Ý Abd ar-Rāziq: al-Islām wa-uÒūl al-Îukm, ed. Í asan Ý Ammāra, Beirut 1972, 144 und 165; vgl. T. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 207–215. Vgl. ferner Andreas Meier: Politische Strömungen im modernen Islam, Wuppertal 2002, 54 f., 138 und 161. Eine deutsche Übersetzung des Textes von ÝAlī ÝAbd ar-Rāziq erschien 2009 in Frankfurt / Main in den Leipziger Beiträgen zur Orientforschung Nr. 24. 63 Voll / Esposito: Islam’s Democratic Essence, in: Middle East Quarterly, September 1994 (http://www.meforum.org / 151 / islams-democratic-essence). Vgl. unten, Anmerkung 91.
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Dinge muß man selbst das radikal-islamische Militärregime im Sudan als den Versuch einer konsensualistischen Beteiligung des Volkes an der Macht schönreden, wie es J. O. Voll vor dem auswärtigen Ausschuß des Repräsentantenhauses im Mai 1992 tat.64 Eine nüchterne Analyse der Schriften herausragender Repräsentanten des Islams des 20. Jahrhunderts hat zu dem Ergebnis geführt, daß in keinem der untersuchten Fälle auch nur das Bemühen um eine vorurteilsfreie Kennt nisnahme laizistischer Ideen zu bemerken war.65 Allahs Gemeinwesen ist eben eine Theokratie und kann infolgedessen niemals eine Republik66 sein. Deren institutionelle Form mag, wie in Iran geschehen, beibehalten werden, sie wird aber ihres Sinnes beraubt, indem allen demokratischen Entscheidungsgremien „Wächterräte“ vorgeordnet werden, in denen die Schariagelehrten darüber befinden, was zu tun ist. Aus dem Gefängnis der Vorgaben der islamischen Religion auszubrechen, gelingt nicht, solange man mit dem Problem ringt, wie man seinen religiös-politischen Glauben bewahren und zugleich ein freiheitliches Denken etablieren könne. Im 20. Jahrhundert haben sich muslimische Schriftsteller mehrfach mit dieser Quadratur des Kreises abgemüht; sie ernteten meist weniger Beifall von ihren Glaubensgenossen als von westlichen Beobachtern, die zu sehen meinten, wie ein säkularisierter, laizistischer, „liberaler“ Islam im Entstehen begriffen sei. Die Hoffnungen trogen noch immer. In den letzten Jahren ruhten sie auf dem Marokkaner MuÎammad ÝĀbid al-Éābirī (Jabri) (1936–2010), mit dessen religiös-politischer Programmschrift „Die Religion, der Staat und die Anwendung der Scharia“ wir diesen Abschnitt schließen. Al-Éābirī spricht in diesem zuerst 1996 veröffentlichten Traktat eine Wahrheit aus, die man in der islamischen Welt nicht gern zur Kenntnis nimmt: Die Muslime leben in ihren eigenen Ländern nicht mehr in einer Kultur, die sie selber geschaffen haben. Ein „islamisches Erwachen“, von dem so viel geredet werde, hält er nicht für ausreichend, um den sich täglich vergrößernden Abstand zu den entwickelten Ländern zu verringern. Eine Erneuerung an Haupt und Gliedern sei unumgänglich. Einfach zu erwachen, bedeute, daß man die Arbeit, die man am Abend ruhen ließ, mit gestärkten Kräften wiederaufnehme. Daß dergleichen in der islamischen 64 Martin Kramer: Ivory Towers on Sand. The failure of middle eastern studies in America, Washington 2001, 50. 65 Lukas Wick: Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?, Würzburg 2009. Vgl. meine ausführliche Besprechung in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 2009, 261. Jahrgang Heft 3 / 4, 194–210. 66 Insofern ist der Titel des Buches von G. Krämer „Gottesstaat als Republik“ irreführend. Denn die hier vorgetragenen „Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie“ stehen grundsätzlich unter dem Vorbehalt der unanfechtbaren Wahrheit und Gültigkeit des Islams.
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Welt möglich sei, kann sich al-Éābirī nicht vorstellen.67 Er widersagt der unter Muslimen so beliebten Vorstellung, die vorherrschende westliche Kultur sei im Kern islamisch, und hält nichts von der so oft vorgebrachten Behauptung, die Grundlagen einer ursprünglich islamischen Kultur seien durch Europa usurpiert und in „materialistischer“, unislamischer Weise genutzt worden. Al-Éābirī lehnt die bei Muslimen beliebte These ab, jener Frevel des Westens habe zu den vermeintlichen bzw. tatsächlichen Mißständen der Gegenwart geführt, die behoben sein würden, sobald man die Moderne auf die Vorgaben des Korans zurückgestutzt haben werde. Die Einsicht in die Sinnlosigkeit einer scheinhaften Islamisierung der von Fremden geschaffenen, inzwischen das ganze Dasein der Muslime durchdringenden und prägenden Kultur führt al-Éābirī aber keineswegs dazu, den Anspruch des „islamischen Systems“, das gesamte Handeln, Reden und Denken des Muslims zu bestimmen, fallenzulassen oder wenigstens einzuschränken. Das würde kein Glaubensgenosse billigen, meint er. Ohnehin sei dieses System nicht ein für allemal in allen Facetten ausgearbeitet. Mit Ausnahme „des Ritualrechts, des Personenstandsrechts sowie einiger in eindeutigen autoritativen Texten festgelegten Bestimmungen über die zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es, beispielsweise in den Bereichen der Wirtschaft und der Politik, nur allgemeine Grundsätze, die in der einen oder anderen Weise für den islamischen Charakter auf diesen Feldern bürgen“.68 Es ist demgemäß nicht die fremde Kultur, die den Rahmen der Neuorientierung jenes Systems vorgibt. Es sind vielmehr die als gesichert geltenden Vorschriften der Scharia sowie deren Prinzipien, die, ewig wahr, wie sie sind, jeglicher Neuorientierung trotzen und daher den Spielraum definieren, innerhalb dessen frische Gedanken überhaupt formuliert werden dürfen. Schariatische Grundsätze und Regelungen, für die sich ein nach dem Standard der Schariawissenschaft eindeutiger Textbeleg beibringen läßt, dürfen nicht angefochten werden. Da sich die Gelehrten über solche Eindeutigkeit in vielen Fällen streiten, ist letzten Endes keine Übereinstimmung darüber zu erzielen, worauf sich eine Neuorientierung erstrecken darf. Dieser methodischen Schwierigkeit widmet al-Éābirī indessen keine Aufmerksamkeit. Er weiß lediglich, was er auf keinen Fall zulassen möchte: die Säkularität (arab.: al-Ý almānīja). Diese sei eine europäische, des näheren eine französische Erfindung; man müsse sie als Reaktion auf die geistliche Knechtschaft begreifen, in der die Kirche die Menschen festhalte. In der arabischen Welt sei der Laizismus von manchen christlichen Minderheiten propagiert worden. Nun sei aber im Islam, dem die erdrückende Mehrheit 67 MuÎ ammad Ý Ābid al-É ābirī: ad-Dīn wad-daula wa-taÔbīq aš-šarīÝa, 2. Auflage, Beirut 2004, 134 f. 68 Ebd., 133.
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der Bevölkerung der arabischen Länder angehöre, jede Trennung von Religion und Staat undenkbar; es gebe weder rein weltliche noch rein geistliche Institutionen. Insofern sei es verfehlt, nach dem Laizismus zu rufen. Was nottue, sei eine demokratische, rationale Politik. Sie werde voll und ganz den Bedürfnissen der arabischen Gesellschaft gerecht, auch denjenigen der religiösen Minderheiten in ihr. Denn demokratisch meine die Wahrung der Rechte der Individuen und der Gemeinschaften; rational heiße, daß das politische Handeln „vom Verstand und seinem logischen und moralischen Eichmaß ausgeht, nicht aber von bloßen Vermutungen, von Parteigeist und wechselnden Launen“.69 Die arabische Gesellschaft ist in allen Bereichen durch den Islam bestimmt, schreibt al-Éābirī in anderem Zusammenhang.70 Ihn zur Grundlage der Neuorientierung zu wählen, bedeutet selbstverständlich, die Scharia anzuwenden. Genauer gesagt, es ist zu betonen, daß die Praxis der Prophetengenossen das ewige Vorbild muslimischer Politik ist und bleibt; diese Praxis ist tauglich für jeden Ort und jedes Zeitalter.71 Dieses Postulat überstrahlt sämtliche Erwägungen al-Éābirīs. Denn es ist die Erinnerung an das Reden und Handeln der Prophetengenossen, die, wenn sie erneut zur Richtschnur erhoben wird, die Leiden der auf Gedeih und Verderb einer fremden Kultur anheimgegebenen Muslime heilen wird. Denn das Vorbild der Altvorderen wird zu einer neuverstandenen Anwendung der Scharia führen – nämlich auf jenen Gebieten, auf denen dies, wie vorhin erwähnt, wegen des Fehlens eindeutiger Textzeugnisse möglich ist. Denn wie man in der heutigen Zeit die Scharia vollkommen verwirklichen solle, das sei die schwerwiegende ungelöste Frage, die nicht zuletzt den Terrorismus hervorbringe. Die überkommenen Methoden der Islamisierung der Wirklichkeit, insbesondere die Analogieschlüsse, mit denen man bisher schariatische Prinzipien auf neuartige Sachverhalte übertragen habe, hätten sich erschöpft.72 Die Notwendigkeit eines Rückbezugs auf einen autoritativen Text ist eben vielfach hinderlich und erzwingt intellektuelle Winkelzüge. Die Prophetengenossen, zu deren Zeit die Schariamethodik noch gar nicht ausgearbeitet gewesen sei, hätten es viel leichter gehabt, zu „islamischen“ Entscheidungen zu gelangen. – Der Seufzer, wie herrlich einfach die Handhabung des islamischen Rechts in der Epoche der Gefährten Mohammeds gewesen sei, die „spontan“ und ohne Gezänk um den Autoritätsgrad von 69 Ebd., 113. Hier scheint die unüberwindbare Abneigung gegen im Meinungsstreit erzielte und daher vorläufige, anfechtbare Entscheidungen durch; vgl. unten, Abschnitt D, Text Nr. IV: c. Die Verwerfung der Pluralität. 70 op. cit., 100–103. 71 Ebd., 52 f. 72 Ebd., 152–162.
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Textbelegen „islamische“ Urteile zu fällen vermocht hätten, ist übrigens so alt wie die Schariamethodik selber.73 Die Prophetengenossen hätten, so al-Éābirī, nur eine einzige Faustregel zu beherzigen gehabt: das Wohl oder das Interesse der muslimischen Gemeinschaft. Al-Éābirī verdeutlicht an Beispielen, was ihm vorschwebt. So habe der spätere Kalif ÝUmar b. al-ËaÔÔāb vorgeschlagen, den Standplatz Abrahams nahe der Kaaba zu einem Gebetsplatz zu erklären, und kurz darauf wurde auf Mohammed Sure 2, Vers 125 herabgesandt, Worte, mit denen Allah gerade dies vorschrieb. Aus dieser und ähnlichen Überlieferungen schließt al-Éābirī, daß ÝUmars Ansichten mit denjenigen Allahs harmonierten,74 was sich zu Lebzeiten Mohammeds, wie dargelegt, mehrfach bestätigt habe. Weshalb aber sollte das nach dem Tod des Propheten anders gewesen sein? ÝUmar habe seine Urteile immer am Interesse der muslimischen Gemeinschaft ausgerichtet, ein Maßstab, der, wenn man alÉābirī folgt, genau derjenige Allahs ist.75 In wechselnden geschichtlichen Situationen sind indessen unterschiedliche Entscheidungen notwendig, um diesem Interesse gerecht zu werden. So sei Abū Bakr (reg. 632–634), der erste Kalif, gegen die Stämme, die nach Mohammeds Ableben die Zahlung der Tribute verweigert hätten, mit kriegerischen Mitteln vorgegangen; der Schutz des entstehenden islamischen Staates habe vor allen anderen Gesichtspunkten den Vorrang haben müssen. Sobald ÝUmar die Macht übernommen habe, sei es möglich gewesen, die Glaubensordnung in den Vordergrund zu rücken, denn der Staat sei nicht mehr gefährdet gewesen. Deshalb habe ÝUmar entschieden, die Besiegten – die ja trotz der Verweigerung der Tribute Muslime waren – freizulassen und ihnen ihr Vermögen zurückzuerstatten, sie mithin nicht mehr als unterworfene Andersgläubige zu betrachten.76 Der Nutzen der islamischen Gemeinschaft ist nun nicht erst von al-Éābirī als wesentliches Prinzip der Anwendung der Scharia auf Sachgebiete entdeckt worden, für die keine eindeutigen autoritativen Textzeugnisse zur Verfügung stehen. Er selber beruft sich auf den Andalusier aš-ŠāÔibī (gest. 1388) als seinen Gewährsmann,77 aber auch dieser hat jenen Ansatz nur aufgegriffen und stärker akzentuiert als andere vor ihm. In der herkömmli73 Er läßt sich schon bei aš-ŠāfiÝī nachweisen; er steckt hinter der salafistischen Verklärung der Altvorderen, die keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist (vgl. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich / München 1981, Bd. II, 112 f.). 74 Vgl. auch das Beispiel mit der Entstehung des Gebetsrufes, Nagel: Mohammed. Leben und Legende, 276. 75 al-É ābirī, 40 f. 76 Ebd., 44 f. 77 Ebd., 163 f.
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chen Schariawissenschaft versucht man, die Ursache einer durch Allah im Koran oder im rechtgeleiteten Handeln seines Propheten erlassenen Vorschrift zu ermitteln, um dann in analogen Sachverhalten ebendiese Ursache zu entdecken und daher die betreffende Vorschrift auf den analogen Sachverhalt auszudehnen. Die Ursache des Verbots des Genusses von Wein ist seine berauschende Wirkung; Bier zeigt ebenfalls diese Wirkung, infolgedessen ist die Ursache für das Genußverbot auch beim Bier in Kraft. Die durch Ursachen gerechtfertigten Analogien sind nach al-Éābirī aber meist zu eng gefaßt, das Gewicht des betreffenden autoritativen Textes zu groß. Deshalb sollte die „Weisheit“, die durch die in einem autoritativen Text ausgesagte Bestimmung zum Ausdruck kommt, zum Dreh- und Angelpunkt der Analogien gemacht werden. Die „Weisheit“ des Verbots des Alkoholgenusses liegt in der Abwendung von Schaden, der durch Trunkene angerichtet werden könnte,78 so daß, darauf scheint al-Éābirī hinauszuwollen, alles zu verbieten wäre, was den Verstand trüben könnte. Die bis jetzt leere Parole: „Der Islam ist die Lösung!“ würde durch die Erhebung der „Weisheit“ zum leitenden Prinzip der Auslegung der autoritativen Texte endlich mit Inhalt gefüllt, hofft al-Éābirī, ohne allerdings dem Leser einen anderen Gesichtspunkt anzubieten, als eben die „Weisheit“, die in „der Wahrung des Nutzens“ der islamischen Gemeinschaft und in der „Abwehr des Schadens“ von ihr liegt.79 Die unveräußerlichen Rechte des Individuums sind al-Éābirī keine ausdrücklichen Erwägungen wert, dieses Thema berührt er nicht. Aber er spricht viel von Demokratie. Sie fehle in den arabischen Staaten, und dieser Mangel mache sich im Ruf nach vollständiger Anwendung der Scharia Luft.80 Was al-Éābirī unter Demokratie versteht, erfährt man nicht. Da er den Begriff zusammen mit Rationalität verwendet, steht zu vermuten, daß er die von ihm immer wieder gepriesene Verfahrensweise der Prophetengenossen meint, die nach Opportunitätsgesichtspunkten – „Weisheit“ – „rationale“ Entscheidungen getroffen und durchgesetzt hätten. Von welcher Art die demokratischen Institutionen sein sollen, die dies zu leisten hätten, das beschäftigt al-Éābirī ebenfalls nicht. Man muß befürchten, daß auch er von der „demokratischen Essenz“ des Islams überzeugt ist; wenn man den Begriff „Demokratie“ nur weit genug faßt, dann kann man so viel darunter subsumieren, daß er seinen Sinn einbüßt. Die islamischen Massen warteten auf den Tag, an dem die Scharia verwirklicht sein werde, schreibt er; gesellschaftliches und politisches Unrecht würden dann beseitigt sein, der Einzelne werde in Freiheit und Würde den Raum zu einem von vortreffli78 Ebd.,
178. 183. 80 Ebd., 106 f. 79 Ebd.,
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cher Moral bestimmten Handeln finden. Dies wäre die Basis für das Leben in einer islamischen Gesellschaft, nein, in der Gesellschaft der Menschen überhaupt. Erst die Scharia wird ermöglichen, was nach westlicher Überzeugung bereits hier und jetzt dank der Beachtung der Menschenrechte Maßstab jeglicher Politik sein sollte. Erst wenn der islamische Endzeitherrscher, der Mahdi, erscheinen werde, werde jener Zeitpunkt gekommen sein.81 Die Frage, die es jetzt zu lösen gilt, lautet: Wie wird die Scharia unter Absehung von der jeweils gegebenen Staatsform verwirklicht, wie soll dies künftig geschehen und auf welcher spirituellen und schariamethodischen Grundlage. Nicht nur die Massen der muslimischen Länder seien an diesem Thema brennend interessiert, sondern auch die muslimischen Minderheiten in den säkularen Staaten82 – daß diese Minderheiten ihren säkularen Heimatstaaten gegenüber loyal sein könnten, liegt offenbar jenseits des Vorstellungsvermögens al-Éābirīs. In der orientalistischen Literatur hat man al-Éābirī zu einem Vorkämpfer der Befreiung des arabischen Denkens von den Fesseln der islamischen Tradition stilisiert: „Die Freiheit des einzelnen Individuums und die Verschiedenheit der Individuen untereinander werden somit zum Kern sozialer (Selbst-) Organisation. Jabiri und die sozio-kulturelle Opposition dekonstruieren gleichzeitig die Integristen,83 die eine geradlinige, angeblich objektive und übermächtige Geschichte produzieren, um dem Individuum eine einzige Identität vorzuschreiben“.84 Wenn man nun sein Buch über die Anwendung der Scharia zur Hand nimmt, macht sich Ernüchterung breit: Auch er mag den sicheren Port des Überlieferten nicht verlassen! Sein Hauptwerk „Naqd al-Ýaql al-Ýarabī“ hat man mit Kants „Kritiken“ verglichen. Indem man den Titel mit „Kritik der arabischen Vernunft“ übersetzt, leistet man jedoch einem folgenreichen Irrtum Vorschub. Denn Ý aql bedeutet nun einmal den Verstand, und dieser wird durch Kant klar von der Vernunft unterschieden. Als ein erkennendes Wesen charakterisieren den Menschen die aufnehmende Sinnlichkeit und der aktiv die Sinneseindrücke verarbeitende Verstand. Dieses Miteinander oder Gegeneinander findet sich auch in der islamischen Anthropologie. Nach Kant aber, und das trennt seine Vorstellungen grundsätzlich von letzterer, tritt der Sinnlichkeit und dem Verstand die „Vernunft 81 Ebd.,
193 f. 38. 83 Nach seinem eigenen Bekunden haben seine Schriften diese Wirkung gerade nicht, sondern finden den Beifall selbst der Wahhabiten und der Islamisten in der Türkei (Mohammed Abed Al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Übersetzung von Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof, Berlin 2009, 24). Dieser Umstand macht seine westlichen Lobredner freilich nicht stutzig. 84 Sonja Hegasy: Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Marokko. Die Potentiale der sozio-kulturellen Opposition, Hamburg 1997, 112 82 Ebd.,
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entgegen, die nicht aus der Wirklichkeit geschöpfte Ideen bildet und damit die Beziehungen zum Unbedingten stiftet“.85 Ganz allgemein gesagt, steht „Vernunft“ für das Vermögen des Menschen zur eigenständigen Erhellung der Begriffe, die die Operationen des Verstandes leiten. Darum aber geht es al-Éābirī in seiner „Kritik“ nicht. Zwar durchleuchtet er die Denk- und Argumentierweise etwa der Schariagelehrsamkeit, aber sein Ziel ist es nicht, sie in einem Ringen um eigenständige Einsicht in die metaphysischen Bedingungen der Existenz des Menschen zu überwinden; er betreibt mithin nicht, was nach Kant das eigentliche Geschäft der Vernunft wäre.86 AlÉābirī will stattdessen die arabisch-islamische Tradition bewahren, allerdings mit dem in dieser Tradition eingeschlossenen Verständnis von Tradition brechen. Die Alternative, dieses Erbe entweder zu übernehmen oder zu verwerfen, sei falsch. „Die Ergebnisse der Tradition, mit denen wir in einen Dialog treten wollen – ja, die einzigen, mit denen ein Dialog heute möglich ist – sind nicht jene, die unsere Vorfahren gelebt haben und die in den Büchern bewahrt sind, sondern das, was von ihnen überlebt, das heißt was noch vermag, auf einige unserer Fragen zu antworten, was derart entwickelt und bereichert werden kann, dass es uns in die Zukunft begleiten kann … Für uns ist das die Authentizität.“ Man glaubt gerne, daß al-Éābirī, wie er versichert,87 niemals wegen seiner Schriften bedroht worden ist, ja, daß sie im Gegenteil gerade bei Islamisten großen Anklang finden: Als unaussonderbarer Teil des Erbes bleibt die Scharia erhalten, und worin der Bruch mit dem in ihr enthaltenen Verständnis von Scharia bestehen soll, das mag sich jeder nach eigenem Geschmack ausmalen. Mit der Aufklärung hat dies alles auch nichts zu tun; allenfalls könnte man aus al-Éābirīs Schriften ableiten, daß islamisches Denken hiergegen immun ist (vgl. Abschnitt A., Einführung, 1.). Vielmehr zeigt sich, daß auch al-Éābirī in jenem breiten Hauptstrom arabischer Intellektueller mitschwimmt, die sich den Staat und die Gesell85 Michael Landmann unter Mitarbeit von Gudrun Diem: De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg 1962, 277. 86 Historisches Wörterbuch der Philosophie, s.v Vernunft / Verstand, Bd. XI, 821. 87 Mohammed Abed Al-Jabri (wie Anm. 83), 219 und 24. Bereits Michael Gaebel (Von der Kritik des arabischen Denkens zum panarabischen Aufbruch. Das philosophische und politische Denken MuÎammad ÝĀbid al-Éābirīs, Berlin 1995, 83–103) hat darauf hingewiesen, daß al-Éābirī die Säkularisierung ablehnt und die arabische Nation als durch den Islam bestimmt betrachtet. Al-Éābirī ist ein Beispiel für den vor etwa einem halben Jahrhundert erfolgten Paradigmenwechsel in der Entwicklungstheorie: Galt bis dahin eine Entwicklung ohne Verwestlichung als unmöglich, so herrscht seitdem die Ansicht vor, die Modernisierung der islamischen Welt habe sich auf die Übernahme der westlichen Technik zu beschränken (ebd., 56–58). Daß eine „Zivilgesellschaft“ ohne Säkularisierung möglich ist, wie z. B. Frau Hegazy (Anm. 84) anzunehmen scheint, muß man bezweifeln.
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schaft der Zukunft nur als islamisch vorstellen können. „Islamisch“ aber meint für sie, entschieden antiwestlich und antisäkular. Noch vor 60 Jahren war dies keine ausgemachte Sache. Welch ein tiefgreifender Umschwung in den Meinungen und Hoffnungen seither stattgefunden hat, zeigt eine Untersuchung über die ägyptische Zeitgeschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts. Im Vordergrund ihres Interesses standen zunächst die ägyptische Nation, die als eine aus der fernen Vergangenheit über alle Zäsuren hinweg bis in die Gegenwart existierende Gemeinschaft verstanden wurde. Sie sollte sich der gewaltigen Leistungen erinnern, die sie unter den Pharaonen erbracht hatte. Ihr war aufgetragen, in Erinnerung hieran gegen die im 19. Jahrhundert einsetzende Überfremdung, gegen die Unterwerfung unter fremde Interessen aufzubegehren. Daß der Islam, dem zwar die Mehrheit, aber eben nicht die ganze ägyptische Nation angehörte, hierbei die Aufgabe eines Ideengebers übernehmen könnte, war eine Vorstellung, die seit den 30er Jahren durch die Muslimbrüder in die Debatte eingeführt wurde. Die Verfolgung, der die Muslimbrüder nach dem Attentat auf Nasser seit Ende 1954 ausgesetzt waren, konnte die Verbreitung einer „islamischen“ Auslegung der jüngsten Geschichte Ägyptens nicht nachhaltig unterbinden: Linke, sozialistische Bestrebungen wurden von Mitgliedern der Bruderschaft ebenso denunziert wie solche anderer, nicht-islamischer Ausrichtung, und Nassers politisches Lebenswerk galt als eine entsetzliche Verfälschung der ägyptischen Geschichte.88 Die islamische Interpretation der ägyptischen Zeitgeschichte und die politischen Implikationen dieser Interpretation gewannen seit den späten 60er Jahren spürbar an Einfluß, wenn viele ihrer Verfechter auch nicht den Muslimbrüdern beitraten. Ein prominentes Beispiel hierfür bietet Óāriq al-Bišrī (geb. 1931 oder 1933). Ansehen als ein Historiker linker bis marxistischer Tendenz erwarb er mit einer 1972 zum ersten Mal veröffentlichten Studie über politische Strömungen im Ägypten der frühen Nachkriegszeit (1945– 1952). Seit 1967 ist jedoch bezeugt, daß er über ein neues Verständnis vom modernen Ägypten nachdachte. Nicht der dem Westen entlehnte Maßstab des Fortschritts sollte die geistige bzw. ideologische Grundlage der Nation bilden, sondern vielmehr eine „kulturelle Unabhängigkeit“, deren bestimmendes Element neben der Kultur des einfachen Volkes der Islam zu sein habe. Diesen Ansichten pflichteten auch manche Kopten bei. Der Islam galt nicht mehr nur als die Religion der Mehrheit, sondern auch als das einende Element der Geschichte der gesamten ägyptischen Nation.89 Hatte al-Bišrī die Muslimbrüder zuvor des Obskurantismus geziehen, da sie den Islam in 88 Anthony Gorman: Historians, State and Politics in Twentieth Century Egypt, London / New York 2003, 97–101. 89 Ebd., 103 f.
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ein politisches Programm umzumünzen gedächten, so sah er in ihnen jetzt die wahren Sachwalter der Belange der Massen, da sie es verstünden, die Kräfte gegen die Verwestlichung und den Säkularismus zu bündeln. Den Kampf um die Anwendung der Scharia führten die Muslimbrüder, so alBišrī, zur Bewahrung der authentischen Kultur und ihrer Werte. Allerdings wäre es zu begrüßen, wenn sich die Muslimbrüder darum sorgten, eine neue, zeitgemäße Deutung der Scharia in Angriff zu nehmen.90 Noch läßt sich die Frage nicht beantworten, mit welchem Ergebnis Óāriq al-Bišrī die ihm im „ägyptischen Frühling“ zugefallene Aufgabe des Vorsitzenden des Ausschusses zur Überarbeitung der ägyptischen Verfassung erfüllt hat.91
90 Ebd.,
134 f. wird er durch Th. Bauer als „Islamdemokrat“ gefeiert (arabistik www. blogspot.com / … / tariq-al-bishri-islamdemokrat-und.html, 8. Juni 2011); da Bauer nicht darlegt, was dieser Begriff bedeutet, ist diese Charakterisierung ohne Wert. Al-Maudūdī übrigens erfand den Begriff der Theo-Demokratie: Allah herrscht, die Macht wird aber nicht von Priestern ausgeübt, sondern von der ganzen muslimischen Glaubensgemeinschaft entsprechend den Vorschriften des Korans und der Sunna (zitiert von J. Voll, Islam’s Democratic Essence, vgl. Anmerkung 63). TheoDemokratie bzw. Islamdemokratie sind den aus der europäischen Geschichte gut bekannten Volksdemokratien vergleichbar – eine durch einen Zusatz eingeschränkte Demokratie ist eben keine. Diese einfache Tatsache hat unsere Intellektuellen, die nicht in einer eingeschränkten Demokratie leben müssen, allerdings nie von Lobeshymnen auf derartige Regime abgehalten. 91 Voreilig
I. Kann es einen säkularisierten Islam geben? Dieser Aufsatz wurde in einem Sammelband der Hanns-Seidel-Stiftung (Die islamische Herausforderung, herausgegeben von Reinhard C. Meier-Walser und Rainer Glagow, S. 9–19) im Jahre 2001 veröffentlicht. Ich danke der Hanns-Seidel-Stiftung aufrichtig für die freundliche Erlaubnis, ihn in diesem Buch noch einmal abzu drucken.
1. Vorbemerkung Unlängst hielt ich an der Medizinischen Hochschule Hannover einen Vortrag zum Thema „Krankheit und Sterben in islamischer Sicht“. In der sich anschließenden Diskussion hob eine muslimische Studentin hervor, der Prophet Mohammed habe gesagt, es gebe für jede Krankheit ein Heilmittel, weswegen alle „guten“ Behandlungsmethoden „islamisch“ seien; überdies habe er einmal einer Verstorbenen den Leib aufschneiden lassen, um einen verschluckten Goldschmuck zu bergen, woraus zu folgern sei, daß der Islam auch die Autopsie billige.1 Die Absurdität dieser Argumentation, der zufolge angemessene Therapien oder Maßnahmen zur Ermittlung der Todesursache allein unter der Voraussetzung erlaubt sein sollen, daß ein im Jahre 632 in Arabien verstorbener Mann sie guthieß oder eine im äußerlichen Vollzug, nicht einmal in der Zwecksetzung, vergleichbare Handlung anordnete, fiel der Mehrheit des Publikums nicht auf. Im Gegenteil, es zeigte sich beeindruckt, als die Studentin mit dem Hinweis schloß, man könne an diesen Beispielen die Fortschrittlichkeit des Islams und seine Tauglichkeit für jegliches Zeitalter und jeglichen Ort ablesen. Solche Ahnungslosigkeit, ja Hilflosigkeit gegenüber einer sich selbstbewußt gebärdenden, streng religiös fundierten Denkweise ist für unsere säkularisierte Gesellschaft kennzeichnend. Dies sei hier nur angesprochen und am Ende noch einmal aufgegriffen. Worum es auf den folgenden Seiten geht, ist lediglich die Skizzierung einer solchen Denkweise, deren Verfechter in der veröffentlichten Meinung nicht ohne Einfluß und eifrige Fürsprecher sind. Der Leser möge bei der notwendigerweise gedrängten Darstellung im Auge behalten, daß alles, was vorzutragen ist, für den gläubigen Muslim 1 Zur Sache vgl. Krawietz, Birgit: Die Hurma. Schariarechtlicher Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20. Jahrhunderts, Berlin 1990, 141.
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kein intellektuelles Spiel ist, sondern seine Existenz unmittelbar und tief berührt. Sich dies vorzustellen, ist für jemanden, der an den postmodernen Synkretismus aus unüberschaubar vielen Religions- und Weltanschauungssplittern gewöhnt ist, kein geringes Ansinnen; aber es ist ihm zuzumuten, sofern er die Herausforderung begreifen will, vor der er steht. 2. Die Heilslehre des Islams Nach weit verbreiteter Ansicht meint „Islam“ soviel wie „Ergebung in den Willen Allahs“. Diese Deutung des arabischen Wortes ist semantisch falsch und zudem unzureichend, da sie nur das Verhältnis des Menschen zu Allah beschreibt, nicht aber die kosmologische Seite der Heilslehre in den Blick nimmt, von der die anthropologische doch nur einen Spezialfall darstellt. Am ehesten nähert man sich dem Inhalt des Wortes „Islam“, indem man erkundet, was es im Koran bedeutet, wo es insgesamt achtmal vorkommt, davon nur zweimal in den mekkanischen Suren, also jenen, die vor der Hedschra Mohammeds im Jahre 622 offenbart wurden. Wem Allah das Herz zum „Islam“ öffne, der stehe gleichsam in einem von Allah her erstrahlenden Licht und damit unter der rechten Leitung für sein ganzes Leben (Sure 6, 125; Sure 34, 22). In Medina, als es darum ging, daß sich Mohammed und seine junge Gemeinde nicht nur gegen das Heidentum, sondern auch gegen die jüdische hochreligiöse Überlieferung behaupteten, meint das Verbalnomen „Islam“ soviel wie „zum neuen Glauben übertreten“ (Sure 49, 17; Sure 9, 74). Die übrigen drei Belege enthalten dagegen eine, freilich rohe, Definition. „Als die Glaubenspraxis gilt bei Allah der Islam“, liest man in Sure 3, Vers 19, und in Vers 85 derselben Sure heißt es: „Wer als Glaubenspraxis etwas anderes als den Islam begehrt, von dem wird man (jene andere Art des Kultus) nicht akzeptieren.“ In Sure 5, einer der spätesten Offenbarungen, verkündet Allah mitten in einer Aufzählung von Vorschriften über den Verzehr von Tieren: „Heute habe ich an euch meine Gnade vollendet, und ich bin es zufrieden, dass ihr den Islam als Glaubens praxis habt“ (Vers 3). „Islam“ besteht demnach in einer das ganze Leben überformenden Handlungsweise, die Allah selber gestiftet hat – so schon gemäß den mekkanischen Belegen –, einer Glaubenspraxis, die jeder vergleichbaren Art der Gottesverehrung an Wahrheit überlegen ist. Wie in Abschnitt A., Text I bis III dargelegt, besteht der Sinn des irdischen Daseins des Geschöpfes darin, Allah für sein fortwährendes Schöpfungshandeln unablässig zu danken und zu verehren. Dies geschieht, indem man die Ritualvorschriften sorgfältig erfüllt und darüber hinaus auch im profanen Alltag unablässig Allahs gedenkt. Auf diese Weise erkennt das Geschöpf an, daß es aus sich selber heraus nichts zu bewirken vermag und daß es aus eigener Kraft und in eigener Verantwortung kein Wissen erwerben kann.
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3. Die gesellschaftliche und politische Verwirklichung der islamischen Heilslehre Wie alle Kreatur ist der Mensch unmittelbar zu Allah und daher im Heil. Sofern er nach Allahs Ratschluß den Verstand richtig gebraucht, hält er an der einzig wahren Glaubenspraxis fest und handelt somit gut und richtig (vgl. Sure 29, 45). Damit dies nicht, wie bei der übrigen Kreatur, unbewußt geschehe, umfaßt Allahs Bestimmungsmacht, seine Fügung, auch das Gesetz, die Scharia. Das Gesetz ist der für den Muslim wichtigste Teilbereich des Wissens, das Allah zuallererst Adam und darauf allen weiteren Propheten in unveränderter Weise übermittelte; Allah lehrte Adam die Namen aller geschaffenen Dinge und Wesen und befähigte ihn dadurch, die Stellvertreterschaft Allahs auf Erden wahrzunehmen (Sure 2, 30–33).2 Die unverbrüchliche Hingewandtheit zum Einen, die Treue zu jenem jenseits menschlicher Spekulation und Erfindungskraft liegenden Wissen bilden einen geschlossenen Argumentationszusammenhang, in dem die muslimischen Vorstellungen von Individuum, Gesellschaft und Staat verankert sind. Im Koran wird dieser Zusammenhang auf unterschiedliche Weise verdeutlicht, etwa wenn es mehrfach heißt, alle Streitfälle seien zur Entscheidung „Allah und seinem Gesandten“ vorzulegen (z. B. Sure 4, 59 und 83), denen man Gehorsam schulde (z. B. Sure 8, 20 und 46). Am stärksten wirken in dieser Hinsicht die verheißungsvollen Worte von Sure 3, Vers 110: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht wurde. Ihr befehlt das Billigenswerte und verbietet das Tadelnswerte und glaubt an Allah.“ Die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen der Muslime, dem besten, das für die Menschen gegründet wurde, zeigt sich in der Ausübung der aus der abrahamischen Hinwendung zu Allah folgenden Riten; wer diese unterlässt, kann nicht als Muslim betrachtet werden. Hieraus resultiert zweierlei: Der Zweck des Gemeinwesens ist die Sicherung des Ritenvollzugs; nur Muslime können Mitglieder dieses Gemeinwesens sein. Betrachten wir zunächst den letzteren Gesichtspunkt! Nach allem, was im Koran über Juden und Christen und deren Entfernung vom „Islam“ gesagt wird, leuchtet es ein, daß sie allenfalls in inferiorer Position geduldet werden können. Mit der von Mohammed ins Werk gesetzten Rückkehr zur von Allah selber gewünschten Form der Riten haben diese Gemeinschaften ihre Daseinsberechtigung verloren (vgl. Abschnitt B., Text I). Darum sollen die Muslime laut Sure 9, Vers 29 gegen sie kämpfen, bis sie bezwungen sind und demütig den ihnen auferlegten Tribut zahlen. Das herbe Schicksal der jüdischen Stämme in Medina, die aus ihren Besitzungen vertrieben, schließlich sogar getötet oder 2 Tilman Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 3–92 und 270 f.
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in die Sklaverei verkauft wurden, belegt den Furor, mit dem Mohammed und seine Anhänger dem nachkamen, was sie als ein göttliches Gebot verstanden. Noch zu seinen Lebzeiten schloß Mohammed Verträge mit arabischen Stämmen, in denen das Christentum Fuß gefaßt hatte; die Abkommen sahen vor, daß jene zwar weiter ihren Kult ausüben durften, jedoch auf den Neubau von Gotteshäusern und andere Maßnahmen zur Sicherung der Zukunft des Christentums verzichten mußten. Die bei Mohammeds Tod bereits einsetzenden Eroberungskriege, auf deren Verlauf und machtpolitische Hintergründe ich hier nicht eingehen kann, dienten dem medinensisch-islamischen Selbstverständnis entsprechend nicht der Ausbreitung der von Mohammed verkündeten Religion. Sie waren Raubzüge, die, dem altarabischen Brauch folgend, die Hebung des Prestiges der eigenen, nunmehr religiös definierten Solidargemeinschaft bezweckten. Die erstaunlich raschen Erfolge führten dazu, daß riesige Gebiete mit andersgläubiger Bevölkerung unter islamische Oberhoheit gerieten. Die hiermit verbundenen Probleme suchte man im Sinne des absoluten Wahrheitsanspruches des Islams zu regeln; den Besiegten wurden Tribute auferlegt, außerdem wurden ihnen bestimmte Verhaltensweisen vorgeschrieben, die ihren niederen Rang zum Ausdruck bringen sollten. Vor allem büßten sie die Wehrfähigkeit ein und galten fortan als „Schutzgenossen“ der Eroberer. Es dauerte etliche Jahrzehnte, bis die Unterworfenen in nennenswerter Zahl zum Islam konvertierten, was ihnen übrigens nicht leicht gemacht wurde, mußten sie sich doch zunächst einem arabischen Klan affiliieren lassen. Dem islamischen Staat war an solchen Übertritten nicht gelegen, zahlten die betreffenden doch als Muslime wesentlich geringere Abgaben. De facto hat sich in allen islamischen Staaten bis heute der mindere Rang der Andersgläubigen gehalten, in manchen auch de jure. Der Daseinszweck des islamischen Gemeinwesens ist die Aufrechterhaltung der Glaubenspraxis. In den älteren Suren werden lediglich zwei Riten genannt, das Gebet und die Läuterungsgabe, die zakāt; letztere war ursprünglich eine Bußabgabe, die eingezogen wurde, um ein Besitzstreben zu sühnen, das über den von Allah jedem Geschöpf zugemessenen Lebensunterhalt hinausging und somit die „Hingewandtheit zu Allah“ gefährdete. In Medina kamen das Ramadanfasten und die von Mohammed nach Maßgabe seiner Heilslehre neu geregelten Pilgerriten hinzu. Zusammen mit dem Glaubensbekenntnis bilden diese die Fünfheit der Individualpflichten, die fünf Säulen, auf denen nach einem seit der Mitte des 7. Jahrhunderts bezeugten Prophetenwort der Islam errichtet sei. Daß diese in einer gültigen, d. h. von Allah als Jenseitsverdienst angerechneten Form vollzogen werden können, ist seit der Zeit Mohammeds die erste Sorge islamischer Machtausübung. In den durch ihn selber in Medina geleiteten gemeinschaftlichen Gebeten kam die Herrschaft „Allahs und seines Gesandten“ sinnfällig zum
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Ausdruck, und aus der Tatsache, daß Mohammed unmittelbar vor seinem Tod seinen alten Gefährten Abū Bakr damit betraut hatte, ihn in dieser Aufgabe zu vertreten, leitet sich nach sunnitischer Lehre die Legitimität des Kalifats Abū Bakrs ab. Islamische Herrschaft ist die Wahrnehmung der machtpolitisch-religiösen Funktionen, die Mohammed in unübertrefflicher Weise in Medina ausgeübt haben soll. Der Zwist zwischen den verschiedenen islamischen Richtungen gilt nicht der Frage, ob dies so sei, sondern allein darum, wie dies am besten zu erreichen sei. So bestreiten die Schiiten, daß Abū Bakr zur Ausübung der Herrschaft befugt gewesen sei, weil ihm wegen mangelnder verwandtschaftlicher Nähe zu Mohammed das Charisma gefehlt habe. ÝAlī, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten, hätte eigentlich zum Kalifen ausgerufen werden müssen; die machtbesessenen alten Genossen Mohammeds hätten dies in frevlerischer Weise verhindert. Zwei „Pflichten der genügenden Anzahl“ stellen sicher, daß der Daseinszweck des Gemeinwesens, die Gewährleistung der Erfüllung der rituellen Individualpflichten, nicht verfehlt wird: der Dschihad und der Freitagsgottesdienst. Der Herrscher hat dafür zu sorgen, daß stets eine genügend große Zahl an Muslimen dem Kampf gegen die Andersgläubigen nachgeht, um das „Gebiet des Islam“ auf Kosten des „Gebietes des Krieges“ (vgl. in diesem Abschnitt, Text II und V) auszudehnen und dadurch den Bestand des Gemeinwesens immer besser abzusichern. Je mehr die Notwendigkeit hierfür schwand, desto weniger wurde dieser Kampf durch die Herrscher selber gefördert. Er konnte die Form privater Unternehmungen erhalten, die mit dem Wunsch nach Erhöhung von Jenseitsverdienst begründet wurden. Im Freitagsgottesdienst, der ursprünglich nur in einer bestimmten Moschee einer Ortschaft oder eines Stadtviertels abgehalten werden durfte, enthüllt sich besonders deutlich der machtpolitisch-religiöse Charakter des islamischen Staatswesens.3 Mohammed, später der Kalif oder sein Statthalter an dem jeweiligen Ort, leiteten ihn, und die Beter bekundeten durch ihre Anwesenheit ihre Loyalität gegen „Allah und seinen Gesandten“ bzw. dessen Nachfolger und deren Bevollmächtigte. Heute ist in den meisten islamischen Ländern der Unterschied zwischen den einfachen und den zur Abhaltung des Freitagsgottesdienstes berechtigten Moscheen geschwunden. Dies ist das Ergebnis einer Entwicklung, die schon im ausgehenden Mittelalter einsetzt, deren Gründe hier aber nicht erörtert werden können. Die innere Islamisierung des eroberten Machtbereiches begann mit einiger Verzögerung. Neben der Kadi-Gerichtsbarkeit, deren Aufbau um 800 3 Zum Charakter des islamischen Staatswesens und zu seiner Entwicklung von den Anfängen bis in die Gegenwart vgl. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime, 2 Bände, Zürich / München 1981.
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abgeschlossen ist, bildeten sich weitere Institutionen heraus, die stärker noch als erstere im Alltag gegenwärtig waren und sind und das Denken und Empfinden der Muslime weit entschiedener prägen als erstere. So hatte der Marktvogt (arab.: al-muÎ tasib) nicht allein die Aufgabe, den Gang der Geschäfte zu kontrollieren, sondern war im weitesten Sinne für die Unterwerfung des öffentlichen Raumes unter die islamische Sittlichkeit zuständig; in Saudi-Arabien und Iran existieren noch bzw. wieder Einrichtungen, deren Beauftragte, auch ohne Scheu vor der Privatsphäre und nicht selten brutal, ihre diesbezüglichen Vorgaben durchsetzen. Nicht zu vergessen ist der nichtinstitutionalisierte Druck zu einem scharia-konformen Verhalten, den der aufmerksame Beobachter in der islamischen Welt und auch unter den in Deutschland lebenden Muslimen allenthalten bemerkt. Jedes Glied der „besten Gemeinschaft“ ist aufgerufen, „das Billigenswerte zu befehlen und das Tadelnswerte zu verbieten“.4 Der Vollzug der Individualpflichten und der „Pflichten der genügenden Anzahl“ ist durch die Scharia, das durch Allah gesetzte Recht, geregelt, desgleichen alle vertraglichen Verhältnisse, die Muslime mit ihresgleichen oder Andersgläubigen eingehen, sowie die Strafen. Die Scharia basiert auf dem Koran und auf der sich ab der Mitte des 7. Jahrhunderts herausbildenden Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Mohammeds (vgl. Abschnitt A., Text III). Die Methoden der Auslegung und Anwendung dieser Quellen muß der Kadi beherrschen, jedoch nur insofern, als seine Amtsgeschäfte betroffen sind. Spätestens im 11. Jahrhundert ist die Islamisierung der Gesellschaft so weit fortgeschritten, daß die Überzeugung dominiert, es gebe keinen Bereich im Leben eines Muslims, der nicht dem Urteil der Scharia unterliege. Wenn er am Jüngsten Tag vor Allah bestehen will, dann muß er darauf bedacht sein, auch die nebensächlichste Lebensregung nach Maßgabe der Botschaft des Korans und vor allem des überlieferten Vorbildes des Propheten zu überprüfen. Ihm dabei Hilfe zu leisten, ist die Aufgabe des Muftis, der nun einen offiziellen Status gewinnt. Ihn kann der Muslim zu allen erdenklichen Problemen befragen, die ihn auf dem Weg durch das Diesseits zum Endgericht bedrängen mögen (vgl. Abschnitt A., Text Nr. III und IV).
4 Diese Wendung begegnet viele Male im Koran, seitdem Mohammed sich nicht mehr nur als den Gesandten Allahs, sondern auch als den ein göttliches Gesetz verkündenden Propheten versteht (z. B. Sure 3, 110 und Sure 9, 71). Vgl. T. Nagel: Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime, München 2010, 105.
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4. Islamische Heilslehre und säkularisierte Gesellschaft Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sahen sich zunächst das Osmanische Reich, dann auch andere islamische Staaten genötigt, zumindest in Teilen die Organisationsformen zu übernehmen, die die westliche politische Zivilisation entwickelt hatte. Auch mischten sich die europäischen Großmächte in die inneren Angelegenheiten dieser Staaten ein und setzten beispielsweise durch, daß die Osmanen sich eine Verfassung gaben, in der die Gleichheit aller Untertanen des Sultans ohne Ansehung ihrer Religion verfügt wurde. Als ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die Kolonialreiche zerfielen, stand es außer Frage, daß die Territorien mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung wie alle übrigen das westliche Muster des Staates übernehmen würden. Dies war möglich, weil es keine islamische Theorie des Staatsaufbaues gibt und weil der Daseinszweck des islamischen Gemeinwesens ja nicht grundsätzlich angetastet wurde. Charismatische Führer wie Nasser weckten zudem hochgespannte Hoffnungen auf eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse des einfachen Mannes an diejenigen im Westen und auf eine machtvolle und prestigereiche Rolle der „Dritten Welt“. Kritik am Abweichen vom Islam, wie sie beispielsweise in Ägypten die Moslembrüder äußerten, konnte vorerst noch mundtot gemacht werden. Sie ließ sich aber nicht mehr unterdrücken, als Ende der 60er Jahre abzusehen war, daß die Erwartungen enttäuscht werden würden. War nicht alles Unheil, an dem die islamische Welt so offenkundig litt, dem Umstand zuzuschreiben, daß man sich, verführt oder gedrängt durch den Westen, von den Prinzipien der „besten Gemeinschaft“ abgewandt hatte? Die iranische Revolution war die radikalste Antwort auf diese Frage. Andere islamische Staaten entgingen diesem Schicksal, indem ihre politische Elite sich einer islamischen Rhetorik zu bedienen lernte und zahlreiche Kompromisse mit den Kräften der Kritik einging. Pakistan, als ein islamischer Staat gegründet, jedoch einem Parlamentarismus nach britischem Vorbild verpflichtet, schuf sich Organe, die den islamischen Charakter aller Gesetze sicherstellen sollten. Der kemalistischen Türkei schließlich gelang es zunächst, einen Teil der islamischen Opposition nach Europa, vorwiegend nach Deutschland zu exportieren, wo unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit alle Möglichkeiten der Agitation offenstehen. Seitdem die AKP in Ankara an der Macht ist, hat in der Türkei selber eine tiefgreifende Islamisierung des öffentlichen Lebens eingesetzt. In der islamischen Welt hat der seit dem 19. Jahrhundert dorthin verpflanzte Säkularismus nach allem, was sich heute erkennen läßt, nur schwache Wurzeln schlagen können, wenn im einzelnen auch Unterschiede zu beobachten sind. Was meist erhalten blieb, sind die aufgepfropften Formen des Staatsaufbaues. Selbst in Iran existiert der Parlamentarismus als Hülse
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fort; die Entscheidungen und Gesetze, die er hervorbringt, können aber nur Gültigkeit erlangen, wenn sie die Zustimmung eines nicht aus freien, allgemeinen, geheimen Wahlen hervorgegangenen Gremiums islamischer Gelehrter gefunden haben. Der Säkularismus wurde in der islamischen Welt in der Regel nicht einfach abgelehnt; er wurde vielmehr in einer charakteristischen Weise, die auf die koranische Heilslehre zurückgreift, umgedeutet und aufgelöst. Dies sei kurz an einigen Schlüsselbegriffen der westlichen politischen Zivilisation verdeutlicht, deren Grundlage das Konzept des autonomen Menschen ist, der seine Würde in sich selber trägt. So ist es im modernen religiös-politischen Schrifttum des Islams nahezu ein Gemeinplatz, daß die Freiheit des Individuums sich allein im Islam verwirkliche; denn Islam meine, daß der einzelne sich zu seinem Schöpfer wende und sich damit aller Bindungen an diesseitige, wie wir gehört haben, scheinbare Mächte entledige. Ebenso garantiere allein die islamische Gesellschaft die Gleichheit ihrer Glieder, nämlich weil sie alle in einem gleichen, unmittelbaren Verhältnis zu ihrem Schöpfer stehen und keinerlei das Heil vermittelnde Personen oder Instanzen, d. h. Priester oder Kirchen, bekannt seien. Deshalb wäre es widersinnig, die Religionsfreiheit auf die Möglichkeit des Austritts aus der islamischen Glaubensgemeinschaft auszudehnen, denn die Solidarität der Muslime darf es nicht dulden, daß einer der ihren in eine Gesellschaft von Unfreien und Ungleichen gerate.5 Desweiteren sei jedes demokratische System eine Despotie, solange von Wahlen unabhängige Fachleute nicht überprüfen könnten, ob alle Entscheidungen der Scharia entsprächen. Nur sofern dies der Fall sei, könne man sagen, daß Allah die ihm allein vorbehaltene Bestimmungsmacht überlassen bleibe. Die Autonomie des Menschen nach westlichem Muster fordern, heißt in dieser Sicht, ihm den Blick auf Allah, den alles Schaffenden und Lenkenden, zu verstellen und ihn damit sich selber zu entfremden; nur im Islam werde eine solche Entfremdung aufgehoben. – Säkularisierung meint die Herauslösung der gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten aus einer religiösen Begründung. Die in der Neuzeit auf diese Weise gewonnenen Schlüsselbegriffe der modernen westlichen politischen Zivilisation werden in ihrer islamischen Auslegung wiederum in einem religiösen Begründungszusammenhang verankert und dadurch ihres eigentlichen Sinnes beraubt.6 5 Mit diesem Argument wird gerechtfertigt, daß die Muslime selber zwar das Recht auf Missionierung besitzen, es aber allen anderen Religionen vorenthalten müssen. Vgl. hierzu den Aufsatz von Rotraud Wielandt: Die Ausbreitung des Islam in Vorstellungen und Praxis zeitgenössischer Muslime, in: Religionen unterwegs, 19. Jahrgang, Heft 4 (Dezember 2013), 4–10. 6 Vgl. Tilman Nagel: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, Westhofen 2001, §§ 85–95. Vgl. ferner ders.: Die Furcht vor dem Unge-
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Die bei weitem am häufigsten zu beobachtende Haltung, die die Muslime gegenüber säkularisierten Gesellschaften einnehmen, ist mit den obigen Beispielen bereits in den Grundzügen beschrieben. Alle zivilisatorischen Errungenschaften des neuzeitlichen Westens, deren Annehmlichkeiten sich großer Wertschätzung erfreuen und ohne Bedenken genutzt werden, lassen sich als „islamisch“ begreifen, da sie sich dem einst Adam übergebenen Wissen verdanken; erst im islamischen Zusammenhang finden sie mithin den ihnen angestammten Platz. Die in der populären europäischen Schriftstellerei über den Islam so häufige Schwärmerei von den Leistungen seiner Kultur im Mittelalter, die damals der europäischen haushoch überlegen gewesen sei, bestärken viele Muslime in dieser Meinung. Wären nicht die Kreuzzüge und dann der Kolonialismus gewesen, hätte dann nicht die „beste Gemeinschaft“ auch alles dies hervorgebracht und noch viel mehr? Und das ohne die negativen Folgeerscheinungen, die den angeblich durch und durch materialistischen Westen, und nur diesen, heimsuchen! Denn menschliches Wissen und Können und göttliches Bestimmen werden im Islam ja nicht in einen Widerspruch zueinander treten. Aus dieser Überzeugung heraus belehrte die eingangs erwähnte muslimische Studentin die Zuhörer darüber, daß jegliche „gute“ Behandlung „islamisch“ sei. Dies ist freilich ein recht harmloses Beispiel. Vor allem wenn es um die Wahrnehmung von politischen Interessen innerhalb säkularisierter Gesellschaften geht, scheut man nicht vor intellektuellen Unredlichkeiten zurück, um die Vereinbarkeit des Islams mit deren Grundlagen zu behaupten. So kann man aus dem Munde von Muslimen immer wieder hören, im Islam herrsche Religionsfreiheit, gelte ein absolutes Tötungsverbot, habe es nie Angriffskriege gegeben usw. Die Haltlosigkeit solcher Thesen, die die tiefe Kluft zwischen Islam und Säkularismus verschleiern sollen, läßt sich leicht aufdecken, wenn man die islamische Geschichte kennt, die angeführten Koranverse oder Versfragmente in ihren Zusammenhang stellt und schließlich die Prophetenüberlieferung heranzieht. Zu unserem Thema etwa führt Murad Hofmann aus: Im Sinne eines Konfliktes zwischen Herrschenden und Religionsgelehrten habe es immer einen Säkularismus im Islam gegeben, nicht jedoch im Sinne eines Laizismus, der die Religion aus dem öffentlichen Raum verbanne; der Islam verlange nur, daß „Religion und Staat harmonisch auf einander bezogen und bis zu einem gewissen Grad integriert werden, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist“; eine islamische Regierung habe allerdings Vollstrecker der Scharia im weitesten Sinne zu sein. Dazu bleibt nur zu bemerken, daß Säkularismus etwas ganz anderes ist als der genannte Konflikt und daß die von Hofmann verschwiewissen. Muslime und die Säkularisierung, in: Notger Slenczka (Hg.): Beiheft 2013 zur Berliner Theologischen Zeitschrift, 73–95.
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genen islamischen Deutungen von Freiheit, Gleichheit usw. weit jenseits unseres Grundgesetzes liegen.7 Unter den Muslimen, die in säkularisierten Gesellschaften leben, sehen sich freilich nicht alle zu einem sacrificium intellectus der von Hofmann vorgeführten Art genötigt. Sie gehen ihrem Broterwerb nach, erfüllen ihre Ritualpflichten und wissen im übrigen die Vorzüge einer freien Gesellschaft zu schätzen. Andere scheinen die Fragwürdigkeit der eben dargelegten und vergleichbarer Argumentationen zu durchschauen und verfangen sich in einer radikalen Ablehnung des Säkularismus, dessen Vernichtung sie anstreben, womöglich auch unter Anwendung von Gewalt. Die Übergänge zwischen den drei Positionen des stillschweigenden Billigens, des islamischen Uminterpretierens und des Verwerfens des Säkularismus sind fließend. Was nottut, ist die Selbstverständigung der „geborenen“ Mitglieder der offenen Gesellschaft über die Normen, auf denen diese beruht. Eine solche Verständigung ist angesichts der Herausforderung geboten, die das Einströmen einer zahlenmäßig bedeutenden Minderheit darstellt, der diese Normen fremd sind. Es geht nicht an, daß sich die Politiker und Meinungsmacher mit dem Palliativ zufriedengeben, der Islam sei durch und durch tolerant, verbiete das Töten von Menschen, lasse nur Verteidigungskriege zu, habe also mit Gewalt nichts zu tun. Die in seinem Namen agierenden terroristischen Verbände, die in seinem Namen verübten Anschläge stoßen nämlich in der veröffentlichten Meinung der islamischen Welt keineswegs auf einhellige Verurteilung, auch nicht bei religiösen Würdenträgern!8 Unbedingt erforderlich ist zudem eine offene und sehr eingehende Debatte mit den in Deutschland existierenden islamischen Vereinigungen über deren Haltung zum Grundgesetz. Es genügt nicht, etwa die Erklärung von Millî Görüş, man erkenne dessen Normen an, mit Wohlwollen zu vermerken; vielmehr muß sorgfältig ausgelotet werden, was dieser auf die Ausbreitung des Islams hinarbeitende Verband mit einer solchen Erklärung eigentlich meint und vor allem wie nach seiner Ansicht die Normen des Grundgesetzes mit den Lehren des Islams zum Einklang gebracht werden sollen. Um eine solche Übereinstimmung herbeizuführen, müßten wesentliche Partien des Korans und der Prophetenüberlieferung für nicht mehr gültig erklärt werden; insbesondere den zahlreichen Koranstellen und Prophetenworten, die zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige auffordern (etwa Sure 9, Vers 5 und 29) und den absoluten Geltungsanspruch des Islams verfechten, sowie den ebenfalls zahlreichen Belegen für die inferiore Stel7 Murad
Hofmann: Der Islam, München 2001, 76 f. betreffend vgl. Stefan Weidner: Muslimisch korrekt. Die arabischen Intellektuellen und die Solidaritätsfalle, in: FAZ, 23. Okt. 2001, 49. 8 Ägypten
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lung der Frau wäre ohne Wenn und Aber die ewige Geltung abzusprechen.9 Mit anderen Worten: Den in einer säkularisierten Gesellschaft lebenden und deren Entfaltungsmöglichkeiten genießenden Muslimen ist zuzumuten, daß sie zwischen überlieferter Geschichte und verpflichtender Wahrheit unterscheiden lernen und sich dadurch aus dem Gefängnis von Maximen und Denkweisen befreien, über die die Zeit längst hinweggegangen ist. Falsche Rücksichten auf die politisch-religiösen Interessen der Glaubensbrüder in den islamischen Ländern dürfen niemanden daran hindern, diesen dornenvollen Weg zu betreten, an dessen Ende erst die in die säkularisierten Gesellschaften des Westens eingewanderten Muslime dort auch wirklich angekommen sein werden. Auch die Aufgaben der offenen westlichen Gesellschaften sind weder gering noch bequem, sondern verlangen Beharrlichkeit und Standhaftigkeit gegen Anfeindungen. Die Eliten, vor allem die zuständigen Entscheidungsträger, müssen sich dazu durchringen, sich so weit mit dem Islam zu befassen, daß sie die Denkweise ihrer muslimischen Ansprechpartner zu verstehen vermögen. Sie müssen den Mut haben, eine vielseitige Nutzung der bestehenden Bildungseinrichtungen zum Zwecke der Integration der Zuwanderer durchzusetzen; und sie müssen ferner den Mut haben, im Interesse der Angehörigen der säkularisierten Gesellschaft die Grenzen aufzuzeigen und zu schützen, die Zuwanderer respektieren müssen, die die materiellen und ideellen Werte ebendieser Gesellschaft beanspruchen. Nicht zuletzt müssen die Entscheidungsträger sich davor hüten, das in Europa seit der Aufklärung weit verbreitete Bild von der Liberalität und Fortschrittlichkeit des „wahren“ Islams mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Wissen sie nicht zwischen Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden, dann werden sie ebenjenen Muslimen in den Rücken fallen, die sich, selbst in Europa vielfach von ihren Glaubensbrüdern bedroht, um eine tatsächliche Anpassung des Islams an eine offene Gesellschaft bemühen.
9 Der Sudanese Mahmud Mohammed Taha versuchte, die Textpartien des Korans, die die inferiore Stellung der Frauen und den Krieg gegen Andersgläubige vorschreiben sowie Muslimen als einzige Abgabe an den Staat die äußerst geringe Zakat abverlangen, als zeitgebundene, der heutigen Wirklichkeit nicht mehr entsprechende Offenbarungen zu erweisen; nach Taha enthält der Koran neben solchen nicht mehr gültigen Aussagen andere, deren Inhalt allgemeine ethische Maximen seien. Taha wurde wegen seiner Lehren im Januar 1985 hingerichtet (vgl. Taha Ibrahim: Mahmud Mohammed Taha, Märtyrer des Versuchs einer Erneuerung des islamischen Denkens im Sudan, aus dem Arabischen übersetzt von Peter-Anton von Arnim, in: Internationales Afrikaforum 4 / 1994, 353–365). Dass Millî Görüş oder eine andere islamische Vereinigung in Deutschland gegen dieses Urteil und seine Vollstreckung ihre Stimme erhoben hätte, davon ist mir nichts bekannt geworden.
II. Staatliche Machtausübung und private Gewalt im Islam Dieser Aufsatz wurde in der Zeitschrift Die neue Ordnung, Jahrgang 2007, Heft 2, S. 84–98 gedruckt. Dem Herausgeber, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels OP, danke ich herzlich für die Genehmigung, ihn hier in leicht verkürzter Fassung noch einmal zu veröffentlichen.
Wie sei der Eifer zu erklären, mit dem manche Muslime gegen die säkularisierte westliche Gesellschaft kämpften, die ihnen bei der Ausübung ihres Glaubens doch keine Hindernisse in den Weg lege? So ungefähr lautete die Frage, die man in einem am 30. August 2006 durch den Sender Sat 1 ausgestrahlten Interview dem prominenten Islamkonvertiten Murad Hofmann vorlegte. Er antwortete sinngemäß, man solle für diese Haltung Verständnis aufbringen; denn manches an dieser Gesellschaft sei unter islamischem Blickwinkel kritikwürdig. Der Prophet habe gefordert, man solle für das Gute mit der Kraft der Hände eintreten; wenn dies nicht möglich sei, dann mit Worten, und sei auch dies unmöglich, dann wenigstens mit dem Herzen. Der Wortlaut der von Hofmann angesprochenen Prophetenüberlieferung ist folgender: (Mohammed sagt) „Schon vor mir wurde durch Allah kein Prophet in irgend einer Gemeinschaft berufen, ohne daß er in dieser Gemeinschaft Jünger und Gefährten gefunden hätte, die sich an sein Vorbild gehalten und ihm nachgeeifert hätten. Freilich werden nach deren Tod unfähige Erben auftauchen, die reden, was sie nicht tun, und die tun, was man ihnen nicht aufgetragen hat. Wer gegen sie mit der Hand einen Dschihad führt, der ist gläubig. Wer gegen sie mit Worten einen Dschihad führt, der ist gläubig. Wer gegen sie mit dem Herzen einen Dschihad führt, der ist gläubig, und jenseits von solchem Dschihad gibt es nicht einmal ein Senfkorn Glaubens“ (Überlieferungssammlung des Muslim, Kapitel „der Glaube“, Nr. 80). Besser, als Murad Hofmann vermutlich ahnte, sind in diesem Mohammed in den Mund gelegten Wort die Problematik der Unduldsamkeit der islamischen Glaubenspraxis und die Schwierigkeit der Integration der Muslime in eine nicht durch sie geprägte Gesellschaft bzw. in eine nicht durch den Islam beherrschte politische Kultur auf den Begriff gebracht. In zwei Schritten werde ich ausloten, was mit diesem Prophetenwort ausgesagt ist. Im ersten werde ich ganz grob den religiös-politischen Charakter der Botschaft Mohammeds umreißen und dabei insbesondere deren die Muslime eines jeden Zeitalters verpflichtenden Grundzug im Auge behalten. Im zweiten komme
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ich darauf zu sprechen, wie man diese Botschaft in den politischen Gebilden islamischer Machtausübung verwirklicht hat. In einer Schlußbetrachtung werden die strukturellen Schwächen des islamischen Staatsmodells und dessen Unvereinbarkeit mit dem europäischen deutlich werden. 1. Die religiös-politische Dimension der Botschaft Mohammeds Schon mehrfach wurde in diesem Buch unterstrichen, daß das Christentum in seiner frühen Geschichte keine eigene Institution der Herrschaft errichtete, sondern das bestehende Römische Reich als die maßgebliche politische Macht anerkannte, da sie die Ordnung aufrechterhielt (vgl. Abschnitt B., Einführung).
Ganz anders ist die Geschichte der Stiftung des Islams verlaufen, und zwar schon von den Voraussetzungen her. Die Ausübung des Kaabakults, die raison d’être des vorislamischen Mekka, war ohne vielfältige Vereinbarungen mit den Stämmen, deren Gebiet die Pilger zu durchqueren hatten, gar nicht möglich. Die politischen Interessen größerer Mächte wie des Byzantinischen Reiches, der iranischen Sasaniden oder der Äthiopier waren ebenfalls zu berücksichtigen. Die führenden Männer der rivalisierenden mekkanischen Klane des arabischen Stammes der Quraišiten waren zudem versucht, die allgemeinen Belange der Stadt mit ihren ganz persönlichen Vorteilen zu vermischen. Zwar verehrten die Quraišiten den Hochgott Allah, aber daneben auch weitere Gottheiten, und in unmittelbarer Nähe ihrer Siedlung befanden sich andere Heiligtümer, zu denen sie während der Pilgersaison keinen Zutritt hatten. Heute sind diese Orte in die muslimischen Wallfahrtsriten einbezogen, überall wird nur der eine Allah verehrt. Doch als Mohammed seinen Eingottglauben verkündete und folgerichtig die bestehende Kultordnung mißachtete, indem er auch an jenen den Quraišiten verwehrten Stätten unter den Wallfahrern für seine Ideen warb, bedeutete dies ein Politikum ersten Ranges. Die Umgestaltung der Pilgerriten, die der Eingottglaube erzwang, war demnach wesentlich mehr als eine bloße Kultreform. Mohammed nachzugeben, hätte für die Quraišiten die Gefährdung ihrer politischen und wirtschaftlichen Existenz bedeutet. In der kurz vor 622 entstandenen Sure 7 kommt diese Problematik zur Sprache; Mohammed tritt in der Gestalt Moses auf, im Pharao und seinen Leuten erkennen wir Mohammeds mekkanische Widersacher. Mose tritt vor den Herrscher, um ihn zum Eingottglauben zu bekehren. Ein Zauberwettstreit soll entscheiden, wer die wahre Religion bekennt, Mose oder die Ägypter. Mit Allahs Hilfe obsiegt Moses, worauf sich seine Gegner eingestehen: „Er will euch aus eurem Lande vertreiben“ (Vers 110). Die unterlegenen ägyptischen Zauberer sagen kleinlaut: „Wir glauben (nun) an den Herrn der Welten, den Herrn von Mose und
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Aaron“, worauf der Herrscher erzürnt erwidert: „Ihr glaubt an ihn, bevor ich es euch erlaube? Das sind Ränke, die ihr in der Stadt geschmiedet habt, um ihre Bewohner daraus zu vertreiben“ (Vers 123). Die „wahre Religion“ kann nicht unabhängig von der Herrschaft über Mekka praktiziert werden. Im Jahre 622 setzte sich ein großer Teil der mekkanischen Anhänger des neuartigen Eingottglaubens – bald darauf werden sie als die „frühen Auswanderer“ eine eigene Rolle in der sich herausbildenden muslimischen Gemeinde spielen – nach Medina ab, und Mohammed folgte ihnen bald. Dies wertete er aus der Rückschau als eine Vertreibung, wie er in Sure 47, Vers 13 anmerkt: „Und wie manche Stadt, die mächtiger war als die deinige, die dich vertrieben hat, haben wir“ – d. h. Allah – „vernichtet, ohne daß sie einen Beistand gefunden hätte!“ Zu Anfang betrachtete Mohammed sein Ausweichen nach Medina nur als eine vorübergehende Angelegenheit. „Der dir den Koran auferlegt hat, ist schon im Begriff, dich zu einer Wiederkehr zurückzubringen“, heißt es in Sure 28, Vers 85, einem Satz, der nach muslimischer Überlieferung auf dem Weg nach Medina offenbart wurde. Die „Auswanderer“ wie auch Mohammed selber waren fortan von der Teilnahme an den mekkanischen Pilgerriten ausgeschlossen; für die in Medina geborenen Muslime galt dies vorerst nicht. Das vorrangige Ziel des nach Medina vertriebenen Propheten war demgemäß, diesem Mißstand ein Ende zu bereiten und dabei die mekkanischen Riten nach seinen Einsichten umzugestalten. Er vermochte die ihm in Medina zur Verfügung stehenden Kräfte zu bündeln und in einen Krieg gegen Mekka zu schicken, dessen erste Schlacht, bei der Örtlichkeit Badr im Jahre 624 ausgetragen, mit einem in der muslimischen Geschichtserinnerung bis heute viel gerühmten Sieg endete. Aus der Zeit kurz vor diesem Ereignis stammt Sure 2, in der der Krieg propagandistisch vorbereitet wurde. Dort heißt es: „Kämpft auf den Pfade Allahs gegen die, die gegen euch kämpfen, überschreitet aber nicht die üblichen Bräuche … Und tötet sie, wo immer ihr ihrer habhaft werdet, und vertreibt sie, von wo aus sie euch vertrieben. Denn die fitna“ – d. h. die Hinderung an der Ausübung der kultischen Handlungen – „ist eine schlimmere Sache als das Töten! Kämpft nicht gegen sie am geheiligten Gebetsort“ – bei der Kaaba – „ehe sie ihrerseits dort gegen euch kämpfen. Wenn sie das (jedoch) tun, dann tötet sie! Das ist der Lohn für die Ungläubigen. Wenn sie es aber unterlassen, nun, Allah ist verzeihend und barmherzig. Bekämpft sie, bis es keine fitna mehr gibt und die Ritualpraxis nur diejenige Allahs ist …“ (Vers 190 bis 193). Nach außen tritt das islamische Gemeinwesen, das sich in Medina konstituiert, demnach als eine Kampfgemeinschaft in Erscheinung, getragen von den „Auswanderern“ und den einheimischen „Helfern“; zu ersteren stoßen weitere Männer, die die Hedschra vollziehen, „auswandern“, und nach diesem Bruch mit ihrer Vergangenheit einen Platz in der nach dem
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Maßstab der damaligen arabischen Gesellschaft neuartigen Kampfgemeinschaft finden. Diese wird im Koran als „die Gläubigen“ schlechthin apostrophiert. So zieht Sure 8, unmittelbar nach dem Sieg bei Badr entstanden, eine scharfe Trennungslinie zwischen denjenigen, „die glauben, auswandern und mit ihrem Vermögen und ihrem Leben den Dschihad führen“ (Vers 72) und allen anderen Menschen. „Sollten allerdings (unter diesen anderen) einige euch unterstützen um der Ritualpraxis willen, dann obliegt es euch, sie eurerseits zu unterstützen, freilich nicht gegen Leute, mit denen ihr ein Vertragsverhältnis eingegangen seid“. Die Glaubenspraxis ist der Prüfstein, mit dem man den Freund vom Feind unterscheidet, und ohne solche Unterscheidung entstünde sogleich „eine fitna im Lande und großes Übel“ (Vers 73). Statthaft ist es jedoch, „Ungläubige“, die außerhalb Medinas leben, als Bundesgenossen zu gewinnen. Generell aber gilt: „Diejenigen, die glauben, auswanderten und auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen, und diejenigen, die (diese) beherbergten und unterstützen, das sind die wahren Gläubigen …, desgleichen diejenigen, die später gläubig wurden, auswanderten und auf eurer Seite den Dschihad führen“ (Vers 74 f.). Die Sicherstellung der rituellen Verehrung Allahs in Medina und deren Einpflanzung in Mekka waren der Daseinsgrund der muslimischen Kampfgemeinschaft. Dabei geraten Mohammed nun auch die Juden und die Christen in den Blick. In diesem Zusammenhang geht es nicht mehr nur um die Kultreform in Mekka, sondern um die Durchfechtung eines allgemeinen religiösen Wahrheitsanspruches, dem sich auch die „Schriftbesitzer“ beugen sollen. In den mekkanischen Verkündigungen konnte Mohammed dies noch nicht wichtig sein. Jetzt aber doziert er, Abraham, der Errichter der Kaaba (Sure 2), habe vor Mose und Jesus gelebt, Abrahams Glaubenspraxis sei demnach die authentische. „Am nächsten stehen Abraham diejenigen, die ihm (zu dessen Lebzeiten) folgten sowie dieser Prophet“ – nämlich Mohammed – „und die Gläubigen“ (Sure 3, 68). Und wie zur Selbstvergewisserung stellt er fest: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die (je) für die Menschen gestiftet worden ist. Ihr befehlt das Billigenswerte und verbietet das Tadelnswerte und glaubt an Allah!“ Würden auch die „Schriftbesitzer“ gläubig, wäre es besser für sie, und einige folgen ja auch Mohammeds Riten, die meisten aber sind Missetäter (Sure 3, 110). Doch ist deren Niederlage nur noch eine Frage der Zeit, wie den folgenden Versen zu entnehmen ist. Somit waren schon vor dem Abkommen, das Mohammed im Jahre 628 bei al-Íudaibīja in der Nähe von Mekka mit seinen quraišitischen Feinden schloß, neue kriegerische Ziele in Sicht gekommen. Der vertragliche Ausgleich mit seiner Vaterstadt führte unter hier nicht zu beschreibenden Er eignissen zum Zusammenbruch des dortigen Widerstandes, so daß er im Januar 630 kampflos in Mekka einrückte und die Verhältnisse nach seinen Vorstellungen ordnete. Bereits ein Jahr später brach er die den heidnischen
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Arabern gegebene Zusage, sie dürften weiterhin auf herkömmliche Weise die Wallfahrtsriten verrichten. Als Heiden verloren sie ihr Lebensrecht; sie hatten die Wahl zwischen dem Übertritt zum Islam oder dem Tod. In Anbetracht der nunmehr fehlenden Bedrohung der Kampfgemeinschaft der Gläubigen formierte sich diese neu: Die Teilnahme am Dschihad und dessen für die nicht in Medina geborenen Anhänger Mohammeds unerläßliche Voraussetzung, die Hedschra, wurden aus einer obligatorischen zu einer freiwilligen Leistung. Dies führte zu einer Schichtung innerhalb seiner Gefolgschaft, die in einer begrifflichen Trennung zwischen Islam und Glaube zum Ausdruck kam. „Muslime“, das waren jene, die getreulich die Riten vollzogen, was jetzt auch außerhalb Medinas und ohne Aufsicht Mohammeds geschehen konnte. Insbesondere die Beduinen, die mit ihrem Vieh von Weide zu Weide ziehen mußten, waren nicht in der Lage, sich nach Medina zu begeben und sich dem Dschihad anzuschließen. Zahlreiche Stammesführer suchten Mohammed auf, versicherten ihn ihrer Loyalität und nahmen vielfach auf die Rückreise Koranleser und sogenannte muÒ addiqūn mit. Das waren Eintreiber von als Ò adaqāt bezeichneten Abgaben, die zur Stärkung der inneren Solidarität verwendet wurden. Den einfachen Muslimen standen die Gläubigen gegenüber, die eigentlichen Fortsetzer der frühmedinensischen Kampfgemeinschaft. Sure 49, Vers 14 f. legt dar, daß die Beduinen sich nicht der Gläubigkeit rühmen sollen; sie dürfen lediglich von sich sagen, daß sie den Islam angenommen haben. Die wahren Gläubigen seien nur jene, die fest zu ihrer Überzeugung stünden und „mit ihrem Vermögen und ihrem Leben den Dschihad auf dem Pfade Allahs führen“. Unter dieser zweigeteilten Gesellschaftsordnung beginnt schon vor Mohammeds Ableben die kriegerische Verbreitung seiner Lehren, vor allem aber die Ausdehnung der Macht der Gläubigen. Die Dschihad-Führenden (muº āhidūn) bilden in diesem Geschehen das dynamische Element; sie stehen in dem Ansehen, die Lehren der neuen Religion nicht nur zu bekennen und die Ritualpraxis einzuhalten, sondern deren Triumph durch die Tat zu erfechten, durch eine lohnende Tat im übrigen, und zwar nicht nur wegen der Kriegsbeute. Denn nach den Regeln des unter Mohammeds zweitem Nachfolger ÝUmar (reg. 634–644) eingeführten Dotationssystems bemaß sich die Höhe der aus den Staatseinkünften – außerhalb des Kampfgeschehens geraubtes Gut, Tribute aus dem unterworfenen Land – auszuschüttenden Zuwendungen an den einzelnen Kämpfer nach dem Zeitpunkt, zu dem er seinen Platz unter den Gläubigen gefunden hatte – je früher, desto mehr.
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2. Die islamische Machtausübung und die Botschaft des Propheten Die durch Mohammed in Gang gesetzte und von seinen ersten Nachfolgern forcierte Eroberungswelle brachte ein politisches Gebilde hervor, das vom Dschihad und für den Dschihad lebte. Am besten kann man es als eine Bewegung charakterisieren, die, um nicht zusammenzubrechen, immer größere Erfolge benötigt. Die Reihen der muº āhidūn fanden regen Zulauf; je mehr Krieger sich an den Eroberungszügen beteiligten, desto rascher gingen sie voran, zumal nach Osten, da das Reich der iranischen Sasaniden wegen einer inneren Krise gleichsam implodierte, aber auch nach Ägypten und Nordafrika hin, wo Byzanz seine Macht nach den Kriegen gegen die Sasaniden noch nicht hatte festigen können. Die schnell steigende Zahl an Dotationsberechtigten machte freilich auch die Inbesitznahme von immer mehr bebautem Land notwendig, auf dem die unterworfenen „Ungläubigen“ die entsprechend anwachsenden Zuwendungen zu erwirtschaften hatten. Schon um 645 wurde offenbar, daß das gerade eben eingeführte Dotationssystem nicht zu halten sein werde. Die ertragreichsten Territorien, das untere Zweistromland und das Nildelta, waren bereits fiskalisch nutzbar gemacht; die Feldzüge bis weit in den iranischen Raum und nach Nordafrika hinein dauerten länger, verschlangen immer mehr Kosten bei sinkenden Gewinnen. Überlagert wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von der die Masse der neuen Muslime umtreibenden Frage nach dem religiösen Prestige und dem Jenseitsverdienst: Die „ersten Auswanderer“ bezogen nicht nur die höchsten Dotationen, sie machten auch für sich geltend, daß sie mit ihrer frühen Hedschra erst eigentlich dem Islam zum Durchbruch verholfen hätten. Ihre Hedschra deuteten sie als die heilsgeschichtlich einmalige Wende von der Lüge zur Wahrheit. Das Symbol dieser Auslegung der gerade vergangenen Ereignisse war die Einführung der Hedschra-Ära unter ÝUmar. Man hatte auch die Geburt Mohammeds oder dessen Berufung als den Beginn einer eigenen Zeitrechnung vorgeschlagen. Die „ersten Auswanderer“ aber hatten ihre Interessen durchgesetzt, und das hieß, daß niemand je an ihr und ihrer Klane Prestige würde heranreichen, mochte er später, etwa während der aktuellen Kriege, auch noch so viel geleistet haben. Das religiöse Verdienst der alten Genossen, ihre kämpferische Gläubigkeit, war nie und nimmer zu übertreffen. Probleme der Verteilung der Einkünfte, verschärft durch die Raffgier etlicher prominenter früher Auswanderer, vermengt mit der Frage nach den Heilsaussichten der „Nachzügler“, die längst die Mehrheit der Muslime stellten, führten in die Urkatastrophe der islamischen Geschichte, in den Ersten Bürgerkrieg (656–660). In dessen Folge wurde die Zweiteilung der Gesellschaft in die muº āhidūn und die zur Zahlung der Ò adaqāt verpflich-
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teten Nichtkombattanten überwunden. Der Islam, die Ritenfrömmigkeit, büßte den Makel der Zweitrangigkeit, des Ungenügens ein und entwickelte sich von da an zur eigentlichen Lebensmitte des sich auf Mohammed berufenden Gemeinwesens. In dieser Zeit entsteht die im Koran nicht bezeugte Vorstellung von den fünf Säulen des Islams: Es sind dies das Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, die Läuterungsgabe, das Ramadanfasten und die Pilgerfahrt nach Mekka. Durch die genaue Erfüllung und Übererfüllung der Riten gewann man fortan religiöses Prestige und die Aussicht auf ein glückliches Jenseits, desweiteren durch die zuverlässige Kenntnis der rituellen Vorschriften und darüber hinaus der auf Allah und seinen Propheten zurückgeführten Regelungen des Alltags, deren Zahl derart rasch zunahm, daß man schon um die Wende zum 8. Jahrhundert die Vorstellung entwickeln konnte, der ganze irdische Lebensvollzug könne als eine Nachahmung Mohammeds gestaltet werden. Der auf der kämpferischen Gläubigkeit beruhende Vorrang der „alten Auswanderer“ wurde somit obsolet. Dementsprechend konnte es nicht mehr als der Inbegriff des Glaubens gelten, „mit seinem Leben und seinem Vermögen auf dem Pfade Allahs“ Krieg zu führen. Stattdessen besann man sich auf Sure 2, Vers 285, wo der Glaube als das Fürwahrhalten Allahs, seiner Engel, seiner Schriften und seiner Gesandten beschrieben wird. Trotzdem wäre die Annahme falsch, die kriegerische Praktizierung des Glaubens zum Zwecke der Ausdehnung des islamischen Machtbereichs wäre von da an zur Nebensache geworden oder gar in Vergessenheit geraten. Das ist nicht der Fall, sie blieb die wesentliche Aufgabe islamischer Herrschaft. Doch war nun klar, daß sich ihr nur eine Minderheit der Muslime widmen konnte, sei es unter unmittelbarer Befehlsgewalt der Herrscher, sei es im Rahmen privater Initiative zum Erwerb religiösen Verdienstes (vgl. in diesem Abschnitt die Einführung), meistens verbunden mit besonderer Ritenstrenge. Im sunnitischen Mehrheitsislam konnte sich der Dschihad mithin nicht zu einer „sechsten Säule“ entwickeln, aber er wurde als eine Pflicht definiert, der sich stets eine hinreichende Zahl von Muslimen widmen muß. Denn Mohammed sagte, wie man überliefert, während der letzten Wallfahrt vor seinem Tode in seinem Vermächtnis: „Mir wurde aufgetragen, die Menschen zu bekriegen, bis sie bekennen. ‚Es gibt keinen Gott außer Allah.‘“ Eine Verquickung von gesteigerter, sufisch („mystisch“) grundierter Ritenfrömmigkeit mit kriegerischen Unternehmungen gegen die „Ungläubigen“ begegnet uns seit dem frühen 11. Jahrhundert sehr häufig in der islamischen Geschichte. Was etwa die Almoraviden und die Almohaden betrifft, so kann man davon sprechen, daß über die peinlich genaue Ritentreue eine spirituelle Offenheit für Allah gesichert werden sollte, die im unnachsichtigen Kampf für die Ausdehnung seines Herrschaftsgebiets fruchtbar zu machen war. Auch bei den osmanischen Eroberungen in Europa spielte die Verflechtung beider Be-
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reiche eine entscheidende Rolle. Die Annahme, einem rigiden, unduldsamen „Gesetzesislam“ stehe eine „tolerante“ sufische Strömung entgegen, wird durch die historischen Fakten tausendfach widerlegt. Schon während der Regierungszeit des Kalifen Hārūn ar-Rašīd (reg. 786–809), der bereits als Kronprinz viele Angriffskriege gegen das Byzantinische Reich anführte, wurden die bis heute gültigen schariatischen Grundbegriffe geprägt, in die man das Verhältnis der islamischen Welt zu den Andersgläubigen faßt. Dieses Verhältnis wird als ein unfriedliches definiert, solange der Islam noch nicht über den ganzen Erdball herrscht. Sein Territorium, das „Haus des Islams“, hat sich ständig auf Kosten der Gebiete der „Ungläubigen“, des „Hauses des Krieges“, zu erweitern. Abkommen zwischen beiden Seiten sind nur zulässig, wenn sie den vorübergehend in die Defensive geratenen Muslimen Vorteile bieten und insofern dem Endsieg förderlich sind (vgl. in diesem Abschnitt Text V). Eine muslimische Offensive soll natürlich nicht durch etwaige vertragliche Zugeständnisse an die „Ungläubigen“ beeinträchtigt werden. Seitdem die osmanische Herrschaft über den Balkan zusammenbrach, ergänzte man dieses schlichte Konzept um die Konstruktion eines „Vertragsgebietes“, unter dem man die Territorien verstand, in denen muslimische Mehrheiten zurückblieben. Ihnen war von den neuen nichtislamischen Staaten zugesichert worden, daß sie ihre Religion ungehindert ausüben durften. Nach muslimischer Auslegung akzeptierten die betroffenen Glaubensgenossen diese „Verträge“ nur unter dem verschwiegenen Vorbehalt, daß sie alle Möglichkeiten nutzen würden, um erneut unter islamische Herrschaft zu gelangen. Auf einen Nachhall dieser Vorstellungen trifft man in der sogenannten Charta, die der „Zentralrat der Muslime“ 2002 veröffentlichte; den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, so ist dort zu lesen, betrachte der Muslim als einen „Vertrag“ – mit dem eben erwähnten Vorbehalt, so ist in Kenntnis der Entstehungsgeschichte dieses Begriffs zu folgern.1 Eine sogenannte „natürliche“ Ausweitung des Islams ist auch für den ehemaligen Präsidenten des türkischen „Amtes für religiöse Angelegenheiten“, Ali Bardakoğlu, eine Selbstverständlichkeit; wenn jemand sie verhindern wolle, berechtige das die Muslime zur „Selbstverteidigung“, erklärte er im September 2006, nachdem er auf Sure 9, Vers 5 angesprochen worden war. An dieser Stelle fordert Mohammed zur Tötung der Heiden auf, nachdem er einseitig das Schutzabkommen, das er ihnen im Jahr vorher gewährt hatte, aufgekündigt hatte. Die Verbindung strenger Ritenerfüllung mit dem bewaffneten Kampf um die Ausdehnung islamischer Herrschaft (vgl. Abschnitt C., Einführung) war 1 Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Zum schariatischen Hintergrund der Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland“, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Konflikt und Koexistenz von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, 114–129.
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keine Angelegenheit des Staates, sondern wurde in Gemeinschaften gepflegt, die unabhängig von den Machthabern agierten. Letzteren gelang es nie, die von Mohammed ins Leben gerufene kriegerische Bewegung vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Was nun auf die Beziehungen zur Außenwelt zutrifft, gilt für die Verhältnisse im Innern a fortiori. Denn die Anerkennung des Islams, nämlich der Ritenfrömmigkeit und der Unterwerfung des Alltags unter die Gesetze Allahs, als der einenden Mitte des Gemeinwesens wurde „von unten“ und gegen die bis zum Ersten Bürgerkrieg dominierenden Kräfte erstritten. Zugespitzt kann man formulieren, daß seither nicht mehr die Frage zu verhandeln anstand, wie der Herrscher die Modalitäten der Ritenpraxis und der Anwendung der Scharia auf den Alltag regelte, sondern inwieweit er an die von dritter Seite erarbeitete ritual- und lebenspraktische Auslegung der Botschaft Mohammeds gebunden war. Mochte es im Krieg gegen die „Ungläubigen“ noch hingehen, daß mit den ihm unterstehenden Verbänden solche privater Art konkurrierten, zumal man in den Zielen übereinstimmte, so war die Schwäche der Staatsautorität in den inneren Angelegenheiten eine tagtäglich erfahrbare Tatsache. Es waren vor allem die jungen Prophetengefährten gewesen, die den Bürgerkrieg als die Gelegenheit einer Profilierung gegen die „alten Auswanderer“ genutzt hatten. Männer wie Abū Huraira, der Mohammed erst 628 kennengelernt hatte, bestimmten zu einem großen Teil den Inhalt dessen, was man für die Ansichten des Propheten ausgab. Unter den Mächtigen der neuen Dynastie der Omaijaden (660–750) machte Abū Huraira Karriere und viele andere seinesgleichen. Sie zeichneten für die Umdeutung der von Mohammed ins Leben gerufenen Bewegung in ein dem Islam verpflichtetes Gemeinwesen verantwortlich, und zum Erhalt der Macht suchten die Kalifen ihre Loyalität. Doch schon gegen Ende des 7. Jahrhunderts hören wir von Konflikten zwischen den Kennern der Überlieferung und den Herrschern, denen erstere vorwarfen, ihre Maßnahmen seien nicht mit der Botschaft Mohammeds im Einklang, seien, um es salopp auszudrücken, nicht islamisch genug. Dieser Vorwurf war einer der Gründe für den Sturz der Omaijaden. Ihre Nachfolger, die Abbasiden, traten das Kalifat mit dem Versprechen an, in dieser Hinsicht alles besser zu machen. In der Tat hatte man unter den Omaijaden von einer einheitlichen Verwaltung und Rechtspflege nicht im entferntesten sprechen können. Ein für den zweiten abbasidischen Kalifen al-ManÒūr (reg. 754–775) verfaßtes Memorandum beklagt die unerträgliche Rechtsunsicherheit und schlägt vor, der Herrscher möge eine Bestandsaufnahme aller im Reich vertretenen Rechtsauffassungen veranlassen und aus diesem Material dann kraft eigener Einsicht ein einheitliches Gesetzeswerk schaffen. Dazu kam es allerdings nicht. Das Prestige der Überlieferungsgelehrten war inzwischen so wirkmächtig, daß ihnen gegenüber, den Sachwaltern der „authentischen“ Aussagen Mohammeds, die Einsichtskraft eines
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einzelnen, und mochte er auch dank der Verwandtschaft mit dem Propheten einen Teil von dessen Charisma geerbt haben, nichts galt. Im Kampf gegen dieses Gelehrtentum rieb das Kalifat seine Kräfte auf. Vergeblich versuchte es im 9. Jahrhundert, den Einfluß dieser Schicht mittels einer Inquisition zu brechen. Um diese Zeit hatte aš-ŠāfiÝī (gest. 820) längst die dem Geltungsanspruch der Überlieferungsfachleute entsprechende Rechtstheorie geliefert, in der der Kalif gar nicht vorkam: Die Gelehrten legen unter Bezugnahme auf Koran und Prophetenüberlieferung dar, worin die Scharia besteht. Allein die Errichtung des institutionellen Rahmens der Rechtspflege blieb als Aufgabe des Kalifats bestehen; jegliche Gesetzgebungskompetenz wurde ihm vorenthalten. 3. Die zweifache Mediatisierung der Machtausübung Um das Jahr 1000 war die Durchdringung der gesamten Rechtspflege sowie der Vorstellungen von Gesellschaft und Herrschaft mit dem Gedankengut der Überlieferungsgelehrten abgeschlossen: Sie hatten die unangefochtene Deutungshoheit über das, was Islam sei, errungen. 1018 erließ der abbasidische Kalif zum ersten Mal eine Verordnung, die alle Amtsträger auf das Sunnitentum verpflichtete. Das islamische Gemeinwesen wurde damals in der staatstheoretischen Schrift eines sunnitischen Kadis als ein Gebilde gezeichnet, an dessen Spitze der Kalif steht. Dessen Herrschergewalt wird durch seine Zugehörigkeit zu den Quraišiten legitimiert, die tatsächliche Ausübung von Amtsfunktionen delegiert er allerdings über verschiedene Abstufungen hinweg an gelehrte Sachwalter. Wenn er, was weitgehend der Wirklichkeit entsprach, auch selber nicht regierte, so gingen doch die religiös-politischen Herrschaftsaufgaben de jure alle von seiner in dieser Hinsicht Mohammed vertretenden Person aus. Blicken wir kurz in das damalige Europa hinüber! Hier entbrennt der Kampf zwischen weltlicher und geistlicher Macht, der in den Grundsätzen des Christentums angelegt und von dessen Interpreten längst auf den Begriff gebracht worden ist. Denken wir nur an Augustinus, der Staaten mit großen Räuberbanden verglich. Nie wird es dem Menschen gelingen, hier und jetzt das Gottesreich zu schaffen. Deswegen ist alle irdische Ordnung nur vorläufig und daher veränderbar. Der islamische Staat hingegen wird von den Gesetzesgelehrten und nach ihrem Vorbild von der erdrückenden Mehrheit der Muslime als die Verwirklichung der von Allah für das Diesseits gestifteten Gemeinschaft verstanden, deren Ordnung ewig wahr und übergeschichtlich zu sein hat. Man kann diesen Zustand am ehesten als eine durch die Schariagelehrten erzwungene Mediatisierung der – stets als religiös und politisch aufgefaßten – Machtausübung beschreiben. Der Herrscher hat keinen unmittelbaren Zugriff auf das Recht, den wirksamsten stabilisierenden und legitimierenden Faktor seiner Macht.
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Die Stellung der Schariagelehrten festigte sich noch weiter, als in der Mitte des 11. Jahrhunderts das Bagdader Kalifat der Abbasiden genötigt war, Usurpatoren, die die Herrschaft über ausgedehnte Gebiete der islamischen Welt an sich gerissen hatten, zu legitimen Machthabern der betreffenden Territorien zu berufen, ohne daß noch eine Möglichkeit der Beeinflussung ihrer Amtsführung bestanden hätte; die erwähnte Theorie der Delegierung aller Befugnisse erwies sich de facto als unhaltbar. Dieser Umstand wurde durch eine Fiktion überdeckt: Der Usurpator empfing durch den Kalifen den Titel „Sultan“; das Wort bezeichnet eine unumschränkte Vollmacht. Die Verleihung des Titels erfolgte unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die Gelehrten für die schariagemäße Handhabung dieser Vollmacht zu sorgen hatten. Es bildete sich eine enge Symbiose zwischen den Gelehrten – als den Wächtern über die schariatische Legalität der Machtausübung und damit über die Legitimität des Sultanats – und den Sultanen als den Inhabern der faktischen Herrschergewalt und den Alimentierern ebendieser Gelehrten heraus. Allerdings ließen sich die zur Sicherung der Macht erforderlichen Maßnahmen schon lange nicht mehr allein durch die von der Scharia vorgesehenen Einkünfte des Gemeinwesens finanzieren; der Niedergang des abbasidischen Kalifats ist nicht zuletzt diesem Umstand sowie der Unfähigkeit anzulasten, die auf einen Eroberungsstaat zugeschnittene Scharia den ganz anderen Erfordernissen eines statischen Reiches anzupassen. Die Mehrheit der Bevölkerung war muslimisch geworden und dadurch den Tributpflichten wenigstens zum Teil entronnen. Einträgliche Gebietsgewinne waren nicht zu erwarten. Den letzten großen Beutezufluß hatte am Beginn des 11. Jahrhundert der Einfall in Nordindien erbracht; bis nach Bagdad war davon nur ein spärliches Rinnsal gelangt, und die Unterwerfung Südosteuropas war noch längst nicht abzusehen. Somit mußten die Sultanate scharia fremde Steuern einziehen; drakonische Strafen, verhängt ohne die vorgeschriebenen Gerichtsverfahren, hatten ein Mindestmaß an innerem Frieden sicherzustellen. Die Gelehrten, von den Sultanen abhängig, rechtfertigten den außerschariatischen Bereich herrscherlichen Handelns, den man sijāsa, „Führung“, nannte, mit der allgemeinen Klausel, er sei zum Erhalt des Islams unentbehrlich, denn niemand könne bestreiten, daß der Erhalt des Islams Allahs Willen entspreche. Manche Gelehrte erkannten freilich, daß ihnen die Deutungshoheit wegen jener – recht einträglichen – Komplizenschaft mit despotischen Machthabern zu entgleiten drohte. Die Rufe nach einer an die Scharia gekoppelten sijāsa, vereinzelt erhoben, verhallten jedoch, ohne eine dauerhafte Wirkung zu erzielen. Ab dem 13. Jahrhundert sammelten sich die bedrängten Volksmassen in zunehmendem Maß um die sogenannten Gottesfreunde, heiligmäßige, oft nur wenig von der Schriftgelehrsamkeit geprägte Männer, die sich anheischig machten, unter Hintanstellung eben jener Schriftgelehrsamkeit in vi-
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sionärer Weise unmittelbar in das Walten Allahs Einblick zu gewinnen und dessen Auswirkungen zum Nutzen der Bittsteller zu beeinflussen. Um einzelne dieser Gottesfreunde bildeten sich Gemeinschaften, die unter den Voraussetzungen der Gegenwart das Erleben der Urgemeinde erneuerten und dadurch wenigstens partiell aus dem bedrückenden despotischen Herrschaftsgefüge ausschieden. Manche Gottesfreunde ließen sich als die wahren Stellvertreter Allahs in der Schöpfung (Sure 2, 30) feiern; sie wirkten, so erzählte man sich, Wunder und vermochten die meist erbärmliche Vergangenheit der Machthaber zu durchschauen und deren Zukunft vorauszusagen. Es erstaunt nicht, daß sie dank solchen Fähigkeiten von vielen Seiten reiche Zuwendungen empfingen. Wer möchte nicht die Anwartschaft auf ein glückliches Jenseits fördern, und welcher Herrscher wünschte wohl, daß man von seinem baldigen Sturz rede? Mit den gespendeten Mitteln bauten die bekanntesten unter ihnen umfangreiche Einrichtungen auf, die sie selber leiteten und vielfach auch ihren Nachkommen vererbten. Es handelte sich um Unterkünfte für sie und ihre Adepten, die nach langer Ausbildung in den spirituellen Praktiken des betreffenden Gottesfreundes in dessen Anhängerschar aufgenommen wurden. Sie und ihre Familien wurden aus den Spenden – es konnte sich neben Geld und Gütern um die Überschreibung von Erträgen aus Landwirtschaft und Gewerbe handeln – ernährt und gekleidet. Ein erheblicher Teil der Zuwendungen floß zudem in die Speisung von Armen, in die Beherbergung von Blinden und Gebrechlichen usw. Den vom Herrscher unabhängigen Status dieser Einrichtungen belegt die Tatsache, daß in den dazugehörenden Moscheen Freitagspredigten gehalten wurden, was seit Mohammeds Zeit nur in den eigens vom Machthaber dazu bestimmten Moscheen hatte geschehen dürfen. Die Gemeinschaften der Gottesfreunde hat man demnach als das Ergebnis einer zweiten Mediatisierung der islamischen Herrschergewalt zu betrachten. Die große Leistung des osmanischen Sultanats ist nun darin zu sehen, daß es ihm im 15. und 16. Jahrhundert gelang, das sich in ein mehrschichtiges Gemenge unterschiedlicher Deutungsinstanzen des mohammedschen Vorbildes auflösende Gemeinwesen noch einmal zu einem Ganzen zu verschmelzen, das durch eine von oben nach unten durchgreifende Herrschergewalt bestimmt wurde. Die Militärmachthaber und die ihnen verpflichteten Gelehrten einerseits und die Gottesfreunde mit ihren Gemeinschaften andererseits hatten je für sich behauptet, in legitimer Weise Erben und Fortsetzer der medinensischen Urgemeinde in der ganzen Zuständigkeitsbreite zu sein. Die osmanischen Sultane lernten es, sich selber auf die Gottesfreundschaft einzulassen sowie die Gelehrten in eine auf den Sultan hingeordnete Hierarchie einzufügen, die sowohl die Rechtsprechung als auch die Fetwa-Erteilung umfaßte, also die Verantwortung für den islamischen Charakter von Herrschaft und Gesellschaft in die sultanischen Amtsgeschäfte einbezog.
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Die Gelehrten waren gewöhnlich auch Mitglieder eines auf einen Gottesfreund zurückgehenden „Ordens“, der Widerstreit zwischen der Schriftgelehrsamkeit und der spirituellen Ermittlung der islamischen Sittlichkeit, der seit dem 13. Jahrhunderts sich immer neu entzündet hatte, war zwar nicht beigelegt, aber doch entschärft. Dies war der Zustand, in dem sich die islamische Welt seit dem frühen 18. Jahrhundert dem Vordringen europäischer Mächte gegenübersah. Man erkannte, daß man europäische Technik und europäische Methoden der Staatsverwaltung übernehmen mußte, wenn man nicht untergehen wollte. Wie aber waren die Neuerungen fremder Herkunft und die daraus resultierenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu bewerten, wenn man sie unter dem Blickwinkel der für ewig wahr gehaltenen islamischen religiös-politischen Ordnungsvorstellungen prüfte? Fiel dies alles nicht in den Bereich der sijāsa, der unschariatischen Ausweitung der despotischen Herrschaft des Sultans? Diese Frage wurde mit wachsender Bitterkeit aufgeworfen, seitdem die europäischen Staaten die Hohe Pforte dazu drängten, ein Bürgerrecht nach europäischen Vorbild einzuführen, das von der Religionszugehörigkeit absah, mithin den faktischen Vorrang der Sunniten beseitigte. Konnte man, da die unschariatische Machtausweitung des Sultans offensichtlich vor allem den Interessen der Nichtmuslime und der Fremden nutzte, sie noch mit dem alten Argument rechtfertigen, sie sei zum Erhalt des Islams erforderlich? Wohl nicht, und so wurde die Verwestlichung vor allem von denen, die nicht von ihr profitierten, als eine bisher ungekannte Stärkung des Despotismus wahrgenommen. Die um 1300 erhobene Forderung nach einer Rückbindung der sijāsa an die Scharia wurde um 1900 wieder laut. Die Mächtigen freilich huldigten in ihren Entscheidungen einem von ihren westlichen Beratern und der dünnen autochthonen Oberschicht unterstützten Pragmatismus, der darauf abzielte, durch eine möglichst rasche Übernahme des beeindruckenden Fremden den zivilisatorischen und machtpolitischen Abstand zu den europäischen Staaten zu verringern. Der europäische Nationalstaat galt als das Muster, das in die islamische Welt verpflanzt werden sollte. Dem europäischen Beispiel nachempfundene nationalistische Ideologien sollten an der Stelle des Islams die Gesellschaft zusammenschweißen, und zwar ohne Ansehung des Glaubens, wodurch insbesondere die christlichen Minderheiten die Gleichberechtigung erlangten. Der Pharaonismus in Ägypten und die BaÝ×-Ideologie in Syrien und im Irak sind markante Beispiele. Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts regte sich hiergegen, zunächst meist belächelt, muslimischer Widerstand. Seine Argumentation klang unbeholfen und stammte in den Grundzügen noch aus dem 19. Jahrhundert. Sie lautete: Alles, was man als westliches Zivilisationsgut importiere, sei in Wahrheit islamischen Ursprungs und in seiner ursprünglichen Form weit
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besser als in seiner westlichen Verunstaltung. So sei die Demokratie ein durch Allah selber gefordertes Regierungssystem, werde doch in Sure 42, Vers 38 eine Beratschlagung in Angelegenheiten der Herrschaft empfohlen. An der betreffenden Stelle des Korans ist aber weder von einer freien Wahl der Berater noch gar von deren legislativer Kompetenz die Rede, die im Islam Allah vorbehalten ist. Seit den 70er Jahren schwindet jedoch diese Art des Denkens, die sich letzten Endes als ein Aufgreifen westlicher Anregungen verstehen läßt. Stattdessen tritt man immer rigoroser für eine Wort-fürWort-Anwendung der Überlieferungen zum „Medina-Modell“ ein, um ohne Säumen zu einer Verwirklichung der „besten Gemeinschaft“ zu gelangen, in der alle Probleme gelöst sein würden. Das komplexe osmanische Gefüge der Machtausübung, in dem auch die Gottesfreundschaft ihren Platz gefunden hatte, spielt hierbei längst keine Rolle mehr. Wer sich am „MedinaModell“ orientiert, vertritt oft die Meinung, die Gottesfreundschaft sei eine der wesentlichen Ursachen für den Niedergang islamischer Macht gewesen, weil sie ein irrationales Element in den angeblich durch und durch rationalen Islam hineingetragen habe. Merze man sie aus wie auch eine allzu subtil vorgehende Auslegung der Scharia, dann stelle man die schlichte Denk- und Herrschaftsweise des mohammedschen Medina wieder her. Zu diesem islamischen Zweck sind selbstverständlich westliche Technik und Verwaltungsmethoden einzusetzen. Die Schriftgelehrsamkeit wird somit in einer in der islamischen Geschichte nie gekannten Rigorosität in vermeintliche Rechte eingesetzt, denn eine Gewaltenteilung, die Grundlage der modernen westlichen Staatlichkeit, ist natürlich nicht vorgesehen. Sie ist überflüssig, da ja alles staatliche Handeln prinzipiell von der ewig wahren Scharia geregelt wird. 4. Schlußbetrachtung So lautet die reine Lehre. In der Islamischen Republik Iran versucht man sie zu verwirklichen, indem man das Parlament der strengen Kontrolle durch ein Gremium von Gesetzesgelehrten unterwirft. In den Verfassungen vieler islamischer Staaten heißt es, der Islam sei die Quelle der Staats- und Rechtsordnung, wobei offen bleibt, welche Institutionen für die Einhaltung dieses Grundsatzes garantieren. Praktizierter Glaube, dīn, und Machtausübung, daula, sind im Islam nun einmal ein unzerteilbares Ganzes, so habe Allah es gewollt und so habe Mohammed es in Medina in die Tat umgesetzt. Unentwegt hört man diese Versicherung von islamischer Seite, und stets wird sie mit einem Bewußtsein der moralischen Überlegenheit verknüpft: Während im Westen jegliche Herrschaft allein materiellen Zielen diene, gründe sie im Islam gemäß Allahs Willen in einer tiefen Spiritualität und verhelfe daher erst eigentlich der im Menschen durch den Schöpfer
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angelegten Humanität zum Durchbruch. Läßt man sich von solchem Gerede, das auch viele europäische Islamenthusiasten pflegen, nicht den Verstand benebeln, kann man aus einem Gang durch die islamische Geschichte die folgenden Lehren ziehen: a) Die Verquickung von dīn und daula hat keine Aufspaltung der Machtausübung in inhaltlich getrennte Bereiche zugelassen, die geeignet gewesen wären, um Kompetenzen zu konkurrieren. Denn wenn jegliche hoheitliche Maßnahme explizit auf einen autoritativen Text – Koranvers oder Prophetenwort – zurückgeführt werden muß, hat im Prinzip jeder Muslim die Fähigkeit des Urteils, hat doch jeder die Grundlagen seines Glaubens zu kennen, um im Gericht zu bestehen. In der Wirklichkeit monopolisierten jedoch die Schariagelehrten die betreffenden Zuständigkeiten, wie beschrieben wurde. Nicht der mit innerweltlichen Argumenten darzulegende Sachverhalt war für die herrscherlichen Maßnahmen entscheidend, sondern die religiöse Rechtfertigung oder Camouflage; die Sachkompetenz blieb stets etwas Zweitrangiges. Und wenn ihre Beachtung unvermeidlich und nicht mehr zu verbrämen war, dann geriet man sogleich auf das perhorreszierte Feld des Unislamischen, der sijāsa. Eine Gewaltenteilung, wie sie sich in Europa entwickelte, fehlt in der islamischen politischen Zivilisation selbst in Ansätzen, wie denn die schariatische Rechtspflege ursprünglich weder Rechtsanwalt noch Verteidiger vor Gericht kennt – beide Funktionen wurden erst am Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa importiert –, eben weil jedes Urteil dank dem Rückbezug auf Allahs Gesetzeswillen „wahr“ ist und nicht aus einem Austausch innerweltlicher, sachbezogener Argumente hervorgehen kann. Die Aufgliederung der Macht des Herrschers nach dem Modell der Delegierung sah auf unteren Ebenen zwar auch die Zuweisung bestimmter Aufgaben an Fachbehörden wie das Amt für die Einziehung der Ertragstribute vor. Doch handelte es sich hierbei lediglich um die Wahrnehmung von Aufgaben, die man auf Mohammeds Vorgehen in Medina zurückführte. Sie waren mithin durch die Scharia gerechtfertigt und daher ein Teilaspekt der Einheit von dīn und daula. Die auffällige Unzulänglichkeit des Systems der Ausbeutung der Landwirtschaft wurde erst unter europäischem Einfluß im Ägypten Mohammed ÝAlīs (reg. 1805–1848) als ein ernstes Problem wahrgenommen. Erst jetzt konnte sich der Gedanke formen, man müsse diesen für den Bestand des – islamischen – Staates unentbehrlichen Bereich in einer Weise reorganisieren, die von den religiös begründeten überkommenen Verfahren abwich. Daß die fehlende Gewaltenteilung auch im Zusammenhang mit der ausgebliebenen Aufklärung zu betrachten ist, sei nur nebenher erwähnt. Eine Bevormundung des um seine Selbstbehauptung und seine Lebensfristung ringenden Menschen durch konkrete religiöse Vorschriften war im Europa der Aufklärung nicht mehr hinnehmbar.
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b) Der Gewaltenteilung ist nach europäischem Verständnis das Gewaltmonopol des Staates an die Seite zu stellen. Die Machtausübung des Staates ist nicht despotisch, sie ist durch die wechselseitige Kontrolle, die ihre Teilbereiche untereinander ausüben, begrenzt; doch als solchermaßen begrenzte ist sie ohne Konkurrenz. Wie gezeigt, ist dies im dīn-und-daulaKonzept des Islams gerade nicht der Fall. Jeder, der die islamischen Riten vollzieht, ist allein dadurch bereits ein Glied der „besten Gemeinschaft“ und als einzelner aufgefordert, zu deren Triumph beizutragen. In dieser Hinsicht ist der Untertan dem Herrscher gleich. Die westliche Islamophilie begeistert sich in diesem Zusammenhang für die Freiheit von klerikaler Bevormundung; jeder Muslim trete ganz in eigener Verantwortung vor seinen Gott. De facto führte diese Eigenverantwortung in religiösen Belangen, die ja stets auch solche der Politik zu sein haben, zu einer verhängnisvollen Schwächung der Autorität der Machthaber, und zwar im Rahmen der beiden Typen von Mediatisierung, die wir erörterten. Angesichts der Autorität der Schariagelehrten und der Gottesfreunde wird sich wohl nur der westliche Konvertit, der auf sie nichts zu geben braucht, einer Eigenverantwortung rühmen dürfen. Prinzipiell ist der einzelne Muslim aufgefordert, für sich selber zu entscheiden, wie er das vornehmste Gebot Allahs erfülle, nämlich innerhalb eines islamischen Staates durch das „Befehlen des Billigenswerten und das Verbieten des Tadelnswerten“ (Sure 3, 110) die Treue zur Scharia zu stärken und nach außen den Islam zu verbreiten. Er muß selber wissen, worin seine „Selbstverteidigung“ bestehen soll, zu der er laut Bardakoğlu gezwungen ist, wenn das „natürliche“ Wachstum des Islams beeinträchtigt werde. Wie das von Hofmann mittelbar zitierte Prophetenwort zeigte, ist es ins Belieben des einzelnen Muslims gestellt, wie er im Innern oder nach außen agiert, und wir haben gesehen, daß sich in der Geschichte bei beiden Arten von Aktivitäten das Handeln der Machthaber mit demjenigen der Individuen überlagerte. Den modernen islamischen Staaten wird mittlerweile das nach innen gerichtete „Befehlen“ und „Verbieten“ allerdings zum Problem. Angesichts ihrer unter dem Schlagwort der sijāsa auf den Begriff gebrachten islamischen Legitimationsdefizite erscheint ihnen das Fehlen des Gewaltmonopols als eine Quelle der Gefahr. So äußerte ein Mitglied der saudischen „Ratsversammlung“ im Sommer 2005, es sei der königlichen Regierung gelungen, die gegen sie kämpfenden „Dschihadisten“ ihrer Kontrolle zu unterwerfen; Gefahr gehe jedoch nach wie vor von den staatlichen religiösen Institutionen aus, die „falsche Signale“ aussendeten (FAZ, 5. Juli 2005), mithin in einem Interessengegensatz zur Regierung jedermann die Erfüllung der in Sure 3, Vers 110 erwähnten Pflichten einschärften. Im gleichen Sinn führte Jusuf al-Qaradawi, einer der zur Zeit einflußreichsten Schariagelehrten und übrigens auch Vorsitzender des europäischen Fetwa-Rates, im Februar 2006 in seiner von der Fernsehstation
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al-Dschazira ausgestrahlten Sendereihe „Die Scharia und das Leben“ aus, daß ein Muslim, der seine Religion aufgebe, zu töten sei, und zwar nicht wegen dieses Schrittes an sich, sondern weil er durch diesen die „beste Gemeinschaft“ in Verwirrung stürze (vgl. Abschnitt D., Text I). Doch wäre es besser, wenn man die Vollstreckung der Strafe nicht, wie durchaus erlaubt, einem glaubenseifrigen Privatmann überlasse, sondern den Fall der islamischen Obrigkeit übergebe. Die ungeteilte – und folglich auch das Menschenrecht der Religionsfreiheit mißachtende – Machtausübung nach dem dīn-und-daula-Konzept möchte al-Qaradawi dem islamischen Staat sichern, aber am besten fände er es, wenn das Gewaltmonopol noch hinzukäme.
III. Islam oder Islamismus? – Probleme einer Grenzziehung Der Hanns-Seidel-Stiftung spreche ich meinen aufrichtigen Dank für die Erlaubnis aus, diesen Aufsatz hier abzudrucken, der in dem von Hans Zehetmair herausgegebenen Buch Der Islam im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog (Wiesbaden 2005, 19–35) zum ersten Mal veröffentlicht wurde.
1. Vorbemerkung Das Streben nach Dominanz über seinesgleichen gehört zu den folgenreichsten Konstanten der menschlichen Existenz. Die Religion ist zwar nicht als eine Folgeerscheinung dieses Strebens zu interpretieren, doch steht sie mit ihm in einer engen Beziehung, die freilich in den einzelnen Glaubensformen unterschiedlich ausgeprägt ist. In unserer säkularisierten Gesellschaft mit ihren im Prinzip religiös-weltanschaulich neutralen Institutionen staatlicher Machtausübung ist mit dem Schwinden der Bedeutung der Religion auch das Verständnis für diesen Zusammenhang fast ganz erloschen. Religion wird meist nur noch als der Kitt privater Gemeinschaften netter Leute aufgefaßt, die sich allein durch einen von ihnen gepflegten eigentümlichen Comment von anderen privaten Vereinigungen unterscheiden. Viele Vertreter der beiden großen Kirchen in Deutschland fördern diese Art von Mimikry, weil sie hoffen, auf diese Weise noch am ehesten in einer Gesellschaft zu überleben, deren Glieder es gewohnt sind, sich rasch wechselnden Konsum- und Denkmoden zu unterwerfen, nicht aber durch Tradition und geistige Durchdringung gefestigten Normen. Wer sich auf diese sogenannte postmoderne Weltanschauung hat einschwören lassen, der überträgt die Auffassung von Religion, die ihm eigen ist, naturgemäß auf die Menschen, die aus anderen Gesellschaften in die seinige eingewandert sind. Auch ihnen, so setzt er stillschweigend voraus, ist der Glaube eine für Dritte folgenlose Privatsache und daher in das Belieben des Individuums gestellt. Wenn von einem religiösen Deutungszusammenhang her der Anspruch auf ideelle oder politische Vormacht, mithin auf eine über das Individuum hinausreichende Verbindlichkeit der religiösen Botschaft erhoben wird, erscheint ihm dies als eine Entgleisung, als eine bedauerliche Abirrung vom Gewohnten. So ist es spätestens nach den im September 2001 von Muslimen verübten Verbrechen üblich geworden, in der veröffentlichten Meinung zwischen dem Islam einerseits und dem Islamismus
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andererseits zu trennen. Hierbei nimmt man an, daß man mit dem Begriff Islam den Comment der Glaubensgemeinschaft der Muslime benenne, eine Religiosität, die von zahllosen Individuen gepflegt werde, deshalb ebenso zahllose individuelle Deutungsmöglichkeiten zulasse, die alle für sich stünden und keinen über den einzelnen praktizierenden Muslim hinausreichenden Geltungsanspruch erhöben. Anders verhalte es sich mit dem Islamismus; dieser, die Sache einer kleinen vom eigentlichen Islam abgewichenen Minderheit, sei den politischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar, deren Dominanzstreben Millionen und Abermillionen Menschen das Leben kostete. Hier also der Islam, dort der Islamismus, der mit dem ersteren nichts zu tun habe. Von „postmoderner“ Warte aus betrachtet, scheint die Grenzziehung klar zu sein, und damit auch der Weg, mit einer islamistischen Bedrohung unserer Gesellschaft fertig zu werden: Es müssen die Abweichler, die gleichsam in Verkennung des wahren Islams aus ihrem Glauben einen gesellschaftlichen und politischen Machtanspruch ableiten, identifiziert und eines Besseren belehrt werden. Von muslimischer Seite wird allerdings die Unterscheidung zwischen Islam und „Islamismus“ meistens verworfen und als Hirngespinst der „Okzidentalen“ gebrandmarkt.1 Die Aufgabe dieses Vortrages wird es sein, zu fragen, ob diese postmoderne Deutung des Islams und die damit verknüpfte Hoffnung auf eine einfache Lösung der zutage getretenen Probleme gerechtfertigt sind. 2. Christliche Endzeithoffnung – islamische Diesseitserfüllung Schon mehrfach wurde dargelegt, daß das Reich Gottes, auf das die Christen hoffen, erst am Ende der Tage verwirklicht werden wird. Zuvor werde Jesu Botschaft Zwietracht auslösen, da nur wenige seinem Ruf folgen würden.
Allerdings lehnte Jesus die Gewalt als Mittel zur Förderung des Sieges des verheißenen Gottesreiches ab: „Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde“, beschied er den römischen Statthalter laut Joh 19, Vers 36 … Denn „der christliche Glaube sieht alle Wirklichkeit noch im Begriff, auf ihre endgültige Wahrheit allererst zuzugehen“. Die Hoffnung ist daher eine der Kardinaltugenden, wie etwa Paulus im Brief an die Römer (Kap. 8, 24 f.) 1 Kaltenbach / Tribalat: La République et l’islam. Entre crainte et aveuglement, Paris 2002, 277 f. und 323. Johannes Kandel: Islamismus in Deutschland, Verlag Herder 2011, hat festgestellt, daß sich die Muslime in Deutschland, die sich als eine Bewegung zur Durchsetzung radikaler Ziele begreifen, nunmehr selber als Islamisten bezeichnen. Meine These, daß eine klare Grenzziehung zwischen islamischer Glaubenspraxis und deren aktivistischer Zuspitzung kaum möglich ist, wird davon nicht berührt.
III. Islam oder Islamismus? – Probleme einer Grenzziehung
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hervorhebt. „Denn wir sind wohl gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man das hoffen, was man sieht. Wenn wir aber das hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein in Geduld.“2 Normen und Gesetze eines christlichen Gemeinwesens sind dementsprechend Menschenwerk. Demgegenüber hebt z. B. der Muslim Ibrahim Rüschoff (Abschnitt B., Einführung) mit Recht hervor, daß der Islam „handfeste“ Verhaltensnormen vorschreibt, die auf Allah selber zurückgeführt werden und daher ewig wahr sind. Sie brauchen keinen innerweltlichen Kriterien zu genügen und können deswegen durch den Menschen nicht mit dem Verstand ergründet werden. Da den islamischen Normen ein göttlicher Ursprung zugesprochen wird, gelten sie als vollkommen. Der Mensch ist weder aufgerufen noch befähigt, sie auf eigene Faust zu beschneiden oder zu ergänzen. Er ist lediglich gehalten, sie so streng und genau wie möglich zu befolgen, dann wird sich das Diesseits dem gottgewollten Zustand annähern: Das Reich Gottes, um hier den christlichen Begriff zu verwenden, ist hier und jetzt zu verwirklichen; es wird errichtet sein, sobald sich der ganze Erdkreis zum Islam bekennt und demgemäß sich an die von Allah selber erteilten Gebote und Verbote hält. Für den Muslim ist dies keine Hoffnung – die Hoffnung gehört gerade nicht zu den muslimischen Tugenden, vielmehr eher zu den Lastern, ist es doch frivol, Allahs Normen leichtsinnig zu mißachten und dabei auf ein gutes Ende zu hoffen. Die Verwirklichung der göttlichen Normen ist vielmehr eine Verpflichtung, denn es hat ja einmal in der Menschheitsgeschichte den Ort und die Zeit gegeben, als sie uneingeschränkte Wirklichkeit gewesen seien: in Medina unter dem Regiment des Propheten Mohammed. Diese Verpflichtung muß unter Umständen mit Gewalt erfüllt werden. Allah stärkt den Kampfesmut der Glaubenden; sie sollen den Ungläubigen mit dem Schwert den Kopf und die Finger abschlagen, befindet Mohammed in Sure 8, Vers 12, eine Aussage, die meist beschönigend durch „mit dem Schwert auf den Kopf, auf die Finger schlagen“ wiedergegeben wird.3
3. Glaube, bewiesen durch die Teilnahme am Krieg Das medinensische Gemeinwesen ist ein religiös-politischer Zusammenschluß von Menschen mit einem scharf ausgeprägten Gefühl der Zusammengehörigkeit. Diesem Gemeinwesen eignet ferner von Anfang an ein entschiedenes Streben nach Dominanz über alle anderen Menschenverbände, eben weil es sich unter der unmittelbaren Leitung durch „Allah und seinen Gesandten“ wußte, die eigene Position also als unerschütterbar wahr und endgültig richtig auffaßte. Die Anwendung von Gewalt zur Selbstbehauptung und dann zur Unterwerfung anderer Gemeinschaften, die eben keine 2 Joachim
Ringleben: Dornenkrone und Purpurmantel, 1996, 9. den klassischen Kommentaren scheut man sich nicht, die tatsächliche Bedeutung hervorzuheben (z. B. ar-Rāzī: MafātīÎ al-ġaib, VIII, 109 zu Sure 8, 11–13). 3 In
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islamischen waren, ist demgemäß ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Merkmal der Geschichte des Wirkens Mohammeds in Medina (vgl. Abschnitt D., Text IV). Daß sich wahre Gläubigkeit in der kämpferischen Tat für den Triumph des Islams erweist, ist für Mohammed in Medina selbstverständlich, wie ebenfalls bereits mehrfach ausgeführt wurde. Erst nach den einträglichen Eroberungen griff die Ansicht Platz, daß die Ritenfrömmigkeit den Kern der von Mohammed verkündeten Religion ausmache; die Auslegung der Gläubigkeit als einer Bereitschaft zum Einsatz der Waffen gegen die nichtislamische Welt blieb jedoch weiterhin legitim und wird bis auf den heutigen Tag vielfach erhoben. Daß sie unberechtigt oder gar anstößig sei, läßt sich aus den autoritativen Quellen der Scharia, aus Koran und Hadith, nicht zwingend belegen, ja nicht einmal wahrscheinlich machen.
4. Abstufungen der Gesetzesfrömmigkeit … Hieran zeigt sich das Dilemma, vor dem die heutigen islamischen Staaten stehen, wenn sie in das Visier ihnen feindlich gesonnener islamischer Bewegungen geraten. Sie versuchen, diesem Dilemma zu entkommen, indem sie die umstürzlerischen Aktivitäten nach außen lenken bzw. im Innern taktische Kompromisse auf Feldern schließen, deren Freigabe der politischen Machtelite fürs erste unbedenklich erscheint. In diesem Zusammenhang ist übrigens anzumerken, daß Scheich al-QaraÃāwī, dessen Schrift „Erlaubtes und Verbotenes im Islam“ in mehreren europäischen Sprachen, so auch auf deutsch, zirkuliert, in einer über das Internet verbreiteten Predigt ausführt, daß die Beteiligung am Kampf der Palästinenser für jeden Muslim nunmehr eine Individualpflicht geworden sei, also vergleichbar dem rituellen Gebet oder dem Ramadanfasten.4 Die Kontrolle kämpferischer Aktivitäten durch die islamische Obrigkeit wird mit dieser der Schariawissenschaft entlehnten Argumentationsfigur delegitimiert (vgl. in diesem Abschnitt die Einführung sowie Text II). Nicht geringer sind die Schwierigkeiten, mit denen nichtislamische Staaten zu ringen haben, wenn sie ein wirklichkeitsnahes Urteil über die Loyalität ihrer muslimischen Minderheiten gewinnen wollen. Die auf den ersten Blick bestechende Unterscheidung zwischen Muslimen und Islamisten geht in Wahrheit ins Leere. Dafür ein Beispiel: Vor einigen Jahren wurde in der Presse der Fall des Bremer Universitätsbeamten Yavuz Özoğuz erörtert. Unter seinem Namen waren mehrere Internetseiten registriert, die eine unmittelbare Verbindung zu der Terrororganisation Hisbollah sowie zum Islamischen Zentrum Hamburg belegen, das wegen seiner Rolle als ein Propagandazentrum für die Islamische Republik Iran vom Verfassungsschutz be4 Kaltenbach / Tribalat,
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obachtet wird. Özoğuz gibt sich in seinen Verlautbarungen als ein auf dem Boden des Grundgesetzes stehender Bürger aus, dem es um die Förderung islamischer Spiritualität gehe, ruft aber gleichzeitig zum Haß gegen Israel auf, erklärt, in einem wahrhaft islamischen System müsse es Pressezensur geben und macht keinen Hehl daraus, daß Chamenei sein Führer sei (FAZ, 16.8.2002, 1 f.). In den Augen eines Nichtmuslims mag dies eine zwiespältige Haltung sein. Ein Muslim dagegen kann argumentieren, die von der Verfassung garantierte Religionsfreiheit beziehe sich nicht allein auf die Ritenfrömmigkeit, sondern selbstverständlich auf alles das, was nach islamischer Vorstellung in einem religiösen Begründungszusammenhang steht, also ganz besonders auch auf das aus dem absoluten Wahrheitsanspruch von Koran und Sunna abgeleitete Streben nach Dominanz des Islams über alle anderen eben nicht wahren Glaubensformen. Die von der Verfassung gewährleistete Pressefreiheit ist nur durch diese Verfassung, also durch Menschenwerk, geschützt und hat, sollte sich die Gelegenheit bieten, beim Triumph des Islams zu weichen. In ähnlicher Weise scheitert die Trennung zwischen den Muslimen als den Verfechtern einer Ritenfrömmigkeit und den Islamisten als den Kämpfern für einen islamischen Staat in der Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Dort liest man, die von Allah dem Propheten Mohammed übergebene Offenbarung „findet sich als unverfälschtes Wort Gottes im Koran, welcher von Muhammad erläutert wurde. Seine Aussagen und Verhaltensweisen sind in der sogenannten Sunna überliefert. Beide zusammen bilden die Grundlage des islamischen Glaubens, des islamischen Rechts und der islamischen Lebensweise“ (§ 3). Eine inhaltliche Differenzierung der Aussagen von Koran und Sunna, zu denen die in Abschnitt A II und III besprochenen und zahlreiche weitere gleichen Inhalts gehören, wird nicht einmal angedeutet. Bemerkenswert ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, § 10 der Charta: „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“ Den dem nichtmuslimischen Leser in der Regel unbekannten Hintergrund dieser Sätze bilden die schariatischen Bestimmungen über den Verkehr der Muslime mit den Andersgläubigen, hier des näheren über den Aufenthalt auf einem nichtmuslimischen Territorium. In der Tat spricht sich die hanafitische Rechtsschule schon im Mittelalter dafür aus, daß Muslime in diesem Falle die fremde Rechtsordnung zu beachten haben, bindet den Aufenthalt auf dem Territorium der Andersgläubigen aber zugleich an die Bedingung, daß die Macht der Andersgläubigen hierdurch nicht anwachsen dürfe, da das allgemeinste Ziel
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der Gemeinschaft der Muslime, den Islam in der ganzen Welt zu verbreiten, nicht beeinträchtigt werden dürfe. Deshalb nimmt das Scharia-Recht als Grundlage für den Aufenthalt des Muslims unter der Herrschaft der Andersgläubigen einen Vertrag an, der zwischen der andersgläubigen Obrigkeit und diesem geschlossen wurde; dieser Vertrag ist Ausdruck der letzten Endes zu überwindenden politischen Unterlegenheit des Islams in dem betreffenden Territorium und kann, wie jeder Vertrag, unter sich ändernden Umständen gekündigt werden (vgl. den Text V in diesem Abschnitt). Zwei Interpretationen dieses Sachverhaltes, für den sich viele weitere Beispiele anführen ließen, sind möglich. Welche von beiden die unangenehmere ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es ist erstens denkbar, daß die nichtmuslimischen Leser mit Absicht über den islamischen Kontext, in den Aussagen wie die eben zitierten gehören, im unklaren gelassen werden. Man kann dabei auf islamischer Seite das eingangs erwähnte individualistische Verständnis von Religion nutzen und alle mit dem Islam in Verbindung stehenden Gegebenheiten, die die Kritik der säkularisierten Gesellschaft hervorrufen – bis hin zu Terroranschlägen – als „islamistisch“ bezeichnen: Mit der Religion des Islams haben sie, so soll es scheinen, nichts zu tun. Diese entspreche in vorbildlicher Weise dem, was der „postmoderne“ Mensch von einer Religion erwarte. Islam nämlich bedeute „Friede“. Wenn man dies gleich am Beginn der Islamischen Charta liest und in Diskussionsveranstaltungen ein ums andere Mal hört, fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, hier werde einfach darauf spekuliert, die Nichtmuslime seien nicht in der Lage, sich in einem arabischen Wörterbuch Aufschluß über die Bedeutung des Wortes zu verschaffen. Das Gefühl, hinters Licht geführt zu werden, hat man übrigens auch, wenn, wie es oft geschieht, ein Fragment von Sure 18, Vers 29 zum Beweis dafür angeführt werden, daß der Koran die Glaubensfreiheit predige. Zu vieles spricht eine andere Sprache! … In Sure 18, Vers 29 heißt es: „Wer will, der glaube; wer will, der bleibe ungläubig!“ Eingeleitet wird der Vers mit der Aufforderung an Mohammed: „Sprich: ‚Die Wahrheit kommt von eurem Herrn!‘“ Dann also: „Wer will, der glaube; wer will, der bleibe ungläubig! Für die Frevler halten wir (d. h. Allah) ein Feuer bereit, das sie ganz einschließt, und rufen sie um Hilfe, dann hilft man ihnen mit Wasser so heiß wie flüssiges Metall, das ihnen die Gesichter brät – welch übler Trunk, welch schlimmer Ruheplatz!“ Der „Beleg“ für die Glaubensfreiheit ist also in Wirklichkeit eine der vielen Drohreden, die der Koran an Andersgläubige richtet (vgl. auch Abschnitt D., Text IV).5 Solche Tricks sind beschämend, sie lassen sich aber leicht aufdecken. Dahinter verbirgt sich freilich ein wesentlich ernsteres Problem, und damit 5 Murad
Hofmann: Islam, München 2001, 73.
III. Islam oder Islamismus? – Probleme einer Grenzziehung
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komme ich zur zweiten Deutungsmöglichkeit des obigen Befundes. Islam und Islamismus sind so lange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden, so lange, wie das Übergeschichtliche in dem an die Zeit gebundenen Diesseits Wirklichkeit werden soll, weil es schon einmal, im Medina des Propheten, Wirklichkeit gewesen sei. Solange die Muslime an dieser Forderung festhalten, versperren sie sich den Weg zu einer kritischen Sichtung ihrer Vergangenheit, müssen auf der ewigen Wahrheit auch solcher Verhaltensweisen Mohammeds beharren, die zu seiner Zeit und in seiner Umwelt vielleicht noch zu rechtfertigen waren, es heute aber in keiner Weise mehr sind. Wie können Worte, deren Anlaß benennbare, manchmal peinliche Geschehnisse waren, Teile einer Allah von Ewigkeit inhärierenden Rede sein? Etwa Sure 66, Vers 1, wo es darum geht, Mohammed von einem Versprechen zu befreien, das er seiner Frau ÍafÒa gegeben hatte, nämlich nicht mehr mit der koptischen Sklavin Maria zu verkehren? Der islamische Rationalismus des 9. bis 11. Jahrhunderts, den man unter dem Namen MuÝtazila zusammenfaßt, hatte sich angesichts solcher Ungereimtheiten zu der Überzeugung durchgerungen, der Koran sei Allahs zeitbedingte, auf den Adressaten Mohammed und seine Umwelt zurechtgeschnittene Rede und diene, wie jede andere Offenbarung zuvor, allein dazu, dem vernunftbegabten Menschen Anregungen für die Meisterung des Diesseits zu übermitteln. Ich bin in Deutschland, aber auch anderswo, vielen Muslimen begegnet, die dies ähnlich sehen und bisweilen bitter darüber klagen, daß auch in der westlichen Öffentlichkeit diejenigen Glaubensbrüder das große Wort führen, für die Koran und Sunna einen „handfesten“ allumfassenden Lebensentwurf mit universalem Geltungsanspruch zum Inhalt haben. Solange dies so bleibt, wird eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus kaum möglich sein. Wo genau hört die genaue Befolgung schariatischer Vorschriften auf, wo geht sie in einen Angriff auf die säkulare Gesellschaft über? Und wie soll man ein solches Abgleiten in den „Islamismus“, das doch stets als strenge Schariakonformität ausgegeben werden kann, vom Boden der Scharia aus als unzulässig verwerfen? Solange es hierauf keine klaren Antworten gibt, werden die an die Scharia gebundenen Muslime keine ernsthaften Partner im „öffentlichen Diskurs“ säkularisierter Gesellschaften werden können. Ein im Herbst 2002 in Frankreich erschienenes Buch mit dem Titel „Les territoires perdus de la république“ zeigt anhand von Berichten französischer Lehrer, die in Klassen mit einem hohen Anteil muslimischer Kinder unterrichten, wie wenig diese mit den Grundwerten einer freiheitlichen Rechtsordnung anzufangen wissen. Dem uneingeschränkten Einfluß ihrer Imame ausgesetzt, sind sie von der Minderwertigkeit der Menschen, die nicht zu Allah beten, zutiefst überzeugt (vgl. Abschnitt D., Text I). Wollen Muslime aber Partner der übrigen Mitglieder
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einer säkularisierten Gesellschaft werden, dann müssen sie sich ihrer eigenen Geschichte redlich stellen; sie dürfen nicht mehr im Gespräch mit Andersgläubigen alle nur denkbaren Ideale in diese Geschichte hineinlesen. „Der Islam ist die einzig wahre und darum allen anderen überlegene Religion, und deshalb war das prophetische Medina die beste aller Gemeinschaften, und weil die Urgemeinde die beste aller Gemeinschaften war, ist der Islam die einzig wahre und allen anderen überlegene Religion.“ Das in diesem Zirkel befangene islamische Denken sollte endlich einen Weg finden, aus ihm auszubrechen. Hier kommt nun, so meine ich, auch die westliche Islamforschung ins Spiel, die sich leider oft dazu versteht, den Verfechtern eines ewig wahren Islams nach dem Munde zu reden, verliebt in das romantische Bild vom Islam, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den gebildeten Schichten Europas behauptet. Da wird viel zu oft die berühmte Schere im Kopf betätigt … Dem Ansehen des Islams in unserer säkularisierten Welt hilft man, so meine ich, auf diese Weise gar nicht. Vor allem aber stellt man die Wortführer der Muslime von der dringenden Notwendigkeit frei, über ihr Verhältnis zur säkularisierten Gesellschaft, die ihnen die Möglichkeit freier Entfaltung zugesteht, nachzudenken und deren Prinzipien einmal ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Abschnitt D., Text IV und V).
IV. „Erst der Muslim ist ein freier Mensch!“ Die Menschenrechte aus islamischer Sicht Dieser Beitrag zu einer Ringvorlesung wurde in dem Sammelband Der Mensch und seine Rechte. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, herausgegeben von Georg Nolte und Hans-Ludwig Schreiber (Wallstein Verlag, Göttingen 2004, 121–136) veröffentlicht. Dem Wallstein Verlag danke ich für die freundliche Genehmigung, diesen Text hier in leicht überarbeiteter Fassung abzudrucken.
1. Die Menschenrechte, eine die Kulturen übersteigende Idee? „Menschenrechte sind solche Rechte, die dem Menschen als Menschen zugesprochen werden.“ Mit diesem Satz beginnt das Historische Wörterbuch der Philosophie den Artikel über unseren Gegenstand. Der Inhalt dieser Rechte sei nicht eindeutig bestimmbar, sondern hänge von geistigkulturellen, gesellschaftlich-wirtschaftlichen und politischen Faktoren ab, lesen wir weiter. Er ist mithin einem Wandel unterworfen, in welchem erdräumliche und geschichtliche Gegebenheiten ihren Einfluß geltend machen. Bleiben wir bei diesen sehr allgemeinen Aussagen stehen, dann will es uns scheinen, daß es eine schier unüberschaubare Mannigfaltigkeit an Definitionen der Menschenrechte geben könnte. Indessen wäre solch unbegrenzbarer Relativismus nur zu rechtfertigen, wenn es auch tatsächlich in allen Kulturkreisen den Begriff der Menschenrechte gäbe, und über den Begriff hinaus auch wie immer geartete Institutionen und jedermann offenstehende Verfahren, um dem jeweiligen Menschenrecht Geltung zu verschaffen. Dies ist aber keineswegs der Fall; denn sowohl der Begriff als auch die Institutionen sind allein im lateinischen Europa herangereift. In der der gewachsenen Einschränkungen ledigen Fortbildung Europas in Nordamerika ist 1776 zum ersten Mal von allgemeinen und angeborenen, unveräußerlichen Rechten des Menschen die Rede, die die Grundlage des Gemeinwesens zu bilden hätten. Was sich in Europa auf vielfältige Weise vorbereitet hatte, konnte hier ohne Rücksicht auf etwaige überkommene Rechte als reines dem Menschen von Natur aus eigenes Recht proklamiert werden: Der Mensch in seiner Eigenschaft als Mensch hat ein Recht auf Leben, individuelle Unversehrtheit und Freiheit sowie auf den Erwerb von Eigentum; es ist sein Recht, nach Glück zu streben. Indem diese Zusagen an keinerlei über das Menschsein hinausgehende Bedingun-
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gen gebunden sind, zeigen sie nach westlichem Empfinden einen universalen Charakter. Denn jedes Exemplar der Gattung Mensch erfüllt die Forderung, ein Mensch zu sein. Sprachen wir eingangs von der Relativität der Menschenrechte, so werden wir nun unversehens mit ihrem universalen Geltungsanspruch konfrontiert, der mit ihrer behaupteten Voraussetzungslosigkeit gerechtfertigt wird. Ist diese Rechtfertigung einleuchtend? 2. Islamische Voraussetzungen Es ist eine bekannte Tatsache, daß die muslimischen Länder gegenüber den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen Vorbehalte geäußert haben. In ihrer Sicht der Dinge scheint der universale Geltungsanspruch nicht ohne weiteres einzulösen zu sein. Der „Islamrat für Europa“ hat 1981 in einer „Allgemeinen islamischen Menschenrechtserklärung“ festgestellt, diese Rechte würden im Islam in unüberbietbarer Form garantiert; daher seien alle Menschen aufgefordert, den Islam anzunehmen. Implizit verlangt dies auch die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ der Organisation der Islamischen Konferenz vom Jahre 1990. Ganz so weit geht die im Februar 2002 veröffentlichte „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland nicht. Sie pflegt eine etwas zurückhaltendere, die Probleme verschleiernde Diktion. So hat der Paragraph 6 die Überschrift: „Der Muslim und die Muslima haben die gleiche Lebensaufgabe“. Der Inhalt dieses Paragraphen lautet: „Der Muslim und die Muslima sehen es als ihre Lebensaufgabe, Gott zu erkennen, ihm zu dienen und seinen Geboten zu folgen. Dies dient auch der Erlangung von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit und Wohlstand.“ Auf diese Weise wird das für den Islam so heikle Thema der Gleichberechtigung der Frau umschifft. In Paragraph 13 wird versichert: „Zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung besteht kein Widerspruch.“ Es bleibt unklar, was die Individualrechte seien, deutlich ist nur, daß sie den Menschen von Allah zugeteilt werden, also religiös begründet sind. Wenn in der Politik von der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte die Rede ist, macht sich der westliche Staatsbürger in aller Regel nicht klar, daß er von einem spezifischen Vorverständnis des Menschen und seiner Stellung im Kosmos geprägt ist, das keineswegs mit demjenigen anderer Kulturen übereinstimmen muß. Für den Muslim ergibt sich das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu seinesgleichen aus der Heilsbotschaft des Korans, deren Kern die Aussage bildet, daß der Mensch sowie das ganze den fünf Sinnen zugängliche Diesseits die Kreatur des einen Gottes ist. Das klingt zunächst recht banal und abstrakt zugleich. Die Tragweite dieses Satzes läßt sich aber schon erahnen, wenn man sich klarmacht, daß die
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Geschöpflichkeit nicht als die Stiftung eines Anfanges des Diesseitigen oder eines jeden diesseitigen Wesens begriffen wird, sondern als die Bestimmtheit eines jeden Geschöpfes in jedem Augenblick seines Daseins. Auch alles Wissen, mit dessen Hilfe der Mensch sein Dasein fristet, stammt von Allah. Der Mensch hat deswegen nicht die Fähigkeit, in eigener Verantwortung Regelungen für die Meisterung seines Weges durch das Diesseits auszuarbeiten. Diesbezügliche Bemühungen führen in die Widersetzlichkeit gegen Allah (vgl. Abschnitt A., Text I bis III). Es sei unterstrichen, daß die Idee der Menschenrechte unter völlig anderen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen entstand.
3. Islamisches Menschenrecht Was heißt dies nun für den einzelnen Menschen? Es ist ganz klar, daß nur derjenige ein vollgültiges Mitglied des Gemeinwesens sein kann, der sich zum Glauben an die von Mohammed überbrachte Gesetzesbotschaft, also zum Islam, bekennt. Wer sich in dieser Hinsicht dem Gemeinwesen versagt – mithin vor allem Juden, Christen und Zoroastrier unter islamischer Herrschaft –, dem wird ein minderer Status zugewiesen, dessen Definition ins 7. Jahrhundert zurückreicht. Man setzt dabei voraus, daß diese Religionsgemeinschaften einer durch den Islam überwundenen Stufe der Menschheitsgeschichte angehören und zum Verschwinden verurteilt sind. Seit der Idealisierung des Islams in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts betrachtet man diese Regelung im Westen als einen Ausdruck vorbildlicher Toleranz in Glaubensfragen, und muslimische Gesprächspartner machen sich dieses Mißverständnis gern zunutze, indem sie behaupten, im Islam habe es das Grundrecht der Religionsfreiheit schon lange vor den in Europa und Nordamerika konzipierten Menschenrechten gegeben. Dies ist schlicht irreführend. Der Islam kennt lediglich die Glaubensfreiheit zum Islam hin, der, wie bereits ausgeführt, als die Art der Religionsausübung verstanden wird, in der die angenommene Grundbefindlichkeit des Menschen, seine Geschöpflichkeit, nach der von Allah selber gewollten Art im Kultus und im profanen Alltag gelebt wird. In dieser – islamischen – Religionspraxis gibt es deshalb „keinen Zwang“, eben weil sie der Geschöpflichkeit angemessen ist, was man von der jüdischen und christlichen laut Koran gerade nicht sagen kann … (vgl. Abschnitt D., Text IV und V). Der Schritt vom Islam weg wird nach schariatischem Recht mit dem Tode geahndet, ein „Apostat“ steht damit islamrechtlich auf derselben Stufe wie ein Mensch, der gar nicht an Gott glaubt bzw. nicht den Kultus einer der sogenannten Buchreligionen ausübt. In einem muslimischen Gemeinwesen hat er keine Daseinsberechtigung – wie übrigens auch ein Muslim, der Mohammed schmäht und dadurch unweigerlich die Glaubwürdigkeit von Koran und Hadith in Frage stellt. Mir ist keine Schrift aus muslimischer
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Feder bekannt, in der die schariatischen Vorschriften über den Status der Andersgläubigen und über die Ahndung der sogenannten Apostasie einer grundsätzlichen Kritik geschweige denn einer Revision im Sinne des Katalogs der Menschenrechte unterzogen würden. Damit kommen wir zur Beschreibung der Stellung des einzelnen Muslims innerhalb des Systems der Scharia. Es ist seit dem Beginn der islamischen Rechtswissenschaft höchst umstritten, ob dessen Belange überhaupt von Allah, dem Gesetzgeber, berücksichtigt worden sind, ja berücksichtigt worden sein können. Allah kann in seinem Ratschluß niemals von den Interessen des Menschen als Gattung abhängig sein, und erst recht nicht von denen des Menschen als eines Individuums. So lautet die Ansicht, die sich schon im 10. Jahrhundert durchgesetzt hat und die bis heute die Schariagelehrsamkeit prägt. Der Begriff eines Rechtes als einer ohne eine benennbare Gegenleistung bestehenden Berechtigung fehlt; der arabische Terminus al-Î aqq, „das Recht“, ist rein relational zu verstehen, weshalb er je nach den präpositionalen Wendungen, in denen er anzutreffen ist, einen Anspruch oder eine Schuld bedeuten kann. Um zu definieren, was in islamischer Sicht das Recht in der allgemeinsten Auslegung des Begriffes sein kann, ist noch einmal auf die Heilsbotschaft von der Geschöpflichkeit des Menschen zu verweisen. Der Mensch steht gegenüber seinem Schöpfer in der Position des Knechtes, der in allem auf seinen Herrn angewiesen ist und nichts für sich selber und nach eigenem Bestreben ausrichten kann. Sein Verhältnis zu Allah ist – um nun den schariatischen Terminus zu nennen – dasjenige der „Belastung“ (arab.: at-taklīf ), genauer der Belastetheit, nämlich mit den aus der Geschöpflichkeit folgenden kultischen Pflichten und gottgegebenen Regeln der zwischenmenschlichen Beziehungen. In einer vom Obersten Rat für islamische Angelegenheiten in Kairo herausgegebenen Grundsatzschrift über „Das islamische Recht. Die Grundlage der Gesetzgebung“ liest man im Zusammenhang mit der Abgrenzung des göttlichen Rechts von demjenigen des Menschen: „Das Recht Allahs oder das allgemeine Recht: Das reine Recht Allahs ist jenes, durch das in der ursprünglichen Absicht die Annäherung an ihn … und die Aufrechterhaltung der Glaubenspraxis bezweckt werden; oder jenes, durch das der Schutz der Gesellschaft (d. h. der muslimischen Gesellschaft, Nagel) erstrebt wird, wie denn aus diesem (reinen Recht Allahs) das allgemeine Wohl (der muslimischen Gesellschaft) folgt, ohne daß auf jemanden gesondert Bezug genommen würde.“ Das reine Recht Allahs umfaßt die rituellen Bestimmungen, die koranischen Strafen und alles, was dem Schutz und dem Gedeihen der muslimischen Gesellschaft förderlich ist. Mit diesen Gedanken finden die Verfasser Anschluß an eine seit dem 11. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder bemühte Argumentationsfigur. Indem die Schariawissenschaft aus dem Koran und dem Hadith die göttliche Gesetzgebung herausdestilliert, muß sie sich un-
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zählige Male der Analogieschlüsse bedienen. Damit diese nicht fehlgehen, haben sie den „Absichten der Scharia“ oder den „Absichten des Gesetzgebers“, also Allahs, zu folgen. Diese sind im einzelnen natürlich unbegreifbar; aber man wird nicht bestreiten können, daß Allah den Triumph der einzig wahren Religion, des Islams mithin, ansteuere. Das Wohl der muslimischen Gemeinschaft muß daher die Leitlinie der Verwirklichung der allgemeinen Rechte Allahs bilden. Das dem reinen Recht Allahs nachgeordnete reine Recht des Menschen zerfällt in einen allgemeinen und in einen besonderen Teil. Der erste erstreckt sich auf das, was wir als die Wirtschaft und im weitesten Sinne als die materielle Infrastruktur menschlicher Gesellung bezeichnen würden, und unterliegt damit eo ipso dem Gebot, den Nutzen der muslimischen Gesellschaft zu mehren. Das besondere Recht der Menschen – die Autoren nennen zum Beispiel „das Recht eines jeden auf seine Wohnung, seine Arbeit, seine Gattin“ – begründen zwar eine alleinige Verfügungsgewalt des einzelnen Menschen bzw. Mannes, doch sei auch hier ein gewisses Maß an Gemeinschaftsgebundenheit zu beachten. Der weitaus größte Teil aller Rechtsverhältnisse zeige freilich eine Mischung aus Rechten Allahs und Rechten der Menschen, nämlich „daß der Mensch sein Leben, seinen Verstand und die Gesundheit seines Körpers schützen soll; desgleichen (gehört hierher) seine Freiheit von Erniedrigung, die Freiheit seines Vermögens von Vernichtung bzw. von Verschleuderung zu einem nichtschariatischen Zweck. Dies alles ist das Recht Allahs“ – nämlich insofern hierdurch der menschlichen Gesellschaft gedient ist, die als eine islamische gedacht wird. „Doch ist hieran auch das Recht des Menschen beteiligt; es geht um sein besonderes Wohl bezüglich des Lebens, der Gesundheit, des Vermögens.“ Wie oben ausgeführt, beherrscht die relationale Auslegung des Begriffes „Recht“ die Schariawissenschaft, wobei gewissermaßen Allah wegen seiner ununterbrochenen Schöpfungstätigkeit stets gegenüber dem Menschen voraus ist: Allahs Recht ist gegenüber dem Menschen ganz Anspruch, niemals Schuldigkeit; unter den Menschen selber beschreibt die Scharia eine Gemengelage von Anspruch und Schuldigkeit, deren richtige Interpretation jedoch fast immer die Schuldigkeit des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer einzubeziehen hat, und zwar meistens unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Belange des auf göttliche Anleitung durch Mohammed gegründeten Gemeinwesens. Von Anspruch und Schuldigkeit, insofern diese im Laufe des irdischen Wandels unvermeidbar entstehen, ist der Mensch bei seiner Geburt natürlich frei. In diesem Augenblick eignen ihm dennoch Rechte, die die Autoren der genannten programmatischen Schrift allerdings nicht als Menschenrechte bezeichnen, sondern als „Rechte der ursprünglichen Wesensart“ (arab.: Pl. al-Î uqūq al-fiÔ rīja). Es sind dies das „Recht auf Leben, Freiheit und Gleich-
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heit und das Recht, einer Mutter Sohn zu sein“. Die Formulierung „Rechte der ursprünglichen Wesensart“ spielt auf Sure 30, Vers 30 an sowie auf ein in vielen Varianten umlaufendes Hadith. Der Koranvers lautet: „Richte als ein Gottsucher dein Gesicht auf die (wahre) Glaubenspraxis! (Das) ist die ursprüngliche Art, in der Allah die Menschen geschaffen hat, und die Schöpfung Allahs kann man nicht abändern. Das ist die richtige Glaubens praxis. Aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid.“ Und nun das Hadith, das den koranischen Begriff der „ursprünglichen Art“ aufnimmt: „Jedes geborene Kind wird in der ursprünglichen Art geboren. Es sind dann seine Eltern, die es zum Juden, Christen oder Zoroastrier erziehen. In gleicher Weise bringt jedes Tier seinesgleichen hervor – seht ihr etwa darunter solche, denen man die Nase verstümmelt hat?“ Der Mensch wird also per definitionem als Muslim geboren. Wie vorhin erörtert, versteht sich der Islam als die der Geschöpflichkeit des Menschen in vollem Sinne Rechnung tragende Glaubenspraxis, eben als diejenige, die Allah für sich beansprucht, indem er als Schöpfer tätig wird und tätig ist. Abraham hat dies, so der Koran, als erster erkennen dürfen, und er hat daraus den einzig möglichen Schluß gezogen: Er hat sich als Muslim bekannt. Juden, Christen, Zoroastrier, Anhänger von Religionen, die erst nach Abraham entstanden, worauf Sure 3, Vers 68 f. ausdrücklich hinweist, haben sich von der wahren Glaubenspraxis entfernt, und jüdische, christliche, zoroastrische Eltern sind es, die ihre Kinder von der ihnen angeborenen ursprünglichen Religiosität, dem Islam, abbringen und sie verstümmeln, wie man dies auch bei manchen neugeborenen Tieren zu tun pflegt. Ein Recht auf Leben, Freiheit, Gleichheit und auf Zugehörigkeit zur Gesellschaft hat also nur der Muslim, und zwar im Rahmen der Scharia. In der „ursprünglichen Art“, in der Allah den Menschen schafft, sollte er verharren, und wenn er sie nicht auf Grund der Erziehung durch seine fehlgeleiteten Eltern, sondern nach eigenem Entschluß verläßt, dann zerstört er mutwillig seine Menschenwürde und verdient die schwerste aller Strafen.1 Daß jeder Mensch nach westlicher Vorstellung ein von ihm selber definiertes Glück anstrebe, setzt, wie wir jetzt erkennen, stillschweigend die Individualität eines jeden Menschen voraus und nimmt an, daß er zur Selbstbestimmung nicht nur befähigt, sondern geradezu aufgerufen ist, und damit wird deutlich, welch ein weitreichendes Postulat in Wahrheit mit dem Konzept der Menschenrechte verbunden ist, ein Postulat, das von anderen Kulturen als fremd und unverständlich wahrgenommen werden kann.
1 Vgl. hierzu das Unterkapitel „Das Aufblühen der zeitgenössischen SchariaWissenschaft“ in meinem Buch „Das islamische Recht. Eine Einführung“.
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4. Aktuelle Aspekte Am 17. April 2004 hat Herr Habermas in einem Aufsatz in der FAZ eine kritische Würdigung der Ereignisse im Irak versucht. Er hält zum HurraAmerikanismus ebenso Abstand wie zu einem wohlfeilen, weil verantwortungsscheuen Pazifismus. Daß die Durchsetzung der Menschenrechte auf dem ganzen Globus mit Hilfe einer militärisch zur Geltung gebrachten Hegemonie der Vereinigten Staaten gelingen könne, glaubt er nicht. Vielmehr nimmt er an, der, wie er sagt, universalistische Kern von Demokratie und Menschenrechten werde ohne gewaltsames Eingreifen in den Gegenden dieser Erde unter den je obwaltenden kulturellen Gegebenheiten wirksam. Das moderne Selbstverständnis sei nämlich durch einen egalitären Universalismus geprägt, der zur Dezentrierung der jeweils eigenen Perspektive anhalte. Dieser nicht mehr hegemoniale Universalismus „nötigt dazu, die eigene Sicht an den Deutungsperspektiven der gleichberechtigten anderen zu relativieren“. Habermas will dies nicht als einen in naher Zukunft wirksam werdenden, jetzt sich vollziehenden Sinneswandel verstanden wissen, sondern als eine Beschreibung dessen, was heute schon der Fall ist. Denn er meint: „Wenn in Nassirija Tausende von Schiiten gegen Saddam und die amerikanische Besatzung demonstrieren, bringen sie auch zum Ausdruck, daß sich nichtwestliche Kulturen den universalistischen Gehalt der Menschenrechte aus ihren eigenen Ressourcen und in einer Lesart aneignen müssen, die zu lokalen Erfahrungen und Interessen eine überzeugende Verbindung herstellt.“ Worauf gründet sich diese Zuversicht – die augenscheinlich nicht von der intimen Kenntnis der Weltsicht außerwestlicher Kulturen angekränkelt ist? Das bleibt leider offen. Klar ist nur, daß „Werte“, und zwar auch solche, die auf globale Anerkennung rechnen dürften, nicht mittels Krieg und Besatzungsregime exportiert werden könnten. Vielmehr sollten sie, da sie vernünftig seien, in den „normativen Ordnungen und Praktiken bestimmter kultureller Lebensformen“, nicht also in einem überall gleichen Einheitsgewand verbindlich werden. Diese Formulierungen lassen darauf schließen, daß Habermas, ohne sich darüber Klarheit zu verschaffen, den Triumphzug im Westen entwickelter Methoden der Verwaltung und Regierung sowie des Einsatzes einer hochkomplizierten Technik zum Zwecke gewinnbringenden Wirtschaftens mit dem Sieg westlichen Denkens überhaupt gleichsetzt, und zwar dergestalt, daß der freiwillige Import jener westlichen Errungenschaften in den betreffenden Erdteilen genau die Weltsicht entbinden werde, der sich im Westen einst diese Errungenschaften verdankten. Diese stillschweigend angenommene Prämisse ist im Westen sehr beliebt. Der vielgescholtene Samuel Huntingdon hat sie in seinem „Kampf der
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Kulturen“ beschrieben und ihre Berechtigung angezweifelt und sich dadurch eines Tabubruchs schuldig gemacht. Wir stehen vor der Frage, ob bzw. wie durch die islamische Welt wesentliche Elemente der westlichen politischen Kultur rezipiert worden sind bzw. ob bei wirklichkeitsnaher Einschätzung mit einer solchen Rezeption gerechnet werden darf. Um einer plausiblen Antwort auf die Frage nahezukommen, ist es ratsam, so weit wie möglich die Perspektive eines muslimischen Beobachters einzunehmen. Das Einfallstor der westlichen Moderne war das Kriegswesen; seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bemühte sich das Osmanische Reich um eine Modernisierung von Waffen und Ausbildung seiner Truppen. Schariatische Grundsätze spielten hierbei keine Rolle. Dieser Mangel an sich war für den Muslim kein Problem. Seit dem 11. Jahrhundert hatte man gelernt, den Herrschern bei der Festigung der Macht und der Wahrung von Ruhe und Ordnung ein gewisses Maß an Freiheit von den Bestimmungen der Scharia zuzugestehen, und zwar mit der Rechtfertigung, die gegebenenfalls unschariatischen Maßnahmen gereichten dem Gemeinwesen der Muslime zum Vorteil, standen also im Einklang mit den Intentionen Allahs, des Gesetzgebers. Allerdings erhoben einzelne Schariagelehrte gegen diese Klausel, die letzten Endes jeden Willkürakt legitimierte, sobald man dessen Nützlichkeit für den Islam behaupten konnte, seit dem Mittelalter energischen Einspruch. Auch das herrscherliche Handeln müsse sich an der Scharia messen lassen. Die importierten Neuerungen des 19. Jahrhunderts erschienen in dieser Sicht als eine bislang ungekannte Ausweitung des der Scharia entzogenen Bereiches herrscherlichen Machterhalts; auch die zunächst zaghaften, dann entschiedenen Versuche, das Staatswesen nach westlichem Muster zu organisieren, wurden vielfach als eine weitere Stufe der Festigung eines unschariatischen Despotismus wahrgenommen. Gleichzeitig mit der Verwestlichung des Staatsapparates drangen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Schlagworte eines von der Französischen Revolution geprägten politischen Denkens in die islamische Welt ein und wurden von den westlich Gebildeten unter den muslimischen Kritikern eines unschariatischen Despotismus gegen diesen in Stellung gebracht. Brüderlichkeit, das war für diese Kritiker die im Islam gründende Brüderlichkeit im Glauben, die nun gegen die unter unislamischen Einfluß geratenden Herrscher zu üben war, zugunsten der alle staatlichen Grenzen überschreitenden islamischen Gemeinschaft und zu Nutz und Frommen des Islams und seines Propheten, die in den Verruf des ewig Gestrigen zu geraten drohten. Gleichheit, das meinte die Gleichheit aller muslimischen Mitglieder des islamischen Gemeinwesens, zu denen auch die Herrschenden zu rechnen waren. Alle sollen sie der Scharia unterworfen sein, alle vollziehen
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dank ihrer Zugehörigkeit zum Islam in gleicher, vollendeter Weise die von Allah gewollten Pflichten, die sich aus der Geschöpflichkeit ergeben. Hierin sind ihnen die Bekenner anderer Religionen nicht gleich. Und schließlich die Freiheit! Wird sie nicht wiederhergestellt sein, wenn der unschariatische Despotismus hinweggefegt sein wird und wieder die Verhältnisse herrschen, wie sie im Medina des Propheten obwalteten? Alles, was Mohammed anordnete, ging unmittelbar mit Allahs Willen konform. Keine nicht durch diesen Willen sanktionierte Macht konnte sich regen, und so waren die Muslime im wahrsten Sinne des Wortes frei – nämlich alle in gleich unmittelbarer Beziehung zu ihrem Schöpfer, ganz in der ihnen zugedachten ursprünglichen Daseinsart. Sie waren frei in einer Weise, die die Andersgläubigen nie erlangen können, und solche Freiheit gilt es in einem wahren islamischen Staat aufs neue zu erringen. Kernbegriffe des europäischen politischen Denkens, die sich in der Idee der Menschenrechte niedergeschlagen haben, werden unter den ganz grob skizzierten geschichtlichen Umständen in einen islamischen Begründungszusammenhang verpflanzt, man könnte sagen, entsäkularisiert, und das ist sicher mehr als nur eine regionale Einfärbung einer universal gültigen Idee. Nicht nur an den Begriffen Freiheit und Gleichheit ließe sich dies zeigen, sondern an vielen anderen, die über das 20. Jahrhundert hinweg die politische und ideologische Diskussion der islamischen Welt bestimmten. Wer heute in einem islamischen Bildungsmilieu aufgewachsen ist, für den haben die politischen Kernbegriffe, mit denen man sich über den Staat und die Gesellschaft verständigt, einen Inhalt, der sich höchstens partiell mit dem deckt, was im Westen für selbstverständlich und gemeinhin anerkannt erachtet wird. Ob jede der nichteuropäischen Kulturen, die mit der europäi schen politischen Zivilisation konfrontiert wurden, eine solche Umdeutung vornimmt, vermag ich nicht zu sagen. Für mich stellt sich allerdings die Frage, was eine Menschenrechtspolitik gegenüber der islamischen Welt erreichen kann und soll. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang besser, das ideologisch stark aufgeladene Konzept hintanzustellen und stattdessen auf die Einhaltung konkreter Grundsätze zu dringen, z. B. tatsächliche Gewaltenteilung, Ächtung der Folter usw. Die eingangs zitierte Charta des Zentralrats der Muslime und die Menschenrechtserklärung der Muslime in Europa zeigen aber auch, daß die Menschenrechte nicht nur in anderen Teilen der Welt durchgesetzt werden müssen; vor allem muß die vorbehaltlose Anerkennung durch die starken muslimischen Minderheiten, die in Europa eingewandert sind, herbeigeführt werden. Hier ist noch alle Arbeit zu leisten, damit eines Tages nicht nur der „Kernbestand“ der Menschenrechte gebilligt und im übrigen der Übertritt zum Islam empfohlen, sondern der Pluralismus der Religionen und Weltan-
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schauungen uneingeschränkt bejaht wird. Die bisherigen Versuche, den Muslimen eine Bejahung der westlichen Menschenrechte abzuringen, begnügen sich mit verbalen Kompromissen, bei denen schon im Augenblick ihrer Formulierung klar ist, daß beide Seiten unter dem Gesagten etwas anderes verstehen. Eine Klärung des Grundsätzlichen wird vermieden, weil man glaubt, sie den Muslimen nicht zumuten zu dürfen, und stattdessen aus Konfliktscheu lieber eine Verwässerung der bewährten eigenen Position in Kauf nimmt. Die Eingliederung der Muslime in eine säkularisierte Gesellschaft wird auf diese Weise aber nicht gefördert, sondern verhindert. Denn Muslime, die in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft nicht nur existieren, sondern diese aktiv mitgestalten wollen, müssen lernen, den Anspruch auf den absoluten Vorrang ihres Glaubens fallenzulassen, müssen sich also der Auslegung der Menschenrechte anbequemen, die hier, im Erdteil ihrer Entstehung, heimisch ist. Die Alternative wäre der Weg ins Ghetto, den etliche Muslime schon gegangen sind und dessen schädliche Folgen sich abzuzeichnen beginnen. Um diesen Entwicklungen zu wehren, ist es an der Mehrheit, endlich zu begreifen, daß das, was sie mit Herrn Habermas und vielen anderen für selbstverständlich hält, in Wahrheit unter Anstrengung bewahrt werden muß.
V. Auszüge aus einem Gutachten, betreffend die Notwendigkeit des Vollzugs des rituellen Gebets in einer staatlichen allgemeinbildenden Schule Im November 2007 vollzogen in einem Berliner Gymnasium während der Pause nach der sechsten Unterrichtsstunde mehrere muslimische Schüler in einem Flur des Gebäudes das rituelle Mittagsgebet. Die Schulleiterin untersagte den betreffenden Schülern am nächsten Tag eine Wiederholung und wies darauf hin, daß religiöse und politische Bekundungen auf dem Schulgelände unzulässig seien. Hiergegen erhob einer der beteiligten Schüler Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Er machte geltend, daß er als Muslim zum Vollzug der fünf täglichen rituellen Gebete verpflichtet sei, deren Zeiten sich nach dem Sonnenstand richteten und einem Gebetskalender zu entnehmen seien. Das Nachholen eines versäumten Pflichtgebets habe nach islamischem Glauben einen geringeren Wert als das unmittelbar zum vorgegebenen Zeitpunkt durchgeführte. Die Schule möge geeignete Vorkehrungen treffen, z. B. einen Raum zur Verfügung stellen, damit der Schüler der mit seinem Glauben begründeten Gebetspflicht vorschriftsgemäß nachkommen könne, worauf er nach der in der Verfassung garantierten Religionsfreiheit einen Anspruch habe. – Die Schule wird von mehr als 500 muslimischen Schülern und Schülerinnen besucht. Das Verwaltungsgericht forderte von Prof. Dr. M. Rohe ein Gutachten an und bat um die Beantwortung von insgesamt fünf Fragen: 1. Sind gläubige Moslems aus religiösen Gründen zum täglichen Gebet verpflichtet und wenn ja, zu welchen Zeiten? 2. Besteht die Gebetspflicht auch für 15jährige in Deutschland geborene und aufgewachsene Schüler? 3. Besteht die Gebetspflicht auch während der Schulzeit in der unterrichtsfreien Zeit? 4. Kann das Gebet zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden und wenn ja, aus welchen Gründen? 5. Kann sich ein muslimischer Schüler auf eine Befreiung von der Gebetspflicht bzw. auf die Möglichkeit, das Gebet aufzuschieben, berufen, ohne mit seinem Glauben in Konflikt zu geraten, wenn von ihm Zurückhaltung im Interesse des Schulfriedens, insbesondere im Hinblick auf nicht muslimische Schüler, erwartet wird? Rohe führte in seinem Gutachten aus, daß religionsmündige Muslime grundsätzlich zur Verrichtung der Ritualgebete verpflichtet seien und diese zu den nach dem Sonnenstand ermittelten Zeiten zu vollziehen hätten; dies gelte auch für in Deutschland aufgewachsene Schüler. Nur ausnahmsweise dürften zwei Gebete, hier das
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Mittags- und das Nachmittagsgebet, zusammen verrichtet werden, was während der unterrichtsfreien Zeit in der Schule geschehen könne. Allerdings werde dies „traditionell nur in Situationen besonderer Notwendigkeit gestattet“. Ein gänzlicher Verzicht auf das Ritualgebet während der Schulzeit würde nur dann keinen Glaubenskonflikt auslösen, wenn überzeugende äußere Gründe vorlägen, „z. B. völliges Fehlen irgend einer geeigneten Räumlichkeit oder Feindseligkeit der Umgebung mit bedrohlichem Charakter“. Das Verwaltungsgericht entschied am 29. September 2009, daß der Schüler zum Vollzug des rituellen Gebets in der Schule berechtigt sei, ließ die Frage, wie die Schule dies gewährleisten solle, allerdings offen. Es betonte, die Schule sei nicht verpflichtet, einen entsprechenden Raum zu stellen. Die negative Religionsfreiheit der übrigen Schüler und Schülerinnen werde entgegen den Befürchtungen der Schulleitung nicht dadurch beeinträchtigt, daß ein einzelner Schüler das rituelle Gebet verrichte. „Es kann dahinstehen, ob die Wertung der Beklagten zutrifft, das islamische Gebet habe ‚demonstrativen und werbenden Charakter‘, was bereits zweifelhaft erscheint, weil im Vordergrund des Gebets nicht die Glaubenswerbung, sondern die Anrufung Gottes steht und im Übrigen jede äußerlich erkennbare Glaubensausübung als ‚demonstrativ‘ bezeichnet werden könnte. Soweit die Schulleitung befürchtet, andere muslimische Schüler könnten sich durch die Gebetspraxis des Klägers unter Druck gesetzt fühlen, steht es ihr jedenfalls frei, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, um der von ihr gesehenen Gefahr einer demonstrativen bzw. werbenden Form des Gebets zu begegnen, wenn sie pädagogische Bemühungen nicht für ausreichend hält“ (S. 14 des Urteils). Der Schulsenator des Landes Berlin legte gegen dieses Urteil Berufung ein und erbat von mir ein Gutachten, das sich vor allem mit der Verbindlichkeit der Gebetszeiten und der Möglichkeit der Verknüpfung des Mittags- mit dem Nachmittagsgebet zu befassen hatte. Zu diesem Zweck ging ich im ersten Teil auf die Prof. Rohe gestellten fünf Fragen noch einmal ausführlich ein. Im zweiten Teil beschäftigte ich mich mit dem Charakter der muslimischen Pflichtgebete, der vom Verwaltungsgericht, wie der eben zitierte Passus belegt, entgegen dem muslimischen Verständnis als eine individuelle Anrufung Gottes aufgefaßt worden war.
Frage 1: Sind gläubige Moslems aus religiösen Gründen zum täglichen Gebet verpflichtet und wenn ja, zu welchen Zeiten? Nach den Bestimmungen des islamischen Rechts sind alle Muslime, die geistig und körperlich gesund sind, mit dem Erreichen der Geschlechtsfähigkeit zur Einhaltung der Regelungen der Scharia verpflichtet (arab.: mukallaf, d. h. „belastet“). Das gilt selbstverständlich auch für die von der Scharia vorgesehenen und durch sie geregelten Ritualpflichten, unter denen das fünfmal am Tag zu vollziehende Pflichtgebet einen besonderen Rang einnimmt (vgl. den zweiten Teil des Gutachtens). Die sogenannten Gebetszeiten, die sich nach dem Sonnenlauf richten und daher auf hohen Breitengraden zu bestimmten Jahreszeiten kaum oder nur unter großen Schwierigkeiten einzuhalten sind, benennen stets den Beginn
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eines längeren Zeitabschnitts,1 innerhalb dessen das jeweilige rituelle Gebet unter strenger Beachtung der schariatischen Vollzugsvorschriften ausgeführt werden soll. Am Beginn eines solchen Zeitabschnitts, der in der islamischen Welt durch den Gebetsruf verkündet wird, wird in den Moscheen unter Anleitung durch den Imam das jeweilige Pflichtgebet verrichtet, dessen Bewegungsabläufe und verbale Äußerungen durch die Scharia festgelegt sind. Das islamische Recht setzt voraus, daß jeder Muslim, der den Gebetsruf einer Moschee hört, diese zum Vollzug des Pflichtgebets aufsucht und, den Bewegungen und Äußerungen des Imams genau folgend, in der Gemeinschaft mit den anwesenden Glaubensbrüdern seine Ritualpflicht erfüllt. Schon zu Mohammeds Lebzeiten war jedoch klar, daß dies nur der mit den Tagesgeschäften meist nicht zu vereinbarende Idealfall ist. Deshalb ist die im ritualrechtlichen Sinne vollgültige Erfüllung (arab.: al-adāÞ ) dieser Pflicht auch dann gewährleistet, wenn das Gebet außerhalb der Moschee verrichtet und zu einem beliebigen Zeitpunkt der für das jeweilige Pflichtgebet vorgesehenen Zeitspanne vollzogen wird. Der Zeitabschnitt des Û uhr- (Mittags-) Gebets beginnt, sobald die Sonne den Zenit überschritten hat und sich nach Westen zu neigen beginnt; er endet unmittelbar vor dem Beginn des Zeitabschnitts des Ý aÒ r- (Nachmittags-) Gebets. Dessen Zeitabschnitt setzt ein, sobald ein Gegenstand einen Schatten wirft, dessen Länge diejenige des Mittags um eine Länge übertrifft, die seiner Höhe entspricht, und dauert bis unmittelbar vor den Zeitpunkt des Versinkens des Sonnenballs hinter dem Horizont. In dem von Rohe, S. 9, angeführten Beispiel wäre also für den Vollzug des Mittagsgebets eine Zeitspanne von 13.09 Uhr bis gegen 17.30 Uhr gegeben. Da in höheren nördlichen oder südlichen Breiten während der Wintermonate der Abstand zwischen Mittags- und Nachmittagsgebet unpraktikabel kurz ausfällt, vertrat man in der hanafitischen Rechtsschule auch die Ansicht, der den Beginn des Zeitabschnitts des Nachmittagsgebets markierende Schatten müsse den mittäglichen um die doppelte Länge der Höhe eines Gegenstandes übertreffen.2 Die Autoren der kuweitischen Enzyklopädie des islamischen Rechts machen sich diese Auffassung nicht zueigen. Sie schreiben vielmehr: „Was die Regionen betrifft, in denen die Zeitspanne des 1 Wizārat al-auqāf: al-MausūÝa al-fiqhīja (fortan MF), 45 Bände, Kuweit 1993– 2007, hier: Online-Ausgabe, VII, 101, s. v. auqāt aÒ-Òalāt: Zeit im Zusammenhang mit dem rituellen Pflichtgebet meint immer die Zeitspanne, innerhalb deren das Gebet verrichtet werden soll. 2 Einzelheiten nebst schematischer Skizze entnehme man der Encyclopaedia of Islam (New Edition), Bd. VII (1993), 28, s. v. Mīþāt. Im Sommer ist in hohen Breiten die Unterscheidung zwischen Abend- und Nachtgebet nach den Regeln der Scharia unmöglich, so daß erörtert wurde, ob unter diesen Gegebenheiten ein fünftes rituelles Gebet überhaupt obligatorisch sei (ebd.).
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Mittagsgebets kurz ist, dergestalt nämlich, daß (die Länge) des Schattens eines Gegenstandes, nachdem die Sonne den Zenit überschritten hat, nach so kurzer Zeit dessen Höhe“ – zusätzlich zu der Länge des Schattens, den er im Augenblick des Höchststandes der Sonne geworfen hat – „erreicht, daß der Vollzug des Mittagsgebets nicht möglich ist, so fanden wir in den Büchern der Schariagelehrten keinen autoritativen Text (arab.: an-naÒÒ ), der hierzu eine schariarechtliche Bewertung enthalten hätte.“3 Das bedeutet, daß der im Sinne der Scharia rechtsmündige4 Muslim in den Wochen des Hochwinters, in denen die beschriebenen Umstände auf Deutschland zutreffen, autorisiert ist, eine seinem Alltag angemessene eigene Lösung zu suchen. Frage 2: Besteht die Gebetspflicht auch für 15jährige in Deutschland geborene und aufgewachsene Schüler? Wenn man voraussetzt, daß die Normen der Scharia für Muslime auch in einem nicht-islamischen Land Gültigkeit besitzen, dann ja. Frage 3: Besteht die Gebetspflicht auch während der Schulzeit in der unterrichtsfreien Zeit? Bereits am Ende meiner Stellungnahme zu Frage 1 wurde deutlich, daß die zeitgenössische Schariawissenschaft, sobald sie mit dem Problem der für den Vollzug des rituellen Gebets geforderten Zeiträume in Gegenden hoher geographischer Breite konfrontiert wird, keine auf die autoritativen Quellen gestützte Antwort zu geben vermag. Anders als Rohe in diesem Zusammenhang ausführt, räumen diese Quellen jedoch sehr wohl die Möglichkeit einer Zusammenführung des Mittags- und Nachmittagsgebets ein, wie der Kläger es offenbar selber vorgeschlagen hat. Zur schariarechtlichen 3 MF, VII, 112, s. v. auqāt aÒ-Òalāt. In der Geschichte des Schariarechts wurde die Frage diskutiert, ob in Regionen hoher Breitengrade, in denen im Sommer der Himmel nie ganz dunkel wird, die Pflicht, das Nachtgebet zu vollziehen entfalle; denn dessen schariarechtliche Voraussetzung, die völlige Dunkelheit, tritt nicht ein. Die Mehrheit der an der Diskussion beteiligten Gelehrten sprach sich gegen den Wegfall der Gebetspflicht aus und schlug stattdessen vor, den Zeitraum des Nachtgebets in Analogie zu den Verhältnissen in einem Land festzusetzen, das auf einem niedrigeren Breitengrad liegt (ebd., 111 f.). Die Autoren der Enzyklopädie haben offensichtlich keinen Beleg für eine Erörterung der Problematik der zu kurzen Zeitspanne zwischen Mittags- und Nachmittagsgebet gefunden, die zu entscheiden sie daher dem einzelnen Muslim anheimstellen. Ein analoges Beispiel: Es gibt in Deutschland Muslime, die, sobald der Ramadan in die Sommerzeit fallen wird, den Beginn und das Ende des täglichen Fastens an den für Mekka geltenden Uhrzeiten ausrichten. 4 Uneingeschränkter Besitz der Kräfte des Körpers und des Verstandes, Geschlechtsreife.
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Rechtfertigung dieser Praxis braucht man nicht einmal auf das Prinzip einer „dringenden äußeren Notwendigkeit“ zurückzugreifen, wie unter Frage 4 gezeigt wird. Dies wird unmittelbar durch das einschlägige schariawissenschaftliche Schrifttum deutlich. Die von Rohe vorwiegend genutzte Konvertitenliteratur5 ist daher nicht ausreichend. Frage 4: Kann das Gebet zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden und wenn ja, aus welchen Gründen? Im Koran finden sich keine präzisen Aussagen über die Zeiträume der Pflichtgebete. Das Hadith hingegen, das Korpus der zahlreichen und thematisch vielfältigen Überlieferungen vom vorbildhaften Handeln, Reden und Unterlassen Mohammeds und daher die wichtigste autoritative Quelle für Detailfragen des islamischen Rechts, enthält eine größere Anzahl von Aussagen zur Handhabung der Gebetszeiten. Dabei wird deutlich, wie Mohammed selber, und das bedeutet, die für Muslime nächst Allah höchste Autorität, gerade mit Bezug auf die Zeiten des Mittags- und Nachmittagsgebets gewisse Erleichterungen einräumt. Dies steht im Einklang mit dem koranischen Prinzip, Allah wolle seinen Gläubigen den Vollzug der Riten nicht unnötig erschweren (Sure 2, 185, dort im Zusammenhang mit der Lockerung der Vorschriften zum Ramadanfasten). So wird überliefert, daß Mohammed gesagt habe: „Kein rituelles Gebet, wenn die Speisen bereitstehen, und auch nicht, wenn die Verrichtung der Notdurft drängt.“6 Hinsichtlich des Mittagsgebets heißt es: „Wenn die Hitze sehr groß ist, dann wartet eine Abkühlung ab, ehe ihr mit dem Gebet beginnt. Denn die übergroße Hitze entströmt der Hölle.“7 Grundsätzlich unzulässig ist es hingegen, ein Pflichtgebet vor Eintritt der dazugehörigen Zeitspanne auszuführen; allenfalls wenn sich Regenwetter ankündigt, ist dies erlaubt.8 Diese Überlieferung bezeugt, daß das Hadith seinen Aussagen die seinerzeit, im 7. Jahrhundert, obwaltenden Umstände zugrunde legt; es werden die allenfalls mit einem notdürftigen Sonnenschutz versehenen, im übrigen aber ungedeckten eingefriedeten Gebetsplätze vorausgesetzt. Schon aus dieser Tatsache läßt sich ableiten, daß die Zeitspannen zum Vollzug der rituellen Pflichtgebete nicht starr den wie immer gearteten Alltagsgegebenheiten übergestülpt werden sollen. 5 Rohe stützt seine Ausführungen zu den ritualrechtlichen Fragen fast ausschließlich auf einen durch Abdullah Leonhard Borek 1999 herausgegebenen Ratgeber mit dem Titel „Islam im Alltag“, verlegt durch den Al-Kitab-Verlag in Köln. 6 Muslim b. al-Í aºº āº : ÑaÎīÎ, al-masāºid, Nr. 64–67 (Ich werde mich in diesem Gutachten ausschließlich auf die unter den sunnitischen Muslimen angesehensten Hadithsammlungen stützen, nämlich auf al-BuÌ ārī, fortan BU, und Muslim, vgl. vorstehend, fortan MS). 7 BU, mawāqīt aÒ-Òalāt, Nr. 9. 8 BU, ebd., Nr. 34.
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Keinerlei Bedenken bestehen gegen die Zusammenziehung des Mittagsund des Nachmittagsgebets. So wird folgendes überliefert: „Wenn der Prophet auf der Reise das Mittags- und das Nachmittagsgebet zusammenziehen wollte, pflegte er das Mittagsgebet zu verschieben, bis der Beginn der Zeit des Nachmittagsgebets eingetreten war, dann vollzog er beide zusammen“,9 mithin während der dem Nachmittagsgebet vorbehaltenen Zeitspanne. Es ist ein Irrtum, daß solches „Zusammenziehen“ ausschließlich auf Reisen und Feldzügen gestattet werde. „Der Prophet verrichtete das Mittags- und das Nachmittagsgebet zusammen, desgleichen das Gebet nach Sonnenuntergang und das Nachtgebet, und zwar ohne im Zustande der Furcht (vor dem Feind) und ohne auf Reisen zu sein.“10 Auf die Frage, warum Mohammed bisweilen so gehandelt habe, antwortete man: „Er wollte niemanden aus seiner Gemeinde in Bedrängnis bringen.“11 Es wird ausdrücklich vermerkt, daß dieses Verfahren der durch das Vorbild des Propheten geheiligten Norm (arab.: as-sunna) entspreche.12 Desweiteren gilt, daß ein rituelles Gebet auch in gültiger Form vollzogen wurde, wenn dessen erster Teil in den ihm zugedachten Zeitabschnitt fällt, der Rest jedoch schon in den darauffolgenden. Die Verfasser der kuweitischen Enzyklopädie führen einen diesbezüglichen Ausspruch Mohammeds an. Sie legen ferner dar, daß alle sunnitischen Rechtsschulen in dieser Ansicht übereinstimmten; die Hanafiten seien allerdings der Meinung, daß diese Regelung im Falle des bis zum Sonnenaufgang zu verrichtenden Morgengebets nicht gelte.13 Für die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit ist diese Einschränkung jedoch ohne Belang. Insgesamt gesehen ergibt das Studium des Hadith, daß dem einzelnen durchaus zugestanden wird, in eigener Verantwortung die Gebetspflichten und seine Lebensumstände aufeinander abzustimmen. Die autoritativen Texte des Hadith, auf denen die schariarechtlichen Bestimmungen beruhen, wie auch diese Bestimmungen selber belegen, daß es schon in den Jahren der medinensischen Urgemeinde notwendig war, die Zeitgebundenheit der Ritualpflichten so weit zu lockern, daß der alltägliche Lebensvollzug ohne empfindliche Störungen aufrechterhalten werden konnte. Hierbei setzt das islamische Recht auf die Einsichtsfähigkeit des einzelnen. Nur der im Sinne der Scharia Rechtsmündige entscheidet über die 9 MS,
Òalāt al-musāfirīn, Nr. 47 f. ebd., Nr. 49–58. 11 Ebd., Nr. 50 f. und Nr. 53 f. 12 Ebd, Nr. 57 f. Der Koran gibt lediglich in Sure 4, Vers 101 bis 103, Sonderregelungen für den Vollzug der rituellen Gebete vor; sie beziehen sich auf von Mohammed selber angeführte Kriegszüge und haben im übrigen mit den Gebetszeiten nichts zu tun. 13 MF, VII, 104 f., s. v. auqāt aÒ-Òalāt. 10 MS,
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Verschiebung seines Mittagsgebets bzw. über dessen Zusammenfassung mit dem Nachmittagsgebet. Vorgegebene Verfahrensweisen bestehen hingegen nur für Personen, deren Verstandeskraft wegen geistiger Insuffizienz oder Trunkenheit vorübergehend beeinträchtigt ist, oder bei Muslimen, die fahrlässig, sei es wegen Verschlafens oder Vergessens, ihre Gebetspflicht nicht erfüllt haben: In solchen Fällen wird das Nachholen (arab.: al-qaà āÞ ) explizit durch die Scharia geregelt,14 eben weil die Verabsäumung der Gebetszeit im Zustande schariarechtlicher Unmündigkeit – Trübung der Verstandeskraft – erfolgte. Der schariarechtlich mündige Muslim hat demnach die in den autoritativen Texten und in den schariatischen Bestimmungen erkennbar werdende Flexibilität der einschlägigen Regelungen in eigener Verantwortung zu nutzen. Die einzige Ritualpflicht, die ausschließlich zu den von der Scharia gebotenen Zeiten durchgeführt werden darf, sind die Wallfahrtsriten des alljährlichen Haddsch. Wollte man ansonsten die strikte Zeitgebundenheit für alle Ritualpflichten einführen, würde man das Leben in den großen Metropolen wie Kairo oder Istanbul, aber auch auf dem Lande über das erträgliche Maß hinaus erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. In der Türkei, einem islamischen Land,15 ist daher die Ausübung der Pflichtriten 14 Ebd.,
XXXIV, 11–16, s. v. qaÃāÞ al-fawāÞit. Türkei wird oft irrtümlich als ein laizistisches Land bezeichnet. Bei der 1924 erfolgten Abschaffung des Kalifats begründete Atatürk diesen Schritt damit, daß das Kalifat dem Sinn und dem Inhalt nach in der Republik mitenthalten sei (zitiert bei T. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime, Zürich / München 1981, II, 204). Zur Wahrung des islamischen Charakters des Staates wurde noch 1924 die staatliche Religionsbehörde gegründet, die, wie ihrem türkischen Internetauftritt zu entnehmen ist, nach wie vor die Aufgabe hat, die Angelegenheiten „der Glaubenslehren sowie die Grundlagen des Kultus und der Moral der Religion des Islams“ zu leiten. Weiter heißt es: „(Die staatliche Religionsbehörde) klärt die Gesellschaft über das Thema Religion auf; sie verwaltet die Kultstätten … Sie verfügt im Inland über Provinz- und Bezirksmuftibehörden; im Ausland sind in den Staaten, in denen unsere Landleute bzw. Volksgenossen“ – Türkischstämmige mit nichttürkischer Staatsangehörigkeit? – „leben, religiöse Dienste in Form von Botschaftsratsund Attacheposten eingerichtet worden. Das Amt für religiöse Angelegenheiten führt, sei es im Inland, sei es im Ausland, mit seinem Personal, der gesetzlichen Aufgabenstellung entsprechend und in Verwirklichung der oben erwähnten Grundsätze, seine Pflichten erfolgreich aus.“ Der türkische Laizismus ist demnach auf keinen Fall etwa mit dem französischen gleichzusetzen. Der türkische Laizismus hat die Funktion, die Mechanismen der Machtausübung und Verwaltung in dem sich nach wie vor als islamisch verstehenden Land dem unmittelbaren Zugriff der Schariagelehrten zu entziehen und dadurch die Modernisierung auf den technischen, ökonomischen und administrativen Feldern voranzutreiben, ohne in einen tiefschürfenden Diskurs über den möglichen Rang des islamischen Erbes in einer modernisierten Gesellschaft eintreten zu müssen. 15 Die
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in den allgemeinbildenden Schulen nicht gestattet; sie stellen einen nicht dem islamischen Ritualrecht unterliegenden Raum dar, wie u. a. auch das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, verdeutlicht.16 Das Fehlen von Gelegenheiten zum Vollzug der Pflichtriten während des Aufenthalts auf dem der Schulaufsicht unterstehenden Schulgelände ist demnach mit einem muslimischen Lebenszuschnitt ohne weiteres vereinbar. Dieser Sachverhalt wurde während einer 2007 in der Türkei lancierten Kampagne zur Einführung des rituellen Gebets auf dem Gelände allgemeinbildender17 höherer Schulen ausdrücklich bekräftigt. Laut einem Bericht der Zeitung Milliyet vom 31. Mai 2007 erklärte der Direktor des staatlichen Erziehungswesens, Sektion Istanbul (İstanbul Millî Eğitim Müdürü), in diesem Zusammenhang: „Der Ort der Gottesverehrung ist nicht die Schule.“18 Frage 5: Kann sich ein muslimischer Schüler auf eine Befreiung von der Gebetspflicht bzw. auf die Möglichkeit, das Gebet aufzuschieben, berufen, ohne mit seinem Glauben in Konflikt zu geraten, wenn von ihm Zurückhaltung im Interesse des Schulfriedens, insbesondere im Hinblick auf nicht muslimische Schüler, erwartet wird? Bereits angesichts der am Ende von Frage 1 dargelegten Aussage der zeitgenössischen islamischen Rechtswissenschaft und insbesondere angesichts der zu Frage 4 erläuterten Positionen des islamischen Ritualrechts wird deutlich, daß die Ansichten des Sachverständigen Rohe viel zu eng sind. Für die vom Kläger eingeräumte Möglichkeit des Vollzugs des rituellen Mittagsgebets zu einem späteren Zeitpunkt ist keineswegs die Berufung auf einen Notfall bzw. eine durch ungewöhnliche Umstände hervorgerufene Notwendigkeit (Rohe, S. 15) erforderlich. Das VG stützt daher sein Urteil zu Unrecht auf die Annahme, das islamische Ritualrecht lasse die Verschiebung des Mittagsgebets bzw. dessen Zusammenziehung mit dem Nachmittagsgebet nur im Notfall zu (Urteil, S. 9). Allerdings kennt das islamische Recht zusätzlich zu den oben erwähnten ritualrechtlichen Bestimmungen in der Tat die äußerst häufig eingesetzte Argumentationsfigur der durch die obwaltenden Umstände gegebenen „Notwendigkeit“ eines flexiblen Umgangs mit schariatischen Bestimmungen. 16 Im Internetauftritt des türkischen Erziehungsministeriums (Millî Eğitim Bakanlığı) wird der Laizismus zu den Grundprinzipien (türk.: temel ilkeler) des türkischen Schulwesens gerechnet. 17 Nicht eingerechnet sind hier die vom Staat betriebenen islamisch-religiösen Schulen (İmam Hatip Okulları), die zu einer Art religiösen Fachabiturs führen. Sie besitzen einen Gebetsraum. 18 „İbadetin yeri okul deºil.“ (http://www.milliyet.com.tr / 2007 / 05 / 31 / son / son tur40.asp, heruntergeladen am 13. Januar 2010). Weitere Belege zu der erwähnten Kampagne sind über die Eingabe „lise+namaz“ abrufbar.
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Eine solche „Notwendigkeit“ ist stets plausibel, wenn es um die Frage des Verhaltens eines Muslims im nicht-islamischen Staatsgebiet geht. So bejaht der französische Schariagelehrte Soheib Bencheikh grundsätzlich die Möglichkeit, daß ein Muslim zur Wahrung seiner Bildungschancen die Ritualpflichten mit der Argumentationsfigur der „Notwendigkeit“ hintanstelle.19 Denn es gibt im säkularen Staat keine Macht, die die Einhaltung der Scharia erzwingt, keine Staatsgewalt, die sich die Befolgung der muslimischen Riten angelegen sein läßt, was nach der muslimischen Staatstheorie die vornehmlichste Aufgabe des „Imams“, der Obrigkeit der Muslime, ist. Wie im zweiten Teil des Gutachtens dargelegt wird, sind nämlich die rituellen Pflichtgebete keineswegs Ausdruck einer individuellen, privaten Frömmigkeit, sondern gehören zu den unentbehrlichen kollektiven Manifestationen islamischer Staatlichkeit. Hilfsweise könnte der Schüler desweiteren auf das Gebot Mohammeds verwiesen werden, daß ein Muslim unter allen Umständen Wissen suchen solle, „selbst wenn es in China wäre“. Überdies läge der Wissenserwerb eines jeden Muslims im Interesse des Islams, womit ein weiterer übergeordneter Gesichtspunkt des Schariarechts erfüllt wäre,20 der einen späteren Vollzug der Pflichtgebete in der Moschee rechtfertigen würde.21 Aus den unter Frage 4 dargelegten Bestimmungen sowie aus den eben erwähnten zwei allgemeinen Grundsätzen ergibt sich, daß ein muslimischer Schüler nicht mit seinen Ritualpflichten in Konflikt gerät, wenn er von der ihm durch die Scharia und die autoritativen Texte, auf denen diese beruht, 19 Zitiert von Rohe in seinem Gutachten, S. 20. Charakteristischerweise gehört der Gelehrte, den Rohe zum Beleg der Ansicht anführt, die Ritualpflichten müßten vor allen Angelegenheiten der Bildung und der Berufsausübung den Vorrang haben, zu einem der al-Azhar und auch dem saudischen Wahhabismus nahestehenden Personenkreis. Die von Rohe zitierte Internetseite http://www.islam-fetwa.de wird von Muhammed Ciftci betrieben, einem durch den niedersächsischen Verfassungsschutz beobachteten Salafisten (http://www.verfassungsschutz.niedersachsen.de / master / C52 249538_N48916028_L20_D0_I541, heruntergeladen am 10.2.2010). Übrigens arbeitet auch der von Rohe zitierte (S. 13, Anm. 37) „Conseil européen des fatwas et de la recherche“ auf eine strikte Durchsetzung der Scharia unter den Muslimen Europas hin, wie aus seinem Internetauftritt hervorgeht. 20 Über diesen vor allem im Rahmen der unabdingbaren Einpassung des modernen Lebens in die Schariabestimmungen oft angewendeten Grundsatz der „Interessen des Islam“ vgl. u. a. T. Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 253–274 und 305–340; Mathias Rohe: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2008, 196–201. 21 Die Suche nach Wissen wird durch die Schariawissenschaft entweder als Pflichthandlung oder als empfehlenswerte Handlung (vgl. Anmerkung 32) eingestuft. Sie sei deswegen so bedeutsam, weil sie nicht nur dem einzelnen Muslim nutzen bringe, sondern vor allem auch der islamischen Glaubensgemeinschaft insgesamt (MF, XXIX, 41–43, s. v. Ô alab al-Ý ilm).
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eingeräumten Möglichkeit der Aufschiebung des Vollzugs seiner Gebete Gebrauch macht. Es gibt zwar Hadithe, die dazu raten, diese Gebete gleich nach dem Erschallen des Gebetsrufs auszuführen22 – und zwar nach Möglichkeit in Gemeinschaft (vgl. dazu den zweiten Teil) –, von einer besonderen Verdienstlichkeit wird aber selten gesprochen.23 Alle diese Hadithe setzen jedoch voraus, daß der Vollzug der Gebete innerhalb des islamischen Gemeinwesens erfolgt. Von Bedeutung sind ferner der schariarechtliche Status und die Funktion der islamischen Pflichtgebete, die bisher noch nicht zur Sprache kamen und die von Rohe ausgeklammert werden. Die Pflichtgebete haben immer auch eine über die Person des einzelnen Beters hinausgreifende religiös-politische Werbe- und Integrationswirkung. Denn für einen schariatreuen Muslim gilt es als eine durch das göttliche Gesetz vorgeschriebene Pflicht,24 stets durch das der Scharia verpflichtete Reden und Handeln die Nicht-Muslime zum Beitritt zum Islam zu bewegen. Unter dem hier einschlägigen schariarechtlichen Begriff ad-daÝ wa, d. i. Ruf bzw. Aufforderung, versteht man, „(die Nicht-Muslime vom Islam) zu überzeugen und zu den Herzen der Gerufenen vorzudringen, um auf sie Einfluß zu nehmen, damit (diese Herzen) Abneigung (gegen den Islam) und Widerborstigkeit ablegen und zur Hinwendung (zum Islam) und zur Folgsamkeit finden“. Eine solche Aufforderung habe mittels hartnäckigen Argumentierens zu erfolgen; sollte dieses nichts fruchten, sei der Kampf „zur Erhöhung des Wortes Allahs“, der Dschihad, geboten.25 Insbesondere wenn ein Muslim sehe, daß die schariatische Ordnung nicht beachtet werde, sei er persönlich gehalten, hiergegen einzuschreiten.26 Diese Aufforderung tangiert in besonderem Maße die negative Religionsfreiheit derjenigen muslimischen Schüler, die sich bewußt dafür entscheiden, die schariatischen Verpflichtungen im Rahmen der oben dargelegten Flexibilität einem zeitgemäßen Lebenszuschnitt unterzuordnen, wie er in einer pluralistischen, säkularisierten Gesellschaft vorherrscht. Sie könnten unter den Druck der Eiferer geraten, der nicht zuletzt auch über schulfremde Personen auf sie und ihre Angehörigen ausgeübt würde. Denn es ist, um es zu wiederholen, eine schariatische Pflicht, jederzeit durch Worte und durch schariakonformes Verhalten aktiv fordernd für die Beachtung der Lehren 22 Vgl.
z. B. BU, mawāqīt aÒ-Òalāt, Nr. 5; MS, al-masāºid, Nr. 240–244. außerhalb von BU und MS: A. J. Wensinck: A Handbook of Early Muhammadan Tradition, Alphabetically Arranged, Leiden 1971, 188 rechte Spalte. 24 Vgl. hierzu unten, Anmerkung 30 und 32. 25 MF, XX, 165, s. v. ad-daÝ wa. 26 MF, aaO. unter Verweis auf Bd. VI, 147 (s. v. al-amr bil-maÝ rūf wan-nahj Ý an al-munkar). 23 Belege
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und Gebräuche des Islams durch die Glaubensgenossen einzutreten.27 Während in Deutschland bisher keine offiziellen Erhebungen über die informelle Einflußnahme strenggläubiger Muslime auf den deutschen Schulalltag durchgeführt wurden und diesbezügliche Schilderungen gewöhnlich als die Beschreibung von „Einzelfällen“ verstanden werden, wurden in Frankreich derartige Untersuchungen vorgenommen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf einen französischen Bericht, der im Juni 2004 dem französischen Erziehungsministerium vorgelegt wurde mit dem Titel „Zeichen und Bekundungen der Religionszugehörigkeit in den schulischen Einrichtungen“. Dieser Bericht befaßt sich, der Sachlage entsprechend, fast ausschließlich mit muslimischen Schülern und zeigt die Folgen auf, die entstehen, wenn innerhalb der muslimischen Schülerschaft den Eiferern nachgegeben wird: Die muslimische Schülerschaft wird gegen bestimmten Lehrstoff in Fächern wie Geschichte, Literatur oder Biologie aufgehetzt; muslimische Schüler, die während des Ramadan am gemeinsamen Essen der Schüler teilnehmen, werden von muslimischen Mitschülern gemobbt und sind gewalttätigen Übergriffen von deren Seite ausgesetzt usw.28 Die Verpflichtung, andere zum Übertritt zum Islam aufzufordern und den eigenen Glaubensgenossen „das Billigenswerte zu gebieten und das Verabscheuenswerte zu verbieten“, ist im zweiten Teil dieses Gutachtens zu erörtern. Sie gehört zu den über den einzelnen hinausgreifenden schariarechtlichen Bestimmungen, die den Vollzug der Ritualpflichten absichern sollen und somit dem wichtigsten Daseinszweck eines – in Deutschland nicht existierenden – islamischen Gemeinwesens dienlich sind. Die enge Verknüpfung von Ritualrecht und islamischer Staatlichkeit ist bei der Beurteilung des Begehrens des Klägers, wie sich zeigen wird, in Rechnung zu stellen. Die Kenntnis dieser Verknüpfung ist die Voraussetzung für die Entscheidung der Frage, inwieweit – unabhängig von allen schariarechtlichen Einzelheiten – eine Einrichtung eines nicht-islamischen Staates überhaupt gehalten sein kann, im Rahmen ihrer Tätigkeit Bestimmungen des islamischen Ritualrechts zu beachten. Im eigenen, islamischen Verständnis regelt dieses Ritualrecht gerade nicht individuelle Glaubens- und Frömmigkeitsbekun27 Die islamische Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar umfangreich. Ein nach meiner Beobachtung an arabischen Universitäten häufig benutztes Handbuch ist das Werk von Ñ āliÎ b. Ý Abdallāh b. Í amīd: MaÝālim fī manhaº ad-daÝwa, Dschidda 1999. Das nicht verbalisierte Werben wird in diesem Buch auf S. 137 bis 167 behandelt. 28 Ministère de l’éducation nationale, de l’enseignement supérieure et de la recherche. Inspection générale de l’éducation nationale, Groupe Etablissements et vie scolaire: Le signes et les manifestations d’appartenance religieuse dans les établissements scolaires. Rapport présenté par Jean-Pierre Obin.
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dungen, sondern kollektive, durch die Gesamtheit der Muslime zu vollziehende religiös-politische Handlungen, in denen sich islamische Staatlichkeit manifestiert.29 Denn alle rituellen Pflichthandlungen können nur in Beachtung der Scharia vollzogen werden, und diese Handlungen unter dieser Prämisse vollziehen bedeutet, anzuerkennen, daß jenseits jeder den „Schriftreligionen“ gemeinsamen Verehrung eines Schöpfergottes die für das islamische Gemeinwesen charakteristische auf Allah selber zurückgeführte religiös-politische Ordnung gilt.30 Mit anderen Worten: Nach muslimischer Vorstellung begründet die Billigung des absoluten Wahrheitsanspruchs des gottgegebenen Gesetzes, die in der Befolgung seiner rituellen Bestimmungen zum Ausdruck kommt, einen Anspruch des islamischen Gemeinwesens auf politische Loyalität auch außerhalb seines faktischen Machtbereichs. Fazit des ersten Teils Der im Sinne der Scharia rechtsmündige Muslim ist gehalten, fünfmal am Tage die rituellen Gebete zu vollziehen. Die schariarechtlichen Regelungen sind so flexibel, daß eine Anpassung der Erfüllung dieser Pflicht an den Lebensrhythmus eines nicht-muslimischen Landes möglich und scharia rechtlich unbedenklich ist. 29 Der Europäer, dem diese Gedankenwelt fremd ist, läßt sich oft durch den Hinweis verwirren, das rituelle Gebet sei eine „Individualpflicht“ (arab.: farà alÝ ain). Dieser arabische Begriff meint aber nicht, daß es sich um eine individuell zu gestaltende und persönliche Anrufung Allahs handle. Er besagt vielmehr, daß es sich um eine von jedem muslimischen Individuum, sofern es die körperlichen und mentalen Voraussetzungen erfüllt, zu vollziehende Pflicht handelt, drückt also die Gebundenheit des einzelnen Muslims an die für das Kollektiv geltenden Regeln aus. Der Begriff „Individualpflicht“ bildet den Gegensatz zur „Pflicht der hinreichenden Anzahl“. Hierher gehört nach sunnitischem Verständnis der Dschihad: Nicht jedes Mitglied des islamischen Gemeinwesens kann sich ihm widmen; der Staat muß aber sicherstellen, daß eine hinreichend große Anzahl von Muslimen ihn betreibt; sobald der Bestand des islamischen Staates selber in Gefahr gerät, kann aus der „Pflicht der hinreichenden Anzahl“ eine „Individualpflicht“ werden. 30 Das Christentum entfaltete sich am Beginn seiner Entwicklung innerhalb der Institutionen des Römischen Reiches und seines Rechtssystems. Anders der Islam, der sich keine über Jahrhunderte ausgearbeitete Rechtstradition aneignete. Seine Staatlichkeit und sein Rechtssystem nehmen ihren Ursprung im Medina des Propheten. Die wichtigste die Existenz des muslimischen Gemeinwesens bekundende Institution waren die meist durch Mohammed selber geleiteten rituellen Gebete. Von ihnen her entwickelte sich die islamische Staatlichkeit; das islamische Recht blieb, auch wenn es sich weltlichen Gegenständen zuwenden mußte, immer dem Zwang ausgesetzt, seine Regelungen als Resultate der durch Mohammed der Urgemeinde angeblich vermittelten unmittelbaren Anleitung durch Allah zu legitimieren.
V. Auszüge aus einem Gutachten291
Zweiter Teil Die Bedeutung der Pflichtgebete im Rahmen des Rechtssystems der Scharia Vorbemerkung Die Ausführungen in diesem Teil dienen dazu, die im ersten Teil angesprochenen schariarechtlichen Grundsätze in den Zusammenhang zu stellen, in dem sie in der schariawissenschaftlichen Literatur erörtert werden. Es soll knapp umrissen werden, welche dem Nicht-Muslim meist unbekannten, jedoch in der islamischen Rechtswissenschaft selbstverständlichen Assoziationen mit dem Begriff der rituellen Gebete verbunden sind. Diese Assoziationen prägen auch in Deutschland die innermuslimischen Diskussionen, soweit sie von Muslimen geführt werden, die sich ausdrücklich dem islamischen Gesetz verbunden fühlen. a) Anrufung Allahs versus Pflichtgebet Die bis hierher dargelegten Erwägungen ließen die Frage offen, ob es sich beim Vollzug der islamischen Ritualpflichten um Akte einer individuellen Frömmigkeit handelt oder nicht. Das Verwaltungsgericht Berlin hat in seinem Urteil vom 29. September 2009 hervorgehoben, das Gebet des einzelnen Schülers trage vorrangig den Charakter einer „Anrufung Gottes“ (S. 14); die von der Schulleitung vorgetragene Befürchtung, die Tatsache, daß einem muslimischen Schüler die Gelegenheit zum Vollzug des rituellen Gebets auf dem Schulgelände ermöglicht werde, werde den übrigen muslimischen Schülern nahelegen, diesem Beispiel zu folgen, sei unbegründet. Diese Ansicht des Gerichts verkennt das Wesen der islamischen rituellen Pflichtgebete, die im Kern gerade nicht in einer Anrufung Allahs aufgehen. In der islamischen ritualrechtlichen Terminologie unterscheidet man streng zwischen einer – nicht in ihren Einzelheiten durch die Scharia geregelten – Anrufung (arab.: ad-duÝ āÞ ) Allahs durch den einzelnen Gläubigen und dem gemäß Ritualrecht obligatorischen und in seinem Ablauf genau reglementierten Pflichtgebet (arab.: aÒ -Ò alāt), das als ein der Gesamtheit der Muslime obliegender Kollektivritus einen eminent politischen Charakter trägt.31 Die Anrufung kann auch als ein „stilles Gebet“ durchgeführt wer31 Auf den Unterschied zwischen Anrufung und rituellem Gebet wird in der islamwissenschaftlichen Literatur seit langem ausdrücklich verwiesen (vgl. bereits Wensinck/Kramers (Hgg.): Handwörterbuch des Islam, Leiden 1941, s. v. aÒ-Ñalāt, 636, linke Spalte sowie die dort angeführte Literatur).
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den und erfordert nicht die Einhaltung der Bewegungsabfolge, wie sie für die rituellen Gebete kennzeichnend ist. Die vom kuweitischen Religionsministerium herausgegebene Enzyklopädie des islamischen Rechts klassifiziert die Anrufung Allahs als eine empfehlenswerte32 Handlung der Gottesverehrung. – Eben weil Ablauf und Inhalt dieser Anrufung nicht durch die Scharia festgelegt sind, kann sie keinen Pflichtcharakter tragen; denn nur bei streng geregelten Handlungen läßt sich beurteilen, ob ihr jeweiliger Vollzug allen Erfordernissen gerecht geworden ist und somit eine rechtsgültige Pflichterfüllung vorliegt. – „Das Wesen der Anrufung Allahs besteht darin, daß der Knecht (d. h. der Mensch, TN) von seinem Herrn (d. h. Allah, TN) Zuwendung erbittet und ihn um Hilfe anfleht; das Wesen der Anrufung liegt ferner darin, daß der Knecht seinem Herrn gegenüber offen bekundet, daß er auf ihn angewiesen ist und selber nicht über die Macht und Kraft verfügt, die dem Herrn zu Gebote stehen. (Der Vollzug) der Anrufung bezeugt den Knechtsstatus und die dem Menschen eigene Unterworfenheit und bedeutet (zugleich), Allah zu rühmen und ihm allein Freigebigkeit und Großmut zuzuschreiben.“ Mit diesen Sätzen wird die Anrufung Allahs in der kuweitischen Enzyklopädie charakterisiert.33 Demgegenüber werden die vier rituellen Pflichthandlungen, neben dem rituellen Gebet die Zakatabgabe, das Ramadanfasten und die Wallfahrt, unter dem Oberbegriff der „Parolen Allahs“ (arab.: šaÝ āÞ ir Allāh) bzw. des Islams zusammengefaßt. Etymologisch bringen die Autoren der Enzyklopädie den Begriff mit dem arabischen Wort für Losung zusammen, dem verabredeten Wort, an dem im Krieg die Kämpfer einer Seite einander erkennen. Die šaÝ āÞ ir sind die Kennzeichen des Gehorsams gegen Allah und insofern auch die Kennzeichen für die Existenz des Gemeinwesens der im Gehorsam gegen ihn Geeinten, der Muslime. Sobald es die Muslime eines Ortes unterlassen, die „Parolen Allahs“ offen zu bekunden, entstehen Zweifel an der Zugehörigkeit des betreffenden Ortes zum Gemeinwesen der Muslime; ein vorüberziehendes muslimisches Heer wäre in einem solchen Fall berechtigt, den Ort als eine Ansiedlung von Nicht-Muslimen zu betrachten und anzugreifen. Mit diesem Beispiel aus dem islamischen „VölIn den islamischen Ländern ist der Vollzug der Pflichtgebete durchaus Gegenstand staatlicher Aufmerksamkeit. Die Art und Weise, wie diese Länder diese Aufgaben wahrnehmen, ist allerdings sehr unterschiedlich. Während in Saudi-Arabien eine „Religionspolizei“ dafür Sorge trägt, daß möglichst jeder Muslim seinen Gebetspflichten nachkommt, kümmert sich in der Türkei die 1924 nach der Abschaffung des Kalifats gegründete staatliche Religionsbehörde in allgemeiner Form um die „richtige“ Ausübung des Islams. 32 Die Scharia ordnet jede Lebensregung des Menschen in eine der fünf Kategorien obligatorisch, empfehlenswert, statthaft, verabscheuenswert, verboten ein. 33 MF, XX, 131, s. v. ad-duÝāÞ.
V. Auszüge aus einem Gutachten293
kerrecht“ veranschaulicht man in der Enzyklopädie die religiös-politische Bedeutung der šaÝ āÞ ir.34 Das rituelle Gebet wird als die Bekundung der religiös-politischen Präsenz des Islams verstanden. Wenn es dem Kläger nur um ein „stilles Gebet“ ginge, das er während einer Pause an seinem Sitzplatz verrichten könnte, hätte er auf das entsprechende Angebot der Schule eingehen können. Daß er dieses Angebot ausschlug, deutet auf den Charakter des rituellen Gebets. Zu seinem Vollzug sind eigens zu diesem Zweck beanspruchte und zumindest vorübergehend aus dem Profanen ausgesonderte Plätze oder Räumlichkeiten35 nötig. Es steht in Wirklichkeit nicht die Praktizierung einer durch das Individuum bestimmten Frömmigkeit zur Debatte. Diesem Sachverhalt haben wir nun auf den Grund zu gehen. b) Ritualrecht als unabdingbare Grundlage des islamischen Gemeinwesens Die unauflösbare Verquickung von religiösen und politischen Elementen durchzieht sämtliche Bestimmungen zu den Pflichtriten. Das Ritualrecht – die Bestimmungen über Verlust und Erwerb der rituellen Reinheit, über die Pflichtgebete, die Zakatabgabe, das Ramadanfasten und über die Wallfahrtsriten – ist demnach ein unaussonderbarer Teil der Gesamtheit der schariatischen Normen, die das islamische Gemeinwesen konstituieren. Diese Normen dienen seiner dauerhaften Unterwerfung unter den Gehorsam gegen Allah und zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Gesetzeswillen Allahs in vollständiger und ungetrübter Weise wiedergeben; sie bilden deswegen die „Verfassung“ des islamischen Gemeinwesens, das seinerseits dafür Sorge zu tragen hat, daß diese Normen ohne Einschränkung beachtet werden. Rechtsgenossen des Schariarechts können demnach in vollgültigem Sinn nur Muslime sein, und zwar nicht als für ihre Glaubenspraxis selber verantwortliche Individuen, sondern als Glieder des nach Maßgabe der Scharia geformten islamischen religiös-politischen Gemeinwesens.36 Denn nur dieses gewähr34 Ebd.,
XXVI, 49, s. v. aš-šaÝāÞir. Ort, an dem das rituelle Gebet vollzogen wird, ist, wenn es sich nicht um die Moschee handelt, durch eine Markierung bzw. durch das Ausbreiten eines Gebetsteppichs o. ä. aus dem Profanen auszugrenzen. Bereits nach der rituellen Waschung hat der profane Lebensbereich, in dem der Satan sein Unwesen treibt, keinen Zugriff mehr auf den sich zum Gebet Anschickenden (vgl. T. Nagel: Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002, 419 f.). Die rituelle Reinheit des Gebetsplatzes muß während des Gebets gewährleistet sein (MF, XXVII, 42 und 85, s. v. aÒ-Òalāt). 36 Die auf dem Territorium eines islamischen Staates lebenden Angehörigen der sogenannten Schriftreligionen, vor allem Juden und Christen, sind Rechtsgenossen 35 Der
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leistet, daß Allahs Gesetzeswille durchgesetzt wird, daß also, um auf den in Rede stehenden Fall zurückzukommen, die von Allah geforderten Riten dergestalt durchgeführt werden, daß sie dem betreffenden Muslim ungeschmälert auf seinem Jenseitskonto37 gutgeschrieben werden können. c) Die Inkompatibilität des Ritualrechts Die seit dem 8. Jahrhundert im islamischen Recht üblich gewordene Einteilung der Welt in ein „Gebiet des Islams“, d. h. in die der muslimischen Herrschaft unterstehenden Territorien, und in das „Gebiet des Krieges“, d. h. die der islamischen Herrschaft noch zu unterwerfenden Territorien, führte zu der Frage, welchen schariatischen Rechtsstatus ein Muslim in einem von Nicht-Muslimen beherrschten Land hat und inwieweit er gehalten ist, auch dort nach den Regeln der Scharia zu handeln. Diese Frage stellte sich schon im Mittelalter auf dem Gebiet des Familien-, Eigentums-, Handels- und Sklavenrechts. Die Schariagelehrten nahmen an, daß Muslime, die beispielsweise im „Gebiet des Krieges“ ihren Geschäften nachgehen, dies dank einer vorübergehend und ad personam den üblicherweise herrschenden Kriegszustand aufhebenden Sicherheitszusage zu tun vermögen. Da diese Muslime im „Gebiet des Krieges“ nicht die Schutzmacht des islamischen Gemeinwesens genießen, sind sie verpflichtet, die Gesetze der Andersgläubigen zu beachten. Freilich haben sie alles zu unterlassen, was die Kampfkraft der Andersgläubigen stärken könnte; insbesondere die unbefristete Ansiedlung im „Gebiet des Krieges“ galt daher und gilt namhaften Schariagelehrten nach wie vor als unstatthaft.38 Das Sklavenrecht ist heute in den internatiominderen Ranges und den Muslimen keineswegs gleichgestellt. Dies gilt in den muslimischen Staaten bis heute. 37 Nach Auffassung der erdrückenden Mehrheit auch der heutigen muslimischen Rechtsgelehrten stellt die der Scharia eigentümliche doppelte Bewertung eines jeden Sachverhalts – die diesseitigen Rechtsfolgen eines Sachverhalts; die jenseitigen Folgen desselben Sachverhalts – einen unschätzbaren Vorzug vor den allein am Diesseitigen interessierten westlichen Rechtssystemen dar. So heißt es in der Einführung in die noch nicht fertiggestellte, durch das ägyptische Religionsministerium herausgegebene Enzyklopädie des islamischen Rechts, die Scharia regele alle Verhältnisse des Lebens, den Glauben und die Riten ebenso wie die Beziehungen der Menschen untereinander, die Verwaltung, Politik, Wirtschaft usw. (MausūÝat al-fiqh al-islāmī, I, 5). An anderer Stelle wird dort ausdrücklich hervorgehoben, daß die Scharia den „positiven“ Rechtssystemen des Westens überlegen sei, weil sie stets auch die Jenseitsfolgen einer jeden Handlung oder Unterlassung im Auge habe (ebd., I, 44 f.). Die kuweitische Enzyklopädie ist denselben Überzeugungen verpflichtet, wie allein schon die von ihr abgedeckten Themenbereiche belegen. 38 Einzelheiten entnehme man der Abhandlung von Julius Hatschek: Der Musta’min. Ein Beitrag zum internationalen Privat- und Völkerrecht des islamischen Gesetzes, Berlin / Leipzig 1919 und der Arbeit von Ludwig Hagemann / Adel Theodor
V. Auszüge aus einem Gutachten295
nalen Rechtsbeziehungen obsolet. Familien- und handelsrechtliche39 Fragen werden inzwischen in den Ländern des „Gebietes des Krieges“ nach Maßgabe des internationalen Privatrechts entschieden, das im Einzelfall auch Bestimmungen der Scharia berücksichtigen kann. Auf diesem wichtigen Sektor gibt es folglich ein gewisses Maß an Kompatibilität zwischen der Scharia und dem westlichen Recht. Für das islamische Ritualrecht läßt sich hingegen in den westlichen Rechtssystemen keine nach Form und Inhalt angemessene Analogie finden. d) Die Befolgung des Ritualrechts als Keimzelle islamischer Staatlichkeit Die diesbezüglichen islamischen Vorstellungen sind der reichen juristischen Literatur über das Verhältnis zwischen dem „Gebiet des Islams“ und dem „Gebiet des Krieges“ zu entnehmen. Es gilt der Grundsatz, daß der schariakonforme Vollzug der rituellen Gebete die ausschließlich im „Gebiet des Islams“ garantierte hinreichende Kenntnis der Scharia voraussetzt. Denn mit dem Verstand des Menschen sind die zu beachtenden Regelungen nicht zu ermitteln. Wie oft während des rituellen Mittagsgebets welche Bewegungsabläufe zu wiederholen sind, erfährt man einzig durch eine Unterweisung von muslimischer Seite, und nur sie vermag die ununterbrochene Befolgung dieses Wissens zu gewährleisten. Die Befolgung der ritualrechtlichen Bestimmungen des Islams ist daher für die Schariagelehrten ein unanfechtbares Indiz für die Existenz muslimischer Staatshoheit. Anders verhält es sich nach der Ansicht der Rechtsgelehrten bei Sachverhalten, deren Beurteilung allein den Glauben an einen Schöpfergott und an eine Dankespflicht des Geschöpfes diesem gegenüber voraussetzt. Diesen Glauben teilen nach muslimischer Überzeugung die sogenannten „Schriftbesitzer“, d. h. vor allem die Juden und die Christen, mit den Muslimen. Mit Verstandesschlüssen müßten auch die „Schriftbesitzer“ dank ihrem allgemeinen Glauben an den Schöpfergott bestimmte Vorschriften der Scharia als Khoury: Dürfen Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben? Zu einer Dimension der Integration muslimischer Mitbürger in eine nicht-islamische Gesellschaft, Würzburg / Altenberge 1997 (Religionswissenschaftliche Studien 42); auf den Seiten 96 bis 109 finden sich ablehnende Stellungnahmen moderner islamischer Gelehrter. Auch die kuweitische Enzyklopädie vertritt diese Meinung (MF, VI, 1, s. v. al-iqāma). 39 Gerade auf diesem und verwandten Sachgebieten ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Verpflanzung westlichen Rechts in die islamische Welt zu beobachten; doch auch hier wurden die grundlegenden schariatischen Rechtsüberzeugungen keineswegs ausgelöscht. Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schaffen sie sich erneut Geltung (z. B. das „islamische Bankwesen“).
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bindend erkennen. So betrachten viele Schariagelehrte die von Allah in der Scharia erlassenen Verbote pauschal als durch Verstandesgründe abgesichert, so daß sie auch für Nicht-Muslime des „Gebietes des Krieges“ gültig seien.40 Als ein Beispiel hierfür wird das Verbot von Wucherzinsen genannt: Allah, der alles lenkende Schöpfer, teilt jedem Menschen den für ihn vorgesehenen Lebensunterhalt zu; diesen durch Wucherzinsen eigenmächtig vermehren zu wollen, ist unzulässig. Während also diese Einsicht den „Schriftbesitzern“ nicht durch die Scharia vermittelt werden müsse, da sie sich aus dem auch dem Judentum und Christentum eigenen Glauben an einen Schöpfergott ableiten lasse, seien die Ausführungsbestimmungen des rituellen Gebets, durch das Allah verehrt werden wolle, nicht aus Verstandesschlüssen zu gewinnen, sondern allein aus dem Koran und der Prophetenüberlieferung, dem Hadith, deren unangefochtene Geltung für die Weltteile unter islamischer Herrschaft charakteristisch ist.41 Das rituelle Gebet, im „Gebiet des Krieges“ vollzogen, die wichtigste der „Parolen Allahs“ bzw. des Islams, stellt somit eine Art Vorboten der künftigen islamischen Herrschaft dar. Denn es folgt ja nicht Vorschriften, die die „Schriftbesitzer“ aus ihrem Glauben an den Schöpfergott ableiten könnten. Als „Vorbote“ gilt es deshalb, weil die gesamte islamrechtliche Diskussion über das Verhältnis der zwei Teile der bewohnbaren Welt, des „Gebiets des Islams“ und des „Gebiets des Krieges“, grundsätzlich unter der Prämisse erfolgt, daß sich der vom Islam beherrschte Teil tendenziell auf Kosten des anderen vergrößert,42 da ja Allah den Triumph seines Gesetzes herbeiführen wolle (vgl. z. B. Sure 9, 40).
40 Hinter dieser Annahme verbirgt sich die Vorstellung, daß die immerhin an einen Schöpfergott glaubenden „Schriftbesitzer“ einen minderrangigen Rechtsstatus haben, eben weil sie die Scharia nicht anerkennen, mit dieser Verweigerung aber noch nicht das Recht auf Leben verwirken. Dieses ist hingegen allen „Gottlosen“ bzw. „Götzenanbetern“ abzusprechen (vgl. Sure 9, 1–12). 41 al-Kāsānī: BadāÞiÝ aÒ-ÒanāÞiÝ, Kairo 1909 / 10, VII, 131 f. 42 Auf der Analyse der einschlägigen Kapitel des in Anmerkung 41 genannten Rechtskompendiums baut Hans Kruse seine Untersuchung über die „Islamische Völkerrechtslehre“ (zweite, überarbeitete und vermehrte Auflage Bochum 1979) auf und verfolgt deren in muslimischer Sicht im Kern unangetastete Verbindlichkeit bis in die jüngste Vergangenheit. Kruse legt dar, daß vertragliche Vereinbarungen mit den Führern der „Ungläubigen“ nur unter der Voraussetzung abgeschlossen werden dürfen, daß den Muslimen unter den jeweils obwaltenden Umständen ein militärischer Erfolg unerreichbar erscheint. Da sich die Lage zugunsten der Muslime ändern könnte, dürfen solche Vereinbarungen nur eine befristete Geltung haben. Unbefristet gilt allein der Eintritt besiegter Juden und Christen in das islamische Gemeinwesen, wo sie, sofern sie nicht den Islam annehmen, den minderrangigen Status der Dhimmis erhalten (Kruse, 84 und 102–105).
V. Auszüge aus einem Gutachten297
e) Die kollektivistische, politische Seite des Ritualrechts Das politische Element der Pflichtgebete tritt noch klarer hervor, wenn man sich vor Augen führt, daß sie nach Möglichkeit nicht von einem einzelnen Muslim für sich allein vollzogen werden sollen, sondern in Gemeinschaft mit anderen Muslimen. In den „kanonischen“ Hadithsammlungen finden sich viele diesbezügliche Hinweise. „Das Gebet in der Gemeinschaft (arab.: al-º amāÝ a) kommt dem Fünfundzwanzigfachen des Gebets eines einzelnen gleich“, soll Mohammed festgestellt haben. Zahlreiche Varianten dieses Satzes sind überliefert, die alle denselben Sinn haben. Nähere Aufmerksamkeit verdient die folgende: „Ein rituelles Gebet, das jemand im Beisein eines Imams vollzieht, ist vortrefflicher als fünfundzwanzig, die er für sich allein betet.“43 Das rituelle Gebet ist demnach kein Ausdruck einer individuell geübten Frömmigkeit, sondern eine Handlung des Erwerbs von Jenseitsverdienst, die erst dann dem Muslim reichen Lohn verspricht, wenn er sie in der Gemeinschaft von Glaubensbrüdern verrichtet. Diese Gemeinschaft wird nicht als eine Versammlung eigenverantwortlich agierender Individuen aufgefaßt, sondern als eine im Gehorsam gegenüber den schariatischen Bestimmungen geeinte Gemeinschaft von Gleichgeschalteten. Nach Auffassung der kuweitischen Enzyklopädie ist jedem freien schariarechtlich mündigen Mann die Verrichtung des Gebets in Gemeinschaft abzuverlangen, sofern ihm dies keine allzu großen Schwierigkeiten bereitet. Eine º amāÝ a soll schon dann gegeben sein, wenn zwei Männer gemeinsam das Gebet vollziehen, einer von ihnen ist dann der Vorbeter, der Imam.44 Meistens aber heißt es: „Wenn es drei sind, dann soll einer von ihnen den übrigen vorbeten. Am meisten Anrecht auf das Vorbeten (arab.: al-imāma) hat derjenige unter ihnen, der am besten den Koran vorträgt.“45 In der Frage, wer das Recht hat, als Imam zu fungieren, herrschen nach Ausweis des Hadith seit alters her Meinungsverschiedenheiten, unbestritten ist indessen, daß eine Gruppe von rituell Betenden niemals ohne einen Imam bleiben darf. Dieser Imam verfügt, während er seines Amtes waltet, über eine unanfechtbare Autorität. Er ist es, der die schariagerechte Ausführung der Riten gewährleistet, und sollte ihm dabei ein Fehler unterlaufen, dann wird er nur ihm, nicht aber denjenigen angerechnet, die nach seinen Anweisungen gebetet haben. Diese Anweisungen sind genauestens zu befolgen. In den Hadithsammlungen wird diese Thematik unter Berücksichtigung vieler Eventualitäten erörtert. In unserem Zusammenhang möge zur Erläuterung 43 MS, al-masāºid, Nr. 245–254 und Nr. 272–276; BS, al-aÆān, Nr. 29–31 und Nr. 34. Wie schon erwähnt, führe ich nur die Fundstellen aus den beiden Hadithsammlungen an, die im sunnitischen Islam die höchste Autorität genießen. 44 MF, XXVII, 127 f., s. v. aÒ-Òalāt. 45 MS, al-masāºid, Nr. 289–293.
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ein einprägsames Beispiel genügen. Mohammed soll gewarnt haben: „Fürchtet jemand unter euch etwa nicht, daß, wenn er den Kopf früher als der Imam erhebt, Allah ihm den Kopf in den eines Esels verwandeln könnte?“46 Im Vollzug der Pflichtriten manifestiert sich somit mehrmals täglich die Tatsache, daß im Diesseits die nach Allahs ausdrücklichem Gesetzeswillen agierende Gemeinschaft der Muslime existiert. An ihr teilzuhaben, bedeutet für den einzelnen Gläubigen zweierlei, nämlich den Schutz vor Irrtümern hinsichtlich der Bestimmungen der Scharia und die beträchtliche Vermehrung des Jenseitsverdienstes. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die Schulleitung davon berichtete, daß die Gebete zunächst – ganz im Sinne der geschilderten Vorstellung – in einer Gruppe vollzogen wurden. Geläufig ist jedem Muslim der Vergleich der Gemeinschaft mit einer behüteten Herde, wohingegen jedes Tier, das sich von ihr absondert, allzu leicht vom Wolf überwältigt werden bzw. sich in den Fallstricken des Satans verfangen kann.47 Mit dem Begriff „Gemeinschaft“, º amāÝ a, sind wir aber schon in den Bereich des spezifisch politischen Vokabulars des Islams übergewechselt. Denn dieser Gemeinschaft anzugehören ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Heilserwerb, sie zu verlassen, wird mit dem Aufgeben des Islams gleichgesetzt. Das verpflichtende Idealbild dieser Gemeinschaft ist schon seit frühislamischer Zeit das durch den Propheten selber geleitete islamische Gemeinwesen von Medina (622–632). Denn dieser erste islamische Staat wurde nach muslimischer Vorstellung ganz und gar durch das von Mohammed überbrachte göttliche Gesetz geprägt. „Medina“ war das vollkommene religiös-politische Gemeinwesen, ein Macht entfaltendes Gebilde, das mit andersartigen, nämlich durch menschengemachte Gesetze geformten und deswegen unvollkommenen politischen Entitäten in feindselige Konkurrenz tritt.48 „Medina“ ist die ganze islamische Geschichte hindurch bis auf den heutigen Tag das erneut zu verwirklichende Ideal, mit dessen Etablierung das Diesseits in den von Allah beabsichtigten Heilszustand eintreten wird.49 Das alltagspraktische Fundament dieses in der muslimischen Glaubensgemeinschaft zumindest potentiell gegenwärtigen Gemeinwesens ist „das Befehlen des Billigenswerten und das Verbieten des Verabscheuenswerten“ (arab.: al-amr bil-maÝ rūf wan-nahj Ý an al-munkar) (Sure 3, 110), das sowohl durch die islamische Obrigkeit als auch durch den einzelnen Muslim wahr46 BU,
al-aÆān, Nr. 51. Kitāb al-fitan, Nr. 11. 48 Zahlreiche Belege in T. Nagel: Rechtleitung und Kalifat. Versuch über eine Grundfrage der islamischen Geschichte, Bonn 1975, 260–273. 49 Diese Vorstellung durchzieht wie ein roter Faden die heutigen islamischen Verlautbarungen zu den Zielen der über den ganzen Erdball auszudehnenden islamischen Staatlichkeit (vgl. das Beispiel in Anmerkung 57). 47 Ebd.,
V. Auszüge aus einem Gutachten299
genommen werden soll; Obrigkeit wie Einzelner sind gehalten, unermüdlich dafür zu sorgen, daß Allahs Gesetze eingehalten werden. Nach dem Sprachgebrauch der Schariagelehrten handelt es sich darum, den Menschen „zu befehlen, Mohammed und seiner Religion50 zu folgen, die er von Allah her überbrachte“. Billigenswert ist alles, was zu tun nach Ansicht der „Leute des Glaubens“ gut ist und keinen Tadel nach sich zieht.51 Die Abhaltung der rituellen Gebete, die jeden Tag praktizierte Manifestation muslimischer (Vor-)Staatlichkeit, ist für die Existenz des Islams als der im Glauben an Allah geeinten Menschengemeinschaft so grundlegend wichtig, daß der gemeinschaftliche Vollzug auf mehrfache Weise dringend nahegelegt wird. Mechanismen einer gesellschaftlichen – in den islamischen Ländern auch staatlichen – Kontrolle stützen sich auf grundlegende schon im Koran genannte Prinzipien. f) Geltung des Ritualrechts und Ausdehnung des „Gebiets des Islams“ Wegen der Bindung der Erfüllung des gottgegebenen Gesetzes an die islamische Staatlichkeit rechnet die islamische Rechtsgelehrsamkeit damit, daß außerhalb des „Gebietes des Islams“ eine solche Erfüllung allenfalls mangelhaft erfolgen kann. – Dies wäre übrigens für den Kläger ein weiterer Aspekt der Rechtfertigung seines freieren Umgangs mit den Gebetszeiten (vgl. oben, Frage 3 und Frage 4). Der nicht-islamische Staat organisiert den Ablauf des öffentlichen Lebens eben nicht mit Rücksicht auf die Gebetszeiten. – Jemand, der im „Gebiet des Krieges“ wohnt und den Islam annimmt, sollte wegen der dort nur mangelhaft gegebenen Möglichkeit schariagerechter Ritenerfüllung, um sein Jenseitsheil sicherzustellen, in das „Gebiet des Islams“ auswandern; ein Muslim, der, aus welchen Gründen auch immer, im „Gebiet des Krieges“ weilt, sollte seinen Aufenthalt befristen. Das Verhältnis dieser beiden „Gebiete“ wird als ein dynamisches aufgefaßt, d. h. es kommt den islamischen Rechtsgelehrten nicht darauf an, darzulegen, was grundsätzlich für ihre Glaubensgenossen gilt, die sich unter nichtislamischer Herrschaft befinden, sondern inwiefern dieser Aufenthalt der Ausdehnung des „Gebietes des Islams“ dienstbar gemacht werden kann. Eine Gleichheit der Rechte der Muslime in ihrem Gebiet einerseits und der Andersgläubigen in dem ihrigen ist nicht vorgesehen. So schreibt beispielsweise der Rechtsgelehrte Ibn ÝĀbidīn (gest. ca. 1836) bezüglich des drusischen Berglandes im Libanon, es sei „Gebiet 50 Das hier verwendete Wort dīn meint die Religion insofern, als sie der prak tizierte Kult ist; für Religion im Sinne von Dogma oder Glaubenslehre werden andere arabische Wörter gebraucht. 51 MF, VI, 218, s. v. al-amr bil-maÝrūf wan-nahj Ýan al-munkar.
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des Islams“, obwohl dort die Riten der Drusen und der Christen ausgeübt würden; denn es sei ganz von islamischem Territorium umschlossen. Die von den Osmanen eingesetzte Obrigkeit habe daher das Recht, die Bestimmungen der Scharia mit Gewalt in Kraft zu setzen. Im Falle der Andersgläubigen folgt also nicht die Herrschaft der tatsächlich mehrheitlich geübten Religions praxis. Umgekehrt wäre es, wenn in einem „Gebiet des Krieges“ einige schariatische Vorschriften (etwa der Freitagsgottesdienst oder das Fest des Fastenbrechens) eingehalten würden; es wird bereits hierdurch zum „Gebiet des Islams“, und zwar ohne Rücksicht auf die geographische Lage und die andersgläubige einheimische Bevölkerung.52 Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Paris am 30. März 1856 trat das Osmanische Reich in aller Form der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft bei, erkannte mithin deren Grundsätze an, die mit den aufgezeigten islamischen nicht vereinbar sind. Die im Anschluß hieran erörterte Frage, inwieweit das europäische Völkerrecht tatsächlich auf „orientalische Nationen“ anwendbar sei, blieb unbeantwortet; man begnügte sich mit der zuversichtlichen Feststellung, daß das europäische Völkerrecht, begünstigt durch die politischen Tatsachen, ohnehin allgemeine Geltung erlangen werde.53 De facto verhielt es sich auch so; aber der islamischen Welt wurde auf diese Weise eine an die Wurzeln gehende Auseinandersetzung mit ihren eigenen Prinzipien erspart, die das einschlägige muslimische Schrifttum nach wie vor prägen. So kann es nicht verwundern, daß die Entstehung bedeutender muslimischer Minderheiten in Europa auf islamischer Seite unter diesem Blickwinkel des dynamischen Verhältnisses zwischen dem „Gebiet des Islams“ und dem „Gebiet des Krieges“ wahrgenommen wird. Eine schariarechtliche Beurteilung nicht-islamischer Staaten und Gesellschaften auf gleicher Ebene, d. h. unter Hintanstellung des universalen und absoluten islamischen Wahrheitsanspruchs, gibt es nicht. g) Das „Gebiet des Vertrags“ Die Existenz muslimischer Minderheiten in Europa kann durch die Schariagelehrten nicht als das Ergebnis islamischer Eroberungskriege verstanden werden. In diesem Falle müßte eine islamische Herrschaft errichtet worden sein und Europa nunmehr zum „Gebiet des Islams“ gehören. Da der Aufenthalt der Muslime in Europa zudem auf Dauer angelegt ist, was nach den Bestimmungen über das Verweilen im „Gebiet des Krieges“ unzulässig ist, griff man auf muslimischer Seite vereinzelt auf die Fiktion eines „Gebietes 52 T.
Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 110 f. Kruse: Islamische Völkerrechtslehre, 166 f.
53 Hans
V. Auszüge aus einem Gutachten301
des Vertrags“54 zurück: Die durch die freiheitlichen Verfassungen garantierte Religionsfreiheit sichert den muslimischen Gemeinschaften „vertraglich“ zu, ihr Leben zu gestalten, als ob sie sich in einem islamischen Land befänden. In Wirklichkeit gibt es natürlich keinen Vertragspartner, und welchen Inhalt ein solcher Vertrag haben sollte, bleibt offen. Die „vertragliche“ Phase der Existenz des Islams in Europa wird dabei freilich nur als vorübergehend betrachtet, das Endziel ist die Umwandlung des „Gebietes des Vertrags“ in ein „Gebiet des Islams“. Murad Hofmann, ein prominentes Mitglied des Zentralrats der Muslime in Deutschland, schreibt in einem 2000 veröffentlichten Aufsatz, daß dieses Ziel mit „taktischer Klugheit“ zu erreichen sein werde.55 Dem Konzept des „Gebietes des Vertrags“ ist daher die sogenannte Islamische Charta verpflichtet, die der Zentralrat der Muslime im Februar 2002 veröffentlichte. Deren § 10 lautet: „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“ Aus weiteren Paragraphen der Charta erhellt allerdings, daß mit der Denkfigur des fiktiven Vertrags die formale Anerkennung von der deutschen Verfassung zuwiderlaufenden schariatischen Rechtspositionen angestrebt wird. So ist nicht von der Gleichberechtigung von Mann und Frau die Rede, sondern lediglich davon, daß „Muslim und Muslima die gleiche Lebensaufgabe“ hätten (§ 6). Zwischen den Bestimmungen der Scharia und dem „Kernbestand“ der Menschenrechte gebe es keinen Widerspruch. Die Menschenrechte werden in der Charta nicht als jedem Individuum von Geburt an eigene und unveräußerliche Rechte betrachtet, sondern als durch Allah verliehene „Individualrechte“. Erst über den Glauben an Allah, erst über den Islam mithin, gelangt der Mensch zur Kenntnis dessen, was er allenfalls als sein Recht betrachten darf.56 Allerdings hat das Konzept des „Gebietes des Vertrags“ unter den muslimischen Gelehrten keine allgemeine Anerkennung gefunden. Die kuweiti54 Encyclopaedia of Islam (New Edition), Bd. II (1965–1970), 166, s. v. Dār al-Ýahd (Halil Inalcik). 55 Civilizational Role of Muslim Nation in the World of Tomorrow. A Selection of Scholars and Authors, Prepared by Research and Studies Center on the Occasion of Holding the 9th Islamic Summit Conference (November 2000) in the State of Qatar, 562 f. 56 Vgl. T. Nagel: Zum schariatischen Hintergrund der Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Koexistenz und Konflikt von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, 114–129.
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C. Der Islam und der säkulare Staat
sche Enzyklopädie versteht darunter unter Bezugnahme auf die frühe Geschichte des Islams Territorien, die von muslimischen Truppen erobert und dann den andersgläubigen ursprünglichen Eigentümern gegen Abgaben in vertraglich vereinbarter Höhe zur weiteren Bewirtschaftung überlassen wurden.57 Eine Untersuchung zu der Frage, ob Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben dürfen, erwähnt das „Gebiet des Vertrags“ überhaupt nicht und führt stattdessen die weitreichenden Bedenken der Schariagelehrten gegen eine befürchtete Kontaminierung der Muslime mit westlichen Lebensformen an. Schließlich wird auch die Ansicht vertreten, daß die Muslime in einem nicht-islamischen Land bereits eine Art „Gebiet des Islams“ bilden, sofern das islamische Gesetz zumindest für die Muslime in Kraft getreten sei und praktische Gültigkeit erlangt habe,58 mithin eine Parallelgesellschaft eigenen Rechts entstanden ist. Dies dürfte die am weitesten gehende Meinung sein. Fazit des zweiten Teils Das rituelle Gebet ist nach islamischer Lehre keine individuell zu vollziehende Anrufung Allahs. Es handelt sich vielmehr um einen durch das Ritualrecht genau reglementierten Vorgang, der nach Möglichkeit in einem Kollektiv von Muslimen durchzuführen ist; einer von ihnen ist als Imam zu bestellen. Der Vollzug der rituellen Gebete demonstriert, daß die Scharia, der Kern islamischer Staatlichkeit, an dem betreffenden Ort anerkannt und befolgt wird. Insofern stellt das rituelle Gebet einen Vorboten bzw. die Keimzelle islamischer Staatlichkeit dar. Daß das rituelle Gebet in privaten Räumen bzw. in der Moschee praktiziert werden darf, ist unbestritten. In dem vorliegenden Fall geht es jedoch um die Forderung, diese Handlung in den öffentlichen Raum eines nichtislamischen, säkularisierten Staates hineinverlegen zu dürfen. Die Ausübung muslimischer Pflichtriten wie z. B des rituellen Gebets ist unter Berücksichtigung der im zweiten Teil dargelegten ritualrechtlichen Bestimmungen und der mit ihnen verwobenen Prinzipien muslimischer Staatlichkeit zu bewerten. Göttingen, am 10 Februar 2010
Prof. Dr. Tilman Nagel
57 MF, XX, 112–114, s. v. dār al-Ýahd: Nur eine unabweisbare Notwendigkeit und die Beachtung der allgemeinen Interessen des Islams rechtfertigen den Abschluß eines solchen Vertrags, der grundsätzlich zu befristen ist; sein eigentlicher Zweck besteht darin, daß die Muslime ihre Kräfte zu weiterem Vorgehen gegen die noch nicht islamisierten Territorien sammeln können. 58 Ludwig Hagemann / Adel Theodor Khoury: Dürfen Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben?, 121.
V. Auszüge aus einem Gutachten303
Wenige Tage vor der Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenbrug (27. Mai 2010) erhielt ich von einem nicht dem auswärtigen Leihverkehr angeschlossenen wissenschaftlichen Institut eine Kopie des Buches von Borek, außerdem konnte es über Fernleihe beschafft werden. Borek schreibt in der Einleitung (S. 10 f.), sein aus Rundschreiben an die Mitglieder der Deutschen Muslim-Liga e. V. hervorgegangenes Buch sei kein akademisches Werk; er verzichte insbesondere, soweit das Hadith betroffen sei, auf bibliographische Angaben und Querverweise. In der Tat nennt er für Aussagen, die sich auf das Hadith stützen, keine Belegstellen. Die nähere Beschäftigung mit den einschlägigen Ausführungen Boreks zeigt, daß Rohe in seinem Gutachten (S. 17 f.) dessen im vorliegenden Streitfall entscheidende Aussagen nicht erwähnt. Er vermischt vielmehr die bei Borek sorgfältig getrennten Unterkapitel „Beschwerlichkeiten beim Pflichtgebet“ (S. 206), „Verkürzung des Pflichtgebets auf Reisen“ (S. 207), „Zusammenfassen und Abkürzen von Pflichtgebeten“ (S. 208 f.) sowie „Alle täglichen Pflichtgebete zur gleichen Zeit?“ (S. 210). Rohe bezieht sich auf S. 17 seines Gutachtens zunächst auf das Beten während des Reisens, was im vorliegenden Fall gar nicht zur Debatte steht; dann spricht er vom möglichen Nachholen des Pflichtgebets, sofern es wegen einer Erkrankung oder Unpäßlichkeit verabsäumt wurde (Bezug: Borek, bis S. 209, Zeile 5). Danach wendet sich Rohe sogleich der ebenfalls nicht zur Debatte stehenden Frage zu, ob sämtliche Pflichtgebete eines Tages zusammen vollzogen werden dürfen (Borek, S. 210); aus diesem Unterkapitel stammt das Zitat, das bei Rohe auf S. 18, Zeile 1 beginnt („GOTT sagt uns im Koran … Die meisten Leute können am Arbeitsplatz einen stillen Ort finden, der zum Beten genutzt werden kann. (…).“). Hingegen enthält Rohe dem Leser vor, was Borek auf S. 209, Zeile 6 bis 22 ausführt: „Hier muß angefügt werden, daß der Prophet (a. s.) auch dann Gebete miteinander verbunden hat, wenn es nicht regnete59 und er sich weder auf Reisen befand noch krank war. Er stellte klar, daß damit den Gläubigen Gelegenheit gegeben werden sollte, ihren Gebetspflichten ohne Erschwernis nachzukommen. Die Gelehrten stimmen darin überein, daß das Verbinden von zwei Gebeten auch außerhalb von Reisen (dann in voller Länge) praktiziert werden kann, wenn eine Notwendigkeit dazu gegeben ist und es nicht zur Gewohnheit wird.“ Es folgen nun einige Beispiele für solche Notwendigkeit. Borek legt hier ohne Quellenangabe und ohne Bezugnahme auf die schariawissenschaftliche Literatur genau das dar, was ich im ersten Teil meines Gutachtens zur Frage Nr. 4 mit Hinweis auf das einschlägige islamische Schrifttum ausgeführt habe. Indem Rohe diese Passage wegläßt und dann ausführlich aus dem Unterkapitel „Alle Pflichtgebete zur gleichen Zeit?“ zitiert, das gemäß seinem Gegenstand ein Plädoyer für die Beachtung der normalen Gebetszeiten enthält, entsteht im Leser der Eindruck, das Zusammenziehen von Mittags- und Nachmittagsgebet sei eigentlich verpönt. In diesem wesentlichen Punkt laufen Rohes Ausführungen auf eine Irreführung des Lesers hinaus, es sei denn, man unterstellte, Rohe habe ausgerechnet den einschlägigen Passus im Buch Boreks nicht bemerkt. 59 Dies bezieht sich auf die Verhältnisse im alten Arabien; die Moscheen hatten allenfalls einen Sonnenschutz, aber kein festes Dach, so daß man sich beim Vollzug des Gebets im Regen stark beschmutzt hätte (Nagel).
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C. Der Islam und der säkulare Staat
Dem OVG Berlin-Brandenburg wurde u. a. dieses Ergebnis des Vergleichs des Gutachtens von Herrn Rohe mit den Ausführungen Boreks wenige Tage vor der Verhandlung durch die das Land Berlin vertretende Rechtsanwältin schriftlich vorgetragen. Während dieser Verhandlung konnte ich überdies mündlich ausführen, daß an-Nawawī, der bekannteste Kommentator der Hadith-Sammlung des Muslim b. al-Íaººāº, unter Berufung auf weitere islamische Rechtsgelehrte60 zu den betreffenden Hadithen darlegt, plausible Entschuldigungen (arab.: Pl. al-aÝÆ ār) berechtigten bereits zum Zusammenziehen der beiden Gebete, das freilich nicht zur bloßen Gewohnheit werden dürfe.61 Das Zusammenziehen muß demnach keinesfalls durch das Vorliegen einer unabweisbaren Notwendigkeit (arab.: aà -à arūra) gerechtfertigt werden.
60 Unter ihnen findet sich AÎmad b. Íanbal, der Gründervater der hanbalitischen Rechtsschule. 61 ÑaÎīÎ Muslim bi-šarÎ an-Nawawī, Beirut o. J., Bd. V, 218 f.
D. Mit Muslimen streiten Einführung „Ich gebe zu, dass ich allmählich eine gewisse Scheu davor habe, nach Ägypten zurückzukehren, nun, da ich den Islam und seinen sozialen Imperialismus ein wenig besser kenne […] Welche Last an Traditionen für diese ‚Intellektuellen‘ und welche Waffe gegen den christlichen Westen! […] Man könnte sagen, dass nicht viel nötig ist, dass die Gegensätze, die die Kreuzzüge ausgelöst haben, mit ihrer ganzen Gewalttätigkeit wieder auftauchen […] Das Tragische ist, dass diese Herren alles als Angriff (auf den Islam) werten, was nicht vorbehaltloses Lob ist.“1 Unter dem 19. Oktober 1942 schreibt Georges Anawati (1905–1994) diese Sätze in sein Tagebuch. Von bedeutenden französischen Arabisten hat er, der Dominikaner aus einer christlichen Familie Alexandriens, der 1933 dem Orden beigetreten war, sich seit einem Jahr in Algier mit der arabisch-islamischen Philosophie des Mittelalters vertraut machen lassen. Diese mit dem Thomismus zu vergleichen und so, im Gespräch mit muslimischen Intellektuellen, dem Wesen des Islams auf die Spur zu kommen, um beide Religionen, auch das Christentum, tiefer zu verstehen, das ist Ende 1942 die Lebensaufgabe, die er sich stellt. Oder sollte man besser sagen: die er sich gestellt hatte, von der er aber schon ahnte, daß sie unausführbar bleiben werde? Wie dem auch sei, Anawati hielt an dieser Aufgabe fest. Zeit seines langen Lebens arbeitete er an der Ermöglichung eines fruchtbaren, die Gemeinplätze hinter sich lassenden Gesprächs zwischen den Verantwortlichen beider Religionen. Nicht gering war sein Beitrag zur Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Hochachtung, die den nichtchristlichen Religionen gebühre. Große Hoffnungen setzte Anawati in einen Besuch des Präfekten des Sekretariats für die Beziehungen zu den nichtchristlichen Religionen, des Kardinals Sergio Pignedoli (1910–1980), bei den höchsten islamischen Würdenträgern in Kairo. In der Tat wurde der Kardinal im April 1978 durch den Rektor der al-Azhar-Hochschule, ÝAbd al-Íalīm MaÎmūd (1910–Oktober 1978), zu einem Gedankenaustausch empfangen. Während dieser Be1 Jean-Jacques Pérennès: Georges Anawati (1905–1994). Ein ägyptischer Christ und das Geheimnis des Islams, aus dem Französischen von Karl Pichler, Freiburg 2010, 126. Die Auslassungen und die Hinzufügung stammen von Jean-Jacques Pérennès.
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D. Mit Muslimen streiten
gegnung hatte Anawati ein kurzes Referat vortragen sollen, in dem er das christliche „Credo in unum Deum“ mit dem islamischen Bekenntnis zur Einsheit Allahs in Beziehung setzen wollte, um auf diese Weise eine Basis für einen offenen Dialog zu schaffen. Während des Gesprächs wurde deutlich, daß der Rektor der Hochschule den Vortrag eigenmächtig von der Tagesordnung gestrichen hatte. Stattdessen veröffentlichte wenig später ein Gelehrter der al-Azhar eine Erwiderung auf Anawatis Text, die auf eine scharfe Ablehnung eines jeden vertieften Zwiegesprächs hinauslief. Anawatis Vortrag habe nichts anderes bezweckt, als im Denken der Muslime Verwirrung über den Kern ihres Glaubens zu stiften; „denn der muslimische Glaube an Gott ist nicht vergleichbar mit dem christlichen Glauben“. Nur der Islam habe einen perfekten Glauben an die Einzigkeit Gottes hervorgebracht; daher sei jegliches Nachdenken über gemeinsame humanistische Ideale verfehlt. „Die Einladung, die Sie an Muslime richten, sich mit Ihnen zu vereinen, um ihre intellektuellen Talente zur Konsolidierung dieses natürlichen Gesetzes einzusetzen, ist eine Einladung, das göttliche Paradies der Einzigkeit zu verlassen, um in die Hölle des Verlangens der menschlichen Affekte einzutreten.2 Möge Gott jeden Muslim davor bewahren, der von der Bedeutung des Gesetzes (Scharia) überzeugt ist.“3 Woher rührt selbst an höchster Stelle diese befremdliche Gesprächsverweigerung, wie sie in ähnlicher Weise Papst Benedikt XVI. nach seiner Regensburger Rede erfahren mußte? Befremdlich ist sie, weil sie doch mit der Behauptung verknüpft wird, der Islam verfüge über den unerreichbar vollkommenen Eingottglauben – wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann muß es für einen gelehrten Muslim doch eine wahre Freude sein, seine christlichen Dialogpartner jeglicher Art von Unkenntnis und von fehlerhaften Schlüssen zu überführen! Und wie kann von den so unvollkommenen christlichen Glaubenslehren eine solche Gefahr für einen Muslim ausgehen, daß sich seine Gedanken verwirren, sobald er von ihnen hört? Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Ein Glaubenssystem, dessen Mauern einzig und allein aus autoritativen Texten hochgezogen wurden, ist einer vernunftgeleiteten Kritik unzugänglich. Ein interreligiöses theologisches Gespräch kann aber nur gelingen, wenn beide Seiten auf das Anführen autoritativer Texte so weit wie irgend möglich verzichten und schließlich auch den Inhalt der angeführten Beglaubigungstexte einer Bewertung durch die Vernunft unterwerfen. Die Dialogverweigerung und die unsachliche Abfuhr, die dem 2 Es ist ein seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert abgedroschener Topos der muslimischen Polemik gegen Europa, daß das Christentum eine vor allem die Affekte des Menschen ansprechende Religion sei (vgl. Abschnitt B., Text I), während der Islam rein auf Verstandesschlüssen beruhe. Der Islam sei mithin für die höchste Stufe der Entwicklung des Menschen gestiftet worden. 3 Pérennès, 358–362, Hinzufügung in Klammern durch Jean-Jacques Pérennès.
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Wunsch nach einem Streitgespräch zuteil wurde, sind das Eingeständnis, solchen Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Sie zeugen von der gespielten Selbstgewißheit desjenigen, der im dunklen Keller laut vor sich hin pfeift. Wer mit Muslimen ein Gespräch über Glaubensfragen führt, wird immer wieder mit dem Phänomen konfrontiert, daß grundsätzliche Fragen, etwa diejenige, ob die Religion unmittelbar die Machtausübung und die Form der Gesellschaft bestimmen solle, niemals mit Argumenten der Sozialphilosophie oder der politischen Philosophie ausgetragen werden können. Sehr bald, meist noch ehe sich jene Argumente entfalten lassen, werden die Muslime auf einen Koranvers oder ein Hadith zurückgreifen, aus dem die Zusammengehörigkeit von Religion und Machtausübung hervorgeht, und damit ist für sie die Frage entschieden – sehr bald, wann genau, das ist in jedem Einzelfall in das Belieben der muslimischen Seite gestellt. Sie kann auf einen mehrmaligen Wechsel von Argument und Gegenargument eingehen und sich erst dann, wenn es ihr zu anstrengend wird oder wenn sie nicht weiterweiß, auf die ihr angeblich zu Gebote stehende göttliche Wahrheit zurückziehen; sie kann dies aber auch von vornherein tun und damit dem Gespräch ein Ende setzen, ehe es beginnt. Für die nichtmuslimischen Partner ist ein solches Vexierspiel nur verdrießlich, verderblich hingegen ist es für die Muslime selbst. Die Leichtigkeit ihrer vermeintlichen Siege raubt ihnen jegliche Selbstkritik sowie die Fähigkeit, andersgläubige oder atheistische Gesprächspartner ernstzunehmen, deren Gedankengänge zu verfolgen und zu entschlüsseln, um ihnen dann mit selbstformulierten Gedanken zu begegnen. Eigene Ansichten sind ja in der Tat riskant, sie können sich als unhaltbar, als unbegründbar erweisen; wer sie vorträgt, mag sich blamieren. Dergleichen bleibt dem Muslim erspart, wenn er sich im Gehege seines Glaubens aufhält. Ihm scheint es, als hätte er am Ende immer recht, und deshalb sei der Islam allen anderen Gedankengebäuden überlegen. In dieser Borniertheit gleicht er den Adepten der totalitären Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, nur daß er sich die Wahrheit seiner Anschauungen immer wieder durch das Transzendente bestätigen läßt, wohingegen jene auf höchst unsichere, widerlegbare pseudowissenschaftliche Hypothesen bauen mußten. Kurz gesagt, dem Muslim, der sich in der Scharia geborgen weiß,4 fehlt der Sinn für ein intellektuelles Ringen von gleich zu gleich. So wie die islamische Scheintoleranz zwar das Vorhandensein Andersgläubiger hinnimmt, jedoch unter der Prämisse, daß es sich bei ihnen um eine aussterbende Spezies handele, deren Existenz innerhalb der „besten Gemeinschaft“ keine Legitimität zustehe, so mangelt einem Argumentationsweg, der nicht 4 Dies trifft selbst für den als Erneuerer des arabischen Denkens gefeierten Marokkaner al-Éābirī zu, wie oben dargelegt wurde.
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D. Mit Muslimen streiten
über kurz oder lang auf den Koran oder ein Hadith zurückgreift, in den Augen des an die Scharia gebundenen Muslims jegliche Stichhaltigkeit. Wer sich stattdessen einen eigenen Argumentationsweg bahnt, darf daher keinerlei Empathie erwarten. Einem Muslim, dem Koran und Hadith unanfechtbare Autoritäten sind, liegt es fern, sich gedanklich in die Welt anderer hineinzuversetzen und sich der Lebenssicht dieser anderen anzuempfinden. Dies sei an einem Beispiel illustriert! Dem saudi-arabischen Mufti ÝAbd al-ÝAzīz b. Bāz5 (1912–1999) wurde die folgende Frage vorgelegt: „Was halten Sie von demjenigen, der behauptet, daß der Islam mit dem Schwert verbreitet wurde? Wir wollen solchen Menschen auf eine nachvollziehbare Weise antworten.“ Dem Frager ist es mithin nicht um eine die Sicht beider Seiten erhellende Analyse geschichtlicher Vorgänge zu tun, sondern um eine Darstellung dieser Vorgänge, die die Handlungsweise der Muslime in einem möglichst guten Licht erscheinen läßt. Ibn Bāz antwortete: „Im großen und ganzen stimmt diese Behauptung nicht. Denn der Islam wurde durch die Einladung (arab.: ad-daÝ wa) zu Allah verbreitet und mit dem Schwert unterstützt. Der Prophet hat in Mekka dreizehn Jahre lang zum Islam eingeladen. Danach tat er das in Medina, bevor er (durch Allah) mit dem Kampf beauftragt wurde. Die Weggefährten (Mohammeds) und die Muslime gingen überall hin und luden zum Islam ein. Wenn jemand ihre Einladung zum Islam nicht annahm, kämpften sie gegen ihn. Denn das Schwert ist erlaubt.“6 Ibn Bāz vermag sich gar nicht vorzustellen, daß Menschen, die bei klarem Verstande sind, eine solche „Einladung“ ausschlagen. Daß diese „Einladung“ die Aufforderung zur politischen Unterwerfung impliziert, der durch die Androhung von Gewalt Nachdruck verliehen wird, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die Ausübung von Gewalt ist in diesem Falle 5 Er bekleidete wichtige Ämter in Saudi-Arabien und bei der Islamischen Liga; seit 1992 amtierte er als Großmufti von Saudi-Arabien. Ibn Bāz erwarb sich einen zweifelhaften Ruhm durch ein Fetwa aus dem Jahre 1964, in dem er die Ansicht, die Erde drehe sich um die Sonne, für todeswürdigen Unglauben erklärte. 1982 wiederholte er seine auf „Zeugnissen der Überlieferung und der sinnlichen Wahrnehmung“ beruhenden Erkenntnisse in einem Buch; er versuchte darin, ein Gegenfetwa zu entkräften, in welchem Sure 27, Vers 88 als Beleg für die Bewegung der Erde herangezogen wird. Dort heißt es mit Bezug auf den Jüngsten Tag: „Du siehst dann die Berge, die du für unbeweglich hältst, sich von der Stelle bewegen, gleich wie dies bei den Wolken (zu beobachten ist). Das ist Allahs Werk …“ (Martin Riexinger: SanāÞullāh Amritsarī (1868–1948) und die Ahl-i-Íadīs im Punjab unter britischer Herrschaft, Würzburg 2004, 407–409). 6 Institut für Islamfragen, 16. März 2011; der letzte Satz lautet in der Übersetzung des Instituts für Islamfragen: „Denn das Schwert ist eine Lösung.“ Es ist irrtümlich Î all (= Lösung) für Î ill (= gestattet) gelesen worden. In der arabischen Konsonantenschrift unterscheiden sich beide Wörter nicht. Auf der arabischen Homepage von ÝAbd al-ÝAzīz b. Bāz findet sich ein Hinweis auf seine Fetwas über den Dschihad.
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auch nicht anstößig, sondern Allah hat sie ausdrücklich geboten: Bockige Menschen muß man eben zu ihrem Heil zwingen. Daß sie gute Gründe für ihre Ablehnung haben könnten; daß sie womöglich selber über ihre Zukunft bestimmen möchten, sei es in religiöser, sei es in politischer Hinsicht; daß ihnen in jener Lage der koranische Allah als ein den Begierden seiner Anhänger gefälliger, zur Gewalt aufrufender Götze erschienen sein muß – alles das ist Ibn Bāz nicht etwa gleichgültig, es liegt vielmehr vollkommen außerhalb seines Gesichtskreises.7 Die diskursethische Maxime, den Gedankengang des Gegenübers zunächst einmal aus sich heraus zu verstehen,8 ist Muslimen, mit denen man über religiös-politische Themen spricht, weitgehend unbekannt, und ihre Erwiderungen zu ein und demselben Gegenstand werden je nach Situation unterschiedlich ausfallen, entsprechend einem kurzen oder einem längeren Weg zum autoritativen Textzeugnis. Wenn der nicht-muslimische Gesprächspartner nicht zulassen will, daß ein von beiden Seiten zunächst mit Vernunftargumenten geführter Streit von der muslimischen durch das Zitieren einer autoritativen Glaubensaussage abgebrochen wird,9 dann muß er gewärtigen, daß sein Kontrahent sich auf das gesprächstaktische Beleidigtsein verlegt: Wie konnte man ihm, dem Bekenner der rationalen Religion par excellence, einen solchen Tort antun und den rationalen Charakter des Inhalts der islamischen autoritativen Texte anzweifeln! In aller Regel ist der Dialog nun beendet, sei es, weil der Nichtmuslim wegen seines Beharrens 7 Sprechen Christen mit Muslimen über die Ausbreitung ihrer jeweiligen Religion, so läuft der Streit gewöhnlich darauf hinaus, daß die muslimische Seite behauptet, eine gezielte Ausbreitung des Glaubens, eine Missionierung, habe sich allein das Christentum zuschulden kommen lassen. Denn nur im Christentum habe es solche Missionierung (arab.: at-tabšīr) gegeben; der „tolerante“ Islam habe nur durch „Einladung“ Anhänger gewonnen. Unwissende nichtmuslimische Gesprächsteilnehmer zeigen sich in der Regel tief beeindruckt. In der Tat hängt at-tabšīr mit dem Vorhandensein kirchlicher Organisationsformen zusammen, die es im Islam nicht gibt; die „Einladung“ zum Islam soll möglichst jeder Muslim aussprechen; ihre bewaffnete Erscheinungsweise, der sich in der „besten Gemeinschaft“ eine hinreichend große Anzahl von Personen widmen soll, heißt Dschihad (vgl. Abschnitt C., Text V und Abschnitt D., Text IV). 8 Nach einem Artikel der FAZ (18. / 19. Dezember 2010, Seite C4) ist zu befürchten, daß die Ausbildung der muslimischen Religionslehrer ebenfalls vor allem darauf hinauslaufen wird, den Islam geschickt zu „verkaufen“; auf eine Analyse der Gründe, um deretwillen diese Religion bei der großen Mehrzahl unserer Bevölkerung auf Ablehnung stößt, soll anscheinend kein Wert gelegt werden. Wieder wird von unserer politischen Klasse eine Gelegenheit zu einer intellektuell redlichen Auseinandersetzung aus geistiger Bequemlichkeit vertan, sowie um nicht den Unwillen islamischer Interessenverbände zu erregen. 9 Sein muslimisches Gegenüber würde ihm nie ein zu gleichem Zwecke herangezogenes Bibelzitat durchgehen lassen, denn die Bibel steht nach muslimischer Sicht unter dem Verdacht der Verfälschung durch die Juden und Christen.
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D. Mit Muslimen streiten
auf einer stimmigen Argumentierweise Gewissensbisse verspürt, sei es, weil der Muslim jetzt den Verdacht der Islamfeindlichkeit lanciert, sich dadurch die Pose des moralisch Überlegenen anmaßt und sich auf diese Weise von der Notwendigkeit der Fortsetzung der Debatte dispensiert (vgl. in diesem Abschnitt, Text II). Gespräche mit in der Scharia befangenen Muslimen sind nicht nur deswegen eine mühselige Angelegenheit, weil die muslimische Seite, wie vorhin am Beispiel der Selbstmordattentate gezeigt (vgl. Abschnitt C., Einführung), ganz unterschiedliche, auch geradeswegs gegensätzliche Standpunkte als echt islamisch anführen kann. Stellt man ferner die bereits mehrfach erwähnte Unart in Rechnung, eine Folge von Vernunftargumenten an einem beliebigen Punkt durch das Zitieren einer „ewigen göttlichen Wahrheit“ abzubrechen, so verwundert es nicht, wenn bei Nichtmuslimen der Eindruck entsteht, die Bekenner des Mohammedglaubens seien unehrlich. Der Begriff der muslimischen taktischen Unwahrhaftigkeit (arab.: attaqīja) ist inzwischen jedem geläufig, der sich damit abplagt, mit Muslimen in ein Gespräch über die Grundlagen unseres freiheitlichen säkularen Gemeinwesens zu kommen. Allerdings wird man den zahllosen in den Dingen ihres Glaubens wenig gebildeten Muslimen, die voller Eifer zu ihrer Religion „einladen“ und dabei deren Ideale als die muslimische Realität hinstellen,10 den Vorwurf der taktischen Unehrlichkeit nicht machen dürfen: Sie wissen es einfach nicht besser; Andersgläubige und Agnostiker sollen von der „Wahrheit“ des Islams überzeugt werden. Daß diese „Wahrheit“ den Umworbenen, je genauer sie hinblicken, desto weniger anziehend vorkommen mag, ist den „Einladenden“ unbegreiflich, und sich auf einen nicht vom Islam geprägten religiösen und geistigen Kosmos einzulassen, haben sie nie gelernt. Hingegen darf man vermuten, daß manche der muslimischen Verbandsfunktionäre eine gezielte Desinformation über die religiös-politischen Grundsätze des Islams betreiben. Die Behauptung, das Wort „Islam“ bedeute Frieden, ist ein besonders markantes Beispiel.11 Was hat es nun mit dem schariatischen Begriff der taqīja auf sich? Nach den Bestimmungen des islamischen Rechts wird sie niemals beiläufig oder spontan eingesetzt, sondern stets nach Abwägen der gegebenen Umstände. Die kuweitische Scharia-Enzyklopädie widmet diesem Thema einen ausführlichen Artikel, dessen Inhalt hier kurz zusammengefaßt sei. Taqīja bedeutet, sich vor etwas zu schützen. Einem Prophetenwort zufolge gelte es, sich vor dem Höllenfeuer zu schützen, und sei es nur, indem man eine 10 Auch bei Vertretern der politisch-medialen Klasse ist diese Gedankenführung zu beobachten. Viel Beifall erhält man von seiten der Politisch-Korrekten, wenn man die Idealisierung des Islams mit einer Schelte des Christentums verbindet. 11 Vgl. oben, 195, Anmerkung 1.
Einführung311
halbe Dattel als Almosen gibt.12 Der Koranvers, der meistens zur Bekräftigung des Schutzgebots angeführt wird, lautet: „Die Gläubigen dürfen sich nicht die Ungläubigen an der Stelle von Gläubigen zu Freunden nehmen. Wer dies (dennoch) tut, gilt vor Allah nichts, außer wenn ihr (die Ungläubigen) wirklich fürchtet“ (Sure 3, 28). Nur wenn einem Muslim eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben droht, für seine Ehre und sein Vermögen, nur dann darf er taqīja üben, worunter die Schariagelehrten die Verleugnung des islamischen Glaubens verstehen. Der Prophetengefährte Ibn ÝAbbās habe den zitierten Koranvers so ausgelegt: „Allah verbot den Gläubigen, mit den Ungläubigen auf freundlichem Fuße zu verkehren oder sie sich anstatt der Gläubigen zu Vertrauten zu wählen, es sei denn, die Ungläubigen hätten die Oberhand über die Gläubigen. In einem solchen Fall erzeigen (die Gläubigen ihren Feinden) Freundlichkeiten, handeln ihnen jedoch im Glaubensvollzug zuwider.“ Diese Interpretation des Schlüsselverses faßt die Berechtigung zur Übung von taqīja sehr weit und träfe auch auf die Lage der Muslime in Deutschland zu. Die Autoren der Enzyklopädie beeilen sich jedoch, weitere Textbelege beizubringen, die durchweg voraussetzen, daß der Muslim in eine seine Existenz bedrohende Notlage geraten sein muß. Ist diese gegeben, dann ist die taqīja dem Muslim nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Sie besteht darin, daß er zur Abwendung des Todes oder einer „gewaltigen Kränkung“ eine Handlung begeht oder eine Aussage tut, die ihm sonst verboten wären. Wie streng die Maßstäbe sind, die nach der Meinung der Autoren der Enzyklopädie gelten, erhellt aus Sure 4, Vers 97: Die Engel fordern von Anhängern Mohammeds, die im Krieg gegen ihn auf der Seite seiner Feinde gefallen sind, die Seelen ein; zur Entschuldigung dafür, daß sie nicht den Weg zu Mohammed nach Medina eingeschlagen haben, bringen jene vor, sie seien in ihren Entscheidungen nicht frei gewesen, da sie sich in der Gewalt der Ungläubigen befunden hätten. Darauf halten ihnen die Engel entgegen: „War die Erde Allahs nicht weit genug, so daß ihr auf ihr hättet auswandern können?“ Die jenseitige Bleibe jener Menschen werde die Hölle sein.13 – Besonders unerfreulich ist die Inanspruchnahme der taqīja durch die Schariagelehrten. Schließlich sind sie die Träger des Wissens von den autoritativen Texten und ihrer schariatischen Nutzanwendung. Sie haben daher die Pflicht, den Islam offen zu bekennen und seine Bestimmungen darzulegen, denn anderenfalls könnte alles dies in Vergessenheit geraten; es könnte sein, daß falsche Lehren verbreitet werden.14 12 Von diesem Hadith sind viele Varianten im Umlauf; vgl. Wensinck: Concordance et indices de la tradition musulmane, Bd. I, 280, linke Spalte (s. v. at-tamra). 13 Zur Sache vgl. Nagel: Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 312. 14 al-MausūÝa al-fiqhīja, 45 Bände, Kuweit 1993–2007, hier: Online-Ausgabe, XIII, s. v. at-taqīja.
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D. Mit Muslimen streiten
Da von einer Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit und der Religionsausübung in Deutschland nicht im mindesten die Rede sein kann, besteht hier nach den Maximen der Scharia keinerlei Rechtfertigung für die taqīja; insbesondere die Religionsgelehrten sind gehalten, offen und ehrlich über ihren Glauben und seine rituellen und politisch-gesellschaftlichen Implikationen zu sprechen, auch wenn sie bei vielen Themen auf die Ablehnung durch die nichtislamische Mehrheitsgesellschaft stoßen werden. Nur so kann abgeklärt werden, welche Form von Islam mit den historisch gewachsenen Prinzipien verträglich ist, die in dieser Mehrheitsgesellschaft gelten. Der Islam wäre freilich nicht der Islam, wenn es nicht auch für diese Situation ein von der Scharia gebilligtes Hintertürchen gäbe. Denn zu den mit der taqīja eng zusammengehörigen Verhaltensweisen zählt die Enzyklopädie an erster Stelle die schmeichlerische Täuschung (arab.: al-mudārāh). Sie wird ausdrücklich gutgeheißen, da man ihr, genau wie der taqīja, einen Schaden abwehrenden Zug zuerkennen kann, wenngleich nicht davon gesprochen werden kann, daß sie beim Vorliegen einer Gefahrenlage zu befolgen ist. Sie besteht denn auch darin, daß man mit den Nichtmuslimen schöntut, ohne dabei die Normen des Islams zu verletzen. „Denn die Zuneigung der Menschen gewinnt man nur, indem man ihnen bei den Dingen hilft, die sie für richtig halten. In den Menschen sind nun einmal unterschiedliche Vorlieben und Charakterzüge angelegt, und es fällt den Seelen schwer, aufzugeben, worauf sie geprägt sind. Die lautere Zuneigung (der anderen) gewinnt man eben nur, indem man mit ihnen zusammen teilhat an ihren Sitten, auch wenn sie deiner Ansicht und deiner Neigung zuwiderlaufen. Der Unterschied zwischen der schmeichlerischen Täuschung und der taqīja liegt darin, daß letztere vorzugsweise im Falle einer Notlage Schaden abwenden soll, wohingegen die schmeichlerische Täuschung sowohl dazu dient, Schaden abzuwenden, als auch Nutzen einzutragen.“15 Indessen sind die Probleme der Einfügung des Islams in die deutsche Leitkultur zu ernst, als daß man sich von der Möglichkeit einer vorsätzlichen Täuschung entmutigen lassen dürfte. Ob diese von der muslimischen Seite als taqīja oder mudārāh gerechtfertigt wird, ist für den nichtmuslimischen Gesprächspartner ohne Belang. Ihm muß allein daran gelegen sein, zur Klarheit der auf beiden Seiten benutzten Begriffe vorzudringen, um aus dem ermittelten Bedeutungsgegensatz die berechtigten konkreten Forderungen herzuleiten, die sich aus der ja auch von den Islamverbänden ausgesprochenen Anerkennung der Grundlagen der säkularen politischen Kultur ergeben. Diese Anerkennung darf keine bloße Phrase bleiben; sie darf nicht als ein Wandschirm mißbraucht werden, hinter dem die islamischen Grundsätze, die der freien Entfaltung des Individuums entgegenste15 Vgl.
in der vorangehenden Fußnote genannte Quelle unter § 2.
Einführung313
hen, weitertradiert werden. Es ist somit ein unermüdliches Nachfragen vonnöten, das sich weder mit Ausflüchten zufriedengibt, noch durch Drohungen einschüchtern läßt. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, steht in Blockschrift an der Wandtafel, über zwei Zeilen verteilt. Zwischen diese beiden ist eine dritte eingeschoben; sie enthält den arabischen Nebensatz: „… daß sie einander im Geiste der Brüderlichkeit behandeln“. Dieses Bild zierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel über die Ausbildung islamischer Religionslehrer in Osnabrück.16 Es gehe nicht zuletzt darum, so eine befragte Studentin sowie der zuständige Professor, das „Handwerkszeug gegen gängige Vorurteile“ über den Islam zu vermitteln. Was soll man in diesem Zusammenhang den abgebildeten Zeilen entnehmen? Sollen sie suggerieren, daß das Zitat aus dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dem Inhalte nach dem islamischen Aufruf zur Brüderlichkeit entspreche? Daß also die Menschenrechte im Islam angelegt und längst vor dem 10. Dezember 1948 Allgemeingut gewesen seien, wie man von islamischer Seite oft hört? Oder sollen jene Sätze zur Einsicht anregen, daß die eindeutige Zuerkennung von unveräußerlichen Rechten etwas fundamental anderes ist als ein moralischer Appell? Daß mithin die muslimische Brüderlichkeit, die, wenn man den Koran und das Hadith ernstnimmt, nur Glaubensbrüdern zukommen darf, gerade kein allgemeines Menschenrecht meint, weswegen in dieser Hinsicht ein folgenreicher Abgrund zwischen dem Islam und der säkularen Zivilisation klafft? Setzt nicht die Scharia voraus, daß Muslime und Andersgläubige mitnichten einander an Würde und Rechten gleich sind (vgl. Abschnitt C., Text IV)? Und daß Menschen, die nicht zu den Schriftreligionen gehören, nicht einmal ein Recht auf Leben haben, ebenso wenig wie Muslime, die ihrer Religion den Rücken kehren? Die Gegenüberstellung des ersten Artikels der Erklärung der Menschenrechte und des Aufrufs zur Brüderlichkeit könnte zur Erhellung der Unterschiede zwischen westlichen und islamischen politischen und gesellschaftlichen Grund ideen genutzt werden. So könnte den Studenten bewußt gemacht werden, welche Denkschritte und danach welch eine tiefgreifende Veränderung ihres traditionellen Blicks auf den Glauben von ihnen erwartet werden, damit sie im Westen heimisch werden: Die Brüderlichkeit im Islam hat hinter den gleichen Rechten und der gleichen Würde eines jeden Individuums zurückzustehen, gleichgültig, zu welcher Religion es sich bekennt bzw. ob es überhaupt einem Glauben anhängt. Der am Ende des Artikels ausgesprochene Wunsch, zunächst einen Teil des Lehrprogramms Gastprofessoren aus islamischen Ländern anzuvertrauen, deutet freilich nicht in diese 16 FAZ,
18. / 19. Dezember 2010, S. C 4.
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D. Mit Muslimen streiten
Richtung. Denn welches Verständnis werden sie für jene Fragen aufbringen? Sie werden in den Studenten die Avantgarde der Islamisierung Europas sehen. Im Mittelpunkt wird einzig die islamische Sicht, die islamische Tarnung des Abgrunds stehen, von dem oben die Rede war. Der Mehrheit der politischen Klasse Deutschlands wird das recht sein. Zu einer ernsthaften Beschäftigung mit dem Islam, seinen Lehren und seiner Kultur fühlt sie sich nicht gedrängt. Sie sonnt sich stattdessen in ihrer unübertrefflichen Liberalität und Toleranz, indem sie den scharia-orientierten Islamverbänden, wie jüngst in Nordrhein-Westfalen geschehen, ein entscheidendes Wort bei der Gestaltung der Ausbildung von muslimischen Reli gionslehrern an den Universitäten und bei der Entwicklung von Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen einräumt. Bequem, wie man ist, schiebt man auch auf diesem Gebiet die anstehenden Konflikte der kommenden Generation zu, betreibt mithin auch hier die „Ausbeutung der Enkel“.17 Man darf zur Zeit nicht damit rechnen, daß sich Mitglieder dieser Klasse in nennenswerter Zahl dazu bereit finden, unsere freiheitlich-säkulare staatliche und gesellschaftliche Ordnung gegen muslimische Umdeutungsversuche und gegen den von Georges Anawati schon vor siebzig Jahren beklagten sozialen Imperialismus des Islams zu verteidigen. Sie spenden den muslimischen Versuchen, die fundamentalen Unterschiede zu unserer Ordnung zu verschleiern, lieber vorbehaltloses Lob – und schielen dabei auf muslimische Wählerstimmen. Gerade gegen den Willen vieler, selbst höchster Vertreter der politischen Klasse und ebenso gegen den Willen der medialen Propagandisten der politischen Korrektheit ist jedoch auf einer sachlichen und sachgerechten Erörterung der großen Schwierigkeiten zu bestehen, die der an die Scharia gebundene, also der von der Mehrheit der Muslime bekannte und praktizierte Islam, deren Eingliederung in ein säkulares Gemeinwesen entgegensetzt. Natürlich ist es nicht so, daß sich sämtliche Themen des Dissenses ununterbrochen bemerkbar machen werden. Aber in Anbetracht des Fehlens islamischer Institutionen mit eindeutig festgelegten Kompetenzen kann jedes von ihnen jederzeit gegen die Belange der Mehrheitsgesellschaft hochgespielt werden. Im übrigen verfechten neben den der Scharia verpflichteten Muslimen auch prominente Nichtmuslime die Anschauung, die Religionsfreiheit sei eine Art Über-Grundrecht, so daß jegliche als religiös verkleidete Ansicht schützenswert sei, mithin selbst diejenige, die den Menschenrechten zuwiderlaufe.18 Nur der Druck einer zuneh17 So lautet der Titel eines Buches von Kurt Biedenkopf, das sich mit der hypertrophen Sozialpolitik befaßt. 18 Vgl. hierzu Christine Langenfeld: Religiöse Freiheit – Gefahr oder Hilfe für die Integration?, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2010 / I, 83–98; ferner die un-
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mend sachkundigen und um ihrer Sachkunde willen nicht mehr einzuschüchternden Öffentlichkeit kann die Mehrheit der politisch-medialen Klasse dazu bewegen, die Verteidigung der verfassungsgemäßen Grundlagen unseres Gemeinwesens gegen eine Religion mit einem allumfassenden politischen und gesellschaftlichen Regelungsanspruch endlich in Angriff zu nehmen.
längst erschienene Arbeit von Karl Albrecht Schachtschneider: Grenzen der Reli gionsfreiheit am Beispiel des Islam, Berlin 2010.
I. Die Bringschuld der Muslime – Säkularer Staat und religiöser Wahrheitsanspruch im Konflikt Vortrag, gehalten im Herbst 2005 in München auf Einladung durch die HannsSeidel-Stiftung.
1. Einführung Im Juni 2004 wurde dem französischen Erziehungsministerium ein Bericht vorgelegt, der den Titel trug „Zeichen und Bekundungen der Religionszugehörigkeit in den schulischen Einrichtungen“.1 Dieser Bericht, dessen Daten auf Anforderung des Ministeriums in den Departements erhoben worden waren, in denen starke muslimische Minderheiten leben, ist vermutlich als eine Reaktion der Regierung auf mehrere jüngst veröffentlichte Faktensammlungen und Untersuchungen zu verstehen, die sich um die gefährdete laïcité der Republik sorgen und dies schon in ihren Titeln: „Die verlorenen Territorien der Republik“, „Die Republik und der Islam. Zwischen Furcht und Blindheit“, „Die neuen Formen religiösen Empfindens. Eine Herausforderung für die moderne laïcité.2 Der umfangreiche Bericht, dessen auch nur annähernd vollständige Wiedergabe hier nicht möglich ist, betrachtet im ersten Teil die Entwicklung der als heikel bekannten Stadtviertel, beschreibt das faktische Ausscheiden der dortigen Bevölkerung aus der französischen Gesellschaft, das vielfach bis zu einer déscolarisation, zu einer Mißachtung der Schulpflicht führt und vor 1 Ministère de l’éducation nationale, de l’enseignement supérieure et de la recherche. Inspection générale de l’éducation nationale, Groupe Etablissements et vie scolaire: Les signes et manifestations d’appartenance religieuse dans les établissements scolaires, Rapport présenté par Jean-Pierre Obin. „Religiös gefärbte Konfliktlagen an Hamburger Schulen“ heißt ein im Febrauar 2014 fertiggestelltes Papier des Hamburger Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung, das den ObinBericht anscheinend in jeder Hinsicht bestätigt. Meine Bitte an den Direktor des Instituts, den Text des Berichts einsehen zu dürfen, wurde nicht beantwortet. Vgl. Abschnitt C., Text V. 2 Emmanuel Brenner: Les territoires perdus de la République. Antisémitisme, racisme et sexisme en milieu scolaire, Paris 2002; Jeanne-Hélène Kaltenbach / Michèle Tribalat: La République et l’islam. Entre crainte et aveuglement, Paris 2002; Les nouvelles formes du sentiment religieux – un défi pour la laïcité moderne. Ouvrage collectif, Paris 2003.
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allem die Frauen und jungen Mädchen der ungesetzlichen Gewalt selbsternannter Aufpasser überantwortet, ja überhaupt aus der Öffentlichkeit verdrängt. Das zweite Kapitel befaßt sich mit den an den dortigen Schulen vielfach bestehenden im Namen des Islams agierenden Cliquen, die die laizistisch ausgerichteten muslimischen Mitschüler terrorisieren, sie etwa im Ramadan mit brutaler Gewalt daran hindern, an der üblichen Schulspeisung teilzunehmen, sowie einem antijüdischen und antirepublikanischen, sich auf den Islam berufenden Meinungsklima zum Durchbruch zu verhelfen bestrebt sind, wiederum unter massiver Einschüchterung Andersdenkender. Das dritte Kapitel schildert die mit dem Islam begründete um sich greifende Weigerung, bestimmten Unterrichtsstoff zur Kenntnis zu nehmen. Betroffen sind in besonderem Maße Fächer wie Sport und Biologie, aber auch der Geschichts- und der Literaturunterricht: Ungläubige Autoren seien den Muslimen nicht zuzumuten. Der Bericht kommt zu dem Schluß, daß der Schulfrieden vor allem dort erheblich gestört sei, wo sich die Schulverwaltung auf Kompromisse eingelassen habe. Diese hätten stets nur eine vorübergehende Entspannung bewirkt, danach sei man mit weitergehenden Forderungen konfrontiert worden. Vergleichbare deutsche Erhebungen sind mir nicht bekannt geworden. Was man zum Thema vereinzelt in Tageszeiten, vorwiegend in Leserbriefen, findet, deutet in die gleiche Richtung; besonders in Berlin, wo man muslimischen Vereinigungen die religiöse Unterweisung anvertraut hat, scheinen sich die Konflikte zu häufen, doch wird dies an anderen Orten Deutschlands kaum anders sein. Was läuft hier aus dem Ruder, und was könnte oder müßte getan werden, um die sich anbahnenden tiefen Verwerfungen zumal in der Gesellschaft unserer Großstädte und Ballungsräume abzumildern, womöglich ganz zu unterbinden? Die wohlfeile Antwort, es müsse für die muslimischen Einwanderer mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Chancengleichheit in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt geben, geht an der Wirklichkeit vorbei, wie der französische Bericht mit dem Stichwort der déscolarisation belegt. Die radikale Feindseligkeit gegenüber dem aufnehmenden und alimentierenden Land gedeiht nämlich nicht spontan unter den „Elenden und Entrechteten“. Sie wird, wie man inzwischen weiß, vorwiegend von denjenigen unter den Einwanderern geschürt, die eine höhere Bildung erwarben, und nicht zuletzt unter den deutschen Konvertiten zum Islam trifft man auf den Haß gegen die eigene, die aufgegebene Kultur. Ich werde mich daher nicht mit dem sozialen Milieu und seinen Implikationen befassen, sondern nach den Ideenlieferanten jener Feindseligkeit fragen – ein höchst wichtiger Aspekt der Integrationspolitik, der aber zugunsten zahlloser sozialwissenschaftlicher Erhebungen vernachlässigt wird. Diese haben alle einen unschätzbaren Vorteil: Sie sagen dem Politiker, wohin er noch mehr Geld fließen lassen möge, und schenken ihm das Ge-
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fühl, etwas zu „bewegen“.3 Eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Feinden unserer freiheitlichen Ordnung ist demgegenüber zum einen mühsam und bleibt zum anderen ohne einen schnellen Erfolg, der sich durch eine Statistik ausweisen ließe. In einem ersten Schritt werde ich in wenigen groben Strichen die nicht auf einen Nenner zu bringenden islamischen und westlichen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft skizzieren, um das Konfliktpotential zu verdeutlichen. Danach werde ich darlegen, wie unlängst ein vielbeachteter, einflußreicher Sprecher der sunnitischen Muslime die Problematik des Verhältnisses zum Pluralismus und Säkularismus beschrieben hat. Dies wird uns den Blick schärfen für die Rolle der muslimischen Verbände in Deutschland, zugleich auch für die bemerkenswerte Tatsache, daß Muslime, die vom „Verbandsislam“ abweichende Ansichten in fundierter Weise verfechten, in unserem öffentlichen bzw. veröffentlichten Diskurs kaum zu Wort kommen. Am Ende werde ich die Frage aufwerfen, wie von den deutschen Funk tionseliten eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den islamischen Interessenverbänden geführt werden sollte, eine Auseinandersetzung, die kenntnisreich und ohne Scheu die schwierigen Probleme auf den Punkt bringt und auf Lösungen hinarbeitet, die unserer Verfassung entsprechen.
3 Während ich an diesem Buch arbeitete, schlugen die Wogen der Empörung der staatlich alimentierten Integrationsforscher sozialwissenschaftlicher Ausrichtung über einen von Frau Kelek in der FAZ am 9. Mai 2011 veröffentlichten Artikel hoch, in dem sie die Einseitigkeit und Beschränktheit dieser Forschungen kritisierte. Sie tadelte, daß bei der Vergabe von Forschungsmitteln die Vertreter anderer Sichtweisen nicht berücksichtigt würden. Eine wichtige politische Funktion dieser Integrationsforschung ist es, die unerfreulichen Seiten des Gegenstandes zu verdecken – einer der Gründe für die unablässige Förderung. Als Teilnehmer der ersten Deutschen Islamkonferenz beobachtete ich, wie jene Integrationsforscher sich an den von ihnen erhobenen Daten erfreuten („nur soundsoviel Prozent der männlichen muslimischen Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren bezeichnen sich als religiös“ (vgl. die im Juli 2007 vom Bundesministerium des Innern herausgegebene Studie Muslime in Deutschland … Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen). Was aber „religiös“ heißen mag, welche Traditionsstränge bei denen, die sich so bezeichnen, zusammenfließen und was das für die Haltung gegenüber unserem Gemeinwesen bedeutet, interessierte nicht. Das sind Fragen, mit denen sich einige als altbacken belächelte Historiker und Philologen abgeben – abgeben müssen, da die betreffenden Sozialwissenschaftler mangels einschlägiger Sprach- und Sachkenntnisse ohnehin nichts Erhellendes hierüber ausführen können. Wenn Integration meint, selbständig Sozialhilfe beantragen zu können, dann mag es mit der Integration schon recht gut stehen, wie von jenen Sozialforschern oft betont wird. Da die Integration der „Migranten“ aber bedeuten muß, daß sie unser Gemeinwesen verstehen und bejahen, tappen wir in Wahrheit auf diesem für unsere Zukunft entscheidenden Gebiet im dunkeln.
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2. Grundlinien der islamischen politischen Kultur Ich verweise auf den Abschnitt A. und auf den Abschnitt C.
3. Über die Religions- und Gedankenfreiheit im Islam Daß wir uns hiermit in weiter Ferne von einem säkularisierten Verständnis von Staat und Gesellschaft befinden, durch welches ein pluralistisches Gemeinwesen erst eigentlich ermöglicht wird, bedarf keiner näheren Erläuterung. In der „besten Gemeinschaft“ zählen nur deren Mitglieder, und selbst diese sind nicht zu einer freien Erörterung der Gesetze befugt, denen sie unterworfen sind. Dies rief Jūsuf al-QaraÃāwī im Februar 2005 in zwei Folgen seiner Sendereihe „Die Scharia und das Leben“ Millionen muslimischer Fernsehzuschauer ins Gedächtnis. In der genannten Reihe, die die Station al-Dschazira ausstrahlt und die auch in Europa von Hunderttausenden des Arabischen mächtigen Muslimen verfolgt wird, legt al-QaraÃāwī seit vielen Jahren dar, welches laut Koran und Hadith die von Allah selber gestifteten Regelungen der „besten Gemeinschaft“ seien. In Europa ist alQaraÃāwī, geboren 1926, al-Azhar-Absolvent und zuletzt Dekan der Scharia-Fakultät in Qatar, kein Unbekannter. Er ist der Präsident des europäi schen Fetwa-Rates, der derzeit 31 Mitglieder hat, darunter ein Drittel Angehörige arabischer Staaten. Von den drei Kooperationspartnern des Rates, die auf seiner Homepage angegeben sind, ist einer der muslimische Interessenverband Millî Görüş. Man darf demnach voraussetzen, daß al-QaraÃāwī seine Belehrungen auch bei uns nicht in den Wind spricht. Die Quelle meiner folgenden Darstellung ist die arabische Mitschrift der Sendungen „Die Scharia und das Leben“, die al-QaraÃāwī regelmäßig im Internet publiziert. Insbesondere beziehe ich mich auf den 6. Februar 2005, als er sich über die Religions- und Gedankenfreiheit äußerte. Die am 10. Februar ausgestrahlte Sendung zur politischen und bürgerlichen Freiheit ist im Kern nicht mehr als eine auf diese Sachgebiete ausgeweitete Wiederholung der Thesen der vorangegangenen. Nun also zur Religions- und Gedankenfreiheit! Die Moderatorin leitet das Gespräch mit der Frage ein, warum es überhaupt eine Vielfalt von Religionen gebe, wo doch Allah, wenn er wollte, die Menschheit in einer einzigen vereinen könnte. Unausgeprochen wird die Vielfalt schon mit dieser Frage als etwas Unheilvolles bewertet (vgl. in diesem Abschnitt, Text IV). Dahinter steht die koranische Überzeugung, daß Allah in der Tat die Menschheit als eine einzige Glaubensgemeinschaft geschaffen habe, die wegen der Unzulänglichkeit und Bosheit einiger Frevler zerfallen sei (Sure 2, 213; vgl. Sure 21, 92 und Sure 23, 52 f.). Allah duldet diese Uneinigkeit vorerst noch,
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hören wir in Sure 10, Vers 19 (vgl. Sure 11, 119 sowie Sure 16, 93 und Sure 42, 8). Diese Koranstellen bestimmen al-QaraÃāwīs Antwort, die sich gänzlich innerhalb der muslimischen Glaubenslehren bewegt und jeden Blick auf die tatsächliche Religionsgeschichte meidet. Allah habe die Engel so geschaffen, daß sie ihrem Wesen nach nichts anderes vermöchten als ihm zu gehorchen und ihn immerfort zu rühmen. Dem Menschen hingegen habe Allah den Verstand gegeben sowie ihn mit der Pflicht belastet, sobald er die Reife erreicht habe, eine Wahl zu treffen, die einem Willensakt entspringe, der wiederum das Resultat des Erwägens unterschiedlicher Möglichkeiten sei. Daher die Vielfalt der Religionen, denn das Geschenk des Verstandes sei mit der Freiheit verbunden, von diesem Geschenk Gebrauch zu machen. Die Freiheit, so al-QaraÃāwī, ist ein Teil der von Allah dem Menschen anerschaffenen, der ursprünglichen Wesensart, arabisch al-fiÔ ra. Mit diesem Postulat hat al-QaraÃāwī den Freiheitsbegriff, der, wie er am 10. Februar unumwunden einräumt, im islamischen Denken nicht heimisch ist, gleichsam eingemeindet, ihm jedoch den Inhalt entzogen, den er in der europäischen Kultur der Neuzeit hat. Das Wort fiÔ ra taucht im Koran ein einziges Mal auf, und zwar in Sure 30, Vers 30, wo es heißt: „Richte dein Gesicht auf die (wahre) Glaubenspraxis als ein Gottsucher! (Und dies in Erfüllung) der fiÔ ra Allahs, in der er die Menschen geschaffen hat. Die fiÔ ra Allahs kann man nicht austauschen. Das ist die richtige Glaubenspraxis, aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid.“ Die Gottsucher waren arabische Heiden, die eine vertiefte Frömmigkeit anstrebten, sich aber weder von Juden noch von Christen vereinnahmen lassen wollten. In den letzten Jahren vor der Hedschra bezieht sich Mohammed oft auf sie. In Abraham sieht er ihren geistigen Vater, und was sie üben, ist die vollständige Hinwendung des Gesichts – d. h. der individuellen Existenz – zu dem einen Schöpfer und Lenker des Diesseits, zu Allah, von dem sie sich in jeder erdenklichen Weise abhängig wissen. Mose und das Judentum, Jesus und das Christentum kommen erst nach Abraham und sind nach koranischer Vorstellung daher gegenüber dem Islam minderrangig, der ja die abrahamische Hinwendung zu Allah wiederbelebt: Juden und Christen haben die von Allah gestiftete fiÔ ra leichtfertig oder frevelhaft verlassen, sie aber in Wahrheit nicht gegen eine andere, d. h. jüdische oder christliche, austauschen können; denn eine solche gibt es nicht. In der Prophetenüberlieferung taucht die Aussage von Sure 30, Vers 30 denn auch mit einem Zusatz auf: Jeder Mensch steht bei der Geburt in der fiÔ ra – und das heißt, verkürzt gesagt, im Islam – und dann machen sich manche Eltern daran, das Kind zum Juden, Christen oder Zoroastrier zu erziehen, ihm mithin die ihm von Allah zugedachte Heilsanwartschaft zu rauben (vgl. Abschnitt C., Text IV).
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Kehren wir nun wieder zu al-QaraÃāwī zurück! Wenn die Freiheit ein Element der fiÔ ra ist, dann kann sie in anderen Religionen als dem Islam nur in mangelhafter Form gewährleistet sein, und im Heidentum und bei den Freidenkern schon gar nicht. In Sachen der Religion habe der Mensch die freie Wahl, bestätigt al-QaraÃāwī auf eine Zwischenfrage der Moderatorin, und erläutert, wie das zu verstehen sei. Kein Mensch dürfe seine Religion ohne eigene Erwägungen von einem anderen übernehmen, wie dies nach obigem Wort Mohammeds bei der Erziehung geschieht. Der Wahl geht ein freier Willensakt voraus, und sie ist schicksalhaft und hat ewigwährende Konsequenzen. Denn es ist die Wahl zwischen Paradies und Hölle. Der Islam ist der Weg ins Paradies, und deshalb wird jeder Mensch, wenn man ihn ungehindert seine Wahl treffen läßt, sich für den Islam entscheiden. Die Moderatorin dringt nun auf die Klärung der schariatischen und der staatsgesetzlichen Dimensionen dieser Wahlfreiheit. Sie könne weder aufgehoben noch suspendiert werden, versichert al-QaraÃāwī, und deshalb habe Allah den Muslimen den Kampf für diese Freiheit gestattet. Denn nichts sei schlimmer als Behinderungen und Anfechtungen in der Ausübung der gewählten Glaubenspraxis (vgl. Sure 2, 191–193). Anders gesagt: Die Muslime kämpfen für die Wahlfreiheit zum Islam hin. „Wenn aber die Freiheit des Individuums mit dem Interesse der“ – islamischen – „Glaubensgemeinschaft in Konflikt gerät? D. h. wie können wir die Freiheit des Individuums im Rahmen des Gesamtinteresses der Gemeinschaft bewahren?“ möchte die Moderatorin wissen. Al-QaraÃāwī verweist darauf, daß es eine absolute Freiheit nicht gebe. Das Gemeinwohl verlange beispielsweise die Beachtung der Verkehrsregeln. Die Moderatorin gibt sich mit dieser Binsenweisheit nicht zufrieden: Verfechte der Koran nicht doch eine individuelle Religionsfreiheit, wenn es in Sure 2, Vers 256 heiße: „Im praktizierten Glauben gibt es kein Zwingen. Die Wahrheit ist klar vom Irrtum geschieden“? AlQaraÃāwī erläutert den Sinn dieser Worte, wie wir es schon vermuten: Das Eintreten in den praktizierten Glauben, also in den Islam, darf nicht in einer Situation des Zwanges erfolgen. Am Beispiel der koranischen Pharao-Gestalt verdeutlicht er, worauf er hinauswill. Als über dem Herrscher der Ägypter die Wogen des Meeres zusammenschlugen, er also nicht mehr frei über sein weiteres Leben entscheiden konnte, hätte ein Bekenntnis zum Islam ihm bei Allah keinen Nutzen mehr eingetragen. Da, wie es in Sure 2, Vers 256 lautet, die Wahrheit zweifelsfrei vom Irrtum geschieden sei, und zwar dank der Verkündigung der Botschaft durch Mohammed, muß man dieser Botschaft in einer nicht zwanghaften Lebenslage Folge leisten (vgl. in diesem Abschnitt, Text IV). Wie aber könne man die vom Islam propagierte Religionsfreiheit mit der Strafe in Einklang bringen, die die Scharia für jeden vorsieht, der ihm den Rücken kehrt? Der Abfall vom Islam sei eine seltene Erscheinung, versi-
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chert al-QaraÃāwī. Einzelne Vorkommnisse dieser Art könnten hingehen – wenn nicht zu befürchten wäre, daß der einzelne Fall zu einer Anfechtung für die muslimische Gesellschaft werde. Dergleichen habe man etwa in Afghanistan beobachten können, wo einige Offiziere nach ihrer Ausbildung in der Sowjetunion vom Islam abgefallen seien und dann die Intervention Moskaus ausgelöst hätten. Jeder Fall von Apostasie könne dem Kollektiv der muslimischen Glaubensgemeinschaft schaden, und das Interesse des Kollektivs gebiete demnach die Verfolgung des Abtrünnigen; das Interesse des Einzelmenschen auf Entfaltung auch seiner religiösen Freiheit müsse demgegenüber zurückstehen. Die direkte Frage, ob sich der in der Prophetenüberlieferung verbürgte Grundsatz: „Wer seinen“ – islamischen – „Glauben austauscht, den tötet!“ mit dem koranischen „kein Zwingen …“ vereinbaren lasse, bringt alQaraÃāwī in einige Verlegenheit. Man weiß, daß er in einem Fetwa für die Tötung des Apostaten plädiert hat (Yusuf al-Qaradawi, in: Wikipedia, S. 2). Er zieht sich jetzt mit einer Distinktion aus der Affäre: Die Todesstrafe ahnde ja nicht den Austritt aus dem Islam, sondern die mit diesem womöglich verbundene Anfechtung der Glaubenstreue der muslimischen Gemeinschaft. Überdies erhalte der Abtrünnige nach schariatischem Recht die Gelegenheit zum Widerruf seines Schrittes. Als Abfall vom Islam, doziert alQaraÃāwī weiter, sei schon ein leichthin geäußerter Zweifel an der allumfassenden Autorität Mohammeds zu werten. So ist plausibel, daß laut al-QaraÃāwī in den meisten Fällen die Hinrichtung des Apostaten nicht zu umgehen ist; vereinzelt, so räumt er ein, mag eine „erzieherische Hinrichtung“ (iÝ dām adabī) ausreichen, etwa die Zwangsscheidung von der Ehefrau und der Verlust des Rechtes des Umgangs mit den Kindern. Was al-QaraÃāwī hier besonders betont, ist die Zuständigkeit der schariatischen Gerichtsbarkeit, der jeder Verdächtige zu überstellen sei. Einzelne Heißsporne dürften nicht von sich aus ein Urteil fällen und vollstrecken. Al-QaraÃāwī ringt hier mit den nach wie vor spürbaren Konsequenzen des nie ganz überwundenen Charakters des Islams als einer Bewegung, der sich einzelne in besonderem Maße verschreiben, um anstelle einer vermeintlich zu nachsichtigen islamischen Obrigkeit das in den autoritativen Texten Geforderte auszuführen (vgl. Abschnitt C., Text II). Fast alle islamischen Regime sehen sich heutzutage mit diesem Problem konfrontiert. Die Obrigkeit aber soll die alleinige Trägerin und Anwenderin der islamischen Botschaft sein, wie im Laufe der Sendung festgestellt wird.4 In dieser Eigenschaft 4 Wir treffen hier auf eine meines Wissens noch nicht in ihrer Tragweite beschriebene Erscheinung des zeitgenössischen Islams: Während die Schariagelehrten bis in die jüngste Vergangenheit die Macht nicht selber ausübten, sondern nur die Machthaber beherrschten, indem sie deren Despotie eine islamische Legitimation
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obliegt ihr selbstverständlich die Zensur aller intellektuellen und künstlerischen Produktion. Ahmed al-Assal, der ehemalige Präsident der Internationalen Islamischen Universität in Islamabad, wird mit diesem Wort zitiert: Die Zensur ist der Kontrolle der auf dem Markt angebotenen Lebensmittel zu vergleichen. Al-QaraÃāwī weiß, daß sich sein Konzept von Religionsfreiheit nicht im mindesten mit einem pluralistischen, säkularisierten Gemeinwesen verträgt. Doch im Zirkel seiner Argumente gelangt er rasch zu einer Rechtfertigung: Im Westen und nur dort war die Säkularisierung notwendig; die Menschen mußten sich aus den Fesseln der unzulänglichen, nicht wirklich zu Allah hingewandten Religion des Christentums befreien. Im Islam ist dergleichen nicht erforderlich, weil er ja die eine gottgewollte Glaubens- und Lebensordnung ist. Infolgedessen sind der Wechsel vom Judentum zum Christentum und vom Christentum zum Islam je als ein Gewinn, als ein Schritt zur Vervollkommnung hin zu betrachten. Der Austritt aus dem Islam bedeutet in dieser Logik einen Verlust; man muß den einzelnen wie die „beste Gemeinschaft“ mit allen Mitteln davor schützen, sich einen solchen Verlust zuzufügen. Diese Ausführungen al-QaraÃāwīs finden, wie bereits gesagt, in der Sendung vom 10. Februar ihre Ergänzung, in der die politische und bürgerliche Freiheit nach Maßgabe der geschilderten Ansichten erörtert werden. Das alles ist nicht eben neu, sondern wird im muslimischen Schrifttum seit Jahrzehnten wiederholt. Danken dürfen wir al-QaraÃāwī allerdings für diese klare, für ein sehr breites Publikum bestimmte Zusammenfassung. In ihr haben wir die Quintessenz des Begriffs der „besten Gemeinschaft“ vor uns, die eine unmittelbare, wortwörtliche Geltung als ewiggültig angesehener Texte, nämlich des Korans und des Hadith, postuliert. Nun liegt es auf der Hand, daß eine Weltsicht, die die Ordnung von Staat und Gesellschaft aus Texten abzuleiten unternimmt, die knapp 1400 Jahre alt sind, entweder diesen Texten nicht gerecht werden kann oder den heute obwaltenden Verhältnissen. Für beides ein Beispiel: In Sure 4, Vers 3 wird dem Muslim die Möglichkeit eröffnet, bis zu vier Frauen zu ehelichen, sofern er sie gerecht zu behandeln vermöge. Aus diesem Vorbehalt hat man im Hinblick auf westliches Eherecht zu schließen versucht, Allah habe in Wahrheit die Monogamie eingeführt: Der Text des Korans wird gegen seinen Sinn ausgelegt. Der umgekehrte Fall, die Vergewaltigung einer vom alten Arabien fundamental unterschiedenen Wirklichkeit, ist wohl der häufigere. So wird verschafften, drängen sie jetzt unter Nutzung der „Demokratisierung“ bzw. einer „islamischen Revolution“ selber an die Macht; vgl. meinen Aufsatz „Zu den Grundlagen des islamischen Rechts“, Baden-Baden 2012, 29 (Veröffentlichungen der Potsdamer Juristischen Gesellschaft 14).
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das dem heutigen Rechtsempfinden hohnsprechende Gebot der Hinrichtung des „Apostaten“ aus Texten wie folgendem hergeleitet: Jemand nahm den Islam an und kehrte dann zum Judentum zurück. MuÝāÆ b. Éabal, ein Prophetengefährte, erblickte den Betreffenden in der Gewalt eines anderen Prophetengefährten und fragte nach dem Grund hierfür. „Er hat sich wieder zum Judentum bekannt“, erfuhr MuÝāÆ und sagte daraufhin zu dem, der den Juden in seiner Gewalt hatte: „Ich will mich nicht hinsetzen, ehe du ihn tötest, wie dies das Urteil Allahs und seines Gesandten ist!“5 4. Können die Wortführer des Islams ihr intellektuelles Gefängnis verlassen? Damit komme ich zum letzten Teil. „… Die Mehrheitsgesellschaften müssen sich aufnahmebereit zeigen und dies durch die Gleichstellung und Gleichbehandlung des Islams mit anderen Religionsgemeinschaften manifestieren“, heißt es im Internet-Auftritt von Millî Görüş. Wie aber kann diese Forderung erfüllt werden, wenn allseits beachtete Autoritäten des Islams klipp und klar feststellen, daß der Islam eben nicht mit anderen Religionsgemeinschaften vergleichbar, sondern ihnen – und allen nichtreligiösen Menschen ohnehin – uneinholbar überlegen sei? Und wie, wenn die nämlichen Autoritäten ebenso unmißverständlich verkünden, daß dem Islam das alleinige Gestaltungsrecht von Politik und Gesellschaft in einem allumfassenden, totalitären Maß vorbehalten sei? Der Pakistaner Maudūdī (1903–1979), ein anderer wichtiger Stichwortgeber des heutigen islamischen Diskurses, drückte diesen Anspruch so aus: „Der Islam ist keine normale Religion wie die anderen Religionen der Welt … Der Islam ist ein revolutionärer Glaube, der antritt, jede von Menschen geschaffene Staatsform zu zerstören.“6 Die auf dem Boden einer pluralistischen, säkularen Staatsordnung agierenden muslimischen Interessenverbände müßten, wenn ihre Beteuerungen, sie träten für ebendiese Ordnung ein, glaubhaft sein sollen, vehement und unzweideutig gegen Ausführungen wie diejenigen Maudūdīs und al-QaraÃāwīs Stellung beziehen, und zwar sowohl vor der deutschen Öffentlichkeit als auch besonders vor der arabischoder türkischsprachigen. Denn nur unter Zurückweisung der beschriebenen Gedankengänge und Ansprüche kann ihre Religion mit einem pluralistischen Gemeinwesen – in weiterer Perspektive: mit einer pluralistischen Weltgesellschaft – kompatibel werden. Doch statt ihre eigenen Mitglieder über die von al-QaraÃāwī angesprochenen Positionen im Lichte der deutschen Verfassung aufzuklären, hüllen 5 Al-BuÌ ārī:
ÑaÎīÎ, istitābat al-murtaddīn 2. Abul A’la Maududi: Jihad in Islam, 2. Auflage, Delhi 1973, zitiert in Mark A. Gabriel: Islam und Terrorismus, Resch-Verlag 2004, IX. 6 Syed
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sich die Wortführer der Verbände in ein Schweigen, das ihnen und ihren Beteuerungen die Glaubwürdigkeit nimmt. Die aufnehmende Gesellschaft hat das Recht, hierüber Gewißheit zu erlangen, und sie hat die Pflicht, ihr Verhalten davon abhängig zu machen, wie die Wortführer der Muslime mit dem absoluten Geltungsanspruch des Islams umgehen. So hat die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf, vom Inhaber des Lehrstuhls für islamische Religionskunde in Münster zu erfahren, was die sibyllinische Formel bedeutet, das Lehrprogramm sei mit den Vertretern der islamischen Interessenverbände abgesprochen worden, wie im „Rheinischen Merkur“ zu lesen war. Bislang hat es den Anschein, als wären die Vorstände dieser Verbände davon überzeugt, sich gegenüber den in Deutschland eingewanderten Glaubensgenossen dadurch legitimieren zu müssen, daß sie als Sachwalter des Konzepts der ewiggültigen Wahrheit autoritativer Texte auftreten, deren angeblich für den Muslim verpflichtenden Inhalt sie gegen die bestehende Rechtsordnung durchzusetzen hätten. Die Auflösung der einheitlichen, bekenntnisunabhängigen Rechtsordnung geben sie als Integration aus. Indem sie die Muslime in eine Parallelgesellschaft einsperren, hoffen sie, den Einfluß auf ihre Mitglieder zu sichern. Die Unwissenheit der deutschen Öffentlichkeit erleichtert ihnen das Geschäft. Dafür ein Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht erlaubte, mit einigen Einschränkungen zwar, das Schächten, da es durch den Islam geboten sei. Im Interesse der Religionsausübung hätten deutsche Bestimmungen hintanzustehen. Millî Görüş feiert dieses Urteil in seinem Internetauftritt als einen wichtigen Schritt zur Integration, mit anderen Worten, zur Etablierung einer eigenen muslimischen Rechtsordnung. Mit keinem Sterbenswörtchen erwähnten die Vertreter der islamischen Interessenverbände in den veröffentlichten Diskussionen um diesen Gegenstand, daß es gewichtige muslimische Stimmen gibt, die die Notwendigkeit des Schächtens, zumal zum Opferfest, energisch bestreiten. Ihnen gilt das Schächten als ein überholter barbarischer Brauch, wie das Tieropfer überhaupt, das beispielsweise der türkische Gelehrte Hüseyin Hatemi strikt verwirft. Im Jahre 2000 löste er eine heftige Debatte aus, indem er auf Sure 22, Vers 37 verwies: „Weder ihr Fleisch noch ihr Blut erreicht Allah, jedoch erreicht ihn eure Frömmigkeit.“ Weitere Istanbuler Theologen, ferner Tiermediziner und Psychologen sprangen Hatemi bei. Seine Gegner beriefen sich auf Sure 5, Vers 27 bis 31, wo nachzulesen ist, daß Allah das Tieropfer Abels angenommen, die ihm dargebrachten Feldfrüchte Kains dagegen verschmäht habe. Auf der einen Seite, jener, auf die sich Millî Görüş geschlagen hat, finden wir die Verfechter der Textautorität: Daß Allah das Opfer Abels annahm, betrachten sie nicht als eine vergangene, „historische“ Gegebenheit, sondern als eine unaufhebbare Handlungsanweisung Allahs; überdies habe Mohammed gesagt, man solle das Tieropfer in Nachahmung Abrahams vollziehen. Auf
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der anderen Seite stehen jene Muslime, denen der Koran zwar Allahs Wort ist, aber ein an die Lebenswelt seines Propheten angepaßtes und daher heute überholtes Wort. Und enger noch als der Koran sind Mohammeds Aussprüche, hier sein Hinweis auf Abraham, zeitgebunden und daher nicht als überzeitliche Gebote zu verstehen. Die seit Mohammed erheblich angewachsenen veterinärmedizinischen Kenntnisse sowie eine Ethik, die sich in eine von Allah selber angedeutete Richtung entwickelt – „jedoch erreicht ihn eure Frömmigkeit“ – bewirken die inhaltliche Veränderung der Scharia.7 So verschafft sich in der islamischen Welt, zögernd noch, eine dem muÝtazilitischen Verständnis vergleichbare Ableitung des Regelwerkes der „besten Gemeinschaft“ Gehör. Koran und Prophetenüberlieferung sind keine Blaupause; ihr Inhalt ist durch die Zeitumstände ihrer Entstehung geprägt; die Verwirklichung dieses Inhalts unter gänzlich veränderten Zeitumständen kommt einer Vergewaltigung des Gegenwärtigen gleich. Bis in die saudiarabische Ratsversammlung hinein hat sich herumgesprochen, daß die sogenannten Dschihadisten nur ein schreckliches Symptom, nicht aber das Übel selber seien; dieses seien die staatlichen religiösen Institutionen, unter ihnen der „Hohe Rat der ‘ulama“, die ständig die „falschen Signale“ aussendeten, so eines der Mitglieder der Ratsversammlung.8 In Gedanken wie diesen öffnet sich eine Luke aus dem Gefängnis der ehernen Wortwörtlichkeit autoritativer Texte und damit ein Weg zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit einer – nicht erst seit 1400 Jahren – im Wandel begriffenen Wirklichkeit. Von einer „Historisierung“ der Gestalt des Propheten und einer Unterordnung der Scharia unter allgemeine Prinzipien ist man freilich noch weit entfernt. Wer aber wie al-QaraÃāwī nur die Wände seines Gefängnisses anstarrt, dem bleiben am Ende nichts als die Verwerfung der Wirklichkeit in Bausch und Bogen und die Kompensierung der Minderwertigkeitsgefühle des Nichtdazugehörenden in Aktionen verbaler oder physischer Gewalt, die sich in seiner Perspektive immer als Handlungen der Verteidigung der ewigen durch Allah und seinen Propheten übermittelten Wahrheit rechtfertigen lassen. Was kann ein pluralistisches Gemeinwesen von ihm erwarten? Wie man in letzter Zeit hört, arbeiten etliche muslimische Interessenverbände in Deutschland an einem größeren Zusammenschluß. Diesem muß die Mehrheitsgesellschaft ein höheres Maß an Verantwortlichkeit abverlangen, sowohl für die eigenen Mitglieder als auch für unsere staatliche Ordnung. Es ist meines Erachtens dringend geboten, die muslimischen Verbän7 Rainer Herrmann: Türkische Kontroversen zum Opferfest, in: Festschrift Werner Ende, 183–191. 8 FAZ, 4. Juli 2005, S. 2.
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de an die Bringschuld der hier lebenden Muslime zu erinnern, nämlich bereit und fähig zur Aufnahme in die pluralistische Mehrheitsgesellschaft zu werden. Diese Bringschuld läßt sich nur einlösen, indem man sich einer historisierenden Auslegung der islamischen Heilsbotschaft öffnet, die, wie gezeigt, anderswo immerhin in Ansätzen diskutiert wird. Indem ich dies sage, kommt mir die deutsche Mehrheitsgesellschaft in den Blick. Auch sie hat bis heute bei weitem nicht ihre Pflichten erledigt. Um den Muslimen ein kompetenter Gesprächspartner zu werden, müssen sich ihre zuständigen Vertreter ein Wissen vom Islam aneignen, das über Handbuchkenntnisse hinausreicht. Seit Jahren entsetzt und erbittert mich die mangelnde Bereitschaft zu einer ernsthaften, und das heißt, arbeitsreichen Auseinandersetzung mit islamischem Denken und islamischer Kultur. Man kann nur aufnehmen, was man ernsthaft zu studieren bereit ist, und erst nach einem solchen Studium kann man berechtigte Forderungen anmelden. Mindestens ebenso wichtig ist es, daß die künftigen Gesprächspartner der Muslime sich darüber klar werden, wofür sie eigentlich stehen und was sie zu verteidigen haben. Was bedeuten Pluralismus, Säkularisierung, wie wurden sie errungen? Kurzum: Wohinein wollen wir die muslimischen Einwanderer aufnehmen? Mich fragte unlängst eine muslimische Doktorandin, die die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatte, ob ich ihr einen auf ihre Situation zugeschnittenen Leitfaden der deutschen Geschichte empfehlen könne, die ja nun auch die ihrige sei. Ich habe nichts Überzeugendes finden können.
II. Islamophobie Kurzvortrag, ausgearbeitet für eine kurzfristig abgesagte Gesprächsrunde im Niedersächsischen Innenministerium (15. April 2010).
Seit einigen Jahren geistert ein neuer Begriff durch die politischen Debatten, nicht nur in Deutschland: Islamophobie. Die früheste Definition seines Inhalts stammt, wenn man Wikipedia glauben darf, aus dem Jahre 1997. Danach handelt es sich bei Islamophobie um eine „unbegründete Feindschaft gegenüber dem Islam und daher um Furcht oder Antipathie gegenüber allen oder den meisten Muslimen“1. Spätestens die 34. Sitzung der „Islamischen Konferenz der Außenminister“ (15.–17. Mai 2007 in Islamabad) brachte diesen Begriff auf die Bühne der Weltpolitik. Sie verabschiedete eine Resolution, in der sie „Islamophobie“ als „die schlimmste Form des Terrorismus“ geißelte. Nach Ansicht der in Islamabad versammelten Außenminister würden durch den Westen die Verbrechen des 11. September 2001, die Anschläge in Madrid und London, die Ermordung Theo van Goghs usw. als Vorwand für eine „wahnhafte Wut“ ( frenzy) gegen den Islam genutzt, für das Schüren einer Phobie, die durch die dänischen Mohammedkarikaturen und durch die Regensburger Rede des Papstes zusätzlich angeheizt worden sei. Diese Resolution machte sich der „Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen“ neben einer Reihe weiterer Texte in seiner Entschließung vom 27. März 2008 zueigen. Sie wendet sich, wenn man den Wortlaut ihrer Überschrift ernstnimmt, gegen die Verunglimpfung aller Religionen; die einzige Religion jedoch, die im Text mehrfach als ein Opfer derartiger Verunglimpfungen genannt wird, ist der Islam. Aufschlußreich ist übrigens ein Blick in die offizielle arabische Übersetzung dieses Textes. Ein Äquivalent für den englischen Begriff „islamophobia“, der ja etwas Krankhaftes („frenzy“) zum Ausdruck bringen soll, fehlt im Arabischen. Dort ist schlicht von einer Abneigung gegen den Islam (kurh al-islām) die Rede. Dem arabischen Leser wird mithin suggeriert, die bloße Ablehnung des Islams, aus welchen Beweggründen auch immer, verstoße bereits gegen die Menschenrechte. Sofern der arabische Leser Muslim ist, mag ihm das einleuchten. Für 1 Der 1968 gegründete Runnymede Trust, der 1997 diese Definition von Islamophobie verbreitete, widmete sich ursprünglich dem Kampf für ein multiethnisches Großbritannien, entdeckte dann aber die Muslime als Schützlinge. Er veröffentlicht im Internet ein Bulletin namens „Islamophobia Watch documenting anti Muslim bigotry“.
II. Islamophobie329
das internationale Publikum wären „Ablehnung des Islams“, „Widerwillen gegen ihn“ o. ä. aber sicher kein Anlaß, die Menschenrechte zu bemühen. Denn diese verpflichten niemanden, jegliche Religion oder gar eine bestimmte Religion zu schätzen. Damit komme ich zum schillernden Inhalt des Begriffs „Islamophobie“, der – im Deutschen vielleicht stärker noch als im Englischen – einen pathologischen Wahn meint; denken wir z. B. an Klaustrophobie. Von „unbegründeter Feindschaft“ sprach die Definition des Jahres 1997. Gründe für eine generelle Ablehnung des Islams als eines religiös-ideologischen Gedankensystems mit absolutem Wahrheits- und politischem und gesellschaftlichem Machtanspruch gibt es inzwischen aber für Nichtmuslime mehr als genug. Die Außenminister der islamischen Staaten nennen in ihrem Papier selber einige, erklären sie freilich für Vorwände. Sie sind darum bemüht, auf diese Weise die Wortführer des Islams von der Aufgabe zu entlasten, sich ernsthaft mit den die Untaten rechtfertigenden Argumenten der Attentäter auseinanderzusetzen, die sich auf zahlreiche Passagen in den autoritativen Texten des Islams berufen. Die nichtmuslimische Weltöffentlichkeit wie auch die nicht schariagebundenen Muslime hatten aber erwartet, daß die Wortführer des Islams sich zu ebenjenen Passagen dahingehend äußern würden, diese seien zwar nach islamischer Lehre ewig verbindliche Aussagen Allahs bzw. beschrieben Mohammeds von Allah rechtgeleitetes Handeln; aber in der pluralistischen Welt von heute hätten sie angesichts der geltenden auf das Individuum ohne Ansehung seines Glaubens abhebenden Menschenrechte ihre normative Bedeutung verloren. Gerade diesen Gedankenschritt, der ihnen das Vertrauen der nichtmuslimischen Weltöffentlichkeit sichern würde, verweigern die Wortführer des Islams. Sie fürchten sich vor dem damit wahrscheinlich verbundenen Verlust ihrer politisch-gesellschaftlichen Deutungshoheit, der sie mittelfristig für die Machthaber entbehrlich machen könnte. Bereits im frühen Mittelalter ist scharfsinnigen muslimischen Beobachtern aufgefallen, daß zwischen den Machthabern und den Schariagelehrten eine verhängnisvolle Symbiose besteht, deren religiös-ideologische Grundlage die autoritativen Texte des Islams bilden. Hieraus folgte, daß deren Inhalt keiner sachorientierten Kritik unterzogen werden durfte: Es konnte nicht zugelassen werden, diese Texte an den sich verändernden Verhältnissen der Welt zu messen und dadurch womöglich zu Einschränkungen ihrer Gültigkeit zu gelangen (vgl. in diesem Abschnitt, Text IV). Damit komme ich zum innerislamischen Kontext der Lancierung des Kampfbegriffs „Islamophobie“. Es fällt auf, daß sich westliche Organisationen, die sich der Eindämmung der von ihnen in nichtislamischen Gesellschaften diagnostizierten „Islamophobie“ widmen, um eine Bestimmung des Sachgehalts dieses Wortes bemühen. So werden entweder Meinungen umrissen, die eine „Islamophobie“ ausmachen sollen, z. B. „der Islam sei ge-
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D. Mit Muslimen streiten
walttätig, aggressiv, bedrohlich, den Terrorismus unterstützend und in einen Kulturkampf verstrickt“, oder man definiert Handlungen, die von „Islamophobie“ zeugen, etwa „Anschläge auf Moscheen, islamische Zentren und muslimische Friedhöfe“.2 Von islamischer Seite wurde hingegen, soweit bekannt ist, kein Versuch einer konkreten Bestimmung von „Islamophobie“ unternommen. Das westliche Interesse richtet sich auf juristisch bewertbare Sachverhalte, das islamische auf von Sachverhalten unabhängige Verurteilungen, die ad personam ausgesprochen werden können: NN ist „islamophob“, und wegen dieses „Charaktermangels“ sind seine Aussagen über den Islam unerheblich. Die Stichhaltigkeit einer Aussage vom Charakter des Aussagenden abhängig zu machen, nicht aber von einer vernunftgemäßen Überprüfung ihres Inhalts, ist nun aber seit mehr als 1300 Jahren die in der Schariawissenschaft verfolgte Methode der „Wahrheitsfindung“. Die sehr oft widersprüchlichen Aussagen des Korans und des Hadith, die für ein bestimmtes schariatisches Problem einschlägig sind, werden nicht aufgrund inhaltlicher Kriterien gegeneinander abgewogen, sondern nach Maßgabe eines komplexen Systems von Autoritätsstufen, in die die einzelnen Überlieferungen eingeordnet werden. Ausschlaggebend für diese Einstufung ist der Zuverlässigkeitsgrad der jeweils aufscheinenden Tradenten, der aus einer umfangreichen Literatur zur „Wissenschaft von den Männern“ zu ermitteln ist. Diese „Wissenschaft“, die „Infragestellung (wörtlich: Verletzung) und Zuerkennung der Unbescholtenheit“ der Überlieferer, beruht ausschließlich auf Argumenten ad personam: Der und der ist glaubwürdig; jener ist es nicht, weil man ihm eine Sympathie für die Schia nachsagt; ein Dritter weiß sehr viel, zügelte aber seine Zunge nicht, weshalb man in ihm keinen guten Überlieferer erblicken darf usw. Die „Wissenschaft von den Männern“ ist bis heute ein Kernstück der Ausbildung der Schariagelehrten. Wer in diesem geistigen Milieu beheimatet ist, für den ist die in den autoritativen Texten verbürgte Scharia über jegliche inhaltliche Kritik erhaben, und wer sich zu einer solchen durchringt, der ist ein Opfer seiner Charakterfehler. Der Begriff „Islamophobie“, dessen Inhalt offenbleibt und der daher beliebig eingesetzt werden kann, ist vorzüglich geeignet, den Wortführern des Islams unangenehme Fragen zu ersparen. Im westlichen Denken Beheimatete nehmen, sobald er fällt, den in ihrer Auslegung aufscheinenden pathologischen Aspekt zum Anlaß, den in Bedrängnis geratenden Wortführern des Islams beizuspringen. So wurde im Juni 2008 vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Diskussion über die in der Scharia dekretierte Minderrangigkeit der Frau unterbunden, da die Erörterung des Inhalts reli2 Der in Anmerkung 1 erwähnte Runnymede Trust zählt Meinungen auf; mit Handlungen definiert ein „Forum Against Islamophobia and Racism“ den Gegenstand seiner Besorgnis. Die Zitate sind dem Artikel „Islamophobie“ der Wikipedia entnommen.
II. Islamophobie331
giöser Bestimmungen einen Mißbrauch der Meinungsfreiheit darstelle,3 der in einem solchen Fall auf Rassismus und „Islamophobie“ – beides wird gern miteinander vermischt, worauf ich hier nicht weiter eingehe – hinauslaufe. So dient der Vorwurf der „Islamophobie“ dazu, substantielle Kritik an der Tatsache zu verhindern, daß Allahs und Mohammeds Autorität eben nicht die Würde eines jeden Menschen gewährleistet, sondern allein diejenige des muslimischen Mannes; jegliche Kritik hieran soll mit dem Brandmal des Krankhaften gekennzeichnet werden. Am Schluß erlaube ich mir noch eine Bemerkung von der Warte eines Beobachters aus, der sich seinem freien, pluralistischen Gemeinwesen verpflichtet fühlt: „Die Würde des Menschen (Hervorhebung von mir, T. N.) ist unantastbar“, lautet der Grundsatz, auf dem es beruht. Zur unantastbaren Würde des einzelnen Menschen gehört es, jegliches Gedankengebäude, auf welche Autorität auch immer es sich stützen mag, zu kritisieren, auch heftig zu kritisieren oder unreflektiert abzulehnen. Ich meinerseits muß hinnehmen, daß das Christentum oder die säkulare Staats- und Gesellschaftsordnung in islamischen Publikationen grob verzeichnet oder geschmäht werden. Nicht hingegen darf ich billigen, daß, wie mit der Verwendung des Begriffs „Islamophobie“ beabsichtigt, ein religiös-politisches System, das bedingungslose Anerkennung und kritiklose Unterwerfung fordert, für unantastbar erklärt werden soll. Einen solchen Schutz haben nicht einmal die Verfechter des Marxismus-Leninismus für ihre Ideologie erreichen können.4 3 Näheres unter http://jungle-world.com / artikel / 2008 / 32 / 22381.html. Ein Drittel der in diesem Gremium vertretenen Staaten gehört der „Organisation der islamischen Konferenz“ an. 4 Das von Thorsten Gerald Schneiders herausgegebene Buch „Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen“ (2. Auflage, Wiesbaden 2010) behandelt die ablehnende Haltung, die die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Islam einnimmt, als eine von verbürgten Tatsachen über den Islam und die islamische Welt unabhängige Erscheinung. So schreibt Jürgen Leibold in seinem Beitrag „Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile“ (149–158), die deutsche Bevölkerung lehne „zuwanderungsbedingte Veränderungen“ ab und reagiere auf sie mit wachsender Fremdenfeindlichkeit. „Zugeschriebene Unterschiede“ zu den Einwanderern schlügen sich in einem „Bedrohungsempfinden“ (151) nieder. – Wohlgemerkt: zugeschriebene Unterschiede, nicht: wirkliche, die es offenbar nicht gibt. – So komme es, daß die allgemeine deutsche Fremdenfeindlichkeit um einen spezifischen Aspekt, die Islamophobie, ergänzt werde. Leibold spricht von einer „Ausweitung allgemeiner Fremdenfeindlichkeit auf spezifischere Aspekte, die im Rahmen der Integration Relevanz erlangen können“ (155). Man erführe gerne etwas Konkretes über solche die Eingliederung der Muslime betreffenden Aspekte, aber angesichts der erwähnten Vorfestlegung sucht man danach vergebens. Die Ablehnung des Islams darf keine benennbaren Gründe haben, und so werden die meisten Beiträge durch einen platten denunziatorischen Charakter geprägt. Hier wurde eine Gelegenheit zu einer ergebnisoffenen Diskussion sorglos vertan.
III. Textkritik und Weltverständnis – Motive für die historisch-kritische Analyse heiliger Texte Unveröffentlichter Vortrag, gehalten im Mai 2007 auf einem Symposium des Göttinger Graduiertenkollegs „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“.
„Ziel aller Textkritik im allgemeinen ist die Feststellung des ursprünglichen Wortlautes einer Schrift, die nicht im Original, sondern in unterschiedlichen Kopien vorliegt. Die Textkritik bedient sich des Vergleichs der Kopien (der sogenannten Textzeugen), um fehlerhaft abgeschriebene von fehlerfrei kopierten Stellen (den sogenannten Lesarten) zu unterscheiden.“ Mit diesen Sätzen beginnt der Artikel „Textkritik der Bibel“ im Nachschlagewerk „Religion in Geschichte und Gegenwart“. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Definition von Textkritik nicht auf den Koran bzw. auf den muslimischen Umgang mit dem Koran übertragen werden kann. Dem steht zum einen das Dogma entgegen, der Koran sei Allahs wortwörtliche Rede, fehlerfrei und vollständig durch Mohammed verlautbart und durch dessen Schreiber aufgezeichnet worden. Er sei deswegen von jeglicher Verfälschung frei. Dergleichen lasse sich hingegen in den heiligen Büchern der Schriftbesitzer finden. Zum anderen wirkt die ständige Gegenwart des arabischen Textes im Alltag des Muslims gleich welcher Nation gegen eine kritische Analyse. Denn der Koran, seit dem Untergang der MuÝtazila als Allahs ungeschaffenes, d. h. in schwer auf den Begriff zu bringender Weise mit dem Schöpfer ontologisch gleiches Wort, ist nicht nur, um es modern zu sagen, „Information“. Indem er das göttliche Sein im geschaffenen Sein repräsentiert, ist er vielmehr durch eine übernatürliche Kraft ausgezeichnet. Die Belege für diese Überzeugung sind unüberschaubar zahlreich. Sie reichen von der Postulierung eines überzeitlichen, ewig wahren Sinnes, der losgelöst von jeglicher Geschichte im Diesseits zu verwirklichen sei – dies die Grundthese der Schariagelehrsamkeit – bis zu der magischen Vorstellung, die Laute des Rezitierenden seien Allahs Stimme und ein Eisenstück, in die Form eines Schriftzugs eines Koranzitats geschmiedet, sei nicht mehr nur Eisen.1 Bevor ich mich mit der Frage auseinandersetzen werde, was unter diesen Voraussetzungen Textkritik eigentlich bedeuten kann, möchte ich einige we 1 Tilman
Nagel: Im Offenkundigen das Verborgene, Göttingen 2001, 188.
III. Textkritik und Weltverständnis333
sentliche Linien des christlichen Verständnisses herausarbeiten. Mit dem Wort Gottes bezeichnet man bereits im frühen Christentum nicht etwa nur die Äußerungen Jesu oder diese zusammen mit den Ausführungen der Evangelisten, die diesen Äußerungen einen Ort in der Geschichte des Auftretens Jesu zuweisen. Zwar ist das Wort Gottes in der Schöpfung und in der Geschichte wirksam und in der Person und Botschaft Jesu als Gottes erlösendes Handeln offenbar geworden. Aber es läßt sich nicht mit einem bestimmten Text gleichsetzen, sondern wird kraft einer Vollmacht des Heiligen Geistes durch Menschen verkündet. „Und das Wort des Herrn wuchs und mehrte sich“, heißt es in der Apostelgeschichte (12, 24), nachdem über das Ende des Herodes Agrippa und die wunderbare Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis berichtet worden ist. „Und da sie in die Stadt Salamis kamen, verkündeten sie das Wort Gottes in den Synagogen der Juden“, liest man im Zusammenhang mit der sich anschließenden Missionsreise nach Zypern (13, 5). Als daher Johann Jakob Griesbach im Jahre 1774 den griechischen Text des Neuen Testaments neu herausgab und dabei am bisher kaum in Frage gestellten textus receptus Korrekturen anbrachte, konnte das keine Erschütterung der christlichen Erlösungslehre an sich auslösen. Griesbach verfocht im übrigen die These, der Evangelist Markus habe Matthäus und Lukas benutzt, stellte mithin eine literarische Abhängigkeit unter Texten fest, die – übertragen wir einmal das muslimische Verständnis vom Wort Allahs auf diesen Sachverhalt – ihrem Wesen nach unmittelbar zu Gott hätten sein müssen. Die „synoptische Frage“, das Problem der wechselseitigen Beeinflussung der Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas, hat seitdem die Wissenschaft vom neuen Testament nicht mehr losgelassen. Ihre Ergebnisse brauchen hier nicht erörtert zu werden. Zu unterstreichen ist allein der Umstand, daß die mit großer Energie betriebene Textkritik, die selbstverständlich auch zu Berichtigungen des textus receptus geführt hat, die Fundamente des Christusglaubens nicht antastete. Gottes Wort als Schöpfungswort und Erlösungshandeln ist nicht an einen bestimmten Wortlaut gebunden. Und eben weil dies nicht der Fall ist, ist es auch nicht die Ausgangsbasis einer umfassenden Regelung des irdischen Daseins des Menschen. Der Streit um die deistische Ansicht, Gott habe zwar die Welt geschaffen, habe sich aber nicht als Gesetzgeber geäußert, sondern überlasse das Diesseits dem Menschen zu eigenverantwortlicher Gestaltung, ist bei der Betrachtung der im westeuropäischen Christentum betriebenen Textkritik stets mitzubedenken. Die Erwägungen, die Paulus im Römerbrief über die Legitimität einer nicht an christlichen Maßstäben ausgerichteten Obrigkeit anstellt, haben – selbstverständlich zusammen mit anderen Quellen – eine prägende Wirkung in der christlichen politischen Kultur entfaltet. Die Obrigkeit sorgt für Recht und Ordnung, sie muß als Gegenleistung Steuern und eine allgemeine Loyalität einfordern. Aber ihr steht diese Loyalität
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D. Mit Muslimen streiten
nicht etwa deshalb zu, weil sie die zehn Gebote oder die allgemeine Forderung nach Nächstenliebe in konkrete Gesetze gefaßt hätte. Dies ist gar nicht möglich (Röm 13, 8–10). Das durch Christus in die Welt gekommene Er lösungswort Gottes führt jedoch zu einer allgemeinen Versittlichung des Lebens, das sich im Rahmen der staatlichen Ordnung entfaltet: „Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm 12,2). Eine deistische Wahrnehmung Allahs hat sich demgegenüber nie herausbilden können. In der MuÝtazila, die bis ins frühe 11. Jahrhundert dem islamischen Denken wesentliche Impulse verlieh, ohne es jedoch von dem eingeschlagenen Weg zu einem theonomen Welt- und Menschenverständnis abbringen zu können, war man allerdings davon überzeugt gewesen, daß der mit der Gabe des Verstandes ausgezeichnete Mensch in der Lage sei, aus der Beschaffenheit des Diesseits auf die wesentlichen Bestimmungen des Gesetzes Allahs zu schließen. Der Koran, das Wort Allahs, habe folglich nur die Aufgabe, dem Menschen die Pflicht, derartige Schlüsse zu ziehen und deren Ergebnisse zu befolgen, ins Gedächtnis zu rufen. Im Grundsatz könnte der Mensch in eigener Verantwortung ein Gesetz erarbeiten, dessen Beachtung ihm das Jenseitsglück sichern werde. In muÝtazilitischer Sicht verlor der Koran somit die Funktion eines „Gesetzeswerkes“; er galt als ein von Allah geschaffener2 Text, durch den die Menschen in einer ganz bestimmten geschichtlichen Lage an die vorgenannte Pflicht erinnert werden sollten. Unter solchen Voraussetzungen könnten überlieferte Textvarianten des Korans sowie inhaltliche Widersprüche zwischen dem Vers A und dem zu einem anderen Augenblick geschaffenen Vers B in einem der christlichen Textkritik vergleichbaren Verfahren untersucht werden. Man könnte die Frage aufwerfen, ob Vers A oder Vers B vorzuziehen sei oder ob beide, da jeweils einem besonderen geschichtlichen Kontext zugehörig, ihre Geltung behalten. Das Verschwinden der MuÝtazila hat jedoch dazu geführt, daß derartige Möglichkeiten gar nicht erst erschlossen wurden. Als überzeitliche, ewig wahre Rede Allahs, die seinen Gesetzeswillen nicht nur in den Grundzügen darlegt, sondern auch in vielen handgreiflichen Einzelheiten, erträgt der Koran einen solchen Zugriff nicht mehr. Vielmehr wird die Beschäftigung mit ihm, vor allem mit den in ihm auffindbaren inhaltlichen Widersprüchen, einem strengen Reglement unterworfen, das für jede diesbezügliche Frage eine Scheinantwort bereithält, die eine historisch-kritische Durchleuchtung unterbindet. In einem in der islamischen Welt häufig benutzten Lehrbuch
2 D. h.
tität.
eine dem diesseitigen Sein, nicht dem göttlichen Sein angehörende En-
III. Textkritik und Weltverständnis335
der Schariawissenschaft, geschrieben von MuÎammad al-ËuÃarī,3 wird dem Leser eingeschärft, die koranische Gesetzgebung ziele auf die Verbesserung der Lebensumstände, was durch Gebote und Verbote, durch das „Befehlen des Billigenswerten und das Untersagen des Tadelnswerten“ (Sure 7, 157) geschehe. Hierbei lege sich Allah drei Prinzipien auf: Er vermeide es, die Menschen unnötig in Bedrängnis zu bringen (Sure 7, 157); er halte die Belastung so gering wie möglich (Sure 5, 101); er gehe in der Kundgabe der gesetzlichen Bestimmungen schrittweise vor. Da der Koran nicht alle schariatischen Normen umfaßt, diese vielmehr auch aus der Urgemeinde und ihrem durch Mohammed geprägten Verhalten abzuleiten sind, mithin der Islam der Urgemeinde bereits vollkommen gewesen sein muß, wenn dies gelten soll, könnte die Annahme eines solchen schrittweisen Vorgehens Allahs problematisch sein. Doch ist diese Methode eher mit Blick auf die Spätgeborenen zu verstehen. Denn die Schariawissenschaft behauptet, daß die alten Genossen der Urgemeinde stets spontan, d. h. ohne wortwörtliche Anweisung, das Gesetz Allahs erfüllt hätten. Wichtig ist die These von der allmählichen Darlegung des islamischen Gesetzes immer dann, wenn es darum geht, die innere Stimmigkeit der autoritativen Texte zu verteidigen. Al-ËuÃarī erklärt seine Ansichten, indem er auf das Verbot des Weingenusses verweist. In Sure 2, Vers 219 ist lediglich davon die Rede, daß der Wein so sehr auf dem Sündenkonto des Menschen zu Buche schlage, daß dies den Nutzen, den dieses Getränk auch habe, bei weitem überwiege. Ein Verbot wird an dieser in die frühmedinensische Zeit zurückgehenden Stelle noch nicht ausgesprochen, sondern erst in 90. Vers von Sure 5, die aus der letzten Lebenszeit Mohammeds stammt. Glücksspiel und Weingenuß werden dort als die zwei Leidenschaften gebrandmarkt, mit denen der Satan die Muslime vom Vollzug der Riten abbringt. Dieser späte Vers enthält aber keineswegs einen Widerspruch zum älteren, versichert alËuÃarī. In den meisten Fällen will al-ËuÃarī das Prinzip des schrittweisen Vorgehens als den Wunsch Allahs verstehen, vom Summarischen zu den Einzelheiten vorzudringen. Summarisch sei die Botschaft der mekkanischen Suren, da sie kaum detaillierte Angaben zur Anwendung einer Bestimmung machen. Die medinensischen Offenbarungen enthielten dagegen klare Vorschriften, vor allem auf dem Gebiet der Beziehungen der Menschen untereinander, so daß hier das Quellenmaterial für zahllose schariatische Bewertungen gefunden werden kann. Indem al-ËuÃarī den Blick auf die zu Mohammeds Zeit selbstverständlich noch nicht nachzuweisende Theorie der Schariawissenschaft lenkt, derzufolge aus summarischen Aussagen die Einzelheiten für die alltägliche Praxis hergeleitet werden können, läßt sich die schrittweise Gesetzgebung Allahs mit der bereits gegebenen Existenz 3 T.
Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, 155–166.
336
D. Mit Muslimen streiten
einer islamischen Gesellschaft versöhnen. Die Beweiskraft jedes Koranzitats ist daher gesichert, zumal durch die These von den abrogierenden und abrogierten (arab.: an-nāsiÌ wal-mansūÌ ) Versen des heiligen Buches die einander offensichtlich widersprechenden Aussagen ebenfalls entschärft werden: Wenn es in Sure 8, Vers 65 heißt: „Prophet, treibe die Gläubigen zum Kämpfen an! Wenn unter euch zwanzig ausharren, besiegen sie zweihundert …“, schon im nächsten Vers jedoch eingeräumt wird: „Jetzt aber gewährt Allah euch Erleichterung; er weiß, daß ihr euch schwach fühlt. Wenn unter euch hundert ausharren, besiegen sie zweihundert …“, dann sind die einander widersprechenden Zahlen den je obwaltenden Umständen geschuldet. Dieses Beispiel al-ËuÃarīs ist insofern aufschlußreich, als die historisch-kritische Betrachtungsweise des Korans uns ohnehin nahelegt, an den beiden Aussagen keinen Anstoß zu nehmen, eben weil der Bezug auf unterschiedliche Situationen offenkundig ist. Dem muslimischen Gelehrten jedoch, für den jedes koranische Wort eine überzeitliche Wahrheit enthält, zeigt sich hier ein Problem, das mit dem Postulat gelöst werden muß, Allah habe ausnahmsweise die Lage, in der sich Mohammeds Gemeinde befand, berücksichtigt und mit der zweiten, chronologisch späteren Aussage die erste abrogiert. Al-ËuÃarī lehrt uns den Modus verstehen, in dem muslimische Textkritik in einem Bedeutungsganzen zu erfolgen hat, das als dem Inhalt nach unangreifbar und unübertreffbar wahr gilt. Der Schutz der Wahrheit bzw. des Wahrheitspostulats läßt eine von Vergleichen des Inhalts her argumentierende Textkritik zwar unter der Voraussetzung zu, daß einer der verglichenen Aussagen der Charakter des Endgültigen zuerkannt wird. Aber das bedeutet nicht, daß man grundsätzlich Textstellen mit vergleichbaren Aussagen gegeneinander abwägen und hierdurch beispielsweise auf einen Wandel des Menschenverständnisses des Propheten schließen dürfte. Dies wäre ein grober Verstoß gegen das Dogma der göttlichen Herkunft der koranischen Rede, die, da Allahs Wesen unwandelbar zu sein hat, selber ebenfalls eine einförmige, unveränderliche, sich stets gleich bleibende Gegebenheit sein muß. Nur die in den Handbüchern über die abrogierten Verse aufgeführten Fälle dürfen nach dem von al-ËuÃarī erläuterten Verfahren erörtert werden; und die Ergebnisse stehen seit langem fest. Die Deutungshoheit, die die Schariagelehrten in den Fragen, die die autoritativen Texte betreffen, bis ins ausgehende 10. Jahrhundert errangen, gilt unangefochten und darf nicht durch die eigenständige Texterforschung einzelner Wissenschaftler untergraben werden. Die gesellschaftliche Bedeutung des hier beschriebenen Umgangs mit inhaltlichen Unstimmigkeiten des Korans wird nun erkennbar. Ich kann dieses wichtige Thema hier nicht näher ausführen. Was dank der Auslegungs- oder besser, dank der Darlegungshoheit der Gelehrten vermittelt wird, ist immerhin die Heilsbestimmtheit der Muslime.
III. Textkritik und Weltverständnis337
Diese ist in den krafthaltigen Worten der Rede Allahs gegenwärtig, die sich aber, von ihrer koranischen Gegebenheit aus, auch auf das Hadith erstreckt, die zweite autoritative Textgattung. In ihr tritt in der Regel Mohammed als Redender auf. Die älteste Schicht des Hadith bilden – angeblich oder tatsächlich durch Mohammed empfohlene – Bitt- und Feiungsformeln; sie sollen den Muslim vor den Fallstricken des Satans bewahren. Dank vielfältigen Anleihen bei der Erbauungsliteratur und bei tatsächlichen oder vermeintlichen Erinnerungen an die medinensische Gemeinde gewann in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts neben dem Koran auch das Hadith die Funktion der Vergegenwärtigung der segenspendenden Fülle göttlichen Wirkens. Dies belegen beispielsweise die bis ins frühe 20. Jahrhundert in Kairo bezeugten öffentlichen BuÌārī-Lesungen4, die zur Abwehr von Unheil veranstaltet wurden. Im mündlichen Vortrag des Überlieferungsberechtigten, der auf eine lückenlose Kette von Bürgen bis hinaus zu Mohammed selber verweisen kann, die alle ihrerseits ebenfalls in mündlichem Vortrag die betreffende Aussage empfingen, wird die Rede des Propheten in all ihrer übernatürlichen Wirkung zur Geltung gebracht. Diese die gesamte islamische Kultur prägende Vorstellung hat eine Art von Textkritik hervorgebracht, die der christlichen gänzlich fremd ist. Ein Blick in die um 1300 verfaßte Mohammedbiographie des Ibn Saijid an-Nās soll sie uns veranschaulichen. Den Stoff entnimmt der Autor dem frühen Standardwerk des Ibn IsÎāq in der in der ganzen islamischen Welt verbreiteten Überarbeitung durch Ibn Hišām (gest. 834). Nun könnte man meinen, der durch Ibn Hišām von allem Anstößigen gereinigte5 Text Ibn IsÎāqs sei, von muslimischer oder zumindest von sunnitischer Warte aus betrachtet, ganz und gar unverfänglich; denn wie anders wäre zu verstehen, daß das Buch jene Hochschätzung gewinnen konnte, wie sie aus den zahllosen Zitaten im arabischen Schrifttum spricht? Das ist aber keineswegs der Fall. Ibn Saijid an-Nās schreibt zwar in seiner Einführung, daß der weitaus größte Teil des Stoffes, den er darlegen wird, auf Ibn IsÎāq zurückgeht; auch andere, die sich mit der sīra (der Prophetenvita) befaßten, hätten sich auf diese Quelle vor allen übrigen zu stützen. Allerdings finde man bei Ibn IsÎāq Nachrichten, in deren Überliefererkette der Prophetengefährte fehlt, der der erste und wichtigste Bürge zu sein hätte. Solche Nachrichten, im Fachjargon mursal genannt, etwa „frei weitergegeben“, enthalten Aussagen über Mohammed, benennen aber als Zeugen nur Angehörige jener Generation, die selber den Propheten nicht mehr gesehen hat. Ibn Saijid 4 Al-BuÌārīs (gest. 870) Hadithsammlung genießt im Sunnitentum das höchste Ansehen. 5 Dieses Verdienst nimmt Ibn Hišām im Vorwort seines Werkes für sich in Anspruch.
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D. Mit Muslimen streiten
an-Nās fällt es nicht sonderlich schwer, viele dieser nach seinem Maßstab unzureichend verbürgten Überlieferungen in anderen Quellen aufzuspüren. Dort sind sie nicht mit jenem Makel behaftet, vielmehr ist ein Prophetengenosse als ältester Bürge eingeschoben worden. In diesen Fällen ersetzt Ibn Saijid an-Nās die unvollständig verbürgte Fassung durch diejenige mit der vollständigen Tradentenkette. Hierfür ein Beispiel: Ibn IsÎāq erzählt, zunächst ohne jeden Gewährsmann, daß die Quraišiten vergeblich versuchten, den Negus zur Auslieferung der mekkanischen Flüchtlinge zu bewegen, denen er Asyl gewährt hatte. Sobald die mekkanischen Gesandten mit der ungünstigen Botschaft heimgekehrt waren, versetzte der Übertritt ÝUmars zum Islam den heidnischen Quraišiten einen weiteren Schlag. Bereits al-BakkāÞī (gest. ca. 798)6 schaltet hier ein Hadith ein, das die Bedeutung des Bekenntnisses ÝUmars zum Islam hervorhebt. Ibn IsÎāq fährt in der Erzählung fort, indem er eine Asylantin zu Wort kommen läßt, die die Meinung äußert, schon bei der Abreise der Flüchtlinge habe man Anzeichen für einen Gesinnungswandel ÝUmars erkennen können. Dann folgt, wiederum ohne Gewährsmännerkette, die berühmte Szene, in der ÝUmar, mit dem Schwert umgürtet, überraschend das Haus seiner insgeheim zum Islam konvertierten Schwester betritt und sie und einige andere Muslime dabei erwischt, wie sie in das Studium von Sure 20 vertieft sind. Nachdem seine Wut verraucht ist, greift er selber nach dem Text, fühlt sich von den Worten überwältigt und läßt sich vor den Propheten führen, um in dessen Gegenwart sein Bekenntnis zum Islam abzulegen. – Ibn Saijid an-Nās ersetzt, wie er im Vorwort verspricht, den unverbürgten Text Ibn IsÎāqs durch einen anderen, dessen zwei in allen Einzelheiten explizierte Tradentenketten bei ÝĀÞiša, der Tochter Abū Bakrs, und bei Aslam, einem Freigelassenen ÝUmars, enden: ÝUmar wird von einem Quraišiten auf das seltsame Treiben im Hause seiner Schwester aufmerksam gemacht, eilt erzürnt dorthin, bekommt den Surentext zu fassen, findet sich von den Worten wie benommen, bekehrt sich kurz darauf bei Mohammed zum Islam, verkündet seinen Übertritt in der Öffentlichkeit und sieht sich nun selber Peinigungen ausgesetzt.7 Ibn Saijid an-Nās möchte dem Text Ibn IsÎāqs mehr „Authentizität“ verschaffen, mehr Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, als sie den Texten, die jener vor mehr als einem halben Jahrtausend zusammengetragen hatte, abzugewinnen ist, kurz, er möchte dem Werk Ibn IsÎāqs eine Eigenschaft 6 Zijād b. ÝAbdallāh b. aÔ-Óufail, ein Bearbeiter und Überlieferer der Schriften Ibn IsÎāqs. 7 Ibn Hišām: As-sīra an-nabawīja, Kairo 1936, I, 366–372. Ibn Saijid an-Nās: ÝUjūn al-a×ar fī funūn al-maġāzī waš-šamāÞil was-sijar, 3. Auflage, Beirut 1982, I, 151–157.
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verleihen, die zu dessen Zeit, in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, noch gar nicht als ein Kriterium für Berichte über Mohammed und die Anfänge des Islams angesehen wurde. Die Literaturgattung des Hadith, das Medium der Vergegenwärtigung des Wirkens des Propheten, war damals erst im Entstehen begriffen. Man begann, auf die Vollständigkeit einer Überliefererkette achtzugeben, und man stellte die Vollständigkeit nachträglich her, indem man Prophetengefährten, oft auch noch deren Söhne, in die Zeitlücke einfügte, die zwischen Mohammed und der Epoche der Fixierung der Texte klaffte. Diese Epoche setzte – von wenigen älteren Ausnahmen abgesehen – etwa um 680 ein. Ibn Saijid an-Nās, in der Selbstbezüglichkeit des ihn tagaus tagein beschäftigenden Gedankenguts befangen, vermag daher in der Beschaffenheit der sīra nichts anderes als die ärgerliche Spur schwer verzeihlicher Nachlässigkeiten Ibn IsÎāqs zu erkennen. Schon die Überlieferungsgelehrten, die nur eine oder zwei Generationen nach Ibn IsÎāq lebten, hatten gegen ihn derartige Vorwürfe erhoben. Gleichsam selbstverständlich befaßten bereits sie sich mit dem „fertigen“ Hadith und betrachteten es als das Medium des Fortlebens der Rechtleitung, die Mohammed nicht nur für seine Zeit, die Jahre der Urgemeinde, sondern für immer und ewig übermittelt habe.8 Wir beobachten am Beispiel Ibn Saijid an-Nās’ ein Streben nach der Sicherheit der Verbürgung der Worte, das sich aus der Vorstellung erklärt, Worte seien nicht etwa nur Träger von Nachrichten, von Information, sondern vielmehr Vermittler einer heilswichtigen Wirklichkeit, die in Mohammeds Zeit durch Allah gestiftet wurde und die in ihrer Eigenschaft als Heilswirklichkeit in die Gegenwart des diese Worte Aufnehmenden hinein zur Geltung gebracht werden kann. Dieser für den modernen Europäer schwer nachzuvollziehende Grundsatz rechtfertigt seit dem frühen 9. Jahrhundert die Anstrengungen der Schariagelehrten, unter Nutzung von Koran und Hadith die Gesellschaft durch und durch zu islamisieren, d. h. eine Wirklichkeit zu konstruieren, die mit der von den genannten Quellen gezeichneten zur Deckung kommt und daher im Hinblick auf ihren Heilscharakter die medinensische Urgemeinde nicht nur nachahmt, sondern im wahrsten Sinne die zeitlose Fortsetzung dieser Urgemeinde darstellt. Al-Ġazālī (gest. 1111) – um nur ihn zu nennen – gehörte zu den muslimischen Denkern, die erkannten, daß diese Verlängerung des medinensischen Heilszustandes mittels autoritativer Texte eine Illusion war. Das Wissen von diesem Heilszustand, das die Schariagelehrten für sich behaupteten, und ihr Handeln, ihre Lebenswirklichkeit mithin, standen in einem 8 Vgl. meinen Vortrag „Verstehen oder nachahmen? Grundtypen der muslimischen Erinnerung an Mohammed“, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2006, 73–94.
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unüberbrückbaren Gegensatz zueinander. Das „Wissen“ bedeutete eine Vergewaltigung der Lebenswirklichkeit; es konnte nicht mehr ohne Unredlichkeit auf diese bezogen werden. Von der Lebenswirklichkeit her unter Berufung auf allgemein ethische Maximen und auf innerweltliche Gegebenheiten den Koran und das Hadith neu zu interpretieren, galt aber als unzulässig. Al-Ġazālī wies, um der Aporie zu entgehen, auf den Kern der koranischen Heilsbotschaft hin, nämlich daß Allahs Lenken der Schöpfung zum einen im Lauf der Dinge des Diesseits zu erkennen sei, zum anderen im Wort, das Mohammed verkündete. Verstehe man den Islam richtig, könne zwischen dem Diesseits bzw. der Wirklichkeit der Welt und der Rede Allahs gar kein Widerspruch herrschen. Der trotzdem diagnostizierte Widerspruch löse sich auf, sobald man im uneingeschränkten Gottvertrauen die Welt ernstnehme und sich entschließe, sehr wohl von ihr her den Blick auf den Koran und das Hadith zu richten. Der von den Gesetzesgelehrten hiergegen erhobene Einwand, die Welt verfüge über keine in ihr selber angelegte Kontinuität, sei richtig; aber der Schluß, den sie hieraus zögen, nämlich daß man aus der ganz und gar von Allahs Willen abhängigen und daher durch den Menschen nicht ausrechenbaren Welt keine Erkenntnis des göttlichen Gesetzeswillens herleiten könne, sei falsch. Er zeuge von mangelndem Gottvertrauen. Es treffe zu, daß die Kausalbeziehung zwischen Aussaat und Ernte allein von Allah hergestellt werde und daher eine Aussaat jederzeit auch ohne Ernte bleiben könne, aber wer auf Allah vertraue, der wisse, daß das gewöhnlich nicht der Fall sei. Die Kohärenz zwischen Koran und Hadith auf der einen und der Wirklichkeit auf der anderen Seite müsse daher immer die sich wandelnden irdischen Gegebenheiten berücksichtigen. AlĠazālīs monumentales Werk mit dem bezeichnenden Titel „Die Belebung der Wissenschaften vom praktizierten Glauben“ ist ganz dieser Erkenntnis verpflichtet und unternimmt es, sie gegen die Textgläubigkeit seiner Gegner durchzufechten.9 Die Rezeption dieses Werkes in der islamischen Welt ist bezeichnend für ein Denken, das die Wirklichkeit vorwiegend oder gar allein im überlieferten autoritativen Wort zu finden hofft. Die ungeheuerliche Herausforderung, die in al-Ġazālīs Denken lag, erkannte man wohl. Aber man erörterte nicht seine Thesen, sondern machte sein Werk auf dem Umweg über eine Kritik der darin zitierten Hadithe schlecht. Sie seien vielfach nicht de lege artis zitiert, wiesen als schwach eingestufte Tradenten auf usw., kurz, unter den Formalien der Textwissenschaft begrub man den „revolutionären“ Inhalt, und auch seine Verteidiger sahen es für ratsam an, nicht auf diesen Inhalt einzugehen, sondern ihrerseits die formalen Einwände der Textgelehrten zu entkräften. 9 Dies habe ich erläutert in meinem Aufsatz „Der Textbezüglichkeit entrinnen? Al-Ġazālīs Erneuerung der Lehre vom tauÎīd“, in: Der Islam 83 / 2007, 414–448.
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So wurde der Impuls, der von al-Ġazālī hätte ausgehen können, abgefangen. Wegen der Betonung des Gottvertrauens beruhigte man sich bei der Ansicht, al-Ġazālī habe die sunnitische Gesetzesgelehrsamkeit mit der vertieften Frömmigkeit des Sufismus versöhnen wollen. Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Koran und Hadith nicht wieder im grundsätzlichen aufgeworfen. Es war klar: Ein eigenständiges Auslegen des Korans nach Maßgabe der Wirklichkeit durfte es nicht geben. Die durch die Prophetengenossen verbürgte Denkweise der medinensichen Urgemeinde war der Filter, den jede Annäherung an den Inhalt der von Mohammed verkündeten Botschaft Allahs zu passieren hatte. Genauer: das, was man unter wechselnden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen jeweils für die ewig gültigen Maximen der Urgemeinde ausgab. Denn dem Inhalte nach waren die als zuverlässig geltenden Überlieferungen und Koranauslegungen durchaus unterschiedlich und widersprüchlich. Eine neutrale Instanz der Beurteilung gab und gibt es nicht. So streitet man am Ende stets um die Glaubwürdigkeit einzelner Tradenten, ein Thema, über das schon im ausgehenden 7. Jahrhundert keinerlei Eintracht erzielt werden konnte. Wenn aber Sachargumente letztlich allenfalls zweitrangig sind, dann stehen der intellektuellen Unredlichkeit Tür und Tor offen: Daß in einem bestimmten Fall die und die autoritativen Texte gelten sollen und nicht diejenigen anderen Inhalts, das bleibt eine willkürliche Behauptung, denn jede Seite vermag aus der unüberschaubar weiten Literatur über die Wege der Verbürgung und über die Zuverlässigkeit der Tradenten leicht die für sie günstigen „Belege“ herauszufischen. Dem ägyptischen Gelehrten Amīn al-Ëūlī (1885–1966) war es vorbehalten, aus diesem verhängnisvollen geistigen Laufrad auszubrechen und eine Methode der „Interpretation des Korans mit sich selber“ zu fordern, mithin die drängenden Probleme der Gegenwart unter dem Eindruck einer erneuerten und vom Überlieferten unabhängigen eigenständigen Koranlektüre zu reflektieren. Von einer historisch-kritischen Untersuchung des Korans, die ja nach der Einsicht in den Entwicklungsgang des Denkens Mohammeds und in dessen geschichtliche Begleitumstände forscht, ist auch al-Ëūlī noch weit entfernt. Aber es schlägt sich hierin eine kritische Anfrage an den islamischen Offenbarungstext nieder, ausgelöst durch das Erleben der scheinbar übermächtigen nicht vom Islam getragenen westlichen Zivilisation. Al-Ëūlīs Schülerin und Lebensgefährtin ÝĀÞiša ÝAbd ar-RaÎmān widmete ihm ein 1969 gedrucktes Buch mit dem Titel „Abhandlung über den Menschen“. Es handelt sich um eine koranische Studie, in der sie die obige Methode für ein Kernthema des zeitgenössischen Islams fruchtbar macht, nämlich für die Frage nach der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen in bzw. gegenüber der von Allah in Gang gehaltenen Welt. In Sure 2, Vers 31 bis 39 weist Allah die Einwände, die die Engel gegen die Schaffung des
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Menschen erheben, damit zurück, daß er Adam das Wissen von allen Dingen eingibt, ein Wissen, das dasjenige der Engel bei weitem übertrifft. Diese wissen nur, was Allah ihnen eingibt, wie sie kleinlaut einräumen. Für den Menschen gilt das gleiche, die Namen aller Dinge kennt er allein dank der Belehrung durch Allah, und Wissen ist nach dem Konzept der islamischen Textwissenschaft ebenfalls das durch Überlieferung verbürgte, dessen Inhalt ja nicht durch den Verstand und die von ihm geleitete Analyse der Welt gewonnen wird. ÝĀÞiša ÝAbd ar-RaÎmān aber gelangt, indem sie die zahlreichen koranischen Stellen erörtert, an denen die Engel zur Niederwerfung vor Adam genötigt werden, zu dem Schluß, dies erkläre sich hiermit, daß Adams Wissen, anders als das der Engel, eben nicht durch Allah vorgegeben sei, sondern sich der dem Menschen eigenen Fähigkeit zum selbständigen Kenntniserwerb verdanke. Allein um dieser Fähigkeit willen habe Allah ihn zum Stellvertreter in seiner Schöpfung bestellt, wie es ebenfalls in Sure 2 heißt (33–41).10 Motive für die kritische Analyse heiliger Texte beschäftigten uns in diesen Überlegungen, genauer: muslimische Motive hierfür. Wie erörtert, steht der ganze Themenkomplex – anders als im Christentum – unter dem Gebot, in allen Einzelheiten die Urgemeinde nachzuahmen, um auf diese Weise die Anwartschaft auf das Paradies zu sichern. Die Normen, gemäß denen dies erfolgt, sind nach muslimischer Vorstellung von Allah gestiftet und daher jeglichem Urteil des Menschen entzogen. Eine historisch-kritische Betrachtung der autoritativen Quellen wird daher als ein unmittelbarer Angriff auf die Heilsbestimmtheit des Muslims gewertet. Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, daß die Rede Allahs und die mittelbar durch ihn bestimmten Äußerungen Mohammeds in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden, das eine also nicht ohne das andere studiert werden darf. Die Worte, die diesen Gesamtzusammenhang ausdrücken, sind darüber hinaus seinsmäßig nicht mit den Worten gewöhnlicher Menschen vergleichbar, sondern repräsentieren – wie auch immer dies auszulegen sein mag – die Immanenz des Göttlichen. Al-Ġazālī erkannte, daß diesen religiösen und metaphysischen Lehren das Moment der Vergewaltigung der Wirklichkeit innewohnt. Sein Einspruch wurde jedoch entschärft. Und Amīn al-Ëūlī, dessen Methode der Interpretation des Korans mit sich selbst vor einem halben Jahrhundert ein Ausbrechen der muslimischen Gelehrsamkeit aus dem Käfig der Wirklichkeitsfeindschaft anzukündigen schien, unterliegt längst dem Bannfluch der in den letzten Jahrzehnten erstarkten Textgelehrsamkeit. „Die Erneuerung beginnt mit einer vernichtenden Befragung der Vergangenheit“, hatte er erklärt. Mit Sorge enthüllt eine 2005 in Kairo veröffentlichte Studie in seinen Thesen „säkulare“, also nicht von der Fiktion der ewigwährenden Ur10 Maqāl
fī l-insān. Dirāsa qurÞānīja, Kairo 1969.
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gemeinde bestimmte Wurzeln: Al-Ëūlī erkläre sich für den Vorrang des Verstandes vor dem Überlieferten, spreche sich für ein analysierbares kausales Zusammenwirken des Geschaffenen aus und gestehe dem Diesseits dadurch Unabhängigkeit gegenüber dem Schöpfer zu, er kritisiere die Verknüpfung von Religion und Politik, er verlange eine Deutung der heiligen Texte unter vorrangiger Berücksichtigung der Zeitumstände ihrer Entstehung! Aber dies alles sei doch gut islamisch, atmet der Verfasser der Studie auf; dies alles seien die Begleiterscheinungen, die die Säkularisierung in Europa habe hervorbringen müssen, indem sie ihr eigentliches Ziel, die Beseitigung der Priesterherrschaft, angesteuert habe. Da es im Islam nie eine Priesterherrschaft gegeben habe, sei der Islam in Wahrheit stets säkular gewesen!11 Eigentlich hat al-Ëūlī also nur offene Türen eingerannt. Weshalb haben er und einige seiner Schüler zu ihren Lebzeiten dann so scharfen, sich bis zu Unruhen steigernden Widerspruch erfahren? Das bleibt rätselhaft, wenn man den Begriff der Säkularität so sehr verfremdet, daß der Inhalt, zu dessen Verdeutlichung er geschaffen wurde, nicht mehr erkennbar ist.12 Der Rückschritt, den das islamische Denken seit al-Ëūlī vollzogen hat, kommt uns schlagartig zu Bewußtsein.
11 AÎ mad MuÎ ammad Sālim: al-ÉuÆūr al-Ýalmānīja fī l-fikr at-taºdīdī Ýinda Amīn al-Ëūlī, Kairo 2005. 12 Vgl. meinen Aufsatz „Die Furcht vor dem Ungewissen. Muslime und die Säkularisierung“, in: Notger Slenczka (Hg.): Beiheft 2013 zur Berliner Theologischen Zeitschrift, 73–95.
IV. Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz: Ein thematischer Überblick Dieses bisher nicht in gedruckter Fassung veröffentlichte Papier wurde der Arbeitsgruppe 1 („Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“) der ersten Deutschen Islamkonferenz Ende 2007 vorgelegt.
Der Vertreter des Koordinierungsrates der Muslime (KRM)1 hat auf der Fünften Sitzung der Arbeitsgruppe 1 (17. Juli 2007) der Islamkonferenz beteuert, daß seine Organisation fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehe; er stimmte im übrigen der Formulierung zu, daß die „Werteordnung der Verfassung“ der Maßstab für die Lösung der bei der Integration auftauchenden Fragen sein müsse. Ich setze voraus, daß die Vertreter der im KRM zusammenarbeitenden Verbände sich diese Beteuerung zueigen gemacht haben, und zwar auch im Namen ihrer jeweiligen Mitglieder. Was die Orientierung an der Werteordnung der Verfassung meint, hat Frau Kollegin Langenfeld in ihrem Vortrag „Einführung in das Staats- und Freiheitsverständnis des Grundgesetzes“ vom 16. November 2006, der den Mitgliedern der AG 1 vorliegt, resümiert sowie in einem in der FAZ vom 15. November 2007 unter dem Titel „Formale Treue zur Verfassung genügt nicht“ veröffentlichten Artikel mit Rücksicht auf die zu bearbeitenden Konfliktfelder verdeutlicht. Hierauf beziehe ich mich in meinen folgenden Ausführungen. Es ist unumstritten, daß zahlreiche Aussagen des Korans, der nach sunnitischer und schiitischer Glaubenslehre Allahs wortwörtliche und übergeschichtlich gültige Rede und als solche die oberste Lebens- und Gesetzesnorm ist, sowie umfangreiche Passagen des „gesunden“ Hadith, dessen Inhalt nächst dem Koran als verpflichtendes Vorbild gilt, diametral den Normen und Werten einer pluralistischen, freiheitlichen Verfassung widersprechen (vgl. die unten angefügte Liste, die die wichtigsten Themenbereiche und das einschlägige Quellenmaterial namhaft macht, ohne im entferntesten den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben). Ebenso unumstritten ist, daß der Koran und das Hadith im Gemeindeleben wie im häuslichen Milieu der sich an die Scharia gebunden fühlenden Muslime eine die Mentalität und Weltanschauung prägende Rolle innehaben. Koranrezitationen stehen auf Tonträ1 Ein Zusammenschluß von vier muslimischen Interessenverbänden, dominiert von dem durch die türkische Regierung kontrollierten Verband DITIB.
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gern zur Verfügung, sie begleiten den Ritenvollzug; den Koran auswendig zu kennen, wird als ein Zeichen löblicher Glaubensfestigkeit verstanden usw. In gleicher Weise ist das Prophetenhadith ein wesentliches Element der Formung und Deutung des Alltags. Für die zahlreichen säkularisierten Muslime steht außer Frage, daß den in diesen Texten enthaltenen die Weltanschauung und den Lebensvollzug bestimmenden Aussagen kein verpflichtender Charakter eignet. Die im KRM zusammengeschlossenen Interessenverbände2 vertreten jedoch nach eigenem Bekunden Muslime, die die auf dem Koran und dem Hadith basierende Scharia als die einzig wahre und letzten Endes ausschlaggebende Lebensnorm betrachten. Somit wird die Frage unabweisbar, ob und inwieweit die erwähnten Verbände bzw. ihre führenden Persönlichkeiten ihrer Beteuerung gemäß im Kreise ihrer Mitglieder und auch allgemein unter den sich an die Scharia gebunden fühlenden Muslimen in Deutschland auf die Verbreitung der Einsicht hinwirken, daß die im folgenden angeführten Abschnitte sowie sinnverwandte Passagen des Korans und des Hadith keine überzeitlich wahren und ewiggültigen Aussagen sind, sondern Vorstellungen propagieren, über die die weltanschauliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung der Menschheit hinausgelangt ist. Mit anderen Worten: Wie vermitteln die den Verbänden angehörenden Imame und Moscheeprediger ihren Zuhörern, daß sich weite Teile der autoritativen Texte des Islams lediglich auf die unwiederbringlich vergangene Lebenswelt Arabiens im frühen 7. Jahrhundert beziehen und für die Verhältnisse im gegenwärtigen Deutschland keinerlei normative Kraft besitzen? Welche Anstrengungen unternehmen die genannten Verbände, um sowohl in der in ihrer Verantwortung betriebenen religiösen Unterweisung („Koranschulen“) als auch bei der Ausarbeitung von Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht ihren Einfluß zur Förderung der erwähnten Einsicht geltend zu machen? Oder, um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wie verdeutlichen die Verantwortlichen einem muslimischen Schüler, dem beim vielfach wiederholten Lesen und Rezitieren des Korans immer aufs neue ins Gedächtnis gerufen wird, die Andersgläubigen seien „törichter als das Vieh“ (vgl. unten, 1. Herabwürdigung …), daß diese Aussage der „Rede Allahs“ im Hinblick auf die freiheitlich-pluralistische Gesellschaft Deutschlands nicht nur keine Wahrheit, sondern sogar eine mit Sanktionen bedrohte Verleumdung Andersdenkender darstellt?3 2 Bedauerlicherweise stellen die genannten Verbände keine Angaben über ihre Mitgliederzahl zur Verfügung, so daß unklar bleibt, welchen Anteil an der muslimischen Bevölkerung in Deutschland sie repräsentieren. Es ist zu hoffen, daß die erste Teilstudie des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge initiierten Projekts „Muslime in Deutschland“ diesbezüglich gesicherte Erkenntnisse erbringt. 3 Die auf der siebten Sitzung der Arbeitsgruppe „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ am 5. Dezember 2007 vorgestellte Studie „Integration und
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Daß die Historisierung der heiligen Texte des Islams nicht nur möglich, sondern sogar unerläßlich ist, hat Herr Kollege Özsoy in seinem Vortrag vom 9. Oktober 2007 vor dieser Arbeitsgruppe unterstrichen. Er steht mit dieser Ansicht keineswegs allein da. So legte Prof. Dr. Mehmet Said Hatipoğlu (Ankara) auf einem Symposium dar, das der „Club deutsch-türkischer Akademiker“ am 27. Juni 2005 in Göttingen veranstaltete, daß die Stellen des Korans, die sich auf die Ethik, das Gottesverständnis und die Riten bezögen, während der 23 Jahre des Wirkens Mohammeds in ihrem Inhalt stets gleich geblieben seien, wohingegen man in lebenspraktischen Fragen durchaus unterschiedliche Lösungen für ein und dasselbe Problem finde; hieraus sei der Schluß zu ziehen, daß diesbezügliche Aussagen des Korans keineswegs ewig gültig seien. Er schließt seinen Vortrag mit dem Aufruf, die Muslime sollten sich endlich an die schwierige Aufgabe heranwagen, den Unterschied zwischen dem, was absolut zu gelten habe, und dem, was verändert werden könne, auf den Begriff zu bringen. Prof. Dr. İlhami Güler (ebenfalls Ankara) wies in seinem sehr ausführlichen Referat darauf hin, daß Allah „sich im Koran in wörtlicher Sprache nur an diejenigen Menschen“ wandte, „die in der Zeit der Herabsendung und in ihrem geographischen Raum lebten“; der Koran sei kein abstrakt-theoretischer Text, der für abstrakte Angeredete bestimmt sei, sondern sei im Dialog mit der damaligen arabischen Gesellschaft entstanden. So habe es das Freitagsgebet bereits als eine von Mohammed und seinen Anhängern geübte Praxis gegeben, die erst nachträglich das Placet des Höchsten erhalten habe. Güler will mit diesem und weiteren Beispielen sagen, daß die Rechtssetzung, in diesem Falle sogar auf dem Gebiet der Riten, unter Mitwirkung der Menschen erfolgte. Daß man der Scharia einen unveränderlichen Charakter zuschrieb, wirkte sich, so Güler, verhängnisvoll aus: Die westlichen Gesellschaften konnten den Schritt in die Moderne tun, die islamische Gesellschaft, zumal diejenige des Osmanischen Reiches, war dazu nicht in der Lage (mit Bezug auf die arabische Welt vgl. den Aufsatz von Fakhri Saleh: Freidenker leben gefährlich, in: Internationale Politik, September 2007). Doch nun zu den einzelnen Themen!
Integrationsbarrieren von Muslimen in Deutschland“ hat an mehreren Punkten gezeigt, wie dringlich es ist, gerade die muslimische Jugend in Deutschland über die durch das Grundgesetz begrenzte Reichweite der Autorität von Koran und Hadith aufzuklären. Ferner ist ihr zu vermitteln, daß der „Werteordnung der Verfassung“ grundsätzlich der Vorrang zukommt, nicht etwa nur vorübergehend bzw. aus taktischen Erwägungen.
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1. Die allgemeine Herabwürdigung und Verächtlichmachung Andersgläubiger und Glaubensloser „Welch ein übles Beispiel geben die Leute ab, die unsere (d. h. Allahs) Zeichen für Lüge erklären und (damit) wider sich selber unrecht handeln! Wen Allah auf den rechten Weg führt, der geht diesen rechten Weg, und wen er in die Irre führt, der zählt zu den Verlierern. Für die Hölle haben wir viele Dschinnen und Menschen geschaffen – sie haben Herzen, mit denen sie nicht begreifen, Augen, mit denen sie nichts sehen, Ohren, mit denen sie nicht hören. Sie sind wie das Vieh, ja, sie gehen noch mehr in die irre, sie geben nicht (auf Allahs Zeichen) acht“ (Sure 7, 177–179; vgl. auch 4. Austritt aus dem Islam). Diesen Versen ist Sure 25, Vers 44 an die Seite zu stellen (wer nicht auf die von Mohammed verkündete Botschaft hört, ist stumpfsinniger als das Vieh), desweiteren Sure 2, Vers 171 (die Ungläubigen verhalten sich wie Vieh, das man vergeblich anbrüllt, sie haben keinen Verstand, vgl. auch Sure 2, 18, Sure 6, 39 und Sure 17, 96–99). In Sure 8, Vers 20 bis 23 werden die „Gläubigen“ aufgefordert, Allah und seinem Gesandten zu gehorchen; sie werden eindringlich davor gewarnt, sich von letzterem abzuwenden oder ihm zwar zu versichern: „Wir hörten!“ doch in Wahrheit nicht auf ihn zu hören: „Als die schlimmsten Wesen (wörtlich: Tiere) betrachtet Allah diejenigen, die taub und stumm sind und die keinen Verstand haben. Wüßte Allah, daß es in ihnen etwas Gutes gäbe, dann hätte er ihnen die Fähigkeit des Hörens verliehen. Aber selbst wenn er dies getan hätte, hätten sie ihm den Rücken zugekehrt!“ Ein erneuter Appell, Allah und seinem Gesandten zu gehorchen, schließt sich an. Wer Mohammeds Verkündigungen zurückweist, verfügt laut Koran nicht über das, was den Menschen zum Menschen macht, den Verstand. Er ist ein Stück Vieh, und da Allah ihm, obzwar ein Mensch, die Gabe des Verstandes vorenthalten hat, ist er der Hölle verfallen. Vielgelesene Korankommentatoren – ich zitiere als Beispiele aÔ-Óabarī (10. Jahrhundert) zu Sure 7, Vers 179 sowie Saijid QuÔb (20. Jahrhundert) – verdeutlichen diesen Gedankengang: Das Vieh ist, da ihm der Verstand, die Befähigung zur Wahl zwischen „richtig“ und „falsch“ gemäß der koranischen Botschaft, ohnehin nicht zugedacht ist, zu einer solchen Wahl auch nicht aufgerufen; deswegen muß man sagen, daß ein Mensch, nachdem er die „Zeichen Allahs“ zur Kenntnis genommen, aber nicht zur Richtschnur erhoben hat, noch mehr in die Irre geht als das Vieh. Eine schrecklichere Diskriminierung Andersdenkender (vgl. Langenfeld, Punkt 12) ist schwerlich vorstellbar. Die in diesen Passagen des Korans zutage tretende Gesinnung ist geeignet, immer aufs neue das Verhältnis zwischen den Muslimen und anderen Menschen zu vergiften.
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2. Die Geringschätzung von Normen und Werten, die nicht auf der Botschaft des Korans, sondern auf eigenverantwortlichem Gebrauch des Verstandes beruhen Als es die Engel schon gab, schuf Allah die Dschinnen aus Feuer, danach den Menschen aus feuchtem Ton. Sobald er dem geformten Ton etwas von seinem, dem göttlichen Geist eingehaucht haben werde, sollten sich alle Engel vor dem neugeschaffenen Wesen in Verehrung niederwerfen, befahl Allah. Bis auf Iblis (d. i. diabolos) gehorchten die Engel. Von Allah zur Rede gestellt, rechtfertigte sich Iblis mit einem Analogieschluß: Selber aus Feuer gebildet, könne er sich unmöglich vor einem aus unedlem Ton geformten Wesen niederwerfen. Allah verwies Iblis aus seiner Gegenwart. Der Verstoßene erwirkte jedoch Allahs Zustimmung, solange das Diesseits bestehe, die Menschen in die Irre leiten zu dürfen. Allah schränkte diese Erlaubnis allerdings ein; nur bei denjenigen werde Iblis etwas ausrichten, die sich nicht als Allahs Diener verstünden (Sure 15, 26–47). „Richtig“ im Sinne des Jenseitsheils handelt nur derjenige, der ohne eigenes Nachdenken den Anweisungen Allahs Folge leistet, mögen sie in einem gegebenen Fall auch auf die schlimmste Verfehlung, nämlich auf die verehrende Niederwerfung vor einem geschaffenen Wesen, hinauslaufen. Aus innerweltlichen Gegebenheiten hatte Iblis geschlossen, er müsse dem Ansinnen Allahs zuwiderhandeln – und ging mit dieser Schlußfolgerung in die Irre. Iblis bot damit ein Beispiel für das Verfehlen des unter Punkt 1 beschriebenen allein zulässigen Einsatzes des Verstandes, nämlich zur Gewährleistung des Gehorsams gegen Allah (vgl. Abschnitt A., Text II und III). Wissen (arab.: al-Ý ilm) im eigentlichen Sinn kommt daher einzig durch die Belehrung durch Allah zustande (vgl. Sure 2, 33), und die Aufgabe des Verstandes (arab.: al-Ý aql) besteht in nichts anderem als im Festhalten und Befolgen dieses Wissens. Allah, so heißt es in einem Text des 8. Jahrhunderts, sprach zu dem von ihm geschaffenen Verstand: „Wende dich ab!“ und er gehorchte, „wende dich zu mir!“ und er gehorchte wiederum (zitiert in Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, I, 191). Alles, was nicht auf die Belehrung durch Allah zurückgeht, ist kein Wissen, sondern allenfalls eine selbstverantwortete und somit anstößige Ansicht (arab.: ar-raÞ j), wie man in der im 8. Jahrhundert entbrennenden Diskussion, ob das islamisches Recht zur Gänze auf Wissen im genannten Sinne beruhen müsse, auf der Seite der Befürworter dieses Grundsatzes geltend machte. Diese auf die Länge der Zeit hin siegreiche Auffassung konnte zu ihren Gunsten koranische Aussagen anführen, in denen das Abweichen von der Anleitung durch Allah (arab.: al-hudā) mit dem pejorativen Begriff der leichtfertigen, sub-
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jektiven Meinung (arab.: al-hawā) belegt wird. So erfahren wir in Sure 28, daß die Gegner Mohammeds dessen Verkündigungen als Gaukelwerk, als Zauberei auffassen; ihnen hält Mohammed entgegen, wenn dem so wäre, dann sollten sie doch ähnliches Gaukelwerk, nämlich eine der seinen vergleichbare Schrift zustande bringen. Da sie diese Herausforderung nicht annehmen, gilt: „Wisse, sie folgen nur ihren leichtfertigen Meinungen, und wer geht mehr in die Irre als derjenige, der seiner leichtfertigen Meinung folgt und nicht durch Allah angeleitet ist?“ (Vers 50). Eine Bejahung der „Werteordnung der Verfassung“ verlangt demgegenüber die grundsätzliche Anerkennung der eigenverantwortlich entscheidenden schöpferischen Vernunft des Menschen. In diesem Sinne formuliert Frau Prof. Langenfeld unter Punkt 2: „Der Staat des Grundgesetzes läßt sich nicht verstehen ohne die Kenntnis der Bedingungen seiner Entstehung, die mit dem Vorgang der Säkularisation untrennbar verbunden ist. Säkularisation bedeutet, daß sich die politische Ordnung entsprechend ihren eigenen Gesetzen legitimiert und getrennt ist von jeder Form der Religion.“ (Vgl. Abschnitt B., Text II). 3. Die Verwerfung der Pluralität Die Pluralität von Ansichten und Anschauungen ist laut Koran eine verhängnisvolle Folge der teilweisen oder vollständigen Abwendung von der Anleitung durch Allah, vom Wissen schlechthin. Die Pluralität von Ansichten stellt demgemäß einen Unheilszustand dar, der durch die Verkündigung der koranischen Botschaft rückgängig gemacht werden soll. Denn ursprünglich hätten die Menschen eine einzige Gemeinschaft gebildet, danach seien sie untereinander uneins geworden. Allah lasse die Menschen noch eine Weile in ihrer Uneinigkeit gewähren. Wenn er gewollt hätte, hätte er längst eine Entscheidung zugunsten seiner Wahrheit herbeigeführt (Sure 10, 19 und Sure 41, 45; vgl. auch 4. Austritt aus dem Islam). Die Israeliten, so heißt es an anderem Ort, ließen Meinungsverschiedenheiten aufkommen, obschon sie das wahre Wissen empfangen hatten; im Endgericht wird Allah sein Urteil über sie fällen (Sure 10, 93). Der Koran setzt laut Sure 27, Vers 76 die Israeliten über das meiste von dem ins Bild, worüber sie sich entzweiten; er ist eine Anleitung und ein Erweis der Barmherzigkeit Allahs für die „Gläubigen“. – Warum wollen die „Schriftbesitzer“ die Muslime vom „Pfad Allahs“ abbringen, fragt Mohammed in Sure 3; falls die Muslime einigen „Schriftbesitzern“ gehorchen sollten, dann würden sie wieder „ungläubig“, und das, obwohl unter ihnen das Buch Allahs rezitiert wird und Allahs Gesandter in ihrer Mitte weilt … „Klammert euch alle an das Seil Allahs und spaltet euch nicht (in Parteiungen)! Gedenkt vielmehr der Gnade Allahs an euch, als ihr noch miteinander verfeindet wart! Da stiftete
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Allah Eintracht in euren Herzen, und ihr wurdet dank seiner Gnade zu Brüdern. Ihr befandet euch schon am Rande der Feuergrube, aber er rettete euch vor ihr. So erläutert Allah euch seine Verse, damit ihr euch hoffentlich anleiten laßt. Aus euch soll eine Gemeinschaft (arab.: al-umma) entstehen, die zum Guten aufruft, die befiehlt, was recht und billig ist, und verbietet, was verwerflich ist: Das sind die Glückseligen! Und seid nicht wie diejenigen, die sich (in Parteinungen) spalteten und uneins wurden, nachdem sie die klaren Beweise empfangen hatten! Jenen steht eine furchtbare Strafe bevor“ (Vers 99–105). Kurz darauf versichert Mohammed seinen Anhängern: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die (je) für die Menschen gestiftet wurde. Ihr befehlt, was recht und billig ist, verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Allah. Wenn die ‚Schriftbesitzer‘ ebenfalls gläubig würden, wäre es besser für sie. Unter ihnen gibt es Gläubige, die meisten von ihnen sind jedoch Übeltäter“ (Sure 3, 110) (vgl. auch unter 5. Die koranischen Strafen und 8. Fehlende Gleichberechtigung). Mohammed und seiner Verkündigung zu folgen, bedeutet nicht nur die Errettung vor dem Höllenfeuer, sondern führt schon hier und jetzt zu einem Gemeinwesen ohne Meinungsstreit. Vielfach mahnt der Koran die Muslime daher, „Allah und seinem Gesandten“ zu gehorchen (z. B. Sure 3, 32 und 132; Sure 58, 13); dies nicht zu tun, bedeutet „Unglauben“ (Sure 3, 32). Wer Allah und seinem Gesandten gehorcht, gewinnt das Paradies (Sure 4, 13 und 69). „Ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denjenigen unter euch, die etwas zu sagen haben. Und wenn ihr über etwas verschiedener Meinung seid, dann legt es Allah und seinem Gesandten vor!“ (Sure 4, 59). Die von Allah stammende Entscheidung gilt, denn sie garantiert die Eintracht. Zwar mag es einmal vorteilhaft sein, den Rat Betroffener einzuholen, doch am Ende entscheidet Mohammed, der sich stets auf Allah verläßt (Sure 3, 159). Bereits in Mekka entstand die Koranpassage, die heutzutage stets dafür angeführt wird, daß Mohammed schon eine „demokratische“ Herrschaftsform im Auge gehabt habe. Sie lautet: „Alles, was ihr (in dieser Welt) erhaltet, das sind nur die Güter des diesseitigen Lebens. Was bei Allah (bereitsteht), ist besser und dauerhafter – für diejenigen, die gläubig wurden und auf ihren Herrn vertrauen, (für) diejenigen, die schwere Verfehlungen und verwerfliche Taten meiden, (für) diejenigen, die, wenn sie zürnen, verzeihen, (für) diejenigen, die ihrem Herrn (Allah) gehorchen und das rituelle Gebet einhalten, (für) diejenigen, deren (gemeinsame) Angelegenheit ein Gegenstand der Beratung (arab.: aš-šūrā) untereinander ist und die von dem, was wir (d. h. Allah) ihnen als Unterhalt zuteilen, Spenden abführen“ (Sure 42, 36–38). Es geht in dieser Passage allein um eine formlose Solidarität unter den „Gläubigen“; nichts wird darüber ausgesagt, was mit dem Ergebnis einer solchen Beratung geschehen soll; daß es die in medinensi-
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schen Versen so oft erwähnten Anordnungen Allahs, „seines Gesandten und derjenigen, die etwas zu sagen haben“, beeinflussen oder gar bestimmen könnte, wird nirgends auch nur angedeutet. Niemals hat diese Passage in der islamischen Geschichte irgendwelche auch nur entfernt als „demokratisch“ zu bezeichnenden Herrschaftsformen angeregt oder legitimiert. In der Gegenwart wird sie oft dazu mißbraucht, despotischen Regimen den Anschein einer Offenheit für Mitbestimmung zu verschaffen. Denn befaßt man sich näher mit den unter dem Stichwort der Beratung entwickelten Vorstellungen, so ergibt sich folgendes: Das Beratergremium geht nicht aus freien, allgemeinen und geheimen Wahlen hervor; die Kandidaten durchlaufen eine Vorauswahl, in der sie ihre Bindung an den Islam, ihr schariatreues „Expertentum“ unter Beweis zu stellen haben (vgl. hierzu die ausführliche Studie von R. Badry: Die zeitgenössische Diskussion um den islamischen Beratungsgedanken, Freiburg 1998). Dies alles ist keineswegs bloß Spekulation. So ist beispielsweise die Geschichte des Parlamentarismus in Pakistan die Geschichte der Unterwerfung der Entscheidungen der Abgeordneten unter die Regelungen der Scharia. In Iran ist das Parlament der Kontrolle der Rechtsgelehrten unterstellt, wie Chomeini es in seiner programmatischen Schrift „Die Herrschaft des Rechtsgelehrten“ angekündigt hatte; voller Abscheu äußert er sich darin über den westlichen Parlamentarismus, der den Abgeordneten gestatte, zu beschließen, was sie für gut und richtig erachteten, und diese ihre Beschlüsse der Bevölkerung aufzuerlegen; das sei, eben weil die Entscheidungen nicht durch Allahs Gesetz gerechtfertigt seien, blanker Despotismus (Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, II, 311–320). Demgegenüber ist auf Punkt 5 der Ausführungen von Frau Langenfeld zu verweisen: „… Das demokratische Prinzip im Grundgesetz bedeutet Volkssouveränität im Sinne der Herrschaft der Volksmehrheit. Minderheitenschutz wird gesichert durch die Grundrechte und den freien Meinungsbildungsprozeß in der Demokratie, der den Wettstreit der Meinungen (Hervorhebung von mir) garantiert und damit für die Minderheit die Chance sichert, selbst zur Mehrheit zu werden.“ 4. Verweigerung der Religionsfreiheit durch Bedrohung des Austritts aus dem Islam mit der Todesstrafe „Wer nicht an Allah glaubt, nachdem er (zuvor) gläubig geworden war – nicht (der ist gemeint), der (zum Unglauben) gezwungen wurde, im Herzen aber zuversichtlich dem Glauben verhaftet blieb, sondern der, der sich (aus freien Stücken) dem Unglauben öffnet – über den kommt Allahs Zorn, und er hat eine furchtbare Strafe zu gewärtigen!“ (Sure 16, 106). Solche Leute, unterstellt Mohammed, geben dem Diesseits den Vorzug; Allah ver-
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siegelte ihnen das Herz und die Sinne, und daher werden sie im Jenseits zu den Verlierern zählen (Vers 107–109; vgl. unter 1. Die allgemeine Herabwürdigung). Dies ist die älteste Stelle im Koran (spätmekkanische Periode), an der vom Aufgeben des durch Mohammed verkündeten Glaubens gesprochen wird. In Medina greift Mohammed dann dieses Thema mehrfach auf. Ursprünglich bildeten die Menschen eine einzige Gemeinschaft (vgl. 3. Verwerfung der Pluralität), behauptet er, aufkommender Zwist wurde zu wiederholten Malen durch die von Allah entsandten Propheten beigelegt; doch glaubten ihnen viele nicht, weswegen die betroffenen Gemeinschaften von Unheil heimgesucht wurden. Auch Mohammeds Anhänger werden erleben, wie die Ungläubigen in ihrer Mitte bestraft werden (Sure 2, 213 f.). Stets bezeugte die Gemeinschaft, zu der ein Prophet geschickt wurde, die Wahrheit der Botschaft, aber etliche wandten sich danach von ihrem Propheten ab; sie werden das im Jenseits bereuen müssen (Sure 3, 81–85; vgl. weiter unten). Wer zunächst gläubig wird, dann aber vom Glauben abfällt, dem wird Allah das nicht verzeihen (Sure 4, 136 f.). Allah verwandelte Leute, die seine Botschaft verwarfen, in Affen (Sure 7, 166; vgl. Sure 2, 65). Daran erinnert Mohammed die „Schriftbesitzer“ in Sure 5, Vers 59 f.: Sie empfingen einst von Allah die wahre Botschaft, beherzigten sie aber nicht, und nun nehmen sie den Anhängern Mohammeds übel, daß diese sich gemäß der Rede Allahs verhalten; Frevler aber verwandelte Allah in Affen, Schweine und Götzendiener. Während im Koran der Austritt aus dem Islam vor allem mit Jenseitsstrafen bedroht wird und eine Ahndung im Diesseits allein durch Allah vorgenommen wird, und zwar zu einem unbekannten Zeitpunkt, ist im „gesunden“ Hadith eine durch die Muslime selber zu vollstreckende diesseitige Bestrafung, nämlich die Tötung, vorgesehen. Ich führe hier lediglich die einschlägige Passage aus al-BuÌārī an (istitābat al-murtaddīn, 2): „Kapitel über die Aburteilung des Apostaten und der Apostatin: – Es sagen ÝAbdallāh b. ÝUmar (gest. 693), az-Zuhrī (gest. ca. 740) und Ibrāhīm (an-NaÌaÝī, gest. 713 oder 715): Die Apostatin wird getötet (ohne daß ihr die Gelegenheit zur Umkehr zugestanden wird) – sowie über die Aufforderung zur Umkehr. Allah sagt: ‚Wie sollte Allah Leute (auf den rechten Pfad) leiten, die, nachdem sie gläubig geworden waren und bezeugt hatten, daß der Gesandte (der Quell) der Wahrheit ist, und die (entsprechenden) Beweise entgegengenommen hatten, wieder ungläubig wurden? Allah leitet die Frevler nicht auf den rechten Pfad. Zur Strafe lastet auf ihnen der Fluch Allahs, der Engel und aller Menschen. Sie bleiben auf ewig im (Höllenfeuer), die Pein wird ihnen nicht gemildert, man gewährt ihnen keinen Aufschub, es sei denn, sie wendeten sich reumütig (zu Allah) und handelten fortan recht. Allah ist verzeihend und barmherzig. Wer, nachdem er gläubig geworden war, ungläubig wird und sich immer mehr auf den Unglauben versteift, dessen reumütige
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Umkehr wird freilich nicht angenommen – das sind die, die (endgültig) in die Irre gehen‘ (Sure 3, 86–90. ‚Ihr, die ihr gläubig geworden seid! Wenn ihr einer Gruppe von Schriftbesitzern gehorcht, machen diese euch wieder zu Ungläubigen, nachdem ihr schon Gläubige geworden wart‘ (Sure 3, 100). ‚Diejenigen, die gläubig wurden, dann aber dem Unglauben verfielen …, denen kann Allah weder vergeben, noch vermag er sie zum rechten Pfad zu leiten‘ (Sure 4, 137). ‚Wer von euch von seiner Glaubenspraxis abfällt (dem sei gesagt): Allah wird andere Leute bringen, die ihn lieben und die er liebt; sie werden demütig gegen die Gläubigen, stark gegen die Ungläubigen sein‘ (Sure 5, 54). ‚Wer nicht an Allah glaubte …‘ (Sure 16, 106–110). ‚… Sie werden nicht aufhören, gegen euch zu kämpfen, um euch von eurer Glaubenspraxis abzubringen, wenn sie es können. Wer unter euch von seiner Glaubenspraxis abfällt und dann stirbt, dessen Werke sind im Diesseits und im Jenseits fehlgeschlagen – das sind diejenigen im Höllenfeuer, worin sie auf ewig bleiben‘ (Sure 2, 217).“ Al-BuÌārī führt, bevor er die „gesunden“ Überlieferungen zu seinem Thema nennt, die ihm passend dünkenden Koranstellen an: Die im Anschluß zitierten Hadithe, die die Tötung des Apostaten durch die Muslime vorsehen, sollen wenigstens zum Schein durch Aussagen des Korans bestätigt werden. Daß die Apostatin ohnehin umzubringen ist, bedarf offensichtlich keiner weiteren Erörterung. Die „gesunden“ Überlieferungen lauten: Man brachte zu ÝAlī b. abī Óālib eine Anzahl von „Freidenkern“ (arab.: Pl. azzanādiqa); er ließ sie verbrennen. Davon erfuhr Ibn ÝAbbās (gest. 687 / 8) und äußerte sich wie folgt: „Wenn ich sie wegen eines diesbezüglichen Verbots des Gesandten Allahs auch nicht verbrannt hätte, so hätte ich sie doch getötet gemäß seinem Ausspruch: ‚Wer seine Glaubenspraxis austauscht, den tötet!‘“ Im zweiten Hadith wird erzählt, wie Mohammed seinen Genossen Abū Mūsā al-AšÝarī in den Jemen abkommandiert; wenig später entsendet er einen weiteren Vertrauten, MuÝāÆ b. Éabal. Als MuÝāÆ bei Abū Mūsā eintrifft, läßt dieser ihm ein Kissen herrichten und bittet ihn, Platz zu nehmen. Noch ehe MuÝāÆ dem Anerbieten Folge geleistet hat, bemerkt er einen gefesselten Mann und erkundigt sich danach, was es mit ihm auf sich habe. „Er war Jude, wurde Muslim und dann wieder Jude.“ „Ich werde nicht eher Platz nehmen, als bis dieser da getötet worden ist – gemäß der Entscheidung Allahs und seines Gesandten!“ Dreimal wiederholt MuÝāÆ diese Worte, und Abū Mūsā läßt den Juden auf der Stelle umbringen (vgl. in diesem Abschnitt, Text I). Der Rechtsgelehrte aš-ŠāfiÝī (gest. 820) wußte, daß die Tötung des Apostaten, d. h. die im Vorgriff auf Allahs Entscheidung durch die Muslime vorgenommene Bestrafung, aus dem Koran nicht abzuleiten war. Er bezog sich daher auf den vorhin erwähnten Vers 213 von Sure 2, wo im Zusammenhang mit den Erzählungen von den Propheten vor Mohammed von einer
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diesseitigen Bestrafung der „Ungläubigen“ die Rede ist; so versuchte er plausibel zu machen, daß die Tötung in jedem Fall Allahs Willen entspreche (Encyclopedia of Islam, second edition, s. v. al-Murtadd). – Wir werden gleich ein weiteres Beispiel dafür kennenlernen, daß sich die Schariagelehrten, wenn es ihnen opportun erscheint, über den Koran hinwegsetzen. Am 6. Februar 2005 beschäftigte sich Jūsuf al-QaraÃāwī, u. a. Vorsitzender des „Europäischen Fetwarats“, in seiner vom Fernsehsender al-Dschazira regelmäßig ausgestrahlten Sendereihe „Die Scharia und das Leben“ mit den muslimischen Ansichten zur Religionsfreiheit. Unter Berufung auf die eben zitierten Überlieferungen verlangte er die Tötung von Muslimen, die ihren Glauben aufgeben (vgl. in diesem Abschnitt, Text I) … Wegen der Gefährdung der muslimischen Gemeinschaft sei in den meisten Fällen eine Hinrichtung nicht zu umgehen; vereinzelt, räumt al-QaraÃāwī ein, mag eine „moralische Hinrichtung“ (iÝ dām adabī) ausreichen, etwa die Zwangsscheidung von der Ehefrau und der Verlust des Rechtes des Umgangs mit den Kindern (http://www.qaradawi.net / site / topics / article.asp?cu_no=2&item_ no=3841&version=1, 21. Juni 2005). – Eine Kommentierung dieser Auffassungen unter dem Blickwinkel des Grundgesetzes erübrigt sich. 5. Die koranischen Strafen „Das Entgelt derjenigen, die gegen Allah und seinen Gesandten Krieg führen und Unheil im Lande anrichten, besteht darin, daß sie getötet oder gekreuzigt werden oder daß man ihnen Hände und Füße überkreuz abhackt oder daß man sie aus dem Lande verjagt. Dies gereicht ihnen im Diesseits zur Schande, und im Jenseits haben sie eine furchtbare Strafe zu gewärtigen. Ausgenommen sind hiervon diejenigen, die reumütig umkehren, bevor ihr ihrer habhaft werdet. Wisset, daß Allah verzeihend und barmherzig ist“ (Sure 5, 33 f.). Die sogenannten koranischen Strafen dienen der Aufrechterhaltung der von Allah gestifteten muslimischen Herrschaftsordnung (vgl. Sure 3, 110 unter 3. Verwerfung der Pluralität). In diesen Zusammenhang werden auch die weiteren koranischen Aussagen über Strafen gestellt, so Sure 5, Vers 38 bis 40: „Wenn ein Mann oder eine Frau einen Diebstahl begangen hat, dann schlagt ihnen die Hand ab!“ Dies sei ein „mahnendes Exempel“, von Allah angeordnet; wenn jemand sich jedoch nach seiner Untat wieder reumütig zu Allah wende, dann wende sich auch Allah ihm wieder zu: „Weißt du denn nicht, daß Allah die Herrschaft über Himmel und Erde innehat und daß er bestraft, wen er will, und daß er vergibt, wem er will?“ Besonders anstoßerregend sind die in Sure 24, Vers 2 bis 9 verfügten Strafen, die im Falle von Unzucht zu vollstrecken sind: Begehen ein Mann und eine Frau Unzucht, dann sind ihnen einhundert Peitschenhiebe zu verabreichen; da es hier um die Wahrung der Glaubensordnung Allahs gehe,
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sei Mitleid fehl am Platze, und die Bestrafung sei in der muslimischen Öffentlichkeit zu vollziehen; überdies dürften ein Mann bzw. eine Frau, die der Unzucht überführt worden seien, nur mit ihresgleichen, nicht mehr mit ehrbaren Partnern, verehelicht werden oder mit heidnischen Partnern (Vers 2–3). Wenn jemand eine ehrbare Ehefrau der Unzucht beschuldigt, aber keine vier männlichen Zeugen beibringen kann, dann sind ihm wegen Verleumdung achtzig Peitschenhiebe zu verabfolgen, und er darf nie wieder als Zeuge fungieren. Ein Ehepartner, der vom anderen Ehepartner des Ehebruchs bezichtigt wird, kann diesen Vorwurf durch ein besonderes Schwurverfahren abwehren (Vers 4–9). In der islamischen Terminologie werden die koranischen Strafen in der Regel als „Grenz“-Strafen bezeichnet: Allah setzte den Muslimen bestimmte „Grenzen“, durch deren Mißachtung seine Souveränität, diejenige des eigentlichen Herrschers über die „beste Gemeinschaft“, verletzt wird. In der Funktion ihnen vergleichbar sind bestimmte Regelungen, die zu befolgen sind, nämlich die Bestimmungen des Ramadanfastens (Sure 2, 187), die Anweisungen zur Befriedung zerrütteter Ehen und zu deren ordnungsgemäßer Scheidung (Sure 2, 226–237) sowie zur Aufteilung von Nachlässen (Sure 4, 7–14). Im Zusammenhang mit diesen Vorschriften findet sich der Terminus der „Grenzen“, die Allah steckte (vgl. auch Sure 65, 1). – Durch Körperverletzung, Totschlag oder Mord werden demgegenüber die „Grenzen“ Allahs nicht angetastet; es wird vielmehr einem Kollektiv ein Schaden zugefügt. Daher steht in diesen Fällen der geschädigten Sippe das Recht der Vergeltung zu bzw. der Anspruch auf einen materiellen Ausgleich des ihr entstandenen Schadens (Sure 2, 178 f.). Bei der Regelung kann die islamische Rechtspflege mitwirken. Bei Vergehen, die die „Grenzen“ antasten, muß sie hingegen tätig werden, eben weil sie die Interessen Allahs zu wahren hat. – Al-Éazīrī (1882–1941), Autor eines immer wieder aufgelegten Lehrbuchs des islamischen Rechts, äußert sich über die koranischen Strafen wie folgt: „Der Nutzen (der ‚Grenz‘-Strafen) liegt in der Beseitigung der Verderbnis der Gesellschaft, in der Bewahrung der Seelen vor der Verdammnis, im Schutz der Ehre, in der Sicherung der Genealogie vor Vermischung, schließlich darin, daß das Vermögen frei von mutwilliger Vergeudung gehalten wird … Der Nutzen (der ‚Grenz‘-Strafen) besteht in der Abwehr von Taten, die im Diesseits Verderbnis nach sich ziehen. Die ‚Grenz‘-Strafe für Hurerei verhindert den Verlust der Nachkommenschaft und deren ideelle Auslöschung mittels des Irrtums in betreff der Genealogie. Deshalb empfahl der Gesetzgeber (d. h. Allah) allen Menschen, sich zum Vollzug einer ‚Grenz‘-Strafe mittels Steinigung einzustellen: ‚Eine Schar gläubiger (Muslime) soll bei der Bestrafung beider zugegen sein‘ (Sure 24, 2). Der Abscheu (gegen die betreffenden Delikte) ist dem Verstand aller Menschen eingepflanzt. Deshalb waren in keiner der früheren Religionsge-
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meinschaften (Angriffe auf) das Vermögen und die Ehre, sowie Hurerei und Trunkenheit erlaubt.“ Die „Grenz“-Strafen, die diese Übel abwehrten, seien daher Rechte, die Allah gegen seine Geschöpfe geltend mache (vgl. Nagel: Das islamische Recht, 84–89). Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß in einem säkularisierten Staat ein Strafrecht, das seine Legitimität aus den einer Gottheit zugeschriebenen und von deren Sachwaltern wahrgenommenen politischen und gesellschaftlichen Interessen ableitet, keinen Platz hat. Übrigens mißachten diese Sachwalter in diesem Zusammenhang ihr eigenes Prinzip, demzufolge der Inhalt des Korans, Allahs ureigenes Wort, im Falle des Widerspruchs zu einem „gesunden“ Hadith mehr Gewicht als dieses habe, das ja nur Menschenwort sei. Sure 24, Vers 2 verlangt, Unzucht mit einhundert Peitschenhieben für jeden der beiden Betroffenen zu ahnden. Trotzdem wird die Steinigung vollzogen, die sich lediglich auf Hadithe stützt (z. B. al-BuÌ ārī, al-aimān wan-nuÆūr, 2). Man ist auf die kuriosesten Begründungen dafür verfallen, weshalb sich die Steinigung der Ehebrecher nicht im Koran finde; so soll ÝĀÞiša, Mohammeds Lieblingsfrau, bezeugt haben, daß der Vers, in dem die Steinigung und das zehnmalige dokumentierte Säugen eines Erwachsenen (damit dieser sich zusammen mit den Damen seiner nunmehrigen Milchverwandtschaft in einem Raum aufhalten darf) offenbart worden seien, sogleich niedergeschrieben worden sei; das Blatt sei aber unter ihr, ÝĀÞišas, Bett geraten; in der Aufregung um Mohammeds Erkrankung, die zu seinem Ableben führte, habe man es vergessen, und als man es später wieder hervorgeholt habe, sei es von einem Tierchen zerfressen gewesen (AÎ mad b. Í anbal: Musnad, VI, 269). 6. Gewalt gegen Andersgläubige, Dschihad a) Allgemeines Im Koran ist die Gewaltanwendung gegen Andersgläubige etwas Selbstverständliches. „Tötet sie, wo immer ihr sie trefft! Und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben!“ Diese Passage, kurz nach der Hedschra entstanden, nimmt einen künftigen Kampf um den Besitz Mekkas ins Visier, dessen Ergebnis die Vertreibung der Heiden aus Mekka sein soll, derjenigen, die zuvor Mohammed vertrieben haben (vgl. Sure 47, 13). – „Wenn ihr mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann schlagt ihnen den Nacken (ab)!“ – Gemäß den Korankommentaren ist das Töten der Ungläubigen gemeint; vgl. z. B. aÔ-Óabarī und FaÌr ad-Dīn ar-Rāzī zu Sure 47, Vers 4 (vgl. Sure 8, 12). – „Und wenn ihr sie niedergekämpft habt, dann legt sie in Fesseln. Danach mögt ihr ihnen das Leben schenken oder sie freikaufen lassen.“ Allah könnte seine Feinde selber bezwingen, aber er will die Muslime mit dem Krieg gegen sie auf die Probe stellen (Sure 47,
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4). „Sobald die heiligen Monate verstrichen sind, tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet! Packt sie, umzingelt sie, lauert ihnen überall auf!“ Wenn sie die islamischen Riten ausführen, soll man sie laufen lassen; auch das althergebrachte Recht des Fremdenschutzes darf man ihnen nicht verweigern. Im übrigen kann es mit Heiden keine Abmachung geben bis auf die eine, die sie mit Mohammed bei dessen Inbesitznahme Mekkas eingegangen waren und die er nun aufkündigt (Sure 9, 5–12). Diese Verse, die später als Sure 47, Vers 4 entstanden sind, heben nach aÔ-Óabarī (Kommentar zu Sure 47, 4) die dort angedeutete Möglichkeit auf, Heiden gefangenzunehmen, und verlangen deren Tötung.– „Bekämpft unter den ‚Schriftbesitzern‘ diejenigen, die nicht an Allah und den Jüngsten Tag glauben, nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben und nicht der wahren Glaubenspraxis folgen, bis sie demütig, ein jeder eigenhändig, die Kopfsteuer entrichten!“ (Sure 9, 29). Das Ziel der Gewaltanwendung gegen die „Schriftbesitzer“ ist demnach nicht, wie im Falle der Heiden, deren Tötung bzw. deren unter Zwang erfolgter Übertritt zum Islam, sondern „nur“ die Unterwerfung unter islamische Herrschaft und die demütige Entrichtung der Kopfsteuer. – In Sure 4, Vers 88 bis 90 ist vom Kampf gegen die „Heuchler“ die Rede, gegen jene Medinenser, die Mohammed und dem Islam im Innern ablehnend gegenüberstehen und die verdächtigt werden, mit seinen Feinden heimlich gemeinsame Sache zu machen. Sie hätten gerne, daß auch die übrigen Medinenser ihrem Beispiel folgten, oder in der Sprache des Korans: auch ungläubig würden. Wenn man ihrer habhaft werde, müsse man sie töten „abgesehen von denen, die zu Leuten gelangen, mit denen ihr ein Vertragsverhältnis eingegangen seid, oder abgesehen von denen, die zu euch kommen, da sie sich schließlich scheuten, gegen euch und ihre eigenen Leute zu kämpfen. Wenn Allah es gewollt hätte, hätte er ihnen Macht über euch gegeben, und sie hätten gegen euch gekämpft! Wenn sie sich nun von euch fernhalten, folglich euch nicht bekämpfen und Frieden halten wollen, gibt euch Allah keine Handhabe gegen sie“ (Sure 4, 90). Zwei Voraussetzungen für die Verschonung der „Heuchler“ sieht Mohammed: Sie haben bei Stämmen Zuflucht gefunden, mit denen er einen Vertrag abgeschlossen hat; sie geben ihren Widerstand auf. – Es mag bisweilen geschehen, daß Allah zwischen den Muslimen und ihren einstigen Feinden Zuneigung stiftet: „Allah verbietet euch nicht, gegen die, die euch nicht um der Glaubenspraxis willen bekämpften und euch nicht aus euren Häusern vertrieben, freundlich zu sein und Gerechtigkeit zu üben. Allah liebt die, die Gerechtigkeit üben“ (Sure 60,8). – Nirgends werden Andersgläubige auch nur andeutungsweise als gleichberechtigte Partner der Gemeinschaft der „Gläubigen“ aufgefaßt (vgl. unter 1. Herabwürdigung). Im Gegenteil, letztere hat mit dem Kriegführen die Aufgaben auszuführen, die Allah sonst selber vornehmen müßte (Su-
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re 47, 4); er will den Sieg der muslimischen Waffen. Gegen die ihnen Unterlegenen dürfen sich die Muslime immerhin freundlich zeigen. b) Der Glaube Der Begriff des „Glaubens“ wird nach der Schlacht bei Badr im Jahre 624 unmittelbar mit dem der Kampfbereitschaft verknüpft. In der kurz vor Badr entstandenen Sure 2 stößt man noch auf eine andere Definition von „Glauben“. In Vers 285 schreibt Mohammed seinen Anhängern den Glauben an Allah, die Engel, die offenbarten Schriften und an alle Propheten vor; in Vers 1 bis 4 wird Glaube auch als eine Verhaltensweise verstanden; die „Schrift“ (d. h. der Koran) enthält rechte Anweisungen für die Gottesfürchtigen, „die an den verborgenen Seinsbereich glauben, das rituelle Gebet vollziehen und von dem, was wir (d. h. Allah) ihnen als Lebensunterhalt geben, Spenden leisten; die an das glauben, was dir herabgesandt wurde, und an das, was vor dir herabgesandt wurde, und die Gewißheit über das Jenseits haben“. Eine vergleichbare Formulierung begegnet schon in der mekkanischen Sure 35, Vers 29, wie denn überhaupt das rituelle Gebet und das Spenden, meist mit dem Wort zakāt bezeichnet, viele Male als die charakteristischen Bräuche der Anhängerschaft Mohammeds genannt werden. Laut Sure 35, Vers 29 f. ist das Spenden ein einträgliches Geschäft, weil Allah es überreichlich belohnen wird. Sobald nun Mohammed nach dem Überfall bei Badr die Rache der ihm überlegenen Mekkaner fürchten mußte, änderte sich in den von ihm verkündeten Offenbarungen der Inhalt des Wortes „Glaube“ einschneidend. Den Ritualpflichten nachzukommen, zu denen die zakāt zählt, genügt nun nicht mehr, und das Geschäft mit Allah erstreckt sich nicht mehr nur auf materielle Werte, die man Mohammed übergibt. Vielmehr unterscheidet der Koran von nun an genau zwischen Muslimen und „Gläubigen“. Muslime sind alle diejenigen, die die Riten des Islams vollziehen. „Gläubigkeit“ setzt darüber hinaus die Teilnahme am bewaffneten Kampf voraus. Klar ausgesprochen wird dieser Gedanke in Sure 49, Vers 14 f.: „Die Beduinen sagen: ‚Wir sind gläubig geworden.‘ (Du, Prophet) sprich: ‚Ihr seid nicht gläubig geworden! Sagt vielmehr: Wir sind Muslime geworden! Denn der Glaube ist euch noch nicht ins Herz gedrungen. Erst wenn ihr Allah und seinem Gesandten gehorcht, wird Allah euch eure Taten voll anrechnen. Allah ist verzeihend und barmherzig.‘ Die Gläubigen sind nämlich nur die, die an Allah und seinen Gesandten glauben und danach nicht wieder zweifeln; die mit ihrem Vermögen und ihrem Leben auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen – sie sind die Aufrichtigen!“ Die Beduinen, die mit ihrem Vieh von Weide zu Weide ziehen, haben nicht die Möglichkeit, sich dem Propheten Mohammed für seine Kriegszüge zur
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Verfügung zu halten; erst wenn sie dies könnten, wären sie wahre „Gläubige“. Was hier mit Bezug auf die Beduinen gesagt wurde, finden wir in allgemeinerer Form in Sure 22, Vers 78 wieder. Die Anhänger der neuen Religion sollen sich dem Dschihad widmen; denn die islamische Glaubens praxis an sich enthält nichts Bedrückendes, Beschwerliches, da es sich um die schon von Abraham für richtig erkannte Urreligion handelt, die völlig der Natur des Menschen entspricht (vgl. unten in diesem Abschnitt die Ausführungen zu Sure 2, Vers 256). Der Einsatz des Vermögens und Lebens auf dem Pfade Allahs ist das einzige Darlehen, das statthaft ist und zudem überreiche Zinsen bringen wird: „Kämpft auf dem Pfade Allahs und wißt, daß Allah alles hört und weiß! Wer ist es, der Allah ein gutes Darlehen gewährt? Allah wird ihm den Wert um ein Vielfaches vermehren. Allah teilt knapp oder reichlich zu, und zu ihm werdet ihr dereinst zurückgebracht!“ (Sure 2, 244 f.). In der Sure 48, die nach dem Einzug Mohammeds in Mekka im Jahre 630 entstand, finden sich Betrachtungen über die Lage der Muslime vor diesem Triumph: Man habe diesen Erfolg keineswegs voraussehen können, und so sei es ein Zeichen von Kühnheit gewesen, daß man dem Propheten vor dieser Unternehmung – die ja einen Bruch des Abkommens von al-Íudaibīja bedeutete – treue Gefolgschaft zugeschworen habe; doch habe dieser Schwur ja Allah gegolten: „Diejenigen, die mit dir einen Handel abschließen (d. h. die dir huldigen), schließen mit Allah einen Handel ab (d. h. huldigen in Wirklichkeit Allah). Allahs Hand liegt (bei der Geste des Abschlusses) über ihren Händen. Wer den Vertrag bricht, tut dies zu seinem eigenen Schaden. Wer aber erfüllt, wozu er sich gegenüber Allah verpflichtet hat, dem wird er gewaltigen Lohn zuteilen“ (Sure 48, 10; vgl. Sure 48, 18). Was immer Mohammed in Angriff nimmt, ihm darin zu gehorchen, heißt Allah gehorchen: „Allah hat den ‚Gläubigen‘ ihr Leben und ihre Güter abgekauft (und damit bezahlt), daß ihnen das Paradies zuteil wird. So kämpfen sie auf dem Pfade Allahs; sie töten und werden getötet. (Der Einlaß in das Paradies) obliegt Allah als ein wahres Versprechen, gegeben in Tora, Evangelium und Koran. Und wer könnte seine Zusage besser einhalten als Allah? Freut euch also über den Handel, den ihr abgeschlossen habt! Das ist der gewaltige Gewinn!“ (Sure 9, 111). Die „Gläubigen“ bilden eine dem Befehl „Allahs und seines Gesandten“ Folge leistende Kampfgemeinschaft, deren zwei Gruppierungen die mekkanischen „Auswanderer“ (arab.: Pl. al-muhāº irūn) und die medinensischen „Helfer“ (arab.: Pl. al-anÒ ār) sind: „Diejenigen, die glauben, auswanderten und unter Einsatz ihres Vermögens und ihres Lebens auf dem Pfade Allahs den Dschihad treiben, sowie diejenigen, die die (ersteren) beherbergten und unterstützten, sind einander freund. Und diejenigen, die glauben ohne auszuwandern, deren Freundschaft genießt ihr nicht, ehe sie auswandern. Sollten
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(letztere) euch um der Glaubenspraxis willen um Unterstützung bitten, so müßt ihr sie ihnen gewähren, es sei denn, sie begehrten die Unterstützung gegen Leute, mit denen ihr in einem Paktverhältnis steht. Allah sieht, was ihr tut. Ebenso sind die Ungläubigen einander freund. Wenn ihr die Unterstützung nicht gewährt, wird es im Lande Anfechtung (in der Zugehörigkeit zum Islam) und großes Übel geben. Diejenigen, die gläubig wurden und auswanderten und auf dem Pfade Allahs den Dschihad führten, sowie diejenigen, die die (ersteren) beherbergten und unterstützten, das sind die wahren Gläubigen. Ihnen werden Vergebung und edler Lebensunterhalt zuteil werden“ (Sure 8, 72–74). Es gibt demnach Menschen, die an die Botschaft des Propheten glauben, hieraus aber nicht die einzig erwünschte Konsequenz ziehen, nämlich zu Mohammed nach Medina „auszuwandern“ und die Reihen der Glaubenskrieger zu verstärken. Diese Zögernden kann man nicht zu den „Gläubigen“ im eigentlichen Sinne zählen, und ihr Rang bei Allah ist, wie bereits festgestellt (vgl. oben, Sure 49, 14; vgl. ferner Sure 9, Vers 16 und 20), dementsprechend niedrig; am ehesten sind sie den eingangs genannten Beduinen zu vergleichen. „Glaube“ erweist sich nach koranischer Vorstellung mithin im unbedingten kämpferischen Einsatz für „Allah und seinen Gesandten“. Dieser Einsatz zielt auf die Vernichtung der Andersgläubigen ab (Sure 47, 4 und Sure 9, 5; vgl. Sure 9, 123 und Sure 47, 35), solange sie sich nicht geschlagen geben (Sure 2, 193; vgl. Sure 9, 29). c) Der Dschihad Vielfach wird behauptet, der koranische Begriff Dschihad meine ein Ringen des Muslims gegen seine eigene Trägheit und Unvollkommenheit; zumindest der im Koran erwähnte „große Dschihad“ (Sure 25, 52) sei so aufzufassen. Diese Behauptung läßt sich nicht aus dem Koran belegen (vgl. Abschnitt C., Einführung). Das Verbalnomen Ê ihād kommt im Koran viermal vor. Bereits die älteste Fundstelle, der noch in Mekka entstandene 52. Vers von Sure 25, bestimmt den Ê ihād als eine Unternehmung gegen Andersgläubige: Wenn Allah gewollt hätte, hätte er in jedem Ort einen Warner berufen, so wie er Mohammed in Mekka berief (Vers 51); Allah hat dies aber unterlassen, und darum lautet sein Befehl an Mohammed: „Gehorche den Ungläubigen nicht, sondern führe (arab.: Ê āhid, Imperativ) gemäß ihm (d. h. gemäß dem Koran oder durch seine Verkündigung?) gegen sie einen ‚großen Ê ihād‘!“4 – In den drei medinensischen Belegen wird, der veränderten Lebenssituation Mohammeds entspre4 Im ebenfalls mekkanischen Vers 15 von Sure 31 bezeichnet das Verbum º āhada die gegen den Sohn gerichteten Anstrengungen der Eltern, diesen wieder vom Islam abzubringen, ebenso Sure 29, Vers 8, der nach islamischer Überlieferung allerdings
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chend, unter Ê ihād eindeutig der Krieg gegen Andersgläubige verstanden; hinter dieser wichtigsten Aufgabe des vom Propheten geleiteten Gemeinwesens müssen alle übrigen Belange zurückstehen, wie Sure 9, Vers 24 den Muslimen einschärft. An die Mahnung, auf keinen Fall die engsten Verwandten, den Vater oder den Bruder, weiterhin als Freund zu betrachten, sofern diese nicht den Islam angenommen haben (Sure 9, 23), schließt sich die Drohung an: „Wenn eure Väter, Söhne, Brüder, Ehefrauen und eure Sippe sowie Güter, die ihr gewannt, oder Geschäfte, deren Stillstand ihr fürchtet, oder Wohnungen, die euch gefallen, euch mehr am Herzen liegen als Allah und sein Gesandter (d. h. Mohammed) und der Ê ihād auf Allahs Pfad, dann wartet nur ab, bis Allah seine Entscheidung fällt! Allah leitet die Frevler nicht auf den rechten Weg!“ – Ähnliches ist dem dritten Beleg zu entnehmen: Mit den Feinden Allahs, die die Feinde der „Gläubigen“ sind, darf man keine womöglich verräterischen Beziehungen unterhalten, vor allem nicht, „wenn ihr ausgezogen seid, um auf meinem (d. h. Allahs) Pfad Ê ihād zu treiben und mein (d. h. Allahs) Wohlgefallen zu erstreben!“ (Sure 60, 1). Schließlich begegnet der Begriff Ê ihād noch, wie schon erwähnt, in Sure 22, Vers 78; die „Gläubigen“ werden aufgefordert, die Ritualpflichten gewissenhaft zu befolgen (Sure 22, 77), dann heißt es: „Führt um Allahs willen den wahren Ê ihād! Er hat euch erwählt, und er hat euch in der Glaubenspraxis nichts Bedrückendes auferlegt.“ Nun zu den koranischen Belegen für finite Formen des Verbums Ê āhada! Sie werden im Koran siebenundzwanzigmal gebraucht. Als mekkanisch gilt nach islamischer Überlieferung der bereits erörterte Beleg Sure 25, Vers 52, ferner Sure 31, Vers 15. Ein Ringen gegen Andersgläubige und ein Beharren auf dem Übertritt zum Islam sind in Sure 29, Vers 69 gemeint. Überdies wird Sure 16, Vers 110 von der muslimischen Koranwissenschaft vielfach noch als mekkanisch angesehen, was aber wegen der Erwähnung der Hedschra ein Anachronismus ist: Denen, die die Hedschra vollzogen, auf dem Pfade Allahs Dschihad geführt und sich dabei beharrlich erwiesen haben, zeigt sich Allah barmherzig und verzeihend. Damit sind die nach muslimischer Auffassung mekkanischen Belege gesichtet. Kommen wir jetzt zu den medinensischen! In den ersten, als medinensisch angesehenen Versen von Sure 29 tauchen noch einmal die Eltern auf, die sich abmühen, ihre Kinder vom Islam abzubringen (Vers 8); davor steht die Zusage Allahs, daß jeder, der den Dschihad zu seiner Angelegenheit mache, dies zu eigenem (Jenseits-) Nutzen tue,5 da Allah selber nicht auf derlei Taten angewiesen sei. schon medinensisch sein soll. Das Verbalnomen Ê ihād findet sich in diesen beiden Versen nicht. 5 Dieser Gesichtspunkt spielt im Hadith eine wichtige Rolle, wie gleich deutlich werden wird.
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Was mit solchem Dschihad gemeint ist, wird den Muslimen an vielen Stellen eingeschärft: Diejenigen, die aus Mekka auswanderten und den Dschihad auf dem Pfade Allahs üben, dürfen die Barmherzigkeit Allahs erhoffen (Sure 2, 218; Sure 8, 72 und 74); nur die, die dies wirklich tun, gehören „zu euch“ (Sure 8, 75); man wiege sich nur nicht in der Hoffnung, daß Allah nicht zur Kenntnis nehmen werde, wer sich zum Kampf zur Verfügung halte (Sure 9, 16); bevor jemand in das Paradies eingelassen wird, schaut Allah sich genau an, ob der betreffende zu denen gehörte, die sich des Dschihad befleißigten (Sure 3, 142). Wer „gläubig“ ist, auswanderte und nun auf dem Pfade Allahs kämpft, nimmt bei Allah einen weit höheren Rang ein als die übrigen (Sure 9, 20). „Prophet! Führe Dschihad gegen die Ungläubigen und die Heuchler! Behandle sie hart! Ihre Behausung wird die Hölle sein – welch übles Ende!“ (Sure 9, 73; vgl. Sure 66, 9). Nicht alle in Medina waren mit diesem Befehl einverstanden. Manche blieben zu Hause und freuten sich insgeheim, daß sie sich Mohammed widersetzt hatten (Sure 9, 81). Wenn, so wird ihnen unterstellt, eine Sure mit einer Aufforderung zum Dschihad herabgesandt wird (vgl. Sure 9, 41), bitten die Wohlhabenden den Propheten um Dispens (Sure 9, 86); genau umgekehrt verhalten sich natürlich die „Gläubigen“ (Sure 9, 44; vgl. Sure 9, 88). „Ihr, die ihr glaubt! Fürchtet Allah und sucht ein Mittel, das euch zu ihm bringt, führt den Dschihad auf seinem Pfad – vielleicht werdet ihr dann glückselig!“ (Sure 5, 35). Diese Maxime ist zu befolgen; sollte jemand von der durch den Propheten etablierten Glaubenspraxis abfallen, dann wird Allah andere Leute kommen lassen, die er liebt und die ihn lieben; diese werden demütig gegen die „Gläubigen“ sein, aber stark gegen die Ungläubigen, und sie werden den Dschihad auf dem Pfade Allahs betreiben und niemandes Tadel fürchten (Sure 5, 54). Das nur in medinensischen Suren belegte Partizip aktiv (muÊ āhid) wird dort stets im Zusammenhang mit der Vorstellung des Ausziehens in den Krieg verwendet. In Sure 4, Vers 95 (drei Belege) wird unmißverständlich hervorgehoben, daß die Daheimgebliebenen unter den „Gläubigen“ von Allah weniger geschätzt werden als diejenigen, die unter Einsatz ihres Lebens und ihres Vermögens Dschihad treiben. Sure 47, Vers 31 tadelt die laueren Anhänger scharf, denn sie lassen es diesbezüglich an Eifer fehlen; Allah droht ihnen durch den Mund Mohammeds, daß er die „Gläubigen“ auf die Probe stellen werde, um diejenigen, die den Dschihad treiben, zu erkennen. Auch im „gesunden“ Hadith gibt es keine Belege für das Konzept eines „großen“ Dschihads, der angeblich auf eine selbstlose Veredelung des Ichs abzielt; der Begriff eines „großen“ Dschihads, gegen den ein „kleiner“ abzugrenzen wäre, fehlt in der Wensinck’schen Concordance, die neben den kanonischen „Sechs Büchern“ weitere wichtige Hadithsammlungen wie
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diejenige des AÎmad b. Íanbal erfaßt.6 Eine Überprüfung der sehr umfangreichen Kapitel al-BuÌārīs und Muslims über den Dschihad hat ergeben, daß dort ausschließlich von der kriegerischen Ausbreitung des Islams und von dem hohen Jenseitsverdienst die Rede ist, das die Beteiligung daran einträgt; in aller Ausführlichkeit werden ferner die Verteilung der Kriegsbeute, die Bedingungen für Abkommen mit den unterworfenen Andersgläubigen sowie die Kopfsteuer behandelt (vgl. in diesem Abschnitt den Text V). In den von at-TirmiÆī (gest. 892 / 3) zusammengetragenen „gesunden“ Hadithen verbürgt ein gewisser FaÃāla b. ÝUbaid7 die folgende Aussage Mohammeds: „Jedem, der stirbt, wird (das Register) der Taten versiegelt, nur nicht demjenigen, der beim Kampf auf dem Pfade Allahs stirbt – ihm werden die (guten) Taten bis zum Tag des Gerichts vermehrt, und ihm bleibt die Heimsuchung im Grab erspart“; ferner habe Mohammed erklärt: „Ein muÊ āhid ist derjenige, der wider sein Ich angeht (Ê āhada)“ (faÃāÞil al-Êihād 2; vgl. AÎ mad b. Í anbal: Musnad, VI, 20–22). Der Dschihad bzw. der in at-TirmiÆīs Version genannte Grenzkampf (arab.: ar-ribāÔ ) gegen die Territorien der Andersgläubigen stellt sich als eine unausgesetzte Gehorsamshandlung gegen Allah dar – die der Muslim zu eigenem Jenseitsnutzen vollzieht, wie vorhin erläutert wurde. Die Teilnahme an solchem Kampf ist einer Lebensführung vergleichbar, die allein aus dem Fasten und dem Stehen vor Allah bestünde und daher vorzüglicher wäre als die gewissenhafte Erfüllung aller Ritualpflichten. Dieser Gedanke ist schon bei den Vorläufern des Sufismus bezeugt. So erläutert ÝAbdallāh b. al-Mubārak (gest. 796), Autor eines umfangreichen Buches über das Niederringen der gegen Allahs Gesetz gerichteten Bestrebungen des Ichs, in einer Abhandlung über den Dschihad, Mohammed habe einen seiner eifrigsten Anhänger darauf hingewiesen, daß es mehr Jenseitsverdienst einbringe, ins Feld zu ziehen als 6 Nach dem Zeugnis der Korankommentare meint der in Sure 25, Vers 52 erwähnte „große“ Ê ihād den an Mohammed ergangenen Auftrag, den Islam nicht nur an einem Ort, also in Mekka, sondern überall auszubreiten (so aÔ-Óabarī), wobei auch Gewalt anzuwenden sei (FaÌr ad-Dīn ar-Rāzī); desgleichen al-BaiÃāwī (gest. 1316), der auch die Auslegung kennt, derzufolge der argumentative Kampf gegen „Dummköpfe“ (vgl. 1. Herabwürdigung …) „größer“ sei als der Kampf mit der Waffe. Auch der sunnitische Sufi-Gelehrte al-Qušairī (gest. 1074) schreibt in seinem Korankommentar, unter dem „großen“ Dschihad sei eine besonders intensive Anstrengung zur Ausbreitung des Islams zu verstehen. 7 Beim Tode Mohammeds soll er, damals ein Jüngling von siebzehn Jahren, bereits kriegserfahren gewesen sein. Er gehörte zu den wenigen medinensischen „Helfern“, die nach der Ermordung ÝU×māns im Jahre 656 nicht zu ÝAlī, sondern zu MuÝāwija hielten. Unter diesem machte er, vor allem in den Seekriegen gegen Byzanz, Karriere. Um 670 soll er Dscherba erobert haben. Er starb wenige Jahre darauf in Damaskus, wo ihm das Amt des Kadis übertragen worden war. In Ägypten setzte er Hadithe in Umlauf, die den Jenseitslohn der Glaubenskrieger hervorheben (Ibn ÝAbd al-Íakam:, FutūÎ MiÒ r, ed Torrey, New Haven 1922, 276–278).
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unter seiner, des Propheten, Anleitung die Pflichtgebete zu verrichten; jeder Gesandte Allahs habe seine Art von Mönchtum (arab.: ar-rahbānīja), diejenige des Islams sei der Dschihad (Ý Abdallāh b. al-Mubārak: Kitāb al-Êihād, ed. Nazīh Í ammād, Beirut 1971, 34–36; vgl. AÎ mad b. Í anbal: Musnad, III, 82 und 266). Abu Bakr b. al-ÝArabī (gest. 1148), der Kommentator der Hadithsammlung at-TirmiÆīs, stellt sich in diese Tradition, indem er im Zusammenhang mit der oben zitierten Überlieferung FaÃāla b. ÝUbaids ausführt: Die Sufis hätten erkannt, daß die Grundlage des Erwerbs eines sich nach dem Tode mehrenden Jenseitsverdienstes das Niederringen der eigensüchtigen Bestrebungen des Ichs sei. Abū Bakr b. al-ÝArabī stand den Almoraviden (arab.: al-murābiÔ ūn, d. h. diejenigen, die den ribāÔ ausüben) nahe, einer der vielen in der islamischen Geschichte bezeugten Bewegungen, die den Krieg gegen Andersgläubige – und gegen nach ihrer Ansicht allzu laue Muslime – für die Konsequenz eines erfolgreichen Kampfes gegen das Ich erachteten. Auch im islamischen Osten glaubte man im 11. Jahrhundert, den Kampf um die Ausbreitung des Islams in einer auf Dauer gestellten „Zähmung“ des Ichs fundieren zu müssen, wie das Beispiel des Sufi-Führers Abū IsÎāq al-Kāzarūnīs (gest. 1035) lehrt; die Zoroastrier in der Persis bekamen seinen und seiner Anhänger Furor zu spüren (vgl. Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, I, 401–419). Die gleiche Gesinnung prägte auch das osmanische Glaubenskriegertum.8 Fazit: Daß die islamischen autoritativen Texte einen „großen“ Dschihad zur selbstlosen Veredelung des Ichs empfehlen sowie den Krieg gegen die Andersgläubigen diesem „großen“ Dschihad gegenüber abwerten, stimmt mit dem Quellenbefund nicht überein und ist in das Reich der Fabeln zu verweisen, die die aggressiven Züge der Scharia vernebeln sollen. d) „Kein Zwang im Glauben“ Kaum ein Passus des Korans wird heute so gern zitiert wie das Bruchstück von Sure 2, Vers 256: „Im Glauben gibt es keinen Zwang.“ Man legt diese Worte als ein Zeugnis für die umfassende Toleranz Mohammeds und seiner Botschaft aus.9 Nun hatte Jūsuf al-QaraÃāwī in seiner bereits erwähn8 Einen lebhaften Eindruck von dieser Gesinnung vermittelt R. Kreutel (Übers.): Vom Hirtenzelt zur Hohen Pforte. Frühzeit und Aufstieg des Osmanenreiches nach der Chronik „Denkwürdigkeiten und Zeitläufte des Hauses ÝOsman“ vom Derwisch Ahmed, genannt ÝAşık-Paşa-Sohn, Styria Verlag Graz 1959 (Osmanische Geschichtsschreiber 3). 9 Ein Beispiel diesbezüglicher islamophiler Gefälligkeitspublizistik bietet der Aufsatz von G. Krämer „‚Kein Zwang in der Religion‘? Religiöse Toleranz im Islam“, in: Matthias Mahlmann / Hubert Rottleuthner (Hgg.): Ein neuer Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz, Berlin 2006, 141–157 (in etwas
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ten der Religionsfreiheit gewidmeten Sendung vom 6. Februar 2005 aus diesen Worten etwas ganz anderes herausgelesen (vgl. auch in diesem Abschnitt, Text I). Indem er auch den zweiten Teil des Verses zitierte – „Der rechte (religiöse) Weg ist nunmehr deutlich vom Irrtum unterschieden. Wer daher (fortan) an den Götzen nicht mehr glaubt, wohl aber an Allah, der klammert sich an die festeste Schlinge, die sich nicht auflösen wird.“ –, hob er hervor: Der rettende Griff nach dieser Schlinge dürfe nicht in einer Zwangslage erfolgen, die keinen anderen Ausweg mehr erkennen lasse, sondern müsse freiwillig geschehen. Von einer freien Wahl unter mehreren gleichberechtigten Religionen ist in Sure 2, Vers 256 nicht die Rede; vielmehr wird der Schritt zum Islam hin als die unumgängliche Folge der laut Mohammed durch die Verkündigung der koranischen Botschaft jedermann erkennbar gewordenen Wahrheit aufgefaßt. Die Heiden und die Schriftbesitzer verweigern diesen Schritt, eben weil sie töricht wie das Vieh sind (vgl. unter 1. Herabwürdigung). Um der eigentlichen Bedeutung von Sure 2, Vers 256 auf die Spur zu kommen, soll zuerst der inhaltliche Zusammenhang geprüft werden, in dem diese Aussage steht; danach ist der Vers in ganzer Länge zur Kenntnis zu nehmen. Zunächst ist festzustellen, daß in Sure 2, Vers 256 weder vom „Glauben“ im vorhin dargelegten Sinn einer unbedingten Kampfbereitschaft „auf dem Pfade Allahs“ gesprochen wird, noch von Religion als einem Lehrgebäude und den sich zu diesem Bekennenden. „Glaube“ in diesen beiden Bedeutungen heißt īmān. In Sure 2, Vers 256 steht jedoch der Begriff dīn. Er benennt die Gesamtheit der durch den Menschen aus Dankbarüberarbeiteter Form nochmals gedruckt in G. Krämer: Islam und Demokratie, München 2011, 125–145): Nach dem koranischen Kontext des Versfragments wird gar nicht gefragt, ebenso wenig nach der koranischen Bedeutung der darin verwendeten Kernbegriffe; die Autorin versucht, einige ganz anders lautende Koranverse mit allgemeinen Sentenzen zu relativieren – den Überlegenheitsanspruch des Islams gebe es, aber der Koran lasse „Raum für die duldende Toleranz, unter Umständen sogar für die anerkennende“ (S. 146); diesbezüglich hätte man gern Näheres gewußt. Stattdessen huscht die Verfasserin nun über ein paar allgemeine Zitate aus der Sekundärliteratur hinweg und endet mit einem Lob auf die islamische Toleranz. In den meisten muslimischen Mehrheitsgesellschaften und ihren Verfassungsordnungen gebe es freilich noch einige Vorbehalte gegen Andersgläubige. „Hier – nicht im Gewicht religiöser Argumente, Stimmen und Kräfte im öffentlichen Raum – liegt der entscheidende Unterschied zu den säkularisierten Rechtsordnungen des Westens“, was nicht so bleiben müsse … Getreu ihrem Dogma des Essentialismusverbotes (vgl. oben, 23 f.) erklärt sie die religiöse Botschaft für unwirksam und folgenlos. Es wird wiederum deutlich, warum die Islamophilie ohne ein Verbot des sogenannten Essentialismus nicht auskommt: Es dient dem Ziel, sich zu den für ein freiheitliches Gemeinwesen anstößigen Lehren des Islams nicht äußern zu müssen und denjenigen, der dies doch tut, als Wissenschaftler zu diskreditieren und in moralischer Hinsicht zu verurteilen.
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keit dem Schöpfer zu widmenden Gedanken und Handlungen, also den zu praktizierenden Glauben oder die das ganze Dasein des Menschen erfassende Glaubenspraxis; in Anlehnung an Sure 51, Vers 56: „Ich habe die Dschinnen und die Menschen nur geschaffen, damit sie mir dienen“, kann man sagen, daß mit dīn der Daseinszweck aller Kreatur beschrieben wird. Er ist mit dem „Islam“ identisch: „Als die Glaubenspraxis gilt bei Allah der Islam“, stellt Sure 3, Vers 19 lakonisch fest. In derselben Sure lesen wir in Vers 85: „Wer als Glaubenspraxis etwas anderes als den Islam begehrt, von dem wird man (jene andere Art des Kultus) nicht akzeptieren.“ In einer der spätesten Offenbarungen, in Sure 5, heißt es mitten in einer Aufzählung ritueller Vorschriften über den Verzehr von Tieren: „Heute habe ich (d. h. Allah) an euch meine Gnade vollendet, und ich bin es zufrieden, daß ihr den Islam als Glaubenspraxis habt“ (Vers 3). Die Glaubenspraxis, die Islam genannt wird, ist laut Koran mit der ursprünglichen Lebensart, zu der Allah alle Kreatur geschaffen hat, identisch: „Richte als Gottsucher (arab.: al-Î anīf) dein Gesicht auf die Glaubenspraxis! (Solches Verhalten) ist die ursprüngliche Art (arab.: al-fiÔ ra), in der Allah die Menschen geschaffen hat; und die Schöpfung Allahs kann niemand austauschen! Das ist die zeitlos wahre Glaubenspraxis. Die meisten Menschen freilich wissen das nicht“ (Sure 30, 30). Entsprechend dieser Aussage soll Mohammed laut einem häufig zitierten Hadith ausgeführt haben, daß jedes Neugeborene sich im Zustand der fiÔ ra befinde, dann aber durch seine Eltern, sofern diese ihre fiÔ ra bereits eingebüßt hätten, z. B. zum Judentum oder Christentum erzogen und damit der einzig wahren, von Allah gewollten Lebensart entfremdet werde. Juden und Christen haben nach koranischer Vorstellung die von Allah gewollte Glaubenspraxis verfälscht, indem sie ihren Rabbinern und Mönchen Verehrung zollen, wie sie nur Allah zukomme (Sure 9, 31); ja, das Mönchtum sei eine von den Christen eigenmächtig eingeführte religiöse Verhaltensweise (Sure 57, 27). Allah aber will es mit der neuerlichen Stiftung der wahren, der islamischen Riten, die eins sind mit der fiÔ ra, den Menschen nunmehr leicht machen, nicht schwer (Sure 2, 185). Deshalb kann Mohammed den zum Dschihad Unwilligen laut Sure 22, Vers 78 (vgl. oben, b. Der Glaube) entgegenhalten, die Glaubenspraxis enthalte doch nichts Bedrückendes, so daß der Einsatz im Glaubenskampf kein unbilliges Ansinnen sei. Und damit sind wir auf die Lektüre von Sure 2, Vers 256 im vollen Wortlaut vorbereitet. Wir setzen bereits mit Vers 255, dem „Thronvers“, ein: Allah ist Tag für Tag tätig, anders als Juden und Christen lehren, ruht er nie; und dennoch ist es ihm ein Leichtes, Himmel und Erde vor Schaden zu bewahren, die er ohne Unterbrechung vom Augenblick der Schöpfung an von seinem Thron herab regiert; „in der Glaubenspraxis gibt es kein Zwingen. Denn der rechte (religiöse) Weg ist nunmehr deutlich vom Irrtum unterschieden. Wer daher
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(fortan) an den Götzen nicht mehr glaubt, wohl aber an Allah, der klammert sich an die festeste Schlinge, die sich nicht auflösen wird. Allah hört und weiß alles“ (Sure 2, 256). Eine verfälschte, nicht islamische Glaubenspraxis, die folglich nicht der ursprünglichen Art entspricht, kann nur durch Zwang aufrechterhalten werden. Nun aber, da rechter Weg und Irrtum dank der Berufung Mohammeds zum Propheten klar zu erkennen sind, gibt es keinen Vorwand mehr, sich nicht dem Islam zuzuwenden. Sure 2. Vers 256 zeugt also gerade nicht für die Religionsfreiheit, sondern formuliert unmißverständlich den Ausschließlichkeitsanspruch des Islams (vgl. Abschnitt A., Text I und II). Zusatz vom 30. Juli 2011: In der islamischen Welt löst die für Nichtmuslime bestimmte Auslegung von Sure 2, Vers 256, im Sinne einer angeblich durch den Koran gewährleisteten Religionsfreiheit Mißbehagen aus; sie könnte Muslime ermuntern, sich näher mit anderen Religionen einzulassen. „Wir hören neuerdings öfter die Aussage: ‚Der Islam garantiert Glaubensfreiheit.‘ Diejenigen, die das behaupten, beziehen sich dabei auf“ Sure 2, Vers 256. „Stimmt diese Behauptung?“ ÑāliÎ b. al-Fawzān (geb. 1933), unter anderem ein führendes Mitglied im mit Schariafragen befaßten Gremium der Liga der islamischen Staaten (Wikipedia, arabischer Text, s. v. ÑāliÎ b. al-Fawzān, 27. Juli 2011), antwortet hierauf wie folgt: „Das ist eine Lüge, die Allah zugeschrieben wird. Der Islam hat nicht die Glaubensfreiheit verkündet. Der Islam verkündigte das Verbot des Polytheismus“ – worum es in Sure 2, Vers 256 vor allem geht, wie dargelegt wurde – „und des Unglaubens und schrieb den Kampf gegen die Polytheisten vor. Falls der Islam die Glaubensfreiheit verkündigt hätte, hätte die Menschheit weder die Sendung der Gesandten, noch die Herabsendung der Bücher [der Offenbarungen] benötigt. Die Menschheit hätte weder [die Anweisung zum] Dschihad noch zum Kampf nach Allahs Willen benötigt. Wenn dem so wäre, könnte jeder leben, wie er wollte, jeder wäre frei. Nein, ganz im Gegenteil sagt Allah: ‚Und Ich habe die Dschinnen und die Menschen nur darum geschaffen, damit sie Mir dienen‘ (Sure 51, 56). Allah sagte nicht, dass jeder nach seinem eigenen Willen leben dürfe, sondern … nur, damit sie Mir dienen‘. Allah sagte auch: ‚Und kämpft gegen sie, bis es keine Verwirrung [mehr] gibt und die Religion‘ – auch hier ist von der Glaubenspraxis die Rede (Nagel) – ‚Allah gehört‘ (Sure 2, 192). Derjenige, der sich weigert, Allah anzubeten, wird bekämpft. Er darf nicht sich selbst überlassen werden, sondern muss solange bekämpft werden, bis er entweder zur Religion [des Islam] zurückkehrt oder getötet wird. Der Islam hat nicht die Glaubensfreiheit der falschen [wörtlich: ungläubigen] Religionen verkündigt. Dies ist eine Lüge, die Allah zugeschrieben wird. Allah sendet die Bücher herab, sendet die Gesandten, schreibt den Dschihad vor und schreibt die Bestrafungsmethoden und die Strafen vor, um die Menschen vor dem falschen Glauben und dem korrupten Denken zu schützen. Allah möchte die Menschen auf diese Weise schützen, weil sie Allahs Knechte sind. Deshalb müssen die Menschen lediglich Allah allein anbeten, ohne ihm etwas beizugesellen [etwas anderes neben ihm zu verehren]. Anderenfalls müssen die abschreckenden Strafen vollzogen werden; also die Strafen, die Allah vorgeschrieben hat. Die Aussage ‚Es gibt keinen Zwang in der Religion‘ meint keine Meinungsfreiheit, sondern dass dieser Koranvers nicht die Menschen zwingen kann, an die Religion [des Islam] im Herzen zu glauben. Dies
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kann nur Allah bewirken: ‚… du kannst dem den Weg nicht weisen, den du liebst; Allah aber weist dem den Weg dem Er will‘ (Sure 28, 56). Nur Allah kann die Herzen rechtleiten. Dies kann nicht durch Zwang geschehen, sondern durch freien Willen. Wir kämpfen jedoch gegen die Ungläubigen und die Polytheisten, denn Allah hat uns das vorgeschrieben. Wir laden zum Guten ein und verbieten das Unrecht. Wir erklären das und sagen nicht ‚Es gibt keinen Zwang in der Religion‘. Wir zwingen die Menschen nicht zum Glauben, aber wir bestrafen denjenigen, der die Religion [des Islam] verlassen hat. Wer aber seinen Unglauben im Herzen versteckt, der wird Allah überlassen. Nur Allah kann solche Menschen [die rein äußerlich den Gesetzen des Islam folgen] besiegen. Dies ist die Bedeutung des Verses ‚Es gibt keinen Zwang in der Religion‘. Allah sagt: ‚Du kannst dem den Weg nicht weisen, den du liebst; Allah aber weist dem den Weg, dem er will‘ (Sure 28, 56). Wer sagt: ‚Es gibt keinen Zwang in der Religion‘ sagt ebenfalls: ‚Und kämpft gegen sie, bis es keine Verwirrung [mehr] gibt und die Religion Allah gehört‘ (Sure 2, 192).“ – Gemeint ist: Derjenige, der den ersten Satz sagt, nämlich Allah, sagt auch den zweiten, und daher ist es eine Lüge, zu behaupten, Allah habe die Religionsfreiheit verkündet (Nagel) – „Also, warum nennen Sie einen Koranvers und übersehen einen anderen?“ (heruntergeladen am 30. Juli 2011, http / / www.islaminstitut.de / Nachrichte nanzeige.55+M5b1dae5c98a.0.html, Quelle: www.youtube.com / watch?v=8Ucd2nXO 3U&feature=related).
7. „Meine Diener sind die Erben der Erde“ Die Folgsamkeit gegenüber den Geboten Allahs und der Besitz der Erde werden im Koran miteinander verknüpft. In den älteren mekkanischen Passagen des Korans werden die Gottesfürchtigen nach dem Tag des Gerichts das Paradies erben (z. B. Sure 23, 8–11). Dem jenseitigen Aspekt eines solchen Aktes der Übereignung kann jedoch auch schon ein diesseitiger beigemischt sein: In Scharen werden die Gottesfürchtigen ins Paradies geleitet; sie sagen währenddessen: „Preis sei Allah, der uns sein Versprechen wahrgemacht und das Land zum Erbe gegeben hat! (Jetzt) können wir im Paradies Wohnung nehmen …“ (Sure 39, 73 f.; vgl. Sure 21, 104 f.). Es gewinnt der Gedanke Raum, daß Allah den Ungläubigen das Land entreiße, um es den „Gläubigen“ als Erbe zu überlassen. Als „historisches“ Beispiel führt Mohammed die Ägypter und den Pharao an; deren Land übertrug er den Israeliten als Erbteil (Sure 26, 59; Sure 44, 28). In unübersehbarer Anspielung auf einen Teil seiner Anhängerschaft, nämlich die „im Lande Unterdrückten“ (arab.: Pl. al-mustaÃÝ afūn), heißt es am Beginn von Sure 28: Pharao herrschte wie ein Tyrann, „während wir (d. h. Allah) denen, die im Lande unterdrückt waren, Gnade erweisen, sie zu Erben und Vorbildern machen und ihnen Macht im Lande geben wollten …“ (Vers 4–6). Allah vergibt das Land als ein Erbe an diejenigen, die an ihn glauben, und wenn diese sich von ihm wenden, sucht er sich andere Erben, liest man sinngemäß im 100. Vers der spätmekkanischen Sure 7: Mose verkündet den
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Juden, die Erde gehöre Allah, dieser verteile sie nach seinem Ratschluß unter seine Diener (Vers 128); Pharao und sein Volk seien vernichtet worden, „und wir gaben dem Volk, das vorher unterdrückt war, die östlichen und die westlichen Gegenden des Landes, das wir gesegnet hatten, zum Erbteil …“ (Vers 137). Die Verheißung erfüllt sich nach Mohammeds Überzeugung in Medina, als die Belagerung durch eine feindliche Stammeskoalition scheitert, ohne daß es zu heftigen Kämpfen gekommen wäre. Medinensische Juden, die er der heimlichen Zusammenarbeit mit den Angreifern zeiht, vertreibt er nun: „Allah wehrte die Ungläubigen mit all ihrem Groll ab; sie richteten nichts aus. Den ‚Gläubigen‘ ersparte er den Kampf … (Danach) holte er die ‚Schriftbesitzer‘, durch die (die Belagerer) unterstützt worden waren, aus ihren Wohnburgen herab und jagte ihren Herzen Schrecken ein. Einen Teil von ihnen konntet ihr töten, den anderen gefangennehmen. (Allah) gab euch ihr Land, ihre Wohnsitze und ihr Vermögen zum Erbe und (noch dazu) Land, das ihr noch nicht betreten hattet …“ (Sure 33, 25–27). Im „gesunden“ Hadith spricht sich Mohammed das Eigentum an allen Gütern der Welt zu: Er hat von Allah die Schlüssel zu den Schätzen der Erde erhalten (al-BuÌ ārī, maġāzī 27; Muslim, faÃāÞil 30). In einem anderen weit verbreiteten Hadith sagt er: „Mit folgenden Vorzügen wurde ich vor den anderen Propheten ausgezeichnet: Ich wurde berufen, mit knapper, aber inhaltsreicher Sprache zu reden; mir wurde der Sieg mittels des Schreckens (den ich verbreite) verliehen; mir wurde die Kriegsbeute erlaubt; mir wurde die ganze Erde als ein rituell reiner Gebetsplatz zugewiesen; ich wurde an die ganze Schöpfung geschickt; mit mir wurde (die Reihe) der Propheten abgeschlossen.“ Varianten dieses Hadithes enden mit dem Satz: „Während ich schlief, legte man mir die Schlüssel zu den Schätzen der Erde in die Hände“ (al-BuÌ ārī, ºihād 122 sowie taÝbīr 11 und 22; Muslim, masāºid 6 und 7). Den die Andersgläubigen herabwürdigenden Wahrheitsanspruch mit dem Einsatz von Gewalt durchzusetzen, ist demnach legitim und trägt nicht erst im Jenseits Lohn ein, sondern schon im Diesseits, das ohnehin das Erbteil der Muslime ist. Auch bei diesem Thema erübrigt sich ein Verweis auf den Inhalt moderner Verfassungsnormen; es ist geradezu ein Musterbeispiel für Aussagen des Korans und des Hadith, über die die Zeit hinweggegangen ist. 8. Fehlende Gleichberechtigung der Frauen Hier ist an die abschließende Bemerkung des vorigen Abschnitts anzuknüpfen. Daß die Vorschriften des Korans den Frauen die Gleichberechtigung mit den Männern rundweg absprechen, ist eine weithin bekannte
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Tatsache und bedarf keiner erneuten ausführlichen Dokumentation. Als eine eigenständige Persönlichkeit kommt Mohammed die Frau im Koran nicht in den Blick; sie wird stets vom Mann aus definiert. So heißt es am Ende des 228. Verses von Sure 2, in dem die Wartefrist der verstoßenen Ehefrau geregelt wird: „Die Männer haben eine Stufe (Vorrang) vor ihnen.“ MuÎ ammad Ñ iddīq Í asanÌ ān Bahādur (gest. 1890), der Autor eines Handbuches der schariatischen Bestimmungen über die Frauen, begründet diesen Vorrang wie folgt: Die Männer kommen für den Unterhalt der Frauen auf; die Männer sind „die Leute des Dschihad, des Verstandes, der Stärke“; sie haben einen höheren Anteil am Erbe (vgl. Sure 4, 7–12 und 176); sie sind für die Ämter des Imams und des Kadis tauglich; ihr Zeugnis gilt mehr (vgl. Sure 2, 282; im Falle von Unzucht sind nur männliche Zeugen zugelassen: Sure 4, 15 und Sure 24, 2–4); die Männer werden beim Wergeld angerechnet; sie schließen Eheverträge und haben das Recht, die Frau zu verstoßen; die Frau ist zum Gehorsam gegenüber dem Mann verpflichtet, ja, nicht nur das, sie hat für das Behagen des Mannes zu sorgen (Íusn al-uswa bi-mā ×abata mina l-lāh wa-rasūli-hī fī n-niswa, Beirut ca. 1980, 15 f.). In gleicher Weise äußert sich MuÎammad Ñiddīq anläßlich Sure 4, Vers 34 (ebd., 49), wo man liest: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Allah sie vor ihnen auszeichnete und weil sie aus ihrem Vermögen für (die Frauen) aufkommen“; die Frauen haben sich daher demütig zu verhalten, und den Männern steht das Recht zu, sie zurechtzuweisen und nötigenfalls zu züchtigen. Der inferiore Rang der Frau wird im Koran aber nicht, wie MuÎammad Ñiddīq meint, damit religiös gerechtfertigt, daß Eva aus der Rippe Adams geformt worden und deswegen gewissermaßen ein sekundärer Mensch sei (op. cit., 15). Dem Koran ist dieses biblische Bild vielmehr fremd. Dagegen finden sich Reminiszenzen an die spätantike Vorstellung, die Menschheit leite sich von einem androgynen Urwesen her: „Ihr Leute, achtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen schuf und aus diesem (einen Wesen) das dazugehörige (zweite) Wesen und der von diesen beiden Wesen her viele Männer und Frauen (über die Welt hin) ausbreitete! Achtet Allah, bei dem (d. h. bei dessen Namen) ihr einander bittet, (und achtet) die Blutsverwandtschaft! Allah beobachtet euch“ (Sure 4, 1). Das Adam beigegebene, ebenfalls aus dem Urwesen gestaltete zweite Geschöpf bleibt im Koran namenlos; beide bilden eine Einheit, doch nur deren männlicher Teil trägt einen Namen, nämlich Adam. Ihnen beiden flüstert der Satan ein, von den verbotenen Früchten zu kosten, beide tun es gemeinsam (Sure 7, 19–22). – „Ihr Leute, wir schufen euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen her und teilten euch in Völker und Stämme, damit ihr einander erkennen (könnt). Am edelsten unter euch gilt bei Allah allerdings der Gottesfürchtigste“ (Sure 49, 13). Die Genealogie, in der die Namen der
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Frauen höchstens in Ausnahmefällen zur Geltung kommen, ist das von Allah beabsichtigte Ordnungssystem der Menschheit; dieses System zu beeinträchtigen, zieht daher eine der koranischen Strafen nach sich; die Wahrung einer eindeutigen Abstammung ist eines der wesentlichen Anliegen der Scharia (vgl. unter e. Die koranischen Strafen). Diesen Zweck verfolgen die im Koran angeordneten Wartefristen (vgl. Sure 2, 234 f.). – Indem der Mann den Geschlechtsverkehr ausübt, stellt er, so scheint es, die ursprüngliche Einheit des Urwesens symbolisch wieder her; Mann und Frau gehören zusammen wie der Mensch und seine Kleidung (Sure 2, 187). Die vom Mann her gedachte conditio humana erfüllt sich, wenn er, wie es in einem Bild heißt, sein Ackerland aufsucht, was er ohne Einschränkung tun möge (Sure 2, 223).10 – In der männlich-weiblichen Zweiheit, die im androgynen Urwesen noch eine Einheit war, ist, wie aus diesen Belegen erhellt, der Mann der in der Öffentlichkeit sichtbare Teil. Die Frau hat weitgehend unsichtbar zu bleiben, denn ihr ganzer Leib mit Ausnahme des Gesichts, der Hände und der Füße ist eine zu verhüllende „Schamgegend“ (arab.: alÝ aura). Das gleiche gilt manchen Schariagelehrten auch für ihre Stimme; zumindest ist diese geeignet, unter den Männern eine erotische Anfechtung (arab.: al-fitna) zu verursachen (Belege bei MuÎ ammad Ñ iddīq, op. cit, 406 f.). – „Meint es gut mit euren Frauen!“ riet Mohammed in seiner berühmten Predigt, die er während seiner letzten Wallfahrt hielt, „denn sie sind bei euch wie Gefangene, die für sich selber nichts zueigen haben“ (al-Wāqidī: al-Maġāzī, 1112; als „gesundes“ Hadith: Ibn Māº a, nikāÎ 3). Die eben erörterten Belege zeigen, daß der inferiore Rang der Frau die Konsequenz der von Mohammed verkündeten religiös legitimierten gesellschaftlichen Ordnung ist; die den Männern vorbehaltenen Funktionen der religiös-politischen Führerschaft (vgl. hierzu auch die vielfältigen Ausführungen bei MuÎ ammad Ñ iddīq, op. cit., zusammengefaßt auf S. 409 und 413 f.), ferner der Dschihad und der Vollbesitz des Verstandes bilden einen Begründungszusammenhang, der auf die von Allah gestiftete „beste Gemeinschaft“ (Sure 3, 110; vgl. oben 3. Verwerfung der Pluralität) verweist. Vielfach wird von islamischer Seite in apologetischer Absicht behauptet, die Abwertung der Frau habe nichts mit dem Islam als Religion zu tun, sondern gehe auf Einflüsse von anderer Seite zurück. Daß im Koran Ideengut aus unterschiedlichen Quellen zusammenkommt, ist eine Binsenweisheit. Sie ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Rechtfertigung des Ranges der Frau über die Botschaft des Korans, also über die Religion erfolgt. Die Indoktrinierung der Muslime mit den die Frauen abwertenden Ideen bedient sich der von Mohammed verkündeten Botschaft. In einem säkularisierten 10 In der sunnitischen Theosophie Ibn ÝArabīs (gest. 1240) und in deren vielfältiger Rezeption spielt dieses Gedankengut eine tragende Rolle.
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und an den Menschenrechten orientierten Gemeinwesen ist diese Argumentation nicht hinnehmbar. Mohammeds Verkündungen und deren Ziele liegen der von ihm in Medina eingeführten Form der Ehe zugrunde, auf die noch kurz einzugehen ist. Das vorislamische Arabien kannte im wesentlichen zwei Typen der Ehe: 1. Die Kauf- oder Raubehe – entweder durch Kauf oder durch Raub brachte der Mann eine Frau aus einem anderen Stamm in seinen Besitz; sie galt als sein Eigentum und wurde im Falle, daß er vor ihr starb, unter seinen männlichen Verwandten vererbt. Kaufehen waren, da kostspielig, verhältnismäßig selten; der entrichtete Kaufpreis ging in das Vermögen der veräußernden Sippe über. Zumindest in Mekka war es in der Zeit Mohammeds üblich geworden, zur Umgehung solcher finanziellen Transaktionen Ehen unter nahen Verwandten zu stiften. So begehrte Mohammed eine Tochter seines Onkels Abū Óālib, Umm HāniÞ, zur Frau, der sie ihm aber verweigerte und in einen einflußreichen quraišitischen Klan verheiratete. 2. Die sogenannte uxorilokale Ehe war vermutlich am häufigsten: Ein Mann schloß mit einer Frau einer fremden Sippe einen Vertrag über Geschlechtsverkehr ab, die Frau verblieb in ihrer Sippe, das Entgelt wurde ihr Eigentum. Mohammed selber ging aus einer solchen Verbindung hervor, und seine Ehe mit Ëadīºa, bei der er Wohnung nahm, wird von gleicher Art gewesen sein. – Beide Eheformen setzen voraus, daß das überkommene Stammesgefüge in Funktion bleibt; durch die Ausbreitung des Islams, vor allem nach der Verlagerung des Mittelpunkts nach Medina, wurde dieses Gefüge jedoch empfindlich gestört. Zumal bei der uxorilokalen Ehe wurden etablierte Bindungen durch den Übertritt eines der Partner zum Islam in Mitleidenschaft gezogen. Überdies, und das könnte für Mohammed ausschlaggebend gewesen sein, weckten uxorilokale Beziehungen – eine Frau konnte sie mit mehreren Männern eingehen – Zweifel an der Identität des Kindsvaters und schufen somit Unklarheiten bezüglich der Genealogie. Deren Eindeutigkeit sollte aber ein wesentliches Merkmal der „besten Gemeinschaft“ sein. So führte Mohammed eine modifizierte Art der Kaufehe ein, und zwar zu einem Betrag, nunmehr Brautgeld genannt, der von vielen seiner Anhänger aufgebracht werden konnte; in den Quellen ist durchweg von 500 Dirhem die Rede, was der Hälfte der Kosten entsprach, die für den Freikauf eines Kriegsgefangenen in der Regel anfielen. Die Frau wechselte in die Sippe des Mannes über, wurde aber nicht als deren Eigentum betrachtet, konnte demnach nach dem Tod des Mannes nicht vererbt werden (vgl. Sure 4, 19–24). Die Wiederverheiratung der Witwen wurde zu einer Angelegenheit der „besten Gemeinschaft“ und fiel später in die Zuständigkeit des Kadis. Die Frauen in uxorilokalen Eheverhältnissen hatten sich durch ihre Eigenständigkeit, auch in Handelsgeschäften, ausgezeichnet; ein berühmtes Beispiel war Salmā, die in Medina lebende Mutter von Mohammeds Großvater
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ÝAbd al-MuÔÔalib. Mit der Einrichtung der erschwinglichen Kaufehe ging diese Eigenständigkeit verloren – „Gefangene, die für sich selber nichts zueigen haben“. Inwieweit der Ehemann über das von ihm aufgebrachte Brautgeld verfügen darf (vgl. Sure 4, 4), ist ein Streitpunkt unter den Schariagelehrten. Das Recht der Verstoßung, das im Ehevertrag modifiziert werden kann, sowie das Recht, Widersetzlichkeiten zu ahnden (Sure 4, 34), eröffnen dem Mann vielfältige Möglichkeiten der Repression. Resümee: Unter acht Gesichtspunkten wurde aufgezeigt, daß die der Scharia zugrundeliegenden, im Koran und im „gesunden“ Hadith verbürgten Vorstellungen von der Gesellschaft und deren Fundamenten ein geschlossenes System bilden, das sich auch in Einzelaspekten nicht mit der Verfassung eines säkularisierten, pluralistischen Gemeinwesens vereinbaren läßt. In Anbetracht dieser Tatsache bleibt unbeantwortet, was es beispielsweise bedeutet, daß der KRM sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands bekennt, zugleich aber Koran und Sunna für die Grundlagen seiner Tätigkeit erklärt (Pax Europa, Landesverband Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 22.11.2007). Oder, um ein bereits fünf Jahre altes Dokument zu zitieren, was besagt es, wenn die Islamische Charta in § 11 feststellt: „Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens“? In § 3 liest man hingegen: „Die Muslime glauben, daß sich Gott über Propheten wiederholt geoffenbart hat, zuletzt im 7. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung gegenüber Mohammed, dem ‚Siegel der Propheten‘. Diese Offenbarung findet sich als unverfälschtes Wort Gottes im Koran (Qur’an), welcher von Mohammed erläutert wurde. Seine Aussagen und Verhaltensweisen sind in der sogenannten Sunna überliefert. Beide zusammen bilden die Grundlage des islamischen Glaubens, des islamischen Rechts und der islamischen Lebensweise.“ Was soll nun gelten? Die Scharia, die sich auf die autoritativen Texte des Islams stützt und deren Inhalt über die Zeiten hinweg verwirklicht werden soll – und die sehr wohl Gewalt gegen Andersgläubige vorsieht? Oder doch das Grundgesetz, das damit die Autorität von Koran und Sunna aufhöbe? Oder rechnen die Verfasser der Charta mit der Unwissenheit der Nichtmuslime, denen man unwidersprochen weismachen könne, der Koran verwerfe „jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens“, während die eigene Klientel beruhigt zur Kenntnis nehmen darf, daß die Autorität von Koran und Sunna ungeschmälert gelte?
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Die Zeiten, in denen die nichtmuslimische Öffentlichkeit sich mit wohlfeilen Versicherungen begnügte und auf eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts vor dem Hintergrund der Gesamtheit der autoritativen Texte verzichtete, sind vorüber. Ob nur noch ein Teil der autoritativen Texte gelte und welcher Teil dies denn sein solle, diesbezügliche Erklärungen gibt es von seiten der islamischen Gelehrten bzw. von den Vertretern der muslimischen Verbände nicht. Was das Ansehen des Islams und seiner Vertreter in der Öffentlichkeit vor allem anderen untergräbt, sind Schutzbehauptungen der genannten Art, die schon ein einziger Blick in den Koran und in das Hadith Lügen straft. Man kann nicht propagieren, der Islam sei die „Religion des Friedens“, während in manchen Moscheen Ungeheuerliches gepredigt wird (vgl. den Artikel „Enttarnt“ zu Romuald Karmakars Film „Hamburger Lektionen“ in der FAZ vom 19. September 2007, 33). Der Glaubwürdigkeit der Muslime abträglich sind ferner Verwirrspiele um den Inhalt der autoritativen Texte. So war häufig zu hören, die Anschläge des 11. Septembers 2001 hätten mit der Religion des Islams nichts zu tun gehabt, da im Koran ein allgemeines Verbot der Tötung von Menschen ausgesprochen werde: „Wer nur einen Menschen töte, habe gleichsam die ganze Menschheit getötet“, heiße es dort. Diese Aussage nimmt auf Sure 5, Vers 32 Bezug: „Deswegen (d. h. wegen des vorher in Andeutungen erzählten Mordes Kains an Abel) haben wir den Banū IsrāÞīl (d. h. den Israeliten) zur Vorschrift gemacht: Wer jemanden tötet, ohne daß dieser eine Blutschuld auf sich geladen oder Unheil auf Erden gestiftet hätte (vgl. Sure 5, 33 und Sure 18, 74), der tötet gleichsam alle Leute; und wer jemanden am Leben läßt, der läßt gleichsam alle Leute am Leben.“ Den Hintergrund dieser Textstelle bildet das Problem der Blutrache. Erfolgte die Tötung im Einklang mit den einschlägigen Regelungen? Falls nicht, dann – und nur dann – wäre die Tötung eine schwere Verfehlung. Die Quelle von Sure 5, 32 („… der tötet gleichsam alle Leute …“), ist Mischna Sanhedrin IV, 5: „Deshalb ist der Mensch als einer erschaffen worden, um dich zu lehren, daß, wer eine Person in Israel vernichtet, so zu betrachten ist, als habe er die ganze Welt vernichtet, wer aber jemanden in Israel erhält, so betrachtet wird, als habe er die ganze Welt erhalten.“ (Heinrich Speyer: Die biblischen Erzählungen im Qoran, 2. Aufl., Darmstadt 1961, 87 f.). Die Tötung als Vollzug der Vergeltung (vgl. oben 5. Die koranischen Strafen) wird im Koran häufig erwähnt (z. B. mit Bezug auf den laut Koran von Mose in Ägypten verübten Totschlag: Sure 20, 40; Sure 28, 19 und 33). In Sure 25, ab Vers 63 werden die „Knechte des Barmherzigen“ beschrieben; sie sind freundlich selbst zu Dummköpfen, üben fleißig das rituelle Gebet aus, spenden in angemessener Weise vom Lebensunterhalt, den Allah ihnen gewährt. Ferner sind die wahren Diener Allahs „diejenigen, die neben Allah keinen anderen Gott anrufen und niemanden töten, den (zu töten) Allah untersagt
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hat, es sei denn, es läge ein Recht(-sgrund zur Tötung) vor; desweiteren diejenigen, die keine Unzucht begehen. Wer dies tut, den wird die Strafe treffen“ (Vers 68). Wichtige Belege zur Blutrache finden sich in Sure 2, 178 f. und 194 sowie in Sure 5, 45. In Sure 2, 178 f. wird den „Gläubigen“, d. h. den kampfbereiten Anhängern Mohammeds, die die Hedschra vollzogen und ihm für seine Feldzüge zur Verfügung stehen, bei Tötungsdelikten die Vergeltung vorgeschrieben: ein Freier für einen Freien, ein Sklave für einen Sklaven, eine Frau für eine Frau; wenn der Bruder des Opfers, also der, dem der Vollzug der Blutrache zusteht, dem Täter verzeiht, dann möge man diesem Bruder in Dankbarkeit das Wergeld aushändigen; in dieser Regelung der Vergeltung liege für die „Gläubigen“ das Leben begründet. Sure 2, Vers 194 unterwirft auch Verstöße gegen die in den heiligen Monaten geltenden Regeln (Verbot des Blutvergießens) der Blutrache; für solche Verstöße ist an den Delinquenten Vergeltung zu üben – wahrscheinlich ist gemeint: noch während der heiligen Monate. Sure 5, Vers 45 erweitert die Vergeltung auf die Körperverletzung: Auge um Auge, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; für jede Wunde die entsprechende Vergeltung; wer aber, obwohl zum Vollzug der Rache berechtigt, auf deren Vollzug verzichtet und dadurch dem Gemeinwesen der „Gläubigen“ einen Vorteil verschafft (nämlich indem er dessen Kampfkraft nicht schmälert, was ja die Folge der Vergeltung an dem Schuldigen wäre), dem rechnet Allah dies als eine Sühneleistung für etwaige Missetaten an. Somit schützt das in Sure 5, Vers 32 ausgesprochene Tötungsverbot allenfalls die Mitglieder der eigenen, der „gläubigen“ Solidargemeinschaft vor Übergriffen, die von ihresgleichen ausgehen könnten. Die eigene Solidargemeinschaft darf nicht geschwächt werden; im Gegenteil, ihr „Leben“ soll gemehrt werden, was durch die Einführung des Wergeldes und den hiermit erkauften Verzicht auf Vergeltung (Sure 2, 178 f.) bewirkt werden soll.11 Bereits die jüdische Textvorlage – es handelt sich übrigens um einen der wenigen Fälle, in denen die Quelle einer koranischen Aussage so eindeutig und zwingend identifiziert werden kann – hebt diese Absicht hervor: „… wer eine Person in Israel …“ Dem gleichen Gedanken ist Sure 4, Vers 92 bis 96 verpflichtet: Der Solidargemeinschaft der „Gläubigen“ darf kein Nachteil entstehen. Nirgendwo im Koran ist demnach von einem generellen Verbot der Tötung die Rede. Rufen wir uns ferner die oben im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Andersgläubige genannten Textstellen ins Gedächtnis zurück, dann ist voll11 In Sure 2, Vers 178 f. verwirft Mohammed den medinensischen Rechtsbrauch, dem zufolge Blutrache nur erlaubt ist, wenn das Opfer auf dem eigenen Grund und Boden verletzt oder getötet wurde. Die Bestimmung, Blutrache bzw. Wergeld unabhägig vom Ort des Verbrechens zu verhängen, verlieh den Lebensverhältnissen in Medina mehr Sicherheit (Nagel: Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 303).
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ends klar, daß der Koran als der autoritative Text des Islams die Tötung nicht nur nicht verbietet, sondern zur Ausbreitung des Islams sogar empfiehlt. So fühlt man sich denn als Nichtmuslim mit der gegenteiligen Behauptung schlicht hinters Licht geführt.12 Aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung im Umgang mit Muslimen könnte ich viele weitere Beispiele dieser Art anführen. Der freundlichste Schluß, den man daraus ziehen mag, lautet: Nichtmuslime werden als Gesprächspartner nicht ernstgenommen. – Oft ruinieren Muslime ihre Glaubwürdigkeit noch auf eine andere Art, die man als „Gesprächsverweigerung durch Anmaßung einer moralischen Überlegenheit“ beschreiben kann; sie besteht darin, nicht auf die Äußerungen des Nichtmuslims einzugehen, sondern ihm vorzuhalten, mit dieser oder jener Frage oder mit seinem Verweis auf die Aussage dieser oder jener islamischen Quelle habe er die Muslime / den Islam / den Propheten beleidigt:13 Dem Frager soll ein schlechtes Gewissen eingeredet werden, damit er künftighin früh genug die „Schere im Kopf“ betätige. Solche Verhaltensweisen zeugen von einer inneren Unsicherheit, ja, von einer uneingestandenen Furcht: Die Obsoletheit der den Menschen, die Gesellschaft und die politischen Ordnungsvorstellungen beschreibenden Aussagen der islamischen autoritativen Texte drängt sich dem muslimischen Betrachter auf, aber er vermag sich – noch – nicht zu dem Schritt zu entschließen, der ihn von dieser intellektuellen und spirituellen Not befreit, nämlich offen zu bekennen, daß alle diese Aussagen zu unwiederholbarer Geschichte geworden sind. Über Geschichtliches aber könnten die Muslime frei sprechen, sie wären nicht mehr dem Zwang ausgesetzt, ihre Glaubwürdigkeit zu riskieren. 12 Hier sei die häufig von schariagläubigen Muslimen vorgebrachte Ausflucht gestreift, auch die Bibel enthalte Texte, die mit einer freiheitlichen und pluralistischen Verfassung unvereinbar seien. Das ist in der Tat so und gilt vor allem für das Alte Testament. Im Unterschied zu den schariagläubigen Muslimen, die den Koran und die Prophetenüberlieferungen als höchste Norm ansehen, betrachten die Rechtsgenossen einer säkularisierten Verfassung jedoch die Bibel nicht als den allgültigen Maßstab des Rechts. 13 Ein anstößiges Beispiel für solches Fehlverhalten muslimischer Verbandsfunktionäre bot die Weigerung, auf die ernsthaft und nüchtern um die Schaffung eines guten Verhältnisses zu den Muslimen in Deutschland bemühte Handreichung des Rates der EKD „Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland“ im einzelnen einzugehen. Mir ist jedenfalls nur eine Stellungnahme des KRM vom 24. Mai 2007 bekannt geworden, in der der Vergleich zwischen „der an sich abstrakten Scharia und dem als Text konkretisierten Grundgesetz“ (so wörtlich unter Punkt VII) zurückgewiesen wird, ohne daß hierfür eine Begründung gegeben würde. Stattdessen wird geklagt, ein Dialog auf einer „rein theologischen Ebene“, mithin eine Bezugnahme auf die von den Verbänden ja inhaltlich nicht in Frage gestellten autoritativen Texte der Scharia, gefährde Errungenschaften (welche?) aus einer Jahrzehnte dauernden Zusammenarbeit. Demnach soll der Grundsatz gelten: Was wir den Andersgläubigen sagen, dürfen diese nicht unter Bezugnahme auf unsere autoritativen Texte überprüfen.
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Viele Muslime klagen darüber, daß ihre Religion einen schlechten Ruf genießt. So ist es in der Tat. Doch nur sie allein sind dafür verantwortlich; in diesem Sinn darf auch ein „Schriftbesitzer“ einmal den Koran zitieren: „Allah verändert nichts von dem, was es mit einem Volk auf sich hat, ehe es das nicht von sich aus verändert“ (Sure 13, 11).
V. Schariatischer Islam und säkulares Denken Dieser Text wurde im April 2009 der Arbeitsgruppe 1 der Deutschen Islamkonferenz vorgelegt. Er stellt eine Auseinandersetzung mit der Stellungnahme des Koordinierungsrates der Muslime (KRM) zu meiner hier unter Nr. IV abgedruckten Ausarbeitung dar. Da diese Stellungnahme ein für muslimische Reaktionen auf nichtmuslimische Kritik typisches Beispiel darstellt, hätte ich sie hier gern vollständig im Wortlaut wiedergegeben. Meine erste diesbezügliche Anfrage vom 3. April 2011 blieb ohne Antwort, auf eine zweite, abgesandt am 7 Mai 2011, erhielt ich am 16 Mai 2011 den Bescheid, man wolle, bevor man mir die erbetene Erlaubnis erteile, meinen (auch dem KRM seit April 2009 bekannten) im folgenden wiedergegebenen Text noch einmal sehen. Ich schickte dem KRM unverzüglich eine Kopie, worauf bislang (31. Dezember 2013) keine Reaktion erfolgte. Ich fasse die Stellungnahme daher hier zusammen, wobei ich mich genau an die Gliederung des Originals halte. Stellungnahme des KRM zu Tilman Nagels Aufsatz „Islamisch-autoritative (sic!) Texte und das Grundgesetz“ Nagel vermißt die Historisierung der autoritativen islamischen Texte und kritisiert, daß die Vertreter der muslimischen Verbände, die „ihre Verbundenheit mit dem Grundgesetz bekunden“ (S1, Zeile 25 f.), nicht zu sagen vermöchten, ob nur noch ein Teil der autoritativen Texte gelten solle und welcher Teil dies sein solle. Nagel versäumt es in seinem Text durchgehend, sich der Methodik der islamischen Koranund Hadithwissenschaft zu bedienen, „wozu insbesondere eine kontextbezogene und historische Betrachtungsweise gehört“. Ferner übergeht Nagel die Vielfalt der muslimischen Meinungen (S. 2). 1. Dieser Vorwurf wird in diesem Abschnitt wiederholt, bevor einzelne Themen aufgegriffen werden. a) Eine Herabwürdigung Andersgläubiger oder Ungläubiger ist in den von Nagel beigebrachten Versen nicht enthalten. Die Vergleiche mit dem blöden Vieh sind vielmehr als Metaphern zu verstehen und richten sich gegen die verstockten Mekkaner. „Letztendlich sind solche Verse als Ausdruck eines absoluten Wahrheitsanspruchs anzusehen“ (S. 4, Zeile 11), wie andere Religionen ihn auch vertreten. b) Die kommentarlose Verwendung der Begriffe „Andersgläubiger“ und „Glaubensloser“ führt zu einem falschen Verständnis der herangezogenen Koranverse. Bei den von Nagel zitierten Versen sowie zudem in Sure 2, Vers 213 geht es nicht um Meinungsverschiedenheiten allgemeiner Art, sondern „um die Ablehnung bzw. Außerachtlassung der Rechtleitung der Offenbarung und der Gesandten Gottes“ (S. 5, Zeile 22 f.), was Nagel, da er keine weiteren Koranverse heranzieht, nicht sieht. c) Nun (S. 6) geht der KRM zu Punkt 7 der Ausarbeitung Nagels über. Nagel erkennt nicht, daß es sich bei dem Versprechen des Gewinnes des Landes der Un-
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gläubigen um eine auf das Jenseits bezogene Zusicherung handelt. Nagel übersetzt zudem das Hadith falsch, in dem die Mohammed zugestandenen Vorzüge aufgezählt werden: Das Wort für „Schrecken“ müsse hier mit „Furcht“ übersetzt werden: „Mir wurde durch Furcht (gegenüber den Feinden) geholfen und die Feinde fürchten sich vor mir“, „nicht weil der Prophet Muhammed Schrecken verbreitet, sondern dadurch, dass Gott Furcht in die Herzen der Feinde und der Gegner einflößt, wie es in (Sure) 3 / 151 und (Sure) 33 / 26 beschrieben wird“ (S. 7, Zeile 4–8). Nagel liest zu Unrecht aus Sure 44, Vers 28, Gott habe das Land des Pharao einem anderen, nämlich einem gläubigen Volk übertragen. Ein früher Korankommentator hat festgestellt, daß ein anderes, aber ungläubiges Volk gemeint sei (S. 8). d) Nagel behauptet zu Unrecht unter Bezugnahme auf Sure 9, Vers 5 bis 12, Mohammed habe eine Abmachung gebrochen. Aus dem vierten Vers von Sure 9, der Mohammed nötigt, gegenüber heidnischen Vertragspartnern, die ihre Zusagen einhalten, nicht vertragsbrüchig zu werden, geht hervor, daß „der Gesandte Gottes niemals einen Vertrag gebrochen (hat), auch wenn dies zum erheblichen Vorteil der Muslime geführt hätte“. 2. Nagel fordert die Historisierung der autoritativen Texte, mißachtet dies aber selber, indem er nach dem Sinn wörtlich zitierter Koranstellen und Hadithe fragt. „So stellt er immer wieder historisch oder regional bedingte Zustände der islamischen Welt dem heutigen Grundgesetz in Deutschland gegenüber, ohne der kategorischen Unterschiedlichkeit der Gegenstände Beachtung zu schenken“ (S. 10, Zeile 10–12). a) Ein Beispiel hierfür ist die Todesstrafe bei Religionswechsel, die nur im historisch-gesellschaftspolitischen Kontext eine Bedeutung gehabt hat. „Die klassische Gelehrsamkeit sieht den Religionswechsel – ausschließlich im Sinne des Religionswechsels eines Muslims – als Grund für die Todesstrafe an. Diese Strafe wird jedoch nicht mit dem Religionswechsel, sondern mit den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, aufgrund deren die Konversion als ein Akt des Hochverrats angesehen wurde, begründet“ (S. 10, Zeile 24 bis S. 11, Zeile 2) (vgl. in diesem Abschnitt, Text I). Das Hadith, demzufolge ÝAlī b. abī Óālib Freidenker verbrennen ließ, wird von zahlreichen Gelehrten nicht als „gesund“ eingestuft, weil die Tradenten als unzuverlässig gelten. b) Bei Beachtung der Historisierung müßte Nagel erkennen, daß die von ihm aufgeführten Koranverse die Gewalt gegen Andersgläubige nur in Zeiten des Krieges fordern, hier insbesondere während der Kriege gegen die polytheistischen Mekkaner (S. 12). c) Aus Sure 4, Vers 88 bis 90 geht hervor, daß, anders als Nagel behauptet, die Heuchler nicht verfolgt und nicht getötet wurden. Obwohl Muhammed die Namen dieser Personen kannte, nannte er sie der Gemeinschaft nicht; er wollte sie schützen (S. 12 f.). d) Die Frau ist entgegen den Behauptungen Nagels gleichberechtigt, wie eine angemessene Kontextualisierung der einschlägigen Koranstellen ergibt. So ist in Sure 4, Vers 34 nicht von einer generellen Bevorzugung des Mannes die Rede, sondern von seiner zusätzlichen Belastung durch die Verpflichtung, für die Frau zu sorgen. Dem Urteil Nagels, die Inferiorität der Frau sei die Konsequenz der von
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Muhammed verkündeten religiös legitimierten Gesellschaftsordnung, fehlt somit jedes Fundament. Geradezu abstrus ist seine Aussage, in Sure 2, Vers 187 bekunde sich die Vorstellung, im Geschlechtsverkehrs vollziehe sich die ursprüngliche Einheit des Urwesens (S. 13 f.). Es geht in diesem Vers in Wahrheit um die Erlaubnis des Geschlechtsverkehrs während der Nächte des Fastenmonats. e) Das Hadith, in dem die Frauen als „Gefangene“ bezeichnet werden, ist nicht als „gesund“ zu bewerten (S. 14 f.). f) In Sure 60, Vers 8 bedeutet die Wendung „Allah verbietet euch nicht“ nach der Aussage einiger Korankommentatoren in Wirklichkeit eine Empfehlung, mit Andersgläubigen Beziehungen anzuknüpfen (S. 15 f.). 3. Nagel fragt nach der Bedeutung von ihm ausgewählter autoritativer Texte und nach deren Verhältnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Ein solches Verfahren ist nicht zulässig; vielmehr muß stets die Gesamtheit dieser Texte berücksichtigt werden (S. 16). a) Die Ausführungen Nagels über die mangelnde Eigenverantwortlichkeit des Menschen sind unzutreffend, da Gott in Sure 74, Vers 38 hervorhebt, daß jeder für das haftet, was er getan hat. Mehrfach verweist der Koran (Sure 50, 6; Sure 7, 26; Sure 32, 27) darauf, daß der Mensch durch die Betrachtung der Natur sich das Wissen vom Wirken Gottes erschließen soll (S. 17). b) Der Analogieschluß ist keineswegs, wie Nagel unter Berufung auf Sure 15, Vers 26 bis 47 behauptet, untersagt; er ist ein Kernstück der Schariawissenschaft, in der er von autoritativen Texten ausgeht. Der Begriff der „eigenständigen Entscheidung“ spielt in der hanafitischen Rechtsschule eine wichtige Rolle und ist deshalb nicht negativ konnotiert (S. 17 f.). c) Der Gehorsam gegen den Propheten bedeutet keineswegs eine Verwerfung der Pluralität, wie Nagel feststellt. „Zu den unumstrittenen Glaubensinhalten des Islams gehört der Glaube an die Propheten, die von Gott an die Menschheit gesandt wurden, um ihnen ‚Errettung‘ im Diesseits und im Jenseits zu bringen. ‚Glauben‘ bedeutet dabei nicht nur, Muhammad (saw) lediglich als Gesandten zu akzeptieren, sondern insbesondere auch, ihm Folge zu leisten. Da Muslime Muhammad (saw) als den letzten Propheten Gottes ansehen, gehört es zur Glaubenslehre, sich an seinen Worten und Handlungen, der Sunna, zu orientieren“ (S. 18, Zeile 20–25). Die ersten Muslime teilten zwar Religion und Weltanschauung, waren in deren Verwirklichung aber oft unterschiedlicher Meinung. Nur so lassen sich die verschiedenen Glaubensrichtungen erklären. d) Die koranische Unterscheidung zwischen Glaube und Islam (Sure 49, 14) ist nicht stringent. In diesem Fall ist die von Nagel durchgeführte Historisierung und Kontextualisierung, die zur Annahme einer zeitweiligen kämpferischen Auslegung der Gläubigkeit führt, abzulehnen, da es andere Verse gibt, in denen Glaube diese Bedeutung nicht hat (z. B. die mekkanischen Suren 11, 23 und 27, 1–3). Für Muslime – nicht: für Gläubige – ist der Dschihad, der Einsatz, nicht zuviel verlangt (Sure 22, 78) (S. 19 f.). e) Der Dschihad ist ein Kampf gegen die eigenen Triebe, ein „Einsatz“ für den Glauben und für die Gemeinschaft und hat nichts mit Krieg zu tun. Nagel übersieht den Kontext, in dem die von ihm zitierten Verse entstanden: Weil Mohammed sich
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in einer Situation des Kampfes gegen die ungläubigen Mekkaner befand, als diese Verse offenbart wurden, wurden sie fälschlich mit dem bewaffneten Kampf in Zusammenhang gebracht (S. 20 f.). f) Anders als Nagel behauptet, bedeutet der durch ihn mit „Glaubenspraxis“ wiedergegebene Begriff dīn an dieser Stelle auch den Glauben (sonst = īmān). „Der Koran bezeichnet den Islam zwar als die letzte wahre Religion und die anderen Religionen als überholt oder verfälscht und übt in theologischer Hinsicht harte Kritik an ihnen“ (S. 22, Zeile 16–18) (Sure 4, 19–21). „Dennoch werden diese nicht durchweg als falsch und schlecht dargestellt“ (S. 23, Zeile 3) (Sure 3, 113–115; Sure 7, 159): Unter den Schriftbesitzern gibt es etliche, die an Allah und den Jüngsten Tag glauben und der göttlichen Rechtleitung folgen. Sure 2, Vers 256 überläßt es dem einzelnen, „den Islam zu wählen oder auch nicht bzw. sich einer anderen Religion anzuschließen“ (S. 23), garantiert also eine individuelle Wahlfreiheit. g) Gegen die von Nagel angeführten Belege ist daran festzuhalten, daß der Koran Gewalt gegen Andersgläubige untersagt, erst recht deren Tötung. Sure 5, Vers 32 spricht sehr wohl ein allgemeines Tötungsverbot aus. „Unverständlich und anmaßend ist jedoch auch sein (d. h. Nagels) Bestreben, den Muslimen vorzuhalten, sie würden zentrale Aussagen ihrer religiösen Quellen schlicht und einfach falsch verstehen“ (S. 24, Zeile 5 f.). 4. Nagels Islambild entspricht weder dem Selbstverständnis der Muslime noch der wissenschaftlichen Redlichkeit. Das zeigt ein Resümee seiner Aussagen. „Der Text ist geprägt von methodischen Fehlern, von Argumentation mit Versen, die aus ihrem textuellen Kontext herausgerissen wurden und stellenweise entstellend-tendenziösen Übersetzungen. Der Aufbau ganzer Argumentationsstränge stützt sich auf Quellen, deren historischer Zusammenhang einfach bei Seite geschoben wurde und die selektive Auswahl von Mindermeinungen und die Präsentation dieser als vermeintlich einzige Meinungen runden in diesem Sinne das Bild ab. Insgesamt entspricht die Stellungnahme von Tilman Nagel weder der Lebenswirklichkeit der Muslime in Deutschland, noch bietet sie für die gegenwärtige Diskussion in der Deutschen Islamkonferenz einen konstruktiven Beitrag und ist folglich irrelevant“ (S. 24).
Gut ein Jahr, nachdem ich die Übersicht „Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz“ in die Arbeitsgruppe 1 der Deutschen Islamkonferenz eingebracht habe, legt nun der KRM, eine Dachorganisation in Deutschland tätiger schariagebundener1 Muslime, eine Erwiderung2 vor. Sie greift 1 Dazu
gehört auch die DITIB, die sich gern den Anschein gibt, nicht der Scharia verpflichtet zu sein. Ihre türkische Mutterinstitution Diyanet İşleri Başkanlığı erteilt jedoch auf Anfrage Fetwas, wovon man sich unter anderem im türkischsprachigen Internet überzeugen kann. Ohne Scharia kein Fetwa! 2 Auf die Erwiderung des DITIB-Funktionärs Alboğa gehe ich nicht gesondert ein. Sein Verband ist im KRM ohnehin vertreten; Herr Alboğa steht mithin hinter der ausführlichen Erwiderung des KRM, der er in seiner eigenen Stellungnahme in der Sache nichts hinzufügt. Er führt dort allerdings Klage darüber, daß „alteingesessene (sic!) Islamwissenschaftler“ ihre Kenntnisse in die Debatten der DIK einbringen dürfen. So unverblümt hat noch kein Interessenvertreter der Schariaverbände
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einzelne der von mir behandelten Themen auf, bemüht sich um eine Entkräftung des Inhalts der von mir beigebrachten Texte und kommt zu dem Fazit, meine Ausführungen seien tendenziös-verfälschend und daher irrelevant. Ich bin den Verfassern dieser Erwiderung für ihre Ausführlichkeit sehr dankbar; sie eröffnen mir hierdurch die Möglichkeit, anhand von Beispielen, die dem Leser bereits bekannt sind, die wichtigsten Methoden des Umgangs schariagebundener Sachkenner mit Fragen aufzuzeigen, die ihnen zu vielen ihrer autoritativen Texten vorgelegt werden, deren Inhalt kraß den heutigen europäischen Grundwerten widerspricht. Es besteht zumal unter Nichtmuslimen diesbezüglich ein erhebliches Maß an Ahnungslosigkeit. Sie sind durchaus geneigt, den Versicherungen ihrer schariagebundenen Gesprächspartner, es gebe jene Widersprüche nicht, Glauben zu schenken. Sie verspüren aber, sobald es um den Alltag des Zusammenlebens in einem säkularen, pluralistischen Gemeinwesen geht, daß das, was ihnen versichert wurde, für jene Gesprächspartner noch einen anderen, unausgesprochenen Sinn hat. Dazu ein prominentes Beispiel: Helmut Schmidt zeigt sich in seinem Buch „Außer Dienst“ höchst angetan von der Botschaft des Korans, wie Anwar as-Sadat sie ihm darlegte. In anderem Zusammenhang stellt Schmidt hingegen besorgt fest: „Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf.“3 Die AG1 der DIK hat sich mit dem Wertedissens und Wertekonsens zu befassen. Sie hat also nicht nur die Pflicht, praktische Vorschläge für die Integration muslimischer Mitbürger zu erarbeiten, eine Aufgabe, der sich insbesondere die AG2 und die AG3 widmen. Entsprechend ihrem Auftrag hat die AG1 vielmehr auch zu untersuchen, weswegen beide Seiten in vielen Bereichen ihres Verhältnisses nicht zu einer gemeinsamen Sprache finden und stattdessen ein schwer auf den Begriff zu bringendes Unbehagen vorherrscht. Die Gründe für diese unbefriedigende Situation dürfen nicht verkleistert, sondern müssen klar identifiziert werden.
verlautbart, daß sie zum Erreichen ihrer Ziele auf die Ahnungslosigkeit der deutschen Seite bauen und daß sie in deren Sachkunde eine Erschwernis der Verwirklichung ihrer Ziele sehen. Außerdem bemängelt Herr Alboğa, daß „moderne“ Interpretationen der autoritativen Texte von mir nicht berücksichtigt worden seien. Leider verzichtet er auf einen Hinweis, wo diese zu finden seien und inwieweit sie einem Konsens der Mehrheit der heutigen Schariakenner entsprechen. In anderem Argumentationszusammenhang pflegt Herr Alboğa seine Gesprächspartner dahingehend zu belehren, daß es ebenso wenig, wie es den Islam gebe, die Koranauslegung geben könne. 3 Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008, 302–304 und 236.
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1. Voraussetzungen der Argumentation der KRM-Verbände Die Verfasser der Erwiderung werfen mir neben anderem vor, daß ich Texte aus dem Koran und dem Hadith uninterpretiert zitiere. Nun sind die auf Tonträgern vertriebenen Koranrezitationen wie auch die über den Rundfunk und das Fernsehen der Herkunftsländer verbreiteten Lesungen stets unkommentiert. Ohnehin gibt es, wie auch meine Kritiker vom KRM einräumen werden, keine allgemein anerkannte Kommentierung. Anderenfalls hätten sie mich in ihrer Erwiderung darauf aufmerksam gemacht. Hingegen weisen sie in ihrer Ausarbeitung in arbiträrer Manier auf diese oder jene einzelne Auslegung hin, ohne daß dafür ein anderer als der schlichte gesprächstaktische Grund erkennbar würde, daß sie ihnen gerade zupaß kommt. Hierin offenbart sich die intellektuelle Not, in die schariagebundene Muslime geraten, sobald sie sich einem Gesprächspartner gegenübersehen, der ihre Glaubensprämissen nicht teilt. Da waren die Vertreter der MuÝtazila, des islamischen Rationalismus (Blütezeit vom späten 8. bis zum frühen 11. Jahrhundert, allerdings stets in einer prekären Minderheitensituation), in einer wesentlich komfortableren Lage. Für sie waren der Koran wie auch die geschichtlich älteren heiligen Schriften durch Allah den Menschen übermittelte Impulse, die sie dazu anregen sollten, die ihnen angemessene Glaubens- und Lebensordnung selber zu suchen und zu befolgen; dank dem ihnen durch Allah anerschaffenen Verstand seien sie hierzu befähigt. Der Koran gibt ihnen keine Regeln, die sie nicht von sich aus hätten finden können, aber er bestärkt sie in der Gewißheit, daß sie die Fähigkeit hierzu besitzen, und zeigt ihnen beispielhaft, wie das Ergebnis dieser Suche im Hedschas des Propheten Mohammed ausfiel. Der Inhalt des Korans ist demnach in muÝtazilitischem Verständnis auf die Lebenssituation der Araber des frühen 7. Jahrhunderts zugeschnitten; andere Zeiten und andere Lebensumstände bedingen somit einen anderen Ausdruck des göttlichen Gesetzeswillens. Die Rahmenbedingungen, unter denen der Mensch im Diesseits, im „Haus des Handelns“ – so der muÝtazilitische Begriff – sein Dasein führt und Jenseitsverdienst aufhäuft, ändern sich und mit ihnen die Auslegung des göttlichen Gesetzeswillens. Dies zu erkennen und dann eigenverantwortlich so zu handeln, daß einem durch den gerechten Allah im „Haus des Entgelts“ eine verdiente glückhafte Existenz zugewiesen wird, das ist der eigentliche Daseinszweck des verstandesbegabten Menschen. Entsprechend den skizzierten Überzeugungen galt den MuÝtaziliten der Koran als eine geschaffene Gegebenheit, seinsmäßig ganz und gar diesseitig; und eine überzeitlich gültige Auslegung dieser diesseitigen, an Mohammeds Lebensumstände angepaßten Rede Allahs, wie die Sunniten sie im Prophetenhadith zu besitzen behaupten, erschien den MuÝtaziliten angesichts
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der Veränderlichkeit des Diesseits nicht nur entbehrlich, sondern sogar sinnwidrig. Sie verwarfen mit Entschiedenheit den Geltungsanspruch des Hadith, dessen Aufstieg zur prägenden islamischen Literaturgattung und zur inhaltlich wichtigsten Quelle der Scharia als eines angeblich überzeitlichen göttlichen Rechts sie erlebten. Die MuÝtaziliten bewahrten infolgedessen die Möglichkeit, mit Andersgläubigen auf gleicher Ebene, nämlich derjenigen der alltäglichen Erfahrungen und ihrer ethischen Bewertung, zu kommunizieren. Das Bedürfnis nach argumentierender Auseinandersetzung mit Andersgläubigen war denn auch ein kräftiger Impuls der Herausbildung des islamischen Rationalismus gewesen. Die Sunniten – und auch weite Teile der Schiiten, worauf ich hier nicht eigens eingehe – sprachen dagegen dem Koran einen nicht-irdischen, nichtgeschaffenen Seinscharakter zu und legten seinen Worten damit eine über den Zeitläuften stehende Wahrheit und eine übergeschichtliche Geltung bei: Die Welt ändert sich, die auf das frühmittelalterliche Arabien zugeschnittenen Aussagen des Korans sollten trotzdem ungeschmälert in Geltung bleiben. Eine Kommunikation mit Andersgläubigen von gleich zu gleich über die Fragen der Gestaltung des Diesseits war damit unmöglich geworden, es sei denn, die Andersgläubigen hätten sich die Prämisse der Überzeitlichkeit und ewigen Gültigkeit der muslimischen autoritativen Texte zueigen gemacht. Da der Koran, wie man während der Entstehung der Scharia erkannte, nur wenig Aussagen enthielt, die man für die Aufstellung einer den gesamten Lebensvollzug normierenden ewig gültigen Ordnung nutzbar machen kann, gelangten die Sunniten im frühen 9. Jahrhundert zu der Auffassung, das Hadith sei die diese Lücken schließende Auslegung der koranischen Botschaft. Das Hadith enthalte zwar nicht Allahs wortwörtliche ungeschaffene, ewige Rede; aber da Mohammed immer unter unmittelbarer göttlicher Anleitung geredet und gehandelt habe, sei auch der Inhalt des Hadith überzeitlich gültig. Der schariagebundene Muslim ist mithin zur Beachtung autoritativer Aussagen verpflichtet, die, je weiter die Geschichte fortschreitet, immer weniger mit der von ihm erfahrenen Welt kompatibel sind. Bis zur Begegnung mit dem neuzeitlichen Europa war dies freilich nur ein geringes Problem. Die Lebensverhältnisse wandelten sich langsam; neue zivilisatorische Gegebenheiten wurden schariarechtlich legitimiert, indem man sie als Erscheinungen ausgab, zu denen sich analoge Gegebenheiten in der durch Koran und Hadith dokumentierten verklärten Frühzeit des Islams aufzeigen ließen. Darüberhinaus standen den Schariagelehrten, die als die Bewahrer der ewig gültigen Normen sowie als deren lebenspraktische Interpreten galten und sich daher als das führende Element der muslimischen Gesellschaft
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betrachteten – und heute wieder betrachten –, wirksame Repressionsmittel zu Gebote. Kritik am etablierten schariatischen System war schwer zu bestrafen; Denkverbote sollten das Aufkommen von Zweifeln unterbinden. So nahm AÎmad b. Íanbal (gest. 855), der Wortführer der Bagdader Sunniten seiner Zeit, in von ihm verfaßte Glaubensbekenntnisse das Gebot auf, über die Prophetengenossen sei nur Gutes auszusagen. Ihre Autorität, diejenige der Bürgen der von Allah gelenkten mohammedschen Auslegung des Korans, dürfe nur ja nicht angetastet werden; ohnehin müsse sich jeder Muslim an die der Sunna des Propheten verpflichtete Gemeinschaft klammern. Wer sich auch nur ein wenig von ihr entferne, werde zur Beute des Satans. Abhandlungen über die Unfehlbarkeit und völlige Sündlosigkeit des Propheten wurden in der Folgezeit in großer Zahl geschrieben. Ein Autor der 12. Jahrhunderts, der malikitische QāÃī ÝIjāÃ al-JaÎÒubī, leitete in bis heute nicht widerrufener Form aus diesen Vorstellungen die Strafen ab, mit denen schon der leiseste Zweifel an Mohammeds Unfehlbarkeit, Sündlosigkeit und Allzuständigkeit zu ahnden sei. In den meisten Fällen plädiert der QāÃī für die Hinrichtung des „Delinquenten“, denn ihm ist bewußt, daß das ganze Islam genannte Glaubens-, Rechts- und Machtsystem allein von der unangefochtenen Autorität des Propheten und der Bürgen der Sunna abhängt. Darum ist selbst von der eigenständigen Lektüre der muslimischen Geschichtsquellen und Korankommentatoren dringend abzuraten. Die übermenschlichen Eigenschaften aller Propheten, nämlich die Vollkommenheit, die Schönheit des Charakters und des Äußeren sowie all ihre guten Seiten seien dem Muslim bestens bekannt, schreibt der QāÃī. „Darum wollen wir nicht länger bei diesem Gegenstand verweilen. Du aber beachte nicht das dem Widersprechende, das du in den Büchern mancher unwissender (muslimischer) Geschichtsschreiber und Korankommentatoren findest!“4 In der Tat, eine Diskussion schariatischer Bestimmungen auf der Grundlage gegensätzlicher irdischer Interessen, von denen ja auch die Prophetenvita zeugt, verbietet sich prinzipiell. Allahs Gesetzeswille kann nicht durch das Abwägen von diesseitigen Beweggründen, Zwecksetzungen und Sachverhalten ermittelt werden. Er kann nur aus der überzeitlichen göttlichen Rede und aus deren von Allah selber ins Werk gesetzter Auslegung abgeleitet werden. Ein seit alters her in der Schariawissenschaft gern angeführtes Beispiel mag diesen Grundsatz verdeutlichen: Allah verlangt, daß die rituelle Reinigung, sofern kein Wasser vorhanden ist, mit Hilfe von Sand vor4 Einzelheiten über die Dogmatisierung der Prophetenvita und deren Zweck, nämlich die Sicherung einer islamischen Gesellschaft und Machtausübung, die die Anerkennung einer unhinterfragbaren göttlichen Botschaft voraussetzt, finden sich in meinem Buch „Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens“, München 2008; zu QāÃī ÝIjāÃ und zu seiner Wirkungsgeschichte sind vor allem die Seiten 135 bis 197 zu vergleichen.
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genommen wird (Sure 4, 43 und vor allem Sure 5, 6); obschon Essig noch gründlicher reinigt als Wasser, darf er, selbst wenn er im Notfall zur Verfügung stünde, nicht eingesetzt werden. Man weiß nicht, warum Allah die ersatzweise Reinigung mit Sand angeordnet hat, aber diese Regelung gilt ewig und unter allen Umständen und darf durch innerweltliche Überlegungen – hier: eigenständige Suche des geeignetsten Mittels zur Erreichung eines von Allah vorgeschriebenen Zweckes – nicht angefochten werden. Innerweltliche Erwägungen dürfen allenfalls dann nutzbar gemacht werden, wenn sich in einer Angelegenheit keinerlei autoritative Texte finden lassen. Dann mag das Interesse des Islams als eine allgemeine Richtschnur gelten. Das Ziel der Schariawissenschaft bleibt jedoch auch in einem solchen Fall, das für richtig Erkannte durch einen autoritativen Text zu legitimieren, mag dies auch mittels einer noch so fragwürdigen Analogie geschehen. Das knapp umrissene System herrschte bis ins 19. Jahrhundert unangefochten und ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Orientierungspunkt der meisten Staaten der islamischen Welt geworden. Sie bringen das dadurch zum Ausdruck, daß sie vielfach in ihre Verfassungen den Grundsatz aufgenommen haben, der Islam sei eine oder die wichtigste oder die einzige Quelle des Rechts. Indessen sind die inhaltlichen Widersprüche zwischen den Aussagen der autoritativen Texte einerseits und der gesellschaftlichen und technisch-wissenschaftlichen Realität andererseits größer denn je zuvor. Die Lebenswirklichkeit des Arabien des frühen 7. Jahrhunderts und diejenige der – globalisierten – Welt des 21. Jahrhunderts haben wenig gemeinsam. Man mag von seiten der schariagebundenen Muslime noch so laut verkünden, der – schariatische – Islam tauge für jeden Ort und jede Zeit, man mag das Presse- und Unterrichtswesen ganz auf dieses Ideologem hintrimmen, jener Satz ist eine bloße Behauptung, die außerhalb der islamischen Welt nicht überzeugt und allenfalls Kopfschütteln erregt. Und diese abweisende Reaktion bleibt in den islamischen Ländern selber nicht unbekannt. Die schariagebundenen Wortführer des Islams, bis ins 19. Jahrhundert in ihrer Welt die unbestrittenen Inhaber einer umfassenden Deutungshoheit, vermögen sie heute dort wieder mittels allgegenwärtiger Propaganda und unter grober Einschränkung der Meinungsfreiheit an sich zu ziehen. In den nichtislamischen Ländern verfügen sie über diese Möglichkeit nur mittelbar, vor allem dank dem Satellitenfernsehen. Deshalb ist die hiesige muslimische Diaspora in den Augen der Wortführer des Schariaislams eine durchaus ambivalente Erscheinung – einerseits weckt sie Hoffnungen auf eine weitere Ausbreitung des Islams, andererseits ist sie nicht durch und durch zu indoktrinieren und zu kontrollieren.5 Wegen der tausendfachen Beziehungen der 5 Vgl. meinen Artikel in der FAZ vom 5. Februar 2008, S. 35 „Die unzeitgemäße Macht des Scharia-Islams“.
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Diaspora zu den islamischen Ländern besteht die Gefahr, daß letztere mit „unislamischem“ Gedankengut infiziert werden. Dem ist vorzubeugen, indem sowohl den Diasporamuslimen als auch der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung nahegebracht wird, daß der Schariaislam ohne jegliche Modifikation mit den in den freiheitlich-demokratischen Verfassungen niedergelegten Grundsätzen übereinstimme. Dabei verfolgt man den Diasporamuslimen gegenüber die Argumentationslinie, daß der der Deutungshoheit der Schariakenner anheimgegebene Islam jene Grundsätze von Anfang an mitenthalten habe. Den Nichtmuslimen gegenüber behauptet man, der Schariaislam sei ohne weiteres mit jenen Grundsätzen vereinbar.6 Die erste Argumentationslinie besteht vor allem in der Durchmischung der Erzählungen vom Wirken Mohammeds mit aus ihrem Geltungszusammenhang gerissenen Begriffen der europäischen politischen Zivilisation der Neuzeit (Beispiel: „Die Demokratie wurde in Medina erfunden“). Die zweite ist auf pauschale Behauptungen angewiesen (Beispiel: „Islam heißt Frieden mit allen Menschen“ oder „Der Koran enthält ein generelles Verbot, Menschen zu töten“). In der DIK haben wir es situationsbedingt vor allem mit der zweiten Argumentationslinie zu tun. Damit kommen wir zum intellektuellen Dilemma der Wortführer des Schariaislams, für das die Erwiderung auf die von mir vorgelegte Übersicht ein treffliches Beispiel ist. Eine auf diesseitigen Gegebenheiten aufgebaute und deswegen mit dem gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs unserer Kultur kompatible Argumentation steht ihnen nur sehr eingeschränkt zu Gebote. Die MuÝtaziliten hätten vermocht, der koranischen Botschaft nach Maßgabe der technisch-wissenschaftlichen Rationalität und der dem modernen Menschen möglich gewordenen Selbstbestimmung Einsichten in ihre Rolle als Muslime abzugewinnen, und zwar Einsichten, die auch jenseits muslimischer Gläubigkeit als willkommen und fruchtbar empfunden würden. Die nicht an die Scharia gebundenen Muslime haben de facto den „muÝtazilitischen“ Weg der Daseinsgestaltung eingeschlagen. Den Schariaverbänden ist er freilich verschlossen, denn sie haben dafür Sorge zu tragen, daß die autoritativen Texte aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts nach wie vor als der höchste dem Menschen erreichbare Kenntnisstand beachtet und respektiert werden. Sie müssen die allzuständige Autorität einer Person, des Propheten Mohammed, bzw. einer ihn umgebenden Gruppe von Personen, seiner Genossen, durchfechten und die ihnen zugeschriebenen Aussagen als ewig wahr hinstellen. Eine in sich schlüssige, die Selbstbestimmung des Individuums und die technisch-wissenschaftliche Rationalität zugrunde legende schariakonforme Auslegung des Korans und des Hadith 6 Die vom Zentralrat der Muslime 2002 veröffentliche „Charta“ ist ein Paradebeispiel hierfür (vgl. Abschnitt C., Text IV).
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gibt es nicht, eben weil sie dem Dogma der ewigen Gültigkeit und göttlichen Herkunft der Aussagen der autoritativen Texte widerspräche. Die Behauptung „Islam heißt Frieden mit allen Menschen“ wäre nur durchzuhalten, wenn die zahlreichen Passagen des Korans und des Hadith, die die Gewalt gegen Nichtmuslime nicht nur rechtfertigen, sondern sogar fordern, als ein durch die Menschenrechte überholter, obsoleter Teil der göttlichen Botschaft verstanden werden dürften. Wenn die autoritativen Texte, in denen die Gewalt gegen Nichtmuslime geschildert und empfohlen wird, zu einer göttlichen Botschaft diesseitigen Charakters gehörten, könnte man argumentieren, ihre Aussage sei zu Lebzeiten Mohammeds sinnvoll gewesen, aber heute unter gänzlich veränderten Umständen sei sie nur noch von historischem Belang. Da aber der Koran als ganzer ewig gültig und wahr sein soll – und seine im Hadith zu Buche geschlagene Auslegung ebenfalls –, bleibt den Wortführern des Schariaislams, sobald sie auf die für die heutige Zeit skandalösen Aussagen über die Gewalt gegen Andersgläubige angesprochen werden, nur die folgende Antwort: „Islam heißt Frieden mit allen Menschen. Selbstverständlich sind der Koran und das Hadith ewig wahr und gültig. Was die Stellen über die Gewalt gegen Andersgläubige angeht, so steht dort gar nicht, was dort steht.“ Mit anderen Worten: Statt sich zu einer schlüssigen historisierenden, an den Menschenrechten orientierten Auslegung zu verstehen, mutet man dem nichtmuslimischen Gegenüber eine gesprächstaktische Leugnung dessen zu, was er liest und als anstößig zur Debatte stellt. Er soll zugeben, daß da gar nicht steht, was da steht, damit dem Dogma der Überzeitlichkeit von Koran und Hadith Genüge getan und damit das Ideologem „Der Islam taugt für jede Zeit und jeden Ort“ nicht in Zweifel gezogen werde. Und er soll darauf verzichten, sich zu erkundigen, wie die Schariaverbände zu verhindern gedenken, daß die anstößigen Passagen nicht doch beim Wort genommen werden, wofür es unzählige Beispiele gibt.7 Wer die Überzeitlichkeit der in den autoritativen Texten enthaltenen Aussagen als das Heilmittel für die Leiden eines jeden Ortes und einer jeden Zeit anpreist, muß sich auch der Verantwortung für die Nebenwirkungen dieses Heilmittels stellen. 2. Argumentationsmuster Schon 1963 bei meinem ersten Aufenthalt in einem islamischen Land machte ich die Erfahrung, daß man mir im freundschaftlichen Gespräch 7 Die Zeitungen und das Internet sind voll davon; außerdem ist die Bericht erstattung über die Länder des real existierenden Islam inzwischen so dicht, daß die Vertreter der Schariaverbände nicht mehr erwarten können, daß ihre Aussagen nicht an diesen Nachrichten gemessen werden.
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über Fragen von Religion und Politik einreden wollte, daß eine bestimmte Koranstelle gerade das nicht besage, was sie aussagt. Eine Begründung für diese Behauptung wurde in der Regel nicht angeführt. Wenn man in einem anderen Kreis auf dasselbe Thema kam, mußte man darauf gefaßt sein, daß jene Stelle noch ganz anders ausgelegt wurde, wiederum ohne Angabe von Gründen. Dieses äußerst simple Vorgehen, es bei einer bloßen Behauptung bewenden zu lassen, findet sich in der Stellungnahme des KRM auf S. 15: Daß Allah den Umgang mit den Andersgläubigen nicht ausdrücklich verbietet, soll heißen, er empfehle ihn. Mit erratischen Behauptungen solcher Art sieht man sich im Gespräch mit Schariagelehrten immer wieder konfrontiert.8 Im Laufe von mehr als vier Jahrzehnten geistiger Auseinandersetzung mit diesem Personenkreis, mit seiner Geschichte und seinem zeitgenössischen Schrifttum ließ sich eine begrenzte Anzahl häufig wiederkehrender Grundmuster identifizieren, mit denen man Kritiker an Aussagen der autoritativen Texte ins Unrecht zu setzen sucht. In der Stellungnahme des KRM kommen die wichtigsten dieser Grundmuster vor; auf sie beschränke ich meine Ausführungen. a) Die Aussage ist als Metapher zu verstehen Dieses Verfahren ist außerordentlich beliebt. Hierbei behält sich der Schariakenner die Entscheidung vor, wann es angewandt werden soll und wann nicht. In der Stellungnahme des KRM (S. 3 f.) wird mir vorgehalten, die von mir im Zusammenhang mit der Herabwürdigung Andersgläubiger herangezogenen Koranverse, in denen diese mit dem Vieh verglichen werden, seien metaphorisch zu verstehen; es werde der Starrsinn der Ungläubigen angeprangert. Das tertium comparationis wäre mithin das Fehlen des Verstandes, das sowohl vom Vieh wie von den Ungläubigen auszusagen wäre. Inwiefern dieser Gedanke meine Ausführungen widerlegt, wird nicht deutlich; eine Herabwürdigung Andersgläubiger bzw. „Ungläubiger“ bleibt dieser Vergleich nach wie vor, das ändert auch der Hinweis auf den fremden kulturellen Hintergrund nicht.9 8 Hierzu gehört auch die auf S. 18 der Stellungnahme vorgetragene Kritik an meinem Gebrauch des Begriffs raÞ j = „anstößige, weil nicht auf einer autoritativen Aussage beruhende Ansicht“; die Kritik des KRM zeugt von mangelnder Kenntnis der Geschichte des islamischen Rechts; grundlegend hierzu die Arbeiten von Joseph Schacht, z. B. The Origins of Muhammadan Jurisprudence. 9 Inwiefern die vom KRM in diesem Zusammenhang angeführten Koranstellen Sure 6, Vers 108 und Sure 109, Vers 6 das Herabwürdigen Andersgläubiger verbieten, bleibt rätselhaft. „Und schmäht nicht die, welche sie statt Allahs anrufen“ bezieht sich auf die heidnischen Gottheiten; der Vers lautet im ganzen: „Und schmäht nicht die, welche (die Heiden) anstelle Allahs anrufen, damit (diese Heiden) dann nicht Allah schmähen, wodurch sie, da ohne (Heils-) Wissen, (Allahs Gesetze) über-
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b) Argumentationstaktische Leugnung der Maxime „Religion und Politik sind im Islam eins“ Eine gern geübte Praxis zur Abwehr unangenehmer Fragen an den autoritativen Text besteht in der Behauptung, in dem gerade zur Debatte stehenden Fall gelte die sonst stets als charakteristisches Merkmal des Islams betonte Einheit von Religion und Politik nicht; es handle sich vielmehr um eine rein religiöse oder rein politische Angelegenheit, die für den jeweils anderen Bereich ohne Belang sei. Unter 3. (Die Verwerfung der Pluralität) meiner Übersicht hatte ich unter Bezugnahme auf Sure 10, Vers 19 und Sure 41, Vers 45 dargelegt, daß laut Koran die Pluralität von Ansichten und Anschauungen als eine verhängnisvolle Folge einer teilweisen oder vollständigen Abwendung von der göttlichen Rechtleitung aufzufassen ist. Der KRM führt nun Sure 2, Vers 213 an, um zu belegen, daß die in Sure 10, Vers 19 und Sure 41, Vers 45 ausgesprochene Kritik an der Uneinigkeit nicht deren allgemeine Verurteilung bedeute. „Bei der in diesen Versen angesprochenen Uneinigkeit handelt es sich um die Ablehnung bzw. Außerachtlassung der Rechtleitung der Offenbarung und der Gesandten Gottes“, schreibt der KRM (S. 5). So ist es in der Tat. Auch in Sure 2, Vers 213 werden die Muslime vor dem Abweichen von der Rechtleitung gewarnt: „Uneins wurden ausgerechnet jene, denen (die Rechtleitung) gegeben worden war und die deutliche Beweise erhalten hatten, uneins in gegenseitiger Auflehnung“.10 So weit zitiert der KRM Sure 2, Vers 213. Der Vers geht jedoch weiter: „Allah aber in seinem Wohlwollen führte diejenigen, die glauben, zu der Wahrheit, über die sie vorher uneins gewesen waren. Allah führt auf einen geraden Weg, wen er will.“ Jetzt also, im Medina Mohammeds – Sure 2 entstand etwa achtzehn Monate nach der Hedschra –, ist Uneinigkeit nicht mehr angemessen. Mohammed und seiner Verkündigung zu folgen, bedeutet nicht nur die Errettung vor dem Höllenfeuer, sondern führt schon hier und jetzt zu einem Gemeinwesen treten würden. So haben wir (d. h. Allah) einer jeden Religionsgemeinschaft ihr Handeln als schön hingestellt; dann aber erfolgt die Rückkehr zu ihrem Herrn, und der wird ihnen mitteilen, was sie (auf Erden) taten.“ Der im Koran auch als heimtückisch geschilderte Allah (z. B. Sure 3, 54) führt die Heiden in die Irre, und im Gericht teilt er ihnen mit, was sie taten, und verdammt sie in die Hölle. Sure 109, mit „Die Ungläubigen“ überschrieben, enthält die schroffste Absage Mohammeds an die Ungläubigen; mit ihnen will er nichts gemein haben. Von muslimischer Seite wird, wie es auch der KRM tut, meistens nur der 6. Vers zitiert: „Euch eure (praktizierte) Religion (dīn), mir die meinige!“; er ist der letzte Vers dieser kurzen Sure. Ganz von den vorhergehenden Versen getrennt, wird er oft auch als „Beweis“ für die von Mohammed angeblich vertretene Religionsfreiheit mißbraucht. 10 Die Übersetzung des KRM „… uneins aus Neid aufeinander“ entspricht nicht dem arabischen Text des Korans (Ausgabe der al-Azhar von 1961): baġjan baina-hum.
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ohne Meinungsstreit, erläutere ich in meiner Übersicht unter Verweis auf weitere Koranverse, die die politische Dimension der durch Mohammed für sich beanspruchten göttlichen Rechtleitung beleuchten. Der Zweck der Ausführungen des KRM und des unvollständigen Zitats von Sure 2, Vers 213 liegt darin, diese politische Dimension auszublenden – es soll sich nur um eine Warnung vor Uneinigkeit in Glaubensdingen handeln. Der nichtmuslimische Gesprächspartner soll die ansonsten von den Verfechtern der Scharia unablässig ins Spiel gebrachte Maxime, Religion und Politik seien im Islam eins, in diesem Fall vergessen und sich zu der Ansicht verführen lassen, Meinungspluralität sei im islamischen Gemeinwesen zumindest nicht verpönt (vgl. im übrigen den Abschnitt „Das Ineinander von Diesseits und Jenseits“ in diesem Papier). Für besonders perfide erachte ich die – schon jahrhundertealte – Behauptung, die Bedrohung des Austritts aus dem Islam mit der Todesstrafe gelte nicht dem Religionswechsel an sich, sondern dem damit angeblich verbundenen „Hochverrat“, also einem politischen Delikt (S. 10 der Stellungnahme des KRM). Während im vorherigen Fall eine anstößige Aussage nur die Religion betreffen soll, geht es hier vorgeblich nur um eine „politische“ Angelegenheit, die mit der Religion Islam nichts zu tun hat. Dem KRM zur Erinnerung: Im Zeitalter der medinensischen Urgemeinde und der Prophetengenossen war doch nach Auffassung der Schariakenner die vollständige Islamisierung der muslimischen Gesellschaft Wirklichkeit, waren Religion und Politik in unüberbietbar vollkommener Weise eins, herrschte mithin der Idealzustand, auf dessen erneute Verwirklichung die Schariaverbände doch erklärtermaßen hinarbeiten. Sollten die Schariaverbände sich still von diesem Ziel verabschiedet haben? Sicher nicht! Es handelt sich um reine Argumentationstaktik. c) Die Wahl des „schonenden“ Begriffs Auf Seite 6 f. bemängelt der KRM, daß ich in dem bekannten Hadith, in dem Mohammed die Vorrechte, die ihm Allah vor allen übrigen Propheten eingeräumt habe (Durchsetzung des Machtanspruchs mit militärischen Mitteln, Aneignung der Kriegsbeute), das arabische Wort ruÝ b mit „(von Mohammed verbreitetem) Schrecken“ übersetzt habe. Der KRM möchte das arabische Wort unter Hinweis auf ein von AÎmad b. Íanbal überliefertes Hadith11 mit „Furcht“ wiedergeben. Die Feinde Mohammeds „fürchten“ 11 Wenn man als nichtmuslimischer Gesprächspartner ein Hadith von AÎmad b. Íanbal zitiert, das dem Gegenüber nicht paßt, wird man meistens dahingehend belehrt, daß AÎmad b. Íanbals Hadithsammlung nicht zu den kanonischen „Sechs Büchern“ gehöre und daß dieser Autor ohnehin verpönt sei, da sich auf ihn die im
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sich vor ihm, das klingt milder als „sie werden durch sein Handeln geschreckt“. Ein Blick in ein Wörterbuch belehrt einen darüber, daß ruÝ b eben nichts anderes als den Schrecken und die entsetzliche Angst meint, in die man durch Drohungen bzw. einschüchternde Handlungen versetzt wird. Der KRM möchte die Ablehnung meiner Übersetzung desweiteren dadurch bekräftigen, daß es ja nicht Mohammed sei, der in den Feinden „Furcht“ errege, sondern Allah. Allahs Vorgehen ist aber natürlich jeglicher Kritik durch die Menschen entzogen und läßt sich nicht an ethischen Maßstäben messen (vgl. z. B. die im Koran hervorgehobene Heimtücke Allahs, Sure 3, Vers 54 und öfter), und folglich auch nicht die durch Allah mittels Mohammed ins Werk gesetzten Handlungen. Das in Rede stehende Hadith nimmt im übrigen, was der KRM übersieht, auf Mohammeds propagandistische Auswertung seines Sieges bei Badr Bezug, der Sure 8 gewidmet ist.12 Er muß den Zögernden unter den Medinensern darlegen, daß Allah auf der Seite der Muslime gekämpft habe. Deshalb läßt er Allah in Vers 12 zu den Engeln sagen, die zur Unterstützung seines Propheten abgeordnet worden sein sollen: „Ich werde den Ungläubigen Schrecken einjagen! Haut ihnen (mit dem Schwert) auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen!“ („schonende“ Übersetzung nach Paret, vgl. jedoch in diesem Abschnitt, Text IV, 6a).13 In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Darstellung der militärischen Grundsätze Mohammeds in dem achtbändigen Werk Muhammad. Encyclopaedia of Seerah (d. i. arab. as-sīra, die Prophetenvita). Das Werk, herausgegeben in London (2. Auflage 1985) von einer Muslim School Trust genannten Institution, ist für Muslime geschrieben (vgl. im folgenden unter d.). Mohammed wird in diesem Werk als der größte Feldherr aller Zeiten gerühmt. Seine vielen Kriege seien freilich insofern defensiver Natur gewesen, als die Andersgläubigen seinen Interessen und Bestrebungen einfach in die Quere gekommen seien, damit also den Inte ressen des Islams und Allahs. Eine mögliche Schädigung des Islams verpflichte jedoch die Muslime zur Teilnahme am Krieg,14 der in einem solchen Fall als Gottesverehrung (arab.: al-Ý ibāda) zu betrachten sei. Was nun die Kriegsführung selber anbelangt, so hat Mohammed die Einsichten eines von 18. Jahrhundert entstandene „fundamentalistische“ Richtung der Wahhabiten berufe. Wenn es genehm ist, zitiert man diese Sammlung jedoch ausgiebig. 12 Den Zusammenhang wie auch die Einzelheiten sind nachzulesen in meinem Buch „Mohammed. Leben und Legende“, München 2008, 297–324. 13 Nach den klassischen Korankommentatoren, z. B. nach dem vom KRM in seiner Ausarbeitung mehrfach zitierten FaÌr ad-Dīn ar-Rāzī, bedeutet dieser Befehl, die Feinde seien durch Abschlagen der Gliedmaßen kampfunfähig zu machen (vgl. in diesem Abschnitt Text I). 14 Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt ist das angeblich im Koran (Sure 5, 32) ausgesprochene generelle Tötungsverbot zu betrachten, dessen Hintergrund ich in meiner Übersicht schilderte.
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Clausewitz – dieser Name ist den Autoren der „Seerah“ merkwürdigerweise bekannt – und anderer längst vorweggenommen. Die Autoren heben hervor, daß unter dem Propheten alle Kriegsvorbereitungen in strengster Geheimhaltung abliefen. Um über den Feind informiert zu sein, entsandte Mohammed Spione. „Er organisierte auch eine Einheit für verdeckte Spezialaufträge, die ohne Blutvergießen und ohne Störung des Friedens (zu erledigen waren). Ferner stellte er eine fünfte Kolonne (sic!) auf, die Gerüchte ausstreute und Unruhe unter den Leuten schürte, um den Feind zu demoralisieren. Diese Einheit arbeitete hart, um die Menschen“ – gemeint sind diesmal wohl die Muslime – „für ein Höchstmaß an Selbstdisziplin und Opfermut zugunsten der Sache des Islams zu gewinnen. Mohammed nutzte diese Einheiten ohne Einschränkung, um Unheilsboten und Störenfriede (in den eigenen Reihen) mundtot zu machen und Angst in die feindlichen Linien hineinzutragen.“ Kurz, er tat alles, was für „Verteidigungskriege“ unerläßlich ist. „Seine Strategie beruhte auf dem Prinzip der Überraschung, der Schnelligkeit, der Sicherheit, der offensiven (sic!) Aktion und der Geringhaltung der Verluste an Menschenleben in den eigenen Reihen.“15 Besonders der Begriff „Dschihad“ soll, so wünscht es sich der KRM, auf „schonende“, seinen eigentlichen Inhalt kaschierende Weise wiedergegeben werden (vgl. zu diesem Thema die Stellungnahme des KRM ab S. 13, besonders S. 20 ff.): Man soll das Wort mit „Einsatz“ übersetzen, wobei die Assoziation „Einsatz für eine gute Sache“ geweckt werden soll, und dieser Einsatz kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, an Gewaltanwendung denkt der Deutsche dabei zuletzt. Leider gibt das arabische Verbum Ê āhada diesen Sinn aber nicht her; die Wurzel Ê -h-d bezeichnet das hartnäckige Streben, die Anstrengung; gemäß der Bedeutung des in Ê āhada vorliegenden dritten Stammes der Wortwurzel richtet sich dieses Streben, diese Anstrengung auf eine oder mehrere Personen. Es handelt sich demnach um eine ganz spezifische Form von „Einsatz“. Die Ausführungen in meiner Übersicht werden in der Stellungnahme des KRM nirgends widerlegt. Ich werde mich daher nicht wiederholen. Ich verweise darauf, daß die muslimische Prophetenvita selber die medinensischen Jahre Mohammeds als die Zeit „der Kriegszüge“ (arab.: Pl. al-maġāzī, verwandt mit dem arabischen Wort ġazwa = Raubzug) versteht; so gliederte schon Ibn IsÎāq seine Prophetenvita in drei große Abschnitte: das „Buch des Anfangs“, das sich mit der Schaffung der Welt und den Propheten vor Mohammed befaßte, das „Buch der Berufung“, das Mohammeds Leben bis zur Hedschra darlegte, und eben das „Buch der Kriegszüge“ (vgl. Abschnitt C., Einführung).16 15 Encyclopaedia
of Seerah, I, 671 und 519 f. ist es für den nichtmuslimischen Leser nützlich, daß ich hier eine Übersicht über die Kapitelüberschriften des „Buches des Dschihad“ aus al-BuÌ ārīs 16 Vielleicht
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Hadithsammlung einschalte, die ja als die „authentischste“ gilt; in der deutschen Auswahlübersetzung dieser Sammlung (erschienen bei Reclam, Stuttgart 1991) hat man dieses umfangreichste „Buch“ mit keinem Wort erwähnt. Es wird überdeutlich, an welche Art von „Einsatz“ durchweg gedacht ist: Nach dem Verweis auf Sure 9, Vers 111 f. (Übersetzung in meiner Übersicht, oben, S. 359) und der Aussage Mohammeds, der Dschihad sei entweder nächst dem Gebet und der Pietät gegen die Eltern die drittbeste aller Handlungen des Menschen oder die beste überhaupt, lauten die Kapitelüberschriften: Der beste Mensch ist derjenige, der mit seinem Leben und Vermögen den Dschihad für Allah führt – Allahs Segen liegt auf dem Dschihad und dem Tod als Blutzeuge – Die hohen Ränge, die die Dschihadkämpfer im Paradies einnehmen – Der Aufbruch zum Dschihad bringt einen nahe ans Paradies – Die Paradiesjungfrauen – Das Streben nach dem Rang des Blutzeugen – Hoher Rang desjenigen, der im Dschihad fällt – Im gleichen Sinn sechs weitere Kapitel unter Bezugnahme auf verschiedene Koranverse – Der Kampf für die Herrschaft des Islams ist besser als der Kampf um Beute – Wer vom Staub des Kampfgetümmels bedeckt wurde, den werden die Flammenzungen des Höllenfeuers nicht erreichen (drei Kapitel) – Die im Dschihad Gefallenen sind nicht tot, sondern leben im Paradies – Der Schatten der Engel ist über ihnen – Der getötete Dschihadkämpfer möchte aus dem Paradies auf die Erde zurückkehren, um zehnmal im Dschihad zu fallen – Das Paradies liegt unter der aufblitzenden Klinge des Schwertes – Schon Salomo wollte Söhne für den Dschihad zeugen – Tapferkeit und Feigheit (zwei Kapitel) – Das Erzählen vom Dschihad – Der Dschihad beginnt, nachdem man zu ihm aufgerufen hat – Umgang mit einem Ungläubigen, der einen Muslim tötet, später aber zum Islam übertritt – Dschihad ist wichtiger als Fasten – Wer als Blutzeuge gilt – Der Vorrang der Kämpfer vor denen, die nicht kämpfen – Beharrlichkeit im Kampf – Anspornen zum Kampf – Das Ausheben eines Verteidigungsgrabens – Triftige Entschuldigung für das Fernbleiben von einem Kriegszug – Verdienstlichkeit des Fastens – Verdienstlichkeit des Spendens für den Dschihad (zwei Kapitel) – Das Tragen des Totengewandes beim Kampf – Über die Vorhut – Einer der Dschihadkämpfer muß als Imam fungieren – Der Dschihad gilt unabhängig vom guten oder schlechten Charakter dieses Imams – Über die Reittiere und den Umgang mit ihnen (dreizehn Kapitel) – Das Reitkamel und das Maultier des Propheten (zwei Kapitel) – Die Frauen auf den Kriegszügen (acht Kapitel) – Dienstleistungen während der Kriegszüge (drei Kapitel) – Ein Tag Kampf für Allah ist besser als alle Schätze des Diesseits – Minderjährige Diener auf dem Kriegszug – Verdienstlichkeit des Krieges zur See – Auch die Elenden sollen ins Feld ziehen – Der Verwundete, der sich aus Verzweiflung selber tötet, ist kein Blutzeuge – Über den Umgang mit Waffen und Panzerhemden (fünfzehn Kapitel) – Kampf gegen Byzantiner, Juden, Türken und „diejenigen, deren Sandalen aus Haaren bestehen“ (vier Kapitel) – Abhalten der Kämpfer von der Flucht – Die Verwünschung der Ungläubigen – Die Belehrung der Schriftbesitzer – Die Aufforderung der Heiden, Juden und Christen, den Islam anzunehmen (drei Kapitel) – Mohammed verbarg die Absicht, in den Krieg zu ziehen – Der Zeitpunkt des Aufbruchs, u. a. im Ramadan (drei Kapitel) – Die Verabschiedung der Kämpfer – Die Gehorsamspflicht (sechs Kapitel) – Beteiligung am Kriegszug unmittelbar nach der Hochzeit (zwei Kapitel) – Verhalten bei Panik (zwei Kapitel) – Verbot der Zweckentfremdung von Spenden für den Dschihad – Die Standarte des Propheten – Beteiligung des Bediensteten an der Beute – Sieg durch Verbreitung von Schrecken – Der Proviant (zwei Kapitel) – Reitgefährten (drei Kapitel) – Die Verdienstlichkeit der den Kämpfern geleisteten Handreichungen – Das Mitführen von Koranexemplaren – Religiöse Ausrufe auf dem Feldzug (drei Kapitel) – Einmannunternehmungen –
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d) Das Ineinander von Diesseits und Jenseits Der KRM kritisiert in seiner Stellungnahme, daß ich die in meiner Übersicht unter 7. genannten Koranverse auf das Diesseits beziehe: Es sei stets das Paradies gemeint, nicht hier im Diesseits, sondern erst nach dem Gericht werde den Muslimen das „Land“ als „Erbteil“ übereignet. „Land“ meine in diesem Kontext die „erdähnliche Landschaft des Paradieses“. Das soll anscheinend auch für Sure 33, Vers 25 bis 27 gelten, auf den der KRM dann vorsichtshalber nicht eigens eingeht: „… (Nach dem Zerfall der Stammes koalition) holte (Allah) die ‚Schriftbesitzer‘, durch die (die Belagerer) unterstützt worden waren, aus ihren Wohnburgen herab und jagte ihren Herzen Schrecken ein. Einen Teil von ihnen konntet ihr töten, den anderen gefangen nehmen. (Allah) gab euch ihr Land, ihre Wohnsitze und ihr Vermögen zum Erbe und (noch dazu) Land, das ihr noch nicht betreten hattet …“ Diese Formulierungen lassen sich beim besten Willen nicht mehr auf das Jenseits beziehen. Sie geben uns den Anlaß, anhand des Topos des „Erbens des Landes / des Paradieses“ die für den Koran typische Verquickung von diesseitsbezogenen und jenseitsbezogenen Heilsversprechen und Strafandrohungen zu beleuchten. In der Entwicklungsgeschichte Mohammeds, die ihn vom gnostischen Warner vor dem Endgericht zum „wiedererstandenen Abraham“ des nimMarsch und Gebetszeiten – Noch einmal zur Zweckentfremdung – Der Dschihad mit Erlaubnis der Eltern – Verzierung des Reitkamels – Freistellung vom Feldzug, um mit der Ehefrau die Pilgerfahrt zu vollziehen – Der Späher – Die Behandlung der Gefangenen, ihre Bekehrung zum Islam, das Töten von Frauen und Kindern, von Schlafenden, das Niederbrennen von Häusern und Palmengärten (neun Kapitel) – Verbot, ein vorzeitiges Treffen auf den Feind zu wünschen – „Der Krieg besteht aus List“ (fünf Kapitel) – Die Behandlung Verwundeter (zwei Kapitel) – Vermeidung von Streit während des Feldzugs – Weitere Ratschläge für das Verhalten im Kampf (vier Kapitel) – Die Gefangenen, ihre Behandlung, ihr Freikauf (sechs Kapitel) – Verhandlungen (drei Kapitel) – Islamannahme der Besiegten (vier Kapitel) – Allah stärkt den Islam auch durch Missetäter – Vertreter des Befehlshabers bei dessen Tod – Hilfstruppen – Nur dreitägiger Aufenthalt im Feindesland – Beute (fünf Kapitel) – Die Siegesbotschaft (zwei Kapitel) – „Keine Hedschra nach der Einnahme von Mekka“ – Verhalten bei zweifelhaftem Übertritt zum Islam – Empfang der zurückkehrenden Krieger (drei Kapitel) – Das dem Propheten zustehende Beutefünftel (sechs Kapitel) – Die Verteilung der restlichen Beute unter die Krieger (vier Kapitel) – Der Segen Allahs ruht auf dem geraubten Gut – Die Beteiligung eines Boten Mohammeds an der Beute – Das Beutefünftel des Propheten dient der Abwehr unvorhergesehenen Unheils – Weitere Bestimmungen zum Beutefünftel (drei Kapitel) – Die Beschenkung derjenigen, „deren Herzen für den Islam gewonnen werden sollen“ – Während eines Feldzugs beschlagnahmte Lebensmittel zählen nicht zur Beute – Die Kopfsteuer und der Umgang mit den Dhimmis (neunzehn Kapitel).
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merruhenden Allah führt,17 ist die muslimische Überblendung des seinsmäßigen Gegensatzes zwischen Diesseits und Jenseits bereits vorgeprägt. „(Mein Herr), mach, daß die späteren Geschlechter meiner in Gerechtigkeit gedenken, und bestimme mich zu einem der Erben des Paradieses!“ fleht Abraham in Sure 26, Vers 84 f.: Derjenige, der sich unerschütterlich an Allah hält, „erbt“ nach dem Ende der Zeiten das Paradies (vgl. Sure 19, 63 und 23, 11); es ist der Jenseitslohn der Gottesfürchtigen (Sure 43, 72; vgl. auch Sure 7, 43). Das „Erbe“, das Allah ihm nach dem Gericht zuweist, wird zweimal auch als „das Land“ bezeichnet (Sure 21, 105 und 39, 74). Schon in mittelmekkanischer Zeit tritt neben den Bezug auf das Jenseits die Vorstellung, das „Erben“ laufe im Diesseits ab. So wurden Pharao und sein Volk aus ihren Besitztümern vertrieben, die den Israeliten als „Erbe“ übergeben wurden (Sure 26, 59 und 44, 28). Mit den Völkern, die ihren Propheten nicht folgten, nahm es ein schlimmes Ende, sie wurden vernichtet, Allah „erbte“ ihr Vermögen (Sure 28, 58), ihr Land (Sure 15, 23; 19, 40 und 21, 89) – um es denen zu schenken, die „man für schwach gehalten“ hatte (Sure 28, 5 f.). Sure 7, deren gegen die Mekkaner gerichteten drohenden Unterton wir erörterten, spricht dreimal von einer solchen „Erbübertragung“ (Vers 100, 128 und 137), in der die diesseitigen Eigentums- und Machtverhältnisse umgestürzt werden sollen. Im Zusammenbruch der mekkanischen Stammeskoalition während des Grabenkrieges sowie in der Vernichtung der Banū QuraiÛa und in der Aneignung ihres Vermögens und Landes erkennt Mohammed die erste Erfüllung dieser Ankündigung: Allah hat den muslimischen Kriegern das diesen zustehende „Erbe“ zukommen lassen (Sure 33, 27). Allah nämlich verfügt über das Erbe der Himmel und der Erde – wie ist es da möglich, daß man sich nicht dem Kampf für seine Sache hingibt? Wer sich schon früh diesem Kampf widmete, steht über denjenigen, die lange zögerten, befindet Mohammed in Sure 57, Vers 10 und nimmt damit den Grundsatz vorweg, gemäß dem später der zweite Kalif ÝUmar b. al-ËaÔÔāb (reg. 634–644) den Kämpfern die Dotationen zuteilen wird, deren Mittel sich aus den Ernteerträgen speisen, die den Besiegten abgepreßt werden.18 Die MuÝtaziliten trennten klar zwischen dem „Haus des Handelns“ und dem „Haus des Entgelts“, worauf schon hingewiesen wurde. Für den schariatischen Islam hingegen ist die enge Verflechtung zwischen beiden Seinsbereichen konstitutiv. Zum einen ist sowohl hier wie dort einzig Allah der wahrhaft Handelnde. Zum anderen soll der heilserfüllte Endzustand schon im Diesseits erreicht werden, nämlich durch die totale Herrschaft des Scha17 Vgl. die ausführliche Darstellung in meinem Buch „Mohammed. Leben und Legende“, 87–180. 18 Ebd., 366–402 und 513–529.
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riaislams, die die vollkommene und unangefochtene Geltung des gottgegebenen Gesetzes bedeutet: Der Einschnitt, den das Endgericht in der Heilsgeschichte markiert, verliert seine Dramatik; ja, das Endgericht ist nicht mehr als ein Verfahren anzusehen, das die im Diesseits ihren Ursprung nehmende Gerechtigkeit abschließt. Das sagenhafte Volk der ÝĀd, das seinen Propheten ablehnte, erhielt schon im Diesseits eine „entehrende Strafe“, und die Strafe im Jenseits wird noch entehrender sein (Sure 41, 16); wer gegen Mohammeds Macht aufbegehrt, dem werden Verstümmelung oder Verbannung angedroht, „Entehrungen“ im Diesseits mithin, und noch schwerere Strafen im Jenseits (Sure 5, 33).19 Die Vermischung von Diesseits und Jenseits betrachtet auch die heutige Schariawissenschaft noch als den Vorzug, in dem sie sich grundsätzlich von anderen Rechtssystemen unterscheidet. „Wer gegen die islamische Scharia verstößt und den irdischen Institutionen der Beobachtung entgeht, der wird nicht der Beobachtung durch den Höchsten entkommen und in jedem Fall seine Strafe erhalten“, die Jenseitsstrafen nötigten zum Gehorsam gegen die Gesetze, heißt es in der Einleitung der seit 1966 in Kairo erscheinenden „Enzyklopädie des islamischen Rechts“ (MausūÝat al-fiqh al-islāmī).20 Zahllos sind die Zeugnisse dafür, daß gerade der Diesseitsaspekt des Auftretens Mohammeds in den Mittelpunkt schariamuslimischer Propaganda rückt. So findet sich seit Jahren auf einer Internetseite der University of Southern California folgender Text: „Die Lehren, die uns (Mohammed) hinterließ, werden, sofern sie richtig in ihrem wahren Geiste verwirklicht werden, zu einem glücklichen Leben in dieser Welt führen und darüberhinaus den unbezweifelbaren Jenseitslohn eintragen, den diejenigen empfangen werden, die (an diese Lehren) glauben. In diesem Sinne ist der Islam eine irdische Religion, die sich zuallererst der irdischen Belange der Menschheit annimmt. Es ist schwierig, anzudeuten, der Mensch könne im Jenseits erlöst werden, ohne im Diesseits erlöst zu werden.“ ÝĀÞiša habe auf die Frage eines Prophetengenossen erläutert, daß Mohammed gemäß den Normen des Korans, der von Allah selber stammenden Rechtleitung, gelebt habe und durch Allah bevollmächtigt worden sei, den Koran auszulegen. „Deswegen war sein Verhalten das für die Menschheit beispielhafte Verhalten. Der Islam, wie der Prophet Mohammed ihn übermittelte, wird außerordentlich mißverstanden, wenn er als eine Religion wahrgenommen wird, die (nur) Raum hat für die Seelen und für Riten wie Gebete, Fasten, Almosen und Wallfahrt. Dank den neuen Entwicklungen in der Welt betrachtet man den 19 Dieses Beispiel zeigt, wie der Inhalt der Geschichten, die Mohammed in Mekka erzählt, die von ihm später in Medina erlassenen Regelungen prägt, ein Sachverhalt, auf den ich in diesem Zusammenhang nicht weiter eingehen werde. 20 Übersetzt in T. Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 337 f.
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Islam aus einem weiteren Blickwinkel als in der Vergangenheit.“ http://web. archive.org / web / 20070829050509 / www.usc.edu / dept / MSA / fundamen tals / prophet / asblessing (englischer Text, 3. April 2009). Gerade die vorhin erwähnte „Encyclopaedia of Seerah“ widmet sich diesem Aspekt und beschreibt Mohammed als den Erretter aus allen Nöten des irdischen Daseins. In deren Vorwort hebt der Präsident der König-ÝAbd alÝAzīz-Universität in Dschidda hervor, daß es geboten sei, in der islamischen Welt selber dem Islam die das Leben beherrschende Stellung zu sichern und darüber hinaus die neuen muslimischen Gemeinschaften in anderen Ländern mit Material zu versorgen, das die unschätzbaren Leistungen aufzeige, die die Botschaft des Propheten für die ganze Menschheit erbracht habe. Mohammed sei gewissermaßen die Verkörperung dieser göttlichen Botschaft, und selbst Außenstehende könnten nicht „die grenzenlose Weite der Interessen des Propheten, seine tiefe Hingabe an das Schicksal des Menschen, seine Liebe, sein Mitleiden, die moralische Vortrefflichkeit seiner Anordnungen und die Bedeutsamkeit seiner sunna für das Leben in unserer Zeit“ leugnen. Mohammeds Einfluß auf die Kultur könne gar nicht groß genug veranschlagt werden, erfährt der Leser schon im ersten Band. Dem Koran sei dieser Einfluß zu danken, denn bereits die winzigste Anspielung auf irgendeine scheinbar beiläufige Sache eröffne der Menschheit ausgedehnte Wissenshorizonte. Allah lehrte Adam, das Wesen aller Dinge zu verstehen, und nur in der mangelhaften westlichen Art, Wissenschaft zu treiben, trenne man das offenbarte, durch Allah übermittelte Wissen von demjenigen, das der Mensch sich auf eigenen Wegen verschaffe. Die islamische Harmonisierung materieller und spiritueller Bedürfnisse habe der Kultur gewaltige Impulse verliehen. Somit ist es nicht erstaunlich, daß die Autoren der „Enzyklopädie“ Mohammed als den bedeutendsten Architekten, Physiker, Chemiker, Soziologen zeichnen und, sofern dies möglich ist, Vertreter der betreffenden Wissensgebiete aus der ferneren islamischen Vergangenheit aufzählen; Neuzeit und Gegenwart finden aus verständlichen Gründen in dieser Hinsicht keine Berücksichtigung. Selbst die Archäologie, die nun wahrlich keine muslimische Errungenschaft ist, hat im Koran ihren unverrückbaren Maßstab. Denn alle Funde sind unter dem Gesichtspunkt der Straflegenden zu bewerten; Allah vernichtete die Völker, die dem Ruf seiner Propheten nicht folgten (vgl. z. B. Sure 25, 35–39 und Sure 38, 12–13). „Die koranische Methode des Studiums der Archäologie unterscheidet sich grundlegend von der westlichen. Letztere beschränkt sich gänzlich auf die Untersuchung der materiellen Leistungen der alten Völker, ihrer Architektur, Kunst und Bildhauerei, und mißt ihren Fortschritt und ihre Leistungen allein im Hinblick auf diese materiellen Erzeugnisse. Sie kümmert sich nicht um den Glauben, die Moral und die Lebensweise. Ob (jene Völker) an einen Gott oder an (viele) Götter glaubten, ob sie (Allahs) Gesandte zurückwiesen oder
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aufnahmen, ist für die modernen (westlichen) Archäologen ohne Belang. Ob (die alten Völker) unmoralisch lebten bzw. in Obszönitäten und Bösem ihr Dasein fristeten, beeinflußt deren archäologische Schlüsse nicht, weil derartiges nicht Gegenstand ihrer Untersuchungen ist.“ Über den Wirklichkeitsgehalt solcher Ausführungen muß ich mich nicht äußern. Sie zeigen allemal, daß Koran und Hadith als die Quellen der Gestaltung des Diesseits ausgegeben werden. So wie Religion und Politik nach schariaislamischer Ansicht einen einzigen Kontext bilden, so auch Diesseits und Jenseits. Da im Christentum jedoch die Errichtung des Gottesreiches im Diesseits als unmöglich gilt und für den säkularen Staat und seine Gesellschaft die Bezugnahme auf das Jenseits der individuellen Gläubigkeit zugehört, betrachten es die Schariakenner als ein probates Mittel, unangenehme Anfragen an ihre autoritativen Texte dadurch ins Leere laufen zu lassen, daß sie behaupten, es handele sich um Aussagen über das Jenseits. Daß sich hinter solchen Aussagen der autoritativen Texte sehr wohl Diesseitsverheißungen verbergen, wird den eigenen Glaubensbrüdern jedoch eindringlich nahegebracht. e) „Kontextbezogenheit“ Mehrfach erhebt der KRM den Vorwurf, ich ließe ein „kontextbezogenes“ Verständnis des Korans vermissen. Zu Beginn seiner Stellungnahme gibt der KRM knapp meine Ausführungen zu zeitgenössischen muslimischen Stimmen wieder, die sich mit dem Problem der Historisierung der autoritativen Texte befassen; er äußert sich zu diesen Stimmen nicht, im Fortgang der Erwiderung wird jedoch klar, daß er ihre Ansichten ablehnt. Da er sich „muÝtazilitische“ Positionen nicht zueigen machen kann, ist etwas anderes auch nicht zu erwarten. Unter „fehlendem Kontextbezug“ bzw. „fehlender Historisierung“ versteht er den Umstand, daß ich die beschriebenen Verfahrensweisen der arbiträren „Auslegung“ nicht befolge, also nicht beabsichtige, die ewige Gültigkeit und unübertreffliche Wahrheit von Texten zu retten, die aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts stammen. Diese Verfahrensweisen müßte man auch anwenden, wenn man beispielsweise behaupten wollte, der „Sachsenspiegel“ tauge für jeden Ort und jede Zeit. Die „Begleitumstände der Herabsendung“ (arab.: asbāb an-nuzūl ) heißt ein Teilgebiet der Schariawissenschaft, das von deren Fachleuten als ein Beleg für eine innerhalb des Schariaislams stattgehabte „Historisierung“ ausgegeben wird. Worum geht es? Die grundlegende Abhandlung zu diesem Gegenstand stammt aus der Feder eines 1075 gestorbenen Gelehrten mit Namen al-WāÎidī. Er führt in ihrem Vorwort aus, man müsse diese Umstände bzw. die Vorgeschichte der Herabkunft einer bestimmten Offenbarung
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genau kennen; denn das sei „das Vollkommenste, was man zur Kenntnis nehmen muß; (diese Umstände) verdienen am meisten, daß man ihnen Aufmerksamkeit zuwendet. Denn man kann unmöglich die Auslegung und den Sinn eines Verses in Erfahrung bringen, ohne sich dessen Geschichte und wie er herabkam, zu vergegenwärtigen. Über die Begleitumstände der Herabkunft des Buches darf man nur Aussagen treffen, die auf die Überlieferung (arab.: ar-riwāja) zurückgehen und weitergegeben wurden, indem man sie von Zeugen hörte (arab.: as-samāÝ ), die den Akten der Herabsendung beiwohnten, die Umstände kennenlernten, dem Wissen von ihnen nachforschten und ernsthaft danach suchten.“21 Mit anderen Worten: Nur das, was in der Form des Prophetenhadith vorliegt, darf zur Erläuterung eines Koranverses herangezogen werden; alles andere ist tabu. Die oben (S. 385) durch den QāÃī ÝIjāÃ ausgesprochene eindringliche Warnung vor dem Studium der Historiographie und der Korankommentierung greift genau diesen Gedanken auf. Es geht bei den „Begleitumständen der Herabsendung“ gerade nicht um eine „Historisierung“ des Korantextes, sondern um die Absicherung seiner übergeschichtlichen Gültigkeit und Wahrheit mittels Beschränkung der Quellen seiner Ausdeutung auf Texte, denen ebenfalls eine übergeschichtliche Geltung zugeschrieben wird (vgl. in diesem Abschnitt, Text III).22 Diesen Grundsätzen verpflichtet, kritisiert der KRM (S. 13–16 seiner Stellungnahme) meine Ausführungen über die Stellung der Frau gemäß den islamischen autoritativen Texten. Sie beruhen auf einer „Kontextualisierung“, einer solchen freilich, wie sie der KRM geradeswegs ablehnt: Schilderung der – natürlich nicht im Hadith auffindbaren – Stellung der Frau in der vorislamischen arabischen Gesellschaft; religionsphänomenologische Analyse der Aussagen Mohammeds zu diesem Thema; Verortung dieser Aussagen in der Ereignisgeschichte.23 Ähnlich gehe ich in der Darlegung des Unterschiedes zwischen „Muslim“ und „Gläubigem“ vor, den der KRM wortreich in Zweifel zieht (S. 19 f.): Die von Mohammed selber in Sure 49, 21 Vgl. „Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens“, 113–117. 22 Al-WāÎidīs Buch enthält, diesem Ziel entsprechend, denn auch keineswegs eine „Geschichte der Offenbarungen“, eine nach chronologischen und / oder theologischen bzw. religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ausgearbeitete Darstellung des Verlaufs der Prophetenkarriere Mohammeds. Es zitiert vielmehr einzelne Koranverse bzw. Versteile und führt dann ihnen thematisch zuzuordnende Hadithe an. Dabei hält sich al-WāÎidī an die seit der Mitte des 7. Jahrhunderts etablierte Reihenfolge der Suren, die bekanntermaßen nichts mit der Chronologie ihrer Entstehung zu tun hat. Desgleichen fehlt jegliche Gliederung nach Sachgesichtspunkten: Jeder Vers und das ihm beigestellte Hadith bilden eine Monade eines überzeitlichen Sinnes, der einer an irdischen Gegebenheiten orientierten Reflexion entzogen zu bleiben hat. 23 Im Detail nachzulesen in „Mohammed. Leben und Legende“, 324–336.
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Vers 14 getroffene Differenzierung zwischen „Gläubigkeit“ einerseits und dem als unzureichend charakterisierten „Islam“24 andererseits bildet die Grundlage meiner Analyse des Inhalts beider Begriffe und seiner Wandlungen; die Ergebnisse dieser Analyse öffnen den Blick für die Eigenart der durch Mohammeds Botschaft ins Leben gerufenen medinensischen und frühislamischen Gesellschaft. Dergleichen erkennen zu wollen, liegt natürlich quer zu den Erkenntnisinteressen der Schariagelehrten.25 Dies gilt a fortiori von meinen Darlegungen zu Sure 2, Vers 256, der nichtmuslimischen Gesprächspartnern gegenüber stets als Nachweis für die von Mohammed, wenn schon nicht praktizierte, so doch wenigstens intendierte Religionsfreiheit ausgegeben wird (Stellungnahme des KRM, S. 22). Dieser Vers ist gleichsam der Eckstein der dem Außenstehenden vorgetäuschten Toleranz des Schariaislams. Übergehen wir die Frage, warum es in den real existierenden islamischen Ländern mit der Religionsfreiheit so schlecht bestellt ist; die vom KRM selber angeführten Verse (Sure 4, 19–21 und Vers 113 ff., man muß bis Vers 116 weiterlesen und nicht bei Vers 115 stehenbleiben!) sprechen eine deutliche Sprache. Die Behauptung des KRM, in Sure 2, Vers 256 meine das Wort dīn nicht nur den praktizierten Glauben, um dessen Regeln es im ganzen Zusammenhang einzig und allein geht, sondern auch das „Lehrgebäude“, ist aus der Luft gegriffen und findet nirgends einen Anhaltspunkt: Der von mir in meinem Papier (oben, S. 364) geschilderte Kontext gibt das nicht her, desgleichen der genau gelesene Text („zwingen zu etwas“, soll gemeint sein: niemand kann zu einer Religion gezwungen werden. Die mit dem Verbum akraha zum Ausdruck dieses Sinnes zu verbindende Präposition lautet jedoch Ý alā, nicht wie in Sure 2, Vers 256 fī, d. h. in. Warum der von mir dargelegte wörtliche Sinn „in der Glaubenspraxis gibt es kein Zwingen“ hier nicht gelten soll, wird nicht erklärt. Überdies wird das Wort dīn an dieser Stelle mit dem determinierenden Artikel verwendet: „in der – hier in Rede stehenden, in Sure 2 beschriebenen muslimischen – Glaubenspraxis gibt es kein Zwingen“). Das auf die Rettung der Texte zielende „Kontextualisieren“ geht genauso willkürlich, so argumentationstaktisch vor wie die übrigen erörterten Verfahrensweisen. Die Ermittlung des ursprünglich gemeinten Sinnes wäre erst eigentlich die Basis einer themenorientierten Exegese; doch eine solche Exegese, d. h. die Auslegung eines Textes „im Rahmen eines wissenschaftstheoretisch begründeten Regelsystems und eines schlüssigen, auf mehreren Ebenen operierenden Methodenkonzepts, das am Forschungsgegenstand, 24 Der KRM unterschlägt in seiner Stellungnahme Sure 49, Vers 14, der in unserem Zusammenhang grundlegend ist. 25 Ausführlich in „Mohammed. Leben und Legende“, Kapitel IV und V.
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dem Text, orientiert ist“,26 kennt die Schariagelehrsamkeit nicht. Sie wäre aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß diese Gelehrsamkeit überhaupt mit den exegetischen Disziplinen anderer Religionen in ein Gespräch kommen könnte. f) Das argumentum ad hominem Der andalusische Gelehrte Ibn Íazm (gest. 1064) stellte ein umfangreiches Kompendium der Religionsgeschichte der Menschheit zusammen, soweit er sie in Erfahrung bringen konnte, und machte es sich zur Aufgabe, den Wahrheitsgehalt aller Glaubensrichtungen festzustellen. Für ihn, wie für den heutigen Muslim, ist klar, daß dies nur unter Bezugnahme auf die eine Wahrheit, den Islam, erfolgen kann. Das Christentum ordnet er in die Kategorie derjenigen Religionen ein, die, wie er sich ausdrückt, die Existenz von transzendenten „Wahrheiten bejahen, jedoch behaupten, daß das Diesseits mehr als einen Lenker hat“; hinter diesem Satz Ibn Íazms verbirgt sich die muslimische Mißdeutung der Trinität als einer Dreigötterlehre. Die Ablehnung der Prophetenschaft Jesu trenne die Christen von den Muslimen, meint er; das Neue Testament betrachtet er als das Zeugnis der Prophetenschaft Jesu. Es bestehe aus vier Chroniken – mithin menschengemachten Texten ohne Autorität –, die zudem offensichtliche Fehler enthielten. So erzähle Matthäus im 9. und Lukas im 8. Kapitel, wie Jesus die Tochter des Jaïrus vom Tode auferweckt. Den Klageweibern habe Jesus geboten, sie sollten ihr Treiben einstellen, denn das Mädchen sei nicht tot, es schlafe nur. Danach habe er das Mädchen aufstehen geheißen. Ibn Íazm folgert, daß Jesus entweder gar kein Wunder vollbracht habe, da das Mädchen ja nicht wirklich tot gewesen sei – dann sei es eine Lüge, die Handlung für ein Wunder auszugeben; oder es sei tatsächlich tot gewesen, dann aber habe Jesus selber gelogen, als er den Weibern das Klagen verboten habe. Daß ein Prophet lüge, sei aber undenkbar; mithin seien die Evangelisten Lügner. „Es ist nicht statthaft, den Glauben von einem Lügner anzunehmen.“27 Ibn Íazm konstruiert eine Reihe ähnlicher Beispiele, um dann zu dem Fazit zu gelangen, daß die Evangelisten, die Bürgen für den christlichen Glauben, in den genannten Fällen gelogen hätten, daß sie folglich nicht als zuverlässige Überlieferer angesehen werden dürften, woraus sich für Ibn Íazm ergibt, daß das Christentum an sich nicht „wahr“ sein kann. Das fabrizierte argumentum ad hominem entbindet Ibn Íazm von der intellektuellen Anstrengung, sich mit den Lehren des Christentums in ihrer 26 Definition von „Exegese“, religionenübergreifend, in „Religion in Geschichte und Gegenwart“, 4. Auflage, Tübingen 1999, Band II, 1781. 27 Ibn Í azm: al-FaÒl fī l-milal, Nachdruck der Ausgabe Kairo 1321 h, II, 25 f.
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Gesamtheit und auf systematische Weise auseinanderzusetzen: Der Charakter der Überlieferer ist, um es in der Terminologie der Schariawissenschaft zu formulieren, „verwundbar“, infolgedessen braucht das, was unter ihrem Namen überliefert wird, nicht beachtet zu werden. In einem Normengefüge, dessen Einzelheiten allesamt aus göttlichen, für überzeitlich gültig erklärten Aussagen herzuleiten sind, zählt am Ende immer nur der Charakter der diese Aussagen verbürgenden Personen und darüber hinaus noch deren möglichst große Anzahl. Nicht der Inhalt eines Hadithes entscheidet über dessen „Wahrheit“, sondern die Unbescholtenheit der in der Kette seiner Überlieferer – vom Prophetengenossen an bis zu dem Schariagelehrten, der auf es zurückgreift – aufscheinenden Personen. Diese „Unbescholtenheit“, die vor allem in der Beachtung formaler Standards bei Empfang und Weitergabe des Hadith besteht und darin, nie als dogmatischer oder religiös-politischer „Querdenker“ aufgefallen zu sein, ist der Gegenstand vielfältiger Erwägungen und Meinungsäußerungen, die von der „Wissenschaft von den Männern“ zusammengetragen, systematisiert und in Nachschlagewerken den Schariafachleuten zugänglich gemacht werden. Es handelt sich bei diesem Material um eine unübersichtliche Fülle von in der Regel nie durch konkrete Beispiele, geschweige denn in schlüssiger Sachargumentation erhärteten Urteilen über Personen: Der und der bewertet den und den so und so, ein anderer denselben anders, und ein dritter vergleicht den betreffenden Tradenten mit weiteren und gelangt zu der Feststellung, im Vergleich mit diesen anderen sei der betreffende mit Bezug auf diesen oder jenen Gegenstand womöglich zuverlässiger usw. usf. Dazu sind noch die biographischen Angaben zu berücksichtigen: Gewährsmann A soll durch Gewährsmann B das Hadtih X mündlich mitgeteilt bekommen haben; ist dies nach Ort und Zeit überhaupt möglich? Ein gewaltiger, unübersichtlicher, schwerlich je in stimmiger Weise zu kanalisierender Stoff mithin, jedoch mit einem heiligen Ernst bearbeitet, bis auf den heutigen Tag. Streit unter Schariagelehrten entscheidet sich nicht danach, welche Seite die besten Sachargumente vorträgt, sondern welche Seite zur Bekräftigung ihrer Meinung das Hadith mit dem höchsten Autoritätsgrad beibringen kann, der sich aus der „Qualität“ der Überlieferer und der Größe ihrer Anzahl ermitteln läßt.28 Denn dieses Hadith gewährleistet am ehesten, daß im jeweils erörterten Fall die in den Aussagen der autoritativen Texte enthaltene ewige Wahrheit zur Geltung kommt. Der „Wahrheitserweis“ durch das argumentum ad hominem durchzieht die Geschichte der Scharia wie ein roter Faden. Den Muslimen, die sich 28 Ein Beispiel hierfür schildere ich in „Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert“, München 1988, 249–256.
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professionell mit diesem Gebiet befassen, ist er eine Selbstverständlichkeit; sie verwenden ihn unablässig, um sich den übrigen Muslimen gegenüber als Erben Mohammeds zu legitimieren und ihnen zu verdeutlichen, was sie zur Kenntnis nehmen sollen und was nicht. Nicht zur Kenntnis nehmen sollen sie, um ein naheliegendes Beispiel zu nennen, den Überblick „Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz“. Sein Verfasser ist kein Anhänger des Islams; man muß versuchen, ihm anhand einiger Sätze eine tendenziös-verfälschende Denkweise zu unterstellen, dann ist alles, was er sagt, irrelevant. Man ist der lästigen Aufgabe überhoben, auf seine Sachargumente einzugehen. Wie ein verhängnisvoller roter Faden durchzieht der Wahrheitserweis durch das argumentum ad hominem die Geschichte des Islams: Es nimmt seinen Verfechtern die Fähigkeit, andere Denkweisen in ihrer Eigenart zu erfassen und aus den jeweiligen Grundlagen heraus zu verstehen und zu würdigen. 3. Schlußfolgerungen Der arbiträre Gebrauch bestimmter Argumentationsverfahren – metaphorischer Sinn, Leugnung der Maxime „Religion und Politik sind eins“, Wahl eines „schonenden“ Begriffs, Diesseits-Jenseits-Rabulistik, „Kontextbezogenheit“ – dient dem Zweck, zum einen von Fall zu Fall die Behauptung zu verteidigen, die ewig wahren Aussagen der autoritativen Texte entsprächen den freiheitlichen-demokratischen Grundsätzen unseres Gemeinwesens. Zum andern soll er alle Personen ins Unrecht setzen, die dies unter Hinweis auf zahlreiche einschlägige Belege in Abrede stellen und darüber Aufklärung verlangen, wie die Verbandsvertreter des Islams sich zu diesem eklatanten Widerspruch zu verhalten gedenken. Es geht also um die Vorbereitung des die intellektuelle Not zum Schein behebenden argumentum ad hominem. Disputation, ja jegliche Form von Dialog bedeutet in dieser Sicht nichts anderes, als daß die Wahrheit der – angeblich auf Allah zurückgehenden – Aussagen des Islams stets stillschweigend vorausgesetzt ist. Am Beginn des Dialogs mag sie dem Gesprächspartner noch nicht bewußt sein; implizit ist sie bereits gegeben, wie immer die erörterte Frage auch lauten mag. Das Streitgespräch findet seinen Abschluß, indem sie durch den Kenner der Scharia in einem der geschilderten Verfahren oder in einer Kombination aus mehreren dieser Verfahren seinem Partner explizit gemacht wird. Ein ergebnisoffener Diskurs, bei dem alle Teilnehmer von der Wahrheit gleich weit entfernt sind, alle wissen, daß sie sie niemals ganz erreichen werden, und alle im gleichen Ernst um eine Annäherung an sie ringen, ist den Schariakennern nicht nur ein Greuel, sie sind in der Regel zu solch einer Gesprächsführung nicht bereit und wegen der Ausrichtung ihrer Ausbildung auch nicht in der Lage.
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Allerdings ist sie ihnen bislang auch noch nie ernsthaft abverlangt worden. Die Dialogpartner der Vertreter des Islams haben sich aus falsch verstandener Nachsicht mit ihrem eingangs erwähnten Unbehagen abgefunden. Vielfach fehlen ihnen die Hintergrundkenntnisse, um die Behauptungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen, ins rechte Licht zu rücken. Bisweilen lassen sie sich durch die Forschheit des Auftretens beeindrucken und beruhigen sich bei dem Gedanken, die Tugend der Toleranz gebiete es, dem anderen nicht mit Fragen zu nahe zu treten, die ihm unangenehm sein könnten.29 Solchermaßen nie zur Rechtfertigung ihrer Positionen gegenüber Andersdenkenden in einem Dialog von gleich zu gleich genötigt, müssen die KRM-Verbände an die Unanfechtbarkeit dieser Positionen zu glauben beginnen. Es kommt hinzu, daß sie sich als die Avantgarde der Islamisierung des Westens betrachten, auf die man in der islamischen Welt große Hoffnungen setzt. Zumindest für die DITIB trifft dies zu. Ihre türkische Mutterinstitution Diyanet İşleri Başkanlığı erklärt in ihrem türkischsprachigen Internetauftritt offen, daß es zu ihren Zielen gehöre, im Ausland die in der Türkei auf dem Gebiet der Religion gesammelten Erfahrungen bekanntzumachen, auf diese Weise das „richtige“ Verständnis des Islams durchzusetzen und der öffentlichen Meinung im Westen das „richtige“ Wissen vom Islam zu vermitteln; überdies lasse sie es sich angelegen sein, die im türkisch interpretierten Islam wurzelnde Identität der im Ausland lebenden Landsleute zu festigen. In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache Erwähnung, daß für die weltweite Förderung des Schariaislams gigantische Mittel aufgewendet werden.30 Daneben sind vielfältige Bemühungen zu registrieren, eine ins Grundsätzliche gehende Kritik am Schariaislam als „Islamophobie“ zu kriminalisieren (vgl. in diesem Abschnitt, Text II), mithin zugunsten eines bestimmten politisch-religiösen Systems die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung einzu-
29 Man fühlt sich in solchen Situationen, die mir seit mehr als vier Jahrzehnten nur zu vertraut sind, an die Sätze erinnert, die Thomas Mann im „Doktor Faustus“ dem Erzähler Serenus Zeitblom in den Mund legt, der aus der Rückschau sein Schweigen zu den wider die europäische Kultur gerichteten Ausführungen des Dr. Breisacher bedenkt: „Dabei war in Breisachers Reden durchaus nicht alles in Ordnung; man hätte ihm leicht widersprechen … können … Aber dem zarter empfindenden Menschen widersteht es, zu stören; es widersteht ihm, mit logischen oder historischen Gegenerinnerungen in eine erarbeitete Gedankenordnung einzubrechen, und noch im Anti-Geistigen ehrt und schont er das Geistige. Heute sieht man wohl, daß es der Fehler unserer Zivilisation war, diese Schonung und diesen Respekt allzu hochherzig geübt zu haben – wo sie es doch auf der Gegenseite mit … der entschlossensten Intoleranz zu tun hatte“ (Kapitel XXVIII). 30 Einen anschaulichen Überblick allein über die saudiarabischen Aktivitäten findet man bei Gerald Posner: Secrets of the Kingdom, New York 2005, 135–181.
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schränken.31 Aus der Sicht der KRM-Verbände gibt es also keinen Anlaß, sich einer Grundsatzdiskussion zu stellen.32 Die DIK wurde einberufen, um die Integration der Muslime, auch der schariagebundenen, in die freiheitliche Wertegemeinschaft Deutschlands voranzubringen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die religiös-ideologischen Hemmnisse, die der Integration entgegenstehen, auch tatsächlich zur Sprache gebracht werden. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben der AG1. Außerdem müssen eine Reihe wesentlicher Fragen, die bis jetzt noch völlig offen sind,33 behandelt werden, Fragen, die auf den ersten Blick nur die AG1 betreffen, jedoch in ihrer Tragweite über deren Thematik hinausgreifen: – Wie kann sichergestellt werden, daß die Muslime, die dem Schariaislam ablehnend gegenüberstehen und sich unserer freiheitlich-demokratischen Werteordnung und dem in ihr wurzelnden Gemeinwesen verpflichtet fühlen, in der den Islam betreffenden öffentlichen Diskussion und vor allem in den staatlicherseits zur Erörterung islamischer Angelegenheiten einberufenen Gremien entsprechend ihrer Bedeutung vertreten sind? – Wie kann sichergestellt werden, daß der islamische Religionsunterricht nicht zur Indoktrinierung der muslimischen Schüler im Sinne des Scharia islams mit seinem allumfassenden Wahrheitsanspruch mißbraucht wird? – Wie kann sichergestellt werden, daß die muslimischen Schüler mit der freiheitlichen, ergebnisoffenen Streitkultur vertraut gemacht werden? – Wie haben sich die in diesen drei Fragen enthaltenen Prinzipien im Curriculum der Ausbildung islamischer Religionslehrer34 und im Curriculum der Ausbildung deutscher Imame niederzuschlagen? 31 Vgl. die mit 21 zu 10 Stimmen bei 14 Enthaltungen angenommene Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 27. März 2008, die „Islamophobie“ mit Rassendiskriminierung auf gleicher Ebene abhandelt, mithin erstmalig ein Gedankengebäude unter eben den Schutz stellt, der bislang allein dem Menschen und seinen Rechten galt; immerhin gehört Deutschland zu den Staaten, die diese Resolution ablehnten. 32 Vgl. dazu jetzt Lukas Wick: „Islam und Verfassungsstaat“. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?, Würzburg 2009, besprochen von ErnstWolfgang Böckenförde in FAZ, 23. April 2009, S. 35. 33 Böckenförde kommt in der in Anm. 32 erwähnten Besprechung zu dem Schluß, daß der säkulare Staat, solange die (scharia-) islamischen Vorbehalte gegen ihn nicht ausgeräumt wurden, dafür Sorge zu tragen habe, daß „die Angehörigen des Islams durch geeignete Maßnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration – nicht zuletzt im Hinblick auf die Türkei – in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen. Darin liegt nicht mehr als eine Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist“.
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– Was bedeuten diese Prinzipien für die Integrationsarbeit? 34
Abschließend ist mit großer Dringlichkeit noch einmal zu fragen, wie sich die KRM-Verbände den Umgang mit den in meiner Übersicht angesprochenen Themen denn nun denken. Eine Antwort auf diese Frage haben sie verweigert. Wollen sie mit den von ihnen vorgetragenen taktischen Argumenten künftig in der Öffentlichkeit gegen Glaubensbrüder auftreten, die sich nicht nehmen lassen, die betreffenden Aussagen der autoritativen Texte wörtlich zu verstehen? Der freiheitliche Verfassungsstaat hat das Recht und die Pflicht, auf einer klaren Antwort zu beharren.
34 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die im Januar 2009 bekannt gewordenen Ergebnisse einer Umfrage unter den an österreichischen Schulen tätigen Lehrern der islamischen Religion: 28,4 % sehen einen Widerspruch darin, Muslim und Europäer zu sein; 21,9 % halten Islam und Demokratie für unvereinbar; 14,7 % lehnen die österreichische Verfassung ab (Quelle: Die Presse, 28. Januar 2009). Da dieses Ergebnis der politischen Klasse unangenehm ist, versucht man seither nicht etwa, zu verstehen, was es aussagt, sondern es auf fehlerhafte wissenschaftliche Methoden zurückzuführen und für null und nichtig zu erklären.
Register I. Begriffe und Sachen Abgrenzung von der aufnehmenden Gesellschaft 51, 64 – von Juden und Christen 89 – der Scharia vom positiven Recht 217 abrogierte Verse des Korans 336 Abwertung der Frau 370–373 Alkoholverbot 335 Allah 57 – als Despot 56 – als fortwährend tätiger Schöpfer 76 – als Gesetzgeber 58 Almohaden 111 Almoraviden 364 Alterität 25 Analogieschluß 228, 348 Andersgläubige 64 Anfechtung 321, 371 Angst vor dem Islam 37 Anrufung Allahs 291 Araber 138 Argumentationsmuster, muslimische 387–408 argumentum ad personam/hominem 330, 402 f. Arzt und Scharia 46 Askese 211 Asymmetrie der Debatten über den Islam 8 Aufklärung 33, 55 f., 151, 189 Ausbreitung des Islams, „natürliche“ 251 Austritt aus dem Islam 271, 321 f., 324, 351–354, 391
Auswanderer 246, 249 f., 359 Authentizität 230, 338 Autonomie 240 Barmherzigkeit Allahs 80 BaÝ×-Ideologie 135–137, 139, 256 Beduinen 144, 358 Befehlen des Billigenswerten 238 Belastung mit dem göttlichen Gesetz 272, 280 Beratung 350 Beute, Kriegs~ 248 Biegsamkeit der Scharia 201 Blutrache 375 Brautgeld 372 f. Brüderlichkeit 313 Bürgerkrieg 181, 249 Charta des Zentralrats der Muslime 48, 251, 265, 270, 277, 301, 373 Christentum 9, 20, 30 f., 42 f., 55, 143, 145, 147, 159, 180, 196, 235, 296, 300, 305, 320, 323, 342, 399 civitas terrena 156 f. corpus iuris civilis 32, 34 Dankbarkeit gegen Allah 87, 89 Deismus 333 f. Demokratie 223 f., 228, 350 f., 387 Denkverbot 19–27, 385 Despotismus 124, 256, 276 Dialog 8 f., 306, 309, 405 Diebstahl 354
I. Begriffe und Sachen409
Diesseitsbezogenheit der islamischen Heilserwartung 65, 103, 127, 147, 181, 184, 198, 267, 350, 395, 397 f. Diskriminierung 347, 389 Dreifaltigkeit 55, 166, 169, 178 Drusen 300 Dschihad 47, 62, 64, 90, 125, 173, 204–214, 244, 247 f., 250, 356–364, 380, 392–394 Dschihad, kleiner und großer 210, 362 Dschihad, sufischer 211 f. Ehe 46, 372 Eigenverantwortlichkeit des Menschen 91, 156, 190, 341, 380 Einbürgerung als Vertrag, siehe Gebiet des Vertrags Einheit von Wissen und Handeln 95, 98, 108 Einladung zum Islam 308 Einsheit Allahs 96, 98, 111 Eintracht 208, 350 Einwanderer, muslimische 50 Emotionalität des Christentums 167 Engel 79, 87, 250, 341, 348 Entfremdung, im Islam aufgehoben 147, 150 Entsäkularisierung 277 Entwertung des Sachverstandes 162 „Erben der Erde“ 368, 396 Erlaubnis zur Teilnahme am Dschihad 206 Erlösung 126, 153, 185 f. Eroberungskriege 236, 249, 254 Erwachen, islamisches 224 Essentialismus 23–25, 196, 365 Evangelisten 333, 402 Fasten 129 Fetwa 45–48, 59, 107–109, 200 f., 203, 221, 255, 322 Fluch Allahs 178 Fortschritt 180, 183, 185, 233
Freiheit 144, 146, 164, 240, 277, 321 Freitagsgottesdienst 118, 237, 300, 346 Fremde, das 25 Fügung Allahs 80, 103, 178 Führerschaft, nur mittelbar an die Scharia gebundene 117 fünf Säulen 236 Fürsprache bei Allah 68 f. Gebet, rituelles 93, 279–290 Gebiet des Islams 237, 251, 294 f., 299, 302 Gebiet des Krieges 237, 251, 294–296, 299 Gebiet des Vertrags 251, 265 f., 300 f. Gehorsam 350, 380 Geist 81, 103 Gelehrte, islamische 49, 59, 106, 252 f. Geltungsanspruch des Islams, der Scharia 49, 60, 107, 119 f. Gemeinschaft 208, 297 f., 350, 354 Genealogie 71, 370–372 Geschaffenheit der Rede Allahs 334, 383 Geschaffenheit zu Allah hin, siehe Wesensart Geschöpflichkeit 87 f. Gesellschaft, islamische 147 Gesetz Allahs 93, 174, 252, 335 Gesetz, menschengemachtes 156 Gewalt 242, 308, 357, 363, 369 Gewaltenteilung 258 Gewaltmonopol des Staates 210, 259 Glaube 90 f., 248, 250, 358–360 Glaubensbekenntnis 20 Glaubensgemeinschaft, islamische 20 f., 63 Gläubigkeit, kämpferische 210 Gleichberechtigung 270, 301, 370–373 Gleichheit 144, 146, 276 Gleichheit vor dem Gesetz 239 Gnosis 74, 126
410 Register Gottesfreunde, Gottesfreundschaft 61, 111–113, 121 f., 254–257 Gottesgedenken 129 Göttinnen 68 „Grenz“-Strafen, siehe Strafen, koranische Grundgesetz 21, 40, 161, 242, 344, 373 Hadith 103–105, 198, 214, 218, 252 f., 283, 296, 307 f., 330, 337, 339, 344, 352, 384, 388, 400 Hadithbewertung 207 Handel mit Allah 359 Handlungsfähigkeit des Menschen 81 Hedschra 91, 246, 361, 375 Hedschra-Ära 249 Heil, Heilsbestimmtheit des Muslims, der Schöpfung 94 f., 99, 126 f., 187 f., 235, 336, 342 Heiliger Geist 333 Heilserwerb, muslimischer 148 Heilsgeschichte 180 Heilslehre, politische 142 „Helfer“ 359 Herz 97 f., 128, 131, 244 „Heuchler“ 357 Hierarchie, geistliche 62 Hingeschaffenheit/Hingewandtheit zu Allah, siehe Wesensart, ursprüngliche Hinwendung des Gesichts zu Allah 128, 173, 235 f., 320, 366 Historisierung 222, 326, 346, 379 f., 399–402 Hoffnung 262 f. humanitas, conditio humana 187, 191, 199, 371 Hundsstern 70–72 Hymnen, christliche 176 Ich-Auslöschung 108, 112, 130, 153, 364 Ichsucht 157 Idealisierung der Urgemeinde 182
Identität 25, 40 Ideologie 262 Imam, Imamat 40 f., 43, 103, 116, 297 Imamat des Mächtigen 116 f. Individualpflicht 205, 208, 238, 264, 290 Individuum 145, 164, 228, 266, 274, 387 Inquisition 253 Instabilität des islamischen Staates 204 Institutionen des Staates 158, 204 Integrationspolitik 317 Intellektuelle 28, 38 iranische Revolution 91 islām, ursprüngliche Bedeutung 88, 110 f., 128, 234 Islam allgemein 50, 52, 187, 250, 305 f. – als Daseinsordnung 33 – und Demokratie 10 f. – und Fortschritt 144 – „~ ist Frieden“ 21, 195, 266, 308, 388 – „~ gehört zu Deutschland“ 29 – als kulturelle Substanz der arabischen Nation 134 – „~ ist die Lösung“ 184, 228 – und Nation/en 138–142, 231 – als Quelle der staatlichen Ordnung 34 – ist Religion und Politik/Machtausübung 27 – als Religion des Verstandes 55, 143, 167 – und seine Richtungen 19–22 – und Säkularität 11, 27 – „sozialer Imperialismus“ des ~s 8 – als transnationaler Einheitsfaktor 141 – Unvereinbarkeit des ~s mit der westlichen Kultur 7–10, 44 – als verwirklichte Utopie 183 – Wahrnehmung des ~s 40 Islamideologie 65, 113, 141–150, 219, 386
I. Begriffe und Sachen411
„islamischer“ Charakter der modernen Kultur 241 Islamisierung 59, 104–109, 119, 122, 163, 225 f., 237, 405 „Islamisierung des Islams“ 24 Islamismus 195 f., 261–268 Islamkonferenz 48 Islamophobie 23, 328–331, 405 Jenseits 91 Judentum 30–33, 42 f., 55, 155, 176, 235, 296, 320, 323 Kaaba 71 f., 247 Kadi 238 Kalif, Kalifat 86, 105, 116–118, 182, 220, 237, 253 Kampfgemeinschaft 91, 246–248, 358 f. Kapitalismus 150 Knechtsstatus des Menschen vor Allah 127 f., 133, 146, 217 Kolonialismus 241 Kommunismus 134, 144, 219 f. kontakia 83 Koordinierungsrat der Muslime 48 Kopfsteuer 65, 166, 357 Kopftuch 44, 151, 286 Koran 58, 66, 91, 103, 113, 161, 198, 214, 218, 307 f., 332, 373, 383, 388 – als europäischer Text 31 Koranauslegung 341 Koranauslegung, sinnentstellende 323 Korrektheit, politische 39, 164, 218 Kosmos 78 f., 81, 83, 92 f., 133, 146, 152, 186, 188, 270 Kreuz 152 Kreuzfahrer 196, 241 Kuh-Sure 175 Kultbund der „Strengen“ 72 f., 88 Laizismus 44, 220–222, 225 f., 285, 316
Legitimität der Machtausübung 106, 158, 214 Leitkultur 47 Licht 75, 129 Liebe 153, 155 – als Erfüllung des Gesetzes 155 Lob Allahs 87 Loyalität gegenüber dem säkularen Staat 229, 264 Machtausübung 237, 245 f. Machtausübung und Religion 101–114, 257–260, 276 Machterhalt 123 Mahdi 229 Marxismus 145, 150 Materie 93 f. Mecelle 202 Mediatisierung der Machtausübung 182, 253–257 Medresse 120 Meinungsfreiheit 331, 349 Meinungsverschiedenheit 351, 378 Mensch 82 f., 94, 147, 270, 347 – als Schöpfer 185 f. – als Stellvertreter Allahs 86, 108 f., 112, 122 Menschenrechte 44, 159, 229, 269–278 Menschenrechte, islamische 209 Menschenrechtscharta, islamische 164 Metaphysik 94, 110 Mißachtung des Korans durch die Schariagelehrten 352–354, 356 Missionierung, islamische 160, 309 Missionierung, jüdische bzw. christliche 176 Mönchtum 364 Monolatrie 70, 74 Monotheismus, islamischer 57, 77, 126, 169 Moral 215–218, 229 Mufti 59, 107–109, 120, 201, 215, 220, 238
412 Register Muslim 90, 248 Muslimbrüder 134, 231, 239 Mu’taziliten 58, 92, 267, 332, 334, 383 f., 396 f. Nation 135–138, 231 – ihr Wesen in islamischer Sicht 140 Nationalismus, arabischer 134 Nationalstaat 256 Nomokratie 61 Normen, gottgegebene 161 Nutzen für den Islam 227, 276, 386, 392 Obrigkeit 155 Offenbarung 158, 191 Offenkundige, das 61, 98, 128 Organismus 93 Orientalismus 25 Osmanen 364 Pakistan 10 Parallelgesellschaft 47 Parlamentarismus 239 Parolen Allahs 292, 296 Pflicht, religiöse 205, 213 Pflicht der hinreichenden Anzahl 205, 238 Pilgerfahrt, Pilgerriten 64, 70, 88, 129, 176, 245 Pluralismus, Pluralität 226, 256, 319, 324, 349, 380, 390 Politik (und Islam) 62, 101–114, 183, 196, 198, 293, 390 Polygamie 46 Polytheismus 68, 88 Privateigentum 145, 147 Prophet/en 63, 67, 103, 149, 184, 222 Prophet, heidnischer 174 Prophetengenossen 227 Proskynesis 77, 81 Radikalität 163, 196, 204, 217–219 Rationalismus, islamischer 57, 113, 383
Rechtleitung 68, 103, 168, 199, 378, 390 Rechtsmündigkeit 285 Rechtsschulen 199 f., 202 Rechtsstaat, freiheitlicher 45–48 Rechtswesen, schariatisches 59 Rede Allahs 81, 93, 334, 340, 344 Reformation 164 Reich Gottes 52, 60, 154, 156, 253, 399 Reinheit 73 f. Religion 21 – als Grundlage Deutschlands 30 f. Religionsbehörde, türkische 220 f. Religionsfreiheit 44, 151, 239 f., 265 f., 271, 279, 314, 319, 321, 365, 401 Religionsfreiheit, negative 280, 288 Religionsunterricht, islamischer 48 Republik 224 Risikogeschäft 163 Riten, Ritualordnung 63, 96, 121, 173, 177, 220, 235, 250, 289, 294–299, 358, 397 Ritualpflichten, ihr Sinn 128 f. Säkularisierung, Säkularität 11 f., 32, 159, 165, 179–193, 225, 229–232, 239–243, 266–268, 277, 323, 342 f., 345, 373 „satanische Verse“ 77 Schachspiel 108 Schächten 325 Scharia 33 f., 40–42, 49, 58, 100, 102, 106, 116, 130, 144, 153, 163, 172, 188, 197, 213, 221, 226, 230, 238, 254, 267, 295, 335, 345 f., 373, 385 f., 397 – und Ethik 209, 215 – im Konflikt mit dem Rechtsstaat 45–48 – Stellung des Muslims in der ~ 272–274 Schariagelehrte, Schariawissenschaft 104 f., 118, 121 f., 131, 163, 182 f.,
I. Begriffe und Sachen413
187, 201, 207, 220, 253, 311, 336, 351, 401 Schiedsgerichtsbarkeit 45 Schiiten 95, 384 Schöpfungshandeln Allahs 80, 84, 92, 126, 132, 152 f., 169 Schöpfungsvorgang, kontinuierlicher 57 Schriftbesitzer 166 f., 247, 295, 332, 349, 357 Schutzgenossen 236 Schwäche des islamischen Staates 201 Seele 131 Seinsohnmacht des Menschen 95 Selbstbehauptung des Ichs 186 f. Selbstmordattentate 62, 203 f. Sicherheit des Wissens als Wahrheitsbeweis 172 Sittlichkeit, islamische 238 Staat, islamischer 59, 148, 201, 222, 236, 252, 287, 289, 293, 302 – Schwäche des islamischen ~es 252 Staatsreligion 220, 222 Staatstheorie, islamische 106, 118 Steinigung 356 Stellvertreter, siehe Mensch als Stellvertreter Allahs Stellvertreterschaft 117, 121 f., 153, 235, 255 Steuern 155, 254 Strafen, koranische 47, 354–356, 371 Subjektivismus der Schariaauslegung 203 Sufismus 49 f., 96, 101, 108, 122, 125–133, 189, 211, 250, 364 Sultan, Sultanat 105, 119, 254 Sunna, Sunniten 61, 98, 118, 127, 161, 220 f., 253, 383 f. Tauglichkeit des Islams, universelle 201, 388 Täuschung, schmeichlerische 312 Texte, autoritative 199 f., 202, 212, 214, 217 f., 225, 227 f., 282, 306, 323,
325, 339, 342, 345, 364, 374, 376, 388, 399 Textgelehrsamkeit 104 f., 108, 110 f. Textkritik 332 Textwissenschaft 188 Theo-Demokratie 232 Theokratie 52, 60–62, 154, 224 Thron Allahs 82, 89 Thronvers 57, 83 Tieropfer 175–177, 325 Töchter Allahs 68, 71, 77 Toleranz 49, 125, 401 Totalitarismus 109, 114, 307 Totalität der islamischen Normen 197, 215, 294 Tötungsverbot 241, 374 Trennung von Religion und Staat 226 Tribut 248 Triumph des Islams als Wahrheitsbeweis 170, 196 Übererfüllung der Ritualpflichten 121, 130 Übergeschichtlichkeit des Islams, der Scharia 93 f., 108, 113, 183, 267, 345, 388 Überliefererkette 337 f., 403 Ýumarsche Bedingungen 170 f. Unehrlichkeit, taktische 310–312 Unendlichkeit des Universums 185 Unfehlbarkeit des Propheten 385 Ungläubige 64 Unterdrückte 368 Untertanen 117 Unverfügbarkeit der Welt 191 Unzucht 355 Urgemeinde von Medina 61 f., 105, 148, 150, 173 f., 181 f., 198 f., 223, 237, 257, 263 f., 268, 284, 298, 335, 342 f. Urmensch, androgyner 370 Usurpation 106, 109, 118
414 Register Veranlagung des Menschen, natürliche 147 Verantwortlichkeit des Menschen 153 Verborgene, das 60, 82, 85, 98, 102, 110, 113, 128, 132, 188 Vereinigung mit Allah 130 Vergegenwärtigung der Heilsbestimmtheit 338 Verhaltensnormen, islamische 160 Vernunft 158, 190, 229 Verstand 55, 87, 98, 143, 149, 162, 178, 190, 229, 295, 343, 347 f. – Funktionen des ~s 56 f. Verstoßung 373 Verteidigung 251, 392 Vertrag, siehe Gebiet des Vertrags Vertrauen auf Allah 97, 102, 110, 340 Verwestlichung 256 Visionen Mohammeds 67 Volksislam 49 Vollmacht Allahs 68 Vorbeter 297 Vorbildcharakter Mohammeds 198 Vorherbestimmung 187
Wahrheit des Islams 166, 183, 258, 265, 290, 336, 352, 369, 404 Wahrsager 79 Weisheit Allahs 61, 98, 153, 228 Welt 126, 156 Weltverachtung 127 Wergeld 375 Wesensart des Menschen, ursprüngliche 85, 88, 102, 146, 273, 320, 366 Wirtschaft, islamische 144 Wissen 104–108, 110, 148 f., 152 f., 162 f., 172, 183, 221, 271, 339 f., 348 Wissenschaft 221 Würde des Individuums, des Menschen 159, 190, 313, 331 Zeloten 154 Zensur 323 Zorn Allahs 175 Zoroastrier 320, 364 Zwang, „kein ~ im Glauben“ 364–368 Zwangsscheidung 322, 354
II. Personen Aaron 175, 246 ÝAbdallāh b. al-Mubārak 363 ÝAbdallāh b. ÝUmar 352 ÝAbdallāh b. az-ZibaÝrā 72 ÝAbd al-Íalīm MaÎmūd 305 ÝAbd al-MuÔÔalib 102, 373 ÝAbd al-Qādir al-Gīlānī 99, 111 f., 132 ÝAbd ar-RaÎmān b. al-Íasan 207 Abel 325, 374 Abraha 72 Abraham 56, 64, 69, 75 f., 89, 91, 127 f., 173, 177, 247, 320, 325, 395 f. Abū Bakr 181, 227, 237, 338 Abū Bakr b. al-ÝArabī 364 Abū Íanīfa 104 f.
Abū Huraira 252 Abū IsÎāq al-Kāzarūnī 364 Abū Mūsā al-AšÝarī 353 Abū Óālib 372 Adam 56, 73, 86–88, 147, 149, 152, 177, 342, 370 ÝAflāq, Michel 135, 138 f., 141 AÎmad b. Íanbal 210, 363, 385, 391 ÝĀÞiša 61, 338, 356, 396 ÝĀÞiša ÝAbd ar-RaÎmān 341 f. ÝAlī ÝAbd ar-Rāziq 222 f. ÝAlī b. abī Óālib 111 f., 237, 353, 379 ÝAlī b. Jūsuf 101 Amīn al-Ëūlī 191, 341–343 Anawati, Georges 305 f., 314
II. Personen415
Anwar as-Sadat 382 Aref 134 Aslam 338 al-ÝAšmāwī 209, 212 f. Atatürk 220 Augustinus 52, 156 f., 185 Averroes 205, 208 Avicenna 131 al-BakkāÞī 338 Bardakoğlu, Ali 251 Benedikt XVI. 306 Berman, Paul 28 Blumenberg, Hans 179 f., 189 Borek 303 al-BuÌārī 337, 352 f. Cassirer, Ernst 186 Ceric, Mustafa 40–43 Chomeini, Ajatollah 22, 28 Chruschtschow, Nikita 134 von Clausewitz 393 Cosimo Medici 186 Cusanus 186 Åū Nuwās 176 Ephraim der Syrer 176 Erdoğan 35 Esposito, J. L. 223 Eva 73, 370 Ezra 167 FaÃāla b. ÝUbaid 363 f. FaÌr ad-Dīn ar-Rāzī 356 Ficino, Marsilio 186 Furet, François 135 Gabriel 67 Éamāl ÝAbd an-NāÒir, siehe Nasser al-Ġazālī 95, 97 f., 101 f., 108, 110 f., 339–342 al-Éazīrī 355
al-Ġazzī 121 Giordano Bruno 185 f., 191 Goethe 29, 125 Griesbach, Jakob 333 Güler, Prof. Dr. 346 al-Éuwainī 106–108, 110, 115 f., 120 f. Habermas 275, 278 Ëadīºa 67, 372 Hadrian 32 ÍafÒa 267 Haikal, MuÎammad Íasanain 134 Ëallāf, ÝAbd al-Wahhāb 124 Hārūn ar-Rašīd 104, 170, 251 Hatipoğlu, Prof. Dr. 346 Herodes Agrippa 333 Hofmann, Murad 197 f., 202, 241 f., 244, 259, 301 al-ËuÃarī, MuÎammad 335 f. Ëumainī, siehe Chomeini Huntington, Samuel 275 Iblīs 86–88, 178, 348 Ibn abī Zaid al-Qairawānī 210 Ibn ÝĀbidīn 299 Ibn ÝArabī 99, 132, 187 f. Ibn Bāz 308 Ibn Ëaldūn 144 Ibn Íazm 402 Ibn Hišām 337 Ibn IsÎāq 337, 339, 393 Ibn Saijid an-Nās 337, 339 Ibn Taimīja 123, 206 Ibrāhīm an-NaÌaÝī 352 Ignatenko, Aleksandr 196 f., 217 ÝIjāÃ al-JaÎÒubī, QāÃī 385, 400 Ijās b. MuÝāwija al-Muzanī 206 Iqbal, Muhammad 10 ÝIwaÃain, Ibrāhīm 146 f. Jabri 22, 224 Jairus 402 Jaspers, Karl 192
416 Register Jesus 41, 52, 60, 64, 89, 153 f., 167 f., 178, 247, 320, 333, 402 Justinian 32 Jūsuf b. Tāšufīn 101 Kain 325, 374 Kant 229 f. Katz, Jakob 33 Kelek, Necla 51 Konstantin 156 Konstantin VI. 170 Kriele 152 Langenfeld, Prof. Dr. 344, 349, 351 Lessing 125, 190 Löwith, Karl 179 Lukas 333, 402 MaÎmūd von Ghazna 115 al-ManÒūr 252 Marcic 159 Maria 168 Maria, Koptin 267 Markus 333 Marsilius von Padua 157 Matthäus 333, 402 Maudūdī 142, 324 al-Māwardī 118 Mohammed Ali 258 Mose 64, 69, 75, 91, 102, 175, 245, 247, 320 MuÝāÆ b. Éabal 324, 353 al-Mubārak, MuÎammad 139–141 MuÎammad ÝAbduh 149, 167 MuÎammad b. ÝAbd al-Wahhāb 207 MuÎammad ÝĀbid al-Éābirī, siehe Jabri MuÎammad Ñiddīq ÍasanÌān Bahādur 370 MuÎammad b. ÝĪsā al-AqsarāÞī 212 Muhammad Salih al-Munajjid 46 al-MurtaÃā az-Zabīdī 101 Muslim b. al-Íaººāº 304
an-Nawawī 49, 120, 304 NaÒr Íāmid Abū Zaid 49 Nasser 134, 231, 239 NiÛām al-Mulk 107, 115 f. Noah 41 f., 69 Özoğuz, Yavuz 264 f. Özsoy, Prof. Dr. 346 Paulus 52, 155, 333 Petrus 333 Pharao 102 Pignedoli, Sergio 305 Platon 183 al-QaraÃāwī, Jūsuf 49, 203, 259 f., 264, 319–324, 326, 354 Renan, Ernest 167 Rohe, Prof. Dr. M. 279, 286, 303 Romanos, der Melode 176 Rotter, Gernot 28 Rückert 125 Rüschoff, Ibrahim 160, 263 Rushdie, Salman 28 Saddam Husain 275 aš-ŠāfiÝī 104 f., 161 f., 214, 216, 253, 353 aš-Šahrastānī 74 Saijid QuÔb 347 Salmā 372 aš-ŠaÝrānī, ÝAbd al-Wahhāb 128, 188, 216 ŠaÝrāwī 49, 166 Sarrazin, Thilo 29 Satan 56, 59, 109, 208, 293, 337 aš-ŠāÔibī 109, 227 Schimmel, Annemarie 28 Schmidt, Helmut 382 as-SujūÔī 188
III. Arabische Termini417
aÔ-Óabarī 119, 347, 356 f. Tāº ad-Dīn as-Subkī 121 Taher al-Qadri 204 Óāriq al-Bišrī 231 f. Thomas von Aquin 157 Thomas Morus 183 at-TirmiÆī 363 ÓuÝaima 144
ÝUmar as-Suhrawardī 131 Umm HāniÞ 372 ÝUqba b. Mālik al-Lai×ī 206 f. ÝU×mān 102 Voll, O. J. 223
Uhde, Bernhard 55 Umaija b. abī Ò-Ñalt 79, 83 ÝUmar b. ÝAbd al-ÝAzīz 206 ÝUmar b. al-ËaÔÔāb 170, 181, 227, 248, 338
al-WāÎidī 399 Weber, Max 25 Wulff, Christian 29, 32, 35 Zain Nūr ad-Dīn Zain 137 az-Zuhrī 352
III. Arabische Termini* adāÞ 281 ādāb 120 aÝÆār 304 aÌlāq 216 al-amr bil maÝrūf wan-nahj Ýan almunkar 298 Ýālim 119 Ýalmānīja 225 anÒār 359 Ýaqīda 136 Ýaql 190, 229, 348 asbāb an-nuzūl 399 aÒlaÎ 92 aulijāÞ 119 dār al baqāÞ 184 dār al-fanāÞ 184 Ãarūra 304 daula 257–259 daÝwa 136, 160, 288, 308 Æimma 171 dīn 173, 177, 257–259, 365 duÝāÞ 291 * Die
farà al-Ýain 205 farà al-kifāja 205 fitna 246 f., 371 fiÔra 64, 75, 85, 95, 99, 320 f., 366 fiÔra salīma 146 ġaib 85 ǧamāÝa 208, 297 ġazwa 393 Êihād 360 f., 363, 393 Ìalīfa 86 f., 99 Íanīf 75, 366 Îaqq 272 hawā 349 Îikmat al-qadar 136 hudā 348 Ìuluq 216 Îuqūq fiÔrīja 273 Ýibāda 392 iÝdām adabī 322
Bedeutung der Termini wird aus den angegebenen Stellen des Textes klar.
418 Register iºtihād 188 iÌlāÒ 136 Ýilm 348 imāma 297 īmān 136, 365 islām 88 f., 92 f., 95–97, 99, 110 f. kurh al-islām 328 maġāzī 393 mudārāh 312 muºāhidūn 248 f., 362 muhāºirūn 359 muÎtasib 238 mukallaf 280 murābiÔūn 364 mursal 337 muÒaddiqūn 248 muslim, muslimīn 89, 173 mustaÃÝafūn 368 muwaÎÎidūn 111 nabī ummī 174 nāsiÌ wa-mansūÌ 336 naÒÒ 282 qaÃāÞ 285 rahbānīja 364 raÞj 348 ribāÔ 364 risāla 135
rizq 185 riwāja 400 ruÝb 391 šaÝāÞir Allāh 292 f. Òadaqāt 248 f. Òalāt 176, 291 samāÝ 400 Òidq 136 sijāsa 117, 122–124, 254, 256, 259 sīra 182, 184, 337, 339, 392 sunna 284 šūrā 350 tabšīr 309 taǧriba 136 taklīf 272 taqīja 310–312 Ôarīqa 122 taÒauwuf 136 tauÎīd 96, 111 tawakkul 97, 110 ÝulamāÞ 119, 121, 163 umma 20 f., 41, 63, 138, 140, 142, 220, 350 ummī, ummījūn 174 waÎj 136 zakāt 176, 358 zanādiqa 353
IV. Zitierte oder im Text erwähnte Koranverse Sure 1 – 177 Sure 2 – 63, 86 Sure 2, 3 – 98 Sure 2, 18 – 347 Sure 2, 30 – 117, 131, 255 Sure 2, 31 – 152 Sure 2, 31 bis 34 – 86, 177, 235
Sure 2, 33 bis 41 – 342, 348 Sure 2, 60 – 175 Sure 2, 61 – 176 Sure 2, 65 – 352 Sure 2, 71 bis 73 – 175 Sure 2, 125 – 227 Sure 2, 171 – 347
IV. Zitierte oder im Text erwähnte Koranverse419
Sure 2, 178 f. – 355, 375 Sure 2, 183 bis 187 – 175 Sure 2, 185 – 283 Sure 2, 187 – 355, 371, 380 Sure 2, 189 – 88 Sure 2, 190 bis 193 – 64, 246, 321, 360, 367 f. Sure 2, 194 – 375 Sure 2, 213 f. – 352 f., 378, 390 Sure 2, 217 – 353 Sure 2, 218 – 362 Sure 2, 219 – 335 Sure 2, 223 – 371 Sure 2, 226 bis 237 – 355 Sure 2, 228 – 215, 370 Sure 2, 234 f. – 371 Sure 2, 236 f. – 215 Sure 2, 244 f. – 359 Sure 2, 255 – 57, 99, 153 Sure 2, 256 – 64, 172, 321, 359, 364–367, 401 Sure 2, 282 – 370 Sure 2, 285 – 250, 358 Sure 3, 19 f. – 89, 234, 366 Sure 3, 20 – 88 Sure 3, 28 – 311 Sure 3, 32 – 350 Sure 3, 54 – 392 Sure 3, 67 f. – 177, 247 Sure 3, 68 f. – 274 Sure 3, 81 bis 85 – 352 Sure 3, 85 – 234, 366 Sure 3, 86 bis 90 – 353 Sure 3, 99 bis 105 – 350 Sure 3, 100 – 353 Sure 3, 110 – 8, 59, 65, 103, 107, 117, 127, 161, 181, 235, 247, 259, 298, 350, 354, 371 Sure 3, 113 bis 115 – 381 Sure 3, 132 – 350 Sure 3, 142 – 362 Sure 3, 151 – 379 Sure 3, 159 – 183, 350
Sure 4, 1 – 370 Sure 4, 3 – 323 Sure 4, 7 bis 14 – 355, 370 Sure 4, 8 – 145 Sure 4, 13 – 350 Sure 4, 15 – 370 Sure 4, 19 bis 24 – 372, 381, 401 Sure 4, 32 – 215 Sure 4, 34 – 370, 379 Sure 4, 43 – 386 Sure 4, 58 f. – 123, 235, 350 Sure 4, 69 – 350 Sure 4, 74 – 203 Sure 4, 83 – 235 Sure 4, 88 bis 90 – 357, 379 Sure 4, 92 bis 96 – 39, 375 Sure 4, 95 – 362 Sure 4, 97 – 90, 146, 311 Sure 4, 113 bis 116 – 401 Sure 4, 125 – 128 Sure 4, 136 f. – 352 Sure 4, 156 f. – 168 Sure 4, 172 – 55 Sure 4, 171 f. – 168 Sure 4, 176 – 370 Sure 5 – 170 Sure 5, 3 – 234, 366 Sure 5, 6 – 386 Sure 5, 17 f. – 168 Sure 5, 27 bis 31 – 325 Sure 5, 32 – 39, 374 f., 381 Sure 5, 33 f. – 354, 397 Sure 5, 35 – 362 Sure 5, 38 bis 40 – 354 Sure 5, 45 – 375 Sure 5, 46 bis 48 – 41 Sure 5, 48 – 187 Sure 5, 49 f. – 42 Sure 5, 54 – 353 Sure 5, 59 f. – 352 Sure 5, 101 – 335 Sure 6 – 68
420 Register Sure 6, 38 – 33, 198 Sure 6, 39 – 347 Sure 6, 75 – 88 Sure 6, 81 – 88 Sure 6, 108 – 389 Sure 6, 125 – 234 Sure 6, 165 – 109 Sure 7 – 102 Sure 7, 11 bis 17 – 56, 87 Sure 7, 19 bis 22 – 370 Sure 7, 26 – 380 Sure 7, 27 – 73 Sure 7, 31 f. – 73 Sure 7, 43 – 396 Sure 7, 54 – 82 Sure 7, 54 bis 58 – 80 Sure 7, 100 bis 137 – 368 f., 396 Sure 7, 110 – 245 Sure 7, 123 – 246 Sure 7, 156 – 63 Sure 7, 157 – 174, 335 Sure 7, 158 – 63 Sure 7, 159 – 381 Sure 7, 166 – 352 Sure 7, 172 – 131 Sure 7, 177 bis 179 – 347 Sure 8, 7 f. – 196 Sure 8, 12 – 263, 356, 392 Sure 8, 20 – 235 Sure 8, 20 bis 23 – 347 Sure 8, 23 – 64 Sure 8, 46 – 235 Sure 8, 65 – 336 Sure 8, 72 bis 74 – 90, 247, 360, 362 Sure 8, 75 – 362 Sure 9, 5 – 242, 251, 360 Sure 9, 5 bis 12 – 357, 379 Sure 9, 16 – 360, 362 Sure 9, 20 – 360, 362 Sure 9, 23 f. – 361 Sure 9, 29 – 235, 242, 357, 360 Sure 9, 30 bis 34 – 166–168
Sure 9, 31 – 366 Sure 9, 40 – 213, 296 Sure 9, 41 – 362 Sure 9, 44 –. 362 Sure 9, 73 – 362 Sure 9, 74 – 234 Sure 9, 81 – 362 Sure 9, 86 – 362 Sure 9, 88 – 362 Sure 9, 111 – 203, 359 Sure 9, 123 – 360 Sure 10, 3 – 82 Sure 10, 19 – 320, 349, 390 Sure 10, 82 – 196 Sure 10, 93 – 91, 349 Sure 11, 6 – 215 Sure 11, 7 – 82 Sure 11, 23 – 380 Sure 11, 56 – 99, 132, 187 f. Sure 11, 119 – 320 Sure 13, 11 – 377 Sure 15, 23 – 396 Sure 15, 26 bis 34 – 56, 178 Sure 15, 26 bis 43 – 87 Sure 15, 26 bis 47 – 348, 380 Sure 15, 29 – 86 Sure 15, 31 – 360 Sure 16 – 58 Sure 16, 89 – 33 Sure 16, 93 – 320 Sure 16, 106 – 351 Sure 16, 106 bis 110 – 353 Sure 16, 107 bis 109 – 352 Sure 16, 110 – 361 Sure 16, 125 – 111 Sure 17, 70 – 147 Sure 17, 85 – 81 Sure 17, 96 bis 99 – 347 Sure 18, 29 – 266 Sure 19, 40 – 396 Sure 19, 63 – 396 Sure 19 – 76, 167
IV. Zitierte oder im Text erwähnte Koranverse421
Sure 20, 40 – 374 Sure 21, 104 f. – 368, 396 Sure 21, 89 – 396 Sure 22, 37 – 325 Sure 22, 52 bis 55 – 77 Sure 22, 77 f. – 361 Sure 22, 78 – 64, 173, 359, 366, 380 Sure 23, 8 bis 11 – 368 Sure 23, 11 – 396 Sure 23, 12 bis 14 – 83, 86 Sure 24, 2 bis 9 – 354 f., 370 Sure 24, 30 bis 33 – 215 Sure 24, 35 – 75 Sure 24, 60 – 215 Sure 24, 62 – 205 Sure 25, 29 – 82 Sure 25, 35 bis 39 – 398 Sure 25, 44 – 347 Sure 25, 52 – 360 f. Sure 25, 63 bis 68 – 374 f. Sure 26 – 76, 83 Sure 26, 59 – 368, 396 Sure 26, 84 f. – 396 Sure 27, 1 bis 3 – 380 Sure 27, 76 – 349 Sure 28, 4 bis 6 – 368, 396 Sure 28, 19 – 374 Sure 28, 33 – 374 Sure 28, 50 – 349 Sure 28, 56 – 368 Sure 28, 58 – 396 Sure 28, 85 – 246 Sure 29, 8 – 360 f. Sure 29, 45 – 96, 121, 129 Sure 29, 69 – 361 Sure 30, 30 – 75, 146, 274, 320, 366 Sure 31, 15 – 361 Sure 32, 4 – 82 Sure 32, 7 bis 9 – 83 Sure 32, 27 – 380 Sure 33, 25 bis 27 – 369, 379, 395 f. Sure 33, 62 – 146
Sure 34, 22 – 234 Sure 35, 29 f. – 358 Sure 35, 43 – 146 Sure 37, 54 – 76 Sure 38, 12 f. – 398 Sure 38, 26 – 117 Sure 38, 86 – 216 Sure 39, 73 f. – 368, 396 Sure 41, 16 – 397 Sure 41, 45 – 349, 390 Sure 42, 8 – 320 Sure 42, 36 bis 38 – 350 Sure 42, 38 – 21, 223 Sure 44, 28 – 368, 379, 396 Sure 45, 18 – 119 Sure 47, 4 – 356 f., 360 Sure 47, 13 – 246, 356 Sure 47, 31 – 362 Sure 47, 35 – 360 Sure 48, 10 bis 18 – 359 Sure 49, 13 – 370 Sure 49, 14 f. – 91, 248, 358, 360, 380 Sure 49, 17 – 234 Sure 50, 6 – 380 Sure 50, 38 – 82 Sure 51, 56 – 89, 99, 122, 128, 187 f., 366 f. Sure 53 – 73, 76, 82 Sure 53, 1 bis 18 – 67 Sure 53, 23 – 68, 70 Sure 53, 24 bis 32 – 69–71 Sure 53, 36 bis 41 – 75 Sure 53, 38 – 91 Sure 53, 49 – 70 Sure 55 – 83 Sure 55, 29 – 153 Sure 56, 7 bis 14 – 74 Sure 56, 88 bis 94 – 74 Sure 57, 4 – 82 Sure 57, 10 – 396 Sure 57, 11 – 90 Sure 57, 18 – 90
422 Register Sure 57, 27 – 366 Sure 60, 8 – 357, 380 Sure 61, 2 f. – 213 Sure 65, 1 – 355 Sure 66, 1 – 267 Sure 66, 9 – 362 Sure 68, 4 – 215 Sure 71 – 70 Sure 73 – 129 Sure 74 – 67 Sure 74, 1 bis 5 – 72 Sure 74, 32 bis 38 – 74, 380
Sure 79, 5 – 80 Sure 79, 27 bis 33 – 82 Sure 79 40 f. – 215 Sure 87 – 72 Sure 89, 27 f. – 130 Sure 91, 9 f. – 215 Sure 92, 19 f. – 72 Sure 95 – 74 Sure 97 – 81 Sure 105 – 72 Sure 109, 6 – 389
Zur Transliteration der arabischen Wörter: Haben sich in der deutschsprachigen Literatur bestimmte Schreibweisen arabischer Namen oder Begriffe eingebürgert, werden sie übernommen, auch wenn sie nicht der ohnehin nicht einheitlichen wissenschaftlichen Transliteration entsprechen. Im übrigen halte ich mich an die Umschriftregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Hierbei bedeuten: š = Ì = h = q = Þ = × = z = Ô = Û = ā = ū =
wie deutsches sch ǧ = dsch, etwa wie J in englisch Joe wie ch in Bach Î = tief in der Kehle gebildetes h auch am Ende der Silbe als h zu sprechen, kein Dehnungs-h gutturales k ġ = Reibelaut des weichen Gaumens Stimmansatz Ý = gepreßter Kehllaut stimmloses englisches th Æ = stimmhaftes englisches th stimmhaftes s s = stimmloses s emphatisches t à = emphatisches d emphatisches stimmhaftes s Ò = emphatisches stimmloses s langes a ī = langes i langes u