Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling: Dubrovnik am Palmsonntag 1991 9783534403158, 9783534403165, 9783534403172

Georges Goedert nimmt den Leser mit auf einen Morgenspaziergang durch das frühlingshafte Dubrovnik am Palmsonntag 1991.

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German Pages 122 [123] Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
I. Palmsonntag
II. Bilder von einst
III. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit
IV. Die Last der Geschichte
V. Zerfall eines Staates
VI. Eine trügerische Ruhe
VII. Wachsende Spannung
VIII. Vor der Tragödie
IX. Morgenspaziergang
1. Am Stadttor von Ploče
2. Das Dominikanerkloster
3. Der Platz Luža
4. Aufstieg zu den Wällen
5. Der Rundgang
6. Die Placa
7. Bei den Franziskanern
X. Stunde der Rast
XI. Mittags
XII. Der Nietzsche-Vortrag
XIII. Stunde der Stille
XIV. Sublimer Mozart
XV. Unvermeidliche Aporie
XVI. Mozart in der Kathedrale
XVII. „Lacrimosa dies illa“
XVIII. Über den Frieden
XIX. Frühlingsvollmond
Bibliographische Notiz:
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Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling: Dubrovnik am Palmsonntag 1991
 9783534403158, 9783534403165, 9783534403172

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Georges Goedert

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling

Georges Goedert

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling Dubrovnik am Palmsonntag 1991

Der Autor bedankt sich freundlichst für die Unterstützung von Dr. Martina Scherbel und die technische Beihilfe von Herrn Maurice Barnich. Sämtliche Bilder stammen von Georges Goedert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt I. Palmsonntag .............................................................................................................. 12 II. Bilder von einst ........................................................................................................ 15 III. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ............................................................................................................. 19 IV. Die Last der Geschichte ......................................................................................... 23 V. Zerfall eines Staates .................................................................................................. 29 VI. Eine trügerische Ruhe ........................................................................................... 33 VII. Wachsende Spannung .......................................................................................... 39 VIII. Vor der Tragödie ................................................................................................. 44 IX. Morgenspaziergang ................................................................................................ 46 1. Am Stadttor von Ploče....................................................................................... 48 2. Das Dominikanerkloster ................................................................................... 53 3. Der Platz Luža..................................................................................................... 57 4. Aufstieg zu den Wällen ...................................................................................... 62 5. Der Rundgang .................................................................................................... 64 6. Die Placa .............................................................................................................. 73 7. Bei den Franziskanern........................................................................................ 76 X. Stunde der Rast ........................................................................................................ 79 XI. Mittags ..................................................................................................................... 86 XII. Der Nietzsche-Vortrag ......................................................................................... 88 XIII. Stunde der Stille................................................................................................... 92 XIV. Sublimer Mozart .................................................................................................. 95 XV. Unvermeidliche Aporie ......................................................................................100 XVI. Mozart in der Kathedrale .................................................................................106 XVII. „Lacrimosa dies illa“........................................................................................112 XVIII. Über den Frieden ...........................................................................................117 XIX. Frühlingsvollmond ...........................................................................................120 Bibliographische Notiz: .............................................................................................121 5

Tränen – geflossen in dieser Stadt und für diese Stadt. Heute liegt jener Frühling fünfundzwanzig Jahre zurück. Die Trauer über die Geschehnisse ist zur Erinnerung geworden, erstarrt, verblasst, und doch manchmal wieder so lebendig: ausgelöst durch kriegerische Ereignisse, die dem Schicksal Dubrovniks ähnlich sind. Dubrovniks herrliche Schönheit: Opfer eines unsinnigen Krieges  –  verletzt, verunstaltet, zerstört. Dubrovnik steht nicht allein da. Dasselbe Schicksal hat im Laufe der Geschichte unzählige Städte ereilt. Doch ist aus eigenem Erleben gerade diese Stadt für mich etwas Besonderes. Sie ist mir zu einer Metapher geworden, die es erlaubt, den Einzelfall auf Vorkommnisse mit allgemeiner Tragweite zurückzuführen. Metapher menschlicher Machtgier und Ignoranz, nur teilweise transparent: klar genug für die Erkenntnis des begangenen Unrechts, jedoch zu dunkel für ein wirkliches Verständnis von dessen Wurzeln. Wir stehen vor dem Mysterium menschlichen Seins. Man könnte meinen, es handele sich ja bloß um einen kleinen Touristenort an der dalmatischen Küste, pittoresk, farbenreich, geschichtsträchtig, gastfreundlich, einen unter unzähligen prächtigen Orten auf der Welt. Man mag denken an ein strahlendes Werbeplakat für Reisebüros oder an eine interessante Attraktion, eine obligatorische für die Kundschaft von Adria-Kreuzfahrten. Nein, das wäre zu einfach, am Ende auch ungerecht. Dubrovnik ist mehr als das. Die Stadt entbietet uns eine Lehre, ja, eine Lektion. Sie hat sich allmählich aus schwerer Not, aus leidvoller Zerrissenheit heraus, erholt, trägt aber Wunden, die noch nicht geschlossen sind und die vermutlich nie ganz heilen werden. Weit entfernt von uns und doch so nahe, wesentlicher Bestandteil eines politischen Horizontes, der uns lange Zeit mit seinen gewaltsamen und oft blutigen Geschehnissen in Atem hielt, hat diese Stadt die Fähigkeit erlangt, dem Innern des Menschen, seiner ambivalenten Natur, mit aller Deutlichkeit metaphorisch Ausdruck zu verleihen. Lange noch wird das Empfinden des Besuchers dazu neigen, wenigstens vorübergehend der Bestürzung und Niedergeschlagenheit Raum zu geben. Historiker werden die Ereignisse sorgfältig untersuchen – doch eignen diese sich auch für eine Meditation, für Gedanken, die aus unauslotbaren Regionen der Seele emporsteigen, um die unbeschreiblichen Tiefen menschlichen Wesens zu ergründen.

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Die Altstadt breitet sich aus vor dem Meer, gegenüber der Insel Lokrum Eine Stadt, sehenswert, ganz friedlich, reich an Schätzen der Kunst, plötzlich schonungslos angegriffen, zum Bluten gebracht, misshandelt, erniedrigt, gepeinigt durch die Zerstörungswut eines unsinnigen Machtwillens, einer schrankenlosen Eroberungssucht. Dubrovnik – für mich eine Erinnerung, schmerzlich und wohltuend zugleich, ein häufig sich leise regendes Erlebnis, für immer eingraviert in mein Gedächtnis und verbunden mit einer linden Nostalgie. Genauer gesagt: Es handelt sich um den Palmsonntag 1991, als dieser Schmuckstein Dalmatiens und der Adria sich mir zeigte im Glanz eines beginnenden Frühlings, mit schon beängstigendem Geschehen im Hintergrund und einer Zukunft, die höchst bedrohlich aussah. Die Erinnerungen an meinen damaligen Besuch der Stadt sind vielseitig und überragen das Gewohnte. Sie führen zu Fragen, teilweise zu quälenden, die keine endgültigen Antworten finden werden. Wenngleich das Gedächtnis uns in die Vergangenheit zurückführt, so entfaltet es sich doch in der Gegenwart. Gedächtnis heißt ja Verinnerlichung, Er-Innerung. Unsere Erinnerungen sind jeweils ein gegenwärtiger Teil unseres Ichs, gebunden an einen bestimmten Zeitpunkt: Sei es, 8

man gibt sich den im Bewusstsein flüchtig vorbeiziehenden Gedanken hin, sei es, man bemüht sich ganz gezielt, die Vergangenheit geistig wiedererstehen zu lassen, sie neu zu beleben, ja, sich sogar darin einzuhüllen. Stärken die Erinnerungen uns, machen sie uns froh, oder ist es nicht vielmehr so, dass sie schmerzliche Sehnsucht wecken oder gar Betrübnis? Das hängt wohl von ihrem Gehalt ab, auch von unserer jeweiligen Stimmung. Man sollte vielleicht am besten von einer Mischung sprechen. Bilder sind es in unserem Fall, aber auch eine Menge Ideen und Empfindungen, erfasst an einem einzigen, ganz ungewöhnlichen Tag und präzise gespeichert in den Fächern des Geistes. Nie kommen sie ganz zum Erlöschen, wie glimmende Kohlen sind sie geborgen unter der Asche des Alltags, bereit, sich plötzlich wieder zur Glut entfachen zu lassen, falls sich dazu die geistigen oder sonstigen Umstände einstellen. Über die Jahre hinweg kann ich Dubrovnik wiedererleben, so wie ich die Stadt erfahren habe an jenem Sonntag im März 1991, der damals schon nichts Gutes für den weiteren Verlauf ihrer Geschichte ahnen ließ. Ob ich es bewusst intendiere oder nicht, ich kann mich in meinen Träumereien und Sehnsüchten an diese Stadt erinnern, die man wohl zu Recht „die Perle der dalmatischen Küste“ nennt. Dann erlebe ich innerlich ihre Schönheit, die natürliche, wie auch die architektonische und künstlerische. Ich begegne den Bewohnern auf meinem Weg, genieße die laue Frühlingsluft und lasse mich von der Sonne wärmen. Die ruhige und gelassene Atmosphäre der Stadt erfüllt mich wieder, jedoch spüre ich auch die von gravierenden politischen Streitigkeiten ausgegangene Drohung, die an jenem Tag bereits auf ihr lastete. Die Mischung von Heiterkeit und Besorgnis, die ich dort empfand, kann ich heute noch gut nachempfinden, in ihrer ganz besonderen Eigenart und Tiefe. Dubrovnik, dieses unschätzbare Juwel europäischer Kunst und Geschichte, hat eine schlimme Zeit durchlebt. Lange Monate hindurch hat dort das Entsetzen geherrscht. Aggressive Barbarei und grober Unverstand haben die Lebensfreude zerstört. Bestürzende Nachrichten und Bilder, die von empörender Gewalt zeugten, erreichten uns. Sie haben meine Erinnerungen erschüttert und verändert in dem Sinne, dass sie die sonnigen Bilder der Stadt, die ich in mir trug, mit einem Anflug von Trauer verschatteten. Die Tragik der Ereignisse lässt sich nicht leugnen. Die gesamte Menschheit erfuhr in den Medien davon. Die Welt war wieder einmal ärmer geworden. Verdruss, Betrübnis, Trauer erfüllten viele Herzen und erinnerten notgedrungen an die zahllosen Geschehnisse 9

ähnlicher Natur, die das Bild des 20. Jahrhunderts bereits so stark beeinträchtigt haben, indem sie Mord, Terror und Verwüstung verbreiteten und dabei abgrundtiefe Dimensionen des Widerwärtigen, des Bösen in der menschlichen Seele bloßlegten. Was lässt sich tun gegen Hass, Grausamkeit, Verbrechen, Krieg? An Menschen mit gutem Willen fehlt es nicht. Aber was kommt dabei heraus? Man kann sich befleißigen, dieser widerlichen Hydra die Köpfe abzuschlagen, doch wachsen sie immer wieder nach und vervielfältigen sich sogar. Zerstörungswut, ja. Man muss schon an unbeherrschbare Atavismen denken oder, in der Sprache der Theologie und der Metaphysik, an ein unaustilgbar Böses im Herzen der Menschen. Dennoch gibt es Mittel, Strategien, von Menschen gezeichnete Wege der Religion, der Politik, der Pädagogik, die imstande sein sollten, wenigstens Sicherungen einzuziehen, Barrieren zu errichten, Einhalt zu gebieten. Ist nicht beispielsweise die Europäische Union dazu ein beachtliches, von Erfolg gekröntes Beispiel? Auch tun die internationalen Organisationen ihr Möglichstes, die Vereinten Nationen an erster Stelle, doch ist ihre Effizienz, ihr Durchsetzungsvermögen, insofern zu gering, als sie keine Macht haben über das, was sich im Innern der Menschen zuträgt. So sind sie denn vielfach der Ohnmacht preisgegeben. Eine eigentliche Weltherrschaft ist auch nicht realisierbar. Sie müsste auf demokratischer Basis errichtet werden, ansonsten würde sie zur Diktatur herabsinken. Wieviel Demokratie lässt sich aber unter den jetzigen Umständen verwirklichen in den Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten? Die Schwierigkeiten erscheinen unüberwindbar. Meine Erinnerungen an Dubrovnik 1991 werfen immer wieder Fragen auf, alte und neue – solche, mit denen die Menschheit sich auf unterschiedliche Weise beschäftigt.

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Der Rundgang und die damit verbundenen Festungswerke

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I. Palmsonntag Es ist wiederum Palmsonntag. Viele Jahre sind vergangen seit meinem Besuch in Dubrovnik. Ich sitze zuhause an meinem Schreibtisch. Ein regnerischer Vormittag. Das Stück vom Wohnviertel, mit seinen Häusern und Gärten, das ich vor meinem Fenster erblicke, ist überzogen vom trüben Schleier eines kaum sichtbar zu Boden gehenden feinen Sprühregens. Ein gleichmäßiger, einfarbig bleichgrauer Himmel wölbt sich über der Stadt. Es wird heute der Sonne kaum gelingen, diese Wolkendecke zu durchdringen. Vor Kälte schaudern in den Gärten die Kirschbäume, bereits übersät von ihren feinen, zartrosigen Blüten, und die Magnolien sträuben sich sichtlich, jetzt schon pomphaft in Erscheinung zu treten: Noch leuchten sie nicht in ihrem prunkvollen Kleid aus Weiß und Lila, nicht gewillt, ihren üppigen Schmuck zu entfalten, weil die Unbilden der Witterung ihn verunstalten könnten. Die Forsythien, die bereits mit ihrer tief gelben Blütenpracht auftrumpfen, machen den Eindruck, sie hätten sich in der Zeit geirrt, inmitten von Sträuchern, die noch kahl sind und gerade erst begonnen haben, Knospen zu treiben. Sie bräuchten den Kontrast eines blauen Himmels und die Strahlen einer wärmenden Sonne. Bereits aufgeblühte Tulpen, eine Seltenheit noch, beugen, beschwert von der Feuchtigkeit, ihre faltenreichen, farbigen Köpfe, während die Narzissen, goldgelb oder weiß – die weißen tragen bekanntlich den schönen Namen „Poeten-Narzissen“  –,  deren Blütenblätter die weit geöffneten, mit feinen Krausen geschmückten Kelche umrahmen, sich den Anschein geben, mit größerem Elan gegen das nasse Grau anzukommen. Palmsonntag, von den Franzosen auch „fête des Rameaux“ genannt, wohingegen die Engländer bescheidener, wie die Deutschen, von einem „Palm Sunday“ sprechen. Ich mag hier das Wort „fête“ nicht besonders, da ich nur schwerlich als „Fest“ einen Tag bezeichnen kann, der die Karwoche einleitet. Zwar gebe ich gerne zu, dass man die Freude des Osterfestes vorwegnehmen kann, indem man des triumphalen Einzugs Jesu in Jerusalem gedenkt. Das hindert aber nicht daran, dass die Reihe der Gottesdienste, die mit diesem Sonntag eröffnet wird, eigentlich ernsten Gedanken dienen soll, einer inneren Sammlung, einer Meditation, die sich nicht selten als Gebet herausstellt. Dazu gehört zweifellos ein gewisser 12

Ernst, wenn nicht sogar eine Neigung zur Trauer. Die Passion weist den gläubigen Menschen hin auf die Erlösung, sicher, denn sie geht der Botschaft von der Auferstehung voraus. Zunächst aber verleiht sie die durchaus realistische Darstellung von Christi Leiden und Tod, die es vermag, unser Mitleiden zu erregen und uns zugleich nachdenklich zu stimmen in Bezug auf das letzte Stück unseres eigenen Weges durch die Zeit. Eine festliche Atmosphäre herrschte allerdings, als Jesus einst, kurz vor seiner Passion, in Jerusalem von einer jubelnden Menschenmenge empfangen wurde. So berichten es die Evangelien. Das Volk aber, bei dieser Gelegenheit so beflissen, seine Kleider auf dem Weg auszubreiten, den Christus auf einem jungen Esel sitzend nahm, Palmenzweige zu schwenken und ihm „Hosanna dem Sohn Davids!“ zuzurufen, wird ungefähr auch dasjenige sein, das ihn bald darauf verhöhnt und ihn, aufgebracht und grausam, der Kreuzigung preisgibt, indem es von Pilatus das Leben des Verbrechers Barabbas fordert und nicht das seine. Zu den körperlichen Torturen, von denen die Passionsgeschichte berichtet, sind zweifellos bittere seelische Qualen hinzugekommen. Allerdings schweigt darüber die Schrift. Gefühle gelangen in ihr nur selten zur Sprache, aber es dürfte uns nicht schwerfallen, gerade auch diese seelische Folter zu erahnen, ja sogar nachzufühlen, die von solcher Wankelmütigkeit hervorgerufen wurde. Undank kann sehr verletzend sein. Das muss hier der Fall gewesen sein insofern, als die Tragödie der Passion auch nach rein menschlichen Gesichtspunkten auszulegen ist, nicht nur nach übernatürlichen. Also ein regnerischer Vormittag Anfang April, bei mir zuhause, an meinem Schreibtisch. Die Stimmung ist alles andere als freudig. Es herrscht zu dieser frühen Stunde eine Stille, deren Wirkung eher belastend ist als wohltuend. Ein paar schwarze Raben kreisen in der Luft mit ihrem widrigen Krächzen. Angenehmer dagegen klingt das unaufhörliche Gezwitscher der Amseln, die eine Art Konferenz abhalten, indem sie sich von einem Garten zum andern Rede und Gegenrede schicken. Einige Wagen fahren vorbei, fast geräuschlos. Ich nehme sie kaum wahr. Dagegen wird die Ruhe des Himmels hie und da gestört durch das brausende Eindringen eines Flugzeugs, das plötzlich den sonntäglichen Frieden mit dem Dröhnen seiner Motoren zerreißt. Ganz in meiner Nähe ragt der Glockenturm der dem heiligen Pius X. geweihten Pfarrkirche des Wohnviertels Belair empor, mit dem regelmäßigen Schlag seiner Uhr, die mit ihrem metallischen Klang unerbittlich den Fluss der Zeit skandiert. Wenn die Stunde des Hochamtes naht, vermag der sich so stolz erhebende Bau, 13

dieser mit seiner prächtigen Verkleidung aus Stein und Glas versehene Wächter, ein Wahrzeichen der Stadt für den Reisenden, der sich ihr von Süden nähert, nur ein paar schüchterne und schwächliche Töne zu erzeugen, die mit einer geradezu kleinlichen Knickrigkeit von der letzten noch diensttuenden Glocke gespendet werden. In der Tat bleiben fortan die drei Schwestern verstummt, die mit ihr getauft und installiert wurden vor fast schon einem halben Jahrhundert. Die Glocke, die ich wahrnehme, ist augenblicklich die letzte, der es noch gelingt, sich zu behaupten. Sie ist nun allein gelassen – fast dauert sie mich –, sie ist die einzige, der noch erlaubt wird, sich hören zu lassen, weil der Turm wegen seiner inneren Mängel und Schäden nichts anderes mehr duldet als dieses schäbige, stammelnde, ärmliche Geläute. An diesem so wenig einladenden Vormittag im April klingt es wie eine geradewegs zu Herzen gehende Klage, die nichts mehr gemeinsam bat mit dem lebhaften Schwung von früher, an dem mindestens zwei Glocken beteiligt waren. Der Kirchturm, schlank und elegant, jedoch am Ende seiner Kräfte, wartet auf die Restaurierung, fast wie ein Kranker, der sich danach sehnt, seine Gesundheit wiederzuerlangen. So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass ich in einem derartigen Ambiente dazu neige, mich ganz auf mich selbst zurückzuziehen. Innerlich betrachte ich die Bilder, die allmählich reihenweise aus den nebeligen Gründen des Gedächtnisses spontan zu meinem bewussten Denken emporsteigen. Sie sind in Bewegung, zeichnen sich ab, bilden sich aus, vermehren sich. Zuerst zögernd, verschwommen, unscheinbar, schwer zu ergreifen und zu fixieren, immerfort bereit, wieder in das Labyrinth des Vorbewussten unterzutauchen, werden sie allmählich kraftvoller, eindringlicher, in dem Maße, wie es mir mittels bewusst herbeigeführter Anstöße meiner Gedanken gelingt, sie zu vereinen und für sie einen Platz zu finden in der immer kohärenter werdenden geistigen Vernetzung. Palmsonntag – was gibt es da nicht alles an Erinnerungen, die auftauchen, sich überstürzen, wieder verschwinden, sich durchdringen und verknüpfen, sich gegenseitig ergänzen? Fetzen, Fragmente streiten sich um den Brennpunkt des Bewusstseins, steigern sich plötzlich und verlieren dann schnell an Kraft. Die allmählich sich ausweitende Reflexion schält den inneren Kern heraus. Sie wird mehrfach getragen durch emotionale Zustände, die teils schläfrig sind und verschwommen, teils aber lebhaft, ja sogar schmerzlich, wenn sie sich beherrschen lassen von der Sehnsucht nach dem Vergangenen, die sich mit den heraufbeschworenen Bildern vorübergehend einstellt. 14

II. Bilder von einst Erinnerungen an Palmsonntage, ja, da gibt es bei mir deren viele, auch weithinaus über den Aufenthalt von 1991 in Dubrovnik. Alle sind sie geprägt von der so charakteristischen Atmosphäre dieses Tages, da in der Kirche die Liturgie bestimmt ist von Trauer und Hoffnung. Ergreifend erinnert sie an die Überwindung der Finsternis. Sie weist hin auf den Glauben an das Licht, an das Leben, der stärker sein soll als alle Bedrängnis. Die Nacht vergeht, wenn der Tag erscheint. Verirrung droht nicht mehr, da der Morgen langsam dämmert und die Dunkelheit vom Wege des aus dem Reich des Schattens kommenden Pilgers weicht, wenn sich vor dessen staunendem Auge bleiche Streifen am Horizont bilden im aufgehenden Licht der sich nahenden Sonne. Bilder von einst  –  sie entstammen einer längst vergangenen Zeit. Ich denke an meine Kindheit im Bahnhofsviertel meiner Heimatstadt Luxemburg, an den Palmsonntag in der Pfarrkirche Herz Jesu, sowohl im Krieg noch als auch in der Nachkriegszeit. Ich kann mich gut in die Atmosphäre von damals zurückversetzen. So öffne ich denn gedanklich die Pforte, die in das Land meiner Erinnerungen führt und für die ich allein den Schlüssel besitze. Jeder Mensch hat seine eigene Pforte zwecks Zulassung zur Vergangenheit. Besser kann seine Individualität sich wohl kaum unter Beweis stellen als durch seine Erinnerungen. Er allein ist es, der in der Welt gelebt hat, zu der sie Eingang verleihen. Für jeden von uns tragen die eigenen Erinnerungen in ihren Verknüpfungen das unverwechselbare Kolorit individueller Perspektiven, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Begierden – dank den ihnen zugrundeliegenden Umständen, die sich im Laufe seines Lebens eingestellt haben. Das verleiht ihnen einen streng persönlichen Charakter. Dabei gibt es sogar die Möglichkeit, sich an Erinnerungen zu erinnern. Das vertieft noch deren Einzigartigkeit. Jedes menschliche Leben hat seine eigene Geschichte, die nie identisch sein kann von einem Menschen zum anderen. Es gibt also keine zwei Schlüssel für ein einziges Portal, die absolut dieselben wären, denn jeder ist einmalig und wird nur von demjenigen Menschen verwendet, dem er gehört: Er ist nicht übertragbar auf andere. So kann er auch nicht einem Erben hinterlassen werden. Bis in die kleinste 15

Einzelheit hinein gilt die Singularität, was sowohl auf gedankliche, wie auf emotionale und biologische Fakten zurückzuführen ist. Kommunikation ist eigentlich nur dadurch möglich, dass ähnliche Bewusstseinsinhalte beim Mitmenschen bestehen oder geweckt werden. Von all diesen einzelnen Schlüsseln verliert jeder beim Tod seines Besitzers seine Funktion: Das Schloss, auf das er passt, kann nicht mehr geöffnet werden, jedenfalls nicht in einer diesseitigen Optik. Erinnerung: Einst nahm ich als Ministrant teil an dem Hochamt mit Palmsegnung, der für uns Katholiken den Einzug in die Karwoche bedeutet. Zusammen mit zahlreichen Kameraden wurde ich beordert, die kleinen Dienste in der Liturgie zu verrichten. An ernsthafter Beflissenheit fehlte es uns nicht, denn wir fanden, das alles gehöre zur Feierlichkeit des Tages. Ich kann mich noch bestens an unsere kardinalroten Tuniken erinnern. Sie waren verschönert durch ein weißes, mit Spitze bordiertes Chorhemd und an Hals und Schultern bedeckt mit einem breiten, aus demselben roten Stoff geschnittenen Kragen. Wir trugen kein Käppchen. Überhaupt kamen unsere Herren Geistlichen nicht auf die Idee – ich möchte sagen: glücklicherweise –, uns wie kleine, werdende Domherren zu kostümieren. Wir fühlten uns sogar ein wenig stolz auf unser Kleid. Es war stets eine eindrucksvolle Zeremonie, eine weihevolle Stunde. Beim Hochamt am Palmsonntag war für uns Jungen das markanteste Ereignis weniger die Segnung der Buchszweige als der Vortrag der Matthäus-Passion, natürlich in lateinischer Sprache. Es war ja noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Drei Zelebranten nahmen daran teil, unterstützt durch die Einlagen des Chores, der sich auf der Empore befand. Man sprach von dem „langen“ Evangelium. Indessen hatte man in der damaligen Zeit nichts dagegen einzuwenden. Es gab da keinen Grund, ungeduldig zu werden. Die Aufführung, das habe ich behalten, entbehrte weder der Schönheit noch der Feierlichkeit. Sie zu kürzen, kam überhaupt nicht infrage. Das hätte man damals als ein Sakrileg empfunden. Man begann mit dem Anfang des Kapitels  26, an der Stelle, wo der Text uns berichtet, wie Jesus seinen Jüngern verkündigt: „Ihr wisst, dass in zwei Tagen das Paschafest ist; da wird der Menschensohn ausgeliefert und gekreuzigt werden.“ Die Leidensgeschichte nimmt dann ihren Lauf: Die Obersten der Priester und die Ältesten des Volkes versammeln sich im Palast des Hohepriesters Kaiphas und schmieden ihr Komplott. Muss man nicht bedauern, dass inzwischen das Passionsevangelium gekürzt wurde? Die Zeiten haben sich natürlich geändert. Es fehlt uns heute stets an Zeit. Selten trifft man noch einen Menschen an, der, seinen Verpflichtungen nachge16

hend und überhaupt seinen Beschäftigungen, sich nicht darüber beklagen würde, er habe nie Zeit. Wir knausern mit der Zeit wie Harpagon, Molières Geizhals, mit seiner Kassette. Wir fürchten, sie zu verlieren oder sie aufzuwenden, ohne dafür einen passenden Gegenwert zu erhalten. So hat man sich denn genötigt gefühlt, den Text des für die Messe am Palmsonntag bestimmten Matthäusevangeliums stark zu kürzen. Er wird auch nur noch wenig gesungen: Man hält sich an Lektoren. Heißt das, dass es im Klerus an fähigen Sängern mangelt? Das mag natürlich sein, doch vor allem geht es mit der einfachen Lektüre viel schneller. Von den Leuten wird heutzutage überall Geschwindigkeit verlangt. Sie wird bevorzugt selbst in Situationen, die sich naturgemäß mit einer gewissen Langsamkeit entwickeln müssten. Auch könnten sie der Seele wenigstens hie und da die Möglichkeit bieten, sich von den Strapazen zu erholen, an denen das Leben in unserer modernen Gesellschaft ja so überreich ist. Richtig rezipieren, heißt das nicht, Vorstellungen in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen? Man möge sich vorstellen, dass in den Kirchen Leipzigs zur Zeit Johann-Sebastian Bachs die Karfreitagsvesper, die jeweils auch die Aufführung einer Passion enthielt, schon um Viertel nach eins begann. Es kam vor, dass sie einen ganzen Nachmittag einnahm. Natürlich denken wir hierbei ganz speziell an die Matthäus-Passion, dieses großartige Werk, das immer wieder erneut zutiefst bewegend ist, besonders natürlich in der Passionszeit. In seinem Genre ist es zweifellos das berühmteste. Seine erste Aufführung fand am Karfreitag des Jahres 1729 statt. Es ist aus zwei Teilen zusammengesetzt, die anfangs dazu dienten, die Predigt zu umrahmen. Unsere heutige Einstellung zum Leben wird beherrscht von einer sich als immer rationeller erweisenden Organisation unseres Tagesablaufs, die sich eingeschlichen hat bis hinein in unsere Freizeitgestaltung. Der Stress wächst in dem Maße, wie sich immer mehr aus der Zeit Geld schlagen lässt. Es zeigt sich eine Tendenz zu einer allgemeinen Kommerzialisierung. So erleben wir eine Tyrannei der Zeit, die Drangsal der in Rechnung gestellten Minuten, als ob das Kalkül, die pure Quantifizierung, auch nur im geringsten die Güte und Schönheit derjenigen Augenblicke ersetzen könnte, die dank ihrer Qualität die Dimension unseres Intellekts übersteigen und uns an die Grenzen des Unsagbaren führen. Die mechanische Zeit ist tatsächlich zu einer unerbittlichen „peau de chagrin“ geworden (einem harten Chagrinleder, wie der Franzose Balzac es nannte): je mehr wir sie nutzen wollen, desto knapper wird sie. Deswegen unser Eindruck, an Geschwindigkeit noch zu verlieren, anstatt zu gewinnen. 17

Das erinnert mich an den Spruch, den ich in Metz entdeckt und schon so oft gelesen habe, und zwar auf dem Platz vor der Kirche Notre-Dame de Metz, deren Berühmtheit daher rührt, dass in ihr 1844 der Dichter Paul Verlaine die Taufe empfangen hatte. Viele kennen diesen schmucken kleinen, vom Sonnenlicht überfluteten Platz – rechts, wenn man die alte Rue de la Tête d’or hinuntergeht – mit fast südlichem Charakter. Einige erst vor kurzem gepflanzte Lindenbäume sorgen für Verschönerung. Wenn sie einige Jahre gewachsen sind, werden sie im Sommer erholsamen Schatten spenden und die Nächte mit ihrem wunderbaren Duft erfüllen. Der Platz wird überragt von der breiten Barockfassade der Kirche mit ihrem mirabellgelben Anstrich. Schräg gegenüber steht ein sichtlich neugestaltetes altes Haus mit Eingang an der vorderen Seite, die am Rande des Platzes liegt und einen rechten Winkel bildet mit der Rue de la Chèvre. Auf einer Mauerfläche, unter einer hübschen Sonnenuhr, kann man dort in einem etwas holperigen Französisch folgende Inschrift lesen: Passant, prends le temps, sinon il te prend – „Passant, nimm dir die Zeit, sonst nimmt sie dich.“

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III. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Ich kehre auch heute immer noch gerne zurück in die Kirche des Luxemburger Bahnhofsviertels, da ich mich dort so heimisch fühle. Da steh ich dann vor dem Hauptaltar und dem Chor, dessen Wände und Fenster sich durch ihre Gradlinigkeit auszeichnen. Keine Rundungen, keine Bögen, was der ganzen architektonischen Ausführung eine gewisse Strenge verleiht. Dunkelgelber Marmor, nuanciert durch unregelmäßige tiefbraune Streifen, die senkrecht verlaufen, verkleidet den Chor bis zu einer bestimmten Höhe. So kann ich die riesige Freske von Otto Linnemann betrachten, die ein monumentales Herz-Jesu-Bild enthält. Dieser Christus ist majestätisch, er thront auf einem hellblauen Sitz, der mit prunkvollen, gelbgrünen Chrysoliten besetzt ist. Aber die Blicke der Gläubigen  –  der Besucher – richten sich besonders auf das große, leuchtend rote Herz, das sich im Zentrum des gesamten Werkes befindet. Um die Strahlung auszudrücken, die ausgeht von diesem glühenden Herzen, dem Symbol einer unendlichen, ewigen Liebe, hat der Künstler ausnahmsweise Gold verwendet. Dieses Gold glänzt in der Beleuchtung des Chores, ob elektrisch angestrahlt, ob im hellen Tageslicht, das durch das farbige Mosaik der hohen Seitenfenster eindringt. Cuius regni non erit finis – „dessen Reich kein Ende nehmen wird“: Dieser Versteil des Credo der Kirche breitet sich mit ockergelben Buchstaben in Majuskelschrift auf dem schwarzen Balken aus, der die Decke von der Freske trennt. Hier erscheint, ganz verhalten allerdings, die Idee der Gerechtigkeit, zumindest in den Augen desjenigen Besuchers, der daran denkt, dass der entsprechende Vers folgendermaßen beginnt: Et iterum venturus est cum gloria; iudicare vivos et mortuos – „Und er wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Es handelt sich zweifellos um das Thema des Jüngsten Gerichtes, des unwiderruflichen Urteils. Urteile jedoch enthalten unweigerlich Belohnungen oder Strafen. So und nicht anders will es die menschliche Justiz. Anderenfalls hätte sie keinen Sinn. Aber die göttliche Gerechtigkeit? Diejenige Christi am Ende der Geschichte, beim Jüngsten 19

Gericht? Rationales Denken verlangt, dass belohnt oder bestraft werde. Sollte die menschliche Rationalität – schließlich ist sie auch nur eine Art des Denkens unter mehreren – aber nicht überwunden werden durch die unendliche Barmherzigkeit, von der gerade das Herz Jesu Zeugnis ablegt? Widersprechen sich diese beiden Konzeptionen der Gerechtigkeit? Ja, wenn es der menschlichen nicht gelingt, sich zu der göttlichen hin zu erheben. Die göttliche Weisheit ist mit Geheimnissen erfüllt, sie geht unendlich weit über die unsere hinaus. Von Luther berichtet man, dass er entsetzt war über das Bild eines Richter-Gottes. Er habe das eines barmherzigen Gottes vorgezogen. Letztlich sind es nicht unsere Vorlieben, die zu entscheiden haben, doch wir können uns vorstellen, dass dank der Liebe Gottes der anthropomorphe Schein unserer Auffassung der Gerechtigkeit untergeht. Der gläubige Mensch sagt dann – wie Georges Bernanos am Ende seines von einem Landpfarrer geschriebenen Tagebuches (Journal d’un curé de campagne) –, dass „alles Gnade ist“. Alles, ohne Ausnahme. Wie sollte man noch annehmen, dass, im Angesicht der Ewigkeit, und wäre es auch nur in einem einzigen Fall, das Letzte, was über ein Menschenleben ausgesprochen würde, sei es auch noch so abstoßend und verächtlich gewesen, Worte der Verdammung sein könnten? Ist Christus nicht der Erlöser? Ja, die göttliche Liebe und ihr Verzeihen müssten das letzte Wort haben. Barmherzig sein, das heißt, ein Herz haben für Leidende, für diejenigen, die sich in Not und Elend befinden. „Mitleid“ ist nicht das passende Wort, denn mit seinem Gebrauch läuft man Gefahr, denjenigen, auf den es sich bezieht, zu erniedrigen. In der christlichen Sprache wird es deshalb auch wenig gebraucht. Man kann noch einen Schritt weiter tun und behaupten, das Mitleid sei überhaupt kein christlicher Begriff, selbst wenn der Ausdruck noch hie und da in Texten der Kirche – zu Unrecht, wie mir scheint – auftaucht. Also sagen wir „Barmherzigkeit“, was nahe an „Herzlichkeit“ herankommt und viel weniger Gefahr läuft, beleidigend zu wirken. Wer leidet, im Elend ist, sogar in einem Abgrund  –Abgründe gibt es leider so viele und von verschiedenster Art  –,  darf deswegen nicht der eigenen Würde, nicht des stets unantastbar geheiligten Charakters seiner menschlichen Person verlustig werden. So will es die christliche Botschaft. Wir sollten nicht vergessen, dass sie jeden Menschen als ein Ebenbild Gottes ansieht. Zu diesem Thema kann man die Lektüre der Genesis empfehlen und ebenso einzelner Briefe des heiligen Paulus. Es handelt sich also um eine jüdisch-christliche These. Sie ist absolut grundlegend in unserer geistli20

chen und moralischen Tradition. Deshalb dürfte ein Christ nicht von einem Mitleid Gottes mit den Menschen sprechen. Die Menschen verdienen Respekt noch bis hinein in die tiefste Verkommenheit, sei sie moralisch oder physisch. Dies werten die Menschenrechte übrigens genauso. Die menschliche Würde ist in jedem von uns prinzipiell unveräußerlich und unzerstörbar. Es gibt sie in jedem menschlichen Wesen, wie es auch immer sein mag. Der Liberalismus hat sicher dazu beigetragen, diese Idee zu propagieren, doch ist er nicht deren Urheber. Auch er zehrt von der geistigen Substanz des Christentums. Der luxemburgische Christus von Linnemann erinnert sehr an die orientalische christliche Kunst. Man denkt im Besonderen an den Pantokrator, der in vielen orthodoxen Kirchen und auf zahllosen Ikonen dargestellt wird. Der orthodoxe Glaube hat bekanntlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die europäischen Länder ausgeübt. So gibt es beispielsweise in der Krypta des Benediktinerklosters vom Marienberg im Südtiroler Vinschgau unter den Fresken aus dem 12. Jahrhundert ebenfalls einen als Pantokrator thronenden Christus. Otto Linnemanns Werk lässt uns den Weg der Erlösung ahnen, der zu guter Letzt abhängig ist von der Liebe Gottes. In der gesamten Haltung Christi äußert sich die göttliche Allmacht. Der Hintergrund dieser Fresken, die Kulisse aus drei Reihen von Engeln, ist geprägt von einer mathematischen Strenge, die sich auch in der quasi absoluten Symmetrie manifestiert. Wir sprechen von einem geometrischen Hieratismus. Metaphorisch weist er hin auf eine universale und ewige Ordnung. Alle natürlichen Gesetze der Schöpfung, sowohl die physischen als auch die moralischen, enthalten ein Moment des Zwangs. Die Liebe dagegen ist vor allem ein Geschenk. Sie besteht aus einer freien Energie, die sich weder in Zahlen noch in Formen ausdrücken lässt. Man kann dafür keine Maßeinheit benutzen, kein Dyn und kein Erg. Ihr Wesen erlaubt es nicht, an ihr Messungen und Kalküle vorzunehmen. Heutzutage allerdings, unter dem Einfluss eines entfesselten Kapitalismus und einer sich stark verbreitenden Globalisierung der liberalen Wirtschaft, bemächtigt sich das Rechnen immer mehr unseres Lebens. Es wird dann schwer, zu verstehen, dass es eine Kraft gibt, die davon gänzlich frei ist und sich jedwedem Kalkül entzieht. Ohne die Liebe aber wäre menschliches Leben nicht denkbar. Weder gäbe es Zeugung, noch könnten Menschen gedeihen ohne Liebe zu erfahren und Liebe zu schenken. 21

Liebe und Gerechtigkeit: zwei fundamentale Werte. Welche der beiden soll letztlich dominieren? Die Liebe, wird man sagen, denn sie stellt die universale Kraft dar, ohne die das Leben erlöschen müsste. Andererseits wissen wir aber auch, dass das Leben in der Gesellschaft nicht ohne Gerechtigkeit auskommt. So sollte im Rechtsstaat der Gesetzgeber unter den ihm gegebenen Umständen so gut wie möglich eine auf den Menschenrechten basierende Gerechtigkeit erfassen. Die Gesetzgebung sollte eine Aktualisierung dieser Gerechtigkeit sein. Insofern dies nicht der Fall ist, laufen wir Gefahr, uns in ein Chaos zu stürzen, in dem nur das Gesetz des Stärkeren herrscht. Die Botschaft des Künstlers ist vielsagend, was diese beiden Werte – Liebe und Gerechtigkeit – betrifft. Unverkennbar ist die Haltung seiner Christusgestalt diejenige eines Königs, der zu Gericht sitzt. Seine linke Hand hält einen Stab, der an seinem Ende ein Kreuz bildet. Dieser erinnert an eine Fahnenstange, an den Stab eines Abtes oder eines Bischofs, ja sogar an das Szepter eines Monarchen, was uns an Macht und Gerechtigkeit denken lässt. Seine rechte Hand dagegen erhebt sich zum Segnen. Segnen heißt beschützen, und jedwede schützende Geste ist mit der Liebe zumindest verwandt. Man darf folglich behaupten, dass diese Christusfigur einlädt zum Leben, zum Gedeihen, zum Heil, zur Seligkeit –, aber auch indem sie hinweist auf die Notwendigkeit, das Gesetz zu achten und sich ihm zu unterwerfen. Noch andere Erinnerungen aber tauchen in mir auf, plötzlich stärker als die vorherigen. Sie beziehen sich auf den Palmsonntag, den ich 1991 in Dubrovnik verbracht habe. Bilder, zuerst fragmentarisch und zusammenhanglos, dann immer deutlicher werdend, erfüllen allmählich mein Inneres. Sie erheben sich aus dem kontinuierlich sich verändernden Fluss des Bewusstseins. Unwillkürlich steigt Sehnsucht in mir auf.

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IV. Die Last der Geschichte Es war am 24. März 1991. Das Datum spricht Bände. Dunkle Wolken zogen damals auf am politischen Horizont Kroatiens – der Republik Kroatien, die einen wesentlichen Teil des damaligen Jugoslawiens bildete. Man befand sich im Vorfeld kriegerischer Auseinandersetzungen, ohne dass dieser Zustand aber für den Besucher deutlich zutage getreten wäre. Gerne würde ich den französischen Ausdruck „veillée d’armes“ gebrauchen, wenn er mir nicht für die damalige Situation unpassend erscheinen würde. Er erinnert an ein hohes mittelalterliches Ideal – an die Nachtwache, die früher im Gebet verbracht wurde von den Anwärtern, die am folgenden Tag zu Rittern geschlagen wurden. Jugoslawien hatte einen Siedepunkt erreicht, ähnlich einem Dampfkessel, der Gefahr läuft, jederzeit auseinanderzubersten. Kundgebungen, gewaltige, bedrohliche, hatten gerade die Stadt Belgrad erschüttert. Die Lage war konfus – man verstand sie kaum, obschon bereits seit Tagen die internationale Presse regelmäßig darüber berichtete. Sie machte den Eindruck eines unentwirrbaren Imbroglios, eines schrecklichen gordischen Knotens, ohne dass man am Horizont einen vom Beistand der Göttin Fortuna begünstigten Alexander hätte kommen sehen, der fähig gewesen wäre, ihn zu durchschlagen. Das Erbe Titos ging offensichtlich verloren – seine Auflösung begann. Hatte nun die Stunde geschlagen, da man sich auf bewaffnete Konflikte einstellen musste? Diese wichtige Frage beschäftigte viele Menschen, auch die Beobachter im Ausland. Heute nun, da die offenen Feindseligkeiten längst ein Ende gefunden haben, allerdings ohne dass die Spuren davon verschwunden wären, ist es möglich, diese Märztage 1991 zu analysieren und besser zu verstehen. Sie waren in der Tat das Präludium zu den kriegerischen Handlungen, die bald das Land blutig heimsuchen sollten, die Teilrepubliken, die Provinzen, eine nach der anderen. Die Kundgebungen in Belgrad, der sowohl serbischen als auch föderalen Hauptstadt, brachten tiefe innere Uneinigkeiten an den Tag, die nicht allein auf die Republik Serbien begrenzt waren, sondern mittels eines Schneeballeffektes sich über die ganze jugoslawische Föderation erstreckten. Auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet lebten Rivalitäten wieder auf, beseelt von Hass und Groll nationalistischen Cha23

rakters, die sich in der geschichtlichen Entwicklung über Jahrhunderte angestaut hatten. Bürgerkriege? Bruderkämpfe? Ich zögere. Diese Begriffe sind nämlich nicht absolut passend. Zwar muss man eingestehen, dass es sich um Feindschaften handelte, die als einander entgegengesetzte Kräfte innerhalb ein und desselben Staates in Erscheinung traten, doch entstammen diese Bezeichnungen zu sehr einer bloß politisch-allgemeinen Sichtweise. Sie benennen Streitigkeiten innerhalb eines Staates, nicht zwischen Staaten. Sie sind abstrakt und sagen nichts aus über die einzelnen Völkerschaften, ihre Geschichte und ihre Zielsetzungen. Außerdem müssen wir fragen, ob man tatsächlich berechtigt ist, von einem jugoslawischen Volk zu sprechen, einem einzigen, wohlverstanden? Gab es damals unter den Einwohnern dieses Landes wenigstens die Andeutung eines Gefühls von nationaler jugoslawischer Identität und Selbständigkeit? Da antworten wir natürlich mit einem klaren Nein. Einige gemeinsame politische Institutionen genügen nicht, um die Bevölkerung eines Staates zu einem Volk werden zu lassen, viel weniger noch zu einer Nation. Die Einführung einer kommunistischen Republik 1945 mit der mächtigen Figur des Marschalls Tito an ihrer Spitze, begleitet von der Abschaffung der Monarchie der Karadjordjević, hat ebenfalls keine bemerkenswerte und tiefere Veränderung hervorgebracht was diese Spaltungen mit ihren vielfältigen Aspekten betraf, die das Resultat waren von so häufigem Zerfall und Auseinandergehen. Sie sind ein beständiges politisches Risiko geblieben, eine Art Zeitbombe, ein Damoklesschwert für dieses Stück europäischer Erde, das schon so manches Martyrium erlitten hatte, für den Balkan, für Europa, ja sogar für die ganze Welt. Die Konstruktion dieses Staates war nie genügend gefestigt, auch nicht unter der autoritären Herrschaft von Titos Sozialismus. Selbst wenn es um die politische Strukturierung ging, war es mit der Einigkeit schlecht bestellt. Diese gab es kaum, obgleich unter Tito eine Reihe von Änderungen der Verfassung vorgenommen wurden. Es waren eigentlich Anpassungen mit dem Ziel, den Forderungen der verschiedenen Völker Rechnung zu tragen. Man darf zweifellos behaupten, dass das immer stärker werdende Streben nach Föderalismus bereits eine Art Zerfall war, der sich langsam, aber unaufhaltsam fortsetzte und letztlich, in den neunziger Jahren, sich des jugoslawischen Bundesstaates in seiner Gesamtheit bemächtigte. So ist es gekommen, dass wir heute nur noch von einem Ex-Jugoslawien sprechen. Die Zerstörungen der diversen Kriege haben diese seit Beginn labile politische 24

Konstruktion dann dem Untergang preisgegeben. Sie war einfach nicht imstande, der Zusammensetzung der Völker, die sie umfasste, ihren Lebensweisen und ihren ehrgeizigen Zielen gerecht zu werden. Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien bestand aus Nationen und nationalen Minderheiten. Ein wahres ethnisches Mosaik, in dem aber zwei große Völker dominierten: die Serben und die Kroaten. Es gab sechs Nationen oder Teilrepubliken, nämlich Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Montenegro und Mazedonien. Hinzu kamen zwei kleinere Nationen, von denen jede einer autonomen Provinz innerhalb der serbischen Teilrepublik angehörte. Die Autonomie wurde ihnen bestätigt durch die Verfassung von 1974: der albanischen Nation im Kosovo und der ungarischen in der Vojvodina. Diese Verfassung Jugoslawiens enthielt im Übrigen eine Reihe von Elementen, die eher konföderativ als bundesstaatlich waren. Auf dem Papier, so darf man ergänzen, galt es, noch ein gutes Dutzend nationale Minderheiten zu berücksichtigen: Zigeuner, Türken, Slowaken und andere. Sie waren fast überall verstreut. Die serbische Nation und die kroatische umfassten zusammen zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes, dessen Territorium sie mehr als zur Hälfte einnahmen. Unglücklicherweise sind diese zwei Nationen untereinander völlig verschieden was ihre jeweilige Zivilisation betrifft. Die Kroaten gehörten seit den ersten Jahrhunderten nach Christus in den lateinischen Einflussbereich und sind sehr früh christianisiert worden, wohingegen Serbien sich später formierte, in die von Byzanz beherrschte Sphäre geriet und seit dem 9. Jahrhundert unter der Autorität der orthodoxen Kirche stand. So war denn der jugoslawische Staat ein künstliches Gebilde, zusammengesetzt aus vielen Völkerschaften, die nicht imstande waren, sich genügend zu vertragen, um in einer einzigen politischen Gemeinschaft aufzugehen und zu handeln. Die geschichtliche Vergangenheit war von Volk zu Volk zu sehr verschieden, ebenso die Religion, die Sprache, die Wirtschaft, Vergessen wir auch nicht die geographischen Differenzen, deren Bedeutung in diesem gebirgigen und von einer zerklüfteten Küste gesäumten Land nicht zu vernachlässigen war. Die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen am 1. Dezember 1918 bedeutete für unser altes Europa die Entstehung der Hypothek eines schlecht geordneten und ungenügend ausgeglichenen staatlichen Systems. Es war ein missglücktes Unternehmen, das zugunsten von Peter  I. Karadjordjević erfolgte, ohne dass es den beteiligten Parteien gelungen wäre, über fundamentale 25

Fragen eine Einigung herzustellen. Die Grenzen wurden um 1919 und 1920 festgelegt durch die Verträge von Neuilly-sur-Seine, Saint-Germain-en Laye, Trianon und Rapallo. Doch der mit mangelndem Geschick aus der Euphorie der Siegermächte hervorgegangenen verpfuschten Errichtung eines Staates fehlte es einfach an innerer Kohäsion, was übrigens bei so manchen anderen Arrangements nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Diese Vereinigung der Slawen im südöstlichen Europa, mit Ausnahme Bulgariens, sollte Serbien nach Kriegsende belohnen für seinen Beitrag zur Niederlage des Österreichisch-Ungarischen Reiches. Doch es ist ihr leider nie gelungen, eine solide und zuverlässige politische Institution zu bilden. Politisch gesehen war die Struktur dieses neuen Staates das Hauptproblem. Sie wurde beherrscht vom Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus. Die Serben, die schon über eine starke Hegemonie verfügten, bevorzugten natürlich eine Zentralisierung. Ihre Politik wurde unterstützt von den Slowenen. Die Kroaten dagegen, mit ihrer ebenfalls sehr reichen Vergangenheit, die aber sehr verschieden war von der serbischen, machten sich zu leidenschaftlichen Verteidigern einer Föderation, um nicht von ihren mächtigen Nachbarn einverleibt zu werden. Es war schließlich die Zentralisierung, die sich durchsetzen konnte, und, wie zu erwarten war, erfolgte eine wachsende „Serbisierung“, die hauptsächlich in den dreißiger Jahren einen beängstigenden Verlauf nahm. Dabei wurden die führenden kroatischen und slowenischen Persönlichkeiten außer Gefecht gesetzt. Das Land änderte auch seinen Namen. Am 3. Oktober 1929, unter der Herrschaft des autoritären Königs Alexander I., nahm es den Titel eines Königreichs Jugoslawien an. In der Benennung ließ man somit die Nationalitäten unberücksichtigt. War das ein Verzicht seitens der Serben? Nicht im Geringsten. Da ihrer Ansicht nach Serbien vor Jugoslawien kam, konnten sie ihre Bestrebungen fortan als übereinstimmend darstellen mit den Ambitionen des Königreichs in seiner Gesamtheit. Es kam dann der Zweite Weltkrieg, der das Ende des ersten Jugoslawiens bedeutete. Da entwickelte sich eine wahre Gier nach Annexionen und Besetzungen: Die Deutschen und ihre Verbündeten teilten das Land unter sich auf. Unter den Ereignissen mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Zukunft Jugoslawiens gab es nicht nur den erbitterten und zähen Widerstand Titos – vergessen wir nicht, dass Josip Broz, genannt Tito, ein Kroate war – und seiner Partisanen, sondern auch die Errichtung eines angeblich unabhängigen kroatischen Staates unter der Diktatur des obersten Chefs der Ustaschen („Aufständischen“), Ante Pavelić, der 26

ein Pro-Nazi Regime einführte. Seit dem 7. Januar 1929 hatten die Ustaschen, mit Pavelić an der Spitze, eine Bewegung der Kroaten gebildet, die separatistisch und antijugoslawisch war. Die Ustaschen begingen empörende Gewalttaten und abscheuliche Verbrechen unter der serbischen Bevölkerung, soweit sie sich ihrer bemächtigen konnten. Dies geschah mit dem schamlosen und entehrenden Beistand eines Teils des katholischen Klerus. Man spricht davon, dass somit etwa 750000 Serben umgekommen seien, unerbittlich niedergemetzelt, oft zuvor noch gefoltert. Man muss den Opfern hier Tausende Juden und Zigeuner hinzufügen. Um die auf den von Pavelić kontrollierten Gebieten angesiedelten Serben zu „kroatisieren“, blieben Weihwedel und Gewehr nicht müßig. Zu Kroatien gehörten damals noch ein Stück Serbiens sowie Bosnien-Herzegowina, nicht aber Dalmatien, das den Italienern unterstand. Nicht zu vergessen ist aber, dass 230000 Kroaten an der Seite Titos kämpften: 66000 von ihnen sind gefallen im Widerstand gegen die Besatzer, das heißt gegen die Deutschen und die Italiener mitsamt ihren Mitläufern, also im Besonderen auch gegen die Ustaschen. Der antifaschistische Rat für die nationale Befreiung Jugoslawiens ernannte am 29.  November 1943 Tito, den Anführer der kommunistischen Partisanen, zum Marschall der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien und stattete ihn mit sämtlichen Vollmachten aus. Das war praktisch das Todesurteil für die Monarchie. Als das Ende der Feindseligkeiten gekommen war, verhielt sich Tito als ein umsichtiger, aber unbeugsamer Politiker: Er handelte schneller als vorauszusehen war, wobei er nicht davor zurückschreckte, es im Juni 1948 zum Bruch mit Stalin kommen zu lassen. Nach der Proklamation der Republik im November 1945 führte er eine brutale Säuberung unter den kroatischen Ustaschen sowie unter den Gegnern des neuen Regimes durch, sowohl den aktiven als auch den bloß mutmaßlichen. Tito ließ seinen großen Rivalen, den General Draža Mihailović, einen antikroatischen und antikommunistischen Serben, hinrichten. Während des Krieges hatte dieser den Anordnungen der Regierung Folge geleistet, die nach London geflüchtet war, wo sich ebenfalls der serbische König Peter II. aufhielt, dem er die Treue bewahrt hatte. So hatte er die royalistischen und antikommunistischen Widerstandskämpfer der Serben angeführt, die sich die Tschetniks nannten. Man beschuldigte ihn, mit dem Feind paktiert zu haben. Das Todesurteil beruhte aber nicht auf einem wahren Schuldigsein, sondern auf innenpolitischen Erwägungen. General de Gaulle – es ist sicherlich nicht uninteressant, diese Einzelheit festzu27

halten, die allein schon ein Dementi darstellt – weigerte sich dauerhaft, Tito zu begegnen, weil er ihn als verantwortlich ansah für die Hinrichtung seines Freundes Mihailović. Das kommunistische Regime mit zentraler Planwirtschaft wurde ab 1950 umgewandelt in ein dezentralisiertes, auf Selbstverwaltung gegründetes sozialistisches System. Fortan durften sich die Arbeiter selber bemühen um ihr berufliches und soziales Leben. Diese Entwicklung war natürlich insofern vorteilhaft, als sie mehr persönliche Freiheit und Initiative einzubringen erlaubte. Die staatliche Gesellschaftsordnung konnte gelockert und vom Stalinismus und dessen sozialistischer Bürokratie losgelöst werden. Doch dieser Vorteil förderte zugleich in den Teilrepubliken und Provinzen ein Trachten nach Autarkie, zuerst auf wirtschaftlichem Gebiet, dann aber auch auf sozialem und politischem. Letztlich begünstigte er die Bestrebungen nach Unabhängigkeit.

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V. Zerfall eines Staates Tito traute den Nationalismen nicht, denn er wusste genau, dass in ihnen das Gift des Separatismus steckte. So wurde die Mehrzahl der Anführer der kommunistischen Liga Kroatiens im Dezember 1971 gezwungen zurückzutreten, da sie mit separatistischen und nationalistischen Kreisen Kontakte aufgenommen hatte. Ein wahrhaft schlechtes Vorzeichen! Im Jahr darauf war die Reihe an Serbien, dessen Führer angeklagt wurden, die Demokratie auf eine zu liberale Weise zu praktizieren. Und doch hat die neue Verfassung von 1974, ein Werk Titos und des Slowenen Kardelj, freiwillig oder erzwungenermaßen den jugoslawischen Staat in eine Föderation umgewandelt, die jeder der sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Provinzen, aus denen sie zusammengesetzt war, eine fast totale Souveränität zugestand. Hauptsächlich die Serben begegneten dieser Verfassung mit Ablehnung. Sie erhoben den Vorwurf, in eine Situation von Ungleichheit und Unterordnung versetzt zu sein, da es ihrer Teilrepublik nicht gegeben ward, die ganze serbische Nation zu vereinigen. Somit war ein Nährboden geschaffen worden, der einer aufständischen Mentalität, ja sogar dem Rassenhass förderlich war – auch unter den serbischen Minderheiten, die zu den anderen Republiken oder den beiden autonomen Provinzen gehörten, und denen es bislang gelungen war, in Frieden mit ihren Nachbarn zu leben. Tito aber, mit seiner starken Persönlichkeit und der Autorität, die er sich erworben hatte im Laufe seines zähen und heldenhaften Widerstandes gegen die Deutschen, fuhr fort, als Alleinherrscher mit eiserner Hand die Einigkeit in der Föderation zu erhalten, allerdings eine sehr prekäre unter diesen so ungleichen Republiken und Provinzen mit ihren einander widerstreitenden Ambitionen. So geschah es denn auch erst nach dem Tod des Marschalls am 4. Mai 1980, dass die Lage einer wachsenden Unordnung verfiel. Da und dort wurde der Wunsch nach Abspaltung immer lauter. Von nun an zeigte sich die innere politische Schwäche der jugoslawischen Volksrepublik mit aller Offenheit und ward sichtlich immer größer. Im Kosovo begannen 1981 die Unruhen, die schließlich zum Zerfall des zweiten Jugoslawiens führen sollten – des Jugoslawiens Titos. War man sich damals ge29

nügend bewusst, dass die 1,9 Millionen albanischen Einwohner des Kosovo – sie stellten ungefähr 85 % der Bevölkerung der Provinz dar –, alle dem Islam angehörig, zahlenmäßig die drittstärkste Nation des jugoslawischen Staates darstellten? Aber selbst nach dem Erlass der Verfassung von 1974, die dem Kosovo den Status einer autonomen Provinz gewährte, waren die Serben keineswegs gewillt, auf ihre Position zu verzichten. Sie bestanden darauf, die Vormundschaft über dieses Land zu behalten, unterstützt von der dortigen serbischen Minderheit, die, demographisch gesehen, nicht einmal 15  % ausmachte. Der im März 1981 beginnende massive Protest albanischer Studenten im Kosovo war nur das Wiederauflodern eines latenten Konfliktes – eine Flamme, die plötzlich aufsteigt aus einer Glut, die nie gänzlich hatte gelöscht werden können. Es erhoben sich die Forderungen der muslimischen Bevölkerung im Kosovo, die ja in der absoluten Mehrheit war und sich dennoch mit Recht für unterdrückt halten musste, während auf der anderen Seite die Serben Schikanen und Gewalttätigkeiten aller Art zu erdulden hatten, die Zehntausende von ihnen auf den Weg der Auswanderung trieben. Für Slobodan Milošević war dies eine äußerst günstige Gelegenheit, eine einzigartige Chance, sich auf der politischen Bühne ganz nach vorne zu drängen, indem er sich als der Verteidiger der unterdrückten serbischen Minderheit ausgab, kurz, um sich aufzuspielen als der Retter der serbischen Heimat. Er verstand es, geschickt die Situation zu nutzen, mit dem Ziel, seine persönliche Macht durchzusetzen, indem er bis zum Äußersten den Kreuzzug vorantrieb, der zu jener Zeit zugunsten eines Erwachens des nationalen serbischen Bewusstseins ausgelöst worden war. Seine Laufbahn in der kommunistischen Liga Serbiens war rasant: Vorsitzender, zuerst für die Stadt Belgrad (1984), dann für die gesamte Teilrepublik Serbien (1986), und schließlich Generalsekretär der kommunistischen Partei (1987), das heißt deren Führer. Die Serben des Kosovo erklärte er zu Opfern eines Völkermordes, womit er sich Gründe verschaffte, zu reagieren. Er schürte die Revolte und praktizierte zugleich einen höchst aggressiven Chauvinismus. Milošević gelingt es, gewaltige Kundgebungen zu veranstalten, sowohl in Belgrad als auch im Kosovo. Eine besonders schwerwiegende Begebenheit ereignet sich am 28. März 1989: Die parlamentarische Versammlung der Teilrepublik Serbien beschließt eine Verfassungsänderung, die dem 1974 eingeführten Autonomiestatus der Provinzen Kosovo und Vojvodina ein Ende setzt. Daraufhin finden im Kosovo sofort heftige Auseinandersetzungen statt zwischen albanischen Demonstranten und aus Belgrad geschickten mobilen Einsatztruppen. Am 8. Mai, 30

also nur einige Wochen später, lässt Milošević sich zum Präsidenten der Teilrepublik Serbien wählen, und zwar mit einer überwältigenden Mehrheit. In Serbien ist dies die erste Präsidentenwahl mit allgemeinem Wahlrecht. Der Anstifter von Krieg und Rassendiskriminierung verfügt also von nun an über das oberste Kommando, selbstverständlich nur für Serbien, jedoch mit einem extrem großen Einfluss auf den gesamten jugoslawischen Staat, und zwar wegen der überall ansässigen nationalistisch gesinnten Serben, deren ambitiöse Ziele er gehörig aufzustacheln versteht. Die Feuersbrunst gewinnt an Boden. Man muss sich auf das Schlimmste gefasst machen. Die Entfesselung des serbischen Strebens nach Vorherrschaft, das sich so offenkundig gezeigt hat bei der Abschaffung der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina, bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die anderen Republiken des Staates. Indem es sich ausbreitet, ruft es nationalistische Bewegungen auch unter den anderen Völkerschaften hervor. So werden fortan auf jugoslawischem Boden massenweise und pausenlos Ereignisse stattfinden, die der Föderation Schaden zufügen. Das Zerbröckeln des politischen Zusammenhalts der bundesstaatlichen Strukturen nimmt seinen Lauf. Die Slowenen und die Kroaten verlangen jetzt die Unabhängigkeit. In Kroatien wird Franjo Tudjman, ein zum Dissidenten gewordener früherer General Titos  –  er ist dort jetzt die dominierende politische Persönlichkeit  –  am 30.  Mai 1990 zum Präsidenten der Teilrepublik gewählt, und gleich am Tag darauf erhält Stjepan Mesić von ihm den Auftrag, eine nichtkommunistische Regierung zu bilden. Das bedeutet den Triumph der Gegner des offiziellen Regimes. Doch setzt Tudjman während der Wahlkampagne seinerseits auf die nationalistische Karte. Um das Wahlrecht zu haben, in anderen Worten, um die Anerkennung als kroatische Bürger zu bekommen, werden so beispielsweise gewisse Einwohner der Republik Kroatien gezwungen, einen wahrhaft inquisitorischen Fragebogen auszufüllen. Die ethnische Säuberung wird also nicht allein von den Serben durchgeführt, obschon diese es sind, die sie am systematischsten und härtesten vorantreiben, wodurch in den Ländern der Föderation viele Menschen bluten müssen. In den bewaffneten Konflikten, die bereits kurz vor dem Ausbruch stehen, laden die Serben diesbezüglich eine schwere Verantwortung auf sich. Übrigens hatte das Gespenst der ethnischen Säuberung sich auf dem Balkan schon seit langem bemerkbar gemacht. Hauptsächlich ist festzuhalten, dass der 31

berühmte General Draža Mihailović, der Führer der Tschetniks, bereits 1941 den Befehlshabern seiner Truppen Anweisung gegeben hatte, sich um ein ethnisch reines Großserbien zu bemühen. Eine derartige Politik war den Serben also keineswegs fremd. Die zivilisierte Welt weiß heute, dass diese politische Zielsetzung dann zwischen dem 13. und dem 16. Juli 1995 einen absolut unfasslichen Höhepunkt herbeigeführt hat. In Srebrenica wurde ein Massaker begangen, das als Völkermord zu bezeichnen ist. Es erinnert an die Gräueltaten der Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Die Provinz Srebrenica in Bosnien-Herzegowina war überwiegend mit bosnischen Muslimen bevölkert, jedoch auch mit Serben, die miteinander, so sagt man, bis dahin in einem guten Einvernehmen lebten. Die serbischen Streitkräfte in Bosnien, unter dem Befehl des finsteren Generals Ratko Mladić, ermordeten von der muslimischen Bevölkerung mehr als 8000 Männer, darunter Jugendliche und Greise. Der Serbenführer Radovan Karadžić hatte dazu grünes Licht gegeben. Mit atemberaubender Schnelligkeit folgen während der zweiten Hälfte des Jahres 1990 schwerwiegende Ereignisse aufeinander, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Am 7. September verkündet das Kosovo seine eigene Verfassung und erhebt sich damit zur siebten Republik im föderativen Staat. Am 28. September geben die Serben sich eine neue Verfassung. Sie bedeutet eine wahre Aufforderung zum serbischen Hegemonismus und Annexionismus innerhalb der Föderation. Auch in Kroatien wird im selben Jahr eine neue Verfassung beschlossen, und zwar am 21.  Dezember 1990. Die Kroaten beanspruchen damit vor allem das Recht auf Unabhängigkeit, indem sie sich im geänderten Text ihrer Verfassung als souveränen Nationalstaat bezeichnen, das Wort „sozialistisch“ tilgen sowie das Staatswappen und die Flagge ändern. Und fünf Tage später, am Tag nach Weihnachten, verkündet Slowenien aufgrund eines Referendums (mit 88,5%iger Mehrheit) seine Unabhängigkeit. Im Mai 1991 wird in Kroatien ein Referendum über die staatliche Eigenständigkeit abgehalten werden, bei dem 94,7 % Ja-Stimmen erreicht werden; am 25. Juni folgt als offizielle Proklamation der „Verfassungsbeschluss über die Souveränität und Unabhängigkeit der Republik Kroatien“.

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VI. Eine trügerische Ruhe Dubrovnik also am Palmsonntag 1991. Ein herrlicher Morgen ist angebrochen. Er kündigt einen strahlenden Tag an. Morgenstund, so heißt es ja sprichwörtlich, hat Gold im Mund. Weiß derjenige, der spät aufsteht, eigentlich nicht, was ihm da alles verlorengeht? Diese frühen Stunden am Tag bergen ein großes Glück für den, der sie genießen will oder vielleicht schon zur Arbeit unterwegs ist. Die Natur, längst ganz erwacht, breitet in einer ganz unverbrauchten Frische ihre nach der nächtlichen Ruhe neu belebten Schönheiten aus. Beim Frühstück ist der große, von der Sonne durchflutete Speisesaal des Hotels Excelsior fast leer. Ich bin davon sehr überrascht, denn ich war nicht darauf gefasst, dass die Stadt in einem solchen Ausmaße gemieden würde. Denn so sieht es tatsächlich aus. Es scheint, als ob Dubrovnik, das Kleinod der dalmatischen Küste, schon in diesen Tagen bei den Touristen seine Anziehungskraft verloren hätte. Sollte der Frieden denn so sehr gefährdet sein? Sicher, die Saison hat noch nicht begonnen, doch habe ich trotzdem während meiner beiden vorhergehenden Aufenthalte, 1987 und 1989, gesehen, wie zahlreich hier die Besucher zu sein pflegen bereits in den Tagen vor dem Osterfest. Dennoch muss ich mir alle Mühe der Welt geben, um glauben zu können, dass diesem so prächtigen Stück Land an der Adria möglicherweise ein Krieg droht. „Wer das irdische Paradies sucht“, so schrieb einmal George Bernard Shaw, „sollte nach Dubrovnik reisen.“ Ja, welche Macht wäre schon so schamlos, sich an soviel Schönheit in einer so wundervollen Landschaft zu vergreifen? Nun ist das Schöne allerdings keine Garantie gegen kriegerische Raserei. Im Gegenteil könnte man sogar meinen, sie biete für gewisse Formen der Barbarei einen zusätzlichen Reiz, sie sei etwas Erlesenes, Außergewöhnliches, dessen Zerstörung doppelt verwerfliche Begierden befriedigen könnte. Wir dürfen nicht vergessen, dass Schönheit allzu leicht Neid und Eifersucht erregt – und somit Aggressionen nach sich ziehen kann. Aber man soll nicht übertreiben, sage ich mir. Es müsste doch möglich sein, eine politische Lösung zu finden. Vielleicht mithilfe der Staaten der europäischen Gemeinschaft? Oder dank der UNO? Die überhitzten Gemüter, man wird sie doch wieder zur Vernunft bringen können. Eigentlich mache ich mir damit nur 33

Illusionen. Im Augenblick überwiegt in mir ein gewisses Bedürfnis nach Sorglosigkeit, sodass ich mich, alles in allem, unklaren Ideen, Irrtümern und Illusionen überlasse. Wer soll auch schon ahnen, wie es weitergehen wird? Der kommende Verlauf der Ereignisse wird meiner gegenwärtigen lässigen Einstellung allerdings ein trauriges Dementi verpassen. Selbst den außerhalb der Festungsmauern der Stadt gelegenen Stadtteil Ploče, wo ich zurzeit eine Unterkunft gefunden habe, werden in naher Zukunft die Granaten treffen. Und die Hotels, auch dasjenige, in dem ich logiere, werden bald zur Aufnahme von Flüchtlingen beschlagnahmt werden. Heute kennen wir die Ereignisse. Ab dem 1. Oktober 1991 erfolgte ein militärischer Angriff auf das Territorium von Dubrovnik. Die Stadt wurde umzingelt von Einheiten regulärer Bodentruppen und Seestreitkräfte der jugoslawischen Volksarmee, der Jugoslavenska Narodna Armije (JNA), denen sich Verbände aus Montenegro und Bosnien-Herzegowina angeschlossen hatten. Dubrovnik wurde zum ersten Mal am 23. und 24. Oktober bombardiert. Weitere Angriffe folgten, und zwar vom 8. bis zum 13. November, und dann besonders schwere am 6. Dezember. Die Angreifer gaben keine Ruhe bis ins folgende Jahr hinein, als nach neun Monaten eine erfolgreiche Offensive der kroatischen Armee stattfand und die Feindseligkeiten dann im Wesentlichen nachließen. In diesem Jahr, 1992, wurde Kroatien am 22. Mai Mitglied der UNO, was deutlich zur Beruhigung der Lage beitrug. Tage voller Ängste, Schmerzen und Trauer sind gekommen, in der Stadt selber und genauso jenseits ihrer Grenzen; Blut floss in Dubrovnik, und selbst in entfernten Ländern breitete sich Empörung aus, als die Menschen dort die Bilder der Katastrophe auf ihren Fernsehschirmen verfolgten und dabei das Ausmaß der sich ereignenden Schandtaten erfassten. Eine niederschmetternde Bilanz: Opfer in der Zivilbevölkerung, Verletzte, Tote, und an den Häusern und den Gebäuden mit ihren vielen Kunstschätzen, besonders ihrer kostbaren historischen Architektur – Schäden, die teilweise nicht mehr gutzumachen sind. Bis zum 8. Oktober 1991 hatte dieser Krieg einen sozusagen innerstaatlichen Charakter, was auch heißt, es handelte sich um einen Bürgerkrieg. Nachher jedoch war es ein internationaler bewaffneter Konflikt, weil Kroatien nun seine Unabhängigkeitserklärung vom 25.  Juni desselben Jahres geltend machte. (Sie war aufgrund des von den Konfliktparteien – auf intensive EG-Vermittlung hin – geschlossenen Brioni-Abkommens am 7. Juli für drei Monate ausgesetzt worden.) 34

Das brachte mit sich, dass die Hauptverantwortlichen eines Tages für ihre Untaten zur Rechenschaft gezogen wurden vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Zweifellos war es richtig, sie an den Pranger zu stellen. Sie haben Menschen umgebracht und zugleich die Altstadt vorsätzlich beschädigt, die von der UNESCO unter die Schätze der Menschheit eingereiht wurde und seit 1979 auf der Liste des Weltkulturerbes steht. Die Gewalttaten zeugen von einer unleugbaren Eroberungssucht sowie einem sträflichen, fanatischen Nationalismus, zugleich aber auch von einem unverzeihlichen Mangel an Verständnis und Wertempfinden für Kulturgüter. Die Angriffe wurden verübt unter dem Kommando von Armeekorpsgeneral Pavle Strugar, Vize-Admiral Miodrag Jokić und Kapitän Kovačević. Man behalte aber zugleich im Blick, dass die Serben ebenfalls den unsinnigen Ehrgeiz hegten, eine kulturelle Säuberung durchzuführen. Eine kulturelle Säuberung, welch ein Gräuel! Reiner Wahnsinn! Gerade nach den von den Nazis im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen hat sich unsere Wachsamkeit diesbezüglich verdoppelt. Im Lichte der Menschenrechte ist die friedliche Koexistenz verschiedener Kulturen zur unabdingbaren Verpflichtung geworden. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen? Vielleicht, aber vor allem, weil wir uns des Respekts jetzt besser bewusst sind, den wir unseren Mitmenschen schulden, da jeder eine unveräußerliche Würde besitzt. Hinzu kommt das Interesse an unserem eigenen kulturellen Zugewinn. Im Großen und Ganzen handelt es sich also auch um eine moralische Aufgabe. Nun wieder zurück zum 24. März 1991. Allem Anschein nach ein heiterer und friedlicher Palmsonntag! Der Tag kündigt sich an mit so viel Herrlichkeiten, dass ich, ganz entgegen meinen Gewohnheiten, zum Epikureer werde. Weshalb ihn nicht genießen so gut es nur geht, mit kleinen Schlucken, wie ein köstliches Getränk? Carpe diem: Koste den Tag aus, der auf dich wartet wie ein Geschenk, mit der ganzen Großzügigkeit seiner Schönheit und seiner Freuden. Doch will ich immerhin fragen, ob der Ausspruch des alten Horaz heute anwendbar ist angesichts der unsicheren Zukunft des Landes. Vielleicht ist er es nicht, doch gelingt es mir andererseits, diese attraktive Einladung zu übertreffen, indem ich einen anderen Vers aus den Oden des berühmten römischen Dichters hinzufüge: Quid sit futurum cras, fuge quaerere – „Was morgen sein wird, vermeide zu fragen …“ Den heutigen Sonntag werde ich als Einzelgänger verbringen, man könnte sagen, als vorübergehender Junggeselle. Ich werde ihn folglich ganz nach meinem 35

Gutdünken einrichten können, so wie ich es im Sinne habe. Kein Tuning, kein Stress, nicht die geringste Verpflichtung, außer derjenigen, meine Zeit nicht zu vergeuden und diese prächtige Stadt zu besichtigen so viel und so gut es nur geht. Ich denke an die Festungsmauern, die architektonischen Schönheiten, die landschaftliche Umgebung, hauptsächlich an das Meer und das noch zaghafte Sprießen der frühlingshaften Natur. Wie sollte man sich da der Trübsal hingeben, sich Sorgen machen, an eine unsichere Zukunft der Stadt denken, anstatt dieses sonntägliche Geschenk nach Herzenslust und mit Dankbarkeit zu schätzen, das sich so bereitwillig und herrlich dem Besucher darbietet? Doch bereits am frühen Morgen dämpft immerhin ein leichter Schatten die sonst so spannungslose Atmosphäre. Es gelingt nicht, die Ungewissheit der politischen Lage total zu ignorieren. Dieser Widerwärtigkeit, dieser latenten Bedrohung kann man offenbar nicht so leicht entgehen. Konkret zeigt sie sich in diesem Augenblick in der Person des Oberkellners, der neben der gläsernen Eingangstür des Speisesaals wie ein Posten mit wachsamem Auge Aufsicht führt über die wenigen Gäste, die an ihren Tischen sitzen oder sich am Buffet ihr Frühstück zusammenstellen. Dieser Mensch flößt mir kein Vertrauen ein. Er ist ein Mann mittleren Alters, groß, von robuster Statur, streng gekleidet, im schwarzen Smoking, und ganz schweigsam. Weshalb auch reden, wenn sein Blick sowieso die Übersicht hat und alles wie an einem Rädchen läuft? Die Gesichtszüge sind hart, fast unbeweglich. Seine mürrische, finstere Miene zeigt einen eigenwilligen Ausdruck, der mir durchaus fähig zu sein scheint, unter Umständen in Brutalität überzugehen. Und schon beleben sich meine Gedanken, gehen sonderbare Verbindungen ein. Der Name Cerberus kommt mir in den Sinn. Ein Hüter? Warum? Der Mann beunruhigt mich und gibt mir zugleich ein Rätsel auf. Gott weiß, worüber er in diesem Augenblick grübelt. Ist er ein Kroate, ist er ein Serbe? Ein Serbe auf kroatischem Boden? Vielleicht ein Montenegriner, vielleicht ein Bosniake? Er könnte sogar ein Kosovare sein. Ist Jugoslawien nicht das Land der vielen Völkerschaften und insofern auch mit zahllosen ethnischen Kombinationen? Der Mann scheint sich Sorgen zu machen, das ist unbestreitbar. Ich frage mich, ob er die wenigen Gäste wie mich, die noch als Reisende ihr Geld in der Republik Kroatien ausgeben wollen, letztlich nicht als Ruhestörer betrachtet, als unerwünschte Eindringlinge, die man lieber vor die Tür setzen möchte, als auch noch verpflichtet zu sein, ihnen mit Höflichkeitserweisungen zu begegnen. 36

Jedenfalls lässt die Gastlichkeit so manches zu wünschen übrig. Die Höflichkeit wirkt gezwungen, es fehlt ihr die Herzlichkeit. Am Vortag, bei meiner Ankunft im Hotel, wurde mir hierfür gleich der Beweis geliefert. Die Beamten waren von einer kalten, rein förmlichen Zuvorkommenheit. Zu meiner lebhaften Überraschung übrigens war das Hotel Argentina, in dem ich über ein luxemburgisches Reisebüro ein Zimmer gebucht hatte, geschlossen, ohne dass ich davon in Kenntnis gesetzt worden wäre. Deshalb geleitete man mich zu dem gleich nebenan gelegenen Hotel Excelsior. Das war ein alarmierendes Signal, gewiss. Ich gewann den unangenehmen Eindruck, ein wenig hilflos zu sein, das Geschehen, soweit es mich betraf, nicht mehr ganz unter Kontrolle zu haben. Ich musste mich den Forderungen der unklaren Situation beugen. Man schwieg natürlich zu allem, was sich hinter den Kulissen abspielte. Immerhin beschwichtigte sich meine anfängliche Aufregung, denn es gab schließlich keinen Grund, mich in irgendeiner Hinsicht benachteiligt oder gefährdet zu fühlen. So bedurfte es nur eines kurzen Gesprächs an der Hotelrezeption, um ein schönes Zimmer mit Balkon zum Meer hin zugewiesen zu bekommen, so wie ich es ursprünglich im Hotel Argentina bestellt hatte. Ich zog ein, und gleich stand ich auf dem Balkon. Die Aussicht war großartig. Mir gegenüber ragte aus den blauen Fluten des Meeres die bewaldete Anhöhe der Insel Lokrum heraus, die mir von meinen beiden vorigen Besuchen sehr vertraut vorkam. Wie der Rücken eines vorsintflutlichen Ungeheuers sah sie aus. Zu meiner Rechten schloss die Silhouette der Altstadt mit ihrem wunderbaren südöstlichen Panorama das Rundbild ab, das sich von meinem Balkon aus bot. Auch das Zimmer war angenehm und hatte eine gepflegte Einrichtung. Selbst das Ritual des Frühstücks, mit seinem reichen Buffet vermittelt mir schließlich ein gewisses Sicherheitsgefühl. Die Atmosphäre lässt mich an den Tod in Venedig von Thomas Mann denken. Das Personal benimmt sich, als ob nichts wäre: keine Seuche in Venedig, keine Kriegsbedrohung in Dubrovnik. Die letzten Gäste  –  es gilt, sie zu schonen, alles zu meiden, was sie alarmieren würde, was sie dazu bringen könnte, die Flucht zu ergreifen. Diese der Situation angepasste Taktik ist denn auch nicht weit davon entfernt, bei mir Erfolg zu zeitigen. Warum auch, so frage ich mich, sollte ich mich nicht bezaubern lassen von der herrlichen Küstenlandschaft und dem so einladenden Urlaubsambiente? Eine strahlende Sonne, die zu dieser Morgenstunde bereits eine angenehme Hitze verbreitet, ein Himmel, der einer azurblauen Kuppel ähnlichsieht, und, ganz in der Nähe hinter der Terrasse, ein friedliches Meer mit einer nur leicht gekräuselten Oberfläche: 37

Das führt dazu, dass ich mich überaus glücklich fühle. Ich kann mir in diesem Augenblick wahrlich kein schöneres Los wünschen noch denken. Die nach außen hin weit geöffneten Türen lassen mich dem sachten Rhythmus der Wellen lauschen, die über die Ufer gleiten. Das hört sich an wie eine reizvolle Einladung zu einem vergnüglichen Leben, zu einem wahren dolce farniente. Doch Faulenzen dürfte für mich heute wohl kaum infrage kommen, jedenfalls nicht den ganzen Tag über.

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VII. Wachsende Spannung Die Geschichte behandelt die Geschehnisse chronologisch – zeitlich. Doch gibt es zwei Arten von Zeit: die objektive und die subjektive. Objektiv betrachtet, lassen die Ereignisse sich anhand der Uhr und des Kalenders festhalten. So kann es Tage geben im Leben eines Volkes oder auch eines einzelnen Menschen, die gänzlich ausgefüllt sind, und andere, in denen nur Leere herrscht. Und subjektiv gesehen geht es immer um Menschen mit ihrem Denken und ihren Empfindungen. Ja, es gibt Augenblicke, deren Intensität nur noch schwer fassbar ist und die so reichhaltig sind, dass sie kaum noch durch das Bewusstsein ausgelotet werden können, selbst wenn sie gemäß der objektiven, mechanischen Zeit bloß von kurzer Dauer sind. Hier ist die exakte Wissenschaft zum größten Teil hilflos, im Gegensatz zur Kunst, die mit ihrem ganzen Reichtum in der Lage ist, dem Erlebten Ausdruck zu verleihen. Auch ist subjektiv gesehen mit Recht die Rede von unterschiedlicher Geschwindigkeit. Manchmal haben wir den Eindruck, dass die Zeit schnell vorbeigeht, manchmal scheint sie hingegen stehenzubleiben. Jedenfalls ist in den vor diesem Palmsonntag vergangenen Tagen in Jugoslawien der Pulsschlag der Geschichte zu spüren gewesen. Auch international. In kurzer Zeit hat sich vieles ereignet. Gegenwärtig scheint sich die Krise zu beschleunigen, die das Land seit geraumer Zeit bis über seine Grenzen hinaus in Atem hält. Während der beiden letzten Wochen aber hat die Föderation ihren politischen Institutionen Wunden beigebracht, von denen sie sich nicht mehr erholen werden. Was ist geschehen? Bei mir zuhause habe ich die Nachrichten zur Kenntnis genommen, die von der Presse und dem Fernsehen verbreitet wurden, ohne jedoch den Ernst der Lage in seiner ganzen Dimension zu ergründen. So bin ich denn an diesem Sonntag auch nicht über den Maßen besorgt. Die genauere Bedeutung der zwei Wochen vor meiner Reise sollte ich erst später erfahren. Wie sahen die Ereignisse im Rückblick aus? Eine Kundgebung von außergewöhnlichem Umfang, mit etwa 100000 Teilnehmern, fand in Belgrad am 9. März 1991 statt. Sie wurde veranstaltet und geführt hauptsächlich von einer studentischen Jugend, die liberalere und demokratische Institutionen forderte. Auf Verlangen von Mitläufern des Präsidenten der Republik Serbien, Slobodan Milošević, 39

ließ sich die höchste institutionelle Autorität Jugoslawiens, nämlich das kollektive Staatspräsidium, dazu bewegen, die Armee gegen die Demonstranten einzusetzen. Schließlich operierte diese sogar mit gepanzerten Fahrzeugen im Zentrum der Stadt. Es wurden Gewalttaten verübt, gefolgt von Festnahmen. Am Ende gab es zwei Tote und mehr als hundert Verletzte. Am Montag, dem 11. März, vollbrachte die Partei Miloševićs dann einen geschickten Schachzug. Dieser bestand aus einer Massenkundgebung zu ihren Gunsten in der Provinz Kosovo. Auch dort sollen es an die 100000 Teilnehmer gewesen sein. Am selben Tag erfolgten aber in der Hauptstadt Belgrad neue Zusammenstöße zwischen den Gegnern des Regimes und den Ordnungskräften. Eine ansehnliche Zahl von Professoren, unter ihnen auch Mitglieder von Serbiens hochrenommierter Akademie der Wissenschaften, schloss sich diesmal den Studenten an. Die Regierung musste zurückweichen, wenigstens oberflächlich. Am Tag darauf gab sie die Demonstranten frei, die am Samstag vorher festgenommen worden waren. Außerdem geschah es, dass die Direktion des Fernsehens  –  die „Milosovision“, der man unter anderem vorwarf, die nationalistischen Leidenschaften zu schüren und die Serben in den Bürgerkrieg zu treiben – ihren Rücktritt erklärte, was einen keineswegs geringen Sieg der Opposition bedeutete, denn eines ihrer Hauptziele bestand gerade darin, das kommunistische Monopol der Medien zu brechen. Verschiedene andere wichtige Ereignisse kamen noch hinzu, die durchaus imstande waren, die Gemüter vorübergehend zu beruhigen. Am Dienstag, dem 12. März, sprach das Staatspräsidium sich gegen die von der JNA, der jugoslawischen Volksarmee, geforderte Proklamation eines Ausnahmezustandes aus. Das oberste Organ des Staates musste aufgrund einer Mehrheit von einer Stimme darauf verzichten, die Armee, die unter ihrem Kommando stand, gesetzlich zu ermächtigen, unmittelbar einzugreifen, wie diese es verlangte. Ein Tag später, am Mittwoch, dem 13. März, war die Reihe an Radmilo Bogdanović, dem Innenminister Serbiens, seinen Rücktritt einzureichen. Man hätte glauben können, dass man sich nun auf dem Weg einer ernsthaften Entspannung der Lage befand. Dem war jedoch keineswegs so. Man kann es nicht oft genug betonen: Die wirtschaftliche Krise und die massive Opposition gegen die Liga der Kommunisten Serbiens – man hatte sie im Juli vorigen Jahres in „Sozialistische Partei Serbiens“ umgetauft – bildeten keineswegs das eigentliche Problem. Das wichtigste Geschehen, dasjenige, das am meisten Angst verbreitete, war der rasante Aufschwung des 40

großserbischen Nationalismus, angestiftet und ständig angestachelt von Präsident Milošević. Der Diktator nutzte diese Entwicklung geschickt aus im Interesse seiner persönlichen Macht, denn mit dieser nationalistischen Politik konnte er sich für seine eigenen Zwecke beim Volk in die Gunst bringen. Selbst die Oppositionsparteien Serbiens ließen es nicht an nationalistischem Enthusiasmus fehlen. Sie schlugen in die gleiche Kerbe, erfasst von diesem fanatischen Nationalismus, der schließlich stärker war als alle wirtschaftlichen, politischen und sozialen Forderungen. Der Schriftsteller Vuk Drašković, der Hauptveranstalter der Belgrader Kundgebungen vom vergangenen 9. März, spielte dabei eine besonders wichtige Rolle. 1990 war er zum Präsidenten der „Serbischen Nationalen Erneuerung“ gewählt worden, einer Partei, die er dank seinem Charisma an die Spitze der serbischen Opposition zu bringen verstanden hatte. Er trat für die Auflösung des jugoslawischen Staates ein und verlangte dabei die Schaffung eines „Großserbiens“, wohingegen Milošević sich damit begnügte, für Serbien eine überwiegende Ausnahmestellung in einem vereinten Jugoslawien zu fordern. Im März 1991 bekommt Kroatien immer mehr den Druck des nationalistischen Militarismus Miloševićs zu spüren. Die beiden Teilrepubliken beobachten einander feindselig. An gegenseitigen Quälereien, Reibereien und Sticheleien von der einen zur anderen fehlt es nicht. Bereits seit Monaten hat es immer wieder Streitereien gegeben. Die Zeitung Politika Ekspres verunglimpfte die Kroaten täglich. In ihren Augen sind sie unter anderem „Faschisten im Dienste des Vatikans, entschlossen, einen Völkermord an dem serbischen Volk zu begehen“. Bei einem Referendum im Vorjahr, im August 1990, stimmte die serbische Minderheit Kroatiens – sie bildet ungefähr 12 % der Gesamtbevölkerung dieser Republik –, angetrieben und unterstützt von Milošević und Konsorten, massiv für eine „kulturelle und politische Autonomie“ der von ihr bewohnten Provinzen. In der Grenzprovinz Krajina, ethnisch eine serbische Enklave in Kroatien, erließen die Serben am Tage der kroatischen Verfassungsänderung, dem 21.  Dezember, das „Statut der serbischen autonomen Provinz Krajina“ und kündigten an, im Falle der Loslösung Kroatiens aus der Föderation sofort ihre Provinz für unabhängig zu erklären – was sie bereits am 28. Februar 1991 eigenmächtig proklamierten. Die Krajina wird – nach einer vorangegangenen Volksabstimmung mit angeblich 99%iger Mehrheit – am 16. Mai einseitig ihren Anschluss an die Republik Serbien verkünden. Damit ist die Kraftprobe zwischen Slobodan Milošević und Franjo Tudjman ernsthaft eingeleitet. Sie verheißt nichts Gutes. 41

Was die politischen Institutionen und Geschehnisse betrifft, gestaltet die Woche vom 18. März sich als besonders schwierig. Der Dinar befindet sich in freiem Fall: Er sackt praktisch von Stunde zu Stunde ab. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. Jetzt kommt es darauf an, über wieviel Autorität das Staatspräsidium in Wirklichkeit noch verfügt. Seine Fähigkeit, die Ordnung im Land zu erhalten, steht auf dem Spiel. Eine politische Entscheidungsblockade ereignet sich während des 16. und 17. März, als Serbien und seine Verbündeten, das heißt, zusammen mit Montenegro und der autonomen Provinz Vojvodina, sich aus dieser höchsten politischen Instanz des Landes zurückziehen, woraufhin Milošević auch noch den Vertreter des Kosovo zurückruft, denn dieser habe sich seiner Politik widersetzt. Das Präsidium, nun reduziert auf vier Mitglieder, verfügt folglich nicht mehr über die verfassungsmäßige Quote, die es für die Ausübung seiner Funktionen benötigt. Eine scheinbare Beruhigung tritt aber am Freitag, dem 22. März ein, zwei Tage vor dem Palmsonntag, von dem hier die Rede ist. Der Serbe Borisav Jović, der den Vorsitz im Präsidium innehat und damit als Staatschef amtiert, erklärt seinen Rücktritt. Er und Ante Marković, ein liberaler Kroate, Premierminister der föderalen Regierung und Verfechter eines von ihm so genannten „Neuen Sozialismus“ und einer Marktwirtschaft, befinden sich miteinander im Streit. Doch vollzieht Jović auf Druck des serbischen Parlamentes eine Wende und kehrt auf seinen Posten zurück. Man ist sichtlich darum bemüht, wenigstens einen minimalen Konsens zu bewahren, um damit die Kontinuität der Institutionen sicherzustellen. Es gilt also, die Integrität des Staates und damit dessen politisches Überleben zu gewährleisten. Wir wissen aber, dass dieser eher friedliche Zustand nicht lange dauern wird. Wenn die Amtszeit von Borisav Jovićs beendet ist, werden Serbien und seine Verbündeten – und diesmal schließt das Kosovo sich an – nicht lange warten. Bereits am 15. Mai werden sie sich weigern, ihre Stimme zugunsten des nichtkommunistischen Kroaten Stjepan Mesić für den turnusgemäßen Vorsitz abzugeben, wodurch sie eine Vakanz im Präsidium herbeiführen. Von da an wird das höchste politische Organ des jugoslawischen Staates der Ohnmacht ausgeliefert sein. Zu gleicher Zeit, also Mitte März, ist man im ganzen Land beunruhigt über die wahren Absichten der jugoslawischen Volksarmee, deren Eingreifen von Milošević verlangt wird. Wird sie sich in den Dienst Serbiens stellen? Wird sie die serbischen Interessen mit Gewalt verteidigen? Man fragt sich hauptsächlich, ob es so weit kommen wird, dass die jugoslawische Armee die Milizen Kroatiens und 42

Sloweniens ihrer Kontrolle unterwirft. Man munkelt über einen etwaigen Militärputsch. Es scheint ein reales Risiko hierfür zu bestehen. Wie schon so oft im Laufe der Geschichte, verdient dieser südliche Teil Europas in diesem Augenblick wiederum seine altbekannte Bezeichnung als „Pulverfaß auf dem Balkan“. Auch abgesehen von den Geschehnissen im Präsidium, herrscht am Vorabend des Palmsonntags eine tiefe Spannung zwischen Kroatien und Serbien. In den Tagen vorher sind beiderseits von der jeweils zuständigen Verwaltung Repressionen gegenüber Geschäftsleuten verübt worden. Kann man behaupten, es habe sich eigentlich nur um Anrempelungen, um Schikanen gehandelt? Vielleicht, doch sind sie wegen ihres intoleranten, menschenfeindlichen, ja in einem erweiterten Sinne rassistischen Charakters durchaus imstande gewesen, den Gegner zutiefst zu beleidigen. Auch sie waren Vorzeichen einer nahenden Katastrophe. Am Horizont zeichnet sich nun der Ausbruch eines bewaffneten Konfliktes ab, der vielleicht sogar unvermeidlich sein wird. Das Schlimmste ist nicht auszuschließen. In der Retrospektive betrachtet, waren diese Märztage des Jahres 1991 eine Art Vorspiel kommender Militäraktionen.

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VIII. Vor der Tragödie Alles scheint sich wie in einem großen Theater abzuspielen, das sich nun nach und nach belebt. Der Vorhang ist noch geschlossen, aber die Akteure und Techniker arbeiten fieberhaft auf der Bühne und hinter den Kulissen. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange, während beim Publikum die Spannung wächst. Man hat sich auf ein politisches und militärisches Drama eingestellt, voller Gewalt und kriegerischer Szenen. Es handelt sich gewissermaßen um die Tragödie nationalistischer Kreuzzüge. Bald wird sich der Vorhang öffnen und die Bühne freigeben. Dies wird der Beginn eines Trauerspiels in mehreren Aufzügen sein. Heute wissen wir Bescheid. Das Stück wird grausam und blutig verlaufen, abstoßend in vieler Hinsicht, gespielt von Personen, die, von Ehrgeiz und Machtgier vollkommen besessen, keine Rücksicht kennen. Fanatische Menschen werden es sein, süchtig nach Eroberungen, nach der Befriedigung wilder Leidenschaften, und fähig, schreckliche Verbrechen zu begehen. Das Drama wird sich entwickeln gemäß dem üblichen Schema: zuerst die Exposition, die das Publikum mit den Hauptprotagonisten bekannt macht; dann eine Krise, die an verschiedenen Orten immer mehr um sich greift, indem sie sich, allgemein gesehen, bis zu einem gewissen Höhepunkt steigert; danach ein weitverbreitetes Sättigungsgefühl – man kann es als die Peripetie betrachten – in einer gänzlich unentwirrbaren Situation; schließlich die Katastrophe, teilweise bewirkt durch das Eingreifen eines machtvollen deus ex machina. Die schlimmsten Akteure der Tragödie, die finstersten Gestalten, noch wenig bekannt beim internationalen Publikum, werden sich anfangs hinter den Kulissen versteckt halten, aber mit größter Aufmerksamkeit warten, bis sie an der Reihe sind, sich auf die Bühne zu begeben. Da wird es, zuerst im Hintergrund, Figuren geben wie Mladić, Karadžić, Krstić, Babić, Plavšić, Martić, Mrkšić und Šljivančanin. Die Schuld, die sie auf sich laden werden, wird nicht bei allen die gleiche sein: Sie wird verschieden ausfallen entsprechend der Rolle und dem Charakter jedes Einzelnen, aber dies wird die Zuschauer nicht daran hindern, sich am Ende des Stückes, und auch später noch, zu erinnern an ein widerwärtiges Aufgebot von Kriegshetzern, Aufwieglern zum Völkermord, Anstiftern von Folte44

rungen und Massakern, kurz, an die verschiedenartigsten Urheber oder auch nur Mithelfer von Kriegsverbrechen, die am dramatischen Geschehen beteiligt waren und dabei ihren Namen mit einem entsetzlichen Ruf befleckten. Die ganze Barbarei, derer die Menschen überhaupt fähig sind, wird sich offenbaren. Sie wird ihre üblen Machenschaften am helllichten Tag entfalten. Man wird viele unschuldige Opfer zählen müssen. Das zu ertragen wird zweifellos allen besonders schwerfallen. Doch so sind die Geschehnisse in dieser Art von Tragödie. Es wird viele für Verbrechen Verantwortliche geben unter den handelnden Personen, aber auch die Zuschauer im In- und Ausland werden sich ihrer Verantwortung nicht entziehen können. Denn im Theater der Menschheit, bei ihren Tragödien, befinden sich die Akteure nicht nur auf der Bühne. Auch das Publikum ist miteinbezogen, selbst wenn das Rampenlicht nicht auf die Zuschauer gerichtet ist. Niemand von ihnen entgeht völlig der Verantwortung hinsichtlich all des Elends und der Not, die sich auf der Bühne häufen. Deshalb dürfte niemand eine gleichgültige, passive Haltung einnehmen. Es genügt sicherlich nicht, Bestürzung und Ekel bloß selber zu empfinden. Man muss diese Gefühle zum Ausdruck bringen und versuchen, auf die Gräuel aufmerksam zu machen. So kann es gelingen, auf die Geschehnisse einen wenn auch noch so bescheidenen Einfluss zu gewinnen, der dazu beitragen könnte, das Grauenvolle abzuwenden oder wenigstens in Grenzen zu halten.

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IX. Morgenspaziergang

Der Stradun gegen Morgen 46

Nach dem Frühstück mache ich mich gleich auf den Weg in Richtung Altstadt. Auf der Straße, die zum Stadttor von Ploče führt, das heißt zum südöstlichen Zugang, begegne ich Passanten, die einen Olivenzweig in der Hand tragen. Für die Segnung in der Kirche, sage ich mir. Es ist Palmsonntag, und zu ihm gehört ein solches Zeremoniell, traditionell vor dem Hochamt. Damit wird die Liturgie der Karwoche eingeleitet. Offensichtlich segnet man hier Olivenzweige, nicht den Buchs wie bei uns daheim. Die Stadt kenne ich ziemlich gut, da ich sie schon zweimal besucht habe, immer zu dieser Jahreszeit, mit Ankunft am Tag vor Palmsonntag. Deswegen wird sie mir keine großen Überraschungen mehr bereiten können. Wie es aber zu geschehen pflegt bei einem wiederholten Besuch, verdoppelt die Wiederentdeckung eines Ortes, den zu erkunden und zu erleben es uns schon früher gegönnt war, den Reiz von dessen Bildern, die sich bereits in unserem Besitz befinden, da sie in unser Gedächtnis eingeprägt sind. Sie enthält zwar nicht mehr den Zauber der ersten Begegnung, doch weiß ich bereits im Voraus, dass in der Empfindung etwas hinzukommt, das ich sehr schätze: Die Wiederholung hat etwas ganz Besonderes an sich, nämlich die Freude der Wiederkehr, des Wiedersehens. Das Beste ist, zuerst auf die Wälle zu steigen. Eine wunderbare Aussicht auf die Stadt und ihre Festungsanlagen sowie auf die Landschaft, besonders auf das Meer, wird mich dort erwarten. Danach möchte ich wieder einige der siebzehn Kirchen besuchen, die Dubrovnik zählt. Indem ich dies tue, werde ich erneut erleben, wie dieser der Palmweihe gewidmete Tag hier in Kroatien begangen wird. Aus Erfahrung weiß ich, dass die sonntägliche Atmosphäre in den Kirchen nicht nur für Gebet und Andacht günstig ist, sondern auch für die Betrachtung der Reichtümer sakraler Kunst. In den Kirchen findet das Schöne stets einen Platz, und möge dieser auch noch so bescheiden sein. Die festtägliche Entspannung beim Besucher, gepaart mit der Feierlichkeit der Zeremonien, fördert die ästhetische Lust an der Architektur, der Malerei und, nicht zu vergessen natürlich, der Musik. Auch sind die religiösen Kulthandlungen selber von einer nicht zu leugnenden Ästhetik geprägt. Über die religiöse Kunst ließe sich so manches sagen. Nicht nur regt sie die Spiritualität bei Gläubigen und Besuchern an, sondern sie steht auch im Dienste des Kultus. Also ist sie kein Zweck an sich, da sie auch praktische und zugleich pastorale Ziele verfolgt: Es gilt, den materiellen Rahmen der religiösen Praktik zu verschönern und damit zur Erbauung der Gläubigen beizutragen, zu ihrer Frömmigkeit, selbst zu ihrer Belehrung. 47

Die Griechen der Antike, besonders Plato, sahen eine enge Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten. Der Schönheit maßen sie also auch einen ethischen Wert bei. Sie galt ihnen zugleich als das Gute, und umgekehrt konnte das Gute für sie nicht bestehen ohne das Hinzukommen des Schönen. So wollten sie die Schönheit sogar bis hinein in die Sitten und Gesetze verwirklicht sehen. Heute trennen wir sorgfältigst die beiden Gebiete. Jedes muss seine Unabhängigkeit und seine Authentizität gegenüber dem anderen behalten. Wahr bleibt aber immer noch, dass die ästhetische Kontemplation, indem sie uns dazu führt, nach einer besseren, idealeren Welt zu streben, imstande ist, unsere Gesinnung – und folglich auch unser Verhalten – zu läutern. Allerdings wird die Schönheit in der Kunst der Gegenwart nicht mehr für unentbehrlich gehalten. Gewisse Künstler und Kritiker möchten sie sogar total ausgeschlossen wissen. Sie tauschen sie aus gegen alle möglichen Sorten von Geschicklichkeiten und Kunststücken, um nicht zu sagen Tricks. Dabei geht man jedoch dieses mächtigen Ansporns verlustig, der beim Betrachter ein erhabenes, befreiendes Gefühl hervorruft, wenn er einem wahrhaft schönen Kunstwerk begegnet.

1. Am Stadttor von Ploče Wer von Südosten her Zugang gewinnen will zur Stadt, muss durch das Fort Revelin gehen, eine Art unabhängige Festung. Man sagt auch einfach „Revelin“, als würde es sich um einen Ortsnamen handeln. Interessant ist es, die Herkunft des Namens zu kennen. Das Wort „revelino“ bezeichnete generell Festungsanlagen, die vor den Mauern der Stadt errichtet waren, sich also extra muros befanden, und die man dazu bestimmte, eine besonders empfindliche Stelle des Verteidigungssystems zu verstärken. Eine steinerne Brücke führt hier zu einem ersten Tor. Um es zu erreichen, muss man zuerst über eine Zugbrücke gehen. Daraufhin durchquert man das alte Glacis, das früher mit dem Meer verbunden war, aber heute mit Mauern umgeben ist, während auf den drei anderen Seiten ein breiter Graben die Anlage vom Lande trennt. Zu meiner Rechten erheben sich jetzt Wände mit bewunderungswertem, wahrhaft zyklopenhaftem Aussehen, die mich aber auch wegen der geometrischen Umrisse ihrer Konstruktion in Staunen versetzen. 48

In dieser martialischen Umgebung treffe ich gleich auf eine der Besonderheiten, denen Dubrovnik seine Schönheit verdankt: Es ist der helle, ockerbeige Sandstein, der wunderbar zu dem Blau des Himmels passt – besonders wenn es ein dunkles Blau ist – und ebenfalls zu dem Ziegelrot und orange der Dächer sowie dem Grün der Pflanzenwelt sowohl in der Stadt als auch in ihrer Umgebung. Das Fort Revelin ist eine der beiden Eck-Festungen der Stadt Dubrovnik. Es hat zum Pendant das imposante Fort Lovrijenac, das sich majestätisch nahe der nordwestlichen Flanke der Stadt erhebt. Seine Erbauung im 16. Jahrhundert dauerte elf Jahre, und wir verstehen, welch große Bedeutung sie für den Senat hatte, wenn wir erfahren, dass er während der Arbeiten den Betrieb an allen anderen Baustellen der Stadt einstellen ließ, um über genügend Arbeitskräfte zu verfügen. Mit der Befestigung des Stadttors von Ploče – das heißt ja des Zugangs zur Stadt im Südosten, vom Lande her – wollte man nämlich die wohl dringendste Angelegenheit in puncto Festungsanlagen zu einem Zeitpunkt erledigen, da die Seemacht Venedigs, der furchterregenden Nachbarin an der gegenüberliegenden Küste, sich als besonders bedrohlich erwies.

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Der heilige Blasius zum Schutz des Ploče-Tors 50

Also betrete ich die Altstadt durch das Ploče-Tor, nachdem ich die kleine Brücke passiert habe, die auf der anderen Seite der Revelin-Festung den Graben überspannt. Über dem romanischen Bogen des Tors ist eine Statue des heiligen Blasius, des Schutzpatrons der Stadt, angebracht. Es ist eine Skulptur aus demselben Material, das heißt, aus dem ockerfarbigen Sandstein. Auf seiner linken Hand trägt der Heilige ein kleinformatiges Modell der älteren, mittelalterlichen Stadt, wie sie aussah vor 1667, dem Jahr, da ein schreckliches Erdbeben massenhaft Verwüstungen anrichtete. Die Darstellung ist für die Stadt eine Art Emblem, dem man an mehreren Stellen begegnet. Lange Zeit hindurch schmückte sie auch ihre Münzen, Siegel und Fahnen. Blasius, Bischof von Sebasta in Armenien, erlitt den Märtyrertod unter Diokletian, der römischer Kaiser war von 284 bis 305. Seit 972 widmen die Einwohner Dubrovniks ihm einen eifrigen Kult. Eine Legende erzählt nämlich, dass er in jenem Jahr die Stadt durch ein Wunder rettete. Venezianische Galeeren hätten ihr gegenüber Position bezogen, nahe der Insel Lokrum sowie im Norden, in der Bucht von Gruž. Unter dem Vorwand, sich verproviantieren zu wollen mit Wasser und Nahrungsmitteln, bevor sie ihre Fahrt nach Osten fortsetzten, baten die Venezianer um die Gastfreundschaft der örtlichen Autoritäten. Diese wurde ihnen gewährt, doch benutzten sie hinterlistig die Gelegenheit, um die Verteidigungsanlagen auszuspionieren mit der Absicht, einen Angriffsplan aufzustellen. St. Blasius aber ist dann dem Priester Stojko, dem Pfarrer der Kathedrale, im Traum erschienen, um ihn über das heimtückische Vorhaben ins Bild zu setzen. Dieser konnte die Mitglieder des Rates vor der Gefahr, die der Stadt drohte, warnen – und so wurde Dubrovnik gerettet. Daher kam es, dass der heilige Blasius zum Schutzpatron der Stadt proklamiert wurde. Jedes Jahr wird sein Fest am 3. Februar begangen, besonders mit einer feierlichen Prozession, in der seine Reliquien unter lebhafter Beteiligung des Volkes durch die Straßen getragen werden. Ein Ereignis von ganz besonderer Schönheit, ein malerischer Vorgang, religiös und folkloristisch zugleich. An dieser Prozession nehmen nicht nur die hohen Geistlichen ohne Ausnahme teil, sondern ebenfalls zahlreiche Volksgruppen in ihren nationalen Trachten. Ein Wunder? Ja, doch wissen wir, dass das Wort „Wunder“ verschiedene Bedeutungen bat. Da gibt es zuerst den erweiterten Sinn, der häufig in unseren Gesprächen vorkommt: Man nennt so ein Ereignis, das uns in einer mehr oder weniger schwierigen Situation gegen alles Erwarten geholfen hat, uns vielleicht rettete. 51

Man bezieht sich hier normalerweise nicht auf das Übernatürliche. Tut jemand es dennoch, dann handelt es sich gewöhnlich um eine private Glaubenssache. Der vorliegende Fall ist insofern anders, als sich in ihm anfangs eine gewisse historische Wahrheit befindet. Diese hat man dann, so vermute ich, in eine fromme Legende umgewandelt, wie das so oft zu geschehen pflegt. Wie zahlreiche ähnliche Erzählungen, findet man sie ergreifend. Eine gewisse Volksreligiosität kommt dabei auf ihre Kosten. Lässt Goethe seinen Faust nicht sagen: „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“? Kann es sich dabei auch um das Eindringen des Übernatürlichen in den natürlichen Lauf der Dinge handeln? Das ist die Frage, die sich unweigerlich stellt. Man gibt darauf weder mit einem Ja noch mit einem Nein eine sichere Antwort. Offiziell verhält die Kirche sich in solchen Angelegenheiten sehr zurückhaltend. Sie hat recht, falls wir darauf bestehen, das Wort „Wunder“ in dem eben genannten verstärkten Sinne zu gebrauchen. Für ein Nein gibt es naturgemäß keinen Beweis. Andererseits ist es zweifellos schwer, selbst für den gläubigen Menschen, wenn nicht sogar unmöglich, eine übernatürliche Einwirkung zu akzeptieren. Man spricht dann allerdings nur insofern von einem Wunder, als man keine natürliche Erklärung ausfindig machen kann. Das geschieht speziell bei medizinischen Fällen, die man nicht mehr auf eine rational-wissenschaftliche Weise zu deuten vermag. Logisch gesehen darf man aber nicht vollkommen ausschließen, dass eines Tages selbst für solche Fälle ein wissenschaftliches Erklärungsschema bereitstehen könnte. Dadurch wird der Gebrauch des Wortes „Wunder“ schließlich auch in diesem Sinne für die menschliche Vernunft stets fraglich bleiben. Was in diesem Fall an erster Stelle infrage kommt ist, wie mir scheint, eine gewisse Mentalität der Gläubigen. Tatsächlich kann man sich durchaus vorstellen, dass die Stadt ganz unerwartet gerettet wurde dank der Wachsamkeit und der Beihilfe eines geistlichen Herrn. Die Bevölkerung fühlte sich befreit und erleichtert, da ein so gefährlicher Feind in die Flucht geschlagen wurde und sie dadurch einer Katastrophe entgangen war. So ist es nicht erstaunlich, dass sie ein Gefühl tiefster Dankbarkeit empfand. Dieses musste so groß gewesen sein, dass sie es nur an Gott selbst richten konnte oder an einen seiner Heiligen, dessen Fürsprache, so glaubte sie, ihr in dieser Stunde der Gefahr Rettung gebracht hatte. Die Volksfrömmigkeit beruhigt die Gemüter, sie verleiht ihnen Sicherheit. So erzählte man sich bei uns in alten Zeiten, die Muttergottes – in Luxemburg verehrt als Stadt- und Landespatronin seit dem 17. Jahrhundert, die „Trösterin der 52

Betrübten“ – sei Soldaten auf den Festungswällen begegnet. Hier wurde man an die Gefahren erinnert, die mit den Kriegen verbunden waren, und der Glaube an eine übernatürliche Gegenwart gewährte den Menschen in der Not Hilfe. Ich denke auch an die Verehrung der heiligen Barbara, die bei unseren Grubenarbeitern früher großen Anklang fand. An Legenden fehlte es auch hierzu nicht. Noch heute weiß man zu erzählen von Fällen, da die Schutzpatronin der Bergleute eingegriffen hätte, um bei einem Grubenunglück Menschenleben zu retten.

2. Das Dominikanerkloster Mein Weg geht weiter über die schmale Straße, die ins Zentrum der Altstadt führt. Ich brauche nur eine kurze Strecke zurückzulegen, bis zu meiner Rechten, hinter dem stattlichen Fort Revelin und ganz nahe an den nach Osten gelegenen Festungsmauern, der breitausladende architektonische Komplex des Dominikanerklosters gravitätisch auftaucht. Die Konstruktion reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Das Kloster entstand im Laufe von zweieinhalb Jahrhunderten. Der Glockenturm wurde sogar erst im 18. Jahrhundert fertiggestellt. Es ist also nicht verwunderlich, hier mehrere Baustile anzutreffen, von der Romanik bis zum Barock. Ich kann dem Wunsch nicht widerstehen, die Kirche zu betreten. Ihr Äußeres entbehrt jeglicher Verzierungen, aus Respekt vor einer Regel des Dominikanerordens. Diese Schmucklosigkeit hat etwas zutiefst Beeindruckendes an sich: Die Nüchternheit wirkt auf den Betrachter sowohl bedrückend als auch befreiend. Der Geist der Armut – man sollte sogar sagen können, die asketische Strenge im Allgemeinen – kommt in ihr zur Geltung. Dementsprechend wirkt auch das Innere des Gotteshauses ziemlich schlicht, um nicht zu sagen dürftig: nackte Wänden aus alten, grob gemeißelten und unregelmäßig aneinandergefügten Steinen. Jedenfalls geht eine tiefe Atmosphäre der Entsagung von dem rohen Stein aus an denjenigen Stellen, wo die Mauern nicht mit Putz überzogen sind und dadurch einen eher ärmlichen Eindruck erwecken. Doch kann der Betrachter feststellen, dass alles sauber erhalten und gepflegt ist. Auch hat hier die Kunst mehr als einen Platz gefunden, und der Gesamtarchitektur mangelt es nicht an Schönheit. Das Kirchenschiff – es gibt nur ein einziges – ent53

hält, besonders an den Seitenaltären, barocke Verzierungen, und man entdeckt in ihm auch einzelne Kunstobjekte. Die Dürftigkeit der Wände wird noch verstärkt durch den Kontrast mit den Kunstwerken, unter denen sich besonders Gemälde sowie ein steinernes Mobiliar hervortun. Der Raum besteht aus einem einfachen Rechteck, das in einer fünfeckigen Apsis endet. Von ihr ist er getrennt durch eine Konstruktion, die wesentlich aus drei hohen, mit gotischen Spitzbögen versehenen Durchgängen gebildet ist, wobei der mittlere, der verständlicherweise auch der breitere ist, die Sicht auf den eigentlichen Chor mit dem Altar freigibt. Beim Eintreten wird der Blick gleich gelenkt auf die Kreuzigung, die über dem Zutritt zum Chor angebracht ist. Das Werk, auf Holz gemalt, stammt von dem venezianischen Künstler Paolo Veneziano (1300–1362). Ich atme tief die kühle Luft ein, die den Raum erfüllt. Sie ist geprägt von dem besonderen, leicht herben Duft, der charakteristisch ist für Kirchen, die nur wenig gelüftet werden und denen es an Heizung fehlt. Er besteht aus einer Mischung von Weihrauch, Kerzen, Blumen und alt gewordenem Baumaterial. Die jahrhundertealten Wände wachen friedlich über diesen Ort, an dem totale Stille herrscht, wie es in leeren Kirchen zu sein pflegt. Zu dieser morgendlichen Stunde gibt es nämlich keine weiteren Besucher, was an sich nicht erstaunlich ist, denn die Gottesdienste haben noch nicht begonnen und in der ganzen Stadt scheint es überhaupt an Touristengruppen zu fehlen. Das Alleinsein wirkt bei mir fördernd auf Gemüt und Konzentration. Ich kann mich einfühlen in den sakralen Raum, der schon so lange Zeit der Religiosität gedient hat und die Geistigkeit, von der er geprägt ist, geradezu ausstrahlt. Die Stille in der Kirche lässt denken an das Schweigen unter den Mönchen, dessen diese für ihre innere Sammlung bedürfen. Es herrscht Totenstille, die Stille der Toten, denn dieses Gotteshaus ist auch ein großer Friedhof. Das ist ergreifend, fast beklemmend: Der Boden ist stellenweise bedeckt mit Grabplatten, die Jahrhunderte hindurch von tausenden Füßen poliert wurden, und an deren Inschriften man ersehen kann, dass er einst als Bestattungsort für Einwohner der Stadt diente. Ruhe der Toten, der vielen sterblichen Überreste, von denen mit Sicherheit fast nichts mehr besteht, höchstens einige Knochenreste sowie ein Hauch unbedeutenden mikroskopischen Staubes. Die körperliche Zersetzung endet praktisch in der totalen Nichtigkeit. So gesehen bedeutet sie Befreiung von jeglicher materiellen Last. Also Eingehen des Seins ins Nichts? Hier aber stockt 54

das Denken. Die Vernunft tut sich schwer mit einem solchen Gedanken. Eigentlich scheitert sie daran. Doch ist der Hinweis auf Sinnlosigkeit nicht die Antwort auf die so brennende Frage. Kann ein Nichts überhaupt existieren? Gemäß unserer herkömmlichen Logik eigentlich nicht. Deshalb ist es auch erlaubt, weiter zu grübeln. Aber Gewissheit kann es nur im Glauben geben. Könnte der Tod also vielleicht das Eingehen in eine neue Existenz sein, eine ganz andere, über die wir mit unserem Denken zwar meditieren, ohne aber davon eine Vorstellung zu besitzen? Die Kirche als Begräbnisstätte. Gedanken über den Tod und das Jenseits: Der Leib verwest. Aber der Geist? Das Denken des Besuchers wird geleitet in eine Welt, die von Geistigkeit beherrscht ist und sich mit den Sinnen nicht erfassen lässt. Die extreme Nüchternheit wird für den gläubigen Menschen hier zu einer Öffnung hin auf das Übernatürliche, das bloß auf geistigem Wege erkundbar ist und schließlich nur ausgedrückt werden kann mithilfe von Symbolen. Der Kontrast gewinnt anschließend noch an Glanz, wenn der Besucher den Ausgang an der Nordseite benutzt, der zu weniger geistlichen Realitäten zurückzuführen vermag, wenngleich diese einen engen Bezug haben zu der Atmosphäre im Innern der Kirche. Er gelangt in einen Kreuzgang von seltener Schönheit, der im 15. Jahrhundert nach Plänen des Florentiner Meisters Masso di Bartolomeo (1406–1456) entstand. Ein stiller Platz im Kloster, der zugleich dem Gebet und der Erholung gewidmet ist. Er ist in diesem Augenblick überflutet von dem sanften Licht der Morgensonne. Auf ganz eigene, von der Architektur und der Bildhauerkunst geförderte Weise herrscht hier Lebendigkeit, die den Stein mit einer üppigen Pflanzenwelt geschickt verbindet. Welch ein starker Gegensatz zum Kirchenschiff, das zu Verzicht und Entsagung einlädt! Eine prachtvolle, delikate Broderie in Stein gehauen, bestehend aus dreiteiligen Arkaden und nach oben hin gekrönt von Ecksteinen, die mit kleeblattförmigen Öffnungen versehen sind, bildet den Rahmen, der den Gang vom inneren Hof mit Garten trennt. Die Kapitelle, alle verschieden untereinander, leisten hierzu einen bilderreichen, manchmal sogar pittoresken Beitrag. Den mit Platten bedeckten Hof säumen die erlesenen Pflanzen eines kleinen Gartens, aus dem Palmen und Orangenbäume hervorragen. In der Mitte steht ein Brunnen, der eine steinerne Krone trägt. Hier, in der klösterlichen Stille, atmet überall Leben. Das Wasser ist dafür das wichtigste Element. Die Krone erscheint als ein Symbol für Macht, Würde und Reichtum. 55

Kreuzgang der Franziskaner – der Ruhe und dem Gebet gewidmet Ein Hort des Friedens. Einer jener Orte, wo die Zeit stillsteht, um in eine ewige Gegenwart zu münden. Ewigkeit in der grenzenlosen Vertiefung des Erlebens. Entsagung wird dann zur Fülle. Das üppige Grün des Gartens, verbunden mit der zur Poesie gewordenen Architektur des Kreuzgangs und in nächster Nähe der Grabesplatten, die den Boden der Kirche bedecken, erinnert mich an eine Stelle im vierten Essay der Noces von Albert Camus, der den Titel trägt Le Désert, und Jean Grenier, dem Lehrer des Schriftstellers, gewidmet ist. Dort berichtet Camus, wie er ein Franziskanerkloster in Fiesole besucht hat. Er spricht von „einem kleinen Hof voll roter Blumen, voll Sonne und voll schwarzgelber Bienen“ und, gleich danach, von den Zellen der Mönche „mit ihren kleinen, mit einem Totenkopf geschmückten Tischen»“ Er fühlt sich merklich angezogen von jenen Menschen, „die wissen, dass ein extremer Punkt von Armut stets dem Überfluß und Reichtum der Welt gleichkommt“. Materielle Ärmlichkeit kann unter Umständen Reichtum bergen. Sie vermag anregend zu wirken nicht nur auf den Geist, sondern selbst auf die Sinnlichkeit, hauptsächlich, wenn man jung ist – wie im Falle von Camus, der dreiundzwanzig 56

Jahre zählte, als er diese Tour nach Florenz unternahm. Wir können allerdings auch einer Sinnlichkeit begegnen, die stark durchdrungen ist von Geistigkeit. Gerade davon ist an dieser Stelle des Essays die Rede. Daher kommt es, dass es zu Recht eine hedonistische und sensualistische Deutung der Geistigkeit gibt. Reine Geistigkeit genießen – das klingt vielleicht fremdartig, entspricht aber einer bekannten Erfahrung, die auch einfache Menschen machen, selbst wenn sie sich dessen kaum bewusst sind. Jedenfalls ist im Leben der Mönche die materielle Armut gepaart mit bestimmten körperlichen Entbehrungen. Hinzu kommt, dass die Vertiefung geistigen Suchens an strenge Regeln gebunden ist. Plato war der Ansicht, dass die Weisheit, die er als Grundtugend auffasste, sich nur insofern entwickelt, als der Intellekt es versteht, sich loszulösen vom Körper. In der Askese strebt das mönchische Leben danach, diese Lehre zumindest in einem gewissen Maße zu verwirklichen. Dort dominiert die Dualität von Seele und Körper, wie das Christentum sie vertritt und verbreitet. Der Geist muss gestärkt werden, gereinigt und befreit mittels entsagender Beherrschung des Körpers. Doch auch in der strengsten Askese bleibt natürlich der Geist auf den Körper angewiesen. Beziehungen also zwischen Geist und Körper: Wie diese genau zu verstehen sind, bleibt wissenschaftlich gesehen immer noch vielfach rätselhaft, falls man sich nicht mit einer oberflächlichen Erklärung begnügen will. Selbst den am weitesten fortgeschrittenen Forschungsarbeiten der heutigen Neurophysiologie gelingt es nicht, zu diesem Problem einhellige und befriedigende Lösungen zu finden.

3. Der Platz Luža Diesen Ort, wo die Spiritualität fast zu einer greifbaren Wirklichkeit geworden ist, verlasse ich ungern. Doch weiß ich, dass mir noch ein langer Weg bevorsteht. Ich schreite jetzt schneller aus, um das Zentrum der Altstadt zu erreichen. Nach einigen Minuten gelange ich schon zum Gewölbe des inneren Tores, das durch zwei elegante Arkaden mit ihren gotischen Bögen hindurch zum Luža-Platz führt. Der Durchgang wird „Luža-Tor“, auch „Zoll-Tor“, genannt. Er trägt das alte Glockenhaus, die Luža aus dem 15. Jahrhundert. Für einige Augenblicke tauche ich in den Schatten der Passage ein, dann aber werde ich plötzlich, wie auf den Schlag eines Zauber57

stabs hin, von einem Licht überflutet, das alles mit seiner blendenden Helligkeit erfüllt – der Kontrast ist überwältigend: Der herrliche Luža-Platz liegt vor mir. Auf einmal, welch eine Faszination! In einem spontanen Elan überschaue ich den Platz mit einem einzigen Blick, geradezu blitzartig. Ich drehe mich, ich wende mich, meine Augen gehen hin und zurück. Dann erst nehme ich mir die Zeit, um in aller Ruhe die Runde zu machen und mich auf das Panorama im Einzelnen zu konzentrieren. Ich staune immer mehr. Dubrovnik, eine Stadt wie ein Museum? Das ist sie mit Sicherheit hauptsächlich, weil sie auf engem Raum einen reichen Fächer architektonischer Stile vorzuzeigen hat. Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt, ein feiner Kenner auf diesem Gebiet, nannte einst Dubrovnik einen „Staat als Kunstwerk“.

Die Avenue, genannt Stradun, Placa, sehr besucht erst um die Mittagsstunde Mir gerade gegenüber, in der Achse des Luža-Tores, flammend in der Sonne wie die ausgestreckte Schwertklinge eines Riesen, liegt der „Stradun“, auch „Placa“ genannt, die breite Avenue, die durch die Stadt führt und sie in ihrer Mitte teilt. Sie 58

glänzt mit ihren neuen Platten aus weißem Marmor. Zu dieser frühen Stunde gibt es hier nur einige Passanten. Natürlich bedeutet die feiertägliche Ruhe für viele Bewohner die willkommene, mehr oder weniger verdiente Gelegenheit, sich ordentlich auszuschlafen. Die Prachtstraße ist fast menschenleer. Das hat den Vorteil, sie in ihrer ganzen majestätischen Größe erscheinen zu lassen, die betont wird durch die geometrische Harmonie der sie säumenden Häuserreihen. Es sind dies barocke Bauten, die sich in der Höhe nahezu gleichkommen und ausgestattet sind mit streng gemessenen, schmucklosen Fassaden. Die Erdgeschosse enthalten kleine Läden oder Cafés. Sämtliche Häuser entsprechen dem gleichen architektonischen Schema. Ihre Ausrichtung bedeutet einen wahren Triumph der Perspektive, denn die horizontalen Linien sind auf das Pile-Tor zentriert, das genau gegenüber den Haupteingang zur Stadt bildet. Ich kann dieses Tor drüben am Ende erkennen. Die „gute Stube der Stadt“, so sagt man hier, ein Ort für Spaziergänge und Begegnungen, hauptsächlich sonntags – ich werde noch die Gelegenheit bekommen, dies zu erleben. Zu meiner rechten Seite erhebt sich der Sponza-Palast mit seinem breiten romanischen Säulengang und seiner mit viel Feinheit gezeichneten, malerischen Fassade, deren Stil aus einer Mischung von Renaissance und Gotik besteht. Er ist bereits sehr alt, denn er konnte den schrecklichen Verwüstungen entgehen, die durch das Erdbeben von 1667 entstanden sind. Es ist dies ein wichtiges Gebäude, da in ihm einst insbesondere die Zollverwaltung, die Werkstätten des Münzamtes der Republik, die staatliche Finanzverwaltung und die Bank untergebracht waren. Niemand zweifelt daran, dass die Macht Dubrovniks seinem Handel zu verdanken war. Alles in allem können wir sie vergleichen mit derjenigen der italienischen Republiken von früher, wobei natürlich hauptsächlich an Venedig zu denken ist. Zum Glück verstand es die städtische Aristokratie von damals, ihre Erfolge auch mittels Kunstwerken zu bekunden, hauptsächlich auf dem Gebiet der Architektur. Die Kunst war für sie ganz sicher kein Zweck an sich. Aber wenn sie die Ästhetik in den Dienst ihrer Macht stellte und daraus größten Gewinn zog, hat sie es zustande gebracht, die Schaffung von Werken in die Wege zu leiten, deren Wert über ihre Zeit hinausreicht. Damit konnte sie die Lebensqualität der Einwohner erheblich steigern und ihren Besuchern Freude bereiten. Seit 1979 ist Dubrovnik zu Recht eingetragen in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. In anderen Worten: Der Reichtum der vergangenen Jahrhunderte hat nicht aus59

schließlich dem Geschmack einer Elite der Bevölkerung gedient. Er bedeutete weit mehr. Was davon in die Kunst investiert wurde, zieht weiterhin die Menschen in ihren Bann und bezaubert ein Publikum, das heute aus allen Teilen der Welt herbeiströmt. Schräg gegenüber dem Sponza-Palast trägt die barocke Fassade der St. Blasius-Kirche die ganze Mannigfaltigkeit ihrer ornamentalen Skulpturen zur Schau. Der Bau, mit seiner ovalen Kuppel im Zentrum, dominiert den Platz zu meiner Linken. Er bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu der Nüchternheit der Häuser auf beiden Seiten des Straduns. An den Stufen, die zu dem Vorplatz der Kirche führen, an zentraler Stelle auf dem Luža-Platz, erhebt sich die stattliche Roland-Säule mit ihrer imposanten und zugleich gefälligen gotischen Statue des Ritters. Hinter mir, ebenfalls zu meiner Linken, ragt der schlanke Turm, den man hier „Uhrenturm“ nennt, in seinem strahlenden Weiß gegen Himmel. Er erreicht eine Höhe von 35 Metern und ist angelehnt an die alte Hauptwache, deren einfache Fassade, mit den drei kleinen gotischen Fenstern, in ihrem unteren Teil ein monumentales, im Barockstil üppig verziertes Portal aufweist und nebenan eine Nische, die dem Kleinen Onofrio-Brunnen zur Kulisse gereicht. Es folgen dann, auf einer Linie, die wahrlich an ein Architektur-Museum unter freiem Himmel denken lässt, das Rathaus, auch „Gemeindepalast“ genannt, sowie der Rektorenpalast. Den Hintergrund füllt die leuchtende nördliche Seitenfassade der Kathedrale Mariä Himmelfahrt, überragt von deren hoher, eleganter Kuppel. Dieser Bau, der an die barocken Kirchen Roms erinnert und gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstanden ist, vollendet den prachtvollen Rundblick.

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Die Rolands-Säule 61

4. Aufstieg zu den Wällen Um den Zugang zu den Wällen der Stadt auf der Seite zum Meer hin zu erreichen, muss ich in Richtung Kathedrale gehen. Das gibt die Gelegenheit, den „Gemeindepalast“ genauer zu betrachten. Er ist ein neueres Gebäude, dessen heutiges Aussehen aus dem 19. Jahrhundert stammt und geschickt angepasst ist an die stilistische Vielfalt des Luža-Platzes. Dann natürlich der gravitätische Rektorenpalast. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch seiner zahlreichen Räume. Sie sind fürstlich eingerichtet in verschiedenen antiken Stilen, was dem Besucher erlaubt, in das Ambiente der entsprechenden historischen Epochen einzutauchen und mit seiner Einbildungskraft sich das Leben auszumalen, wie es sich damals in den vorhandenen Prunksälen und Gemächern abgespielt haben musste. Doch mein Blick bleibt längere Zeit an der Fassade haften. Es handelt sich um eine einzige Etage, an der man mit viel künstlerischem Können eine Reihe schmuckvoller gotischer Fenster angebracht hat. Diese dominieren die sechs großen Arkaden der geräumigen Säulenhalle, die geprägt ist vom Geist der Renaissance. Das Ensemble, wie überhaupt der Bau, geht zurück auf das 15. Jahrhundert. Auch hier wiederum, wie bereits im Kreuzgang des Dominikanerklosters, sind es die Säulenkapitelle, die mit ihren feinen Skulpturen dem Ganzen die Verzierung verleihen. Sie sind ein figuratives Element, das auf eine originelle kunstvolle Weise die Gleichförmigkeit der Arkaden unterbricht. Hier, wie so ziemlich überall in Dubrovniks Altstadt, kann das Auge des Besuchers sich weiden an den harmonischen Proportionen der Architektur, die eine Wohltat für Blick und Geist sind. Nichts wirkt hier extravagant oder exzessiv, nichts kann durch Maßlosigkeit die Perspektiven erdrücken, nein, man hat es zu tun mit einer ruhigen, ausgeglichenen Schönheit, zu der man einen leichten und angenehmen Zugang findet. Selbst die gewaltigen Konstruktionen der Festungsanlagen fügen sich vortrefflich in das Gesamtbild ein. Innerhalb der Festungsmauern durfte man natürlich nicht in einem zu großen Maßstab bauen. Deshalb zeichnet sich dort die Schönheit durch ein vernünftiges Gleichgewicht aus. In Dubrovnik sind die Gebäude in ihren Maßen sorgfältigst untereinander abgestimmt, sowohl in sich selbst als auch in ihrem Verhältnis zu den an62

dern. Hinzu kommt, dass die Altstadt aus der landschaftlichen Umgebung reichlich Gewinn zu ziehen vermag. Welchen Blickwinkel in ihr auch immer der Betrachter wählen mag, sie weist stets eine prächtige Kulisse auf, die einerseits aus dem Meer besteht, andererseits aus den teils steinigen, teils bewaldeten Abhängen des St. Sergius-Berges. Vorläufig nehme ich mir die Kathedrale Mariä Himmelfahrt nicht zum Ziel, denn ich möchte so schnell wie möglich den Ausblick auf die Weiten der See genießen. Das Meer ist jetzt schon ganz in der Nähe. Ich spüre es, als ob es sich um ein lebendiges Wesen handelte. Obschon ich es noch nicht höre, vermute ich es hinter den Dachfirsten und erkenne es an dem lauen, salzigen Wohlgeruch. Mein Weg macht einen Haken, bevor er den pittoresken Platz Gundulićeva poljana durchquert. Noch ein Salon unter freiem Himmel, ein städtischer Raum der Begegnung, viel kleiner als der Stradun, dagegen aber vertraulicher und anmutiger. Er ist umrahmt von alten Häusern und wird von seiner Mitte aus beherrscht durch eine massive Bronzestatue Yvan Gundulićs, des bedeutenden Dichters des 17. Jahrhunderts, der einer Patrizierfamilie aus Dubrovnik entstammte. Die imponierende Bronzefigur erhebt sich stolz auf einem Sockel, dessen vier Seiten mit einem Tiefrelief geschmückt sind. Ohne mich aufhalten zu lassen, begebe ich mich in Richtung der in ihrem Alter zwar arg beschädigten, aber immer noch prunkvollen barocken Treppe, die zum Jesuitenkollegium und seiner Kirche hinaufführt. Ihre Stufen leiten mich an der in ihrer Mitte horizontal verlaufenden Balustrade entlang, die sich harmonisch auf dem breiten Vorplatz eines imposanten Portals entfaltet. Es wird überragt von einem extravaganten, üppig verzierten steinernen Ensemble, dessen zahlreiche Skulpturen dazu dienen, das große runde Zifferblatt einer Uhr zur Schau zu stellen. Die Treppe ist zweifellos ein beachtenswertes Kunstwerk. Hier begegnet man noch einem Stück Romantik. Trotz ihres schadhaften Zustandes legt ihre Architektur Zeugnis eines gewissen Luxus früherer Zeiten ab. Sie lässt an alte verlassene Schlösser denken, deren einstige prachtvolle Parkanlagen von einer wild wachsenden Pflanzenwelt überwuchert sind, dort, wo einst adelige Familien spazierten, ihre Kinder spielen ließen, als es an den Wegen noch in Marmor gehauene, sagenhafte heidnische Gottheiten gab, und die Wiesen nachts bezaubert wurden vom Tanz der Elfen und besucht von wer weiß welchen Kobolden einer längst versunkenen Märchenwelt. Meine Phantasie läuft Gefahr, abzuschweifen. Doch, so denke ich mir, ein wenig träumen kann keinem Menschen schaden. Der Name des Dichters Joseph von Eichendorff kommt mir in den Sinn, und ebenfalls derjenige des Malers Moritz von Schwindt. Eigentlich ist es aber eher die Schulzeit, woran dieser bemerkens63

werte Bau mich erinnert, die Pünktlichkeit, die von Schülern wie von Lehrern zu befolgen ist, die Disziplin, die Studien, die Examina, kurz, der Alltag im Leben der Schule, dem es sicher ebenfalls nicht an Poesie mangelt – übrigens auch nicht an Freude, trotz der manchmal strengen Zwänge, die er auferlegt. Der Aufstieg geht schnell. Ich habe es eilig, denn schließlich bin ich auf der Suche nach dem Eingang zu dem Wall, der mir den so begehrten Ausblick auf das Meer bescheren soll. Zuerst muss ich die Rudera Boškovića betreten, eine Art Binnenhof, auf den das schmucklose Gebäude des Kollegs schaut, das, einen rechten Winkel bildend, mit der St. Ignatius-Kirche zusammenstößt. Es wird behauptet, diese Kirche sei eines der schönsten Baudenkmäler der barocken Architektur ganz Dalmatiens. In der Tat fällt sie dem Ankömmling gleich auf durch die kunstvolle, in ihren Dimensionen wohlausgewogene Fassade mit dem unterbrochenen bogenförmigen Portalgiebel. Reich an Skulpturen, strahlt sie eine unverkennbare Lebensfreude aus. Ihre breite Silhouette ist außerdem geprägt durch den niedrigen, gedrungenen Turm, der nur knapp über das Dach herausragt. Obschon ich nicht mehr die Absicht habe, Halt zu machen, kann ich nicht darauf verzichten, schnell einen Blick ins Innere zu werfen. Dort begegnet mir ein überschwängliches Barock, inspiriert vom Gesù in Rom. Wiederum umgibt mich Stille. Zu dieser Stunde findet noch kein Gottesdienst statt. Mit ihren in eher dunklen Farben gehaltenen Fresken und dem lockeren Durcheinander von deren Figuren bildet die Apsis einen fesselnden Kontrast zu dem hellen und harmonisch ausgewogenen Hauptschiff, besonders zu dessen Seiten, die von Arkaden unterschiedlicher Größe getragen werden. Erst als ich hinaufgehe zum Chor, kann ich feststellen, dass dort die Malereien Szenen aus dem Leben des heiligen Ignatius von Loyola darstellen.

5. Der Rundgang Nach dem Verlassen der Kirche brauche ich nur noch das Kolleg zu umgehen, um auf die paar Stufen einer letzten Treppe zu gelangen, die mich zum Eingang auf die Wälle hochsteigen lässt. Der Himmel über mir wird breiter, weitet sich, je mehr ich emporsteige, löst sich, wird heller, wobei er immer mehr das Aussehen einer enormen kristallenen Kuppel annimmt. 64

Nun bin ich am Ziel: Ich erreiche den imposanten Rundgang oben auf der Ringmauer. Etwas außer Atem geraten, schreite ich über die große Terrasse, die sich zum Meer hin ausdehnt. Mein Herz klopft schneller, als ich an die steinerne Brüstung herantrete. Einen kurzen Augenblick lang muss ich den Kopf senken und mir die Augen mit beiden Händen bedecken, so extrem hell ist das Licht. Ich bin von der ganzen Atmosphäre stark geblendet. Eine bereits warme, wohltuende Luft fährt sachte durch mein Haar. Ich muss sagen, das Wetter ist ausgesprochen günstig. Ein wahres Geschenk. Vergessen wir nämlich nicht, dass der Kalender erst den 24. März zählt und der Frühling gerade erst begonnen hat.

Union von Firmament und Meer Es ist hinreißend! Soweit ich schauen kann, breitet sich vor mir das Meer aus, das Mittelmeer – von den Franzosen auch „grande bleue“ genannt –, bis hin zu dem von Nebeln eingehüllten Horizont, wo es mit dem azurblauen Himmel eins zu werden scheint. Zu meiner Linken, auf einer Strecke, die geradewegs zum momentanen Stand der Sonne hin verläuft, schillert das Wasser lebhaft an seiner Oberfläche, mit einem leisen Rauschen. Die Wellen führen nur wenig Schaum mit sich. 65

Unten an den Felsen lassen sie in gleichmäßigem Takt einen leichten Aufschlag hören. Es ist mir, wie wenn aus diesem Meer, dessen Wellen im Lichte friedlich dahingleiten, das Versprechen eines unermesslichen Glücks aufsteigen würde. Ich fühle mich hingezogen zu dem fernen Horizont, als ob der Dunstschleier, der ihn bedeckt, wunderbare, geheimnisvolle Kräfte bärge, die fähig sein könnten, meinen Lebenswillen auf eine unvergleichliche Weise zu steigern. Hochzeit von Himmel und Erde, damit die fortwährende Erneuerung des Lebens gewährleistet sei. Ein Glück, das nicht enden würde? Einige Augenblicke lang bin ich hingerissen von ekstatischer Bewunderung. Hat Nietzsche nicht recht gehabt, seinen Zarathustra verkünden zu lassen: „Doch alle Lust will Ewigkeit  –,  |  –  will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Die beiden Verse entstammen dem Kapitel „Das trunkene Lied“ im vierten und letzten Teil der Dichtung Also sprach Zarathustra. „Trunkenheit“, weil die Gefühle während einer kurzen Dauer zu stark geworden sind für jegliche rationale Kontrolle. Jedenfalls lässt mein Blick nur schwerlich los von diesem leichten Nebel auf hoher See, der mir vorkommt wie der Übergang zu einer Unendlichkeit sowohl der Zeit als auch des Raumes. Er weckt in mir den verführerischen Traum aufzubrechen, in Freiheit zu segeln nach unbekannten Gegenden, und mich zu trennen von allen Beschwerden, allen Plagen, die den Alltag vergiften, von allem, was deprimiert, schwächt, zerstört, tötet. Die Wegstrecke, die ich so früh am Morgen zurückgelegt habe, versuche ich jetzt von hier oben mit den Augen zu verfolgen, soweit dies möglich ist. Mein Blick schwenkt nach links, um sich dann hinabzusenken zu dem auf der Mole gelegenen Fort zum heiligen Johannes, diesem stattlichen Wachtposten des alten Stadthafens, der hinter einer Häusergruppe herausragt. Die Fassaden des Forts, besonders jene, die der offenen See zugewandt sind und momentan unter der Sonne glänzen, bilden eine Kulisse, die sich angenehm absetzt von der dunkelblauen Farbe des Wassers und den rötlichen und gelblichen Ziegeln der nahen Dächer. Die Festung zum heiligen Johannes stellt ein Bauwerk von stolzem Aussehen dar, das kunstvoll zusammengesetzt ist, obgleich es aus mehreren Epochen stammt. Auch hier fehlt es nicht an malerischer Ästhetik. Die einstigen Schießscharten sind verschwunden. Mit ihren wuchtigen Mauern, die von ziemlich breiten Fenstern durchbrochen sind, lässt sie fast an einen Wohnkomplex denken. Im Innern befindet sich jetzt ein Marine-Museum. Am Abend jedenfalls werden ihre Fenster, wenn sie von einem sanften Licht erleuchtet sind, eine menschliche Gegenwart in 66

warmen, geschützten Räumen vermuten lassen. Das Fort ist genau in der Achse meines Blicks gelegen, der als Anhaltspunkt das Hotel Excelsior gesucht hat. Das Fenster und der Balkon meines Zimmers sind mit bloßem Auge zu erkennen. Mit dem Gang über die Wälle kann es jetzt losgehen. Er führt mich zuerst zu dem kleinen runden Fort, das „Bokar“ genannt wird. Es handelt sich um einen kleineren, aus zwei Stockwerken bestehenden Bau. Angelegt an der Biegung zwischen dem westlichen und dem nördlichen Teil der Wälle, hatte er hauptsächlich zur Aufgabe, das so wichtige Tor von Pile zu schützen. An dieser Stelle hat man einen herrlichen Ausblick auf die gewaltige Zitadelle Lovrijenac, die einen hohen Felsen an der Spitze eines Landvorsprungs – besser wäre es vielleicht zu sagen, einer Halbinsel  –  krönt. Sie ist außerhalb der Ringmauer gelegen, eine riesige Eck-Festung, dazu bestimmt, die gesamte nördliche Flanke der Stadt zu verteidigen. Bereits im 11. Jahrhundert war von ihr die Rede. Man musste sie mehrere Male umgestalten. Im 17.  Jahrhundert war man sogar genötigt, sie infolge des Erdbebens von 1667 neu aufzubauen. Damals erhielt sie das Aussehen, das sie heute noch besitzt. Es geht schon auf die Mittagsstunde zu, so dass von ihren hellen Mauern diejenigen, die zur Stadt hin gekehrt sind – und somit auch zu der Stelle, wo ich kurz Halt gemacht habe – fast frontal von den Strahlen der nach Süden vorrückenden Sonne getroffen werden. Sie erscheinen dadurch in ihrer ganzen erhabenen Größe und blendenden ockerweißen Pracht. Dann kommt der langsame Aufstieg, Schritt für Schritt, hin zu dem MinčetaTurm, der vor den steilen Abhängen des St. Sergius-Berges gewaltig emporragt. Der Rundgang hat insgesamt die Länge von ungefähr zwei Kilometern. Die Wälle, verstärkt durch fünfzehn Türme und fünf Bastione, sind anderthalb bis drei Meter dick auf der Seite des Meeres, zum Land hin aber vier bis sechs Meter. Es gibt Stellen, an denen sie eine bis zu fünfundzwanzig Meter reichende Höhe aufweisen. Ihr Bau wurde bereits im 12. Jahrhundert begonnen, zu einer Zeit, da die Stadt sich unter der Herrschaft der Venezianer befand.

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Relikt aus früheren Zeiten So bin ich denn ein Flaneur, der gemächlichen Schrittes hinaufsteigt, teils bewundernd, teils nachdenklich, oft überrascht, stets aber aufmerksam. Die Bilder defilieren, eines anziehender als das andere, folgen aufeinander wie in einem abwechslungsreichen Dokumentarfilm. In jeder Sequenz sind die Aufnahmen abhängig von der genauen Beobachtung des Kameramannes, seiner Position und dem von ihm gewählten Blickwinkel. So setzt er unermüdlich seinen Weg fort, bleibt stehen, nähert sich, dreht sich um – verhält sich so, dass seine Dreharbeit die besten Erfolgschancen hat. Er sträubt sich auch nicht gegen Wiederholungen und Rückblicke, stets mit dem Ziel, die Bilder möglichst attraktiv zu gestalten. Bald beharrt er auf einem Gesamtüberblick, bald macht er eine Nahaufnahme mit fester Einstellung, dann wendet er aber auch Zoom und Kamerafahrt an. Die Reihenfolge der technischen Operationen geschieht ad libitum, angepasst an die Situationen. Was zählt, ist das Erfassen und Bewahren des jeweiligen Bildmotivs. Ohne sich jemals längere Zeit von den Befestigungsanlagen abzuwenden, senkt sich die Kamera gerne nach unten in die engen Gassen, die ein Netz bilden, das 68

an ein Gitter erinnert, da es stellenweise fast eine geometrische Regelmäßigkeit aufweist. Sie richtet sich auf die Kirchen, die Paläste, die Häuser, wobei sie über eine wahre Symphonie von Formen und Farben gleitet, ein buntes Mosaik von Überdachungen, die meistenteils nuancenreiche, Rot und Orange vermischende Ziegel tragen, aus gebrannter Tonerde, aus Terrakotta hergestellte. Diese sind zum Teil sehr alt – ja manche entstammen noch dem Mittelalter. Früher wurden sie in dem etwa fünfzehn Kilometer entfernten Dorf Kupari produziert. In der kroatischen Sprache tragen sie den Namen „kupa“. Man darf sicherlich behaupten, dass sie zu den Kuriositäten des Erbes der Altstadt gehören. Die Schönheit verdanken sie ihrer Originalität und der Patina, die sich während Jahrhunderten gebildet hat. Ihre Zerstörung bedeutet einen nicht wiedergutzumachenden Verlust. Solche Schäden werden während der Angriffe eintreten, denen Dubrovnik bald ausgesetzt sein wird. Schrittweise nähere ich mich dem Minčeta-Turm, der den ganzen nordöstlichen Winkel der Ringmauern beherrscht. Er erhebt sich an ihrer höchsten Stelle und erweist sich als ein massives Festungselement, das den Eindruck erweckt, es habe gedient in Kämpfen von Riesen. Man kann sich leicht vorstellen, dass es sich lange Zeit hindurch als Bollwerk gegen Kanonaden bewährte. Wiederum eines dieser zyklopischen Befestigungswerke, sage ich mir, wie es sie mehrfach in der Festung Dubrovnik gibt. Der Minčeta-Turm wurde seit dem 14. Jahrhundert in mehreren Abschnitten erbaut. Gegenwärtig besitzt er einen kreisförmigen, mit Kasematten ausgerüsteten Unterbau und hohe Mauern, deren Dicke bis zu sechs Metern beträgt. Die oberste Etage ist mit Schießscharten ausgestattet. Im Binnenraum dieser Konstruktion erhebt sich dann erst der eigentliche Turm, der immer noch durch sein kraftvolles Äußeres stark beeindruckt. Er ist gekrönt durch ein hohes, hervorspringendes Mauerwerk, das an seinem unteren Teil eine Kette von Konsolen aufweist, die ihm zweifellos einen ästhetischen Aspekt verleihen. Der MinčetaTurm gilt als Symbol der Stadt Dubrovnik, ihrer Freiheit, ihrer Unbesiegbarkeit. Dies erscheint angesichts des prononcierten Festungscharakters der Altstadt durchaus berechtigt. Die Wälle und die mit ihnen verbundenen Befestigungsanlagen verfehlen es natürlich nicht, meine Phantasie anzuregen und die kriegerische Vergangenheit erstehen zu lassen. Visionen tauchen auf, zuerst konfus und flüchtig, dann 69

präziser, als ob das Objektiv des Gehirns sich erst einstellen müsste auf beängstigende, quälende, erschreckende Szenen: Überfälle, Angriffe, Nahkämpfe von Mann zu Mann, Blutbäder, Anhäufungen von Leichen und Verwundeten. Die Bilder werden immer deutlicher, immer grauenvoller – halluzinatorische Bruchstücke von widerlich blutigen Geschehnissen, die verwundete Körper aufzeigen, aufgeschlitzte, zerfetzte, durchbohrte, mit abgeschlagenen Köpfen, ausgerissenen Gliedern. Was es da nicht alles geben konnte an Grässlichem: schauerliche Gemetzel, Abscheulichkeiten, Hinterhältigkeiten und immer wieder Tötungen. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Diese Lehre wurde vor fast zwei Jahrtausenden verbreitet von dem großen Pharisäer Hillel dem Weisen, einer bedeutenden Persönlichkeit des Judentums zur Zeit Jesu, und sie wurde seither wahrlich zur Genüge wiederholt. Doch, wie wir genauestens wissen, hat dieses moralische Kardinalgebot, trotz seiner Klarheit und Vernünftigkeit, keine Gültigkeit in den bewaffneten Konflikten. Dort wird es einfachhin außer Kraft gesetzt. Dagegen sind alle Verhaltensweisen, die den Feind niederstrecken, ihn schwächen oder vernichten, nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Eine Möglichkeit, darauf zu verzichten, gibt es kaum: So verlangt es nämlich die kriegerische Konfrontation. Allerdings hat seit dem 19. Jahrhundert die Genfer Konvention einiges an Erleichterung gebracht. Bekanntlich ist es seit der Schlacht von Solferino im Jahre 1859 gewesen, dass die Gesinnung der Großmächte allmählich durch die humanitären Initiativen des Henri Dunant dafür sensibilisiert werden konnte. Wie aber sich menschlich zeigen in einem Geschehen, das wesentlich aller Menschlichkeit entbehrt? Wir wissen, auf welche Schwierigkeiten die Forderungen der Genfer Konvention immer wieder stießen, ganz abgesehen davon, dass die Einbeziehung der zivilen Bevölkerung seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/​71 zu kriegerischen Taten und Ereignissen führte, die jeglicher Rücksichtnahme Hohn sprachen. Wie lässt sich da noch von Zivilisation reden, wenn wir vor einer systematischen Entmenschlichung stehen, vor einer infamen und grausamen Barbarei? Die Kriegstreiber, die hohen Kriegsherren, die Verantwortlichen eines Angriffs- und Eroberungskrieges, das sind die eigentlich Schuldigen an der unmenschlichen Katastrophe, die ein Krieg immer bedeutet. 70

Mit den Verteidigern verhält es sich anders. Wir denken dabei an Notwehr, also an ein berechtigtes Handeln. Ihr Kampf ist legitimiert durch Grundrechte, die für die Menschen ein unveräußerliches Gut bedeuten. Es muss sich wohlverstanden um Grundrechte handeln, auf die weder ein einzelner Mensch, noch ein Volk verzichten kann, ohne sich dadurch in ihrer Humanität in Frage zu stellen oder sogar selber zu zerstören. Natürlich muss ein Volk, genausogut wie ein einzelner Mensch, das haben, sich zur Wehr zu setzen, was hier heißt, Widerstand zu leisten gegen eine gewaltsame Aggression. Denken wir an die Millionen Menschen, die sich noch vor nicht allzu langer Zeit in Europa und in der Welt einsetzen mussten, um ihr Land, ihre Familien, ihre Freiheit, ihre Traditionen, kurz, ihr rechtmäßiges Eigentum zu schützen und zu bewahren! Wir ehren die Tapferkeit, wir bewundern sie, doch ist sie kein Wert an sich. Sie muss auf ein berechtigtes Ziel hin ausgerichtet sein. Es kommt folglich nicht infrage, einen totalen Pazifismus zu vertreten. Wie abscheulich der Krieg auch immer sein mag: Es kann weder von einem einzelnen Menschen noch von einem ganzen Volk verlangt werden, sich selber aufzugeben. Zumindest gilt es aber, die kriegerischen Mentalitäten und Ideologien zu brandmarken und zu bekämpfen. Immerhin entstehen die bewaffneten Konflikte – und übrigens auch die sonstigen Streitigkeiten – aus natürlichen menschlichen Antrieben heraus. Eine grundlegende Veränderung könnte hier nur stattfinden, wenn sie von einer biologischen Mutation ausginge. Egoismus, Bosheit, Grausamkeit, Machtgier sind tief in der menschlichen Psyche verankert. Der Krieg trägt am meisten dazu bei, sie zu wecken, anzuspornen, zu intensivieren, ja zur Leidenschaft werden zu lassen. Wir gedenken hauptsächlich all derer, die wir als Opfer bezeichnen, der Gefallenen, allgemeiner noch derjenigen, die durch Kriegsgeschehen ums Leben gekommen sind, ob als Soldat oder Zivilist. Wir meinen dabei auch alle, die zeitlebens an den Verletzungen leiden, die ihnen zugefügt wurden. Die inneren Wunden können besonders wehtun, da sie so schwer zu heilen sind. Es vollzieht sich in unserer Zeit, nach den beiden Weltkriegen, eine tiefe Veränderung. Heute denkt man an erster Stelle an die Opfer, bevor man von Sieg, Heldentum und Ruhm zu sprechen wagt. Nicht vergessen werden darf, dass wir auch in den kriegerischen Auseinandersetzungen von zahllosen einzelnen Menschen erfahren, die durch ihr manchmal ergreifendes, großartiges, feinfühliges Verhalten, jeder auf seine Art, einige Funken wahrer Menschlichkeit inmitten des 71

Infernos zu retten vermögen und so dazu beitragen, dass der Krieg nicht gänzlich das Ende der Zivilisation bedeutet. Krieg ist immer furchtbar, immer schrecklich, das lässt sich nicht leugnen, auch nicht, wenn es noch gar nicht so lange her ist, dass man, mindestens zu dessen Beginn, helle Begeisterung äußerte. Und Schillers „Wallensteins Lager“? Das Werk bezieht sich jedoch auf ein Jahrhundert, das 17., das ganz anders geartet war als das unsrige. In die Zeit des Dreißigjährigen Krieges brauchen wir nicht zurückzukehren! In Bezug auf den Krieg kann der Inhalt von Schillers genialer Darstellung denn auch keineswegs als Modellfall gehandhabt werden. Jedenfalls haben das 20. Jahrhundert und, an seinem Ende, speziell auch die Kriege in Jugoslawien uns zur Genüge belehrt, dass die verantwortlichen Politiker, die Angriffe und Eroberungen planen und durchführen, allesamt und ausnahmslos große Schuld auf sich laden. Es bleibt dabei: Verteidigung und Widerstand besitzen Legitimität; kriegerische Übergriffe und Eroberungssucht dagegen nicht.

Die Stadt mit Hafen

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6. Die Placa Werde ich jetzt meine Tour noch auf der Ostseite der Stadt fortsetzen? Nein, das Wichtigste habe ich gesehen: die Befestigungsanlagen sowie die Altstadt und die sie umgebende Landschaft, wobei für mich ja die Perspektive während der zurückzulegenden Wegstrecke ständig wechselte, so dass ich eine weite Übersicht über Dubrovnik gewinnen konnte. Ich habe nun genügend Bilder gesammelt und geistig gespeichert. Übrigens ist es am Fuße des Minčeta-Turmes, wo sich der höchste für den Fußgänger erreichbare Ort der Festung befindet. Dort hat man von oben herab ein absolut herrliches Panorama vor sich. Die Stadt, die ins Meer vorrückt, entfaltet sich in ihrer ganzen Pracht, wobei auch die tiefgrüne Kulisse, gebildet von der gegenüberliegenden imposanten Insel Lokrum, ihren malerischen Charakter verstärkt. Das genügt nun. Ich fühle mich glücklich und darum bereit, wieder hinabzusteigen, was auch heißt, den Weg zurückzugehen, den ich gekommen bin, bis zu einem Ausgang der Ring-Promenade, dem ersten, den ich erreichen werde. Beim Aufstieg ist es mir nicht entgangen, dass das Zentrum der Stadt sich bereits belebte. Das ist zweifellos für mich ein Grund mehr, es wieder aufzusuchen, denn das Alleinsein beginnt mir schwerzufallen, und ich empfinde jetzt Lust, mich unter das herbeiströmende, zum Teil festlich gekleidete Publikum zu mischen. Ich mache also kehrt. Eine enge Treppe erlaubt mir schließlich in der Nähe des Pile-Tores von der Ringmauer hinunterzusteigen. So gelange ich denn erneut auf den Stradun, jetzt von der entgegengesetzten Seite her. Diese glänzende Hauptstraße – manche nennen sie, allerdings mit etwas übertriebenem Anspruch, die „Champs-Élysées von Dubrovnik“ – besitzt eine Geschichte, die eng verbunden ist mit dem Ursprung der Stadt. Man weiß zu berichten, sie sei dadurch entstanden, dass die beiden in ihrer jeweiligen Entwicklung anfangs getrennten Teile von ihr, nämlich Ragusium und Dubrovnik, im Laufe des 12.  Jahrhunderts zusammengelegt wurden. Dubrovnik kann man somit als das alte Ragusa bezeichnen, und es ist nicht falsch, seine Einwohner „Ragusaner“ zu nennen. Die Historiker berichten, dass im 7. Jahrhundert die Bewohner der römischen Stadt Epidaurum – es handelt sich um das heutige siebzehn Kilometer von Du73

brovnik entfernte Cavtat  –  durch eine Invasion von Slaven und Avaren verjagt wurden. Es sei ihnen daraufhin gelungen, eine kleine Insel zu befestigen, worauf schon damals ein Dorf namens „Ragusium“ gestanden habe. Der Name sei abgeleitet von „dubrava“, was so viel heißt wie „Eichenwald“. Es gibt aber aktuellere wissenschaftlich-historische Hypothesen, die auf noch frühere Anfänge hinweisen. Immerhin stimmt es, dass die römische Bevölkerung sich mit der slawischen vereinigte. Im 12. Jahrhundert wurde der Meeresarm, der sie trennte, zugeschüttet, so dass die Placa, der Stradun, entstand. Bald begann man mit dem Errichten gemeinsamer Mauern. Dubrovnik und Ragusa wurden somit zu einer einzigen Stadt vereinigt. Erst 1919, nach der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, nahm die Stadt als einzige Bezeichnung den Namen „Dubrovnik“ an. Zuerst betrete ich, rechts vom Pile-Tor, den kleinen Platz, der den Namen des renommierten ragusanischen Architekten Paskoje Miličević (1466–1516) trägt, dessen Entwürfe den Beginn zahlreicher Bauten bildeten. Er hat die Stadt beachtlich geprägt, bevor sie weitgehend zerstört wurde durch das Erdbeben von 1667. Der Ort lädt zu einem Halt ein. Nur mäßig groß und am westlichen Ende des Straduns gelegen, bildet er das Pendant zum Luža-Platz, den ich vor zwei Stunden durchquerte. Wiederum lasse ich meinen Blick die Runde machen. Er heftet sich zuerst auf das Gebäude des früheren Klosters St. Klara. Schon am Ende des 13. Jahrhunderts hatte man damit begonnen, es zu errichten. Wie so viele Bauten in Dubrovnik, musste man es nach dem Erdbeben von 1667 neu erstehen lassen. Es hatte eine bewegte Geschichte. Zuerst war es ein Kloster für Nonnen, die aus adeligen oder bürgerlichen Familien stammten. Ein der Pflege der Barmherzigkeit gewidmetes Waisenhaus wurde darin schon seit dem 15. Jahrhundert eingerichtet für ausgesetzte uneheliche Kinder, das in seiner Art eines der ersten auf der Welt war. Später, unter der Besatzung durch die Truppen Napoleons, entstand daraus ein Arsenal, anschließend sogar ein Pferdestall. Die Zeiten ändern sich: Heute sind dort Verwaltungsbüros untergebracht. Daraufhin fällt mein Blick auf das Pile-Tor mit seinen verstärkten Mauern, um anschließend zu der Renaissance-Fassade der kleinen Votivkirche zum göttlichen Erlöser zu wandern. Sie wurde auf Anordnung des Senats erbaut, um Gott dafür zu danken, dass er die Stadt während des Erdbebens von 1520 verschonte. Leider ist sie geschlossen. 74

Mit größter Aufmerksamkeit umschreite ich aber noch den massiven Onofrio-Brunnen, dessen Pendant, kleiner und von einer ganz anderen Bauart, um vieles feiner, auch graziöser, den Luža-Platz verschönert. Von dem massiven Brunnen mit seiner originellen Architektur, der aus dem Jahre 1438 stammt, hat nicht die ganze Konstruktion die Katastrophe von 1667 überlebt: Übriggeblieben ist bloß die polygonale, sechzehneckige steinerne Komposition mit ihrer überragenden Kuppel sowie in jedem einzelnen der sechzehn Teilelemente ein quadratisches, skulptiertes Tiefrelief, das ein Fratzengesicht enthält, aus dem sich früher das Wasser ergoss. Dieser Bau, etwas schwerfällig und jetzt seiner meisten Verzierungen beraubt, diente einst zugleich als Wasserbehälter. Seine monumentale Größe deutet die Wassermenge an, die darin gespeichert werden konnte.

Der große Onofrio-Brunnen Für eine Festungsstadt war die Wasserversorgung natürlich von höchstem Interesse. Und Dubrovnik konnte sich den Luxus leisten, sich nicht mit dem Regenwasser zu begnügen wie so viele dalmatische Städte. So wurde denn der renommierte 75

italienische Architekt Onofrio della Cava bereits im 15. Jahrhundert mit der Neugestaltung des städtischen Aquäduktes beauftragt. Die beiden nach ihm benannten Fontänen – auch die kleinere, zierlichere – ehren sein Andenken. Gesundes sauberes Wasser sollte aus einer ein Dutzend Kilometer entfernten Quelle in den Bergen sicher in die Stadt geleitet werden. In vergangenen Zeiten geschah die Verteilung des Wassers unter die Einwohner der Stadt auch noch mittels einiger anderer Brunnen. Die beiden, die den Namen Onofrios tragen, sollten also nicht die einzigen sein. Man weiß zu berichten, dass es ebenfalls einen kleinen Brunnen gab, der für die Juden bestimmt war. Was soll man dazu sagen? Handelte es sich einfach um einen weiteren Beweis für die rassische und konfessionelle Trennung, die so viel Unheil angerichtet hat im Laufe der europäischen Geschichte? Oder sollte man darin nicht eher eine großzügige Geste der ragusanischen Behörden erblicken, um behilflich zu sein gegenüber einer diskriminierten Gemeinschaft, die nicht an der normalen Wasserversorgung teilnehmen konnte, ohne dabei den Schikanen der übrigen Bewohner ausgesetzt zu sein?

7. Bei den Franziskanern Um zur Eingangspforte der Franziskanerkirche zu gelangen, die schon am Rande der Placa liegt, brauche ich nur einige Schritte zu tun. Das monumentale Portal aus dem 15. Jahrhundert ist alles, was von dem alten Gebäude übriggeblieben ist, das 1667 total zerstört wurde. Es wird überragt von einem Tympanum, das eine Pieta enthält und mit drei steinernen Statuen geschmückt ist: dem Schöpfergott in der Mitte oben, und auf den Posten, die seitlich als Türrahmen dienen, St. Hieronymus und St. Johannes dem Täufer. Die Kirche – sie ist ein nach 1667 erfolgter Wiederaufbau – weist einen Barockstil auf, allerdings einen weniger prunkvollen und gediegenen als die St.-Ignatius-Kirche der Jesuiten, obschon der Hauptaltar und die zahlreichen Seitenaltäre durch ihre monumentale Ausstattung einen tiefen Eindruck auf den Beschauer machen. In einem Bettlerorden werden, so darf man annehmen, die Geldmittel mit einer geziemenden und passenden Sparsamkeit investiert. Augenblicklich möchte ich nicht im Innern des Gotteshauses verweilen. Noch hat die Messe von elf Uhr nicht begonnen. 76

Deshalb besuche ich zuerst den Kreuzgang gleich nebenan. In der Tat enthält das Kloster, dessen Bauten bis ins 14. und 15. Jahrhundert zurückgehen, einen Kreuzgang, der an Schönheit dem der Dominikaner keineswegs nachsteht. In seinem jetzigen Zustand stammt er aus dem 14. Jahrhundert. Er ist erbaut in einem spätromanischen Stil. Die rundbögigen Arkaden ruhen auf schmalen Doppelsäulen von anmutiger Eleganz. Die Kapitelle – ich habe sie nicht gezählt, doch sollen es um die sechzig sein – entbehren weder der Feinheit noch der Mannigfaltigkeit. Man muss von ihnen jedes einzeln betrachten, jedes für sich, denn sie sind alle untereinander verschieden. Sie stellen allerlei Figuren dar, auch Menschen- und Tierköpfe, die das Phantastische mit dem Natürlichen verbinden. In der Mitte liegt ein Innenhof mit einem besonderen Garten. Er besteht aus zwei Teilen, die voneinander getrennt sind durch eine breite, mit weißen Platten belegte und mit steinernen Bänken gesäumte Allee. Auf beiden Seiten entfaltet sich eine üppige Vegetation, schon zu dieser frühen Jahreszeit Sie enthält auch südliche und exotische Pflanzen, hauptsächlich einige Palmen. Die gesamte Anlage bietet einen äußerst angenehmen und entspannenden Anblick. In der Verlängerung des Kreuzgangs, ein wenig abseits, befindet sich eine Apotheke, die ihre Berühmtheit der Tatsache verdankt, dass sie bereits zu Beginn des 14. Jahrhundert eingerichtet wurde, nämlich im Jahre 1317. Sie war seitdem ohne Unterbrechung in Betrieb, und als solche scheint sie eine der ältesten Apotheken Europas zu sein, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Heute, am Sonntag, ist sie leider geschlossen. So kehre ich denn in die Kirche zurück und besuche die Messe. Im Chor hat ein kleines Jugendorchester Platz genommen, das die Feier begleitet. Das große Kirchenschiff ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit einer Gemeinde von Gläubigen aller Alterskategorien. Ich frage mich, ob dieser Andrang nicht bedingt sein könnte durch die Unsicherheit der politischen Lage. Das mag sein, doch wer sagt mir, dass der Besuch dieser Elf-Uhr-Messe nicht jeden Sonntag ungefähr ähnlich aussieht? Sonst verläuft die Messfeier ungefähr wie bei uns zuhause. Deshalb fällt es mir auch nicht schwer, an der Liturgie teilzunehmen, obschon ich kein einziges Wort von der kroatischen Sprache verstehe. Es herrscht zwischen den Konfessionen der Stadt eine bemerkenswerte Differenz, die allerdings vielleicht nur in diesen Tagen so relevant ist, wegen der politischen Ereignisse im Land. Die genaue Ursache kann ich nicht beurteilen, doch weiß jeder, dass die Serben hier in einer Diaspora leben, da sie ja prinzipiell die 77

orthodoxe Religion haben. Sie leben in dieser Stadt, deren Bewohner – wie alle Kroaten – der überwältigenden katholischen Mehrheit angehören. Trotzdem gerate ich ins Staunen, als ich zu Beginn des Nachmittags, kurz nach dem Mittagessen, die serbisch-orthodoxe Kirche besichtige, die in einer Parallelstraße zur Placa liegt. Dort trete ich in dem Augenblick ein, da gerade ein Gebet beginnt. Es singt ein Pope, assistiert von einer Art Sakristan. Dem melodischen Psalmodieren – es ist wirklich von großer Schönheit, das muss ich sagen – wohnt aber nur ein einziger Gläubiger bei. Er verlässt bei meinem Eintreten sofort den Raum. Tatsächlich befinde ich mich dann allein in den leeren Stuhlreihen. Welch eine Trostlosigkeit! Es heißt, die Bevölkerung der Stadt Dubrovnik sei zu 78  % katholisch. Die orthodoxe Kirche stellt hier eben nur eine schwache Minderheit dar. Dennoch erscheint mir eine derartig leere Kirche bei einem Gottesdienst nicht normal. Muss man annehmen, dass die Gläubigen, also die serbisch-orthodoxen Christen, Angst haben? Es will wohl keiner von ihnen unter den herrschenden Umständen an diesem Ort gesehen werden? Kann man dies interpretieren als ein Zeichen der Feindseligkeiten, die bereits im Gange sind? Zweifellos gibt es für beide Seiten im jetzigen Augenblick Risiken. Es kann kaum anders sein. Es herrscht vermutlich großes gegenseitiges Misstrauen. Daher wohl die leere Kirche. Man weiß, dass im Falle eines Konfliktes gerade auch die Religion dazu beitragen kann, Gräben auszuheben. Ich bleibe nur einige Minuten lang im Innern der Kirche. Später werde ich erfahren, dass die Kroaten im Dezember desselben Jahres, zu Beginn der Belagerung Dubrovniks zu Lande, Feuer gelegt haben an diese Kirche und an ihren Bücherladen. Das lässt darauf schließen, dass es sogar in der Stadt selber Feindseligkeiten gab.

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X. Stunde der Rast Es nähert sich, nach meinem Besuch bei den Franziskanern, allmählich die Mittagsstunde. Ich erreiche die St.-Blasius-Kirche auf der Südseite des Luža-Platzes. Sie soll die letzte Station meiner morgendlichen Promenade sein. Es ist dies wiederum einer der originellen und in seiner Art einmaligen Bauten Dubrovniks, der sich mit keinem anderen gleichsetzen lässt. Es handelt sich um einen Bau aus dem 18.  Jahrhundert, der das 1368 durch einen Brand gänzlich zerstörte Gotteshaus ersetzen sollte. Er erinnert an die barocken Kirchen Venedigs. Tatsächlich wurde er nach Entwürfen venezianischer Architekten konzipiert. An der zur Placa hin ausgerichteten Hauptfassade hat man mit Skulpturen nicht gespart. Besonders auffallend ist, hoch oben in der Mitte, die Statue des heiligen Blasius – dann sind es aber auch die schweren korinthischen Kapitelle sowie die drei kleinen Engel, die ein Ornament bilden über dem Tympanum des Eingangsportals. Allerdings lässt diese so reich ausgestattete Vorderseite mich unwillkürlich – man möge mir die Pietätlosigkeit verzeihen! – an Verzierungen mit Buttercreme und Chantilly-Sahne auf dem Kuchen eines findigen Chefkonditors denken. Im Kircheninnern, unter einer sanften Beleuchtung, verbreiten die warmen Farbtöne wie Rot, Gold, Ocker eine Atmosphäre von Intimität und Reichtum. Die Mitte des Hauptaltars schmückt eine gotische Statue von St. Blasius aus vergoldetem Silber, ein Meisterwerk der einheimischen Goldschmiedekunst des 15. Jahrhunderts, das auf geradezu wunderbare Weise einer Feuersbrunst im Jahre 1706 entkam. Leicht erschöpft setze ich mich auf die Stufen, die zur Kirche hinaufführen. Zu dieser Stunde ist die Placa voller Spaziergänger. Sie ist zur Flaniermeile geworden. Es sind fast nur junge Leute, die da an mir vorbeiziehen. Sie machen die Runde, indem sie hin- und zurückgehen, von einem Ende der Avenue zum anderen. Das erinnert mich an meine eigene Jugendzeit, an die Konzerte unserer Militärkapelle sonntags um elf Uhr auf dem Paradeplatz („Place d’armes“) in Luxemburg. Bilder von früher defilieren in meinem Innern, zusammen mit einem Anflug von Nostalgie. Auch hier, in Dubrovnik, sind es die jungen Leute, die, in beiden Richtungen spazierend und dabei eine Art Karussell bildend, sich die 79

Straße teilen. Sie steigen ein, steigen aus. Man kommt, um zu sehen und gesehen zu werden. Es ist dies eine Jugend von einnehmender Schönheit, elegant, stolz, lustig, heiter, die sorglos zu sein scheint trotz der beunruhigend instabilen politischen Lage. Extravaganzen gibt es weder in der Kleidung noch im Benehmen. Man grüßt sich herzlich, man tauscht Freundlichkeiten aus, man plaudert. Auf den Gesichtern gibt es keine Sorgen, keine Unruhe, keine Angst. Ich stelle im Gegenteil ein gewisses Selbstvertrauen fest. Man gibt sich sichtlich der Freude des gegenwärtigen Augenblicks hin. Unterschwellig fühle ich mich aber gezwungen, mir die Frage zu stellen – natürlich auf die Gefahr hin, den Charme meiner Beobachtungen zu zerstören –, wie trügerisch in Wirklichkeit hier der äußere Schein zu sein vermag. Mir gerade gegenüber, auf eine Distanz von nur ein paar Schritten, steht die schlanke, steinerne Roland-Säule. Sie gilt als Symbol für die Freiheit der ehemaligen Seerepublik Dubrovnik. Diese ist bekanntlich entstanden 1358, als nach einer den Venezianern beigebrachten Niederlage die Stadt unter die Autorität der ungarisch-kroatischen Könige gestellt wurde. Auf der anderen Seite der Steinsäule, derjenigen also, die dem Luža-Platz zugekehrt ist, befindet sich die Statue des tapferen Ritters Roland. Um sie zu betrachten, muss ich aufstehen und um das Monument herumgehen. Die Darstellung zeigt Roland in eine gepanzerte Rüstung gehüllt, mit einem langen, fast aufrecht gehaltenen Schwert in seiner rechten Hand, wohingegen die linke Seite seines Körpers mittels eines Schildes geschützt ist. Wer das jugendliche, fast kindliche Gesicht anschaut, das mit Locken umrahmt ist, wie das zu des Helden Lebzeiten die Mode war, denkt spontan vielleicht eher an ergötzliche Wettkämpfe und klangvollen Minnesang als an blutige Kriege. Man ist natürlich überrascht, hier in Dubrovnik einem Bildwerk zu Ehren dieses so berühmten Paladins mittelalterlicher Historie und Sage zu begegnen. Das Gedenken an ihn möchte man vielmehr in anderen Gegenden Europas suchen als gerade hier. Früher, bei meinem Studium der französischen Literatur, erfuhr ich, dass Ritter Roland 778 in den Pyrenäen gefallen sei, genauer gesagt, in dem Tal von Ronceveaux, als er aus Spanien zurückkehrte im Gefolge des fränkischen Königs Karl, des zukünftigen Kaisers Karls des Großen. Nach seinem Heldentod ist er, wie man weiß, zu einer der beliebtesten legendären Figuren des Mittelalters herangewachsen. Wie hätte er sich aber trauen können, eines Tages gerade in die 80

Umgebung Dubrovniks vorzustoßen? Doch las ich später, dass überliefert wird, Ritter Roland sei die Gelegenheit zu kämpfen, um die Stadt zu verteidigen, geboten worden. So habe er in der Nähe der Insel Lokrum einen Sieg über sarazenische Piraten errungen. Handelt es sich dabei um eine wahre historische Begebenheit? Man darf hieran Zweifel hegen, wie an so vielem in der Rolandslegende. Was war aber der Grund, hier gerade ihm mit der Errichtung seines Bildnisses Dank und Ehre zu bezeugen. Nun staunt mit Sicherheit so mancher Luxemburger. Dieses Denkmal nämlich, im Zentrum der Altstadt gelegen und für die Ragusaner so wichtig, unterhält eine Beziehung zu Sigismund von Luxemburg, also wohlverstanden zu dem römisch-deutschen Kaiser aus dem Hause Luxemburg. Man erinnere sich: Er wurde gekürt 1411 und in Rom erst 1433 gekrönt, vier Jahre vor seinem Tod 1437. Schon 1387, im Jahr seiner Heirat mit Maria I. von Ungarn, hatte er den ungarisch-kroatischen Thron bestiegen. Herzog von Luxemburg wurde er 1419, als sein unrühmlicher Vorgänger und Halbbruder Wenzel II. starb. Sigismund ist eine der ganz großen Figuren der mittelalterlichen Geschichte, ein bedeutender Protagonist auf der politischen Bühne der europäischen Länder jener Zeit und damit ein Vorgänger von manchen Gepflogenheiten in der heutigen Politik Europas. Man schreibt ihm die Rolle eines Vermittlers zu, eines reisenden Verhändlers und Friedensstifters, was zweifellos als Verdienst zu bewerten ist, denn in den Verwicklungen der politischen Geschehnisse seiner Zeit war es nicht leicht zu handeln angesichts der äußerst komplizierten Zusammensetzung und Organisation des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Die Missionen Sigismunds stehen am Anfang des diplomatischen Reisens in Europa. Heute ist dieses ja fast zur alltäglichen Gewohnheit geworden bei unseren Politikern, die dank dem technischen Fortschritt über Transport- und Kommunikationsmittel von ganz anderer Leistungskraft verfügen. Man darf sich allerdings mit einem Schuss Zynismus fragen, ob die Politik dadurch heute auch gescheiter geworden ist, doch muss man gestehen, dass die Kontakte zwischen den Regierungen und überhaupt den Bevölkerungen der Länder, besonders in Konfliktfällen, aus diesem Reisekarussell oftmals Gewinn ziehen. Auch Sigimunds Reisen vermochten dem Frieden zu dienen, wie die Geschichte zeigt. Übrigens weiß man, dass die europäische Aufgabe Luxemburgs nicht erst von gestern herrührt. Dies ist nun eine Gelegenheit unter vielen, sich an die Rolle zu erinnern, die das Haus Luxemburg im Laufe der Geschichte des mittelalterlichen 81

Europa spielte. Man möge richtig verstehen: Es gab das Haus Luxemburg, aber die Zeit war damals noch lange nicht gekommen, dass die Luxemburger ein einziges Volk, geschweige eine Nation bildeten. Kaiser Sigismund war mit Sicherheit eine glänzende Persönlichkeit, die allerdings heute, unter den Historikern der Gegenwart, nicht unumstritten ist. Es ist bekannt, dass er zahlreiche Niederlagen hinnehmen musste, und man vermisst die nötige Transparenz mancher Teile seiner Politik. Doch machte Sigismund dem Hause Luxemburg Ehre, im Gegensatz zu seinem Halbbruder Wenzel, den man „den Faulen“ nannte, auch „den Säufer“. Wenzel, zum Kaiser gewählt, aber noch nicht gekrönt, wurde schon 1400 abgesetzt, neunzehn Jahre vor seinem Tod. Als König von Böhmen machte sich Wenzel, der ein Herrscher mit schamlosem Benehmen war, auf traurige Weise berühmt, unter anderem indem er den Generalvikar Johannes Nepomuk den Märtyrertod erleiden ließ. Dieser ist eine sehr populäre Gestalt des christlichen Mittelalters. Er wurde aber erst später, und zwar 1729 heiliggesprochen. Nepomuks Verehrung in Europa – sie dauert an bis zum heutigen Tag – verdankt sich zweierlei Tatsachen: Er besiegelte mit seinem Blut die Unverletzbarkeit des sakramentalen Beichtgeheimnisses und er brachte es fertig, gegenüber einem tyrannischen und unwürdigen Herrscher Mut und Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen. Wir werden noch auf ihn zurückkommen. Doch wir wollen ja von einer historischen Beziehung zwischen Dubrovnik und Luxemburg sprechen, und dies angesichts der Rolands-Säule auf dem LužaPlatz. Immerhin haben wir an erster Stelle zu tun mit der Rolands-Figur. Welche Rolle spielt sie in diesem Zusammenhang konkret? Die Erklärung hierzu liefert mit Sicherheit Sigismund. Wissenswert ist zweifellos, dass dieser eine Menge Funktionen und Titel in seiner Person vereinigte, und insbesondere Markgraf der Provinz Brandenburg war. In diesem Land gab es viele Statuen Rolands. Mit der Errichtung dieser Säule hätten folglich die Ragusaner ähnlich gehandelt. Sie wollten ihrem König gefallen, dessen Unterstützung für sie von ganz wesentlicher Bedeutung war angesichts der territorialen Herrschsucht ihrer furchterregenden Rivalin, der Stadt Venedig. Vom politischen Standpunkt aus betrachtet, besaßen die Ragusaner unter Sigismund eine Freiheit, die zwar relativ war, aber durchaus genügte, um ihrer Stadt zu erlauben, sich dank Schifffahrt und Handel zu entfalten und zur Blüte 82

zu gelangen. Man sprach natürlich noch nicht von demokratischen Freiheiten. Nicht zu vergessen ist, dass unter der Schirmherrschaft ihres Lehnsherrn, und im Schutz ihrer starken Mauern, die von den Patrizierfamilien ausgeübte republikanische Oligarchie der freien Stadt Dubrovnik ihr Selbstbestimmungsrecht mehr mithilfe ihrer Diplomatie verteidigte als mit den Waffen. Wichtig war am Ende der Ertrag, der sich aus dem Handel ergab. Die Freiheit wurde gewährleistet durch den materiellen Reichtum, und umgekehrt war sie es, die dem Handel optimale Bedingungen sicherte. Die historischen und wirtschaftlichen Bedingungen erwiesen sich hier in der Tat von höchster Bedeutung. Die Freiheit mag wohl eine fruchtbare Idee gewesen sein, ein Ideal, sogar eine Leidenschaft, doch ist es nicht möglich sie zu verwirklichen in einer Bevölkerung, die in Armut und Elend vergeht. Also an erster Stelle die Freiheit des Handels? Gewiss. Übrigens diente der Vorderarm des Bildnisses des tapferen Ritters Roland an der Säule – er misst genau 51,1 Zentimeter – der Republik als offizielles Maß anfangs des 15. Jahrhunderts. Diese Tatsache erscheint mir besonders aufschlussreich. Es ist ja absolut unerlässlich, auch im Handel sichere Regeln und Maße aufzustellen, denn, wie überall sonst, gibt es keine wahre Freiheit ohne die Autorität eines Gesetzes. Nur unter solchen Bedingungen ist es einem jeden möglich, seine Aktivitäten so zu entfalten, damit er nicht ständig Angst zu haben braucht vor anderen. Jede Inanspruchnahme von Freiheit legt zugleich auch Verpflichtungen auf. Da kommt mir natürlich der mit viel Esprit und hellseherischem Vermögen ausgestattete französische Philosoph Montesquieu in den Sinn. Sein Denken ist liberal gewesen, ein wenig gegen seine eigenen konservativen Ansichten. Vor allem aber wusste er die Wichtigkeit einer guten Gesetzgebung richtig zu schätzen. Deshalb sind auch heute noch die Lehren seines Hauptwerks De l’esprit des lois (1748) nicht zu übergehen. Es wäre übrigens falsch, sich zu distanzieren von den wirtschaftlichen und kaufmännischen Anfängen unserer bürgerlichen und politischen Freiheiten, sowohl den individuellen als auch den kollektiven. Die Geschichte der Entwicklung und Verbreitung des liberalen Gedankengutes, das zu den Erklärungen der Menschenrechte führte, beweist den Zusammenhang. Der Einfluss der politischen Philosophie von Denkern wie John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) war gewaltig. 83

Es ist in der Tat das wohlhabend gewordene höhere Bürgertum gewesen, das beim Aufbruch in die Moderne, das heißt, seit dem 17. Jahrhundert, in England für die elementaren zivilen Freiheiten gekämpft hat. Dann kam Frankreich an die Reihe. Hat doch der „tiers état“, der dritte Stand – wiederum war es die Bourgeoisie  –,  zu Beginn der Revolution die Rolle gespielt, die alle kennen, hauptsächlich mit der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen im Jahre 1789. Diese Rechte, von denen hier die Rede ist, sind allesamt Freiheiten gegenüber der staatlichen Macht. Nicht nur verlangte das Bürgertum Achtung vor jedem Menschen, sondern es befreite auch Handel und Gewerbe von den Fesseln der Gesetze und Verordnungen, Rousseaus Werk enthält so manche Lehre, die auch heute noch aktuell ist. So erinnert die gegenwärtige politische Situation Jugoslawiens mich besonders an eine Stelle seines Contrat social, die mir an diesem Palmsonntag 1991 vorkommt wie eine Warnung an die Adresse Kroatiens. Der Autor erklärt, dass eine Republik, die auf ihre Souveränität verzichtet, indem sie sich aus freiem Willen einer fremden Macht unterwirft, sich selber zerstört. Weshalb? Ganz einfach weil sie den Gesellschaftsvertrag, auf dem sie beruht und der einzig und allein die Freiheit und die Gleichheit seiner Bürger begründet und gewährleistet, verleugnet und aufgibt. Das würde natürlich bedeuten, dass für die Kroaten die Alternative folgendermaßen aussähe: entweder der bewaffnete Kampf oder der Untergang ihrer Republik, ihrer Heimat. Alles hinge letztlich ab von der Kraft des Überlebenswillens in einem Volk, in einer Nation. Ist er groß genug, dann wird das Volk sich verteidigen gegen den Aggressor und den bewaffneten Kampf nicht scheuen. Die Freiheit ist ein unschätzbares Gut in der geschichtlichen Entwicklung unserer europäischen Länder. Non bene pro toto libertas venditur auro – diese Devise der Republik Dubrovnik ist eingraviert am Eingang der Zitadelle von Lovrijenac. „Die Freiheit lässt sich nicht verkaufen, selbst nicht für alles Gold in der Welt.“ Ist dies also eine Art moralischer Norm? Das wäre wohl nicht der ganze Sinn. Wir dürfen nämlich nicht das Wort „bene“ übersehen, – also „gut“ als Adverb. Wir müssen also – so ist zu interpretieren – anerkennen, dass derjenige Mensch, der seine Freiheit für alles Gold in der Welt verkauft, kein „gutes“ Geschäft macht, also auch nicht zu seinen Gunsten zu handeln versteht. Damit wäre der Sinn der Devise ein rein pragmatischer. Wer wollte schon das Huhn mit den goldenen Eiern töten? Anders gesagt, wer möchte die Freiheit, die wichtigste Eigenschaft 84

unseres Handelns, opfern, falls er Reichtum erwerben will? Die Geschichte lehrt uns ja, dass Reichtum und Freiheit zusammengehen. Aber man stößt in Dubrovnik noch auf eine andere tiefsinnige Inschrift, die uns ebenfalls nachdenklich stimmen sollte. In dem Rektorenpalast entdeckt der Besucher sie über der Eingangstür zum Saal, in dem einst der Große Rat tagte: Obliti privatorum publica curate – „Vergesst eure privaten Angelegenheiten und sorgt euch um das öffentliche Interesse“. Das ist vernünftig und ehrlich zugleich. Das interessanteste Wort ist hier „obliti“, was sagen will, man habe vergessen, man denke nicht mehr daran. Hier gilt es wiederum, eine Interpretation zu suchen. Wir können durchaus an einen Verzicht denken, selbst an ein Opfer, in das die Mitglieder des Rates einzuwilligen haben. Ihre persönlichen Interessen, berechtigte und unberechtigte, müssen sie zurückstellen. Interessanterweise war es dem Rektor der Republik Dubrovnik den ganzen Monat hindurch, den seine Amtszeit dauerte, nicht gestattet, den Palast zu verlassen: Man wollte vermeiden, dass er sich mit Leuten traf, die ihn von seiner Aufgabe ablenkten und ihn bewegen wollten, Partikularinteressen nachzugeben. Politik folglich als uneigennütziger Dienst für das Wohl der Allgemeinheit und ohne Abhängigkeit von einer Gruppe oder einer Klasse, wie die Marxisten sagen. Im Übrigen ist die Verengung der Perspektive durch ideologische Begriffe wie den Klassenkampf hochproblematisch. Ebendiese übertriebenen und missbräuchlichen Verallgemeinerungen haben am Ende den kommunistischen Regierungen und Ländern einen miserablen Dienst erwiesen. Sie haben mehr geschadet als genutzt – auch im Falle Jugoslawiens, wo das Regime Titos versuchte, sich vom Stalinismus zu trennen und mit dem Prinzip der Selbstverwaltung einen sozialistischen Alleingang einzuschlagen.

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XI. Mittags Inzwischen hat es bereits zum Mittag geläutet. Die Stunde des Mittagessens ist gekommen. Da denke ich an ein bestimmtes Restaurant, weil ich dort schon früher eingekehrt bin und sehr zufrieden war. Es befindet sich in einer höher gelegenen Parallelstraße zur Placa, auf der östlichen Seite. Diesmal aber erwartet mich eine Enttäuschung: wenig Gäste – und Preise, die schamlos gestiegen sind. Es herrscht eine bedrückende und trostlose Atmosphäre, die aller Liebenswürdigkeit entbehrt, selbst der elementarsten Höflichkeit. Wiederum befällt mich das so unangenehme Gefühl, überflüssig zu sein. Es scheint nämlich, ich sei diesmal als Fremder überhaupt nicht erwünscht. Dann eben nicht! Und doch ärgere ich mich. Wollen denn die Kroaten angesichts der kommenden Krise sich schon gleich von allen anderen Menschen trennen? Wollen sie ganz unter sich bleiben? Ich habe doch wirklich nicht das Aussehen eines Bösewichtes, gar eines Geheimagenten. Ich bin ein einfacher und bescheidener Gast, der alles dransetzt, sich freundlich zu benehmen. Als ich mit dem Essen fertig bin und meine viel zu hohe Rechnung bezahlt habe, verschwinde ich sogleich. Draußen brennt die Sonne jetzt wirklich heiß. Die Straßen sind praktisch leer. Was tun während der kommenden Stunden? Ich laufe in der Stadt hin und her, überlasse den Weg eher dem Zufall. Ich besuche nur noch, wie ich es schon geschildert habe, die serbisch-orthodoxe Kirche. Es ist ja Sonntag und alle Geschäfte sind geschlossen. Cafés gibt es einige, aber im Augenblick empfinde ich überhaupt keine Lust, mich irgendwo allein an einen Tisch zu setzen, vielleicht wiederum als ein unwillkommener Eindringling. So entschließe ich mich, mein Hotel wieder aufzusuchen, wenigstens vorübergehend. Nach einer knappen Viertelstunde überquere ich die Schwelle der Eingangshalle. Eine undefinierbare, fade Leere stellt sich gleich bei mir ein, als ich wieder in meinem Zimmer bin. Der Vormittag war für mich so großartig ausgefüllt mit unvergesslichen Momenten und Szenen, dass ich nun befürchten muss, dieser ganz außergewöhnliche Sonntag sei endgültig vorbei. Bestimmt würde sich nichts Gleichwertiges mehr ereignen. In mancherlei Hinsicht kann ich mich, mit Blick auf das heute Vergangene, glücklich schätzen. Jetzt ist eben die Stunde der 86

Ernüchterung, ja echter Verdrossenheit gekommen. Ist es denn nicht stets das gleiche: Eine große Freude vermag nicht dauerhaft zu sein, sie wird gefolgt von Langeweile und selbst von Traurigkeit Muss man ein eingefleischter, unverbesserlicher Pessimist sein, wie etwa Schopenhauer, um dies zu erkennen? Dennoch ist es mir unmöglich, resignierend anzunehmen, alles Schöne habe für heute ein Ende gefunden. Es bleibt das vage Gefühl, es müsse noch etwas geschehen, vielleicht etwas Wichtiges – irgendein besonderes Ereignis, das imstande wäre, mich die Leere überwinden zu lassen, die mich erfasst hat. Werde ich nun im Zimmer bleiben? Müde bin ich nicht und es kommt für mich nicht infrage, meine Zeit bloß zu opfern, um tatenlos frischgewonnene Erinnerungen zusammenzufügen und darüber zu grübeln. Vielleicht könnte ich mich hinsetzen und arbeiten, denn morgen wird es bei den Vorträgen nicht gerade leicht sein. Es wäre doch vernünftig, ernsthaft an den Montagvormittag zu denken, der für die Referate des Nietzsche-Kolloquiums vorgesehen ist. Das löst in mir eine unangenehme Nervosität aus. Morgen werde ich mich also zum Inter-University Centre of Postgraduate Studies begeben müssen. Ich kenne es bereits: ein Gebäude, dessen Parkett, mit Bohnerwachs zum Glänzen gebracht, mich mit seinem penetranten Geruch an die Schulen erinnert, die ich einst besuchte. Ein spezieller Geruch, dem ich schon öfters anderswo begegnet bin und der für mich stets von Sauberkeit, aufmerksamer Pflege und einer gewissen heimischen Vertrautheit zeugt. Mit großer Intensität werde ich dadurch erneut in die Atmosphäre von damals, in die Welt meiner Kindheit und Jugend versetzt. Das Geborgenheitsgefühl, das sich daraus ergibt, wird mich erneut mit großer Eindringlichkeit erfassen. Es entstammt den Tiefen meines Ichs und wirkt beglückend. Ist es nicht der Franzose Marcel Proust gewesen, der uns, auf eine Weise wie wohl kein anderer Schriftsteller zu zeigen vermochte, welch einnehmende Rolle gerade der Geruchssinn für unsere Erinnerungen spielt, indem er Geschehnisse aus unserer Vergangenheit heraufbeschwört und neu belebt?

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XII. Der Nietzsche-Vortrag Und mein Beitrag über Nietzsche? Ich werde morgen Vormittag bei der Nietzsche-Tagung über seine Kritik des Subjektbegriffs sprechen. Mit dieser Vorausschau ergibt sich die Frage, weshalb Nietzsche mich so lange schon in seinem Banne hält. Sein Zarathustra? Eher nicht, obgleich ich meine, die poetische Sprache darin könne faszinieren, wenn auch nicht gerade mit allen Passagen. Nein, was für mich zählt, ist die Tatsache, dass Nietzsche wie kein zweiter Denker ein Kritiker unserer abendländischen Kultur ist, dazu prophetisch für unsere heutige Welt. Meiner Ansicht nach überwiegt dieser Aspekt in seinem Werk bei weitem. So hat Nietzsche als erster in der Geschichte des philosophischen Denkens bahnbrechend dargelegt, dass der homo sapiens eine idealistische Illusion ist, dass seine sapientia als kardinale Kategorie eine groteske Selbstüberschätzung bedeutet. Störend bleibt für mich allerdings immer Nietzsches nicht wegzudenkende, vielfach stereotype Einteilung der Menschheit in Starke und Schwache, wobei die Christen typologisch als schwache Menschen hingestellt werden. Dass der „Tod Gottes“ Sinnlosigkeit und Hilflosigkeit hervorbringen kann, das leuchtet ein. Wo aber liegt die Alternative? Etwa im „Übermenschen“? Sicher ein gravierendes Kernproblem der Nietzsche-Interpretation. Wer eine Lebenshilfe erwartet, kann er sie bei Nietzsche finden? Meine Gedanken schweifen hin und her, finden zueinander, trennen sich auch wieder. Man ist schnell begeistert von Nietzsche, doch wendet man sich genauso plötzlich auch gerne wieder von ihm ab. An Widersprüchen fehlt es bei ihm nicht. Das ist allgemein bekannt und keineswegs problemlos. Auch gibt es den zeitlichen Aspekt, deutlich zu unterscheidende Phasen in seinem Werk, die sich andererseits wieder in vieler Hinsicht überlagern. Seit der Trennung von seinem väterlichen Freund Richard Wagner im Jahre 1876 begann beispielsweise die Reduktion auf empirische Fakten, Nietzsches kritisches Hinterfragen. Was sich da nicht alles in den Begriffen verbirgt, die wir gewohnheitsgemäß wie abgenutzte, veraltete Münzen zirkulieren lassen, ohne viel über sie nachzudenken, und die auf einmal ganze Welten erstehen lassen, von denen wir vorher nichts ahnten! Man kann von Ent88

larvungspsychologie sprechen. Sie enthält so manche spannende Entdeckung im psychischen Bereich. Mein morgiger Vortrag wird sich befassen mit Nietzsches epochaler Wende gegenüber dem herkömmlichen, allgemein bekannten Subjektbegriff. Nietzsche spricht einleitend in Menschliches, Allzumenschliches von einer „Chemie der Begriffe und Empfindungen“. Wir hätten es somit im Falle des herkömmlichen Subjekts sozusagen mit einem gedanklichen Makromolekül zu tun, in das es analytisch einzudringen gilt. Ein zukunftsträchtiger Befund soll sich ergeben. Hier kündigt sich die philosophische Postmoderne an – um nicht zu sagen, Nietzsche ist ihr frühester Protagonist. Der Titel meines Beitrags lautet: Nietzsches Dekonstruktion des ‚Subjekts‘ – ein Antezedenz postmodernen Denkens. Der Begriff „Antezedenz“ meint hier Voraussetzung und Vorwegnahme zugleich. Nietzsche repräsentiert beides. Das ist eine Art Revolution. Die Verbindlichkeit schaffenden Kategorien und Regeln der Vernunft, so unentbehrlich für die Moderne, werden ins Abseits gedrängt, da sie der empirischen Wirklichkeit nicht entsprechen können und eigentlich nur Fiktionen sind. Dasselbe gilt logischerweise für die Instanzen Seele, Bewusstsein, Geist, Ich – die einander bislang ergänzen konnten, indem sie sich auf das Subjekt als ihre umfassende Basis stützten. Die grundlegenden Änderungen hält Nietzsche für bedingt durch den Leib. Im Zarathustra nennt er ihn das Selbst. Nehmen wir das Selbst als die Brücke vom klassischen Subjektbegriff zum postmodernen Menschen, der sich in seiner Individualität gegenüber seinen Mitmenschen auszeichnet. Nietzsche macht das Ich zum Selbst. Man lese dazu das so wichtige Kapitel „Von den Verächtern des Leibes“ im ersten Buch des Zarathustra. Das Selbst besteht nach ihm aus einer Vielheit von Kräften – wir können auch sagen, von Trieben und Affekten. Es ist nichts Anderes als das im Leib enthaltene Organische mitsamt dessen Vorgängen, den unbewussten wie den bewussten. Von den letzteren kämen die Werturteile her. Mehrdimensionalität und Perspektivität sind dabei kennzeichnend, jeweils beherrscht durch einen „Willen zur Macht“. Ein neues Menschenbild taucht auf. Es weist hin auf die Postmoderne, die aus der Pluralität und der Differenz ihre Hauptparadigmen macht. Aufgrund der im Leib enthaltenen Mehrzahl von Perspektiven spielt die Gegensätzlichkeit bei Nietzsche eine wesentliche Rolle. Gegensätze sind unvermeidbar. Sie können fruchtbar sein, vorausgesetzt, keiner von ihnen wird zu stark und nimmt über89

hand. Es geht um Harmonie, Gleichgewicht, Maß. Nietzsche gebraucht gerne das Wort „Krieg“, das bei ihm metaphorisch aufzufassen ist. Es handelt sich um Rivalität und nicht um Krieg im eigentlichen Sinne. Auflösung also des herkömmlichen Subjektbegriffs. Etwas davon muss jedoch bestehen bleiben, so sagen wir, denn er kann nicht im Nichts untergehen. So ist es besser, von Dekonstruktion zu sprechen statt von Destruktion. Das Partikulare und Individuelle nimmt die Stelle des Allgemeinen ein, natürlich nicht nur im Falle des Subjekts. Reduktion also auf die Sinneserkenntnis, die definitionsgemäß weder abstrakt noch allgemein ist. Die Moral kommt innerhalb dieser Denkansätze besonders schlecht weg, und das gerade auch in ihren Hauptmotiven. Wir sind genötigt zu fragen: Kann es noch sinnvoll sein, von Schuld zu sprechen, wenn wir nicht mehr annehmen, dass zu allem Tun ein einziger Täter gehört, der im Kern stets die gleiche Person bleibt? Und wie soll man unter solchen Voraussetzungen noch ein Versprechen ablegen, Verantwortung übernehmen? Wer sind wir denn in Wirklichkeit? Es stellt sich die Frage nach der Identität des Individuums. Sie sollte ja im Normalfall, den Umständen entsprechend, auf mehreren Perspektiven beruhen. Wie kann man sich unter derartigen Bedingungen noch gegenseitig verständigen? Sicher ein weiteres Kernproblem. Es geht um das Verstehen, besser: das Verständlich-Sein. Man lese dazu Nietzsches frühe Schrift aus dem Jahre 1873, zweifellos eine seiner hervorragendsten und lehrreichsten: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Nicht nur das Erkennen, sondern selbst das Denken bedarf schließlich der Universalität von Begriffen und Prinzipien. Damit entfernen wir uns aber von der Wirklichkeit, indem wir sie mit Fiktionen verstellen. Wie lässt sich das Problem lösen? Ist es überhaupt lösbar? Wie lässt sich die Wirklichkeit noch erfassen, noch formulieren? Weshalb liebte Nietzsche so sehr die Musik? Er hat komponiert und hervorragend Klavier gespielt. Musik, ja Kunst überhaupt, setzt sich über die abstrakte Allgemeinheit hinweg. Es sei denn, es handelt sich um Poesie, da diese noch der allgemeinen Begrifflichkeit bedarf. Aber sie verlangt nach Interpretation und nähert sich damit der Musik. Wir gelangen in den Bereich des Ästhetischen, indem wir uns des Interpretierens bedienen, um jedem einzelnen Selbst seine ureigene Wahrheit zu gewähren. Interpretation ist bei Nietzsche allmählich zu einem tiefsinnigen Erkenntnisvorgang geworden. Man lese dazu besonders den späten Nachlass! Dort tauchen 90

stark hermeneutisch geprägte Denkansätze auf. Schließlich wäre das Subjekt, in seiner neuen, Nietzsche’schen Konzeption, jeweils situationsbestimmt – es müsste sich stets seiner Umgebung anpassen. Aufgrund mehrerer „Willen zur Macht“ in ihm würde es sich der Welt öffnen – sich Zugang zur Welt verschaffen. Stoff genug für vielseitiges Interpretieren, speziell auch Selbstinterpretieren, innerhalb der „ewigen Wiederkunft“, einer Zeit, die sich im Kreise bewegt und dabei das Vergangene bewahrt und das Zukünftige vorwegnimmt. Das Subjekt – oder das Ich – wäre demnach in Wahrheit ein Interpretieren und ein Interpretiertwerden zugleich. Am Ende dürfte man behaupten, es bestehe aus lauter Selbstinterpretationen. Im Selbst, also im Leib, wäre unser Ich dann das interpretierende Moment postmoderner Hermeneutik! Mit ihr gäbe es Emanzipation und Freiheit, wohingegen die Welt der allgemeinen abstrakten Begriffe aus Herrschaft und Zwang bestünde.

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XIII. Stunde der Stille Doch mit dem Philosophieren sollte es jetzt vorbei sein. Jedenfalls ist es ganz und gar nicht die Konzentration auf meinen bevorstehenden Auftritt am nächsten Morgen, die mich in diesem Augenblick erfreuen könnte. Ich habe einfach keine Lust, meinen Text noch einmal durchzugehen, auch wenn es mit Sicherheit nützlich wäre vor dem Vortrag. Und bin ich überhaupt imstande, den Lockungen der frühlingshaften Atmosphäre draußen zu widerstehen? Nein, die Neigung, mich dem Nichtstun hinzugeben, ist unausweichlich stärker. Heute will ich mir das Leben bequem machen und noch einige schöne Stunden verbringen. Gewöhnlich lege ich mehr Disziplin und Standhaftigkeit an den Tag, doch jetzt schweigt mein Pflichtgefühl. Schnell ist der Entschluss gefasst, hinunterzugehen zu dem kleinen Strand des Hotels. So nehme ich ein Handtuch und ziehe meine Badehose an, die ich zum Glück mitgenommen habe. Mit dem Aufzug unten angekommen, begebe ich mich hinaus auf die betonierte Terrasse, die nur knapp die Oberfläche des Wassers überragt. Aus einem engen Kellerraum, dessen Tür offensteht, ziehe ich mühsam einen schweren Liegestuhl aus Metall heraus. Er ist mit Rost überzogen, aber ich kann keinen besseren finden, denn die anderen sind in demselben desolaten Zustand. Eine Folge der vom kommunistischen Staat verwalteten Hotels, denke ich. So richte ich mich schließlich auf dem kleinen Strand seitlich der Terrasse ein, der von einem niedrigen Riff umrahmt wird. Es herrscht fast völlige Stille. Man erfährt sie physisch und seelisch zugleich. Nur ein paar Gäste befinden sich an diesem Ort. Es mögen um die zehn sein, darunter eine französischsprechende Gruppe mit Kindern – wahrscheinlich eine Familie. Einige Sätze, leise gesprochen, das ist alles, was ich von ihr höre. Sich in der Badehose hinzulegen geht gut, denn es ist warm genug. Absolut außergewöhnlich! Ein wahres Geschenk! Es ist das erste Mal, dass das mir so früh im Jahr passiert. Es ist noch März und nur genau drei Monate trennen uns von dem letzten Heiligabend. Für ein Bad im Meer reicht es aber nicht. So muss ich mich damit begnügen, die Füße ins Wasser zu tauchen. Ich tue es mit großem Vergnügen und einem Ernst, der fast an einen rituellen Vorgang erinnert. 92

Meine Uhr zeigt Dreieinhalb. In meiner Kindheit war das der Augenblick, da die Vesper endete. Danach erfolgte die Rückkehr nach Hause, wo uns Kinder gewöhnlich ein Nachmittagskaffee mit Kuchen im Kreis der Familie erwartete. Oft kamen Gäste hinzu, Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen: sonntägliche Nachmittage, ganz einfache, friedliche, dem Familienleben gewidmete. An die Stimmung dieses bescheidenen, ruhigen Glücks werde ich nicht aufhören zu denken – ab und zu sogar mit einer tiefen inneren Bewegung. Diese Atmosphäre steigt in mir auf, sofern sich dazu eine Gelegenheit bietet, so wie heute. Der hier vorherrschende Frieden lädt zum Träumen ein. Ich kann mich einem dolce farniente hingeben, das nichts zu stören vermag. Das Meer ist ruhig, fast regungslos. Es ist nur das regelmäßige Rauschen der kleinen Wellen zu hören, die am Ufer sanft emporgleiten. Im Westen verhüllt die Sonne sich schon hinter feinem Schleierdunst. Sie wirft einen glänzenden, flimmernden Streifen auf das Wasser, dessen Oberfläche sich in ein funkelndes Spiel verwandelt, das zum Horizont hin immer glatter und zugleich leuchtender wird und allmählich übergeht in ein seidig blendendes Moiré. Am Horizont zeichnet sich das Profil der Altstadt ab, still, fast irreal: die Festungswerke, der Uhrenturm, die Kuppel der Kathedrale Mariä Himmelfahrt und, auf der Anhöhe, die Silhouette des Jesuitenkollegs mit seiner in ihren robusten Umrissen dominierenden Kirche. Die breitgestreckte Insel Lokrum – sie ist eine der 1180 Inseln Kroatiens –, fast ganz bewaldet und auf der mir zugewandte Ostseite frei von Bauten, bildet eine imposante Kulisse, die so aussieht, als wollte sie die Stadt und ihren Strand in Schutz nehmen. Die Wärme der Sonne berührt schmeichelnd meine Haut – eine wahre Wohltat für den ganzen Körper. Ich beginne, wieder vom Sommer zu träumen, der mir auf einmal ganz nahe, ja geradezu faßbar zu sein scheint. Land, trunken von Licht: Die Sehnsucht nach sommerlichen Tagen lässt es erwachen vor meinem geistigen Blick. Ein sinnliches Glück steigt in der glühenden Hitze des Tages auf und in der lauwarmen Brise der Nacht, unter dunkelblauem, tiefem, mit Myriaden von Sternen übersätem Firmament. Wenn die Natur erstarrt in der Mittagsglut und die Luft erzittert unter der unerbittlichen Sonne, verblassen die Farben so sehr vor dem geblendeten Auge, dass sie sich beinahe auflösen, während das schrille Zirpen der Grillen die brennende Atmosphäre zerschneidet und ein herber Geruch aus der trockenen Erde emporsteigt. Ich liebe die enorme Weite jener Landschaften, deren gleißende Helle nur von wenigen schattigen Stellen durchbrochen wird, 93

die den flüchtigen Eindruck vermitteln, dort weiche das Leben vor der brennenden Sonne zurück. Dieses Feuer verzehrt, wobei es das Leben zu seinen Ursprüngen zurückführt. Ich denke an Empedokles, jenen vorsokratischen Weisen aus Agrigent, der, so besagt es die Legende, sich mit der Weltseele vereinigen wollte, als er sich in die Glut des Ätna stürzte. Der kleine felsige Strand am Fuße des Hotels Excelsior, geradezu ideal für beschauliches Nichtstun, gewährt mir eine Freude, deren Charakter mich überrascht. Erlebe ich doch hier einen jener privilegierten Augenblicke, da die Welt mir entgegenkommt. Die Verbitterungen und schmerzlichen Hindernisse versinken, die Konflikte lösen sich, denn der Verstand erfasst auch in ihnen das Wirken der großen vitalen Urkraft des Universums. Die Gesetzmäßigkeit des Alls offenbart sich in dessen Schönheit. Die Inspiration der Schöpfung! Die Schönheit der Welt und des Menschen: Gott offenbart sich in seinen Werken. Ein Künstler tut dasselbe. Die Schöpfung ist ein Gesamtkunstwerk. So führt sie zurück zu ihrem Urheber. Damit erfüllt die Schönheit eine vermittelnde Funktion. Dank ihr ist der menschliche Geist fähig, sich dem Universum eingebunden zu fühlen. Diese Stunde birgt für mich ein inniges Gefühl der Versöhnung mit der Welt und den Menschen. Verbundenheit, wunderbarer Einklang von Mensch und Natur! Die Luft kühlt jetzt schnell ab. Schon naht der Abend. Ich muss mein Hotelzimmer aufsuchen, um passende Kleidung anzulegen. Indem ich wieder in den Aufzug steige, denke ich, dass der Augenblick gekommen ist, einen Schlussstrich unter meine Erlebnisse zu ziehen. Nach dieser unverhofften Siesta am Ufer des Meeres müsste ich eigentlich zufrieden sein und den Tag abschließen können, ohne auch nur den geringsten Anflug von Enttäuschung zu verspüren. Ich fühle mich jetzt erholt und gestärkt, also bestens vorbereitet auf den kommenden Tag. Doch ich sollte mich irren: Der Höhepunkt dieses denkwürdigen Sonntags ist noch nicht erreicht.

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XIV. Sublimer Mozart Nach einigem Überlegen beschließe ich, wieder in die Stadt zurückzukehren, sei es auch nur, um dort einen ruhigen Platz in einem Restaurant fürs Abendessen zu suchen. Diesmal wage ich mich in den östlichen Teil der Altstadt hinein, indem ich von der Placa aus ein mit Treppen versehenes Gässchen hinaufsteige. So gelange ich in die Peline-Straße, die zum Buža-Tor führt, um dann den Festungsmauern entlang zu verlaufen. Eigentlich ein Flanieren noch ohne genaues Ziel. Die Sonne ist jetzt bereits hinter den Häusern verschwunden. Der Abend ist hereingebrochen. Ich lasse mich von den Passagen leiten, die sich vor mir öffnen und genieße die frische Luft. Besonders aber schätze ich die Ruhe der Umgebung. Es herrscht eine fast absolute Stille, und nur meine Schritte auf den Pflastersteinen sind zu hören. Ganz plötzlich, wie hervorgebracht durch einen geheimen Zauber, beginnt in diesem abendlichen Frieden das Ereignis, das für mich zweifellos den Höhepunkt dieses schon so bedeutenden Tages bilden wird. Es handelt sich um Musik. Ihr unerwartetes Erklingen wäre mit einer jähen Erleuchtung zu vergleichen. Auf einem kleinen Platz am Ende der Peline-Straße, ganz nahe an den Türmen Drezvenik und St. Jakob, ertönt der Gesang eines Chores, begleitet von einem Orchester. Die Musik ist von einer Qualität, die sich nicht einer technischen Wiedergabe zuschreiben lässt. Gleich habe ich Mozart erkannt und, nach einigen Takten, das ergreifende Lacrimosa, jener so eindrucksvolle letzte Teil des Dies irae seines Requiems. Hinreißend in ihrer Reinheit und Feierlichkeit erhebt sich die Melodie in der klaren Atmosphäre des Abends. Die Stille des Viertels mit seinen leeren Straßen verleiht ihr eine außerordentlich reiche Klangfülle. Da ich nun unbedingt mehr erfahren möchte, nähere ich mich dem Ort, von wo sie herkommt. Er ist schnell erreicht. Durch die niedrigen Fenster des Untergeschosses einer Kapelle, die nicht mehr zu sakralen Zwecken benutzt zu werden scheint, entdecke ich das musikalische Ensemble der Sänger und Instrumentisten. Man ist offensichtlich bei einer Probe. Lacrimosa dies illa: Wir befinden uns ganz in der Totenmesse, so wie sie in der guten alten Zeit bis vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil zelebriert wurde. Thema ist das Letzte Gericht. Bevor der Chor einsetzt, erhebt das Orchester eine Kla95

ge in Form eines kurzen melodischen Aufbegehrens in acht einander folgenden Variationen. Um anschließend anzudeuten, dass viele Tränen an jenem Tag fließen werden, da Christus zu Gericht sitzen wird, entfaltet sich der Gesang zuerst mit einer majestätischen Langsamkeit, die zweimal durch ein leichtes crescendo akzentuiert wird. Qua resurget ex favilla /​ Judicandus homo reus: Der mit Schuld beladene Mensch wird aus dem Staube hervorgehen, um vor seinem Richter zu erscheinen. Hier avanciert die Melodie nur noch stoßweise, wobei sie zugleich Staunen und Entsetzen ausdrückt. Sie klingt wie eine Art Keuchen oder auch ein Zögern; sie scheint eine verhaltene Erschütterung zu bekunden. Es gibt keine Möglichkeit zu entkommen, kein Flüchten. Der Mensch ist jetzt gezwungen, sein Leben durchzugehen, die Bilanz zu ziehen und die Verantwortung zu übernehmen. Also eine unerbittliche Konfrontation mit sich selbst! In Erwartung des Urteilsspruchs zittert er vor Angst, und seine Tränen zeugen von Bedauern, von Bereuen. Wird ihm die göttliche Barmherzigkeit zuteil werden? Die Musik deutet zuerst das Gegenteil an: Sie kleidet die Worte homo reus – „schuldiger Mensch“, Sünder – in einen wahren Schreckensschrei, der noch verstärkt wird durch die dumpfen Schläge der großen Pauke, die wie eine unheilverkündende Drohung dröhnen. Es geht dabei genau um den allerletzten von Mozart selbst geschriebenen Takt. Er ist wie ein wahrhaft erschütterndes musikalisches Symbol der Idee der ewigen Verdammnis. Man weiß genau, dass an dieser Stelle des Manuskriptes Mozarts Handschrift ein Ende nimmt. Darüber sind sich die Fachleute einig. Tatsächlich ist es nach dem achten Takt des Lacrimosa gewesen, dass Mozart, kurz bevor er starb, die Partitur endgültig aufgab. Dies wird von Joseph Leopold Eybler bestätigt, dem ersten Komponisten, dem Constanze das Manuskript anvertraute. Franz Xaver Süßmayr nahm es von ihr erst später in Empfang. Eybler hat in der rechten oberen Ecke der Manuskriptseite notiert: „Letztes Mozarts [sic] Manuskript“. Es mag zur Besinnung anregen, dass gerade an dieser Stelle Mozarts Komponieren endete, also dort, wo er sich konzentriert auf das Thema der Schuld. Was könnte die Ursache gewesen sein? War es Schwäche? Fiel ihm die Fortsetzung zu schwer, nämlich die gedankliche und musikalische Lösung des Problems? Jedenfalls kam es zu keiner weiteren Niederschrift mehr. Ohne sich in Spekulationen zu verlieren, gilt es noch anzumerken, dass es eine Gemeinsamkeit gibt mit dem Schluß der Oper Don Giovanni. Die Vertonung im Lacrimosa der Bezeichnung homo reus, eben der letzte von Mozart selber ge96

schriebene Takt, erinnert an den so fürchterlich disharmonischen Schrei, den Don Giovanni ausstößt in dem Augenblick, da die ewigen Flammen der Hölle sich seiner gierig bemächtigen. Mit seinen zahlreichen aufeinanderfolgenden „no“ hat er dem Komtur keck die Stirne geboten, der ihm befahl, zu bereuen, indem er vergeblich ein dreifaches „pentiti“ mit donnernder Stimme ertönen ließ. Don Giovanni zeigt sich hier in seiner provozierenden, aber gerade dadurch so imposant schillernden Gestalt, frevelhaft und verführerisch zugleich. Dabei vertritt er eindrucksvoll diejenige Haltung, die keine Macht, wie auch immer sie geartet sein mag, zu akzeptieren bereit ist. Trotzig weigert er sich zu bereuen, denn dadurch würde er dem Gesetz Recht geben und das hieße, dass er sich ihm unterwirft. Die ewige Pein stellt eine grandiose Metapher dar für die kategorische Ablehnung, die jegliche Autorität einem derartigen absoluten Widerstand entgegenbringen muss, wenn sie sich nicht selber aufgeben will. Da gibt es allerdings schwerwiegende Unterschiede gegenüber dem Requiem, doch bleibt das Thema des Frevels und der Schuld erstaunlicherweise in beiden Werken vorrangig. Der homo reus des Requiems und Don Giovanni, der skrupellose und dennoch glänzende Held der Oper: Sie sind irgendwie miteinander verwandt. Doch handelt es sich um zwei grundverschiedene Arten, mit dem Thema der Schuld umzugehen. Bleiben wir aber beim Requiem! Achten wir besonders auf die ersten acht Takte des Lacrimosa. Man hat gemutmaßt, die Tränen hätten Mozart daran gehindert, fortzufahren, so stark sei er erschüttert gewesen, als er die Passage komponierte. Doch diese Erklärung ist fraglich. Wäre es nicht besser, darin nur eine romantisierte Tatsache zu erblicken, wie es manche im Zusammenhang mit diesem Werk gibt? Man erzählt ja auch, Mozart habe in dem Abgesandten des Grafen Franz von Walsegg-Stuppach, der an seiner Tür vorsprach, um ein Requiem zu bestellen, den Boten seines eigenen Todes erkannt. Immerhin berichtete Constanze, diese Erscheinung habe ihn beunruhigt und ihm das dunkle, abgründige Gefühl vermittelt, dieses Requiem für sich selber zu schreiben. Heute wissen wir, dass der Graf mit diesem Werk seine junge verstorbene Gattin zu ehren gedachte. Die Anfrage sollte im Geheimen geschehen, da er, so berichtet man, die Werke renommierter Komponisten zu erwerben pflegte, um sie als die seinigen auszugeben. Es fehlt nicht an Hypothesen und Studien über die Beendigung dieses berühmten Requiems. Die Sequenz Dies irae umfasst sechs Teile. In großen Zügen ist sie noch das Werk von Mozart selber. Das gleiche gilt übrigens auch für die beiden 97

folgenden Sätze: Domine Jesu Christe und Hostias et preces. Diese gehören zum Offertorium der Messe, was nur heißen kann, dass der Komponist sie vor dem Lacrimosa geschrieben hat, dem letzten Stück des Dies irae, von dem die acht ersten Takte eben die von Mozart selbst stammende Niederschrift abschließen. Der Komponist ist folglich nicht der Reihe nach vorgegangen. Es gibt somit aus seiner Feder einen Entwurf dieser acht Teile – mit Ausnahme eben des Schlusses des Lacrimosa. Er mag unvollständig sein, doch enthält er sämtliche Vokalpartien, eine Skizze des Basso continuo sowie verschiedene Hinweise für die Instrumentation. Als Süßmayr das Werk zu Ende führte, brauchte er hier also hauptsächlich nur eine Routinearbeit für die Begleitpartien zu leisten. In dem von Eybler und Süßmayr komponierten Abschnitt des Lacrimosa, also vom neunten Takt an bis zum Schluss, ist der musikalische Charakter offensichtlich ruhiger, versöhnlicher. Der Text verlangt es auch, da es sich um ein Gebet handelt. Man kann hier also keine Opposition zwischen Mozart und den Vollendern seines Werkes sehen. Gott wird angefleht, den Menschen zu schonen, der vor Gericht erscheint, den homo reus: Huic ergo parce Deus  –  „Lass ihn, Gott, Erbarmen finden“. Schonung wird durch Erbarmen gewährt. Das erinnert stark an das vorausgehende Stück, das Confutatis, das, wie wir ja heute wissen, noch von Mozart selber in seinen großen Linien komponiert wurde. Nach der niederschmetternden Evokation der Verdammten lässt sie in einem sehr ergreifenden Kontrast ein Gebet an Gott erklingen. Es ist ein demütiges Gebet, eine schüchterne und ungeheuer sanfte Bitte, mit den Auserwählten aufgerufen zu werden, den „Seligen“: Voca me cum benedictis – „Rufe mich mit den Seligen“. Nach der Bitte um Schonung folgen im Lacrimosa, vor dem Amen, nur noch diese zwei Verse: Pie Jesu, Domine /​ dona eis requiem – „Milder Jesus, Herr, schenke ihnen die Ruhe“. Ein neues Flehen, diesmal jedoch mit weniger Nachdruck. Wir können erkennen, dass das Gedicht sich am Schluss einem anderen Ideenbereich zuwendet, der weder theologisch noch ethisch ist, sondern psychologisch. Gekennzeichnet jetzt von einem Streben nach Seelenruhe, hört es auf, den Tag des Jüngsten Gerichtes zu beschwören, der aber immerhin das große, dominierende Thema des Dies irae bleibt. Wir beten für die Verstorbenen. Möge Gott ihnen die ewige Ruhe schenken. Die Begriffe von Auserwähltsein und Verdammung weichen zurück. Für die Verstorbenen, für sie alle, flehen wir um den ewigen Frieden. Es gibt Studien, die das Lacrimosa als einen Zusatz im Text betrachten und dabei behaupten, das Dies irae müsste eigentlich enden mit dem Confutatis. Die 98

Hypothese ist umso plausibler, als es auch in formaler Hinsicht eine deutliche Differenz gibt: Strophen mit nur zwei Versen und nicht mit drei, und am Schluss eine Assonanz anstatt eines Reimes. Tatsächlich mag es durchaus sein, dass es sich um ein Arrangement handelt, das zu liturgischen, ja sogar pädagogischen Zwecken eingeführt wurde. Wir dürfen annehmen, dass eine milde, mit dem Willen zu besänftigen beseelte Feder sich genötigt fühlte, am Ende den Akzent auf eine beruhigende, die Schmerzen lindernde Wendung zu legen, um zu helfen, das unter den anwesenden Gläubigen durch die Heraufbeschwörung der zur ewigen Pein Verdammten sicherlich provozierte Entsetzen zu überwinden. In Andacht versunken und zugleich beseligt verfolge ich schließlich die plagale Kadenz des Amen. Sie beendet das Dies irae in seiner Gesamtheit. Es handelt sich natürlich um eine Komposition von Süßmayr, wohingegen Mozart ein fugales Amen geplant haben soll. Amen – „So möge es sein!“ –, was hier zweifellos bedeutet, dass dank der göttlichen Liebe die reuige Seele Befreiung und Frieden erlangt. Der Chor lässt ein Forte majestätischen Umfangs erschallen, das anschwillt, aufsteigt, zerspringt, bevor sich eine tiefe, dichte, wirklich spürbare Stille einstellt, die noch minutenlang den Platz und die Gassen erfüllt. Auch ich bin still, fast wie versteinert, um den Zauber nicht zu gefährden. Die Atmosphäre der ganzen Umgebung ist sublim geworden. Göttlicher Mozart! Die Welt scheint jetzt nur noch von heiterer Gelassenheit zu sein an diesem Abend, der sich langsam auf die Stadt senkt, und ich fühle mich so frei, so befreit, so entspannt, als ob alle Krisen, alle Nöte, alle Feindseligkeiten, wie sie auch immer gewesen sein mögen, sich wie durch ein Wunder aufgelöst hätten, überwunden von dem anmutigen Reiz dieser überirdischen Musik. Jedoch haben so manche Worte des Dies irae in mir eine Besinnung heraufbeschworen, die angesichts der dunklen Kulisse der feindlichen Auseinandersetzungen, die sich am politischen Horizont Jugoslawiens ankündigen, ihre Bedeutung hat. Um das Problem des Umgangs mit der Schuld geht es im Dies irae in einer metaphorischen, theologisch bestimmten Form.

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XV. Unvermeidliche Aporie Das Dies irae ist eine Dichtung aus dem 13. Jahrhundert, die man dem Franziskanermönch Thomas de Celano zuschreibt. Der Text lässt trotz aller Worte über die ewige Verdammnis durchblicken, dass am Ende trotz allem die göttliche Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit Herr werden kann. Die Barmherzigkeit erscheint letztlich als die Stärkere – selbst wenn man, nicht zu Unrecht, den Eindruck gewinnt, dass der Autor die Vision des Jüngsten Gerichtes als eine Drohung benutzt, um die Gläubigen auf dem rechten Weg der Tugend zu halten. Die Tränen, von denen die Rede ist, weisen darauf hin. Barmherzigkeit versus Gerechtigkeit. Die Nächstenliebe ist zweifellos der höchste, der absolut fundamentale Wert im Christentum. Gott ist die Liebe (1 Johannes 4,8). Andererseits jedoch ist kein gemeinsames Leben möglich ohne die Gerechtigkeit. Sie ist die conditio sine qua non für alles Leben in der Gesellschaft. Das wird uns sogar von der Ethnologie bewiesen. Es gibt in allen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte einen Gerechtigkeitssinn von hohem moralischen Charakter. Er liegt auch jeder zivilen Gesetzgebung zugrunde sowie dem Strafgesetzbuch. Ganz im Gegenteil und unabhängig von gerechtigkeitserstrebenden Normen wirkt das großzügige Herz, die interesselose Hilfe für den Mitmenschen, die Liebe, die nur zu schenken weiß unter Ausschluss aller Rechnungen, Messungen, Bewertungen, Bilanzen. Die Liebe gibt uns die Kraft, sämtliche Vorbehalte, selbst die unseres Gerechtigkeitssinnes, zu überwinden. Wer das tut und es dabei auch ehrlich meint, muss sich allerdings gefasst halten auf so mancherlei Proteste und Revolten, ja sogar auf nicht enden wollende Konflikte. Die vom Neuen Testament zur Sprache gebrachte apokalyptische Vision des Jüngsten Gerichts lässt sich auf das Gebiet der Psychologie übertragen. Wir sprechen dann von einer Gewissenserforschung, einer Bilanz, die der Mensch in entscheidenden Momenten seines Lebens zieht, besonders, wenn dieses zur Neige geht oder sich sogar schon dem Tod nähert. Die Reflexion als die Verdoppelung des Ichs in ein Subjekt und ein Objekt zugleich, erlaubt ihm, sich selbst gegenüber den Richter zu spielen. Sein Gewissen regt sich, indem es urteilt über die Fehler 100

und Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat. Hier aber hört die Psychologie auf. Sie hat ihre Grenzen. Wenn wir nämlich von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Bezug auf uns selber sprechen wollen, dann sind wir gezwungen, uns über die Grenzen unserer Person hinwegzusetzen, damit sie in Beziehung treten kann zu unseren Mitmenschen. Und die Tränen, wodurch sind sie bedingt? Lacrimosa dies illa – „Tränen fließen an jenem Tag“, also dem Tag des Jüngsten Gerichtes. Sicher ist, dass sie ein Bedauern zum Ausdruck bringen. Auch die Furcht vor dem Urteil, das heißt, wenn wir die psychologische Auslegung anwenden, vor den Folgerungen unserer Bilanz. Tränen der Angst also. Hinzu sollte aber die Reue kommen. Sie ist unbestreitbar tiefer und komplexer als das bloße Bedauern, und sie enthält den Wunsch nach Versöhnung mit der Welt und den Menschen, den Willen, sich wieder in eine Ordnung einzureihen, die genügend zu achten man nicht die Kraft hatte. Die Hoffnung auf Rückkehr zum Guten, und damit auf die Befreiung von einer inneren Last, scheint Frieden der Seele anzukündigen und enthält bereits im Keim das Gefühl, das mit dem Wort Seligkeit bezeichnet wird. Man lese Schuld und Sühne von Dostojewski. Dem einzelnen Menschen, der Schuld auf sich geladen hat, obliegt es, diejenigen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen seine seelische Verkrampfung sich auflösen kann. Die Tränen gehören insofern dazu, als auch hierbei stets Emotionen mitwirken. Wir erörtern ja das Spannungsverhältnis zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Die Liebe, die Nächstenliebe, die caritas: Sollte sie nicht stärker sein können als das Gesetz und sogar an die Stelle der Gerechtigkeit rücken können? Gelingt es Victor Hugo in seinem Roman Les Misérables etwa nicht, die durch Erbarmen entstandene Paradoxie zum Höhepunkt zu bringen in der so ergreifenden Figur des Monseigneur Muriel, des Bischofs von Digne? Dank seiner Güte hat er es verstanden, sich durch eine außergewöhnliche wohltätige Geste den menschlichen Gerechtigkeitsnormen zu entziehen und dadurch einen Menschen, Jean Valjean, einen geflohenen Sträfling, wieder auf den rechten Weg zu bringen. Der sonderbare Gast, auf seiner Flucht von dem Prälaten aufgenommen, hat bei diesem auch noch Silberbesteck gestohlen. Doch erklärt der Bischof den auf der Verfolgungsjagd befindlichen Gendarmen, es handele sich dabei um ein Geschenk, das er diesem armen Menschen gemacht habe, und fügt sogar noch zwei prächtige Kandelaber hinzu. Also eine Nächstenliebe, die stark genug ist, den Drang 101

nach Gerechtigkeit zu überwinden! Man kann hier auch an die bekannte Polemik denken, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen François Mauriac und Albert Camus ausgetragen wurde über die Strafen, die in Frankreich gegen die Kollaborateure verhängt wurden. Beide Schriftsteller standen auf der Seite des Widerstandes. Mauriac, als gläubiger Christ und getreu den Grundgedanken, die all seine Romane durchziehen, war der Meinung, dass die Nächstenliebe wichtiger sei als die Gerechtigkeit, während Camus auf die Notwendigkeit hinwies, eine strenge Haltung einzunehmen, im Namen der Gerechtigkeit. Letztlich aber gab er zu, dass Mauriac ihm gegenüber Recht hatte. Das mag überraschen, denn zu diesem Zeitpunkt hatte der Autor der Peste schon lange die Wege seiner katholischen Kindheit verlassen. Gleichwohl war ein gewisses ethisches Christentum bei ihm immer noch latent vorhanden. Um seinen Atheismus richtig beurteilen zu können, sollte man in seinen Actuelles 1 die Fragmente des Vortrags lesen, den er im Dominikanerkloster von Latour-Maubourg im Jahre 1948 hielt. Die Kollaboration, in Frankreich wie in anderen Ländern, war befleckt von einer unleugbaren Mitschuld an den Nazi-Verbrechen, vor allem an den Judenverfolgungen, ganz abgesehen von dem Verrat, dessen sie sich dem eigenen Land gegenüber schuldig machte. Wenn man von diesem unseligen Zweiten Weltkrieg spricht, ist man genötigt, so manche hassenswerte Tatsache ins Auge zu fassen. Was soll man sagen von all den verantwortlichen Befehlenden, die, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den vielen damals von den Deutschen oder ihren Verbündeten besetzten Ländern mordeten oder mindestens zu den Verbrechen beitrugen? Und von denjenigen Kollaborateuren, die dabei mitgeholfen haben, auch wenn sie dies mehrheitlich nur durch ihre politische Haltung taten, nicht durch Mithandeln? Müssen wir nicht zugeben, dass es Fälle gibt, angesichts derer Liebe, Mitleid und Erbarmen doch sinnlos erscheinen, sofern sie überhaupt möglich sind? Es kann nicht geleugnet werden, dass die Liebe, wie sublim sie auch manchmal sein mag, auf bestimmte Grenzen stößt. Gibt es nicht Ungeheuerlichkeiten, die so riesig sind, so exorbitant, dass sie es ihren Opfern und deren Nahestehenden einfach unmöglich machen, noch auf eine vernünftige Weise von derartigen Gefühlen zu sprechen, geschweige sie selber zu hegen? Denkt man an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dann geht es natürlich nicht allein um die Schoah. Da gibt es abscheuliche Vergehen, vor allem Morde, auch an Kindern, die Entsetzen verbreiten, Empörung hervorrufen: Das 20. Jahrhundert ist auf skandalöse Weise 102

voll davon, und das 21. zeigt uns leider, dass die Menschheit nach all den Gräueln ziemlich wenig hinzugelernt hat. Die Gemetzel und Blutbäder sind auch in unserer gegenwärtigen Zeit zahlreich und unterscheiden sich im Grunde nur durch die Art des Tötens und die Zahl der Opfer. Die Aporie lässt sich nicht aus der Welt schaffen: Es gelingt nicht, die Gerechtigkeit mit der Nächstenliebe zu vereinen. Hier ist alles menschliche Suchen und Räsonieren am Ende. Wir stehen mit dem Rücken an der Wand. Mit der göttlichen Gerechtigkeit hingegen verhält es sich anders; allerdings befinden wir uns damit auf dem Gebiet der Glaubenswahrheiten. Sollte die göttliche Liebe nicht stärker sein als alle menschliche Gerechtigkeit? Mit der Frage begeben wir uns jenseits der Beweiskräfte menschlicher Vernunft. Doch lassen wir dabei vielleicht eine Hoffnung aufleuchten. Unglücklicherweise scheint die triebhafte Neigung zum Bösen oft stärker zu sein als der Verstand. Das offenbarte sich auch in Jugoslawien, als dort im Jahr 1991 wiederum offener Krieg ausbrach. Objektiv betrachtend sollten wir sogar im Plural von Kriegen sprechen, da ja mehrere gewaltsame Konflikte zwischen den Völkern des Landes auf schreckliche Weise stattfanden. Wie gesagt: Die Gräueltaten sind auch in unserer Zeit zahlreich. Wie da noch an Barmherzigkeit, überhaupt an Milde den Verantwortlichen gegenüber denken? Hieße das nicht, allen menschlichen Gerechtigkeitsnormen Hohn sprechen? Und ebenso der Nächstenliebe? Jedenfalls basiert das Urteil eines Richters auf den Gesetzen und es kann sich nicht nach dem Gebot der Nächstenliebe richten. Man denke an die Nürnberger Prozesse! Man vergesse auch nicht die gegenwärtigen Prozesse des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Eine internationale Rechtsprechung, im Namen der Menschheit und der Menschlichkeit, begann 1945 mit den Nürnberger Prozessen. Man forderte Genugtuung für die ungeheure, nicht enden wollende Zahl der Opfer, vor der jeder Atem stockte. Wir können nicht umhin, von Verantwortlichkeit zu sprechen und damit auch im speziellen von Schuld und von Schuldigen. Allgemein gilt, dass ein Krieg mit allen Abscheulichkeiten, die er mit sich bringt, stets vom Willen derjenigen Menschen abhängt, die ihn verursachen und unter deren Verantwortung er somit stattfindet. Man kann ihn nicht für das unabwendbare Ergebnis historischer Bedingungen und Geschehnisse halten. Die Menschen selber sind es, die darüber entscheiden, nicht eine vage und geheimnisvolle Entwicklung, auf die sie keinen 103

Einfluss haben. Einem Fatalismus darf man nicht verfallen. Er wäre purer Mystizismus und könnte jederzeit als Rechtfertigung dienen für jegliche Art gewaltsamer Machtausübung. Nein, die Menschen haben einen freien Willen und sind folglich imstande und in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Sie sind es, die den Gang der Geschichte bestimmen, was auch heißt, dass sie sich jedes Mal schuldig machen, wenn sie einen Angriffs- und Eroberungskrieg eröffnen. Allerdings kann derjenige Angeklagte, der ehrlich bereut, eine gewisse Milde seitens seiner Richter erwarten. Weshalb? Einfach weil diese Einstellung ihn menschlicher erscheinen lässt. Zumindest handelt es sich dabei um eine Geste, die den Willen offenbart, nicht gänzlich getrennt von der Gemeinschaft der Menschen zu bleiben und ein Stück Solidarität wiederzugewinnen. Diesbezüglich kann man ruhig von einem Wunsch nach Rehabilitation sprechen. Bestrafung wird dann zur Sühne. Sie stellt beim Schuldigen mindestens einen Versuch dar, die Wunde zu kompensieren, wenn nicht sogar zu heilen, die er seinen Mitmenschen durch die Taten zugefügt hat, die er gegen sie beging. Dagegen wird die hartnäckige Weigerung, Reue zu zeigen, mit Recht als eine trotzige, inhumane Haltung angesehen, die einen strengeren Richterspruch rechtfertigt. – Diese Einstellung lässt sich auch bei Mozart finden, genial in Musik gesetzt. Sein Don Giovanni fährt zur Hölle, da er dem Befehl, zu bereuen, getrotzt hat. Sein Nein ist sicher glänzend und heroisch, doch das ist kein Grund für die Gesellschaft, es zu akzeptieren. So faszinierend der Hochmut Don Giovannis auch sein mag: Die Gesellschaft kann nicht auf Ordnung und auf eine gewisse Stabilität verzichten. Sie nimmt eine derartig hochmütige und anmaßende Herausforderung nicht hin. Normalerweise wirkt der Mangel an Reue nicht nur befremdend, sondern sogar abstoßend. Das haben wir wiederum erlebt angesichts der Bilder der Prozesse vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. Wir hatten gehofft, Reue zu erleben. Doch wir wurden enttäuscht. Ein Zeichen von Reue kann schon eine helfende Wirkung für den Angeklagten selber haben, dann aber hat sie diese sicher für seine Mitmenschen, ja, gelegentlich für die ganze Menschheit. Reue ist ein Eingeständnis und zugleich schon ein Stück Wiedergutmachung. Sie gibt der Mitwelt eine Genugtuung, an die so mancher sich in seinem Leid klammern kann. Bedauerlicherweise ist es aber gerade im Falle von Kriegsverbrechen gewöhnlich die Selbstbehauptung – in Form einer Verteidigung um jeden Preis –, gepaart mit der entschiedenen Weigerung, zu bereuen, die vom Angeklagten zur Schau getragen wird. 104

Reue beinhaltet logischerweise ein Bekenntnis zu einer Werteordnung. Den Glauben an das Gute im Menschen wollen wir nicht aufgeben. Wir brauchen ihn dringend, um selber gut sein zu können. Jene Worte in Anne Franks Tagebuch vergisst man nicht, wenn man sie einmal gelesen hat: „Doch ich halte daran fest [an ihren Hoffnungen], trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube.“ Dieser Satz wurde geschrieben zwanzig Tage bevor das Mädchen zusammen mit seiner Familie entdeckt und ins Konzentrationslager abtransportiert wurde. Was dann mit ihr geschah, ist bekannt. Man kann nicht an sie denken ohne dabei eine tiefe Ergriffenheit zu spüren. Dabei steht sie gewissermaßen stellvertretend für Hunderttausende ähnlicher Fälle.

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XVI. Mozart in der Kathedrale Bald wird es sieben Uhr sein. Ich schlage jetzt die Richtung zum Marin-DržićPlatz ein, der Držićeva poljana, weil ich die Kathedrale Mariä Himmelfahrt besichtigen möchte. In dem großartigen Bauwerk werde ich vielleicht auch der Abendmesse beiwohnen. So durchquere ich nun ein Stück der Placa und dann den Luža-Platz. Beide sind menschenleer, während sie um die Mittagsstunde so belebt waren. Einige Lampen sind bereits im Innern der Häuser angezündet, denn die Nacht bricht herein. Diesen Übergang mag ich sehr, wenn die Fenster eines nach dem anderen aufleuchten und so die Atmosphäre hinter den Fassaden ahnen lassen. Zu dieser abendlichen Stunde gibt es aber nicht mehr das Spiel von Licht und Schatten, das mir unter der Morgensonne, als ich auf die Festungsmauern zuging, von der so prunkvoll künstlerischen Gestaltung der Vorderseite der Kirche dargeboten wurde. Dort bilden Portale, Nischen, Giebel, korinthische Säulen, Pilaster, Balustraden und Statuen ein kohärentes und harmonisches Ganzes. Ein Rest von Helligkeit erlaubt mir, noch ein wenig das Äußere dieses gewaltigen, im römisch barocken Stil gehaltenen Baus zu bewundern. Dubrovniks Kathedrale Mariä Himmelfahrt wurde zwischen 1672 und 1713 von mehreren Architekten errichtet, zu denen der berühmte Andrea Buffalini aus Rom zählte. Sie hat als Grundriss ein lateinisches Kreuz mit drei Schiffen. Über der Kreuzung des Hauptschiffs mit dem Querhaus erhebt sich eine hohe Kuppel. Das heutige Gebäude ersetzte die frühere romanische Kathedrale, die fast gänzlich durch das Erdbeben von 1667 zerstört wurde. Eine Legende erzählt, seit dem 12. Jahrhundert habe an dieser gebaut werden können dank einem Votivgeschenk von König Löwenherz, der bei seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land im Jahre 1192, nach dem dritten Kreuzzug, mit viel Glück einen Schiffbruch in der Nähe der Insel Lokrum überlebt habe. Doch sind Überreste einer noch älteren Kirche 1981 während der Renovierungsarbeiten entdeckt worden. Dabei handelt es sich um einen byzantinischen Bau, der anscheinend bis ins 7. Jahrhundert zurückreicht. Man glaubt, damit den Beweis zu haben, dass Dubrovnik bereits zu jener Zeit eine städtische Siedlung war. Heute hat man es folg106

lich mit drei übereinander gelagerten Kirchen zu tun. Die religiöse Bedeutung des Ortes ist evident. Die Nähe des Hafens gab ihm eine günstige zentrale Lage – wie auch den bedeutenden Nachbargebäuden, an erster Stelle dem Rektorenpalast. Nachdem ich die sieben Stufen hinaufgestiegen bin, betrete ich die Kirche durch eines der Seitenportale. Das Innere liegt in einem wohltuenden Halbdunkel. Die halbrunden Fenster der Seitenfassaden und die des oberen Teils des Hauptschiffes und der Kuppel lassen schon kein Licht mehr herein, da es fast Nacht geworden ist. Langsam bewege ich mich hinauf zum Chor, zwischen den beiden Reihen von massiven Pfeilern, die das zentrale Gewölbe tragen. Was hier unverkennbar dominiert, ist der majestätische Charakter der römisch barocken Architektur, der sehr an den Petersdom in Rom erinnert. Man hat überall helle Farbtöne verwendet: Das milchige Weiß an den Stellen, wo mit Gips gearbeitet wurde, passt sich auf delikate Weise dem Ocker der Bausteine an, aus denen die Sockel, die Bogen und die Kapitelle bestehen. Der Blick heftet sich speziell auf das Polyptikon, das in der Mitte der Apsis prangt. Es wird Tizian zugeschrieben und wäre gemalt worden nach 1552, doch zieht man es vor, es auf dessen Schule zurückzuführen. Wir wissen, dass Tizian, geboren um 1488, an der Pest gestorben ist in Venedig 1576, also in einem sehr hohen Alter. Der Flügelaltar enthält ein großes Mittelstück, das die Himmelfahrt Marias darstellt, dazu vier Seitentafeln, oben kleinere und unten längere. Die beiden längeren zeigen jeweils zwei Figuren: links den heiligen Blasius, der leicht zu erkennen ist wegen des Modells der Stadt, das er mit seiner Linken trägt, und Lazarus sowie rechts den heiligen Nikolaus, ohne Mitra auf dem Haupt, was immerhin an andere Darstellungen des Heiligen von Tizian erinnert, und einen Priester namens Antonius. Die Gestaltung des Chores mitsamt dem Altar wirken dagegen einfach und bescheiden, da sie von dem Kunstwerk überragt werden, das ein wahrer Blickfang ist – allein schon wegen seiner dunklen Farbtöne, die mit dem Weiß der Apsis einen lebhaften Kontrast bilden. Im Ganzen betrachtet kann man sagen, dass die Kathedrale von Dubrovnik ein grandioser und monumentaler Bau ist, der auf einzelne dekorative Elemente verzichtet. Es gibt nur wenig Verzierungen. Ein raffinierteres Dekor kann der Besucher allerdings sowohl an der Umrahmung der Orgel, der Brüstung der Empore sowie ebenfalls in den Seitenkapellen bewundern. So entdeckt er unter anderem den Altar des heiligen Johannes Nepomuk, ein eher kurioses Werk aus violettem Marmor, in einem nordisch barocken Stil gehalten. Wiederum werde ich an 107

die Geschichte der Luxemburger erinnert. Ist es doch Wenzel IV. gewesen, Sohn Karls IV. und Halbbruder Sigismunds, der den Märtyrertod dieses Priesters hohen Ranges angeordnet hatte. Nepomuk wird auf den Altären verehrt seit 1721, nachdem er die Seligsprechung erhalten hatte, um dann sechs Jahre später heiliggesprochen zu werden. Er ist der Schutzheilige Böhmens. 1393 ließ König Wenzel den Generalvikar einkerkern, foltern und schließlich gefesselt in die Moldau werfen. Weshalb? Nepomuk, dieser hohe Vertreter der Kirche, trug Sorge um die Unabhängigkeit der geistlichen Macht. Frisch ernannt von seinem Erzbischof, hatte er es gewagt, sich der Politik seines Königs zu widersetzen, besonders als dieser die Wahl eines neuen Abtes in einer Benediktinerabtei verbot. Solcher Widerstand brachte ihn zu Fall. Bis zu seinem Ende war er aufrichtig und tapfer im Streit mit seinem Monarchen. Er zeigte ein mustergültiges Benehmen, dessen Wert und Bedeutung das Gebiet der Staatsaffären weit überragte. Weil er auf Befehl seines Herrschers in der Moldau ertränkt wurde, wird er bis heute angerufen als Beschützer gegen die mit dem Wasser in Verbindung stehenden Gefahren. Und deshalb schmückt seine Statue Brücken  –  allen voran die Karlsbrücke in Prag  –,  Fontänen und Brunnen. Ich nehme Platz auf der linken Seite der Kathedrale, in einer Reihe nahe dem Chor. Das Innere füllt sich nach und nach. Aber die Stühle sind weniger besetzt als heute Morgen bei den Franziskanern. Die Abendmesse beginnt, nimmt ihren Verlauf gemäß der gewohnten Liturgie. Wiederum gibt es keine Predigt, wegen des langen Matthäusevangeliums. Es kommt der Augenblick, da die Gläubigen zur Kommunion gehen, und dann sind wir schon beim letzten Gebet angelangt. Damit ist das Ende der Messe erreicht. Doch nur wenige Anwesende bewegen sich von ihren Plätzen fort. Was geht hier vor? Offenbar ist noch nicht alles vorbei. Man steht auf, man plaudert, ein wenig wie während der Pause im Foyer eines Theaters oder eines Konzertsaals. Die Atmosphäre wird lebhafter. Vorne im Chor werden Sitze aufgestellt sowie Pulte für Musikinstrumente. Es kommen sogar neue Besucher hinzu. Honoratioren nehmen Platz in den ersten Rängen. Der Bischof von Dubrovnik, Monsignore Želimir Puljić, ist erkennbar an seinem violetten Käppchen. Plötzlich könnte man glauben, man befände sich inmitten der musikalischen Sommerfestspiele, die jedes Jahr in Dubrovnik veranstaltet werden, und ganz sicher nicht vor dem Herannahen eines Krieges, um nicht zu sagen, schon an dessen Beginn. 108

Die Zeit des Wartens ist nicht besonders lang. Ein Orchester und ein Chor kommen herein, nehmen Platz. Und es gibt für mich eine neue Überraschung: Ich erkenne die Sänger und Instrumentisten von vorhin wieder, die Musiker, die ich bei meinem improvisierten Abendspaziergang diskret beobachten konnte, als sie gerade das Lacrimosa aus Mozarts Requiem probten. Ich sehe sie mit großer Freude, als würde es sich schon um gute Bekannte handeln. Es wird also jetzt ein Konzert geben. Die Darbietung klassischer Musik, so erinnere ich mich, ist eine beliebte Tradition am Palmsonntag, um den Beginn der Karwoche festlich zu begehen. Das Lacrimosa aus Mozarts Requiem gehört natürlich mit zum Programm. So darf ich es ein zweites Mal hören. Doch ist die Umgebung jetzt eine andere. Den bereits leicht verschleierten Abendhimmel, dessen Licht wegen der sich schon ausbreitenden Nacht allmählich schwächer wurde, habe ich getauscht gegen das Gewölbe der Kathedrale mit dessen prächtiger Kuppel. Die großartige Architektur, die Atmosphäre der Kirche sowie auch die Gegenwart eines aufmerksamen Publikums verleihen dem Werk jetzt eine andere, eine spirituellere Resonanz. Demgegenüber muss ich aber feststellen, dass vorhin bei der Probe die öde, an den Befestigungsmauern gelegene Straße mit ihren bescheidenen Häusern sich dem Glanz des Himmels öffnete, der das Konzert in die Harmonie der Natur und des Universums aufzunehmen vermochte. So hatte Mozart denn geweint an der Stelle des judicandus homo reus, also bei der poetischen Aussage über den Menschen, der vor dem obersten Richter erscheinen muss. Was ist auch heute noch so ergreifend an diesem Text? Ist es beim Hörer das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem über sich selbst verhängten Richterspruch? Nein, das klingt zu negativ. Viel eher spüre ich den Wunsch nach einem Frieden, den nur die innere Einigkeit mit der Welt und den Menschen verleihen kann, das Ja-Sagen zum Leben in all seinen Formen, das Gefühl des Eingebundenseins in die universale Ordnung, die befreiende Rückkehr zu den lebendigen Quellen der Schöpfung und deren Gesetzen. Für das Erlangen der ewigen Ruhe wird am Schluss des so ergreifenden Lacrimosa gebetet. Die ewige Ruhe, ist sie nicht die endgültige, unwiderrufliche Versöhnung, die ihre Wurzeln in den Tiefen der Ewigkeit hat und auf die Ewigkeit hinweist? Das Gebet, es steigt auf mit großer Hingabe und veranlasst, an die göttliche Liebe zu denken, die für den gläubigen Menschen mit Güte und Barmherzigkeit erfüllt ist. 109

Hat die Kirche sich nicht sehr früh schon geschützt vor dem manichäischen Dualismus? Ist Luzifer nicht ein gefallener Engel? Trägt selbst das Böse nicht auch am Ende den Stempel des Guten? Hat das kirchliche Lehramt sich nicht gewehrt gegen die Prädestinationslehre, wie besonders der Calvinismus sie vertrat? Die Vorherbestimmung bedeutete hingegen, dass es ein unüberwindbar Böses gibt. Doch wir sagen, dass die Vollkommenheit Gottes, zu der ja auch seine Allmacht gehört, das nicht zulässt. Bilder, Gedankensplitter, nur Fragmente, Fragen, spontane Ideenassoziationen: sicher ein oberflächliches Meditieren, da unter dem Einfluss der Musik das Denken sich dem Gefühl einer sanften Entspannung hingeben kann. Zugleich hört die gedankliche Suche nach Metaphern nicht auf. Auch die Theologie ist metaphorisch. Vor allem fühle ich mich von der wunderbaren Mozartschen Musik getragen. Welch eine souveräne Leichtigkeit im Ausdruck des Kontrastes von Licht und Dunkelheit, Freude und Schmerz, Leben und Tod. Danach führen Chor und Orchester ein anderes Stück von Mozart auf, ebenfalls ein sehr bekanntes. Es ist der eucharistische Hymnus Ave verum, komponiert auf die Worte eines anonymen Autors im Juni 1791, also ebenfalls beim Herannahen des Todes des Komponisten, kurz vor dem Requiem. Plötzlich fällt mir ein, dass dieses Konzert den 200. Jahrestag nicht nur von Mozarts Tod kommemoriert, sondern gleichfalls diese beiden mit Recht so berühmten Werke. Ave, ave verum corpus /​ natum de Maria virgine /​vere passum immolatum /​ in cruce pro homine, so erklingt es jetzt. „Sei gegrüßt, wahrer Leib, den Maria, die Jungfrau gebar, der wahrhaft litt und aufgeopfert wurde am Kreuz für die Menschen.“ Hier zeichnet sich der Gedanke der Erlösung deutlich ab. Ein erhabener Gesang ist es, erfüllt von einer strahlenden Geistigkeit, einer Idealität weit entfernt von allen Konflikten, Zerrissenheiten, Zerstörungen und Verkommenheiten. Der Musik ist es zu verdanken, ihrer universellen Sprache, dass beim Konzert, wie mir scheint, alle Zuhörer untereinander verbunden sind in einem und demselben spirituellen Vorgang, der anzieht und vereint. Es herrscht unter ihnen Sympathie im starken Sinne des Wortes: Man empfindet gemeinsam, man lebt mit in der Stimmung, die man auch bei den übrigen Zuhörern ahnt, und wird von ihr hingerissen. Im Halbdunkel der Kathedrale entsteht im Publikum ein Gefühl von Einklang und Gemeinschaft. Was Schiller über die Freude sagt, gilt auch für die 110

Musik: Wo sie weilt, da werden die Menschen Brüder. Nietzsche, der in seinem noch metaphysisch geprägten Frühwerk die Musik als eine dionysische Kunst betrachtet, schreibt ihr sogar die Fähigkeit zu, eine Einswerdung des Individuums mit dem Ur-Einen, dem Urprinzip der Welt, zu ermöglichen. Auch das Egozentrische in uns schwindet folglich dahin. Das Schaffen des Künstlers ist nicht dazu da, um zu spalten, sondern um zu vereinigen. Das gilt für alle Kunst, nicht nur für die Musik. Kunst tötet nicht, sie fordert das Leben  –  ja sie hat therapeutische Wirkung. Das Schöne trägt zum Guten bei, selbst, wenn wir beides prinzipiell trennen wollen, weil wir die Unabhängigkeit der Ästhetik von der Ethik für unverzichtbar halten. Deshalb ist die willentliche Zerstörung eines Kunstwerks stets als ein Verbrechen zu betrachten, als ein Raub an einem kostbaren Besitztum der Menschheit. Das will auch heißen, dass man diejenigen politischen und militärischen Täter, die Dubrovnik mit Krieg überziehen werden, eines Tages zur Verantwortung ziehen wird. Eine gerechte Strafe muss über sie verhängt werden, nicht nur für alles, was sie an materiellem und leiblichem Schaden den Menschen zugefügt haben, sondern ganz sicher auch wegen der nicht wiedergutzumachenden Schändung von Kunstschätzen, vor allem der architektonischen Prachtleistungen, an denen die Stadt so reich ist. Beifall, Schluss des Konzertes. Die Anwesenden stehen auf, verlassen die Kathedrale. Draußen herrscht nun endgültig Nacht, und überall sind die Lichter angezündet. Ich nehme eine Mahlzeit ein in einem einfachen Restaurant. Sie ist schlecht. Die Garnelen des Risottos sind zum Teil verfault, so dass ich den Teller zurückgeben muss. Ich habe Angst, mir den Magen zu verderben für den morgigen, für mich wichtigen Tag. Ich gehe ins Hotel zurück in der Dunkelheit der so friedlichen Nacht, deren Atmosphäre, noch angenehm mild, schon erfüllt ist von den Düften des Frühlings.

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XVII. „Lacrimosa dies illa“ An jenem Tag, dem Palmsonntag 1991, konnte man natürlich noch keine Prognose stellen über die militärischen Operationen, die bald in dem bereits begonnenen Konflikt stattfinden würden, auch nichts ahnen von den materiellen Zerstörungen und den damit verbundenen Opfern unter den Bewohnern. Was mir ganz undenkbar schien, das war ein regelrechter Angriff auf Dubrovnik. So etwas kam mir wirklich nicht in den Sinn. Dass die Serben die Dreistigkeit haben könnten, dieses Juwel von Stadt unter Beschuss zu nehmen und erobern zu wollen, das man „Perle der Adria“ nennt, es mit Bombardierungen einzuschüchtern, seine architektonischen Schönheiten niederträchtig zu lädieren und die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, hätte ich mir nie vorstellen können. Krieg, wieder Krieg in Europa, trotz der überall dokumentierten Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Abgesehen von Entsetzen und Abscheu hätten die Menschen zu ihrem Vorteil daraus doch mehr als eine Lehre ziehen müssen. Dazu aber gehört auch eine unbeugsame Vernunft, nicht eine schwächliche, dekadente, die sich bei vorhandener Gelegenheit zum willigen Hilfsmittel degradieren lässt. Nietzsche mag Recht gehabt haben, sich bewusst zu sein, dass es im Grunde nicht die Ratio ist, die dem Menschen in seinem innersten Wesen weiterhilft und ihm dank den von ihr geschaffenen Wissenschaften wahren Fortschritt beschert. Sie könnte im Gegenteil zum Ende der Menschheit, ja des gesamten Planeten hinführen. Dieser Vernunftpessimismus von Nietzsche erfährt ja nach und nach in unseren Tagen eine eklatante Bestätigung. So kehrt Nietzsche denn auch der altehrwürdigen Vernunft den Rücken. Diese Vernunft – eigentlich nur noch eine List, ein Werkzeug des Leibes. Im Menschen, so meint er, dominiert das Biologische, das Organische, die Affekte. Das Ich aber, mit Denken ausgestattet, schrumpft trotz aller von ihm ausgehenden Vernünftigkeit und Wissenschaftlichkeit zur Randfigur zusammen. Wäre also doch, wie Nietzsche in seiner frühen Sokrateskritik meint, der griechische Logos für die Menschheit kein Aufgang gewesen, sondern der Beginn eines sich allmählich ausbreitenden Untergangs? Sokrates – in Wahrheit eine De112

kadenzerscheinung? Und die spätere griechische Heiterkeit – eine Abendröte? Die Menschheit – der Selbstzerstörung ausgeliefert gerade durch die Vernunft? Vieles hatte Nietzsche vorausgesehen. Die Postmoderne ist im Begriff, seine Diagnosen und Prophezeiungen zu bekräftigen. Man verzichtet auf die Vernunft als Instanz, huldigt der Macht des Individuums. Es mangelt an Gemeinsamkeit unter den Menschen, auch unter den Völkern, die sich vornehmlich einem schrankenlosen Subjektivismus hingeben, der rücksichtslos ein autonomes individuelles Gebaren gutheißt und fördert. Aggressionstrieb und Machtwille dominieren. Das führt die Menschheit unweigerlich an den Rand des Abgrunds. Die Kriege liefern dazu mit ihrer mörderischen Dynamik die blutigen Beweise. Mit dem Verlust des Moralgesetzes verliert dann selbst der Immoralismus seine Bedeutung. Wenn das moralisch Gute keinen Sinn mehr haben soll, so ist das Böse, als das Destruktive, genauso hinfällig. Niemand bräuchte sich dann noch einer Schuld bewusst zu werden. Da wird es hauptsächlich den 6. Dezember 1991 geben, der wohl das schrecklichste Datum für Dubrovnik sein wird. Also etwa acht Monate nach dem für mich so denkwürdigen, so friedlichen Palmsonntag. Lacrimosa dies illa! Tränen werden fließen. An jenem Tag werden die Truppen der jugoslawischen Volksarmee, zusammen mit ihren montenegrinischen und bosnischen Verbündeten, unter dem Befehl von Armeekorpsgeneral Pavle Strugar zum Angriff auf Dubrovnik übergehen. Ausgerechnet am Nikolaus-Fest werden die serbischen und montenegrinischen Artielleriegeschütze sich speziell die Altstadt vornehmen und auch mit Brandgeschossen operieren. Feuersbrünste werden entstehen und sich ausbreiten in der alten Festungsstadt. Der Beschuss wird skandalöse Folgen haben. Ein tragischer, kläglicher Tag, im doppelten Sinne des Wortes: auf der einen Seite abscheuliches Vorgehen, auf der anderen Jammer und Klagen. Dieser Tag markiert einen Höhepunkt der serbischen Attacken auf Dubrovnik. Man spricht davon, dass 12 Zivilisten getötet wurden und 34 verwundet. Fünf historische Bauten wurden total zerstört. Die Altstadt wurde im Zeitraum vom 1.  Oktober bis 6. Dezember von etwa tausend Geschossen aus Kanonen und Mörsern heimgesucht. Unter der Zivilbevölkerung hat es laut Berichten 42 Tote und 177 Verwundete gegeben. Nie mehr sollte die prächtige Stadt Dubrovnik so sein wie zuvor. Dennoch darf man von Glück sprechen. Die Bedrohungen, die an jenem traurigen Nikolaus-Tag 1991 auf der Stadt lasteten, lösten damals die Angst vor noch schlimmeren Geschehnissen aus. Die Bewohner konnten nämlich allem Anschein 113

nach das Ärgste vermeiden. Mussten sie doch befürchten, dass auch gegen sie die Gräueltaten verübt würden, die von der Jugoslawischen Volksarmee zwei Wochen vorher in dem Grenzort Vukovar begangen wurden. Eine heldenhafte militärische Glanzleistung der Kroaten auf dem Berg St.  Sergius verhinderte wie durch ein Wunder die Einnahme Dubrovniks durch die gegnerischen Truppen. Die Folgen einer Invasion sollte man sich besser gar nicht vorzustellen versuchen. Dubrovnik zerbombt, geschlagen, verwundet, erniedrigt: An jenem schrecklichen 6. Dezember, vor meinem Fernsehgerät, sind mir die Tränen in die Augen gestiegen, als ich sah, wie durch die Explosionen innerhalb der alten Festungsmauern Brände entstanden, wie graue Rauchfetzen die farbigen Dächer überzogen und eine Feuersbrunst Teile des alten Hafens auflodern ließ und breite Schwaden eines schwarzen undurchdringlichen Qualmes verbreitete. Es gab nur wenige Bildaufnahmen, da es für die Kameraleute eben unmöglich war, während der Kriegshandlungen das ganze Ausmaß der Zerstörungen festzuhalten. Was ich aber sah, ließ mir den Atem stocken. Sollte denn der kulturelle Reichtum Dubrovniks, geschaffen während einer langen hochinteressanten Vergangenheit, nun untergehen? Würde ich diese Herrlichkeiten niemals mehr wiedersehen? Der Gedanke machte mich unendlich traurig, aber auch empört und zornig. Die Türme, die das Bild der Stadt stets so malerisch geprägt hatten, hielten sich inmitten des tobenden Sturmes wie treue Wächter, die zwar unerschütterlich schienen, dabei aber ein Bild der Verlassenheit und Ohnmacht boten. Welch eine abgrundtiefe Trostlosigkeit! Die Bilder gingen um die Welt. Obschon es deren nicht viele waren, reichten sie doch aus, damit unzählige Zeitungsleser und Fernsehzuschauer sich betroffen fühlen konnten. Empörung und Trauer – beide gehen oft zusammen –, sie waren in Bezug auf Dubrovnik an der Tagesordnung. Man empfand Mitgefühl für die Bewohner, Betrübnis über die willentlich herbeigeführte Katastrophe, Zorn gegenüber der unsinnigen Barbarei. Dies irae, dies illa … – „Tag des Zornes, jener Tag …“ ! Restlose Verurteilung der Serben und ihrer Verbündeten. Wut der Ohnmacht, auch unter den fernen Beobachtern, über eine Politik, die sich anmaßte, solche aggressiven Gewalttätigkeiten zu verüben. Wie ist es möglich, dass Menschen solche Untaten vollbringen? Wie können sie diese vor sich selber verantworten? Eine Stadt ist doch eine lebendige Realität, belebt durch ihre Bewohner, durch deren Gewohnheiten und Traditionen, durch ihre Art, Feste zu begehen und zu lachen, sich abzurackern und zu weinen, zu 114

denken und zu beten, ihre Hochzeiten und ihre Geburten zu feiern sowie ihre Toten zu begraben –, hauptsächlich zu arbeiten, was auch heißt, aufzukommen für ihre täglichen Bedürfnisse und eine Zukunft für sich und ihre Kinder aufzubauen. Im Falle Dubrovniks hatte die Mühe Jahrhunderte gedauert, und die Schönheit, die daraus erstand, war das Produkt tüchtiger Menschen, die es verstanden, ihre Talente in den Dienst der Bevölkerung wie auch der Besucher zu stellen. Dagegen brachten ihnen diese kriegerischen Attacken nur Ruinen, Leiden und Tote. Abgesehen von dem Vergehen gegenüber den Bewohnern, richteten sie einen stupiden und absurden kulturellen Verlust an, einen nicht mehr reparablen und sich allerseits benachteiligend auswirkenden Schaden. Die Wunden, die dadurch geschlagen wurden, waren weit über die Grenzen Jugoslawiens hinaus zu spüren. Außer 1806, bei der Belagerung durch die Truppen Napoleons, hat Dubrovnik, das alte Ragusa, nie eine eigentliche Feuerprobe erlitten im Laufe seiner langen Geschichte. Die Stadt hat den Namen „Dubrovnik“, zum Nachsehen von „Ragusa“, erst 1919 angenommen, als sie eingegliedert wurde in das neu konstituierte Jugoslawien. Seit 1815 hatte sie zu Österreich gehört. Ernsthaft beschädigt wurde sie nur durch das besonders heftige Erdbeben von 1667. Diesmal gehen innerhalb eines Jahres, vom 1.  Oktober 1991 an, im Ganzen ungefähr zweitausend Geschosse unterschiedlichen Kalibers auf die Altstadt innerhalb der Festungsmauern nieder. Sie treffen, so berichtet man, 563 der 824 Bauten. Zwei Drittel der historischen Dächer werden zerstört. Das wird einen unersetzbaren Verlust bedeuten, denn die historischen jahrhundertealten Dachziegel sind zertrümmert und die beim Wiederaufbau benutzten neuen können nicht als gleichwertig angesehen werden. Die Zerstörung des Schönen bedeutet immer ein unverzeihliches Vergehen. Ob es sich dabei um die Natur handelt oder um die Kunst. Im Falle Dubrovniks gelang es der Schönheit nicht, sich zu behaupten in der Konfrontation mit der gewaltsamen Eroberungssucht von Militärs, die sich irreleiten ließen von ihrem ethnischen und nationalistischen Größenwahn. Zog diese kränkende Attacke nicht die ganze Menschheit in Mitleidenschaft? Nicht allein die Kroaten mussten sich erniedrigt, degradiert, gedemütigt fühlen. Die Rationalität ist zu Höchstleistungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik in der Lage, doch sie zeigt sich außerstande, ein vernünftiges Verhalten unter den Menschen zu gewährleisten. 115

Die Angriffe auf die Altstadt von Dubrovnik, die seit 1979 unter dem Schutz der UNESCO steht, gehören zweifellos zu den schauderlichsten Handlungen des Krieges gegen Kroatien. Natürlich weiß man, dass auch die Kroaten nicht schuldlos blieben. Ein trauriges Beispiel lieferte die kroatische Artillerie noch am 9. November 1993. als sie den Stari Most zerstörte, die berühmte alte Brücke von Mostar, die Symbol war für eine reiche multikulturelle Vergangenheit. Unrecht gab es also nicht nur auf einer Seite; das war zu befürchten in diesem tragischen Konflikt, der zum Teil ein Bürgerkrieg war und derartig stark in der historischen Vergangenheit wurzelte. Was soll das aber heißen? Die Verbrechen der einen Nation können auf keinen Fall als Entschuldigung für die der anderen dienen. Die Kriege, ganz gleich, wo auf der Welt sie geführt werden, gehen uns alle etwas an. Wir haben die Pflicht, sie nicht zu ignorieren. Sie fordern unsere persönliche Verantwortung heraus. Jean-Paul Sartre, der engagierte französischer Schriftsteller und Philosoph, weitbekannt besonders mit seinem Existentialismus, erklärte sogar in seinem 1943 erschienenen Hauptwerk L’ être et le néant, er sei aussi profondément responsable de la guerre que si je l’avais moi-même declarée – „so tief verantwortlich für den Krieg, als hätte ich ihn selber erklärt.“ Wir sind verantwortlich, verpflichtet also zu reagieren, als ob ein Notruf an uns ganz persönlich gerichtet worden wäre. Das könnte man heutzutage die Globalisierung der Verantwortung für die Kriege und für alles was mit ihnen verbunden ist, nennen. So dürfen wir vor allem nicht von Irrtümern, Entgleisungen oder Kollateralschäden sprechen, wenn es um Kriegsverbrechen geht, deren Opfer wir letztlich alle sind, da sie uns als menschliche Wesen in unserem Innersten verletzen.

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XVIII. Über den Frieden Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat Leibniz seine Essais de théodicée geschrieben mit dem Ziel, die Güte Gottes zu rechtfertigen gegenüber allem Schlechten, an dem die Menschheit leidet. Es ist ihm nicht gelungen zu beweisen  –  wie er es tun wollte –, dass wir allen Übeln und allem Bösen zum Trotz in der besten aller möglichen Welten leben. In seinem Candide hat Voltaire sich über ihn lustig gemacht. Das war richtig. Er war auch nicht der einzige Opponent. Schopenhauer hat sich seinerseits aufgelehnt gegen einen solchen Optimismus, den er mit Recht für skandalös hielt angesichts der Leiden, die die Menschheit heimsuchen. Und der dialektische Verlauf der Geschichte, an den die Marxisten glauben? Nach ihnen hätte das Böse, wie es die Bourgeoisie versteht, unter Umständen die Funktion, den Fortschritt zu aktivieren, das heißt, das Wohl der Arbeiterklasse zu fördern. Dieser Historizismus ist jedoch widerlegt worden von Karl R. Popper. Mit Recht, denn wir haben da zu tun mit einer kolossalen Mystifikation, die letzten Endes alle Arten von Vergehen zu rechtfertigen imstande ist, selbst die Verbrechen Stalins. Unsere demokratische Überzeugung, pluralistisch und liberal, unterwirft sich diesem vermeintlichen historischen Gesetz nicht. Hat man aber je daran gedacht, eine Anthropodizee zu schreiben? Eine Rechtfertigung des Menschen im Hinblick auf all das Böse, das von ihm ausgeht? Nicht dass ich wüsste, wenigstens nicht systematisch. Wie sollte das auch gehen? Verstrickt man sich da nicht gleich in unauflösliche Widersprüche? Die Theodizee, die Gott rechtfertigt, belastet den Menschen; das Umgekehrte jedoch ist nicht möglich, da unser Gottesbegriff die Vollkommenheit beinhaltet. Es bliebe noch die Wissenschaft. Hier ist besonders an eine Reihe neuerer Forschungen auf dem Gebiet der Neurophysiologie zu denken. Wäre es nicht so, dass wir, ohne es zu wollen, durch ein Spiel von Neuronen geleitet werden, auf das wir gar nicht einwirken können? Das hieße, dass unser Handeln eigentlich nicht von uns stammt, von unserem Ich, sondern bedingt ist durch die Kräfte der Natur in uns. Unser Ich wäre somit eingebettet in ein Netz von Konnexionen zwischen Neuronen, die nur physiologischen Bestimmungen gehorchen. Der Wille selber wäre nur ein Phänomen zweiten Ranges, eine Art Epiphänomen. 117

Müsste man da nicht zu der Schlussfolgerung gelangen, der Mensch sei nicht frei? Hebt man aber die Willensfreiheit auf, dann schafft man damit die Verantwortlichkeit ab und natürlich zugleich alle Schuldhaftigkeit. Man macht insofern reinen Tisch, als in dieser Perspektive alles Handeln gleich ist, wir können auch sagen, indifferent. Ja, überhaupt beseitigt man dann die Moral. Wer möchte aber eine solche Konsequenz ziehen? Allein schon der geringste Anspruch auf Verwirklichung von Humanität untersagt es uns. Abgesehen davon stellen wir Fragen über die Natur des Intellektes und somit der Erkenntnis. Wollen wir deren Rolle denn reduzieren auf ein bloßes Feststellen? Oder auf ein Räsonieren, jedoch ohne leitende Funktion? Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, atmeten Millionen Menschen auf und erwarteten aufrichtig, dass Kriegsverbrechen und Vergehen an der Zivilbevölkerung sich nicht mehr ereignen würden. Das war leider ein tragischer Irrtum. Zahlreiche Kriege, auch die in Jugoslawien geführten, haben es gezeigt, selbst wenn die Gräueltaten dort nicht dasselbe Ausmaß angenommen haben. Es ist auch an die so rasche Eskalation des internationalen Terrorismus zu denken, der für zahllose Menschen eine dauerhafte, unberechenbare Gefahr darstellt. Der Feind ist nur schwer auffindbar, wodurch natürlich das Unbehagen und die Angst in der Welt sich erheblich vergrößern. Schon gibt es Menschen, die der Ansicht sind, der Dritte Weltkrieg habe bereits begonnen, jedenfalls als Bürgerkrieg. Regelrechte kriegerische Feldzüge mit gewaltigen territorialen Eroberungen und Annexionen gab es – in Europa! – inzwischen wieder in der Ukraine, mit hohen Opferzahlen, sowie im Nahen Osten, vor allem in Syrien. Müssen wir uns gar mit der Gewissheit abfinden, dass es immer Kriege – und auch Kriegsverbrechen – geben wird, so lange die Menschheit besteht? Immanuel Kant hatte, nach dem Weltstaatsprojekt des Abbé de Saint-Pierre (1658–1763), seine Abhandlung Zum ewigen Frieden verfasst. Dies tat er allerdings unter historischen und soziologischen Umständen, die sehr verschieden waren von denen, die wir heute kennen. Doch müssen wir uns fragen, ob er denn wirklich an die Realisierbarkeit seiner Ideen glauben konnte? Man sollte mit Ja antworten, denn er teilte den Optimismus der Aufklärung und des beginnenden Liberalismus. Dieser eifrige Bahnbrecher des liberalen Rechtsstaates rechnete mit einem moralischen Fortschritt der Menschheit, wozu er übrigens in der Französischen Revolution einen Beweis zu erblicken glaubte. Die Idee eines ewigen Friedens – leider nur ein Wunschtraum. Kants Einstellung erweist sich als die eines eigensinnigen Utopisten. Chimären, Luftschlösser: Sie fehlen all118

gemein gesehen nicht in der Philosophie der Politik. Um zu einem dauerhaften Frieden beizutragen, hat nach Hiroshima der neuthomistische Philosoph Jacques Maritain (1882–1973) eine politische Weltorganisation vorgeschlagen. Er meinte, sie solle unter der Leitung eines Rates von Weisen errichtet werden, dessen unumstrittene moralische Autorität fähig sein würde, zwischen den Völkern das Aufgebot und die Geltung von Intelligenz und Willenskraft zu stärken. Hier fehlt es nicht an mehreren Illusionen zugleich. Nein, die Idee eines permanenten Friedens überall auf der Welt ist nur eine Wunschvorstellung. Es bedürfte hierzu einer zentralen Kontrolle, die stark genug wäre, um sich in allen Ländern zu behaupten. Aus mehreren Gründen ist eine solche Instanz nicht verwirklichbar, vor allem, weil es absolut unmöglich ist, ihr mit demokratischen Mitteln eine Legitimität zu erteilen angesichts der enormen Divergenzen der Interessen, die es unter den Völkern gibt. Wollte man sie jedoch mit Gewalt durchsetzen, dann würde das unweigerlich neue Konflikte herbeiführen, und damit geriete man in krassen Widerspruch zu dem Ziel, das man verfolgt. Man muss realistisch bleiben – aber ohne zu resignieren. Es gilt, den Krieg zu verurteilen und alles zu tun, um ihn zu verhindern, das steht fest. Jeder Mensch eigentlich hat diese Pflicht, nicht nur die Politiker. Doch bisher ist es, trotz aller Anstrengungen, bloß zeitweise und teilweise gelungen, die Kriege zu vermeiden. Bosheit, Grausamkeit, Machtgier sind zutiefst in der Natur des Menschen angelegt. Sie können, solange stabile politische Zustände herrschen, zwar zeitweise kontrolliert werden, ja sogar zurückgedrängt, doch nie endgültig getilgt. Der Frieden, universal und regional gesehen, ist dazu verurteilt, fragil zu bleiben und an Unterbrechungen zu leiden. Die Kriege und die Barbarei werden nicht von unserem Planeten weichen. Für jedes Volk gibt es bestenfalls mehr oder wenige lange Perioden des Friedens, so wie es für den einzelnen Menschen Augenblicke, ja sogar Zeiten des Glücks gibt. Das ist das Los der Menschheit.

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XIX. Frühlingsvollmond Für mich gelangt dieser so schöne, ereignisreiche Tag in Dubrovnik noch zu einem herrlichen Abschluss auf dem Balkon meines Hotelzimmers. Der nächtliche Himmel ist mit Sternen übersät. Fast scheint es mir, als wolle ihr Glitzern Heiterkeit ausstrahlen. Die bereits volle Mondscheibe steht in aller Stille wie eine große Lampe über dem Meer. Sie zeichnet auf die schwarzen Wellen einen breiten Streifen silbernen Lichtes, der funkelt und flimmert. Es sieht so aus, als ob die Wellen tänzeln würden unter der Regie des Mondes, bis sie sich in der Ferne allmählich zu einer glänzenden Fläche glätten, die an der kaum sichtbaren Grenze endet, wo Meer und Himmel sich begegnen. Dieser erste Frühlingsvollmond, so scheint mir, ist das am Firmament leuchtende Zeichen für das Nahen des Osterfestes.

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Bibliographische Notiz: Der Autor fand Informationen in der damaligen Presse und unter anderem in folgenden Büchern: Bernard Féron: Yougoslavie, Histoire d’un conflit, Le Monde éditions – Marabout, 1993 Miljenko Foretić (Hrsg.): Dubrovnik in War, Matica Hrvatska – Dubrovnik, 2002 Antun Travirka: Dubrovnik, trad. francaise par Blazenka Bubanj, Forum – Zadar, Turistiöki, Informativni Centar – Dubrovnik, 1999

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