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German Pages 222 Year 2018
Deng Zhang Angst und Entängstigung
Kierkegaard Studies
Edited on the behalf of Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šadja
Monograph Series 37
Edited by Heiko Schulz
Deng Zhang
Angst und Entängstigung Kierkegaards existenzdialektischer Begriff der Angst, dessen systematischer Hintergrund und philosophiegeschichtliche Wirkung
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šajda Monograph Series Volume 37 Edited by Heiko Schulz
ISBN 978-3-11-054550-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054694-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054566-1 ISSN 1434-2952 Library of Congress Control Number: 2018946239 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Frau Prof. SHU Yu gewidmet, meiner Wegleiterin in die Philosophie
Inhalt Einleitung . .. .. .. .. . .. ..
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Die Grundlage der Interpretation 8 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde 8 Ein Buch, dessen Titel vom Thema abweicht 8 Die Topographie von Kierkegaards „Wissenschaftslehre“ 9 Die Stimmungsverschiedenheit als topographische Regel 10 der Wissenschaft Wissenschaftstheoretische Verortung des Themas 12 Kierkegaards anthropologische Grundlegung 15 15 Vorbemerkung Eine anthropologisch angelegte Hamartiologie: zu Kierkegaards Umgang mit der Stellung Adams in der 17 Menschheitsgeschichte Die dynamische Struktur des Menschseins – zum systematischen Aspekt 19 Der Mensch als Geist, der den Gegensatz von Leib und Seele 19 synthetisiert Der Mensch als existierend im Augenblick, der den Gegensatz von Zeitlichem und Ewigem synthetisiert 23 Das teleologische Bild des menschlichen Wesens – zum 29 historischen Aspekt Die Bestimmung des Menschen als Gattungswesen – in Abgrenzung zum Solipsismus 29 Die Übernahme der Essenz durch Abstammung und Mitsein 31 Das teleologische Bild, das den ständigen Verfall in sich hat 34 Die hamartiologischen Implikationen der anthropologischen Voraussetzung 37 Ein Resümee zu Kierkegaards anthropologischen Voraussetzungen im Vergleich zum Menschenbild in Die Krankheit zum Tode 39 Eine mögliche Fehlinterpretation 41 Das Menschenbild in der Verzweiflungsschrift im Vergleich 45 zur Angstabhandlung
VIII
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Inhalt
Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung 51 der Selbstwerdung des Menschen Vorläufige Bemerkung zur Existenzdialektik 53 Existenzdialektik als anthropologische Grundlegung 55 Die dynamischen Momente im Selbstsein 55 60 Die Existenzdialektik als Bewegung der Selbstwerdung Die Verortung der Angst in der Existenzauslegung 68
72 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung Kierkegaards psychologische Methode 72 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de 77 actu .. Die Selbstintensivierung der Angst vor dem Sündenfall in drei 79 Phasen dargestellt .. Die Charakterisierung der Angst in der Unschuld 82 . Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst oder: die Erbsünde (Angst der Unschuld bei den späteren 86 Individuen) .. Die postparadiesische Struktur des Angsthabens 88 .. Die Angst und die Sünde de potentia – eine psychologisch93 phänomenologische Betrachtung ... Zur Unterscheidung von objektiver und subjektiver Angst 93 ... Die Angst des Erotischen 96 ... Die Macht des Beispiels oder: Angst im historischen 103 Zusammenhang .. Fazit: zur Angst der Unschuld im historischen Zusammenhang und im Vergleich zu Adam 105 . Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders 108 .. Eine Zwischenbemerkung zum religiösen Gebrauch der ethischen Kategorien in der Psychologie 110 .. Die Angst des Reuenden 113 .. Die Angst des Trotzigen 115 .. Die Angst des Geistlosen: unbewusste Angst 123 . Die Angst in der außerchristlichen Welt 125 .. Heidentum: Schicksalsangst 127 130 .. Judentum: Schuldangst .. Die Angst des Genies 131 . Entängstigung und Existenzbewegung 134 . Fazit: Versuch einer tabellarischen Darstellung der Angst in ihren wesentlichen Momenten 138 . .
Inhalt
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Die Angstthematik im quellengeschichtlichen und 142 wirkungsgeschichtlichen Kontext Kants Religionsschrift als thematischer Ursprung der Angstabhandlung 145 Kants Versuch einer rationalistischen Hamartiologie und 145 Soteriologie in seiner Religionsschrift Das Erbe Kants in Kierkegaards Hamartiologie 147 149 Kierkegaards neuer Ansatz Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie 153 Schellings anthropomorphistische Lösung der 153 Hamartiologie Das Erbe Schellings in Kierkegaards Angstabhandlung 158 160 Kierkegaards neuer Ansatz Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift – eine Untersuchung zum Wesen des Grundes mit 164 Rücksicht auf Heidegger Schöpferische Identität: Das Grund-Folge-Verhältnis von Gott und Welt 166 Zusammengehörende Identität: die ontologische Unterscheidung 168 von Grund und Existenz Schellings Unterscheidung von Grund und Existenz in der Freiheitsschrift 168 Heideggers Interpretation: das erneute Verständnis des menschlichen Wesens in Hinsicht auf die Unterscheidung von Grund und 171 Existenz Indifferenz als unoffenbarte Identität: zum Ungrund/ Urgrund 174 Fazit 175 Zur Wirkungsgeschichte der Angstproblematik: Heideggers Fundamentalontologie 176 Das Ängstigende: das „Man“ versus Geistlosigkeit 178 Verfallen versus Sündenfall 180 Versuchung versus concupiscentia 182 Beruhigung versus scheinbare Glückseligkeit 182 183 Entfremdung versus Verzweiflung: Selbstverfangen versus Selbstverstrickung 183 Stimmung versus Zwischenbestimmung 185 Angst und Furcht: die Strukturanalyse der Befindlichkeit 187
X
Inhalt
Schluss
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198 Siglenverzeichnis Kierkegaard 198 Andere Autoren 198 198 Hilfsmittel Literaturverzeichnis 199 Quellen 199 . Kierkegaard 199 199 . Andere Sekundärliteratur 200 Hilfsmittel 208 Index
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Einleitung Die Begriffe Angst und Entängstigung benennen nicht nur ein psychologisch zentrales Problem, sondern sind vor der Entstehung der modernen Psychologie bereits in einer von Kierkegaard als „psychologisch“ rubrizierten philosophischen Monographie thematisiert worden. Die Schrift Der Begriff Angst aus dem Jahre 1844, in der „[e]ine schlichte psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“¹ angestellt wird, ist das philosophische Hauptwerk des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, das zu den nach wie vor wenig erforschten Hauptwerken der Philosophiegeschichte gehört.² Unter den bisherigen Arbeiten findet sich kaum eine, die sich thematisch ausschließlich mit dem Angstbegriff befasst.³ Der Grund hierfür liegt einerseits darin, dass die Existenz eines von der tierischen Furcht abgegrenzten Gefühls der Angst umstritten ist⁴; andererseits auch darin, dass eine Wiederentdeckung der Gefühle SKS 4, 309 / BA[R], 1. Das einzige begleitende Handbuch zu BA ist The Concept of Anxiety, hg. von Robert L. Perkins, Macon: Mercer University Press 1985 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 8). Zum näheren Verständnis der Angstabhandlung helfen ansonsten nur die begleitenden Kommentare der Übersetzer der von mir benutzten Quellenausgaben, die einerseits keine systematische Darstellung bieten können, andererseits manchmal weitschweifig und assoziativ wirken. Diese Kommentare findet man in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Vorworte, in Gesammelte Werke und Tagebücher, 11./12. Abt., Bd. 7, hg. und übers. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Simmerath: Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG 2003; Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, übers. von Liselotte Richter, 3. Aufl., Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002; Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Neu übers., mit Einleitung und Kommentar hg. von Hans Rochol, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1984. Einen kritischen Vergleich (u. a.) der verschiedenen deutschen Übersetzungen bietet Ulrich Lincoln, „Literaturbericht: Der Begriff Angst in der deutschsprachigen Kierkegaard-Forschung“, Kierkegaard Studies Yearbook 2001, S. 299 f. Einzige Ausnahme im englischsprachigen Forschungskreis ist Vincent A. McCarthy, The Phenomenology of Moods in Kierkegaard, The Hague, Netherland: Martinus Nijhoff 1978. Zur Rezeption von BA in der deutschsprachigen Forschung von 1985 bis 2001 vgl. Lincoln: „Literaturbericht“, S. 295 – 312. Wie der Autor erläutert, wird die Rezeption von BA vor allem von einem Interesse an einer Freiheitsmetaphysik geleitet: „Das Buch des Vigilius wird erkennbar als ein Beitrag zu einer Metaphysik der Freiheit – eine anthropologische Metaphysik, die der pseudonyme Autor ebenso sehr voraussetzt wie neu artikuliert“ (ebd., S. 311). Zudem betont er die Tendenz, in BA einen Beitrag zur Anthropologie zu sehen: „Im Aufweis dieses Zentrums liegt ein wichtiges Ergebnis der neueren Forschung, die damit zugleich BA als den (neben KT) wichtigsten Beitrag Kierkegaards zu aktuellen Fragen der theologischen wie philosophischen Anthropologie auszurufen scheint“ (ebd., S. 311). Eine ganz typische Stellungnahme zu diesem Dissens lesen wir z. B. in Walter von Baeyers Angst-Monographie: „Wir gingen – im Gegensatz zu primär philosophischen und theologischen Betrachtungsweisen – nicht von einer Grundkonzeption aus, sondern wollten uns von dem leiten https://doi.org/10.1515/9783110546941-001
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Einleitung
in der philosophischen Forschung erst in den letzten Jahrzehnten aktuell geworden ist.⁵ Kierkegaard gilt offensichtlich als der Erste, der den Begriff Angst von dem der Furcht unterschieden hat, indem er sagte: „Den Begriff Angst findet man fast nie in der Psychologie behandelt; ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er von Furcht und ähnlichen Begriffen ganz und gar verschieden ist, dass sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Man wird daher bei einem Tier keine Angst finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist“⁶. Durch diese Unterscheidung gewinnt die Angst einen besonderen Status gegenüber allen anderen Emotionen des Menschen. Sie ist in der späteren Existenzphilosophie eine herausgehobenen Weise der Erschlossenheit des Selbst⁷, eine Befindlichkeit, die sich nicht auf äußerliche Gegenstände bezieht, wie es bei der Furcht der Fall ist, sondern immer auf das Subjekt, das sie hat, zurückgreift. Seitdem diese Unterscheidung in der Philosophie – dank Heideggers Sein und Zeit – allgemein akzeptiert wurde, ist die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit der Angst als ein existenzielles Gefühl gerichtet. Bis hinein in den psychologischen Existenzialismus, wo die sogenannte „Realangst“ von der „Existenzangst“ unterschieden wird, reicht ihr Einfluss.⁸ Die Folge davon ist, dass der Begriff Angst allmählich Teil des existenzphilosophischen Jargons geworden ist und völlig aus der anthropologischen Forschung der menschlichen Emotionen ausgeschlossen wurde, weil Angst, nach der experimentellen Methode der akademischen Psychologie, vom Verhalten und seinen mentalen Prozessen aus nicht zu erkennen ist.⁹ lassen, was wir selber gesehen oder von anderen zuverlässig erfahren haben, also nicht von einem Begriff Angst – wie der Titel des immer noch fundamentalen und unüberholten Buches des religiösen Denkers Kierkegaard lautet –, sondern von einem Befund Angst. Doch stießen wir eben nie auf einen einheitlichen Befund Angst, sondern stets nur auf eine Unsumme von Einzelbefunden, und es war dann nachträglich die Aufgabe zu überlegen, was denn diese Einzelbefunde zu einem Ganzen zu verbinden vermag“ (Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte, Angst, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971, S. 15). Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 1 f. SKS 4, 348 / BA[R], 42. Urs Thurnherr und Anton Hügli (Hg.), Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt: WBG 2007, S. 25. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 68. Neben der oben zitierten Stellungnahme von Walter von Baeyer hat der norwegische Autor Lars Svendsen im Vorwort seiner Monographie über Furcht/Fear mit einem ähnlichen Argument gefolgert, dass die metaphysischen Implikationen des Begriffs der Angst lieber beiseitegelassen werden sollten: „An obvious question is: Why write a ,philosophy of fear‘ when it is not so much
Einleitung
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Das Verständnis von Angst – als ein interdisziplinäres Problem – gerät demzufolge in die Verlegenheit, keine adäquaten Kriterien zu besitzen, um sie richtig zu verstehen.¹⁰ Es wird aber nicht geleugnet, dass die Angst als reales Phänomen im menschlichen Gefühlsleben eine große Rolle spielt.¹¹ In der Lite-
fear as anxiety that has been traditionally dealt with in philosophy? Since anxiety is in addition ascribed major metaphysical implications, fear would seem to be trivial by comparison. Anxiety is ,deep‘, whereas fear is ,shallow‘. […] Nevertheless, fear would seem today to have greater cultural and political consequences than anxiety. Furthermore, it is basically rather pleasant to do away with all the ‘metaphysical hand-luggage’ that accompanies the concept of anxiety“ (Lars Svendsen, A Philosophy of Fear, übers. von John Irons, London: Reaction Books 2008, S. 9). Die bekannte Serie der Oxford-Einführungen widmete im Jahre 2012 einen Band dem Begriff „anxiety“. Tatsächlich geht es in dieser Einführung aber um die Angst als eine allgemeine Bezeichnung für die ganze emotionale Komplexität des psychischen Angst-Habens. Zur begrifflichen Differenzierung schreibt der Autor: „You may also be wondering how anxiety differs from fear. In fact, the two terms are often used interchangeably, and we do so in this book“ (Daniel Freeman und Jason Freeman, Anxiety. A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 11 f.). Der einzige Unterschied scheint die unterschiedliche Intensität des Gefühls zu sein: „Anxiety can often be a less intense feeling than fear“ (ebd., S. 12). Der Unterschied besteht in der verschiedenen Aktualität der Gefahr. Die Pointe ist, dass die Angst schließlich zu bewältigen ist: „After all, if we don’t know what is making us anxious, it’s difficult to know how to deal with the problem“ (ebd., S. 12). Die Unbestimmbarkeit der Angstgegenstände wird ein Hindernis auf dem Wege zur Bewältigung dieser Angst. So wird das Problem auch nicht mehr problematisch wegen mangelnder Lösungen. In Salecls praktisch orientiertem Booklet über Angst versucht sie, auch die positive Seite dieses Gefühls in Betracht zu ziehen. Leider ist diese Perspektive – außer in der Kritik zu den „quick solutions“, die man heute häufig sucht – kaum entfaltet worden. Wie in der Oxford-Einführung besteht hier der einzige phänomenale Unterschied zwischen Angst und Furcht in der Intensität des Gefühls (vgl. Renata Salecl, On Anxiety, London und New York: Routledge 2004). Dylan Evans unterscheidet in seiner kurzen Einführung in die Gefühlsforschung nach Griffiths die „basic emotions“ von den „higher cognitive emotions“. In beiden Kategorien gibt es keinen Platz für das distinktive Gefühl der Angst/anxiety, während die Furcht/fear zweifelslos zu den Kardinalgefühlen gehört (vgl. Dylan Evans, Emotion. A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press 2003, S. 5 – 21). Er meint damit aber nicht, dass die Angst überhaupt nicht zum menschlichen Gefühlsleben gehört. Im Gegenteil dazu beginnt er in einem weiteren Kapitel von der Stimmung/mood zu sprechen: „Moods are background states that raise or lower our susceptibility to emotional stimuli“ (Evans, Emotion, S. 47). Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen – vor allem Aufmerksamkeit, Erinnerung und Urteil – werden stark beeinflusst von den Stimmungen als psychischem Hintergrundzustand, u. a. von der Angst/anxiety. „We may become anxious without being aware of the cause of our anxiety. Such ,free-floating‘ anxiety still affects attention, however. Instead of forcing us to focus on a particular thought, it clears thoughts away, prompting us to attend to the world around us“ (Evans, Emotion, S. 78). Außer der Gegenstandslosigkeit erwähnt er das Ausgerichtetsein auf Möglichkeit als Charakteristikum der Angst: „A person in an anxious mood is on the lookout for possible threats. […] The threats need not be physical“ (ebd.). Im Fall des Urteils schreibt er: „It is not just happy and sad moods that influence
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Einleitung
ratur und Kunst taucht sie immer wieder als ein wichtiges Element auf, ohne das kaum möglich scheint, die menschliche Existenz in ihrem vollen Umfang darzustellen. Kann ein solches Phänomen überhaupt wissenschaftlich untersucht werden? Oder ist es eine nur literarisch fassbare Vorstellung, ein künstlich abgeleitetes Gefühl, das außerhalb der Literatur und der Existenzphilosophie kaum ernst zu nehmen ist? Die Nuancen, die die Angst von der Furcht unterscheiden, und die Gemeinsamkeiten, die die Angst überhaupt als einen Teil des menschlichen Gefühlslebens charakterisieren, bedürfen näherer Erklärungen.¹² Von ihrem Urheber und Entdecker Sören Kierkegaard kennen wir den Versuch, die Angst als ein eigenständiges Gefühl, als ein Phänomen, das von allen Menschen gefühlt werden kann, zu rechtfertigen, ohne dabei die geläufige Verbindung zur Furcht zu vernachlässigen. Seine Versuche sind spekulativ und dialektisch und haben die hegelsche Philosophie und die damalige spekulative Psychologie zur Grundlage.
our judgements of other people. Anxiety can also affect the way we see others“ (Evans, Emotion, S. 84). Die Begriffsverwirrung zeigt sich am deutlichsten bei Henning Bergenholtz, Das Wortfeld „Angst“. Eine lexikographische Untersuchung mit Vorschlägen für ein großes interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache, Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Die Tatsache, dass eine linguistische Monographie ausschließlich diesem Begriff gewidmet ist, wie auch der Untertitel, der impliziert, dass man Vorschläge braucht, um einen Wörterbucheintrag in deutscher Sprache zu diesem Begriff zu schreiben – also ungeachtet des Anspruchs der vergleichenden Sprachwissenschaft –, hat bereits gezeigt, dass jeder, der die Angst zum Thema machen möchte, dieser Herausforderung ausgeliefert ist: also der Unmöglichkeit, die Angst in ihrer Begrifflichkeit zu entfalten. Einen Ausweg aus diesen Streitigkeiten deutet Sybille Krämer an, in „Einige Überlegungen zur ‚verkörperten‘ und ‚reflexiven‘ Angst“, in Angst. Dimensionen eines Gefühls, hg. von Thomas Kisser, Daniela Rippl und Marion Tiedtke, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 25 – 34. Hier wird versucht, statt der vielen strittigen Unterscheidungen von Angst/Furcht eine andere Unterscheidung einzuführen: die „zwischen einer instinktiven, verkörperten Angst einerseits, die als eine unwillkürliche Schutzreaktion in bedrohlichen Situationen allen höher entwickelter Lebewesen eigen ist, und einer kognitiv orientierten, reflexiven Angst andererseits, die eine besondere Modalität unseres Selbst- und Weltverhältnisses ausmacht und überdies ein Charakteristikum modernen Lebensgefühls ist“ (Krämer, „Einige Überlegungen ‚verkörperten‘ und ‚reflexiven‘ Angst“, S. 25). Der Phobie oder der Furcht ähnlich ist die „verkörperte“ Angst ein Affektzustand, der jeweils am Verhalten und an den inneren Körpervorgängen (in der Physiologie) zu untersuchen ist. Dieser wird als „Kopflosigkeit der instinktiven Furcht“ (Krämer, „Einige Überlegungen zur ‚verkörperten‘ und ‚reflexiven‘ Angst“, S. 28) bezeichnet, im Gegensatz zur Reflexivität jener Angst, die sich in den Werken der Existenzphilosophen entwickelt hat. In dieser Unterscheidung werden einige wichtige Kategorien eingeführt: 1.) ob sich die Angst reflexiv oder instinktiv auswirke; 2.) ob sie als ein Affektzustand oder als ein Gefühl mit kognitivem Inhalt zu kategorisieren sei. Diese Kategorien sollen im zweiten Kapitel bei der Auslegung von BA genauer überprüft werden.
Einleitung
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Seine Versuche sind ebenfalls von der christlichen Religion bestimmt, angefangen von der Exegese einer Bibelstelle und abgeschlossen mit einer erbaulichen Rede über den Glauben. All dies sind Schwierigkeiten bei der Aufgabe, seine raffinierte (aber manchmal verwirrende) Angstanalyse nicht nur aus existenzphilosophischer Sicht, sondern auch nach Kriterien der aktuellen Emotionsforschung zu betrachten. Solche Kriterien sind in der Philosophie der Gefühle immer schon diskutiert und allgemein anerkannt worden: es sind dies die kognitive Funktion, die Leiblichkeit, die Intentionalität und der phänomenale Gehalt etc. der Gefühle.¹³ Eine Untersuchung der Angst als Gefühl bei Kierkegaard soll aber das gesamte Konzept der Angstabhandlung (im Folgenden abgekürzt mit BA) beziehungsweise von Kierkegaards philosophischen Schriften nicht vernachlässigen und die Textstellen, in denen von der Angst die Rede ist, nicht isoliert betrachten. Die Frage nach dem „Was“ der Angst bei Kierkegaard führt notwendig zurück zu der Frage nach dem „Wer“ des Angsthabens, die zu einer anthropologischen Grundlegung der Angstthematik auffordert.¹⁴ Diese Anthropologie wird in BA aber nicht als solche thematisiert, sondern in einer Hamartiologie verkörpert, die von der Bibelexegese ausgehend die Erbsünde des Menschen zu verstehen sucht. Zu bestreiten ist jedoch, dass Kierkegaard in seiner ganzen Argumentation die christliche Dogmatik als Prämisse nimmt. Vielmehr ist der ganze Problemkomplex als ein psychologisches Experiment zu verstehen, das das authentische Menschsein unter den von der christlichen Lehre vorgegebenen Bedingungen beobachten und aufweisen möchte. Diese Vorbedingung ist einerseits als eine Hypothese für das experimentelle Denken, andererseits als eine historisch vor-
Über den aktuellen Forschungsstand der Philosophie der Gefühle und dessen Bezug zur Entwicklung der empirischen Wissenschaften informiert Martin Hartman in der Einleitung seiner Monographie Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, Frankfurt/Main: Campus Verlag 2005, S. 9 – 27. Die Erläuterung zu einzelnen Kriterien in der Gefühlsforschung findet man bei Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. In diesem Buch haben Demmerling und Landweer im Paragraphen über die Unterscheidung von Angst und Furcht eine philosophiegeschichtliche Genese des existenziellen Begriffs der Angst programmatisch dargestellt, in der Kierkegaard im Zentrum steht (vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 80 – 91). Walter Schulz hat die Gegenüberstellung von Existenzphilosophie und Anthropologie genau in Bezug auf die Angstthematik dargestellt. Für ihn ist Kierkegaards Angstanalyse immer noch aktuell gerade in dem Sinne, dass sie die beiden Zugangsweisen zum Phänomen der Angst (als „Weltangst“ und „Angst vor mir selbst“) in einer „bedeutsamen Verbindung“ zusammenschließt (Walter Schulz, „Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard. Bemerkungen zum Begriff Angst“, in Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 348).
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Einleitung
gegebene Faktizität zu verstehen. Auch der Gottesbezug, der notwendig zum gelungenen Selbstsein des Menschen gehören muss, ist – als das Gesetztsein und Abhängigsein des ursprünglichen Selbstverhältnisses des Menschen – so abstrakt gedacht, dass die grundlegende Existenzbewegung des Menschen zu einem gelungenen Selbstsein ohne konkrete Glaubensinhalte vollzogen werden kann, zumal Kierkegaard der hegelschen Bestimmung des Glaubens als „[der] innere[n] Gewißheit, die die Unendlichkeit vorwegnimmt“¹⁵ zustimmt. Eine solche hamartiologisch angelegte Anthropologie, die der Angstthematik in BA zugrundliegt, ist das Thema des einleitenden und grundlegenden ersten Kapitels, das überdies mit einer Gesamtdarstellung des philosophischen Konzepts Kierkegaards als Existenzdialektik bereichert werden soll. Auf dieser Grundlage wird im Folgenden eine detaillierte Textanalyse von BA versucht, in der Kierkegaards Argumente bezüglich der Rolle der Angst und der Entängstigung im Gesamtkonzept der Existenzdialektik rekonstruiert werden sollen. Die Darstellung der Angstthematik ist von der psychologischen Methode abhängig, die Kierkegaard in Abgrenzung von anderen Wissenschaften als den einzigen Zugang zur Sündenproblematik festgestellt hat. Die Frage nach dem Gegenstand und der Vorgehensweise dieser Wissenschaft soll vorausgeschickt werden. Die Kategorien, unter denen die verschiedenen Angstformen betrachtet werden sollen, dürfen dem Text nicht aufgezwungen werden. Vielmehr werden diese durch die Textanalyse erarbeitet, damit die Interpretation nicht etwa zur Überinterpretation wird, sondern stets hermeneutisch ausweisbar bleibt. Die Kategorien, die von Kierkegaard angesprochen werden und einer differenzierenden Analyse der verschiedenen Angstformen dienen können, sind 1.) der historische Zusammenhang des Angstbegriffs; 2.) der Ängstigende; 3.) die Möglichkeitsbedingungen der Angst; 4.) der Auslöser der Angst; 5.) der Gegenstand beziehungsweise der kognitive Inhalt der Angst; 6.) der phänomenale Gehalt der Angst; 7.) die Erscheinungsformen der Angst und schließlich 8.) das Verhältnis der Angst zur Sünde und Erlösung. Das Ergebnis der Textanalyse anhand dieser Kategorien wird zum Schluss des zweiten Kapitels tabellarisch zusammengefasst. Es ist also wichtig festzuhalten, dass dieses tabellarische Verständnis von BA nicht etwa der Textanalyse vorausgeschickt, sondern aus der letzteren herauskristallisiert wird. Hierbei ist zu beachten, dass diese differenzierende Analyse die Angst als ein einheitliches Phänomen nicht leugnet, sondern sie geradezu bestätigt. Danach soll der quellen- sowie (am Paradigma Heideggers) der wirkungsgeschichtliche Kontext von BA zumindest in Ausschnitten aufgezeigt werden. Anstatt einer begriffsgeschichtlichen Darstellung werden so im dritten und vier-
SKS 4, 456 / BA[R], 173.
Einleitung
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ten Kapitel die Genese und die Auswirkung der Angstthematik als ein philosophisch relevantes Problem ausgeführt. Das wenig erforschte Verhältnis Kierkegaards zu Kant und zu Schelling wird anhand von Texten thematisiert, in denen das hamartiologische Problem im Zentrum steht. Bei Kant wird vor allem der „Hang“ zum Bösen mit der Sündenlehre Kierkegaards in Parallele gesetzt, um die Notwendigkeit einer Einführung der Zwischenbestimmung der Angst zu begründen. Schellings Theogonie in seiner Freiheitsschrift, in der die Topoi Angst und Schwindel bereits aufgetreten sind, gilt als die Quelle von Kierkegaards Existenzdialektik. Die Hervorhebung der Angstthematik wird durch einen Vergleich zwischen Kants und Schellings Angstkonzepten begründet und durch einen Exkurs über die Sinnnuancen des Grund-Denkens in Schellings Freiheitsschrift bestärkt. Zur Darstellung der Wirkungsgeschichte wurden ausschließlich die zentralen Paragraphen von Heideggers Sein und Zeit ausgewählt, in denen ein direkter Bezug zur Angstthematik erkennbar ist. Die Vergleichspunkte sind aber nicht nur der Angstanalyse, sondern vor allem der anthropologischen Grundlegung gewidmet, die bei Heidegger eine ähnliche Struktur aufweisen. Der Ängstigende, der Fall, die Angst als Stimmung/Befindlichkeit und schließlich der Unterschied zwischen Angst und Furcht bilden die von Kierkegaard bereitgestellten Stichworte, die die Daseinshermeneutik der Angst bei Heidegger beeinflusst haben. Textgrundlage der Arbeit sind drei Übersetzungen, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Im Haupttext werden Quellenangaben in Klammern angegeben. Ein vollständiges Siglenverzeichnis am Ende der Arbeit identifiziert die im Text benutzten Abkürzungen.
1 Die Grundlage der Interpretation 1.1 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde 1.1.1 Ein Buch, dessen Titel vom Thema abweicht Der Begriff Angst ist der Titel eines Buches, das nicht – wie es prima facie scheinen könnte – von dem psychologischen Phänomen der Angst handelt¹, sondern von dem christlich geprägten Begriff der Sünde, ja gar von einer selbstverschuldeten sündhaften Freiheit des Menschen.² In der Einleitung der Schrift kommt der Begriff Angst, der eigentlich das Thema sein sollte, kaum vor. An den Stellen, an denen er vorkommt, wird entweder einfach der Buchtitel sinngemäß wiedergegeben³ oder wird der Angst-Begriff nebenbei zum Zweck anderer Erklärungen genannt⁴. Der Begriff Angst soll zwar „psychologisch“ so abgehandelt werden,
Der Buchtitel kann im Dänischen ebenfalls als „Angst, sofern sie begriffen wird“ gelesen werden (Flemming Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2001, S. 250). Was das echte Thema dieser Abhandlung betrifft, hat die Kierkegaard-Forschung Verschiedenes konstatiert. Laut Harrits könnte das Buch wohl auch Phänomenologie der Freiheit benannt werden, wenn es nicht so hegelianisch wäre, vgl. ebd.; Bösch stellt ausdrücklich fest, dass das eigentliche Thema von BA „die in sich problematische Freiheit“ sei (Michael Bösch, Søren Kierkegaard. Schicksal – Angst – Freiheit, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1994, S. 40); Dietz legt seinen Schwerpunkt auf den Zusammenhang von Angst, Sünde und Freiheit in BA: „Die hier vertretene These ist, daß der Begriff Angst die Sündenthematik durch eine Neufassung des Freiheitsbegriffs in Richtung auf ein servum arbitrium als incurvatio in se wieder geltend machen will“ (Walter Dietz, Sören Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt/Main: A. Hain 1993, S. 262); für Jon Stewart wird die Erbsünde als das eigentliche Thema der Abhandlung bereits im Untertitel angekündigt (vgl. Jon Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 378); Stephen Dunning betont jedoch die Sünde als Hauptthema der Abhandlung, wobei er vorschlägt, diese den religiösen Schriften zuzuordnen: „The Concept of Anxiety is best understood as dealing with the religious stage of existence, for it is very much a treatise on the problem of sin, and Kierkegaard always associated sin-consciousness with the religious stage“ (Stephen N. Dunning, „Kierkegaard’s Systematic Analysis of Anxiety“, in The Concept of Anxiety, hg. von Robert L. Perkins, Macon: Mercer University Press 1985 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 8), S. 10). Freilich räumt er ein, dass BA das eigene Interesse der Interpreten widerspiegelt: „The Concept of Anxiety is almost like a mirror, reflecting to each interpreter what interests that interpreter most“ (Dunning, „Kierkegaard’s Systematic Analysis of Anxiety“, S. 10, Anm. 9). SKS 4, 321 / BA[R], 10. SKS 4, 322 / BA[R], 12. https://doi.org/10.1515/9783110546941-002
1.1 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde
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dass das Dogma von der Erbsünde „in mente und vor Augen“ steht⁵. Es geht in der Einleitung aber lediglich darum, „mit welchem Recht“ Vigilius Haufniensis „die vorliegende Schrift eine psychologische Überlegung“ genannt hat, und „in welchem Sinne sie […] in die Psychologie gehört; und wieder zur Dogmatik tendiert.“⁶
1.1.2 Die Topographie von Kierkegaards „Wissenschaftslehre“ Warum Kierkegaard diese Schrift nicht mit dem eigentlichen Thema – nämlich dem dogmatischen Begriff der Sünde – betitelt, erklärt sich aus dem, was er in der Einleitung mit seiner ihm eigentümlich ironischen Haltung entwickelt, nämlich der spottenden Kritik an dem Versuch des Hegelianismus seines Zeitalters⁷, verschiedene Wissensbereiche zu einem umfassenden immanenten Wissenschaftssystem zusammenzufassen. Diese Kritik zielt aber gleichzeitig darauf, seine eigene Bescheidenheit in demselben Anliegen widerzuspiegeln: Was zum Bereich der Freiheit gehört, steht außerhalb der Reichweite der wissenschaftlichen Erklärung, ist also in diesem Sinne transzendent⁸. So ist es zum Beispiel nach Kierkegaards Anschauung irreführend, die Wirklichkeit, die in ihrem Begriff Zufälligkeit und Geschichtlichkeit beinhaltet, als Teil der Logik, die für Notwendigkeit stehen soll, zu verstehen; es misslingt ebenfalls völlig, wenn man den Glauben als das aufzuhebende Unmittelbare zu fassen, mit dem Begriff der Versöhnung das gedanklich Widersprüchliche aufzuheben, und die (logische, also immanente) Bewegung mit dem Negativen (als das notwendige Andere) anzutreiben versucht, das wiederum mit dem ethisch SKS 4, 321 / BA[R], 10. SKS 4, 331 / BA[R], 21. Die Einwände gegen den Hegelianismus in BA treffen insbesondere einen dänischen Hegelianer seiner Zeit, Adolph Peter Adler. Zu weiteren Analysen und Begründungen vgl. Jon Stewart, „The Dispute with Adler in The Concept of Anxiety“, in Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 378 – 418. Vgl. hierzu Johannes Sløk, Die Anthropologie Kierkegaards, Kopenhagen: Rosenkilde und Bagger 1954: „Die Transzendenz ist also für Kierkegaard weder ein ontologischer Begriff, ein Begriff vom Sein als etwas jenseits der sinnlich gegebenen Erfahrung Liegendes, noch der metaphysische Begriff einer höheren Realität, die der sinnlich gegebenen Welt in ihrem Verhältnis zu ihr eine abhängige und relative Realität verleiht, sondern es ist der Begriff einer Bewegung im tieferen Sinne, d. h. einer Bewegung, die […] von der Entscheidung abhängt und daher auch eine wirkliche Unterscheidung zwischen vorher und nachher setzt. Das bedeutet in Wirklichkeit, dass Existieren in Kierkegaards Auffassung eine Transzendenz ist, bzw. dass Transzendenz nichts anderes als die Existenz selber ist. […] Die Transzendenz ist also kein Sein, keine Inhaltsbestimmung, sondern ein Ereignis, eine Handlung.“ – Die Transzendenz ist sozusagen ein „Transzendieren in die Existenz“ (Sløk, Die Anthropologie Kierkegaards, S. 33).
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1 Die Grundlage der Interpretation
Bösen gleichzusetzen ist.⁹. Hier liegt im Zentrum der Gegensatz von Sein und Werden, von Zustand und Bewegung, von Notwendigkeit und Freiheit, und im ähnlichen Sinne von Immanenz und Transzendenz: „In der Logik darf keine Bewegung werden; denn die Logik ist, und alles Logische ist nur; und diese Ohnmacht des Logischen bildet den Übergang der Logik zum Werden, wo Dasein und Wirklichkeit hervortreten“¹⁰. Der Begriff Bewegung ist „selbst eine Transzendenz“, die „in der Logik keinen Platz finden kann“¹¹ „[…] ein Werden mit Notwendigkeit [im Vergleich zu dem mit Freiheit] ist ein Zustand […]“¹².
1.1.3 Die Stimmungsverschiedenheit als topographische Regel der Wissenschaft Wissenschaften müssten ihre Grenzen kennen und sich mit dem, was sie können und nicht können, zufriedengeben. Hier gilt außerdem die Regel der Stimmungsverschiedenheit – der Verschiedenheit mentaler Einstellungen¹³ –, die Kierkegaard mit der ihm eigentümlichen Sensibilität entwickelt hat: „Daß auch die Wissenschaften, ebensosehr wie Poesie und Kunst, Stimmung sowohl beim Produzierenden wie auch beim Rezipierenden voraussetzt, daß ein Fehler in der Modulation ebenso stört wie ein Fehler in der Gedankenentwicklung, hat man in unserer Zeit völlig vergessen […]“¹⁴. In der Ästhetik (in diesem Kontext etwa mit Literatur – beziehungsweise Kunstkritik gleichzusetzen)¹⁵ wird der Gegenstand der Untersuchung entweder als komisch oder tragisch behandelt. Beides ist jedoch – wegen der Interessenlosigkeit – nicht ernsthaft genug für das Thema der Sünde. In der Metaphysik herrscht die kühne Nichtdifferenziertheit, als ob die Sünde denjenigen, der sie begeht, überhaupt nichts angehe. Die Sünde ist hier zwar begrifflich aufzuheben, überwinden kann man sie aber nicht. Die Psychologie beobachtet die Sünde neugierig mit Antipathie, und entdeckt sie ängstlich als einen Zustand, der sie aber keineswegs ist. „[…] die Sünde ist kein Zustand.
SKS 4, 318 – 321 / BA[R], 6 – 10. SKS 4, 320 / BA[R], 8 f. SKS 4, 320 / BA[R], 9. SKS 4, 329 / BA[R], 19. Vgl. Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, S. 248. SKS 4, 322 / BA[R], 11 (Anm.). Zur Bedeutungsverschiedenheit des Ästhetischen in Kierkegaards Schriften vgl. Wilfried Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik. Zur Analyse des Ästhetischen in Kierkegaards Entweder/Oder II“ in Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 177– 215.
1.1 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde
11
Ihre Idee ist, daß ihr Begriff ständig aufgehoben wird“¹⁶. Die Sünde gehört eigentlich nur zum Gespräch eines Ich-Du-Verhältnisses, ist nur Gegenstand der Reue und der Verzeihung. Auch wenn die Abhandlung der Sünde in der Ethik stimmungsgemäß¹⁷ nicht zu bestreiten ist, so stellt Kierkegaard doch ein anderes Argument dagegen. Die Ethik scheitert an der Sünde, da sie die Idealität (Normalität) voraussetzt. Sie geht davon aus, dass jeder die Voraussetzung besitzt, das höchste Gut zu erreichen. Mit der Wirklichkeit der Sünde – nämlich der Tatsache, dass jeder zugleich disponiert ist, die Sünde zu begehen – weiß die Ethik nichts anzufangen, da sie als Wissenschaft immanent bleibt. Lediglich eine Erklärung de potentia kann sie anbieten, nicht aber de actu. ¹⁸ Hier tritt die Dogmatik¹⁹ an ihre Stelle und entwickelt die Idee der Erbsünde, um den Sündenfall eines Jeden zu erklären. Wie diese Hilfeleistung alles durcheinandergebracht hat, darauf kommt Kierkegaard erst später zu sprechen.²⁰ Die Sünde ist also kein Thema, das wissenschaftlich abgehandelt werden kann. Der Begriff Sünde beinhaltet ein Moment der freien Wahl, eine entschiedene Handlung, die nicht rückgängig gemacht werden kann. Der Begriff ist so transzendent, dass kein logischer Satz daraus geschlossen werden kann; und die Entscheidung ist so individuell, dass keine allgemein gültige Regel aufgestellt werden kann. Es ist nach Kierkegaards Auffassung letztlich nicht möglich, eine wissenschaftliche Abhandlung über den Begriff der Sünde zu schreiben.
SKS 4, 322 / BA[R], 12. Denn in der Ethik herrscht Ernst. Dieser ist jedoch existenzphilosophisch noch näher zu erläutern. Zum Gegensatzpaar de potentia und de actu siehe z. B. SKS 4, 322 / BA[R], 12: „Als Zustand de potentia [der Möglichkeit nach]) ist sie nicht, während sie de actu [der Wirklichkeit nach] oder in actu [im Vollzug] ist und wieder ist“ (ebd.). Zum Verhältnis der Ethik zur (religiösen) Dogmatik vgl. Arne Grøn, „Kierkegaards zweite Ethik“, Kierkegaard Studies Yearbook, 1998, S. 358 – 368. So heißt es dort gleich am Anfang: „Im dänischen Kontext sind die Fächer Ethik und Religionsphilosophie so eng miteinander verwoben, daß der Eindruck entstehen könnte, als würden diese ein Fach ausmachen. Dieses Verhältnis geht in erster Linie auf Kierkegaards Bestimmung des Ethischen und des Religiösen zurück. Kierkegaard spricht von dem Ethischen und dem Religiösen und nicht nur von Ethik und Religion. Man kann sagen, daß mit dieser Bestimmung Kierkegaards die Fächer Ethik und Religionsphilosophie als Ethik-und-Religionsphilosophie begründet werden“ (Grøn, „Kierkegaards zweite Ethik“, S. 358). SKS 4, 332– 341 / BA[R], 23 – 34.
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1 Die Grundlage der Interpretation
1.1.4 Wissenschaftstheoretische Verortung des Themas Stattdessen darf man jedoch versuchen, sich diesem verfänglichen Thema anzunähern, indem man die Ethik – als die einzige Wissenschaft, die stimmungsgemäß zu dem Thema passt – ihren Grenzen nach so umgestaltet, dass sie mit dem Wirklichkeitssinn der Dogmatik anfängt und nach Idealität strebt. Sie „setzt die Dogmatik voraus und mit ihr die Erbsünde und erklärt nun aus ihr die Sünde des Einzelnen, während sie zugleich die Idealität zur Aufgabe macht, jedoch nicht in einer Bewegung von oben nach unten, sondern von unten nach oben“²¹. Die Bewegung ist also von der Tatsache der Sündhaftigkeit eines Jeden ausgehend zur Idealität der Überwindung der Sünde durch den Sprung ins Verhältnis zu Gott. Sowohl der Ausgang als auch das Ziel dieser Bewegung ist transzendent. Der Sündenfall und die Erlösung sind freie Tathandlungen, die auf der Entscheidung eines jeden Einzelnen beruhen. Eine neue Fassung der Ethik, die Kierkegaard „die zweite Ethik“²² nennt, bewegt sich als Wissenschaft dazwischen. Ihre Rolle ist es, die Sache abzuklären und die Richtung der Bewegung aufzuweisen. Mit dem Der Begriff Angst möchte Kierkegaard jedoch keine erbauliche Abhandlung über die Sündhaftigkeit des Menschen schreiben. Diese Aufgabe übernimmt eine andere Schrift, die er fünf Jahre später publizierte, nämlich Die Krankheit zum Tode, die von der als Sünde zu sehenden Verzweiflung handelt.²³ Michael Theunissen hat darauf hingewiesen, dass „[i]n der geheimen Systematik der Schriften Kierkegaards […]“ genau diese Schrift „die Stelle einer zweiten Ethik“ einnimmt, „deren Einordnung ins Ganze dem Vorbild der zweiten, der positiven Philosophie Schellings folgt. Sie setzt demzufolge mit der Dogmatik, von
SKS 4, 328 / BA[R], 18. Arne Grøn hat darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung von erster und zweiter Ethik später von Kierkegaard nicht mehr eingehalten wird. So versteht er die zweite Ethik als eine „andere“ Ethik, „eine Ethik durch eine Ethikkritik, und sie ist eine Ethik in Kraft von etwas, was über die ethische Forderung hinaus liegt“ (Grøn, „Kierkegaards zweite Ethik“, S. 363 – 364). Schwab versteht wie Fahrenbach diese Unterscheidung als dieselbe, die zwischen einer theoretischen Grundlegung und einer praktischen Umsetzung und Aneignung der Ethik getroffen wird. Siehe für weitere Erläuterung Philipp Schwab, „Ethik und Ethikkritik. Philosophie der Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche“, in Existenzphilosophie und Ethik, hg. von Hans Feger und Manuela Hackel, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 98. Laut Walter Dietz gelten Kierkegaards Begriff Angst und Krankheit zum Tode als wesentliche Beiträge zur Sündenlehre, wobei „es sich in BA um eine weithin psychologisch konzipierte und ‚erbaulich‘ abgezweckte Schrift handelt, die also keineswegs unmittelbar als dogmatischer Beitrag zur Sündenlehre zu verhandeln ist“ (Walter Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, Kierkegaard Studies Yearbook 2001, S. 96 – 127).
1.1 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde
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der Kierkegaard dies ausdrücklich sagt, die gesamte Faktizität voraus […]“²⁴. Im Gegensatz dazu ist die Angstschrift eine psychologische Abhandlung im Sinne einer Beschreibung des subjektiven Geistes (im Verständnis des zeitgenössischen Hegelianismus)²⁵, der disponiert ist, Sünde zu begehen. Seine Methode ist die beobachtende Spekulation, deren Gegenstand „das Bleibende“ ist, „dasjenige, woraus die Sünde ständig wird und entsteht, – nicht mit Notwendigkeit […]; sondern mit Freiheit – dieses Bleibende, die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde […]“²⁶. Dass die ganze Schrift sich lediglich im Möglichkeitsbereich bewegt und Gedankenexperimente aufstellt, wie der Sündenfall bei jedem Einzelnen geschehen könnte und wie es aussehen könnte, wenn einer die Sünde begangen hat, kann man schon daraus erkennen, wenn man Folgendes liest: Dasjenige, was die Psychologie beschäftigen kann und womit sie sich beschäftigen kann, ist die Frage, wie die Sünde entstehen kann, nicht daß sie entsteht. Sie kann es in ihrem psychologischen Interesse so weit bringen, daß es ist, als wäre die Sünde da; aber das nächste, daß sie da ist, unterscheidet sich hiervon qualitativ. Wie sich nun diese Voraussetzung dem Blick der sorgfältigen psychologischen Kontemplation und Beobachtung als etwas mehr und mehr Umsichgreifendes zeigt, darauf richtet sich das Interesse der Psychologie; […].²⁷
Und ferner ganz zutreffend: Daß die menschliche Natur so beschaffen sein muß, daß sie die Sünde möglich macht, ist, psychologisch betrachtet, allerdings wahr; aber die Absicht, diese Möglichkeit der Sünde zu ihrer Wirklichkeit werden zu lassen, empört die Ethik und klingt für die Dogmatik wie eine Blasphemie; denn die Freiheit ist niemals möglich; sobald sie ist, ist sie wirklich […].²⁸
Somit mag deutlich geworden sein, wieso Kierkegaard seine – sowohl inhaltlich wie stilistisch – wissenschaftliche Abhandlung nicht mit dem Gegenstand seiner Spekulation betitelt, nämlich der Sünde, sondern mit dem Begriff Angst – als dem, womit er den Zugang zur Wirklichkeit der Sünde glaubt eröffnen zu können. Dass die Angst den Sündenfall ermöglichen soll, sieht Kierkegaard als die reale Möglichkeit der Sünde, da es um die Individuation der sündhaften Disposition in jedem Einzelnen geht. Dass aber jeder Einzelne sündhaft sein kann, gehört zur
Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 19. SKS 4, 330 / BA[R], 21. SKS 4, 329/ BA[R], 19. SKS 4, 329 / BA[R], 19 f. SKS 4, 329 / BA[R], 20.
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1 Die Grundlage der Interpretation
Bestimmung der Spezies, die von der christlichen Dogmatik als Erbsünde festgestellt worden ist. Diese nennt Kierkegaard die ideelle Möglichkeit der Sünde, da sie zur Idee des Menschen als Geschlecht gehört.²⁹ Durch diese wird die Sünde de potentia vorausgesetzt, die als Wesenscharakteristik des Menschen als Gattung – oder mit Vigilius’ Worten: als Geschlecht – von jedem Einzelnen im Sprung freiwillig übernommen werden soll. Mit jener will Vigilius nun eine rückblickende Erklärung der Sünde de actu geben, die auf keinen Fall den Sprung zu erklären beansprucht, sondern nur den Zustand vor dem Sprung, da der Zustand den Gegenstand der Psychologie bilden soll.³⁰ Die verschiedenen Wissensbereiche sind in dieser Problematik aber nicht nahtlos aneinander gereiht, da sowohl die Setzung der Sünde (Sündenfall) als auch die Überwindung der Sünde (Sprung in den Glauben) der individuellen Entscheidung unterliegen und jeder wissenschaftlichen Untersuchung transzendent sind. Als ein Fazit des Vorausgegangenen soll eine Grafik stehen, die Kierkegaards bescheidenes Anliegen in dieser Schrift schematisch aufzeigt, und damit das Verhältnis des Begriffs der Angst zu dem der Sünde nach seiner Eingrenzung der Wissenschaften angesichts dieser Problematik:
SKS 4, 329 / BA[R], 21. So wird z. B. die Sünde in der falschen Stimmung der Psychologie ein Zustand, der sie aber nicht ist (vgl. Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, S. 12). Zu weiteren Charakteristiken des Zustandes siehe ferner Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, S. 19, wo der Begriff leicht variiert zum „Werden mit Notwendigkeit“ wird, während der Gegenstand der Psychologie ein „Werden mit Freiheit“ in bewegter Ruhe ist. Hans Rochol versteht den hier beschriebenen Gegenstand der Psychologie als „existenzgerechte Essenz“ (vgl. Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 194 f.).
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung³¹ 1.2.1 Vorbemerkung Eine Erklärung der Sünde setzt voraus, wie der Sünder beschaffen ist, um die Sünde begehen zu können. So gesehen ist ein Werk, das das dogmatische Thema der Sünde behandelt, im Voraus schon anthropologisch angelegt. Tatsächlich geht es Kierkegaard in BA (und nicht nur in BA) darum, die Grundbestimmungen des Menschen herauszuarbeiten, die eine angemessene Erklärung der Dogmatik der Erbsünde ermöglichen sollen – und dies in auffallender Differenz zur theologischen Begründung.³² Was Kierkegaard in BA an der Begriffsbestimmung des Menschen festhalten ließ, lässt sich an zwei verschiedenen Aspekten darstellen: Einerseits der Veror-
Da sich die Anthropologie erst im 20. Jahrhundert zu einer eigenständigen Disziplin entwickelte und sich zur empirischen Wissenschaft erklärte, sprechen wir bei Kierkegaards Anthropologie eher von einer Anthropologie im metaphysischen Sinne, wo „[a]nthropologische Fragen […] im Zusammenhang einer umfassenden Deutung des Seienden im Ganzen abgehandelt“ werden (Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, 6. Aufl., Stuttgart: Neske 1993, S. 336). Laut Theunissen liegt Kierkegaards originärer Beitrag darin, die anthropologischen Kategorien existentialisiert zu haben, die die Tradition bereitgestellt hat (vgl. Michael Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, in Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 496 – 510). Eigentlich ist hier nicht von einer Anthropologie Kierkegaards die Rede, sondern von seinen anthropologischen Voraussetzungen, denn seine Fragestellung in Bezug auf das Menschsein ist immer auf das Endziel des Christseins richtet. Das Verhältnis seiner Anthropologie zum Christentum kann im Rahmen dieser Abhandlung nicht das Thema sein, gleichwohl können wir hierzu Theunissens Bemerkung zu Max Müllers „personaler Anthropologie“ heranziehen, da diese Kierkegaards Fall ebenfalls betrifft: „Daß der Mensch als Einzelner, vermöge seiner Berufung zum Heil, einen unendlichen Wert besitzt, daß er in all seiner Bedingtheit einem unbedingten Anspruch zu entsprechen hat, daß er sich in der Zeit für die Ewigkeit entscheiden soll, das lehrt das Christentum […]“ (Michael Theunissen, „Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff“, in Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie (Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag), hg. von Heinrich Rombach, Freiburg und München: Verlag Karl Alber 1966, S. 461). Zum Unterschied der theologischen von der philosophischen Begründung hat Schopenhauer einmal geäußert, dass die Philosophie ihre Beglaubigung in sich habe, während die Theologie diese außer sich habe (vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., textkritisch bearb. und hg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen Stuttgart und Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1986, S. 212. Unter diesem Aspekt kann man die (wie oben bereits gesagt, metaphysische) Anthropologie wohl als eine gemeinsame Voraussetzung ansehen, die die rationalisierende Philosophie und die sich der rationalen Begründung entziehenden Dogmatik zusammenführt.
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1 Die Grundlage der Interpretation
tung jedes Individuums in der Geschlechtergeschichte, die nach der christlichen Dogmatik mit dem ersten Menschen, nämlich Adam, anfängt; und andererseits an der mit hegelianischen Termini verfassten dynamischen Struktur des Menschen, einer Synthese von gegensätzlichen Bedingungen. Obwohl Kierkegaard erst zu Beginn des dritten Kapitels den systematischen Aspekt seiner anthropologischen These ausdrücklich thematisiert³³, wollen wir hier anders verfahren und diesen primär, und zwar vor dem historischen Aspekt, der ebenfalls nur über verschiedene Paragraphen (hauptsächlich des ersten Kapitels) verstreut ist, zur Diskussion stellen.³⁴ Dieser bildet nämlich noch einen wichtigen Bezugspunkt zu KT, in dem ein im systematischen Sinne ausgereifteres³⁵, jedoch den geschichtlichen Aspekt unberücksichtigt gelassenes Menschenbild skizziert wird. Da die KT ein Spätwerk Kierkegaard ist, das die Sündenthematik in BA wieder aufgreift, mag diese Veränderung ein Signal dafür sein, dass der geschichtliche Aspekt der Wesensbestimmung des Menschen ausschließlich für die Aporien der Erbsünde entwickelt worden ist. Von der dynamischen Struktur des Menschen hat Kierkegaard in BA die eine Synthese, und zwar die von Leib und Seele, nach und nach entwickelt, bis sie im dritten Kapitel um eine weitere, der von Zeitlichkeit und Ewigkeit, ergänzt wird. Die nachträgliche Frage, inwieweit diese beiden Synthesen einander entsprechen und wie diese Unstimmigkeiten später in KT zu einem einzigartigen Begriff des Selbstseins des Menschen sich entwickelt haben, wird nach der detaillierten Analyse der relevanten Textpassagen behandelt. Der historische Aspekt folgt anschließend, wenn das Problem mit dem eher abstrakten Teil des Menschseins abgeschlossen sein wird. Damit versuchen ich zu zeigen, dass dieser Aspekt, der ausschließlich im ersten Kapitel für eine mögliche Lösung der Erbsündenproblematik angeführt wurde, gerade die Pointe ist, mit der Kierkegaard den abstrakten Freiheitsbegriff seiner Vorgänger überwindet. Gerade hierin soll der Begriff Angst münden, der eine konkretisierte, situationsgebundene Freiheit ermöglichen soll. Dazu muss das Verhältnis der beiden Aspekte, wie Nämlich: „Es wurde in den beiden vorhergehenden Kapiteln stets festgehalten, daß der Mensch eine Synthese von Seele und Leib ist, die vom Geist konstituiert und getragen wird“ (SKS 4, 384 / BA[R], 87). Hierzu hat Hennigfeld in seiner Darlegung der Wesensbestimmung des Menschen in BA nur diesen einen Aspekt berücksichtigt und die Einordnung des menschlichen Individuums in die Geschlechtergeschichte ganz außer Acht gelassen. Vgl. Jochem Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards ‚Der Begriff Angst‘“, Philosophisches Jahrbuch 94, 1987, S. 269 – 284. Dietz glaubt, dass BA im Vergleich zu KT von „systematisch nicht klar durchkonzipierten und durchstrukturierten Anlagen“ sei, jedoch hat die letztere „die Dimension der Geschlechtlichkeit und der Geschichte so gut wie gar nicht berücksichtigt“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 357 f.).
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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sie sich nämlich ineinander zu einem Menschenbild in BA integrieren, näher erläutert werden.
1.2.2 Eine anthropologisch angelegte Hamartiologie: zu Kierkegaards Umgang mit der Stellung Adams in der Menschheitsgeschichte Will man von Kierkegaards anthropologischer These in Der Begriff Angst reden, kann man seine Sündenlehre nicht umgehen. Tatsächlich wird diese von jener gedanklich bedingt und umgekehrt. Die Fragestellung, wie die erste Sünde geschehen und wie diese „kraft des Gedankens“³⁶ zu fassen sei, birgt die Aufforderung, Adam nicht nur als den ersten Sünder, sondern überhaupt als den ersten Menschen, der die gemeinsame Bestimmung im Wesen mit allen späteren Menschen in sich birgt, zu verstehen. Adam ist der erste Mensch; er ist zugleich er selbst und das Geschlecht. Nicht kraft des ästhetischen Schönen halten wir an ihm fest; nicht kraft eines großmütigen Gefühls halten wir zu ihm, sozusagen um ihn nicht als den, der alles verschuldet hat, in Stich zu lassen; nicht kraft der Begeisterung der Sympathie und von Pietät überredet entschließen wir uns, die Schuld mit ihm zu teilen, so wie ein Kind wünscht, mit dem Vater zusammen schuldig zu sein; nicht kraft eines erzwungenen Mitleids, das uns lehrt, uns in das zu finden, worin wir uns nun einmal finden müssen; sondern wir halten an ihm kraft des Gedankens fest.³⁷
Hamartiologisch gesehen gilt eine Erklärung der ersten Sünde nur dann als angemessen, wenn Adams Sündenfall nicht nur als ein geschichtliches Faktum, was einmalig wäre, sondern als gedanklich Fassbares auch an jedem Anderen vorgestellt werden kann. Zugleich muss das Kernstück der Dogmatik über die Erbsünde berücksichtigt werden, das heißt die Sünde als Erbe, die jedem angeboren sein muss. Hier kommt ein Widerspruch als dialektisches Moment zum Vorschein, der Kierkegaards Gedanken fortwährend bestimmt: das einmalige Geschehnis der Individualgeschichte (Sündenfall als Sünde de actu) und die angeborene Disposition dazu (Sündhaftigkeit als Sünde de potentia). Die Erbsünde wird so gedacht, dass die Sündhaftigkeit (etwa im Sinne von Kants natürlichem Hang zum Bösen) jedem von Geburt an prädisponiert ist, jedoch den Sündenfall als individuelle Entscheidung nicht determiniert, ansonsten wäre Freiheit nicht mehr denkbar. Wenn man dies zu erklären versucht, muss man Folgendes beachten: Die Sünde muss in Adam wie in jedem Nachfolgenden 1.) sowohl de potentia als auch de actu
SKS 4, 336 / BA[R], 28. SKS 4, 335 – 336 / BA[R], 27 f.
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1 Die Grundlage der Interpretation
und 2.) bis zum Territorium der Freiheit gedanklich widerspruchslos 3.) erklärt werden. Gemäß diesen Ansprüchen sind also alle vorhandenen überlieferten Erklärungen³⁸ nicht zufriedenstellend, da sie entweder den Zustand Adams vor dem Sündenfall³⁹ aus „frommer Phantasie“⁴⁰ als Urgerechtigkeit oder ihn als stellverstretend für alle Menschen vorstellen, so dass Adam der Menschengeschichte nicht einmal zugehört 1.); oder Adams Sündenfall wird zur Ursache der Sündhaftigkeit aller anderen Menschen erklärt, so dass die erste Sünde nur de actu, und die folgenden Sündentaten nur de potentia verständlich sind 2.), mit der Konsequenz, dass Adam die Sünde des ganzen Geschlechts tragen musste, das nur wegen ihm schuldig werden musste, was sich als gedanklich inkonsequent herausstellt 3.). Adam ist nicht die isolierte Gestalt, die aus der Menschheitsgeschichte ausgeschlossen ist. Die Menschheitsgeschichte kann nicht mit etwas anfangen, das ihr wesentlich nicht zugehört. Adam ist auch nicht der Sündenbock, der alle Schuld der späteren Menschen tragen muss. Wie jeder andere Mensch beginnt Adam auch nicht wie ein unbeschriebenes Blatt, denn ansonsten würde seine Sünde überhaupt nicht denkbar sein: „Je phantastischer man Adam auszustaffieren wußte, desto unerklärlicher wurde es, daß er sündigen konnte; desto entsetzlicher wurde seine Sünde“⁴¹. Im Fall der Sünde darf Adam also keine Ausnahme bilden, keine, die die ganze Menschengeschichte von vornherein als sündig bestimmt hat, sondern er ist nur ein sündiges Individuum unter anderen⁴². Schließlich ist er „vom Geschlecht nicht wesentlich verschieden; […] Was darum Adam erklärt, erklärt auch das Geschlecht und umgekehrt“⁴³. Adam, der erste Mensch, wird in Kierkegaards Hamartiologie also als ein Prototyp angesehen, der wie alle anderen Individuen, die von ihm abstammen
Zum Hintergrund und zur Auswirkung der Sündenlehre Kierkegaards vgl. Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 96 – 127. Außerdem betont Dietz, dass „es sich in BA um eine weithin psychologisch konzipierte und „erbaulich“ abgezweckte Schrift handelt, die also keineswegs unmittelbar als dogmatischer Beitrag zur Sündenlehre zu verhandeln ist“, dennoch kann man „die ganze neuere Theologiegeschichte des 20. Jahrhundert als komplexe Fußnote zu Kierkegaard“ verstehen (Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 97 f.). Spezifisch zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit der traditionellen Urstandlehre siehe Dietz, Sören Kierkegaard, S. 270 f. SKS 4, 332 / BA[R], 23. SKS 4, 342 / BA[R], 35. Zwar kein beliebiges Individuum, sondern das erste – und das hat überhaupt einen Sinn. SKS 4, 336 / BA[R], 28.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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sollen, gesündigt hat. Der Kern dieser Hamartiologie liegt bekanntlich darin, „Adam in das Geschlecht mit hereinzubringen, ganz in demselben Sinn wie jedes andere Individuum“⁴⁴. Dahinter verbirgt sich die Idee einer allgemeinen Wesensbestimmung des Menschen, die auch für den ersten gelten soll. Dies ist die erste – hier von uns angenommene – anthropologische Voraussetzung Kierkegaards, nämlich der Mensch als eine dynamische Struktur von gegensätzlichen Momenten, die von einem Dritten als Synthese getragen werden. Dennoch hat Kierkegaard kein abstraktes Subjekt aus diesem Prototyp machen wollen. Dies zeigt sich einerseits darin, dass Adam als Prototyp des Menschen stets einen Namen trägt. Darum steht er nicht für eine Variable „X“, die beliebig substituierbar ist. Andererseits steht er für den Anfang einer Geschichte, an dem wir alle beteiligt sind. Wie ist denn in Hinsicht auf die Hamartiologie dieser Anfang zu denken? Inwieweit ist der Anfang auch als Anfang der Sünde zu denken, die nicht nur für das erste Individuum, sondern auch für die folgenden Generationen wesensbestimmend wirken soll? Durch die Versuche, diese Fragen zu beantworten, hoffe ich Kierkegaards Anthropologie in BA skizzieren zu können, mithin den Zusammenhang, in dem die Angstproblematik zur Diskussion gebracht werden kann.
1.2.3 Die dynamische Struktur des Menschseins – zum systematischen Aspekt 1.2.3.1 Der Mensch als Geist, der den Gegensatz von Leib und Seele synthetisiert Die Bestimmung des Menschen als Geist kommt erst im § 5 des ersten Kapitels, direkt in Verbindung mit dem Begriff der Angst zur Sprache. Dort wird zuerst angenommen, dass es einen Zustand vor dem Sündenfall gibt, nämlich den der Unschuld, nachfolgend wird dieser Zustand als „Noch-nicht-Geist“⁴⁵ bezeichnet:
SKS 4, 339 / BA[R], 32 (Anm. 1) Es gibt Unstimmigkeiten in Kierkegaards Ausführungen, so dass man ihn nicht wortwörtlich interpretieren darf, sondern nur verstehend einen einheitlichen Gedankengang zu finden versuchen kann. Ein Beispiel hierfür ist, dass man das „nicht“ als „noch nicht“ verstehen muss, da Kierkegaard wenig später (SKS 4, 349 / BA[R], 44) wieder sagt, dass der Mensch in der Unschuld „ja als Geist bestimmt“ ist. Die Ambivalenz des Gegenstandes führt zur Ambivalenz der Ausdrucksweise, die nur durch immanente Lektüre und „Hellhörigkeit“ aufzuschließen ist. Hierzu Flemming Harrits, „Wortwörtlichkeit des Geistes“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2000, S. 121– 134.
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„In der Unschuld ist der Mensch nicht als Geist bestimmt, […]. Der Geist ist träumend im Menschen“⁴⁶. Nach einer Charakterisierung der Angst als eine zweideutige geht Kierkegaard näher auf diese Zweideutigkeit ein. Er sieht den Geist als eine zweideutige Macht, die ängstlich das ursprünglich unmittelbare Verhältnis zwischen Leib und Seele zugleich stört und konstituiert. In diesem Zusammenhang wird seine Wesensbestimmung des Menschen in konziser Form zum Ausdruck gebracht: „Der Mensch ist eine Synthese des Seelischen und des Leiblichen. Eine Synthese aber ist undenkbar, wenn die beiden Bestandteile sich nicht in etwas Drittem vereinen. Dieses Dritte ist der Geist“⁴⁷. Diese Struktur samt ihren Strukturmomenten führt Kierkegaard beinahe wie selbstverständlich ein.⁴⁸ Den Begriff der Seele kommentiert er nicht weiter, außer dass der Mensch in der Unschuld [noch] nicht als Geist, sondern seelisch bestimmt ist.⁴⁹ In Bezug auf die Feststellung, dass die Angst „eine Bestimmung des träumenden Geistes“ – das heißt die der Unschuld – sei und „als solche in die Psychologie“⁵⁰ gehöre, können wir den Begriff der Seele dem Bereich der Psychologie zuschreiben.⁵¹ An einer anderen Stelle ist von dem „seelischen Zustand“ die Rede, die der Psychologe bei sich selbst als „Stimmung“ nachahmt.⁵². Die seelische Bestimmtheit der Unschuld besagt dann, dass der Mensch zwar psychologische Aktivitäten haben kann, jedoch ohne Rückbezug auf sich selbst be-
SKS 4, 347 / BA[R], 41. SKS 4, 349 / BA[R], 44. Dass diese Bestimmung des Menschen keine Innovation von Kierkegaard ist, hat Hennigfeld in kompakten Worten festgehalten: „“Seele“, „Leib“, „Geist“ bleiben die tragenden (geschichtlich sich wandelnden) Grundbegriffe einer philosophischen Anthropologie. Daß diese den Menschen konstituierenden Wesensmerkmale in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen, so daß die Frage nach der Einheit des menschlichen Seins immer wieder aufbricht – dies läßt sich am Gang der Geschichte der Metaphysik seit Platon verfolgen. Schließlich zeigt sich in der Auffassung, daß die Gegensätze nur in einer Synthesis aufgehoben werden können, das Erbe neuzeitlich-idealistischer Philosophie und ihrer Methode der Dialektik“ (Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst“ S. 270. Es ist wohl zu erkennen, dass die kierkegaardschen Begrifflichkeiten in BA auch von den zeitgenössischen Hegelianern Rosenkranz und Erdmann herstammen. Vgl. Karl Rosenkranz, Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geist, Königsberg: Gebrüder Bornträger 1837; Johann Eduard Erdmann, Leib und Seele nach ihrem Begriff und ihrem Verhältniß zu einander, Halle 1837. SKS 4, 347 / BA[R], 42. So erklärt auch Rochol die Psychologie als die Lehre von der Seele, vgl. Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 216. SKS 4, 360 / BA[R], 58; SKS 4, 427 / BA[R], 138.
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ziehungsweise ohne Bewusstsein der eigenen Leiblichkeit, und zwar „in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit“⁵³. Problematischer ist für Kierkegaard das Moment der Leiblichkeit. Denn die Pointe seiner Hamartiologie liegt darin, den traditionellen Rückschluss der Erbsünde auf die Leiblichkeit⁵⁴, das heißt Naturbedingtheit, zu lösen und diese dem reinen Spielraum der autonomen Freiheit zu überlassen. Außerdem bildet das Leibliche einen interessanten Focus, da mit ihm eine Grenze zwischen Mensch und Tier schwer zu ziehen ist.⁵⁵ Das Leibliche hat vor allem mit der Fortpflanzung zu tun, die die Menschheitsgeschichte als Generationsverhältnis ermöglicht. Es spielt auch eine Rolle in der Bibelerzählung, in der Eva aus einer Rippe gemacht wird. Egal wie exegetisch diese Stellen zu verstehen sind, bei Kierkegaard besagen sie, dass die „Derivation“⁵⁶ – die Vermehrungsform der menschlichen Individuen – vor allem leiblich gelingt. Mit der Derivation wird auch die Sündhaftigkeit fortgepflanzt. Die Sünde wird aber nicht leiblich „geerbt“, denn eine derivierte Sündhaftigkeit ist „den Einzelnen prädisponiert, ohne ihn jedoch schuldig zu machen“⁵⁷. Mit dem Sündenfall wird vielmehr das Sexuelle gesetzt, das Extrem der Sinnlichkeit: In dem Augenblick, in dem der Geist sich selbst setzt, setzt er die Synthese; um aber die Synthese zu setzen, muß er sie erst unterscheidend durchdringen; und das Extrem des Sinnlichen ist eben das Sexuelle. Dieses Extrem kann der Mensch erst in dem Augenblick erreichen, in dem der Geist wirklich wird.⁵⁸
SKS 4, 347 / BA[R], 41. Zum Weiteren vgl. Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 96 – 127. Dabei insbesondere „III. Vigilius’ problemgeschichtliche Selbstverortung (Selbstabgrenzungen von der bisherigen Erbsündenlehre)“ (ebd., S. 118 – 127). Diesen Aspekt findet man sehr häufig in Kierkegaards Ausführungen, wie zum Beispiel dass Tiere (im Unterschied zum menschlichen Kind) keine Angst haben können (SKS 4, 348 / BA[R], 42); dass der Mensch im Zustand der Unschuld „nicht nur“ Tier sei – mehr als bloßes Tiersein (SKS 4, 349 / BA[R], 44). Noch interessanter ist, dass Kierkegaard das Seelische auch beim Tier annimmt, etwa an der Stelle: „Sogar das Tier kann ja in dieser Hinsicht den mimischen Ausdruck und die Bewegung in der Stimme des Sprechenden verstehen, ohne das Wort zu verstehen“ (SKS 4, 350 / BA[R], 45). Und ferner zur Sexualität: „Beim Tier kann die sexuelle Verschiedenheit instinktmäßig entwickelt sein; aber in dieser Weise kann sie einem Menschen nicht eigen sein, eben weil er eine Synthese ist. […] Vor dieser Zeit ist er nicht Tier, aber auch nicht eigentlich Mensch; erst in dem Augenblick, in dem er Mensch wird, wird er es auch dadurch, daß er zugleich Tier ist“ (SKS 4, 354 / BA[R], 49) [Hervorhebung d. Vf.]). „Eva ist das Derivierte. Zwar ist sie wie Adam erschaffen, aber sie ist aus einem vorhergehenden Geschöpf erschaffen“ (SKS 4, 352 / BA[R], 48). SKS 4, 352 / BA[R], 48. SKS 4, 354 / BA[R], 49.
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1 Die Grundlage der Interpretation
Im Sexuellen wird sich der Mensch seiner eigenen Leiblichkeit extrem bewusst, wodurch die ursprüngliche Einheit von Seele und Leib gebrochen wird. Dieser Schritt setzt aber voraus, dass der Mensch zugleich Geist ist, denn „[w]äre er nicht eine Synthese von Seele und Leib, die von Geist getragen wird, so könnte das Sexuelle niemals mit der Sündhaftigkeit hereinkommen“⁵⁹. Also steht der Leib für das Organ der Sinnlichkeit, das erst durch das Bewusstwerden der eigenen Leiblichkeit zur Sündhaftigkeit⁶⁰ wird. Diese kommt mit der Wirklichkeit des Geistes herein, die im Zustand der Unschuld ein „NochNichts“ ist: Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, dieses Nichts aber sieht die Unschuld ständig außerhalb ihrer. […] Die Wirklichkeit des Geistes zeigt sich ständig als eine Gestalt, von der seine Möglichkeit gelockt wird, die aber verschwunden ist, sowie er nach ihr greift, und ein Nichts ist, das nur ängstigen kann.⁶¹
Damit wird angenommen, dass die Struktur des menschlichen Geistes durch den Sündenfall eine Modifikation erlebt haben soll.Wenn der voll entwickelte Mensch als die vom Geist getragene Synthese von Seele und Leib zu sehen ist, dann darf der Zustand der Unschuld, die oben als ethisch-existentielle Unwissenheit bestimmt wurde, als die Vorstufe seines Selbstseins betrachtet werden. Hier hat der Prozess der Vollendung des Individuums den Anfang seiner Geschichte. Die Unschuld ist nicht nur unwissend (oder: unbewusst) gegenüber dem Guten und Bösen, sie ist vor allem unwissend über sich selbst als den Widerspruch zwischen Seele und Leib, weshalb der Mensch noch „in unmittelbarer Einheit mit seiner
SKS 4, 354 / BA[R], 49. Sündhaftigkeit versteht Hennigfeld als eine seelische Bestimmung. Hierzu zitiert er folgende Stelle: „Der Geist ist also nicht nur im Verhältnis zum Gegensatz der Sinnlichkeit gesetzt, sondern zu dem der Sündhaftigkeit“ (SKS 4, 377 / BA[R], 78). Meines Erachtens beruht dieses Verständnis aber auf einer einseitigen Interpretation, mit der er gegen Walter Schulz das Moment der Seele nach dem Sündenfall zu bewahren versucht. Sein Einwand ist zwar richtig, jedoch missversteht er Kierkegaards ursprüngliches Anliegen, sich gegen die traditionelle Gleichsetzung der Sündhaftigkeit mit Sinnlichkeit (oder zumindest eine Rückführung der ersteren auf die letztere) zu wehren. Denn an einer anderen Stelle steht: „Durch die Sünde wurde die Sinnlichkeit zu Sündhaftigkeit“ (SKS 4, 367/ BA[R], 66). Die Sündhaftigkeit ist nur im selbstbewussten Geist. Außerdem ist streng genommen die Sinnlichkeit auch keine rein körperliche Bestimmung. Es kommt darauf an, wie man den Begriff Leib versteht. Weiter kann ich im Rahmen dieses Textes aber nicht gehen. Vgl. Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst“, S. 272; Walter Schulz, „Kierkegaard: „Die Leibgebundenheit des Geistes als Quelle der Angst“, in Philosophie in der veränderten Welt, 6. Aufl., Stuttgart: Neske 1993, S. 388 – 398, insbesondere S. 391 f. SKS 4, 347 / BA[R], 42.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
23
Natürlichkeit“⁶² ist. Trotz dieser unmittelbaren Einheit ist er dem Tier aber nicht ähnlich, da in ihm der Geist schon träumend da ist. „Der Geist ist träumend im Menschen“⁶³. Und einige Seiten später folgt eine nähere Erläuterung: „Der Geist ist also vorhanden, aber als unmittelbarer, als träumender Geist“⁶⁴. Es ist ein selbstgenügsamer Zustand des Geistes, der jedoch jeder Zeit erwachen kann: „Im Wachen ist der Unterschied zwischen mir selbst und meinem Anderen gesetzt, im Schlafen ist er suspendiert, im Träumen ist er ein angedeutetes Nichts“⁶⁵. Im Zustand des träumenden Geistes steht der Mensch also noch nicht in einem bewussten Verhältnis zu sich selbst. Das Setzen des Geistes und somit des Selbst erfolgt nur dann, wenn die Unschuld sozusagen „auf ihren äußersten Punkt“⁶⁶ gebracht ist, so dass der Sprung in den schuldigen Zustand geschehen musste. Erst im Sexuellen ist die Synthese als Widerspruch gesetzt, aber zugleich, wie jeder Widerspruch, als Aufgabe, deren Geschichte im selben Augenblick beginnt. Diese ist die Wirklichkeit, der die Möglichkeit der Freiheit vorausgeht.⁶⁷
1.2.3.2 Der Mensch als existierend im Augenblick, der den Gegensatz von Zeitlichem und Ewigem synthetisiert 1.2.3.2.1 Darstellung der zweiten Synthese mit Rücksicht auf die erste Auf genau diesen Augenblick greift Kierkegaard erst im dritten Kapitel wieder zurück, wenn er der Synthese von Leib und Seele eine Entsprechung in der zeitlichen Dimension geben möchte: Der Mensch war also eine Synthese von Seele und Leib; er ist jedoch zugleich eine Synthese des Zeitlichen und des Ewigen. ⁶⁸ Die Synthese des Zeitlichen und des Ewigen bedeutet keine zweite Synthese, sondern einen Ausdruck jener ersten Synthese, der zufolge der Mensch eine Synthese von Seele und Leib ist, die von Geist getragen wird.⁶⁹
SKS 4, 347 / BA[R], 41. SKS 4, 347 / BA[R], 41. SKS 4, 349 / BA[R], 44. SKS 4, 347 / BA[R], 42. SKS 4, 351 / BA[R], 45. SKS 4, 354 / BA[R], 50. SKS 4, 388 / BA[R], 92. SKS 4, 392 / BA[R], 96.
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1 Die Grundlage der Interpretation
Was die zweite Synthese betrifft, so ist sie dieselbe Wesensbestimmung des Menschen in Bezug auf seine Zeitlichkeit.⁷⁰ Diesbezüglich lässt sich die Entsprechung der beiden Synthesen leicht erkennen: Das Zeitliche steht für die leibliche Seite des Menschen und das Ewige für die Seele. Für ein perfektes Match würde man hier mit dem Zeitlichen leicht an die Endlichkeit⁷¹ denken, die das richtige Pendant zum Ewigen (als dem Unendlichen) ist. Dies lag aber (noch) nicht in Kierkegaards Gedanken, während er BA verfasste. Unter dem Begriff des Zeitlichen hat er noch die ganz abstrakte Bestimmung der Zeit im aristotelischen Sinne verstanden, nämlich als die „unendliche Sukzession“⁷², in der jeder Moment für ein subjektives Zeiterlebnis ein „Vorübergehen“ ist.⁷³ In diesem Bild der objektiv messbaren Zeitlichkeit lässt sich das subjektiv erlebte Gegenwärtige schwerlich erfassen. Für Kierkegaard ist die Zeit ein Spiegelbild der Ewigkeit, die für das echte Gegenwärtige steht. Während man sich unter Zeit ein „unendlich inhaltloses Gegenwärtiges“ vorstellt, ist die Ewigkeit das „unendlich inhaltsvolle Gegenwärtige“, das als ein Prozess („Fortgang“) dennoch nicht „von der Stelle kommt“⁷⁴. Im Letzteren wird die unendliche Sukzession als Vorübergehendes, das der Vorstellung des räumlichen Nacheinanders analog ist, zu einer Art unbewegter Bewegung aufgehoben.
Arne Grøn verweist auf eine zweifache Anwendung des Begriffs der Zeitlichkeit in Kierkegaards Text: „[…] we can see that temporality occurs in two places. First in the definition of the human being as a synthesis of the temporal and the eternal. And second in the definition as a whole. […] The synthesis itself – the very definition of the human being as a synthesis of the temporal and the eternal – is a definition of human finitude or temporality“ (Arne Grøn, „Spirit and Temporality in The Concept of Anxiety“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2001, S. 131 f.). Hier möchten wir im Folgenden mit „Zeitlichkeit“ oder „zeitliche Dimension“ den Charakter der ganzen Synthese bezeichnen, und mit „Zeit“ oder „das Zeitliche“ den einen Moment der Synthese. Thonhauser hat auf den Doppelsinn des von Kierkegaard verwendeten Terminus der „Zeitlichkeit“ in der Originalsprache hingewiesen: „Wenn in den deutschen Übersetzungen „Zeitlichkeit“ zu lesen ist, steht im dänischen Original in der Regel „Timelighed“. Der Begriff „Timelighed“ stammt aus dem religiösen Sprachgebrauch und wird im heutigen Dänisch nur mehr ganz selten verwendet. […] In der zweiten Bedeutung meint es aber auch „weltlich/irdisch“ [jordisk], und Molbech verweist darauf, dass es in dieser Bedeutung auch häufig dem Ewigen entgegengesetzt wird“ (Gerhard Thonhauser, Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Søren Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger, Freiburg und München: Verlag Karl Alber 2011, S. 119 f.). Das Interessante liegt darin, dass die Zeit wie die Ewigkeit gerade als Unendlichkeit bestimmt wird, weshalb Kierkegaard die Zeit als „Spiegelbild der Ewigkeit“ (SKS 4, / BA[R], 93) bezeichnen kann. SKS 4, 389 / BA[R], 92. SKS 4, 389 / BA[R], 93.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
25
Wenn wir nun auf die erste Synthese zurückgreifen und die Entsprechung setzen, können wir das Menschenbild vorerst so skizzieren: Leiblich leben wir raum-zeitlich in einer objektiv fassbaren Welt, in der jeder Moment sowie jeder räumliche Punkt ein endloses Verschwinden für das subjektive Bewusstsein ist, während die Seele vom Ewigen her als das erfüllte Gegenwärtige alles Erlebte in einem einzigen Moment wiederholen kann – wie es zum Beispiel auch in vielen Todeserlebnissen berichtet wird. Dieses traditionelle Dual-Bild des Menschen versucht Kierkegaard nun anhand eines Begriffs zusammenzufügen – eines Begriffs, der die „Zeitlichkeit des Übergangs“⁷⁵ ausdrückt: der des Augenblicks. So wie der Geist aus dem Gegensatz von Leib und Seele hervortritt, berühren sich in einem sogenannten „Blick des Auges“ die Zeit und die Ewigkeit: „Sobald der Geist gesetzt ist, ist der Augenblick da“⁷⁶. Hier scheint Kierkegaard während der Darstellung der zeitlichen Dimension des menschlichen Wesens der Frage nachzugehen, wie die zeitliche Distinktion möglich ist. Es ist auch selbstverständlich, dass es nur für ein subjektives Zeiterleben sinnvoll ist, von einer „vergangenen“, „gegenwärtigen“ und „zukünftigen“ Zeit zu sprechen. Mit anderen Worten: Die zeitliche Distinktion gehört zur Wesensbestimmung des Menschen. Der Mensch existiert wesentlich in der Zeit⁷⁷. Um mit der Synthese zu sprechen, kann man die Existenz des Mensch wie folgt näher bestimmen: Der Mensch als Geist, der den Gegensatz von Leib und Seele synthetisiert, existiert im stets sich wiederholenden Augenblick, in dem das Zeitliche und das Ewige einander berühren und miteinander in Konflikt geraten. Den Begriff Augenblick versucht Kierkegaard auf verschiedenen Ebenen darzustellen: (1) Er ist als „Blick des Auges“ ein bildlicher Ausdruck, eine schöne Metapher zu dem „schicksalsträchtigen Konflikt“⁷⁸, dem „erste[n] Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr[em] erster[n] Versuch, die Zeit sozusagen zum Stillstand zu bringen“⁷⁹; (2) er ist etymologisch auf den griechischen Ausdruck τὸ ἐξαίφνης für das Plötzliche und den lateinischen Ausdruck momentum für das bloße Verschwinden zurückzuführen⁸⁰; (3) in der Alltagssprache ist er die Bezeichnung für
SKS 4, 385 / BA[R], 88. SKS 4, 392 / BA[R], 96. In dieser Aussage ist die Zeit im zweiten Sinne der von Arne Grøn erläuterten Bedeutung gemeint. Vgl. die obenstehende Fußnote 85. SKS 4, 391 / BA[R], 95. SKS 4, 391 / BA[R], 96. Νach Theunissen aber gibt es keine unmittelbare Identifikation. Vgl. Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde.,völlig neu bearbeitete Ausgabe des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler, Basel: Schwabe 1971– 2007, Bd. 1, S. 649.
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1 Die Grundlage der Interpretation
ein ausschließlich sinnliches Leben, so dass ein „Leben nur im Augenblick“⁸¹ eine tadelnde Aussage ist; (4) schließlich steht er – recht verstanden – für die existenzielle Zeitlichkeit, in der „die Zeit die Ewigkeit ständig hemmt und die Ewigkeit die Zeit ständig durchdringt“⁸² und hat dieselbe Zweideutigkeit wie der Begriff Angst. Vor allem aber ist der Augenblick die Bestimmung des subjektiven Zeiterlebnisses, weshalb die zeitliche Distinktion nur aus ihm zu verstehen ist.⁸³ Das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige sind nur für das erlebende Subjekt vergangen, gegenwärtig und zukünftig. Dabei ist das Gegenwärtige immer augenblicklich und das Zukünftige ein „Inkognito“⁸⁴, das in der Distinktion das Hauptgewicht trägt. Das Vergangene wird als das Zukünftige dargestellt, das wiederkehren soll. Durch die so charakterisierte Distinktion erhalten wir ein zukunftsorientiertes Bild der existentiellen Zeitlichkeit, das im Begriff des Augenblicks zusammengefasst wird. Der Gegensatz von Zeit und Ewigkeit wird letztendlich im Augenblick als „Fülle der Zeit“ synthetisiert, was Kierkegaard ausschließlich dem Christentum zu Gute hält: Überhaupt ist es sinnvoll, bei der Bestimmung der Begriffe des Vergangenen, des Zukünftigen, des Ewigen darauf zu achten, wie man den Augenblick bestimmt hat. Ist der Augenblick nicht, so tritt das Ewige als das Vergangene von rückwärts hervor. […] Ist der Augenblick gesetzt, aber nur als discrimen [als Grenze, Grenzscheide, Wendepunkt], so ist das Zukünftige das Ewige. Ist der Augenblick gesetzt, so ist das Ewige, ist aber zugleich das Zukünftige, das als das Vergangene wiederkehrt. So zeigt es sich deutlich an der griechischen, jüdischen, christlichen Anschauung. Der Begriff, um den sich im Christentum alles dreht, das, was alles neu machte, ist die Fülle der Zeit; die Fülle der Zeit aber ist der Augenblick als das Ewige, und doch ist dieses Ewige zugleich das Zukünftige und das Vergangene.⁸⁵
1.2.3.2.2 Der Augenblick als die Zeitlichkeit des Übergangs als unendliche Approximation zum Sündenfall Diese zweite Synthese hätte Kierkegaard auch gleich am Anfang behandeln können, denn nach der ganzen Analyse „sind wir wieder dort angelangt, wo wir im Kapitel I waren“⁸⁶. Eine Anmerkung zum Schluss des Paragraphen deutet
Hier ist der Augenblick als das inhaltslose Gegenwärtige, als die Abstraktion – die sogenannte Parodie auf das Ewige – zu verstehen. Im Gegensatz dazu ist das Ewige das erfüllte Gegenwärtige. SKS 4, 392 / BA[R], 96. SKS 4, 392 / BA[R], 96. SKS 4, 392 / BA[R], 97. SKS 4, 393 / BA[R], 97 f. SKS 4, 395 / BA[R], 100.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
27
ebenfalls darauf hin: „Was hier ausgeführt ist, hätte auch in Kapitel I seinen Platz finden können“⁸⁷. Doch die wiederholende Darstellung der anthropologischen Voraussetzung hat noch ein anderes Anliegen, nämlich dem Übergang von Unschuld zu Schuld im späteren Individuum sein Recht zu geben. Der Übergang gehört laut Kierkegaard zu den „Geheimagenten“ des hegelschen Systems, die die immanente Bewegung des Systems vorantreiben sollen. Jedoch ist eine immanente Bewegung, wie in der Einleitung bereits ausführlich behandelt, keine echte Bewegung. Eine Bewegung in der Wirklichkeit hat ihre Geschichte und ist somit transzendent. Die Zeitlichkeit, die einen Begriff wie Übergang beinhaltet, kann dem Bereich der Logik nicht angehören. So ist der Übergang „im Bereich der historischen Freiheit zu Hause; denn der Übergang ist ein Zustand, und ist wirklich“⁸⁸. Hierzu muss näher erläutert werden, was Kierkegaard unter dem Begriff Zustand versteht. In der Einleitung erfahren wir, dass die Sünde kein Zustand ist, denn ein Zustand steht für eine beschreibbare Möglichkeit (de potentia), während die Sünde etwas de actu, also im Vollzug ist.⁸⁹ Die Sünde ist nur wirklich im Sprung und durch den Sprung. So hält Kierkegaard später auch die beiden Begriffe Übergang und Sprung auseinander: „Im Bereich der historischen Freiheit ist der Übergang ein Zustand. Indessen darf man, um das Richtige zu verstehen, nicht vergessen, daß das Neue durch den Sprung eintritt“⁹⁰. Mit anderen Worten: Den Übergang von der Unschuld zur Schuld kann man zwar als eine Möglichkeit der sogenannten historischen Freiheit, das heißt der Existenz des Menschen, beschreiben, doch der Sündenfall – die Wirklichkeit des Schuldigseins – wird nur im qualitativen Sprung gesetzt und diese ist, wie Kierkegaard immer festhält, in keiner Wissenschaft erklärbar. Die Beschreibung des Übergangs von der Unschuld zur Schuld als eine Möglichkeit gehört zur Aufgabe der Psychologie. Denn „[d]asjenige, womit die Psychologie zu tun haben soll, muß etwas Ruhendes sein, das in bewegter Ruhe bleibt, […]“⁹¹. Jedoch ist der Zustand als Gegenstand der psychologischen Beschreibung nicht demjenigen der Naturwissenschaften ähnlich, denn während dieser als Zustand ein „Werden mit Notwendigkeit“ ist, ist jener doch mit Freiheit: „dieses Bleibende, die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde, das bildet einen Gegenstand für das Interesse der Psychologie“⁹². Da die
SKS 4, 396 / BA[R], 101 (Anm. 1). SKS 4, 385/ BA[R], 88. SKS 4, 323 / BA[R], 12. SKS 4, 388 / BA[R], 91. SKS 4, 329 / BA[R], 19. SKS 4, 329 / BA[R], 19.
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1 Die Grundlage der Interpretation
Freiheit aber niemals möglich, sondern immer wirklich ist, sobald sie ist⁹³, ist der Übergang als Zustand ein „Werden mit Freiheit“, eine Bewegung, die zwar prädisponiert, jedoch nicht prädestiniert ist⁹⁴. Beschreibbar ist nur der Prozess der psychologischen Approximation, die unendlich nah an den Sündenfall führt, jedoch die Entscheidung als die innere Handlung nicht bestimmt, sondern nur dazu veranlasst, dass man die Freiheit ausübt. Dieser Prozess der psychologischen Approximation geschieht im Augenblick und hat ihren Ausdruck in der Angst als einer psychologischen Zwischenbestimmung. Dies wird deutlich, wenn Kierkegaard schreibt: „Die Angst war – um einen neuen Ausdruck zu gebrauchen, der dasselbe besagt wie das, was im Vorhergehenden gesagt wurde, und der zugleich auf das Folgende hindeutet – die Angst war der Augenblick im individuellen Leben“⁹⁵. Der Augenblick ist also die Zeitlichkeit des Übergangs von der Unschuld zur Schuld. Er ist ebenfalls, wie oben gezeigt, als Synthese des Zeitlichen und des Ewigen, der eigentliche Begriff der Gegenwart, mit dem ein zukunftsorientiertes Bild der existentiellen Zeitlichkeit gezeichnet wird. Der Mensch existiert im immer wieder neu kommenden Augenblick, in dem die Zeit und die Ewigkeit – beide als Wesensbestimmung des Menschen – zusammentreffen. Dass Kierkegaard die zweite Synthese – oder in seiner eigenen Präzisierung: den Ausdruck der ersten Synthese – erst im dritten Kapitel behandelt, ist darauf zurückzuführen, dass seine anthropologische Voraussetzung für die Darstellung der Sündenproblematik noch einen historischen Aspekt hat. Wie er selbst angemerkt hat, „hätte“ diese „auch in Kap. I seinen Platz finden können“. Er hat sie aber deshalb an dieser Stelle behandelt, weil „es am ehesten geeignet ist, zum Folgenden hinzuführen“⁹⁶ – also zur immer wiederholten Setzung des Sündenfalls, und ferner noch – wie Rochol zu Recht festgestellt hat – zu Sündenbewusstsein und Versöhnung als Korrektur der fehlerhaften Setzung.⁹⁷ Der Sündenfall ist nämlich kein einmaliges Geschehnis, das nur bei Adam als dem ersten Menschen war und den späteren Menschen einfach vererbt wird. Er betrifft jeden so, wie er Adam betraf, und wird solchermaßen als Sünde de potentia in der Menschheitsgeschichte überliefert. Dergestalt wird mit dieser Überlieferung das Verhältnis des Menschen als Individuum und zum Menschen als Gattungswesen, also das sogenannte Generationsverhältnis bei Kierkegaard, zum Problem.
SKS 4, 329 / BA[R], 20. SKS 4, 366 / BA[R], 65. SKS 4, 384 / BA[R], 87. SKS 4, 396 / BA[R], 101 (Anm.). Rochol, „Einleitung des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. LXX.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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1.2.4 Das teleologische Bild des menschlichen Wesens – zum historischen Aspekt Mit dem Begriff Augenblick kommt eine andere Wesensbestimmung des Menschen zum Ausdruck: die zeitliche Existenz in der Synthese von Zeit und Ewigkeit. Der stets als das Neue wiederkommende Augenblick bringt das Individuum in sein geschichtliches Dasein. Durch ihn wird es mit seinen Mitmenschen in Verbindung gesetzt: als Einer unter den Anderen, als Vorfahre und Nachkommender, als Erster und Derivierter. Denn „[e]rst im Augenblick beginnt die Geschichte“⁹⁸.
1.2.4.1 Die Bestimmung des Menschen als Gattungswesen – in Abgrenzung zum Solipsismus Oben haben wir festgehalten, dass Adam und sein Sündenfall, wie es in der Bibel dargestellt wird, Kierkegaard eher als Prototyp dient, mit dem er ein Gedankenexperiment durchführt, das jedem Einzelnen auch widerfahren könnte. Dieses Gedankenexperiment kann nur unter der Voraussetzung gelingen, dass er den Menschen im Verhältnis zu seiner Gattung versteht, wie folgendes Zitat deutlich macht: Adams Sünde erklären heißt daher, die Erbsünde zu erklären; […] Das hat seinen tiefsten Grund in dem, was das Wesentliche an der menschlichen Existenz ist, daß nämlich der Mensch ein Individuum ist und als solches zugleich er selbst und das ganze Geschlecht, und zwar in der Weise, daß das ganze Geschlecht am Individuum und das Individuum am ganzen Geschlecht partizipiert.⁹⁹
Für Kierkegaard ist der Mensch zwar ein Einzelner, jedoch nicht im solipsistischen Sinne. Er ist ein Individuum, das für die Gattung mehr bedeutet als ein bloßes Individuum unter anderen.¹⁰⁰ Besonders anthropologisch interessant ist nämlich Kierkegaards Bemerkung, dass jedes menschliche Individuum auch der Gattung wesentlich ist: „Wenn also ein Einzelner vollständig aus dem Geschlecht herausfallen könnte, so würde sein Ausscheiden zugleich auch das Geschlecht anders bestimmen; wenn dagegen ein Tier aus der Art ausschiede, so wäre die Art
SKS 4, 392 / BA[R], 96. SKS 4, 335 / BA[R], 26 f. Im Vergleich zur Bestimmung des Menschen als Individuum und Gattungswesen, die eher von der Tradition übernommen wird, gehört der Gedanke über den Vorrang des einzelnen Menschen gegenüber der Gattung zu Kierkegaards origineller Denkleistung. Vgl. Dietz, Sören Kierkegaard, S. 232, Anm. 630.
30
1 Die Grundlage der Interpretation
demgegenüber ganz gleichgültig“¹⁰¹. Im Vergleich zum Tier, bei dem das Individuum als bloßes Exemplar weniger zählt als die Gattung, ist jeder Mensch als Einzelner höher als die Gesamtheit der Menschheit, die „kein qualitatives Plus, sondern nur ein – insgesamt fragwürdiges – Abstraktum“ darstellt.¹⁰² Denn „in gewissem Sinne sei jeder Mensch eine Aufnahme, und es sei gleichermaßen wahr, daß jeder Mensch das Allgemein-Menschliche sei und zugleich eine Ausnahme.“¹⁰³ Mit dieser Definition¹⁰⁴ scheitert laut Dietz der seit der Zeit Adornos gängige Solipsismus-Vorwurf an Kierkegaard, denn „Subjektivität ist bei Kierkegaard eben nicht als isolierte, „reine“ Subjektivität zu begreifen, sondern im dialektischen Selbstvollzug „absoluter Subjektivität“, die in sich mit der Objektivität vermittelt ist.“¹⁰⁵ Das menschliche Individuum ist nicht aus Kontingenz, sondern im Prinzip ein Gattungswesen. Und es geht in der Individualgeschichte, in der Selbstverwirklichung jedes Einzelnen, um eine (freiwillige) Übernahme der Dispositionen, die den Menschen als Gattung vorausbestimmen, ohne jedoch notwendig auf jeden Einzelnen zu wirken.¹⁰⁶ Dahinein gehört die Sünde de potentia, die gattungsübliche Möglichkeit der Entscheidung zum Bösen.
SKS 4, 335 / BA[R], 27 (Anm.). Vgl. Dietz, Sören Kierkegaard, S. 232. SKS 3, 313 / EO2, 355. Diesen Gedanken, diese Bestimmung des Menschen hat Kierkegaard bereits im Jahr zuvor Wilhelm den Richter ausdrücken lassen, und zwar zur Erläuterung des Ethischen in der Persönlichkeit: „Ich sage nie von einem Menschen, daß er die Pflicht tue oder die Pflichten, sondern ich sage, er tue seine Pflicht; ich sage: „ich tue meine Pflicht, tu du die deine.“ Dies zeigt, daß das Individuum zugleich das Allgemeine und das Einzelne ist. Die Pflicht ist das Allgemeine, sie wird gefordert von mir; bin ich also nicht das Allgemeine, so kann ich auch die Pflicht nicht tun. Anderseits ist meine Pflicht das Einzelne, etwas allein für mich, gleichwohl ist es die Pflicht, und somit das Allgemeint. Hier zeigt sich die Persönlichkeit in ihrer höchsten Giltigkeit. Sie ist nicht gesetzlos, gibt sich nicht selbst ihr Gesetz; denn die Bestimmung von Pflicht besteht fort, aber die Persönlichkeit zeigt sich als die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen“ (SKS 3, 251 / EO2, 281). Und an einer anderen Stelle schreibt er: „Der ethische Satz, daß ein jeder Mensch einen Beruf habe, ist also der Ausdruck dafür, daß es eine vernünftige Ordnung der Dinge gibt, in der ein jeder Mensch, so er will, seinen Platz ausfüllt, dergestalt, daß er zu gleicher Zeit das AllgemeinMenschliche und das Individuelle ausdrückt“ (SKS 3, 277 / EO2, 312). Vgl. Dietz Sören Kierkegaard, S. 43. Und ferner noch: „Gerade indem Vigilius Adam positiv auf das ganze Geschlecht bezieht und den Menschen ineins als Individuum und geschichtlich-gesellschaftliches Kollektivwesen begreift, überwindet er die socinianisch-aufklärungsspezifische Isolation des unvertretbaren, isolierten Einzelnen, der nur für sich selbst (gerade) zu stehen habe“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 256, Anm. 703). So ist erstaunlich, dass Peter Ponk daraus immer noch einen „auf äußerste verengte[n] Individualismus“ herausliest. Meines Erạchtens berücksichtigt er zwar den Gegensatz von Individuum und Gattung in Kierkegaards Ausführung, vernachlässigt jedoch das dialektische Moment
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
31
1.2.4.2 Die Übernahme der Essenz durch Abstammung und Mitsein Geschlecht/Gattungswesen zu sein bedeutet für das Individuum zweierlei: Zum einen im Generationsverhältnis zu sein, das die Existenz des Menschen durch Abstammung garantiert; zum anderen im Gesellschaftsverhältnis zu sein, oder – in Kierkegaards eigenen Worten – im historischen Verhältnis, das das Miteinander-Sein und das kollektive Kulturgedächtnis als Hintergrund jeder einzelner Existenz anbietet. Wenn die Individualgeschichte nur mit dem Augenblick, das heißt der Synthese von Zeit und Ewigkeit im Menschen, beginnt, wird im selben Augenblick auch der Geist als die Synthese von Leib und Seele gesetzt. Der träumende Geist im Zustand der Unschuld ist nun wach. Der unschuldige Mensch – wie Adam im Paradies – hat keine Geschichte und auch keinen Sinn für ein Gesellschaftsleben. Zugleich Individuum und Gattungswesen zu sein, ist erst als Aufgabe gesetzt, wenn der Geist gesetzt ist und der Einzelne im wiederholenden Augenblick der Selbstsetzung lebt. Kierkegaard versucht in seinen Ausführungen stets mit der Bibelerzählung parallel zu bleiben. Dass Eva aus Adams Rippe erschaffen wurde, versteht er als „eine numerische Wiederholung“¹⁰⁷. Denn das Generations-Verhältnis kann nur mit der Abstammung entstehen, die bei einem Paar beginnen muss. Nur wenn der Geist wach ist, wird die Synthese gesetzt und das Sexuelle als das Extrem des Sinnlichen bewusst, denn „[d]ieses Extrem kann der Mensch erst in dem Augenblick erreichen, in dem der Geist wirklich wird. Vor dieser Zeit ist er nicht Tier, aber auch nicht eigentlich Mensch; erst in dem Augenblick, in dem er Mensch wird, wird er es auch dadurch, daß er zugleich Tier ist.“¹⁰⁸ Im Zustand der Unschuld zwar ist die sexuelle Verschiedenheit vorhanden, jedoch unbewusst, ganz in demselben Sinne wie Adam sich der eigenen Nacktheit unbewusst war. Im selben Augenblick, in dem der Geist gesetzt ist, ist der Sündenfall, der bei Adam aus eigener, freier Entscheidung geschah. „Mit der Sündhaftigkeit wurde die Sexualität gesetzt. Im selben Augenblick beginnt die Geschichte des Menschengeschlechtes“¹⁰⁹. Das Verhältnis der späteren Individuen zu Adam nennt Kierkegaard eine „Derivation“. Mit diesem Begriff wird zweierlei ausgedrückt: zum einen das Bewahren der Einheitlichkeit des Menschenwesens als Gattung;
in ihm, dass der Mensch „zugleich“ dieses und jenes ist. Vgl. Peter Fonk, Zwischen Sünde und Erlösung. Entstehung und Entwicklung einer christlichen Anthropologie bei Søren Kierkegaard, Kevelaer: Verlag Butzon und Bercker 1990, S. 177. SKS 4, 351 / BA[R], 47. SKS 4, 354 / BA[R], 50. SKS 4, 357 / BA[R], 54.
32
1 Die Grundlage der Interpretation
zum anderen die Bestimmung der individuellen Unterschiede durch Abstammung als quantitativ. Das Derivierte ist nie so vollkommen wie das Ursprüngliche. Der Unterschied ist hier jedoch nur quantitativ. Das spätere Individuum ist wesentlich ebenso ursprünglich wie das erste. Der Unterschied ist für alle späteren Individuen in pleno [insgesamt, auf einmal]: die Derivation; aber die Derivation kann für den Einzelnen wieder ein Mehr oder ein Weniger bedeuten.¹¹⁰
Durch Abstammung wird jeder Einzelne ein typisches Exemplar der Gattung, jedoch mit individuellen Unterschieden. Da aber der Mensch nicht nur ein Gattungswesen, sondern jeder für sich ein Individuum ist, wird er vom Vorfahren trotz des Derivationsverhältnisses nicht abhängig. Denn „die Abstammung ist nur der Ausdruck der Kontinuität in der Geschichte des Geschlechtes, die sich stets in quantitativen Bestimmungen bewegt und deshalb in keinem Fall imstande ist, ein Individuum hervorzubringen […]“¹¹¹. So wird der Sohn nicht wegen des Vaters Schuld schuldig, und das spätere Individuum nicht wegen Adam sündig, denn nur dadurch, dass er seine eigene Schuld auf sich selbst nimmt, wird er ein Individuum. Dennoch gibt es eine Erbsünde, denn „das Geschlecht“ beginnt „nicht mit jedem Individuum von vorn.“¹¹² Ist einmal die Sündhaftigkeit durch Adams Sündenfall in die Welt gekommen, wird diese als Teil der Essenz des Menschen von Generation zu Generation fortgepflanzt, so dass jeder Einzelne diese seit Geburt mit sich trägt. Da aber die Sündhaftigkeit nur die Sünde de potentia, jedoch nicht de actu ist, wird das spätere Individuum nicht als Sünder geboren, sondern nur als potentieller Sünder, das heißt als einer, der seine eigene Freiheit bewusst Gott gegenüber missbrauchen kann. Da dieser Missbrauch das Freiheitsbewusstsein voraussetzt, ist der Menschen dazu nicht schon von Anfang an in der Lage, denn wie bei Adam gibt es in der Individualgeschichte jedes Einzelnen einen Zustand der Unschuld, in dem der Geist noch träumt und von der eigenen Freiheit nichts weiß. In genau diesem Sinne beginnt jedes Individuum „von vorn mit dem Geschlecht“¹¹³, das heißt mit allen Bestimmungen, die den Menschen zum Menschen machen. „Indem nun die Geschichte des Geschlechtes fortschreitet, beginnt das Individuum ständig von vorn – denn es ist es selbst und das Ge-
SKS 4, 368 / BA[R], 67. SKS 4, 340 / BA[R], 33. SKS 4, 340 / BA[R], 32 f. SKS 4, 340 / BA[R], 33.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
33
schlecht – und damit auch wieder die Geschichte des Geschlechtes“¹¹⁴. Im Generationsverhältnis besteht der Anfang der physischen Existenz, die – als Komponente einer Synthese – für den Einzelnen aber nicht nur etwas Physisches bedeutet. Nicht nur der Leib, sondern auch das kulturelle Verständnis der Leiblichkeit, insbesondere der Sexualität, wird zum Erbe und wirkt angstvoll auf das spätere Individuum, dem die Möglichkeit der Sünde ständig droht. Eine andere Anfangsbedingung der Existenz ist die historische Umgebung, in der sich das Individuum von Geburt an befindet. Da es für den Menschen als Geisteswesen typisch ist, die Weltgeschichte voranzutreiben, jedes Individuum an ihr teilnimmt, muss jeder einen eigenen Ort in der Geschichte haben. „[…] denn die Geschichte des Geschlechtes schreitet ja ruhig auf ihrem Weg fort; und in ihr wird kein Individuum an derselben Stelle wie ein anderes beginnen, während jedes Individuum von vorn beginnt und in demselben Augenblick dort ist, wo es in der Geschichte beginnen soll“¹¹⁵. Dieses Verhältnis jedes Einzelnen zur Weltgeschichte nennt Kierkegaard „das historische Verhältnis“. Der individuelle Anfang in der Weltgeschichte ist von reiner Kontingenz bestimmt und gehört zur Faktizität im typisch heideggerschen Sinne. Wie Hopland richtig bemerkt, „[…] collective history […] retains its primary status in terms of development. It remains the indispensable starting point of any individual life, […] individual man is dependent on collective history, not as a system of meaning but as contingent events and experiences […].“¹¹⁶ Diese kontingenten Ereignisse und Erfahrungen wirken auf das Individuum als Beispiele, die ihre Macht darin haben, dass sie Angst hervorrufen können, die in ihrer Zweideutigkeit das Individuum zum Missbrauch seiner Freiheit zugleich verzögert und verführt. Zu diesen kontingenten Ereignissen gehört vor allem, dass das Christentum entsteht und die Sinnlichkeit des Menschen sündig abfärbt: „Nachdem das Christentum in die Welt gekommen und die Erlösung gesetzt worden ist, ist auf die Sinnlichkeit das Licht eines Gegensatzes gefallen, den es im Heidentum nicht gab und der eben zur Erhärtung des Satzes führt, daß Sinnlichkeit Sündhaftigkeit sei“¹¹⁷. Zwar sieht Kierkegaard die Entwicklung der Weltgeschichte vom Heidentum zum Christentum als einen Fortschritt, denn das Sündenbewusstsein wird erst durch das Christentum gesetzt, dennoch bewegt sich die Geschichte nicht nur in Fortschritten. So gibt es zum Beispiel das „Heidentum innerhalb des Chris-
SKS 4, 335 / BA[R], 27. SKS 4, 341 / BA[R], 34. Karstein Hopland, „The Concept of History in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety“, in Liber Academiae Kierkegaardiensis, Tomus VIII, Kopenhagen 1990, S. 20. SKS 4, 378 / BA[R], 79.
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1 Die Grundlage der Interpretation
tentum“¹¹⁸, das für den geistlosen Zustand steht, nachdem der Geist mit dem Christentum gesetzt wurde. Im Gegensatz zum Heidentum der klassischen Zeit, die in der Individualgeschichte dem Zustand der Unschuld analog ist, ist das Heidentum innerhalb des Christentum gerade die Sünde, denn wird man in historischer Umgebung ins Christentum hineingeboren und ist dennoch das Sündenbewusstsein nicht bekannt, dann ist diese Geistlosigkeit nicht aus Kontingenz, sondern aus Freiheit: „[…] das Heidentum unterscheidet sich von der Geistlosigkeit dadurch, daß es in Richtung auf den Geist hin bestimmt ist, während sie in Richtung vom Geist weg bestimmt ist. Das Heidentum ist daher, wenn man so will, Geistesabwesenheit und infolgedessen von der Geistlosigkeit ganz verschieden. Insofern ist das Heidentum bei weitem vorzuziehen. Die Geistlosigkeit ist die Stagnation des Geistes, und das Zerrbild der Idealität“¹¹⁹. So wird der weltgeschichtliche Fortschritt ständig vom Verfall bedroht, so wie die persönliche Entwicklung des Individuums ständig von der Sünde bedroht wird. Es gibt bei Kierkegaard eine klare Entsprechung der individuellen Entwicklung mit der Entwicklung der Gattungsgeschichte des Menschen, die eine andere Dimension seiner Wesensbestimmung des Menschen ausmacht, „daß nämlich der Menschen ein Individuum ist und als solches zugleich er selbst und das ganze Geschlecht ist, und zwar in der Weise, daß das ganze Geschlecht am Individuum und das Individuum am ganzen Geschlecht partizipiert“¹²⁰. Bei beiden Betrachtungsweisen gibt es einen Zustand der Unschuld, die durch den Sündenfall verloren geht – zugleich als individuelles und als historisches Ereignis. Sowohl in der einen als auch in der anderen Hinsicht existiert ein telos, nämlich die Möglichkeit der Erlösung, die „das Individuum sowohl liebt wie auch fürchtet“¹²¹. Zudem gibt es außer der subjektiven Angst noch eine objektive Angst „im nicht-menschlichen Dasein“¹²², beide werden erst im Augenblick der Erlösung überwunden. Zur Wesensbestimmung des Menschen gehört also eine selbstbestimmende Bewegung zu diesem telos hin: das ist die Überwindung der Angst durch den Sprung in den Glauben.
1.2.4.3 Das teleologische Bild, das den ständigen Verfall in sich hat In Kierkegaards Ausführungen kommt ein quasi-teleologisches Bild der Weltgeschichte und der Individualgeschichte zum Vorschein:
SKS 4, 397 / BA[R], 102. SKS 4, 398 / BA[R], 104. SKS 4, 334 / BA[R], 26 f. SKS 4, 358 / BA[R], 55. SKS 4, 362 / BA[R], 60.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
35
In jedem Augenblick verhält es sich so, daß das Individuum es selbst und das Geschlecht ist. Das ist die Vollkommenheit des Menschen als Zustand gesehen. Zugleich ist es ein Widerspruch: ein Widerspruch aber ist stets Ausdruck einer Aufgabe; eine Aufgabe aber ist Bewegung; eine Bewegung aber, hin zu demselben als Aufgabe, die als dasselbe aufgeben war, ist eine historische Bewegung. Also hat das Individuum Geschichte; hat aber das Individuum Geschichte, so hat das Geschlecht es ebenfalls. Jedes Individuum hat dieselbe Vollkommenheit; eben darum fallen die Individuen nicht numerisch auseinander, ebenso wenig wie der Begriff des Geschlechtes zu einem Phantom wird.¹²³
Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern es hier um ein teleologisches Bild des Menschen geht, da dieses Bild dem allgemeinen Eindruck der Existenzphilosophie, zu deren Initiator Kierkegaard nachträglich ernannt wurde, wesentlich widerspricht. So hat Odo Marquard die Entstehungsbedingung der Existenzphilosophie mit dem „Telosschwund“¹²⁴ und „sacrificium essentiae“¹²⁵ in Verbindung gebracht und Kierkegaards gesamtes Anliegen als Protest gegen die zeitgenössische Geschichtsphilosophie angesehen, die ein „sacrificium individualitatis ad finem individualitatem“¹²⁶ fordert. Mit welchem Recht dürfen wir hier von einem „teleologischen Bild des menschlichen Wesens bei Kierkegaard“ sprechen? In der oben zitierten, hegelianisch bestimmten Textstelle wird das Idealbild des Menschen eine „Vollkommenheit“ genannt. Diese Vollkommenheit „als Zustand gesehen“ ist aber das Wesen des Menschen, das heißt in jedem Augenblick er selbst und das Geschlecht zu sein. Den Begriff „Zustand“ haben wir oben erläutert als das zum Bereich der Möglichkeit Gehörende, als das logisch oder psychologisch Beschreibbare. Auf diese Weise ist das gleiche Idealbild als eine zu verwirklichende Möglichkeit jedem Einzelnen angeboren. Andererseits ist diese Vollkommenheit, diese Bestimmung des Menschen als eine Aufgabe gesetzt, die als telos eine Bewegung auslöst. Eine richtige Bewegung gibt es laut Kierkegaard aber nur im Bereich der Wirklichkeit. Deshalb kann diese Bewegung zur Vollkommenheit, zur selbstgesetzten Essenz nur die selbstwerdende Existenz des Menschen sein. Es wird also in dem von Kierkegaard vorgezeichneten teleologischen Bild des menschlichen Wesens weder ein „sacrificium individualitatis“ noch ein „sacrificium essentiae“ durchgeführt. Vielmehr wird die Individualgeschichte mit der Gattungsgeschichte, das heißt Weltgeschichte dialektisch so zusammengedacht, dass als telos beider gerade die selbstwerdende Existenz der einzelnen Menschen SKS 4, 335 / BA[R], 27. Odo Marquard, Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie, Stuttgart: Reclam 2013, S. 85. Marquard, Der Einzelne, S. 82. Marquard, Der Einzelne, S. 107.
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1 Die Grundlage der Interpretation
gesetzt wird, die an der Weltgeschichte durch Abstammung und durch Miteinandersein teilnehmen. Die Gattungsgeschichte des Menschen hängt von der persönlichen Geschichte jedes Einzelnen ab, während die Existenz jedes Individuums auch die seiner Mitmenschen umfasst: Jedes Individuum ist wesentlich an der Geschichte aller anderen Individuen interessiert, ja, ebenso wesentlich wie an seiner eigenen. Die Vollendung in sich selbst ist daher die vollkommene Partizipation am Ganzen. Kein Individuum ist gleichgültig gegenüber der Geschichte des Geschlechtes, ebenso wenig wie das Geschlecht gegenüber derjenigen irgendeines Individuums.¹²⁷
Damit ist ein teleologisches Bild des Menschen vorgezeichnet, das den historischen Aspekt der anthropologischen Voraussetzung Kierkegaards ausmacht. Darin wird das gattungswesentlich und welthistorisch Vorgegebene als der unausweichliche Anfang jeder Individualgeschichte dergestalt dialektisch gedacht, dass der Einzelne in dieser Kontingenz nicht gefangen bleiben, sondern sich dazu als eigene Existenzbedingung mit bewusster Freiheit verhalten und die vorgesehene Vollkommenheit anstreben soll, in der er mit angemessenem Interesse an seinen Mitmenschen und an der Weltgeschichte ständig partizipiert und dadurch zugleich er selbst und das Geschlecht ist. Eine zutreffende Bemerkung von Karstein Hopland entspricht genau dieser Stelle: […] the existentialist idea of creating one’s own personal history involves as an essential condition the transformation of predetermined, that is, collective structures and ideas into selfdetermined projects. Thus, what is defined as the break with collectivism and essentialism is not at all the whole truth about Kierkegaard’s position. On the contrary, the collective – historical dimension of man’s existence is quite decisive for Kierkegaard’s analysis of the genesis of selfhood, and this is especially true of the descriptions and arguments found in The Concept of Anxiety (CA). […] The individualism of Kierkegaard is thus not ignoring the rather obvious fact that man is a social being, not accidentally but essentially.¹²⁸
Zugleich ist aber in diesem Bild der triumphierend-optimistische Historizismus ausgeschlossen, denn für Kierkegaard gibt es in der Existenz als dem Bereich der Wirklichkeit keine notwendige Bewegung. Wo immer Freiheit ist, da ist auch die Möglichkeit zum Verfall und zum Rückschritt gegeben. Wie wir oben in Bezug auf die Entsprechung der Individual- und Weltgeschichte bereits erläutert haben, ist die Tatsache des Sündenfalls und die Geistlosigkeit im Zeitalter des Christentums SKS 4, 335 / BA[R], 27. Hopland, „The Concept of History in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety“, S.16 f.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
37
der Beweis dafür, dass Geschichte immer noch scheitern kann. Mit der Essenz des Menschen wird zugleich die Erbsünde als Zustand, das heißt als Sünde de potentia angeboren, die durch den „historischen Nexus“ noch verstärkt auf das Individuum einwirken kann. Das Streben nach Vollkommenheit als telos ist also durch ständigen Verfall geprägt. Der Missbrauch der Freiheit, der sich überall als Tatsache erweist, kann erst durch die einzigartige psychologische Zwischenbestimmung der Angst bewusst werden und nur durch die Überwindung dieser korrigiert werden. Denn nur die Angst hat die Erziehungskraft, das Individuum zum Glauben zu bilden und in der Vorsehung ruhen zu lassen.¹²⁹
1.2.5 Die hamartiologischen Implikationen der anthropologischen Voraussetzung Es geht Kierkegaard bei seiner Wesensbestimmung des Menschen stets darum, „Adam in das Geschlecht mit hereinzubringen, ganz in demselben Sinn wie jedes andere Individuum“¹³⁰. Der Stellung Adams in der Menschheitsgeschichte haben wir oben einen Paragraphen¹³¹ gewidmet. Hier soll nun ein weiterer Aspekt hinzugefügt werden, nämlich der über die hamartiologischen Implikationen/Konsequenzen der anthropologischen Voraussetzung Kierkegaards. Obwohl Kierkegaard bekanntlich vom protestantischen Gedankengut geprägt wurde, versucht er zumindest in BA sich vom strengen Luthertum zu distanzieren – also in Bezug auf die Frage nach der Sünde. Die Pointe der Kritik an Luther besteht darin, dass die leidenschaftliche Frömmigkeit keinen Raum für das Gedankliche lässt und insofern in die Irre führen kann: Der Protestantismus verwirft scholastische Bestimmungen, […] und nun beginnt die begeisterte Klimax: vitium, peccatum, reatus, culpa. Es geht nur noch um die Beredsamkeit der zerknirschten Seele; […]. Oder jene bekümmerte Beredsamkeit interessiert sich überhaupt nicht für das Gedankliche, sondern sagt über die Erbsünde nur das Entsetzliche [woraus folgt, daß wir alle wegen Adams und Evas Ungehorsam Gott verhaßt sind. Konkordienformel], die aber doch so vorsichtig ist, dagegen zu protestieren, daß man diesen Satz etwa denkt; denn wenn man ihn dächte, so würde ja die Sünde zur Substanz des Menschen.¹³²
Bei Luther gibt es zwar nicht wie beim Katholizismus das Problem, dass Adam außerhalb der Menschheitsgeschichte steht und der „Sündenbock“ im wörtlichen
SKS 4, 458 / BA[R], 176; SKS 4, 459 – 460 / BA[R], 178. SKS 4, 339 / BA[R], 32 (Anm.). Siehe Abschnitt 1.2.2. SKS 4, 333 / BA[R], 25.
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1 Die Grundlage der Interpretation
Sinne ist, sodass alle andere nur noch durch ihn sündigen; jedoch wird mit ihm die Sünde zu etwas Mysteriösen und zum bloß Entsetzlichen, das man nur glauben kann – sogar Reue wäre zwecklos. Nichtsdestotrotz ist Kierkegaard gegen jeden Rationalisierungsversuch des Sündenfalls. In einer eher versteckten Anmerkung hat er die Konkordienformel sogar deswegen gepriesen, weil sie seitens des Denkens eine Grenze zieht: Daß die Konkordienformel diese Bestimmung zu denken untersagte, muß man indessen gerade als Beweis für die energische Leidenschaft rühmend hervorheben, mit der sie es versteht, das Denken gegen das Undenkbare anstoßen zu lassen, eine Energie, die im Vergleich zum modernen Denken, das einen nur allzu lockeren Wandel führt, höchst bewundernswert ist.¹³³
So hat Dietz ganz zutreffend die Kritik Kierkegaards am Luthertum als eine „sprachliche Dekonstruktion der lutherischen Sündenlehre“ genannt, die die Kerngedanken Luthers über die Radikalität der Sünde nicht der Sache, sondern der Form nach trifft: „Der Sache nach beinhaltet diese Sprachkritik keine Abkehr vom Luthertum, sondern von einer Versprachlichung, die in eine abwegige Frömmigkeitskultur führt.“¹³⁴ Die Sünde darf also nach Kierkegaard in dem Maße denkend erfasst werden, bis die Psychologie ihre Aufgabe erfüllt hat, das heißt die unendliche Annäherung bis zum Augenblick der Entscheidung, die schließlich die Tat des freien Willens ist, der notwendig abgründig – da ohne jegliche Ursache – bleibt. Dennoch läuft Kierkegaards Sündenlehre nicht Gefahr, des Pelagianismus schuldig zu sein. Mit seiner Auffassung des Menschen als Individuum, das in der Gattungsgeschichte eine eigene Rolle spielt, glaubt er das von Pelagius behauptete „Privattheater“ eines Jeden vermeiden zu können: „denn die Geschichte des Geschlechtes schreitet ja ruhig auf ihrem Wege fort; und in ihr wird kein Individuum an derselben Stelle wie ein anderes beginnen, während jedes Individuum von vorn beginnt und in demselben Augenblick dort ist, wo es in der Geschichte beginnen sollte“¹³⁵. Jedes Individuum nimmt einen eigenen Anfang in der Menschheitsgeschichte, versehen mit allen Möglichkeiten, die ein Mensch als Mensch haben kann, die er aber nicht notwendig entfalten muss. So werden diese Möglichkeiten (Dispositionen) – einschließlich der Sündhaftigkeit – in der
SKS 4, 334 / BA[R], 26 (Anm.). Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 123 f. SKS 4, 341 / BA[R], 34.
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Menschheitsgeschichte akkumuliert, bekommen mit Kierkegaards eigenen Worten eine quantitative Bestimmtheit, die das Individuum nicht beschuldigen kann. Wenn wir die oben genannten Kriterien für eine angemessene Erklärung der Sünde heranziehen¹³⁶, insbesondere die Unterscheidung zwischen Sünde de potentia und Sünde de actu, dann können wir Kierkegaards Abgrenzung zu Luther und zu Pelagius dergestalt verstehen, dass Luther zu sehr die Sünde de potentia stark macht, sodass die individuelle Freiheit nicht mehr denkbar ist, und mit Pelagianismus nur die Sünde de actu zu erklären ist, so dass die Sündhaftigkeit, die in der Gattungsgeschichte überliefert wird, völlig in Vergessenheit gerät. Kierkegaard hat seine Hamartiologie nach seiner Abgrenzung zum Katholizismus, Luthertum und Pelagianismus in diesen kompakten Worten zusammengefasst: Das Geschlecht hat seine Geschichte, in ihr hat die Sündhaftigkeit ihre kontinuierliche quantitative Bestimmtheit; aber die Unschuld geht immer nur durch den qualitativen Sprung des Individuums verloren. Daß sich diese Sündhaftigkeit, die der Progreß des Geschlechtes ist, in dem Einzelnen, der sie in seinem Akt übernimmt, als größere oder geringere Disposition zeigen kann, ist zwar wahr; aber dabei handelt es sich um ein Mehr oder Weniger, um quantitatives Bestimmen, das nicht den Begriff Schuld konstituiert.¹³⁷
Der Sinn der Erbsünde besteht folglich darin, dass die Sündhaftigkeit als die Sünde de potentia durch Abstammung jedem Einzelnen angeboren ist. Der Sündenfall, das heißt die Sünde de actu, wird von jedem durch situationsbedingte konkrete Handlungsfreiheit begangen. Erst dadurch wird die mögliche Sünde verwirklicht und das Individuum schuldig.
1.2.6 Ein Resümee zu Kierkegaards anthropologischen Voraussetzungen im Vergleich zum Menschenbild in Die Krankheit zum Tode Nun sind wir an die Stelle gelangt, die Wesensbestimmung des Menschen, die Kierkegaards Psychologie der Angst zugrunde liegt, zusammenzufassen. Wie oben bereits ausgeführt, bleibt bei Kierkegaard stets folgende Fragestellung im Hintergrund: Wie muss der Mensch beschaffen sein, damit er eine Sünde begehen kann? Und ferner noch: In welchem Verhältnis zur Gattung beziehungsweise zu deren Geschichte muss der einzelne Mensch stehen, sodass seine Freiheit, eine Sünde zu begehen, durch die allgemeinmenschlichen Bestimmungen unversehrt
Vgl. Abschnitt 1.2.2. SKS 4, 343 / BA[R], 37.
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1 Die Grundlage der Interpretation
bleiben kann? Aus dem Versuch Kierkegaards, die Erbsünde mit der Freiheit zusammenzudenken, resultiert nicht nur eine Hamartiologie, die der Bibelerzählung über den Sündenfall des ersten Menschen gerecht wird¹³⁸, sondern auch eine Anthropologie, die „das unentbehrliche Argumentationsmedium der theologischen Intention darstellt“¹³⁹. Folgendes können wir nach der detaillierten Textanalyse festhalten. Kierkegaards Menschenbild in BA kann man aus zwei verschiedenen Aspekten zusammengefasst ansehen: Unter dem einen bestimmt er den Menschen systematisch als eine dynamische Einheit aus gegensätzlichen Momenten (Leib-Seele, Zeit-Ewigkeit), die jeweils durch ein drittes (Geist, Augenblick) synthetisiert werden sollen. Unter dem anderen sieht er den Menschen als Individuum im Verhältnis zur Gattung beziehungsweise deren Geschichte, sodass der Prototyp Adam nicht nur für sich als Individuum zu sehen ist, sondern auch einen nicht unwesentlichen Anfang dieser Geschichte darstellt. Da der Mensch zugleich er selbst und die Gattung ist, darf Adam nicht mehr außerhalb der Geschichte stehen. Sein Sündenfall ist wie der von jedem Anderen die Qualitätsbestimmung der Sünde. Da er aber als der Erste diese Qualität in die Welt gebracht hat, wird sie quantitativ „geerbt“ als eine Gattungsessenz, die von jedem Nachkommen für sich selbst freiwillig angeeignet werden kann. So gesehen ist die Erbsünde diese Qualität der Sündhaftigkeit, die nicht als eine Tatsache des Sündigseins, sondern eher als eine Möglichkeit dazu betrachtet werden soll. Es ist nach wie vor freiwillig und liegt in der Hand jedes späteren Menschen, diese Möglichkeit in die Wirklichkeit zu setzen. Unter dem anderen Aspekt gesehen, ist die Sündenfallgeschichte aus der Genesis auch kein bloßer Mythos, sondern steht für ein „Denkprojekt“, dessen Logik für jeden Anderen auch gelten sollte. Die Unschuld Adams vor dem Sündenfall ist nicht reine Phantasie und nur im Jenseits, sondern ein wirklicher Zustand vor dem Erwachen des Geistes. Sie ist die Unwissenheit über die eigene Widersprüchlichkeit, zugleich Leib und Seele zu sein. Sie ist auch die Unwissenheit über die Sexualität als die extreme Sinnlichkeit. Erst in dem Augenblick, in dem der Geist sich selbst setzt und zugleich die Synthese setzt, wird der eigene Leib in seiner geschlechtlichen Differenz wahrgenommen. So Adams Scham über die eigene Nacktheit. Durch die zweideutige Angst vor der eigenen Freiheit als unendlicher Möglichkeit zu können, sieht der Geist zugleich seine Macht und Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1983, S. 99. Hermann Deuser, „Sören Kierkegaard. Die Dialektik menschlichen Existierens“, in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. von Friedhelm Decher und Jochem Hennigfeld, Würzburg: Königshausen und Neumann 1992, S. 139.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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seine Ohnmacht vor dieser Abgründigkeit. Der Sündenfall als Missbrauch dieser neu entdeckten Freiheit ist zwar nicht fremdbedingt, aber fast eine notwendige Konsequenz.
1.2.6.1 Eine mögliche Fehlinterpretation Dennoch bietet Kierkegaards eigene Ausführung schon Raum für Missverständnisse. So spricht Dietz von der „systematisch nicht klar durchkonzipierten und durchstrukturierten Anlage“ von BA „im Vergleich mit der von KT“¹⁴⁰. Dies liegt zum Teil daran, dass Kierkegaard manchmal seinen Gedankengang prozessual darstellt, sodass eine vorläufige Einräumung als seine Hauptthese missverstanden werden könnte. Zum Beispiel hat auch Pannenberg nicht ohne Unsicherheit geäußert, dass die Synthese von Zeit und Ewigkeit in BA eines dritten Momentes noch zu ermangeln scheine, was freilich aus Kierkegaards eigener Aussage¹⁴¹ zu erschließen, aber dennoch falsch ist. Den Begriff Augenblick, der den Gegensatz von Zeitlichem und Ewigem synthetisieren soll, hat Walter Schulz mit Recht als die existentielle Zeitlichkeit ausgelegt: Der Augenblick ist es, durch den die reine Ununterschiedenheit der Ewigkeit und die reine Diskretheit der Zeit in bezug zueinander gebracht werden. […] Hier kommt die echte existentielle Zeitlichkeit zustande, deren Wesen die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft als Gegenwart ist […].¹⁴²
Schulz macht hier auf das Problem der Parallelität der beiden Synthesen aufmerksam. Den Gegensatz von Leib und Seele hat er mit seinem ursprünglichen Anliegen, bei Kierkegaard die Weltangst von der Angst vor mir selbst zu unterscheiden, durch den neuen Gegensatz von Leib und Geist ersetzt, und zwar wider
Dietz, Sören Kierkegaard, S. 357. Für Dietz liegt das Problematische darin, dass Kierkegaard in BA die Freiheit mit Bezug auf den Begriff der Angst dargestellt hat, und zwar als in sich selbst verstrickte Freiheit, die seines Erachtens vom Begriff der Sünde nicht klar zu unterscheiden ist. Außerdem gibt es für ihn keine konsequente Lösung für das Problem, dass die Angst zugleich als die Voraussetzung und als die Folge des Sündenfalls vorgestellt werden soll. Es ist hier aber bei der Darstellung der anthropologischen Voraussetzung noch nicht der Ort, diese Einwände zu thematisieren. Vgl. SKS 4, 388 / BA[R], 92: „Was die zuletzt genannte Synthese anbetrifft, so fällt sofort auf, daß sie anders aufgebaut ist als die erste. […] Wo ist hier das Dritte?“ Aber das Dritte muss sein, damit die Synthese überhaupt als Synthese bestehen kann: „denn eine Synthese – die ein Widerspruch ist – läßt sich als Synthese nur in einem Dritten vollenden […]“ (ebd.). Schulz, „Kierkegaard: Die Leibgebundenheit des Geistes als Quelle der Angst“, S. 391.
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Kierkegaards eigenem Anliegen, dass der Geist als das Dritte die beiden gegensätzlichen Momente zugleich als Gegensatz setzen als auch verbinden soll. Er argumentiert wie folgt: […] der Zustand der Unschuld ist zweigliedrig, er ist durch Seele und Leib bestimmt, aber diese Zweiheit ist doch eine Einheit „im Gegensatz zu der späteren Diskrepanz von Geist und Leib.“ Der Geist ist in dieser Einheit bereits verborgen anwesend als der mögliche Akteur, der die Einheit aufzuheben vermag. Die Aufhebung aber als Selbstsetzung des Geistes geschieht in der Weise, daß „der Geist als das synthetisierende Dritte auf die eine Seite der nun neu bestimmten Alternative tritt.“ Die Einheit von Seele und Leib wird aufgehoben in der Weise, daß „die Seele selbst, genauer: der seelische Einheitszustand negiert wird; an die Stelle der Seele tritt der Geist, so daß die Alternative nun „Leib und Geist“ heißt,“ wobei „der Leib als Gegensatz zum Geist“ gegen den Leib, der mit der Seele vereinigt war, klar abzuheben ist. Erst der Leib, der dialektisch auf den Geist bezogen ist, ist menschlicher Leib, und gerade durch diesen menschlichen Leib wird der Geist nun bedrängt.¹⁴³
Der zitierte Absatz vermischt merkwürdigerweise tiefe Einsichten und deutliche Missverständnissen, die nicht ohne Kierkegaards eigene Schuld zustande kommen konnten. Deutlich hat Kierkegaard den Zustand der Unschuld als „seelisch bestimmt, in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit“¹⁴⁴ beschrieben. Allerdings kann diese seelisch bestimmte Einheitlichkeit nicht – wie bei Schulz – mit der Seele als die eine Seite des Gegensatzpaares verwechselt werden. Damit wird vielmehr das Überwiegen der Seele über den Leib im anfänglichen Einheitszustand ausgedrückt. Außerdem würde der Begriff der Synthese nicht mehr standhalten, wenn die eine Seite – nämlich die Seele – durch die Synthese in dem Sinne negiert wird, dass sie durch das synthetisierende Moment (Geist) ersetzt wird, anstatt in dem Sinne aufgehoben zu werden, dass sie zugleich negiert und aufbewahrt bleibt. Schulz hat statt des Gegensatzes von Leib und Seele einen neuen Gegensatz von Leib und Geist eingeführt. Von einer Synthese wäre damit nicht mehr die Rede. Schulzes Interpretation hat insofern sein Recht, weil er Kierkegaards „systematisch nicht durchkonzipierte Anlage“ an vielen Stellen eingesehen hat und durch eine eigene Auslegung zu kompensieren versuchte. So bemerkt auch Hennigfeld dazu:
Schulz, „Kierkegaard: Die Leibgebundenheit des Geistes als Quelle der Angst“, S. 391 f. Kursiv geschriebene Stellen sind original, die doppelten Anführungszeichen sind Hervorhebung des Verfassers. SKS 4, 347 / BA[R], 41.
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Diese Interpretation meistert einige Schwierigkeiten (und Unzulänglichkeiten) des Kierkegaardschen Textes; aber sie verfehlt m. E. die Pointe dieser dialektischen Wesensbestimmung des Menschen.¹⁴⁵
Beim Versuch, gegen die Interpretation von Schulz das Moment der Seele auch nach dem Sündenfall beizubehalten, hat Hennigfeld zwar mit Recht auf die Konsequenz der Synthese in ihrer dialektischen Charakteristik hingewiesen. Allerdings hat er ein neues Missverständnis eingeführt: Ganz in derselben Bedeutung wie Schulz die Seele durch den Geist ersetzen lässt, hat Hennigfeld die Sünde ausschließlich der Seele zugeschrieben. Dies hat seinen Grund wieder in Kierkegaard eigener Aussage, nämlich: „Der Geist ist also nicht nur im Verhältnis zum Gegensatz der Sinnlichkeit gesetzt, sondern zu dem der Sündhaftigkeit“¹⁴⁶. Damit glaubt Hennigfeld erklären zu können, wie der Geist in der Selbstsetzung beide Momente durchdringt, das heißt zum Äußersten bringt. Während die Sexualität für das Äußerste des Leiblichen steht, müsste also für das Extreme des Seelischen die Sündhaftigkeit stehen. Wenn wir aber diese Aussage aus dem Kontext heraus verstehen, ergibt sich sofort ein anderer Sinn. Es geht hier bekanntlich um die historische Umgebung der christlichen Welt, in der die Sinnlichkeit als Sündhaftigkeit gesehen wird. So hat auch Rochol den Satz in seinem Kommentar wie folgt umgeschrieben: „Der Geist erfährt also den moralischen Appell nicht gegen die bloße Sinnlichkeit, sondern gegen die Sündhaftigkeit.“¹⁴⁷ Deutlich steht hier die Sündhaftigkeit nicht für das Äußerste der Seele, die vom Geist beim Setzen der Synthese durchdrungen wird, denn die Sündhaftigkeit ist nur im selbstbewussten Geist. Es liegt gerade im Wesen des Menschen, unvollkommener Geist¹⁴⁸ zu sein, dass er sündigen kann. Die Sündhaftigkeit liegt weder im Leib beziehungsweise in der Sinnlichkeit/Sexualität als deren äußerster Ausdruck, noch in der Seele. Allerdings hat Kierkegaards Ausführung den Schwerpunkt nur auf die eine Seite gelegt, nämlich dass die Sündhaftigkeit nicht mit der Sinnlichkeit gleichzusetzen ist. So ergibt sich das Missverständnis bei Hennigfeld, dass sie anderswo liegen sollte, und zwar in der Seele.
Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst“, S. 271 f. SKS 4, 377 / BA[R], 78. Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 245; 78; 30 – 32. Der Geist des Menschen ist also unvollkommen im Vergleich zu Christus und zum Engel.Vgl. SKS 4, 354 / BA[R], 50: „Die Sündhaftigkeit ist also nicht die Sinnlichkeit, durchaus nicht, aber ohne die Sünde keine Sexualität und ohne Sexualität keine Geschichte. Ein vollkommener Geist hat weder das eine noch das andere, weshalb ja auch die sexuelle Differenz bei der Auferstehung aufgehoben ist und weshalb auch kein Engel Geschichte hat“ (ebd.).
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Es bleibt wie gesagt Schulzes tiefe Einsicht, dass der menschliche Geist durch seine Leibgebundenheit Angst erzeugt und damit in der Möglichkeit des Sündenfalls schwebt. Ob es folgerichtig oder als eine Überinterpretation zu sehen ist, dass er den Sündenfall – quasi heideggerisch – als „die ausdrückliche Setzung des In-der-Welt-seins“¹⁴⁹ versteht, bleibt noch offen. Immerhin bleibt fraglich, ob das Weltbewusstsein, das seines Erachtens mit dem Sündenfall gesetzt werden soll, bei Kierkegaard bereits thematisiert wurde. Der Begriff Welt tritt in BA meist nur in Bezug auf die Geschichte der Welt auf und hat kaum den von Schulz behaupteten Sinn als „Nicht-Ich“¹⁵⁰. Der Gegensatz von welthaftem Leib und weltlosem Geist beziehungsweise die daraus resultierte Unterscheidung zwischen der Weltangst und der Angst vor mir selbst dürfen sehr wohl als von Kierkegaard inspirierte Einsichten, aber nicht als Kierkegaards originelle Gedanken angesehen werden.¹⁵¹ Es sind von den zahlreichen Stellen in BA nur einige genannt worden, die zu einer Fehlinterpretation führen können. Um aber Kierkegaards Anthropologie als konsequente Gedanken und als Basis unserer folgenden Analysen zum Begriff der Angst gerecht zu werden, wollen wir sein späteres und auch systematisch gelungenes Werk heranziehen: Die Krankheit zum Tode (im Folgenden abgekürzt mit KT, im laufenden Text auch Verzweiflungsschrift genannt).
Walter Schulz, „Kierkegaard: Die Leibgebundenheit des Geistes als Quelle der Angst“, S. 392. Ebd. Mehr zu Schulzes Kierkegaard Interpretation vgl. Walter Schulz, „Sören Kierkegaard. Existenz und System“. in Johann Gottlieb Fichte, Sören Kierkegaard, 2. Aufl., Stuttgart: Neske 1977, S. 35 – 69; erstmals veröffentlicht in Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957; Nachdruck 1967 als Band 34 der Reihe Opuscula. In diesem Aufsatz werden von Walter Schulz Kierkegaards pseudonyme Schriften exemplarisch systematisiert und die christliche Existenzdeutung als der gesamte Grund von Kierkegaards Gedanken anhand von einzelnen Schriften verdeutlicht. In der Analyse zu BA hat er mit Begriffen wie Doppelbewegung des Scheidens und des Verbindens beziehungsweise des Aufstiegs und des Abstiegs usw. gearbeitet, die meines Erachtens Kierkegaards ursprünglichem Anliegen näher liegen als in seinen späteren Texten. Ganz mit Recht hat Schulz außerdem das Nicht-neutral-sein-Können des Geistes in der Selbstsetzung aufgezeigt, das zu Kierkegaards späteren Gedanken der Leibgebundenheit des Geistes geführt haben könnte. Denn bei der Setzung der Synthese muss der Geist schon seine Stellung zwischen den Gegensätzen einnehmen, das heißt entweder für die Unendlichkeit oder die Endlichkeit sich entscheiden. Die Angst des Geistes wirkt aber so, dass man aus dem Schwindel der Freiheit „die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten“ (SKS 4, 365 / BA[R], 64).
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
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1.2.6.2 Das Menschenbild in der Verzweiflungsschrift im Vergleich zur Angstabhandlung Wie oben gezeigt, arbeitete Kierkegaard zur Zeit der Abfassung von BA mit noch nicht völlig durchdachten Konzeptionen über das Menschsein. Einerseits charakterisiert er den Menschen als Geist, der in der Selbstsetzung die Einheit von Leib und Seele durchdringen soll, andererseits führt er die zweite Synthese – die sich im Augenblick herstellende Einheit vom Zeitlichen und Ewigen – als Ausdruck der ersten Synthese ein. Die Parallelität der beiden Synthesen wird von Walter Schulz in Frage gestellt. Zwar haben wir früher den Augenblick als die existenzielle Zeitlichkeit, in der der Geist sich selbst und die Synthese wiederholt setzt, sowie die zweite Synthese als die Darstellung der ersten Synthese in ihrer zeitlichen Dimension interpretiert, es bleibt aber dennoch die Frage, inwiefern das darin ausgedrückte Menschenbild mit dem historischen Aspekt zu vereinen ist, in welchem der Mensch seine Individualität gerade dadurch erhält, dass er ständig an der Gattungsgeschichte teilnimmt. Was bedeutet es, dass der Mensch als Individuum zugleich er selbst und das Geschlecht ist? Was für ein Verhältnis zwischen beiden wird mit dem „zugleich“ ausgedrückt? Liegt es nicht nahe, die Individualität und das Gattungswesen als einen dritten Gegensatz im Menschen festzuhalten und die Synthese beider Momente als Aufgabe der Selbstwerdung des Menschen anzusehen? Wenn es richtig ist, so zu denken, stellt sich wiederum die Frage, in welchem Verhältnis diese dritte Synthese zu den beiden ersten stehen soll. Eines ist zumindest klar: Der Gegensatz im historischen Aspekt kann erst hervortreten, nachdem der Geist gesetzt ist. Im Zustand der Unschuld kann weder von der Individualität noch von der Gattungsgeschichte die Rede sein. Es geht hier vielmehr um ein Verhältnis, in dem der Geist sich zu sich selbst verhält. Kierkegaard kam fünf Jahre nach der Abfassung von BA auf den Gedanken, eine erbauliche Schrift in streng wissenschaftlicher Form zu demselben Thema zu formulieren¹⁵². Die KT gehört wie BA zu den Schriften Kierkegaards, die zwar unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden, deren Pseudonymität jedoch fraglich blieb.¹⁵³ Die Kierkegaard-Forschung tendiert dazu, die beiden Schriften parallel
Im Folgenden wird überwiegend aus der Übersetzung von Liselotte Richter zitiert: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, hg., übers. und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ von Liselotte Richter, 2. Aufl., Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1995. Das Pseudonym für BA wurde am Tag der Veröffentlichung nachträglich gegeben, und das für KT später zurückgenommen: Vgl. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, übers. von Emanuel Hirsch 2003, S. VII. Ferner siehe Dietz, Sören Kierkegaard, S. 90 und Arne Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, übers. von Ulrich Lincoln, Stuttgart: Klett-Cotta 1999: „Ob es sich bei dem Verfasser um Søren Kierkegaard oder um Vigilius Haufniensis handeln sollte,
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1 Die Grundlage der Interpretation
zu setzen als Ausdruck von Kierkegaards eigenen Gedanken.¹⁵⁴ Zwar hat Kierkegaard in einer Selbstbewertung sein eigenes Christsein als zwischen seinem früheren und späteren Pseudonym positioniert¹⁵⁵, jedoch wird dadurch die gedankliche Kontinuität und Entwicklung von BA bis zu KT nicht beeinträchtigt. Auch die in den Untertiteln beider Schriften aufgezeigte psychologische Vorgehensweise weist auf diese Parallelität hin. So dürfen wir trotz der großen Zeitspanne (in Hinsicht auf Kierkegaards produktiver Intensität) und der Verschiedenheit der Pseudonymsetzungen ebenfalls bei KT von einer anthropologischen Grundlegung seiner Sündenlehre sprechen, wobei die Anthropologie – wie oben festgehalten – nicht im modernen wissenschaftlichen Sinne zu verstehen ist, sondern stark metaphysisch belastet, bei Kierkegaard spezifisch existenzdialektisch zu denken ist.¹⁵⁶ Genau in diesem Sinne geht Kierkegaard in KT nicht dogmatisch, sondern anthropologisch von einem dialektischen Bild des Menschen aus. Er stellt das Selbstsein des Menschen so dar, dass dieses in der eigenen Struktur schon die Möglichkeit birgt, unter einem Missverhältnis zu leiden, das im Phänomen der alles penetrierenden Verzweiflung zum Ausdruck kommt. Diese Struktur entfaltet sich als ein dreifaches Verhältnis, das – in außerordentlich kompakten Worten darüber war Kierkegaard offensichtlich ein wenig im Zweifel gewesen, denn das Pseudonym Vigilius Haufniensis kommt erst in einer späten Phase der Arbeit an dem Buch hinzu“ (Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, S. 11). Zur Interpretation, die beide Schriften zusammenführt vgl. u. a. Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard; Zur Interpretation von KT in Bezug auf BA siehe Joachim Ringleben, Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1995. Zu Beiträgen beider Schriften zur Sündenlehre vgl. Dietz, „Die Stellung von Vigilius Haufniensis’ Begrebet Angest im Kontext der Sündenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts“, S. 96 – 127; speziell zu BA in der Kierkegaard-Forschung vgl. Lincoln, „Literaturbericht“, S. 295 – 312 sowie Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, S. 247– 267. Harrits gilt darüber hinaus als einer der Wenigen, der BA immanent zu interpretieren versucht. „Mit Johannes Climacus hat Anti-Climacus verschiedenes gemeinsam; aber der Unterschied ist: wie Johannes Climacus sich selbst so niedrigsetzt, daß er sogar sagt, er sei selbst kein Christ, so kann man an Anti-Climacus merken, daß er meint, ein Christ außerordentlichen Grades zu sein. Ich selber setze mich höher als Johannes Climacus, aber niedriger als Anti-Climacus“ (SKS 22, 130, NB11:209 / DSKE 6, [Papir X 1 A 517]), zitiert nach Richter, „Zum Verständnis des Werkes“, in Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 126 – 135. Auch Dietz versteht unter der hier zu analysierenden Passage eine „anthropologische Grundlegung“: „Sie markiert die Basis des Verstehens von Verzweiflung, sofern sie die Bedingung der Möglichkeit vorstellt, aufgrund der Verzweiflung wirklich eine Krankheit im Geist / im Selbst zu verstehen ist (Leitsatz A,a). […] Des Antiklimacus grundlegende Bestimmung von Menschsein in KT A,a hat also ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern eben darin, die Bedingung der Möglichkeit von Verzweiflung ,immanent‘, d. h. als im Menschsein selber liegend, aufzuzeigen“ (Dietz Sören Kierkegaard, S. 96 f.).
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
47
artikuliert – ganz am Anfang von KT entfaltet wird. Zur genaueren Beobachtung dieser Struktur wollen wir nun die ganze Passage bis zur Erläuterung der Verzweiflung heranziehen: Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst. Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und im Verhältnis zum Verhältnis; so ist unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis.Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst. Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis wahrscheinlich das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann doch wiederum ein Verhältnis, verhält sich zu dem, was da das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält.¹⁵⁷
Aus der Entschlossenheit im ersten Satz, dem Menschen eine Definition zu geben, ergibt sich schon der erste Unterschied zur früheren Schrift. Während in BA die Definition des Menschen über verschiedene Kapiteln verstreut ist und aus ihnen zusammenzufassen ist, ist hier in der Verzweiflungsschrift gleich am Anfang schon eine anthropologische Grundlegung anvisiert. Der Mensch wird nicht aristotelisch mit Hilfe einer differentia specifica im Vergleich zum Tier definiert, sondern unverzüglich idealistisch als Geist, und dieser wieder als Selbst bestimmt. Es gilt im Folgenden, die Struktur des Selbstseins als Wesens- und Existenzbestimmung des Menschen auszulegen. Mit scheinbaren Selbstwidersprüchen beginnt Kierkegaards Ausführung: Das Selbst ist ein Verhältnis, oder ein Verhältnis am Verhältnis, und wiederum nicht das Verhältnis, sondern das Selbstverhältnis des Verhältnis. Eine Folgerichtigkeit dieses Gedankens erzielen wir nur, wenn verschiedene Ebenen der Verhältnisse im Selbst unterschieden werden, als da wären:
SKS 11, 129 – 130 / KT[R] 13.
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1 Die Grundlage der Interpretation
I. Das Verhältnis als eine „negative Einheit“: mithin die Einheit von gegensätzlichen Momenten, deren Synthese noch nicht gesetzt ist. Aus der Synthese von Leib und Seele beziehungsweise von Zeit und Ewigkeit in der Angstabhandlung wird nun eine Reihe von Entsprechungen, die das traditionelle dualistische Modell nicht übersteigen. Alle Gegensatzpaare können in die Rubrik des Unendlichen/Endlichen eingeordnet werden, die man je nach Perspektive anpassen kann, zum Beispiel modal (Möglichkeit/Notwendigkeit), ethisch (Freiheit/ Notwendigkeit)¹⁵⁸ oder zeitlich (Zeit/Ewigkeit). So wird die Frage nach der Parallelität der beiden Synthesen in BA in dem Sinne beantwortet, dass diese vorausgesetzt wird. In dieser Synthese als „ein Verhältnis zwischen zweien“, das heißt in ihrer Einheit der alleinigen „Zusammengehörigkeit“¹⁵⁹, ist der Mensch noch nicht als Geist/Selbst bestimmt. Dies entspricht genau dem Zustand Adams vor dem Sündenfall, also dem der Unschuld. Solchermaßen ist die dort beschriebene seelisch bestimmte „unmittelbare Einheit“ von Leib und Seele, deren Gegensätzlichkeit für den träumenden Geist noch verborgen ist, ein Zusammengehören beider Momente im selbstlosen Menschen. II. Das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält als Synthese des ersten Verhältnisses im „positiven Dritten“: Dies ist die innere (also unvollständige) Bestimmung des Menschen als Selbst. „Erst in ihm [dem Menschen, d. Verf.] wird die Einheit der Zusammengehörigkeit zur Einheit der Identität.“¹⁶⁰ Die Gegensätze werden wahrgenommen, indem der Geist als das synthetisierende Moment in das bloß zusammengehörende Verhältnis eintritt. Dadurch wendet sich das Verhältnis an sich selbst und wird ein Selbstverhältnis in dem Sinne, dass es sich um die eigene Identität kümmert (Verzweiflung als Selbst-sein-Wollen und Nicht-selbstsein-Wollen). So ist der Geist als das Selbst des Menschen ein dynamisches Sichzu-sich-selbst-Verhalten, in dem der Mensch nicht ein starres, abstraktes Selbst ist, sondern ständig zu sich selbst wird. Die Selbstwerdung vollzieht sich, wie auch in BA dargestellt wird, parallel mit ihrer permanenten Zerrüttung, die hier im Phänomen der allgemeinen Verzweiflung zum Ausdruck kommt. Die Identität ist
Aus ethischer Perspektive dürfen die Momente auch als Selbstbestimmung (Freiheit) und Daseinsbestimmtheit (Notwendigkeit) übersetzt werden. Die verschiedenen Bedeutungen von Notwendigkeit (als die alle Möglichkeiten ausschließende ontologische Wesensnotwendigkeit bzw. als die als Faktizität erschlossene Daseinsbestimmtheit) hat Fahrenbach ausführlich erläutert, in: Helmut Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 1968, S. 43 ff. Michael Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 505. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 505.
1.2 Kierkegaards anthropologische Grundlegung
49
ständig bedroht beziehungsweise infrage gestellt, weil man entweder von ihr nichts weiß, oder sie loswerden will, um eine andere (Identität) anzustreben. Die Möglichkeit dieser permanenten Bedrohung liegt in der instabilen Struktur des Selbstseins des Menschen, da er als eine Synthese aus gegensätzlichen Momenten besteht.¹⁶¹ Und diese Möglichkeit wird nur wirklich als eine Geisteskrankheit¹⁶², denn die Missverhältnisse sind nicht in der Synthese, sondern im Selbstverhältnis verankert. Die Krankheit wird nur geheilt, wenn das Selbst wieder „in Gleichgewicht und Ruhe“¹⁶³ kommt. Doch dieses Gleichgewicht erhält man nicht aus eigener Kraft. Denn „[d]as Selbst ist die bewußte Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist, sie selbst zu werden, welches sich nur verwirklichen läßt durch das Verhältnis zu Gott“¹⁶⁴. III. Dieses letzte Verhältnis beschreibt Kierkegaard als das Verhältnis des Selbst zu einer Macht, die es gesetzt hat: die äußere (ergänzende) Bestimmung des Menschen als Selbst. Der Beweis Kierkegaards dafür, dass das Selbst nicht von sich selbst, sondern von einer anderen Macht gesetzt ist, geht vom Phänomen der Verzweiflung als beobachtbarer Tatsache aus, in welchem man verzweifelt sich selbst sein will.¹⁶⁵ So konnte er von dem Selbst als ein „abgeleitetes“ Verhältnis sprechen, das nur durch den richtigen Bezug zu dieser es setzenden Macht sich selbst wieder „in Gleichgewicht und Ruhe“ bringen kann. Genau hierin liegt der erbauliche Charakter¹⁶⁶ der KT im Vergleich zu BA als einer bloß psychologischen beziehungsweise auf das Dogmatische deutenden Schrift, da durch die nähere Bestimmung des menschlichen Selbst als eines abgeleiteten, abhängigen Verhältnisses der Gottesbezug – somit der Notwendigkeit des wahren Glaubens – in die Wesensstruktur des Menschen eingebettet wird. Nach Theunissen wird „[d]as
„Verzweiflung ist das Mißverhältnis in dem Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält. Aber die Synthese ist nicht das Mißverhältnis, sie ist bloß die Möglichkeit, oder in der Synthese liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses“ (SKS 11, 131 / KT[R], 15). SKS 11, 140 / KT[R], 23. SKS 11, 130 / KT[R], 14. SKS 11, 146 / KT[R], 28. Das Argument dafür lautet, dass wenn das Selbst sich selbst gesetzt hat, dann kann es nicht darüber verzweifeln, es selbst sein zu wollen. Denn als selbstgesetzt liegt das Selbstsein in der eigenen Hand. Faktisch ist die Allgemeinheit der Verzweiflung bereits der Beweis dafür, dass die Korrektur der Missverhältnisse nicht durch das Selbst ohne Beihilfe (Gnade) vollzogen werden kann. Laut Dietz ist das Erbauliche bei Kierkegaard „keineswegs das sentimental oder ,verkorkst‘ Fromme, sondern das, was dem Selbst vor Gott im konstruktiven Sinn zu sich selbst verhilft“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 91).
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1 Die Grundlage der Interpretation
Vor-Gott-Sein“ zur „Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins und so auch des eigentlichen Menschseins.“¹⁶⁷ Zur gesamten Darstellung der dreifachen Verhältnisse im Selbstsein des Menschen wollen wir eine Graphik von Hermann Deuser heranziehen, die trotz ihrer Einfachheit einleuchtet, wobei A und B für die gegensätzlichen Momente, C für das Selbst des Menschen und C’ für die das Selbst setzende Macht stehen:¹⁶⁸ C’ | C | A
B
Wenn wir das Verhältnis (I.) mit A-B, das Verhältnis (II.) mit CAB und das Verhältnis (III.) mit C-C’ bezeichnen, können wir aus dem Obigen schließen, dass die anthropologische Grundlegung in der Angstabhandlung überwiegend die beiden ersten Verhältnisse (A – B beziehungsweise. CAB) behandelt und erst im letzten Kapitel (die Überwindung der Angst durch den Glauben) auf das dritte Verhältnis (C – C’) hindeutet. Auf die Beschreibung von A – B als einen eigenständigen Zustand des Menschen (in BA: vor dem Sündenfall) beziehungsweise dem Sprung von A – B zu CAB (Geistsetzung im Sündenfall) wird in der Verzweiflungsschrift überhaupt verzichtet. Dies hat aber seinen Grund darin, dass KT hauptsächlich die Erscheinungsformen der Sünde thematisiert und die in BA bereits behandelte Problematik der Erbsünde vernachlässigt. So ist in KT hauptsächlich vom Zustand die Rede, nicht aber von der Bewegung. Die Selbstwerdung als Bewegung wird nur als ein „Sollen“ befehlsartig angekündigt. Wie Dietz richtig bemerkt, ist in KT „die Dimension der Geschlechtlichkeit und der Geschichte so gut wie gar nicht berücksichtigt, und Adam als Prototypen, als ,typos tou mellontos‘ (Röm 5, 14) nicht reflektiert“. Ferner soll BA viel intensiver als KT die Dialektik von Individuum (Einzelnem) und Kollektiv (Geschlecht, Ge-
Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 505. Allerdings hat Theunissen in seinem späteren Werk (Der Begriff Verzweiflung, 1993) diesen Aspekt als Kierkegaards theologische Voraussetzung aus philosophisch-methodischen Gründen suspendiert, und zwar nicht ohne Konsequenzen. Hermann Deuser sieht diese Suspension als die Grundlage von Theunissens Anklage an Kierkegaard, die zwar aus dem Zeitgeist hervorgeht, jedoch weder textgemäß noch notwendig bzw. durchführbar ist. Vgl. Herrmann Deuser, „Grundsätzliches zur Interpretation der Krankheit zum Tode. Zu Theunissens Korrekturen an Kierkegaard, Kierkegaard Studies Yearbook 1996, S. 117– 128. Deuser, „Grundsätzliches zur Interpretation der Krankheit zum Tode“, S. 119.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
51
schichte) expliziert haben.¹⁶⁹ Diese Dialektik kommt in KT durch Kierkegaards phänomenale Beschreibung der Verzweiflungsformen latent zum Ausdruck, in denen man entweder sich verzweifelt (wegen des Fehlens der Endlichkeit/Notwendigkeit) an die abstrakte, unendliche Möglichkeit des Selbstseins verliert, oder (wegen des Fehlens der Unendlichkeit/Möglichkeit) in die geistlose, weltliche Spießbürgerlichkeit gerät. Wenn alle Verzweiflungen Verzweiflung über sich selbst sind¹⁷⁰, und das Missverhältnis nur im Selbstverhältnis entsteht, liegt es nahe, diese Dialektik als im Verhältnis CAB eingebettet zu verstehen, und zwar als eine Aufgabe der Selbstwerdung des Menschen. Die laut Dietz fehlende Dimension der Geschichtlichkeit kommt auch als Aufgabe der Selbstwerdung zum Ausdruck, die ebenfalls wie in BA ein teleologisches Bild darstellt, und diesmal nicht mehr mit dem vagen Begriff der „Vollkommenheit“ als Ziel, sondern konkret als Heilung der Krankheit, als gesunder Geist ohne jegliche Verzweiflung: Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.¹⁷¹ Welche Formel wiederum, woran öfter erinnert wurde, die Definition des Glaubens ist.¹⁷²
Abschließend wollen wir im Rahmen des vorliegenden Kapitels die Selbstwerdung des Menschen vom unwissenden Unschuldigen über die Annahme der Sündhaftigkeit bis zum Erledigen der höchsten Aufgabe anhand der Kategorien von Kierkegaards Existenzdialektik zusammenfassend darstellen.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung des Menschen Um den gesamten theoretischen und methodischen Hintergrund der Angstanalyse Kierkegaards im Überblick zu erhalten, wollen wir über seine eigenen Texte hinaus auf zwei Forschungsliteraturen zurückgreifen, die Kierkegaards Gesamtprojekt systematisch als „Existenzdialektik“ interpretieren. Die Preisschrift Hermann Diems aus dem Jahr 1950 Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard und das für die Kierkegaard-Forschung fundamentale Hauptwerk Helmuth Fahrenbachs aus dem Jahr 1968 Kierkegaards existenzdialektische Ethik sind für unser
Dietz, Sören Kierkegaard, S. 358. Formel für alle Verzweiflung (SKS 11, 175 / KT[R], 59). SKS 11, 130 / KT[R], 14. SKS 11, 242 / KT[R], 125.
52
1 Die Grundlage der Interpretation
Vorliegen besonders hilfreich, da es im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist, das systematisch grundlegende Werk Kierkegaards, nämlich Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (AUN1, in GW1; AUN2, in GW1) textanalytisch zu behandeln. Diese zusammenfassende Darstellung soll dazu dienen, dass die Begriffe, denen wir später in der Angstanalyse begegnen, wie zum Beispiel die dialektische Zweideutigkeit, die Bestimmung der Angst als Zwischenbestimmung beziehungsweise als Wirklichkeit der Freiheit, als Möglichkeit für die Möglichkeit usw., immer auf diesen Zusammenhang bezogen werden können. Wie am Anfang bereits erwähnt, gründet Kierkegaard seine Anthropologie nicht auf eine empirischwissenschaftliche Basis, sondern auf eine Metaphysik, die teilweise aus dem Altgriechischen und Mittelalterlichen, teilweise aus dem Deutschen Idealismus und dem hegelschen System hervorgeht.¹⁷³ So ist es unentbehrlich für das Verständnis seiner Angstanalyse, die Kategorien dieser Metaphysik zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck scheint der von beiden Autoren ins Zentrum gestellte Begriff einer „Existenzdialektik“ der geeignete Titel zu sein, der sowohl den Bezug zum Altertum als auch den klaren Unterschied zu seinen Zeitgenossen impliziert. Im Folgenden wollen wir zuerst darlegen, in welchem Sinne Kierkegaards grundlegende Gedanken als Existenzdialektik systematisch zu verstehen sind¹⁷⁴
Zur Schwierigkeit bei der Ausdeutung des Vokabulars Kierkegaards schreibt Hermann Deuser: „Kierkegaards Anthropologie ist schwierig in dem, wie sie sich ausdrückt. Das hat Methode, denn er benutzt Begrifflichkeiten teils aus Hochachtung vor vergangenen Epochen des Denkens, ohne deren Inhalte bewahren zu wollen (das gilt vor allem für die antike Philosophie, beispielhalft für Sokrates), teils aus Verachtung und um die Begriffe dem falschen Denken geradezu entringen zu wollen (das gilt für die neuzeitliche und idealistische Philosophie, beispielhaft für Hegel)“ (Deuser, „Sören Kierkegaard. Die Dialektik menschlichen Existierens“, S. 141). Trotz Kierkegaards eigener Einwände gegen jedes „systematische Denken“ gibt es gute Gründe, seine Gedanken in ihrer Einheit zu betrachten, wie Walter Schulz anmerkt: „Eine philosophische Auslegung eines philosophischen Werkes ist wesenhaft ‚systematisch‘, insofern sie die in diesem Werk liegenden und es leitenden Bezüge von ihrem Grunde her ‚zusammenstellt‘.“ Die Kierkegaard-Auslegung, die Kierkegaards Ansatz gefolgt ist und Kierkegaard selbst nicht systematisch interpretieren will, „vermag nicht, Kierkegaards Werke als Ganzes in den Blick zu bekommen, und das besagt, sie vermag nicht, Kierkegaards von ihm selbst nicht diskutierten Grundsatz als Grundansatz in Zusammenhang mit dem von ihm Abhängenden zu setzen.“ Deswegen muss eine systematische Auslegung „unternommen werden, wenn anders eine Auseinandersetzung mit Kierkegaards Werk im Ganzen gelingen soll, denn nur durch eine zusammenstellende Interpretation kann die geschichtliche Tragweite Kierkegaards wirklich begriffen werden“ (Schulz, „Sören Kierkegaard. Existenz und System“, S. 35). Den von Kierkegaard selbst nicht aufgezeigten Grund seines Denkens nennt Schulz die christliche Existenzdeutung (ebd.,
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
53
und diese wiederum in unserem Zusammenhang der Angstanalyse als anthropologische Grundlegung dienen könnten. Danach soll die dynamische Struktur der menschlichen Existenz, die wir vorhin an BA beziehungsweise KT textnah behandelt haben, unter Einbezug von Kernpassagen aus den Philosophischen Brocken und De omnibus dubitandum est mithilfe der existenzdialektischen Kategorien dargestellt werden, die laut Diem auf Trendelenburgs Geschichte der Kategorienlehre zurückzuführen sind. Schließlich wollen wir auf Kierkegaards Topologie der Wissenschaften in der Einleitung von BA zurückgreifen, mit dem Anliegen, die Angstproblematik im Zusammenhang der Existenzdialektik zu verorten.
1.3.1 Vorläufige Bemerkung zur Existenzdialektik Zwar hat Kierkegaard die Begriffe der Dialektik und der Existenz zumeist häufig gebraucht, der Begriff „Existenzdialektik“ stammt jedoch nicht von ihm selbst. Dieser Begriff ist vielmehr die übereinstimmende Formel derjenigen KierkegaardForscher, die Kierkegaards Gedanken trotz seiner eigenen Einwände gegen ein systematisches Denken in einen Zusammenhang zu bringen versuchen. Für Fahrenbach gilt die Existenzdialektik als „der formale Titel für das thematische und methodische Ganze von Kierkegaards Denken, sofern es darin um die Aufhellung der dialektischen Situation menschlicher Existenz für das Selbstverständnis des existierenden Menschen geht.“¹⁷⁵ Für Diem dient der Begriff der Dialektik als „Schlüssel zum Verständnis“ des Werks Kierkegaards, wenn man daraus „nicht einen einzelnen Punkt herausgreift, sondern Voraussetzung und Weg seines Denkens im Zusammenhang sich klarmacht.“¹⁷⁶ Dialektik¹⁷⁷ meint bei Kierkegaard vor allem ganz formal die Tätigkeit des Denkens, die sich im Zwiegespräch vollzieht. Zwischen einem Fragenden und einem Antwortenden wird rund um einen Gegenstand die Wahrheit gesucht. Im Vergleich zu Hegels Vermittlungsdialektik, die auf das reine Sein im Selbstgespräch der Logik spekuliert, visiert Kierkegaards Existenzdialektik im wahren Dialog als Zwiegespräch das eigene Dasein des Gesprächspartners an. Durch das Fragen und Antworten wird ein zweifaches Verhältnis hervorgebracht: das Ver-
S. 35). Mehr zu den Vor- und Nachteilen Schulz’ Kierkegaard-Interpretation siehe Abschnitt 1.2.6.1, insbesondere die letzte Fußnote dieses Paragraphen. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 1. Hermann Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag AG. 1950, S. 2. Zum Folgenden vgl. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard.
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1 Die Grundlage der Interpretation
hältnis des Individuums zum Gegenstande und das Verhältnis des Individuums zu einem anderen Individuum. Daraus ergibt sich die sogenannte „doppelte dialektische Bewegung“, die einerseits „das eigene Ich“ freimacht „zur Selbstwirksamkeit im eigenen Existieren“, andererseits zwischen zwei Partnern verläuft, die „sich gegenseitig freimachen von allem vermeintlich positiven Wissen, indem sie jedes Resultat in Frage stellen.“¹⁷⁸ Um die eine Seite geht es bei der Existenzauslegung und um die andere Seite bei der Existenzmitteilung. ¹⁷⁹ Mit dem Begriff der Existenz¹⁸⁰ bezeichnet Kierkegaard hauptsächlich ontologisch das Daß-sein im Sinne des real-faktischen Seins im Vergleich zum idealnotwendigen Sein. Diese Unterscheidung nennt Fahrenbach die „ontologische Differenz von ideellem und faktischen Sein“¹⁸¹, die Kierkegaards Werk durchzieht. So gesehen ist der Begriff der Existenz eine „Realitätskategorie, denn er bezeichnet die für die Seinsweise realen Daseins konstitutive Bestimmtheit des Daßseins, aufgrund deren erst das Wesen (Was-sein) eines faktischen Da-seienden ist und bestimmt werden kann.“¹⁸² Die Existenzdialektik ist somit eine „Dialektik des faktischen Seins: Sein oder Nichtsein“¹⁸³, während ein ideales Sein wegen seiner Notwendigkeit gar nicht nicht sein kann. Im anthropologischen Zusammenhang bedeutet Existenz auch nicht das Strukturganze des Menschen, sondern vor allem dessen Daseinsbestimmtheit und somit den Seinsbereich, worin das Menschsein als Geist- beziehungsweise Selbstsein sich vollzieht. Nur im abkürzenden Sinne wird der Existenzbegriff als Bezeichnung für die Seinsweise des Menschen benutzt, welche wiederum den Realitätscharakter der Existenz akzentuiert. Insofern ist es angebracht, die hamartiologisch angelegte Anthropologie in BA von der existenzdialektischen Grundlegung ausgehend, erneut zu betrachten. Wenn die Angstanalyse überhaupt dazu dient, den Ursprung der Erbsünde nachträglich zu erklären, gehört BA zweifelslos zu den erbaulichen, das heißt existenzerhellenden¹⁸⁴ Schriften, in denen der laut Schulz „von Kierkegaard selbst nicht mehr begründete Grund seines Denkens“¹⁸⁵ zum Vorschein kommt. Diesen Grund, das heißt die Existenz des Menschen als inter-esse zwischen den Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 38. Zum Zusammenhang der beiden Perspektiven siehe Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 10. Außerdem betont Fahrenbach den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in der Existenzauslegung, die für die Mitteilung grundlegend ist. Für ihn soll die Kierkegaard-Interpretation sich überwiegend mit dieser grundlegenden Perspektive auseinandersetzen. Zum Folgenden vgl. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 5 – 8. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 5. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 6. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 6. Zum Sinn des Erbaulichen vgl. Dietz, Sören Kierkegaard, S. 94 f. Walter Schulz, „Sören Kierkegaard. Existenz und System“, S. 37.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
55
dialektischen Momenten und damit das Strukturganze des Menschen als ein Vollzug der Selbstwerdung zu sich selbst, wollen wir im Folgenden behandeln.
1.3.2 Existenzdialektik als anthropologische Grundlegung In der anthropologischen Grundlegung geht es um die Existenzauslegung des menschlichen Selbstseins, das sich selbst zwischen den gegensätzlichen Existenzbestimmungen bestimmt. An der Struktur des Selbstseins, die wir oben bei der Analyse der Anfangspassagen von KT als ein dreifaches Verhältnis festgestellt haben¹⁸⁶, bestimmt Fahrenbach ontologisch die Verhältnisse jeweils als das Wassein (Verhältnis I oder A – B: Synthese), das Wie-sein (Verhältnis II oder CAB: Geist/ Selbst) und als Seinsgrund (Verhältnis III oder C – C’: abgeleitetes Sein).¹⁸⁷ Da die Struktur an sich in der Analyse zu KT bereits verdeutlicht wurde, wollen wir im Folgenden den Schwerpunkt auf die dynamischen, also dialektischen Momente legen, anhand derer das Selbstsein nicht mehr abstrakt betrachtet werden soll, sondern in Wirklichkeit gesetzt werden kann. Weil unser Anliegen hier wesentlich im Anthropologischen liegt, wollen wir Kierkegaards Ausführungen zu den Vermögen des Menschen, die die Struktur des Selbstseins ins Dynamische und in die Existenz bringen, heranziehen, um alsdann die Existenz des Menschen als das selbst zu vollziehende inter-esse (Zwischensein) zwischen Idealität und Realität und diesen Vollzug teleologisch als eine Selbstwerdung zu sich selbst zu fassen.
1.3.2.1 Die dynamischen Momente im Selbstsein Wie oben gezeigt, besteht die Möglichkeit des Missverhältnisses nicht in der Synthesisstruktur (A – B), sondern in der Struktur des Selbstseins (CAB). Diese Möglichkeit wird nur dann zur Wirklichkeit, wenn der Mensch im Selbstverhältnis (C) entweder A oder B bevorzugt. Dies geschieht nur durch ein Vermögen des Menschen, das Kierkegaard instar omnium nennt: die Phantasie.¹⁸⁸ Das Selbst ist die bewußte Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit […]. Aber man selbst werden heißt konkret werden. Aber konkret werden heißt weder endlich werden noch unendlich werden, denn was da konkret werden soll ist ja eine Synthesis. Die Entwicklung muß mithin darin bestehen, daß man unendlich von sich selber loskommt in Verunendlichung des Selbstes, und daß man unendlich zu sich selber zurückkehrt in der Verendlichung. […]
Siehe Abschnitt 1.2.6.2. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 11. SKS 11, 147 / KT[R], 27.
56
1 Die Grundlage der Interpretation
Denn das Selbst ist die Synthesis, in welcher das Endliche das Begrenzende, das Unendliche das Ausweitende ist.¹⁸⁹
In dieser Dialektik der Endlichkeit und Unendlichkeit kommt es darauf an, ob man das Vermögen der Phantasie richtig einsetzt, denn die Phantasie „ist überhaupt das Medium dessen, das unendlich macht“; sie ist „die unendlichmachende Reflexion“ und „die Möglichkeit aller Reflexionen“¹⁹⁰. Mit zu viel Phantasie wird das Selbst zum Phantastischen, das heißt zum selbstlosen Unendlichen, das keine Rückkehr zu sich selbst lässt. Auch die Vermögen des Menschen können phantastisch werden. Ein phantastisches Gefühl wird empfindsam am Abstrakt-Allgemeinen, das den Einzelnen selbst nichts angeht. Eine phantastische Erkenntnis trägt nichts zur Selbsterkenntnis bei, sondern verschwendet nur die Zeit. Durch einen phantastischen Willen erhält man kein Gleichgewicht zwischen Idealität und Realität, sondern verliert sich lediglich in der Spannung zwischen dem unendlich großen Vorsatz und dem allernächsten Augenblick, in dem der Wille zu erfüllen ist. „Das Selbst führt dergestalt ein phantastisches Dasein in abstrakter Verunendlichung oder in abstrakter Isoliertheit, fort und fort seines Selbstes ermangelnd, von dem es lediglich immer mehr sich entfernt“¹⁹¹. Auf diese Weise hat man sich in der Verzweiflung der Unendlichkeit verloren. Das Gegenteil dieser Verzweiflung nennt Kierkegaard die „verzweifelte Begrenztheit oder Borniertheit“, die im „Mangel an Ursprünglichkeit“ besteht: „Indes während die eine Art von Verzweiflung irrsteuert in das Unendliche und sich selbst verliert, läßt eine andere Art von Verzweiflung sich ihr Selbst gleichsam ablisten von den anderen“.¹⁹². In den weltlichen Angelegenheiten verloren, hat man das Selbstsein-Sollen aufgegeben und wird so eine „Ziffer“ in der Menge. Ohne sich per Phantasie in die unendlichen Möglichkeiten freizumachen, bleibt man verzweifelt der Daseinsbestimmtheit verbunden, gleichgültig, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Die Phantasie ist also ein Vermögen des Menschen, das ihn von seiner unmittelbaren Daseinsbestimmtheit loslöst und das reflexive Selbstverhältnis möglich macht. Denn laut Fahrenbach ist die Reflexion „in der Tat nur im Medium „unendlichmachender Phantasie“ möglich, sofern ihr darin das Feld der Idealität erschlossen wird.“¹⁹³ Da die Phantasie als „unendlichmachende Reflexion“ alle
SKS 11, 146 / KT[R], 25 f. SKS 11, 147 / KT[R], 27. SKS 11, 148 / KT[R], 28. SKS 11, 149 / KT[R], 29. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 18.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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andere Reflexionen möglich macht, sieht Fahrenbach ganz treffend ein begrenzendes, nämlich „endlichmachendes Moment“¹⁹⁴ in der Reflexion, die ihrerseits die Phantasie zurückbringt zum inter-esse zwischen der Idealität und Realität. Im Gegensatz zum Existenzmodus des Phantastischen steht also die endliche Reflexion, die „durch die Bestimmtheiten des Endlichen selbst bestimmt“ ist, „anstatt sie in die Differenz zur Idealität zu bringen“.¹⁹⁵ Im Vergleich zur Phantasie, die anscheinend nur auf der einen Seite der Synthesis steht, ist die Reflexion das wahre Moment, das die Synthesismomente zugleich differenziert und zusammenbringt. „Reflexion ist der Rückgang aus der unmittelbaren Daseinsgegebenheit in das inter-esse von Realität und Idealität und das Offenhalten dieses Zwischen.“¹⁹⁶ Den Unterschied von Phantasie und Reflexion sieht Fahrenbach also in dem Funktionszusammenhang, dass die Phantasie „das Entwerfen der Sinnmöglichkeiten“ ist und die Reflexion „das unterscheidende Bestimmen vollzieht“.¹⁹⁷ Nach all diesen Analysen wollen wir nun auf jenes dreifache Verhältnis im Selbstsein zurückblicken, um die Phantasie und die Reflexion in dieser Struktur zu verorten. Zunächst können wir festhalten, dass die Phantasie das Moment ist, das den Menschen von der sogenannten negativen Einheit der Gegensatzbestimmungen (A – B) loslöst und auf das positive Dritte (CAB) hinweist, während die Reflexion jenes Moment ist, das die Differenz wahrnimmt und das „Zwischensein“ feststellt.¹⁹⁸ Das Selbstverhältnis als ein „distanziert-beziehendes Sich-verhalten-zu“¹⁹⁹ wird zunächst nur in der Möglichkeit der Reflexion vorbereitet. Kierkegaard hat in Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 19. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 20. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 18. Ebd. Jedoch können wir bei Kierkegaards Ausführungen über Phantasie und Reflexion gewisse Ambivalenzen feststellen. Seinem Text nach darf die Phantasie unter drei verschiedenen Gesichtspunkten verstanden werden: 1. Als eine Art von Reflexion, nämlich die unendlichmachende, im Vergleich zur endlichen Reflexion. Die beiden Arten der Reflexion bestimmen jeweils die beiden Weisen der Verzweiflung; 2. als die Voraussetzung der Reflexion, die sie möglich macht; 3. als Inhalt der Reflexion, nämlich das, worauf reflektiert wird. Dieser letzte Punkt zeigt sich in dem leicht übersehbaren Satz, in dem Kierkegaard die Wirkung der Phantasie auf andere Vermögen darstellt: „Was für ein Gefühl, eine Erkenntnis, einen Willen ein Mensch hat, beruht zu allerletzt doch darauf, was für eine Phantasie er hat, das will heißen, darauf, wie sie sich reflektieren, d.i. auf der Phantasie“ (SKS 11, 147 / KT[R], 27). Diese Ambivalenz ist zwar wichtig, jedoch wollen wir sie der späteren Diskussion vorbehalten, da gerade sie eine Lücke lässt für die Zwischenbestimmung der Angst, die die Funktion der Phantasie übernehmen soll, nämlich die Bewegung von der Unmittelbarkeit zum selbstbestimmten Bewusstsein. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 16.
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1 Die Grundlage der Interpretation
seiner unvollendeten Lehrerzählung De omnibus dubitandum est deutlich auf die Unterscheidung zwischen Reflexion und Bewusstsein hingewiesen. Er schreibt, dass die Reflexion die Möglichkeit des Verhältnisses ist, während das Bewusstsein das Verhältnis selbst – nämlich dessen Wirklichkeit – ist und die Reflexion voraussetzt: […] die Reflexion ist die Möglichkeit des Verhältnisses, das Bewusstsein ist das Verhältnis, dessen erste Form der Widerspruch ist. […] daher komme es, daß die Bestimmungen der Reflexion stets zweiteilig (dichotomisch) seien. […] In der Reflexion berühren sie einander dergestalt, daß ein Verhältnis möglich wird. Die Bestimmungen des Bewußtseins hingegen sind dreiteilig (trichotomisch), […]. Bewußtsein ist Geist, und das ist das Merkwürdige, daß wenn in der Welt des Geistes eines geteilt wird, es zu drei wird, niemals zu zwei. Das Bewußtsein setzt daher die Reflexion voraus.²⁰⁰
Erst im Bewusstsein wird also die Differenz der Realität und Idealität (A – B), die in der Zweiteilung der Reflexion wahrgenommen wurde, auf- und gegeneinander bezogen (CAB). So ist das Selbstverhältnis zwar in der Reflexion schon in seiner Möglichkeit gesetzt, jedoch ohne jegliches „Interesse“ und bleibt somit ein „objektives Denken“, das die wahre Existenz überhaupt nichts angeht. Diese als das reflexive Sich-zu-sich-Selbst-verhalten kann also nur im Bewusstsein zustande kommen, denn das Letzte ist erst das Verhältnis „und damit das Interesse, eine Doppelheit, welche vollständig und mit prägnantem Doppelsinn ausgedrückt ist in dem Worte Interesse (interesse)“²⁰¹, nämlich in doppelter Bedeutung von „Interessiertsein“ und „Dazwischensein“.²⁰² Da es Kierkegaard in dieser Fragestellung hauptsächlich darum geht, die „ideelle Möglichkeit des Zweifels“²⁰³ zu begründen, konnte er schließlich – mit direkter und indirekter Kritik an Hegels Vermittlungsdialektik – feststellen, dass die Reflexion allein den Zweifel nicht zustande bringt, da sie als Möglichkeit des Verhältnisses uninteressiert bleibt und den höheren Bereich der Wirklichkeit, die der Zweifel wesentlich mit Interesse trifft, nicht erreichen kann, „[…] denn der Zweifel ist eine höhere Form als alles objektive Denken; denn er setzt dies voraus, hat aber ein Mehr, ein Drittes, welches
Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est, in Gesammelte Werke und Tagebücher, 10. Abt., Bd. 6, hg. und übers. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Simmerath: Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG 2003, SKS 15, 56, / PB, 156. Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken, SKS 15, 57, / PB, 157. Wolfgang Janke legt diese Doppelheit aus als „An-der-Existenz-Gelegensein“ und „Dawischen – oder Zwiefältigsein“ (Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 1977, S. 376 f.). SKS 15, 54 / PB, 153.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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das Interesse oder das Bewusstsein ist. […] denn der Zweifel liegt im Interesse, und jedes systematische Erkennen ist uninteressiert.“²⁰⁴ Nach Fahrenbach ist das Bewusstsein also kein bestimmtes Vermögen des Menschen, sondern muss „als Strukturprinzip der Seinsweise menschlicher Existenz verstanden werden“²⁰⁵ und ist somit wesentlich Selbstbewusstsein, das in sich einen Willensmoment hat und das Selbstseinwollen implizieren muss.²⁰⁶ Diese Struktur (CAB), wie oben dargestellt, ist kein einfaches Verhältnis, sondern ein Verhalten des Synthetisierens (distanzieren und zugleich in Bezug zueinander bringen), das sich ständig aus einem Ursprung heraus vollzieht. Dieser ist also das von einer absoluten Macht (Gott) gesetzte Selbst (C – C’), das in ihrer Abgeleitetheit nichts an Selbständigkeit beziehungsweise Selbstbestimmungskraft verliert, denn „das absolute Setzen ist ein Frei-Setzen, Freimachen“,²⁰⁷ ein Freimachen zum Vollzug der Selbstwerdung mit dem Ziel, durchsichtig selbst sein zu wollen in der Macht, die es gesetzt hat, das heißt zum Existieren in der Glaubenswahrheit, in dem schließlich alle Widersprüche aufgehoben beziehungsweise zum Stillstand und zur Ruhe gebracht werden, und alle Ängste beziehungsweise Verzweiflungen überwunden werden können.²⁰⁸
SKS 15, 57 / PB, 157. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 22. „Kierkegaard könnte demnach – in existenzdialektischer Entsprechung zu Fichte – sagen: Bewußt-sein ist kein Bestand, keine Tatsache, sondern Vollzug, Tathandlung und darum wesentlich Selbst-bewußt-sein“ (Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 26) und ferner zum Willensmoment: „Die Entschiedenheit des Wollens bestimmt die Intensität des Selbstseins, weil in ihm ein bewußtes Verhalten zur eigenen Aktivität liegt, und damit ein Selbstseinwollen impliziert ist, das seinerseits den Grad des Selbstbewußtseins bestimmt. Selbstbewußtsein meint also […] die im selbstbestimmten Handeln mitvollzogene Selbstgewißheit“ (ebd., S. 29). Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 33. So gehört laut Fahrenbach zu Kierkegaards philosophischer Anthropologie offenbar ein „humanreligiöses Existenzverhältnis“. Die richtige Einstellung zum religiösen Bezug im philosophischen Text lautet also: „Die philosophische Interpretation kann den religiösen Bezug weder als eine Selbstverständlichkeit beanspruchen noch ihn apriori bestreiten wollen, sondern sie hat zu fragen, wie er als Auslegung des Gesetztseins der Existenz aus ihrer Struktur zu verstehen ist“ (Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik S. 33 f.).
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1 Die Grundlage der Interpretation
1.3.2.2 Die Existenzdialektik als Bewegung der Selbstwerdung 1.3.2.2.1 Die Bewegung unter den modalen Kategorien betrachtet: Möglichkeit – Wirklichkeit – Notwendigkeit Das teleologische Bild der menschlichen Existenz sowohl als Individuum wie auch als Gattung haben wir bereits an BA dargestellt.²⁰⁹ Nun gilt es, die formale Struktur dieses Werden zu erklären. Kierkegaards Erläuterung zur formalen Struktur des Werdens finden wir im Zwischenspiel der Philosophischen Brocken (im Folgenden abgekürzt mit PB), wo er mit den modalen Kategorien von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit das Geschichtliche zu erklären versucht. Das Werden wird vor allem bestimmt als eine Veränderung nicht des Wesens, sondern des Seins, da eine Veränderung des Wesens die Identität des Werdenden zerstört und es zu einem Anderen macht. Als eine Veränderung der Seinsbestimmung ist also das Werden ein Übergang vom Möglichsein zum Wirklichsein. Die Möglichkeit und die Wirklichkeit als Seinsbestimmung stehen dann der Notwendigkeit gegenüber, die als Wesensbestimmung notwendig ist und somit das Einzige ist, „welches das Werden ausschließt“²¹⁰. Zu dem, was Kierkegaard in BA vom doppelten Sinne des Werdens – jeweils als ein Werden mit Notwendigkeit und ein Werden mit Freiheit – sagt²¹¹, finden wir hier eine genauere Erläuterung, in der die Menschheitsgeschichte in Bezug auf die Naturgeschichte als ein „Werden im Werden“ bestimmt wird: […] das Werden kann eine Verdoppelung in sich enthalten, d. h.: eine Möglichkeit des Werdens innerhalb seines eigenen Werdens. Hier liegt das Geschichtliche in strengerem Sinn, welches dialektisch ist in Richtung auf die Zeit. Das Werden, das hier das Gemeinsame mit dem Werden der Natur ist, ist eine Möglichkeit, eine Möglichkeit, die für die Natur ihre ganze Wirklichkeit ist. Aber dies eigentliche geschichtliche Werden liegt doch innerhalb eines Werdens, das muß beständig festgehalten werden. Das besondere geschichtliche Werden wird durch eine bedingt freiwirkende Ursache, welche wiederum letztgiltig hinweist auf eine schlechthin freiwirkende Ursache.“²¹²
In der Natur herrscht also ein Werden mit Notwendigkeit, da alle Veränderungen nach dem Naturgesetzt geschehen und keine Freiheit zulassen. Deswegen nennt Kierkegaard in BA ein solches Werden, das nur das werden kann, wie es vorbestimmt ist, einen „Zustand“. Ein Beispiel dafür ist die ganze Geschichte einer
Vgl. Abschnitt 1.2.4.3. SKS 4, 274 / PB, 71. Vgl. SKS 4, 329 / BA[R], 19 und die vorherige Erläuterung im vorliegenden Text Abschnitt 1.2.3.2. SKS 4, 276 / PB, 72 f.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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Pflanze. Im Gegensatz dazu steht die Geschichte eines Menschen, die innerhalb dieses natürlichen Werdens die Möglichkeit hat, als eine „freiwirkende Ursache“ sich so zu bestimmen, wie er es will. Er kann per Reflexion seine eigene Situation als inter-esse zwischen der natürlichen Bedingtheit (dem Real-Endlichen) und dem Sinnhorizont des Ewigen (dem Ideal-Unendlichen) wahrnehmen und dieses Dazwischensein bewusst „dialektisch in Richtung auf die Zeit“ bringen, in dem er in der augenblicklichen Gegenwart die – von der unveränderlichen Vergangenheit und der Bedingtheit der leiblichen Natur begrenzte – Möglichkeit seines Selbstseins in die Wirklichkeit versetzt, und durch dieses verantwortliche Verhalten zu sich den Möglichkeitshorizont der Zukunft eröffnet, in dem er entweder das Selbst-sein-Wollen oder Nicht-selbst-sein-Wollen durchführt. Fahrenbach hat zu Recht auf die verschiedenen Bedeutungen der Notwendigkeit in PB und in KT hingewiesen.²¹³ Das Notwendige, das hier in PB mit dem historischen Werden inkommensurabel ist, ist in strengem Sinne als eine ontologische Wesensnotwendigkeit zu verstehen, die dem Seinsbereich nicht zugehört und somit sich auch der zeitlichen Dimension entziehen muss. So konnte Kierkegaard spöttisch vom Prophezeiungsgeschäft der Hegelschen Geschichtsphilosophie reden, denn „[w]ofern die Notwendigkeit auf einem einzigen Punkte eintreten könnte, so würde nicht mehr die Rede sein vom Vergangenen und Zukünftigen“²¹⁴. Alles würde damit gleichzeitig notwendig und der ganze Möglichkeitshorizont der Zukunft würde aufgehoben, so dass das Werden nicht mehr historisch sein könnte. „Beim Notwendigen fällt Sein und Wesen zusammen.“²¹⁵ Kierkegaard versteht aber das Notwendige, wenn er es in KT als ein Moment der Synthesisstruktur der Freiheit gegenüberstellt, in einem weiteren Sinne. Dort versteht er darunter die Daseinsbestimmtheit, das Leiblich-Endliche beziehungsweise das Unveränderliche, das dem Seinsbereich der Realität angehört. Dazu gehört das notwendige Werden der Natur, von dem das Selbstwerden des Menschen ausgeht und immer zurückkehren muss. Denn das Werden des Menschen zu sich selbst ist eine Bewegung „von Ort“ und „am Ort“²¹⁶. Dieses Notwendige ist also das begrenzende Moment, das den Menschen in seine Wirklichkeit des Dazwischenseins zurückbringt, sodass er nicht im Phantastischen verloren geht. Dazu gehört ebenfalls die nicht mehr veränderbare Geschichte sowohl des eigenen Werdens als auch das der Gattung, die man als eigene Existenzsituation erwerben muss. Zu dieser Geschichte zählen für Kierkegaard we-
Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 43 f. SKS 4, 277 / PB, 74. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 23. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 45.
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sentlich noch der Sündenfall Adams und die Offenbarung Gottes durch die Inkarnation.
1.3.2.2.2 Die Bewegung nach ihrer Qualität und Quantität betrachtet Die Bewegung der Selbstwerdung als Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geschieht in der augenblicklichen Entscheidung, die je nach Situation stets erneut entschieden werden muss. Diese Entscheidung als eine folgenschwere Tathandlung hat Kierkegaard als einen „qualitativen Sprung“ bezeichnet, der einer „quantitativen Approximation“ gegenübersteht.²¹⁷ In dieser Bestimmung übernimmt Kierkegaard die hegelsche Unterscheidung von Qualität und Quantität, während er jedoch den (immanenten) Übergang zwischen beiden ablehnt: Es ist […] ein Aberglaube, in der Logik zu meinen, durch ein fortgesetztes quantitatives Bestimmen entstehe eine neue Qualität […]. Die neue Qualität entsteht mit dem Ersten, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften.²¹⁸
Das Qualitative im Gegensatz zum Quantitativen gehört zu den existenzdialektischen Kategorien, die Kierkegaard als Abbreviaturen nicht des Seins, sondern des Daseins bezeichnet.²¹⁹ Laut Diem wurde Kierkegaard in diesem Gedanken vor allem von Trendelenburg beeinflusst, der in seiner Kategorienlehre die für Kierkegaard relevanten Begriffe von Qualität, Kausalität und Substanz entwickelte.²²⁰ In der Hegelschen Logik fällt es nicht schwer, vom Quantitativen zum Qualitativen überzugehen. Dieser Übergang geschieht jedoch nur im Denken und muss den Sinn des Qualitativen verfehlen, den man nur entdeckt, wenn zwischen dem gedachten Sein und dem wirklichen Sein (Dasein) unterschieden wird. Das bloß gedachte Sein ist nur de potentia (der Möglichkeit nach) da und hat als solche eine quantitative Bestimmung. „Qualitativ bestimmen kann es nur, indem
Dies ist in der Angstabhandlung eine zentrale Unterscheidung. In der Sünde (als einer sündhaftigen Entscheidung) sollen der Sprung und die Qualität der Sündhaftigkeit einander so bestimmen, dass der Sprung wesentlich eine qualitative ist und die Qualität nur durch den Sprung hervorbricht: „Die Sünde kommt also als das Plötzliche herein, d. h. durch den Sprung; dieser Sprung jedoch setzt zugleich die Qualität; indem aber die Qualität gesetzt ist, ist in demselben Augenblick der Sprung in die Qualität hineingenommen und von der Qualität vorausgesetzt, und die Qualität vom Sprung“ (SKS 4, 338 / BA[R], 31). Dagegen sind alle „Approxiomations-Bestimmungen“ nur betörend, da sie keinen Sprung hervorbringen können (SKS 4, 362 / BA[R], 60). SKS 4, 336 / BA[R], 29. Vgl. insbesondere die Anm. SKS 4, 337 / BA[R], 29. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 28 – 34. Adolf Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre, Berlin: Verlag von Bethge 1846.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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man es durch sich selbst, das heißt als seiend bestimmt.“²²¹ So wird ein nicht nur gedachtes, das heißt qualitativ bestimmtes Sein nur hervorgebracht durch sein eigenes Gewordensein, das im entscheidenden Augenblick geschieht, in dem das Mögliche wirklich wird. Genau in diesem Sinne meint Kierkegaard mit dem Sündenfall einen qualitativen Sprung, in dem der Einzelne die (von Adam geerbte) Sündhaftigkeit als eine Möglichkeit freiwillig übernimmt und sein eigenes Dasein qualitativ als sündhaftig bestimmt. Dadurch wird der Einzelne erst zu sich selbst, denn „[d]as eigentliche ,Selbst‘ […] ist erst im qualitativen Sprung gesetzt“²²². In diesen Sprung, der in jeder verantwortlichen Entscheidung wiederholt wird, wirkt der Einzelne als freiwirkende Ursache der eigenen Geschichte. Diese Wirkursache entspricht der Kategorie der Kausalität, die bei Trendelenburg nur den Schluss ex hoc ergo post hoc (vor diesem, folglich nach diesem), nicht aber den Schluss post hoc ergo propter hoc (nach diesem, folglich wegen diesem) in sich enthält. „Das ex hoc ist, um Kierkegaards Terminologie zu gebrauchen, nur Ursache, nicht Grund des Werdens.“²²³ Das durch dieses selbstbestimmende Werden gewordene Selbst wird dann zum Ursprung weiterer Entscheidungen, die trotz aller Veränderungen die Identität und die Kontinuität dieses Ursprungs bilden. Dieser aber, der traditionell als substantia im Sinne von beharrendem Sein im Gegensatz zum Werden genannt wird, gewinnt bei Kierkegaard den Vollzugssinn des historischen Werdens, dessen Wesen erst im fortwährenden Existieren gebildet wird. Dergestalt trägt das Qualitative, die selbstbestimmte Daseinscharakteristik, zum Willensmoment der neuen Bewegung bei und wird eine „an den Substanzen haftende Kausalität“.²²⁴ Deshalb wird auch verständlich, was Kierkegaard damit meint, wenn er sagt, „[d]urch die Sünde wurde die Sinnlichkeit zu Sündhaftigkeit“²²⁵, denn durch den Sündenfall wird qualitativ bestimmt, dass die zukünftige Existenz unter der Bestimmung Sünde betrachtet werden muss. Was vergangen ist, wird zur (im Sinne der Unveränderlichkeit) notwendig-nötigenden Situation der weiteren Existenz. Die Existenzdialektik ist folglich eine qualitative Dialektik des Daseins in seiner Selbstwerdung, denn „[a]lles dreht sich darum, den Unterschied absolut zu machen zwischen der quantitativen und der qualitativen Dialektik. Die ganze Logik ist quantitative oder modale Dialektik, denn alles ist und das Ganze ist
Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 30. SKS 4, 382 / BA[R], 84. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 33. Ebd. SKS 4, 367 / BA[R], 66.
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beständig ein und dasselbe. Im Dasein ist dagegen die qualitative Dialektik zu Hause.“²²⁶ – Eine Dialektik also, in der die Existenz ausgelegt wird als das interesse zwischen Idealität und Realität, deren Unterschied durch das Vermögen der Phantasie als „unendlichmachende Reflexion“²²⁷ zunächst wahrgenommen wird, um dann in der Bewusstseinsstruktur als ein reflektierendes Sich-zu-sich-selbstVerhalten (das Geist-Selbst) wieder synthetisiert zu werden. Sich selbst in jeder augenblicklichen Wirklichkeit bestimmend, vollzieht sich das Selbstsein als ein Werden zu sich selbst durch wiederholenden qualitativen Sprung. Dass diese Selbstwerdung in verschiedenen Phasen vollzogen wird, wollen wir im Folgenden darstellen.
1.3.2.2.3 Die Bewegung in ihren Stadien betrachtet Bekanntlich unterteilt Kierkegaard die Existenz des Menschen in drei sogenannte „Stadien“: das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse. Die ersten beiden werden vor allem im zweiten langen Brief des Gerichtsrats Wilhelm in Entweder/ Oder II ausführlich dargestellt, und die beiden Letzen in Furcht und Zittern durch Kierkegaards eigentümliche Exegese der Geschichte von Abrahams Opferung seines Sohnes auf Befehl Gottes erklärt. Hier wollen wir, anstatt auf die jeweiligen Stadien einzugehen, die Bewegung der Selbstwerdung in Bezug auf die Stadienlehre unter der Fragestellung erörtern, ob diese Bewegung, wie es prima facie erscheinen mag, eine solche ist, die von der ästhetischen Existenz über das Ethische zum Religiösen hin läuft. In seiner Darstellung des Menschenbilds in KT versteht Theunissen die Selbstwerdung zunächst als die vom Ästhetischen zum Ethischen: In dem von Kierkegaard immer wieder beschworenen Augenblick des Selbstwerdens ereignet sich […] die Menschwerdung des Menschen […] durch die sprunghafte Verwandlung des Daseins, als das er sich zunächst vorfindet, in das ganz andere Sein des reinen Vollzugs. Dieser Gegensatz erscheint in dem Frühwerk Entweder-Oder als Gegensatz zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen.²²⁸
Für Theunissen ist das Selbstwerden vor allem die „Geburt des eigentlichen Menschen“ durch eine „absolute Wahl“²²⁹, „[d]enn das Selbstsein ist das eigent-
Sören Kierkegaards SKS 18, 304, JJ:492 / DSKE 6, [Papir VII 1 A 84] zitiert nach Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 34. SKS 11, 147 / KT[R] 27. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 499. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 500.
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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liche Menschsein und damit das, was dem selbstlosen Menschen aufgegeben ist“²³⁰. Damit unterscheidet er den „ästhetischen Augenblick“ als die Kategorie der selbstlosen Existenz von dem „ethisch-religiösen Augenblick“ als dem Augenblick der Entscheidung.²³¹ Indem aber das Vor-Gott-Sein ebenfalls als die Möglichkeitsbedingung des Selbstseins beziehungsweise des eigentlichen Menschseins gilt, wird die Selbstwerdung bei Theunissen schließlich als der Durchbruch der Daseinsbestimmtheit ins ethisch-religiöse Dasein verstanden, das heißt ins Christsein, denn „[e]in Selbst ist letztlich nur der gläubige Christ.“²³² Davon ausgehend wird aber das Ästhetisch-Unmittelbare wieder anders ausgelegt: „Das Leben in der Unmittelbarkeit ist also nicht das vorgefundene Erste, sondern selber schon aus einem Akt der Freiheit hervorgegangen. Dieser Akt ist die Sünde als in sich ohnmächtige Sonderung des Menschen von seinem Selbst und von Gott.“²³³ An dieser „Korrektur“ Theunissens können wir Folgendes problematisieren: Ist die ästhetische Existenz als ein eigenständiger unmittelbarer Zustand des Menschen, der vor dem Ethisch-Religiösen besteht, zu verstehen, oder ist sie eher ein selbstverschuldeter Verfall, also ein Zurück vom Ethisch-Religiösen? Ferner: Ist sie überhaupt mit dem Leben in der Unmittelbarkeit gleichzusetzen, oder gibt es hier begriffliche Nuancen? Eine andere Frage: Wenn das Religiöse, wie in Furcht und Zittern dargestellt, nur durch eine „Suspension des Ethischen“ zu erreichen ist, in der das Allgemeinmenschliche zugunsten des individuellen Daseins vor Gott preisgegeben werden soll, wie ist dann das Ethisch-religiöse Dasein zusammenzudenken als die Möglichkeitsbedingung für das eigentliche Menschsein? Diese Probleme versucht Fahrenbach zu bewältigen, in dem er das erste und das dritte Stadium im „fundamentalen Sinn des Ethischen als Existenzstruktur“²³⁴ verschwinden lässt. Hierbei gilt das Ethische nicht nur als ein Stadium unter anderen, sondern als „eine Wesensbestimmung der menschlichen Existenz als solcher“, „nämlich sofern diese für den Existierenden selbst Aufgabe und Forderung (des Selbstwerdens) bedeutet.“²³⁵ Aus dem Ethischen lässt sich überhaupt das anthropologische Schema der Existenzdialektik bestimmen, denn es gibt einen „ursprünglichen Zusammenhang von Existenzsituation und ethischer
Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 499. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 502. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 505. Theunissen, „Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode“, S. 506. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 54. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 55.
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Bestimmung“.²³⁶ Auch das religiöse Stadium lässt sich nur aus der fundamentalen Struktur der Wahl und Entscheidung verstehen, die die Dialektik der Selbstwerdung vorantreibt. So muss dieser fundamentale Sinn des Ethischen „durch alle Stadien des Existenzverständnisses hindurchgreifen, […] sofern diese im Selbstverhältnis auf Entscheidung bezogen sind“.²³⁷ Diese Auslegung hat ihr Recht darin, dass der Autor diesen fundamentalen Sinn des Ethischen als Inbegriff der Existenzdialektik vom eingeschränkten Sinn desselben als ein Existenzstadium unterscheidet, und unter dem Letzten den Gehalt des Selbstverständnisses versteht. Mit dieser Unterscheidung schreibt er die Stadienlehre dem Bereich der Existenzmitteilung zu, in der der Mensch sich verstehend zu sich selbst verhält²³⁸: Unterscheidbarkeit und innerer Zusammenhang der Bedeutungsaspekte des Ethischen gründen in der hermeneutischen Struktur des Selbstverhältnisses, worin die wesentlichen Existenzbestimmungen zugleich als Möglichkeiten des Selbstverständnisses gesetzt sind.²³⁹
Aus demselben Grund verneint Fahrenbach auch die Bewegung von der Unmittelbarkeit (Unschuld) zum reflektierenden Selbstverhältnis. Oder genauer: Er verneint im Prinzip den Zustand der Unmittelbarkeit als eine Existenzbestimmung des Menschen, da „Selbstsein die Grundbestimmung seiner Seinsweise ist“²⁴⁰, gemäß der er überhaupt als Mensch gefasst werden kann. Dies gilt auch im Falle der Genesisdeutung in BA: Im menschlichen Dasein ist das Verhältnis von Leib und Seele prinzipiell (!) nicht als unmittelbarer Bestand einer natürlichen Einheit zu denken, sondern als im Selbstverhältnis getrennt zu vermitteln, weil in ihm nicht Seele sondern Geist das Bestimmende ist.²⁴¹ Das unmittelbar seiende Verhältnis zwischen Zweien kann also nur im uneigentlichen Sinn als ein Verhältnis gedacht werden, weil es nicht in das Zwischen einer Differenz gesetzt und damit als Verhältnissituation erschlossen ist.²⁴²
Fahrenbach ist zwar völlig Recht zu geben, dass die Stadien in der Existenzmitteilung als Selbstverständnis erschlossen sind und die eigentlich auszulegende Existenzstruktur nur hermeneutisch betreffen, jedoch versäumt er dabei den entwicklungspsychologischen Ansatz bei Kierkegaard und verkennt die begriff
Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 57. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 58. Vgl. die doppelte dialektische Bewegung dargestellt in Abschnitt 2.3.1. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 59. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 12 f. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 13. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 18.
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lichen Nuancen in Kierkegaards Bestimmung des Ästhetischen bezüglich des idealistischen Begriffs der Unmittelbarkeit. In seiner Darstellung der ästhetischen Existenzstruktur in EO2 unterscheidet Wilfried Greve verschiedene Ebenen des ästhetischen Daseins. Der primäre Sinn der Ästhetik ist die Kunsttheorie beziehungsweise -kritik, in deren Rahmen Kierkegaard pseudonym seine Reflexionen über Existenzprobleme äußert. Innerhalb seiner ästhetischen Schriftstellerei steht ein Ästhetiker aber für das poetische Dasein, das durch seine künstlerische Souveränität und sein Genussstreben ausgezeichnet ist. Zur Bestimmung dieser ästhetischen Existenz geht der Gerichtsrat Wilhelm „auf den idealistischen Begriff der Unmittelbarkeit zurück, der das Gegebene, das direkt und ohne Vermittlung Vorhandene bezeichnet“²⁴³, denn das Ästhetische in einem Menschen ist das, „dadurch er unmittelbar das ist was er ist […]“²⁴⁴. Die Existenz eines Ästhetikers ist also noch nicht ethisch bestimmt und deswegen jenseits von Gut und Böse: So bildet das ästhetische Stadium eine dem Ethischen vorgelagerte Existenzstufe, eine Stufe, für die das Ethische noch außerhalb ihrer Reichweite liegt.²⁴⁵
Mit dieser Bestimmung der Unmittelbarkeit fällt das poetische Dasein aber mit der Exis-tenzweise des Kindes und des Heidentums zusammen, unter denen das Eine entwicklungspsychologisch für die Anfangsstufe des menschlichen Individuums steht, und das Andere phylogenetisch für die der Geistesgeschichte. Alle drei (Künstler, Kind, Heidentum) leben im ähnlichen Sinne ästhetisch, das heißt naturhaft und genussstrebend, und bilden nicht nur eine „dem Ethischen vorgelagerte Sphäre“, sondern „die erste und unterste Existenzsphäre überhaupt.“²⁴⁶ Neben dieser Bestimmung des Ästhetischen als vor-ethischer Existenz ist eine weitere, bewusst anti-ethische Existenzweise, „die ihren ethischen Indifferentismus aus der nachdrücklich vollzogenen Ablehnung der ethischen Kategorien als gültiger Handlungsnormen bezieht“²⁴⁷, dem Ästhetischen zugeschrieben. Nicht in EO2, sondern in SLW beziehungsweise AUN2 bezeichnet Kierkegaard diese Art der ästhetischen Existenz als „endliche Verständigkeit“, eine „endliche Teleologie im Sinne eines Strebens nach dem Wahrscheinlichen, dem optimalen Gewinn von weltlichen Gütern.“²⁴⁸ Als eine „auf Anpassung gründende Berechnung“²⁴⁹ steht
Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik“, S. 189. SKS 3, 173 / EO2, 190. Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik“, S. 191. Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik“, S. 192. Ebd. Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik“, S. 195 f. Ebd.
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sie im Gegensatz zum Unmittelbar-Leidenschaftlichen, das das poetische Dasein unter anderem auszeichnet. Die Frage, die am Anfang dieses Abschnitts gestellt wurde, können wir nun in Bezug auf das oben Dargestellte aufzuklären versuchen. Während Theunissen die Selbstwerdung grundsätzlich als eine Bewegung vom Ästhetischen (A – B) über das Ethische (CAB) bis zum Religiösen (C – C’) versteht, bestimmt Fahrenbach diese verschiedenen Phasen als Strukturmomente innerhalb desselben ethischen Selbstseins, die durch die sich selbst verstehende Mitteilung erschlossen sind: das Was-sein (= Daseinsbestimmtheit), das Wie-sein (= ethische Selbstbestimmung) und der Seinsgrund (= das abhängige, abgeleitete Sein).²⁵⁰ Aus der Analyse von Greve können wir schließen, dass zwischen dem sogenannten Stadium (dem Ästhetischen) und dessen Bestimmung als Strukturmoment des Selbstseins (Unmittelbarkeit, ethische Indifferenz usw.) zwar gewisse Entsprechung festgestellt werden können, diese beiden aber nicht unbedingt zusammenfallen. Eine Interpretation, die Kierkegaard bezüglich dieser Frage am ehesten gerecht wird, soll daher die beiden Aspekte der Existenzdialektik auseinanderhalten: In der die Wissenschaftlichkeit anvisierenden Existenzauslegung gilt das Ethische als die wesentliche Charakteristik, die die menschliche Existenz als das reflektierende Selbstverhältnis im Sinne des selbstbestimmenden Werdens zu sich selbst auszeichnet; diese Charakteristik kann aber im Selbstverständnis des Menschen in modifizierten Formen als Rückschritt ins Ästhetische im Sinne der anti-ethischen Existenz mitgeteilt werden, oder aber als Fortschritt ins Religiöse im Sinne der Suspension des Ethisch-Allgemeinen. Indessen darf die noch nicht verantwortungsfähige Entwicklungsphase des Individuums (die vor-ethische Existenz), aus der das ethische Dasein als das eigentlich Menschliche erst hervorbrechen muss, nicht unbeachtet bleiben.
1.3.3 Die Verortung der Angst in der Existenzauslegung Überraschenderweise ist der Begriff Angst in der vorgestellten Existenzdialektik bisher noch kaum erwähnt worden. Der Grund liegt einerseits darin, dass die Forschungsliteratur hauptsächlich von der systematisierten Darstellung der KT ausgeht, die Kernpassagen aus PB beziehungsweise AUN2 heranzieht und BA
Vgl. Abschnitt 1.3.2.
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höchstens nebenbei erwähnt, andererseits auch darin, dass das Werk in sich thematisch verflochten und inhaltlich schwierig auseinanderzusetzen ist.²⁵¹ Wenn wir uns an die anfangs dargestellte Eingrenzung der Wissenschaften in der Einleitung von BA erinnern, in der die Psychologie dazu dient, einen Approximationsversuch an die wissenschaftlich nicht zu behandelnde Problematik der Sünde zu leisten, dann muss der Begriff Angst in der existenzdialektischen Darstellung der Selbstwerdung des Menschen einen eigenen Ort haben. Aus dem oben Dargestellten ist es naheliegend daran festzuhalten, dass die Existenzdialektik der geeignete Name für die von Kierkegaard nur umrisshaft ausgeführte „zweite Ethik“ ist²⁵², da sie das gelungene Selbstsein des Menschen nicht als Anfangsbasis, sondern als Aufgabe gesetzt hat und dieses dem reflektierten Selbstverhältnis unterwirft. Somit wird die Idealität des durchsichtigen Selbstseins vor Gott als Aufgabe gesetzt, und die Realität der Erbsünde (als Sünde de potentia) vorausgesetzt. Um mit der zweiten Ethik die Dogmatik der Erbsünde vorauszusetzen, bleibt noch zu erklären, wie die Erbsünde als solche zustande kommt, oder mit Kierkegaards Worten: die Erbsünde muss „retrograd in Richtung auf ihren Ursprung“²⁵³ erklärt werden, denn es wäre selbstwidersprüchlich zu behaupten, dass der Mensch sündig geboren wäre, und trotzdem im Sündenfall aus Freiheit handelt. Sogar die Möglichkeit des Sündenfalls bedarf einer Erklärung, was der Wirklichkeit, dass die Sünde begangen worden ist, nicht entgegentritt. Diese Erklärung darf nicht die Form einer Begründung haben, in der der notwendige beziehungsweise ausreichende Grund geliefert wird. Diese soll vielmehr eine Untersuchung des Ursprungs des Sündenfalls sein, sowohl beim ersten Sünder als auch bei jedem anderen menschlichen Individuum. Da der Sündenfall eine Ent-
Vgl. die Darstellung der Schwierigkeiten des Buches in Abschnitt 1.1.1 bzw. die Möglichkeiten einer Fehlinterpretation in Abschnitt 1.2.6.1. So bezeichnet Gordon D. Marino, der Herausgeber des Cambridge Companion to Kierkegaard, das Buch als „maddeningly difficult“ und gesteht ein, dass ihm viele Passagen nicht einleuchten (vgl. Gordon D. Marino, „Anxiety in The Concept of Anxiety“, in The Cambridge Companion to Kierkegaard, hg. von Alastair Hannay und Gordon D. Marino, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 308 – 328). Und ferner zu Harrits: „Was über den Begriff Angst geschrieben wurde, zeigt, daß nur wenige (wenn überhaupt) in der Lage sind, sich frei zu seinen Begrifflichkeiten zu verhalten, und eher gezwungen sind, sie paraphrasierend zu wiederholen. […] So hermetisch – um nicht zu sagen klaustrophobisch – ist Vigilius’ Darstellung, daß sie dem Versuch, zu einer offenen Sprache zu finden, entgegenarbeitet“ (Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, S. 248 f.). Dies entspricht völlig dem von Fahrenbach verkündeten „fundamentalen Sinn des Ethischen“, vgl. hierzu den Abschnitt zuvor. Zu Fahrenbachs eigener Anmerkung zur zweiten Ethik vgl. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 152– 154. SKS 4, 351 / BA[R] 46 (Paragraphentitel).
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1 Die Grundlage der Interpretation
scheidung für die Sünde ist, muss dieser Ursprung im Entscheidenden selbst liegen, nämlich in der Frage, wie der Mensch sich zu sich selbst verhält, so dass er den Sprung in die Sünde inauguriert. So fällt diese Erklärung in die beschriebenen Rahmen der Existenzdialektik beziehungsweise in den Prozess der Selbstwerdung des Menschen, wo er in seinem eigentümlichen inter-esse zwischen Idealität und Realität die Möglichkeit der Sünde in die Wirklichkeit setzt und damit eine nicht quantitative, sondern qualitative Veränderung der eigenen Existenzsituation zustande bringt. In diesem Prozess wirken verschiedene dynamische Momente zusammen, um das Selbstsein des Menschen in Bewegung zu setzen: die unendlichmachende Phantasie ermöglicht die Reflexion, in der die eigene Situation als synthetisiertes Wesen dem Menschen gewahr wird; diese wird in dem vom doppelten Sinn des inter-esse geprägten Bewusstsein in das handelnde Selbstverhältnis, das heißt in das wahre Existieren gebracht; erst in diesem wird je nach Situation entschieden, und bei jeder Entscheidung wird eine Seite der Synthese bevorzugt und das Missverhältnis im Selbstsein als das Phänomen der Verzweiflung hervorgebracht, die nur im gelungenen Selbstsein vor Gott zu beseitigen ist. Derart ist das ganze Schema der Existenzdialektik, in der die ethische Existenz wegen des grundlegenden Aktes der verantwortungsbewussten Entscheidung für die ganze Bewegung im Zentrum steht. Das Religiöse bleibt eine Aussicht und das Ästhetische ein Anfang, der noch am Anfang steht. Aber ist dies wirklich das ganze Bild, das Kierkegaard von der menschlichen Existenz, von unserer Welt, im Kopf hat? Die Untersuchung des Ursprungs der Sünde in jedem Einzelnen ist eine Untersuchung des Wesens der menschlichen Freiheit. Ganz speziell richtet sich diese Untersuchung auf die eine Seite der Freiheit, die Freiheit zum Bösen. So bleibt die Frage, wie es denn zustande kommt, dass – in der christlichen Vorstellung – der Mensch in seiner ersten Anwendung der Freiheit überhaupt schon in die falsche Richtung geht? Wie kommt es überhaupt dazu, dass die Freiheit immer wieder missbraucht und anstatt des Guten das Böse gestiftet wird? An dieser Fragestellung kann man schwer das Nacheinander der drei Existenzstadien feststellen, denn das Religiöse durchwaltet als pessimistische Stimmung, dass die Erbsünde als solche bereits durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch bestanden hat; und jedes Individuum mit seiner eigenen ästhetischen Unmittelbarkeit anfängt und damit eine folgenschwere Entscheidung zum Bösen begeht. In der Angstabhandlung werden alle Strukturmomente der Existenzdialektik – offen oder latent – angesprochen und auf seltsame Weise „wissenschaftlich“ und zugleich die Wissenschaft ablehnend zusammengestellt. Die Selbstwerdung beziehungsweise ihre dynamischen Momente werden an ihre eigene Möglichkeitsbedingung, an ihren ersten Anfang im Menschen, zurückgebracht. Überhaupt wird das Bewusst-werden vom eigenen Selbst als frei in Frage gestellt. Dass
1.3 Kierkegaards existenzdialektische Beschreibung der Selbstwerdung
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der Mensch frei ist, gehört zu seinem Wesen; dass er jedoch davon weiß, ist eine andere Frage. Die Freiheit muss erst entdeckt werden, um überhaupt in Kraft zu treten; die Freiheit kann gleichwohl nur entdeckt werden, indem sie in Kraft tritt. In diesem Aus-sich-selbst-Sein der Freiheit waltet die Macht der Zwischenbestimmung, die ihn dazu treibt, zu entscheiden, ohne die Entscheidung an sich (den qualitativen Sprung) zu beeinflussen. Diese Zwischenbestimmung ist also das reflexive, phantasievolle Gefühl der Angst, die sich zugleich „antipathetisch und sympathetisch“ zu ihrem Gegenstand verhält, der vom bloßen „Nichts“ zum unbestimmten „Etwas“ variiert. In seiner Fragestellung über die Freiheit zum Bösen trat Kierkegaard das Erbe von Kant und Schelling an. Das existenzdialektische Schema der Selbstwerdung des Menschen wirkte ins 20. Jahrhundert hinein, beeinflusste das gesamte Umfeld der Existenzphilosophie. Der Ursprung und die Nachwirkung des Gedankenwerk Kierkegaards fließen in dem zentralen Thema der Angst zusammen. Das Thema selbst hat sein Pendant in der Untersuchung der Psychoanalyse, die die Entängstigung zum Zweck hat; es findet wieder Resonanz in der gegenwärtigen interdisziplinären Forschung zu den menschlichen Gefühlen. Diese Themen bilden den ganzen Zusammenhang von Kierkegaards Angst-Denken. Bevor wir schließlich dazu übergehen, wollen wir zuerst die Angstthematik bei Kierkegaard in allen ihren Momenten ausführlich und textnah darstellen.
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung 2.1 Kierkegaards psychologische Methode Für Kierkegaard ist Angst eine Stimmung und als solche ein Begriff, der psychologisch behandelt werden kann. Die psychologische Beobachtung dieser Stimmung soll aber darauf zielen, sich der Problematik der Sünde anzunähern. Kierkegaard geht also einen Umweg über den Begriff der Angst zur Erklärung der Sünde, ohne jedoch das Ziel erreichen zu wollen. Dieser Umweg ist der Weg der Psychologie, die ihre eigene Grenze wahrnehmen muss: Diejenige Wissenschaft, die mit der Erklärung zu tun hat, ist die Psychologie, die jedoch nur an die Erklärung heranerklären kann und sich vor allem hüten muß, der Sache den Anschein zu geben, als erkläre sie, was keine Wissenschaft erklärt und was nur die Ethik näher erklärt, indem sie es auf dem Wege über die Dogmatik voraussetzt. […] Die Psychologie hat innerhalb ihrer Grenzen zu bleiben, dann hat ihre Erklärung immer ihre Bedeutung.¹
In seinem einleitenden Einwand gegen eine psychologische Behandlung der Sündenthematik wird der Begriff Angst erstmals erwähnt. Dieser begegnet jedoch merkwürdigerweise nicht als Gegenstand der Untersuchung, etwa einer Psychologie der Angst, sondern in einer von Kierkegaard kritisierten Psychologie der Sünde, die, als die Stimmung des Forschenden, scheitern muss. Da bei Kierkegaard jede Wissenschaft ihre eigene Stimmung hat und diese dem Gegenstand der Untersuchung entsprechen muss, hat die Psychologie gerade in doppelter Weise mit der Stimmung zu tun: Einerseits hat die Psychologie wie jede andere Wissenschaft ihre eigene Stimmung, die Kierkegaard verschiedentlich beschrieben hat; andererseits nimmt sie die Stimmung als ihren eigenen Forschungsgegenstand. Die Sünde darf nicht psychologisch erforscht werden, da sie nur mit Ernst angesprochen werden kann. Die Stimmung der Psychologie ist allgemein gesagt die „beobachtende Ausdauer“ und „spionierende Unerschrockenheit“², in der der Forschungsgegenstand die Existenz des Forschenden nichts angeht. Wenn man aber eine Sündentat (ein Verbrechen) psychologisch beobachtet, dann wird die Stimmung spezifisch zu einer „antipathetischen Neugier“ und zu einer „entde-
SKS 4, 345 / BA[R], 39. SKS 4, 322 / BA[R], 12. https://doi.org/10.1515/9783110546941-003
2.1 Kierkegaards psychologische Methode
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ckenden Angst“, die ferner auch „psychologische Konkupiszenz“ genannt wird³ – ein gemischtes, ambiges Gefühl, das auf die von Kierkegaard später erst genannte „psychologische Zweideutigkeit“⁴ hinweist. Dass von den zahlreichen Stimmungen gerade die Angst die geforderte Zweideutigkeit besitzt und darum geeignet ist, als die Voraussetzung der Sünde zu wirken, begründet Kierkegaard, indem er von der zeitgenössischen Bibelexegese Abstand nimmt.⁵ In einer Fußnote zu Usteris Exegese, zu der wir unten kommen werden, hat Kierkegaard zu Franz Baaders Versuchungslehre nebenbei bemerkt, dass dieser zwar die Versuchung ganz richtig als „das notwendige Andere der Freiheit“ bestimme, aber doch die „Zwischenbestimmungen“, das heißt die zwischen Unschuld und Schuld liegende „psychologische Wahrnehmung“,⁶ übersehe, sodass die Erklärung des Sündenfalls das Gewicht auf die Seite Gottes lege und an der Psyche des freiwillig sündigen Menschen scheitere.⁷ Demgegenüber gilt Usteris Exegese als eine psychologische Erklärung, da er eine Zwischenbestimmung, nämlich die der concupiscentia, einführt. Durch die Konkupiszenz/Begehrlichkeit, die vom Verbot erweckt wurde, soll der Sündenfall Adams verursacht worden sein. Der Vorteil dieser Erklärung liegt für Kierkegaard darin, dass sie das Ethische (die Entscheidung des Menschen) nicht vergisst und einräumt, „daß sie gewissermaßen nur prädisponiert, was in Adams qualitativem Sprung hervorbricht.“⁸ Das, was nur prädisponiert, aber keineswegs prädestiniert werden darf, ist die Sündentat, die nur durch die Freiheit geschieht. Trotzdem ist Usteris Erklärung für Kierkegaard immer noch nicht „eigentlich psychologisch“⁹.
SKS 4, 328 / BA[R], 18. SKS 4, 346 / BA[R], 41. Eigentlich ist Kierkegaard ganz selbstbewusst in seiner Wahl der Stimmung, schließt aber zugleich die Möglichkeit einer Alternative auch nicht aus: „Hat nun die Wissenschaft irgendeine andere psychologische Zwischenbestimmung, die den gleichen dogmatischen und ethischen und psychologischen Vorteil hat wie die Angst, so gebe man ihr den Vorzug“ (SKS 4, 380 / BA[R], 82). Das heißt, die Angst möchte er nicht unbedingt hervorheben, sondern deren eigentümliche Zweideutigkeit und damit die Erklärungskraft. SKS 4, 345 / BA[R], 39 (Anm.), Das Verhältnis Kierkegaards zu Baader wird ausführlich dargestellt in: Peter Koslowski, „Baader: The Centrality of Original Sin and the Difference of Immediacy and Innocence“, in Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome I, Philosophy, hg. von Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2007 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6), S. 1– 16. Nach Koslowski ist Kierkegaards BA trotz seiner Rezeption der Hegelkritik und Erbsündenlehre Baaders vor Auffassung der Schrift unbestreitbar originell. SKS 4, 345 / BA[R], 39. SKS 4, 346 / BA[R], 40.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
¹⁰ Einerseits übersieht die Psychologie dabei ihre eigene Grenze, indem sie die Begehrlichkeit durch das Verbot erwecken lässt, denn „[d]ie concupiscentia ist eine Bestimmung von Schuld und Sünde vor Schuld und Sünde, ohne jedoch Schuld und Sünde, d. h.: durch sie gesetzt, zu sein“¹¹. Der Kritikpunkt liegt darin, dass der Sündenfall dadurch eine bestimmende Ursache (= die vom Verbot erweckte Begehrlichkeit) erhält und innerhalb der Kausalkette bleibt, die das Moment der freien Entscheidung außer Acht lässt. „Der qualitative Sprung verliert seine Kraft, der Sündenfall wird zu etwas Sukzessivem“¹². Andererseits bedarf das Verhältnis zwischen Verbot und Begehrlichkeit einer weiteren Erklärung. Letztlich ist Kierkegaard der Auffassung, dass die Stimmung concupiscentia als Begriff nicht zweideutig genug ist, um eine psychologische Erklärung zu unterstützen, denn „die psychologische Erklärung darf nicht die Pointe beschwätzen, sondern muß ihre elastische Zweideutigkeit behalten, aus der die Schuld im qualitativen Sprung hervorbricht“¹³. Durch einen Vergleich mit der Begehrlichkeit zeigt er auf, dass die Stimmung der Angst der richtigen Zwischenbestimmung von Unschuld und Schuld dienen soll, da ihre dialektischen Bestimmungen eine eigentümliche Zweideutigkeit haben: Wenn wir die dialektischen Bestimmungen der Angst betrachten, so zeigt sich, daß sie gerade die psychologische Zweideutigkeit haben. Angst ist sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie. Man sieht leicht, denke ich, daß das in einem ganz anderen Sinne eine psychologische Bestimmung ist als jene concupiscentia [Begehrlichkeit].¹⁴
Aus dem Obigen können wir einiges erfassen, was Kierkegaard unter Psychologie versteht. Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die die Psyche des Menschen vor der moralischen Entscheidung beschreibend erklärt. Da jede Entscheidung ein Laut Fond übernimmt Kierkegaard von Usteri den „methodischen Zugriff“, den Sündenfall Adams psychologisch zu erklären, die Kritik ist aber eigentlich auf die Sündenlehre des Protestantismus gerichtet: „Die stillschweigende Voraussetzung der Erklärung Usteris steckt in der reformatorischen Lehre von der Konkupiszenz. […] Was sich zunächst wie eine Kritik Usteris liest, […] enthüllt sich als Zurückweisung der reformatorischen Konkupiszenzlehre“ (Fonk, Zwischen Sünde und Erlösung, S. 178). Und ferner heißt es: „Die kritischen Anmerkungen gegen den Begriff ,Konkupiszenz’ als psychologischer Mittelbegriff zwischen dem Unschuldszustand und dem Sündenfall sind durch Usteris Theorie nur angeregt worden. In Wirklichkeit münden sie ein in die Ablehnung dieses Begriffs und stellen darüber hinaus die reformatorische Lehre in einem entscheidenden Punkt in Frage“ (ebd.). SKS 4, 346 / BA[R], 40. SKS 4, 346 / BA[R], 40. SKS 4, 347 / BA[R], 41. SKS 4, 348 / BA[R], 42.
2.1 Kierkegaards psychologische Methode
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qualitativer Sprung ist, ist die psychologische Wahrnehmung als ein Bindeglied zwischen dem Zustand vor und nach der Entscheidung anzusehen, das aber nicht bloß „dazwischen liegt“, sondern sich zugleich in dem Zustand vorher und nachher befindet – in unserem Fall ist es die Angst, die im Zustand der Unschuld und nach dem Sündenfall fortbesteht. Damit ist das Stichwort „Zwischenbestimmung“ gemeint.¹⁵ Die Psyche kann die Entscheidung aber nicht in vollem Sinne bestimmen, sondern nur quantitativ/approximierend beeinflussen. Ansonsten würde die Psychologie ihre Grenze übertreten. Um diese Bedingung zu erfüllen, muss die Zwischenbestimmung zweideutig sein. Das heißt, sie muss ein Dilemma darstellen, ein Gleichgewicht entgegengesetzter Pole, damit die Bestimmungskraft der Gegensatzmomente ganz in sich selbst kompensiert und die Entscheidung in Freiheit geschieht. Nur dadurch kann die Qualität des „Sprungs“ bewahrt werden. So bleibt die Selbstwerdung in der Existenz dialektisch und die Individualität des Individuums bewahrt. Kierkegaard kommt an einer späteren Stelle wieder darauf zurück und weist die Relevanz der zweideutigen Zwischenbestimmung für die gesamte Existenzdialektik nachdrücklich auf: Zwischenbestimmung! Zwischenbestimmung! Man schaffe eine Zwischenbestimmung mit der Zweideutigkeit, die den Gedanken rettet (und ohne das ist ja die Rettung des Kindes eine Illusion), daß das Kind, welcher Art es auch war, sowohl schuldig wie schuldig werden kann. Hat man nicht Zwischenbestimmungen prompt und deutlich zur Hand, so gehen die Begriffe Erbsünde, Sünde, Geschlecht, Individuum verloren und das Kind mit ihnen.¹⁶
Der Gegenstand der Psychologie ist also die Psyche, der psychologische Zustand des Menschen. So ist die Angst „der psychologische Zustand, der der Sünde vorausgeht, und ihr so nahe wie möglich kommt“¹⁷, und als dieser „die letzte psychologische Approximation an den nächsten Zustand“¹⁸ – den des Schuldigen – und in seiner Approximation „ständig als die Möglichkeit des neuen Zustandes vorhanden“¹⁹. Dieser Zustand ist nämlich „das Bleibende, dasjenige, woraus die Sünde ständig wird und entsteht […]“²⁰. Mit dem Bleibenden meint Kierkegaard nicht etwas ganz Stilles, sondern „etwas Ruhendes […], das in be-
Rochol erklärt die Zwischenbestimmung als „dasjenige, was zwischen zwei Vorgängen die Kausalität: die Mechanik, Automatik, Determination, auflösen sollte – im Interesse von Freiheit und Existenz“ (Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 215). SKS 4, 379 / BA[R], 81. SKS 4, 395 / BA[R], 100. SKS 4, 417 / BA[R], 125. SKS 4, 417 / BA[R], 125. SKS 4, 329 / BA[R], 19.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
wegter Ruhe bleibt“²¹. Und dieser ständig herannahende, die Möglichkeit des nächsten Zustandes zeigende seelische Zustand des Menschen, ängstlich gestimmt, ist also „die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde […]“²². Was die Psychologie behandeln kann, ist die Möglichkeit. Wir erinnern uns an Kierkegaards „ontologischer Differenz“ des ideellen und realen Seinsbereichs in der Existenzdialektik. Wenn die Freiheit (der Sprung, die Entscheidung, der Sündenfall) zum realen Seinsbereich gehört, dann ist die Psychologie die nächstmögliche Wissenschaft, die den psychologischen Zustand vor dem Augenblick des Sündenfalls erklären darf, indem sie sich erinnernd beschreibt, was in diesem Moment möglich war. Die Freiheit ist nicht zu erklären, da sie nur wirklich (de actu), nur im Vollzug ist. Die Erklärungskraft der Psychologie reicht nur dahin, inwieweit die menschliche Natur die Sünde möglich macht, und wie diese Möglichkeit sich als „etwas mehr und mehr Umsichgreifendes“²³ zeigt. Nun bleibt noch die Frage, auf welche Weise Kierkegaard in seiner Psychologie methodisch vorgeht. Was hat er der psychologischen Arbeit in einer Zeit vorgeschrieben, in der es die Psychologie als eine eigenständige Disziplin noch nicht gab?²⁴ Für ihn ist ein Psychologe vor allem ein Beobachter mit einem „allgemein menschlichen Einfühlungsvermögen“, der nicht durch das Sammeln von detaillierten empirischen Fakten, sondern mit seiner ausgezeichneten Einbildungskraft induktiv arbeitet, und zwar „das Totale und Regelmäßige aus demjenigen“ schafft, „was im Individuum immer nur teilweise und unregelmäßig vorhanden ist“²⁵. Für seine Beobachtung reicht ein einziges Exemplar aus, das sorgfältig ausgewählt werden soll, um das Experiment anzupassen. Dazu braucht er den „Blick von einer solchen inquisitorischen Schärfe, daß er weiß, wo er suchen muß“²⁶. Er lernt bei einem Individuum eine Leidenschaft in dem Maße kennen, dass er alles nachahmen kann, was in dem Exemplar vorgeht. Er muss seine Beobachtung vorsichtig kontrollieren, indem er per Nachahmung einen Anderen so täuschen kann, dass dieser ganz nach seinem eigenen Entwurf reagiert. So eine „gedichtete Leidenschaft“ muss die Wirkung einer wirklichen haben: „Hat man das richtig ausgeführt, so wird das Individuum eine unbe-
SKS 4, 329 / BA[R], 19. SKS 4, 329 / BA[R], 19. SKS 4, 329 / BA[R], 20. „In the case of psychology, he was using the word before there was a formally recognized academic field bearing that name. And so he pursues philosophical psychology without any knowledge of an alternative way“ (Vincent A. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2015. S. 3). SKS 4, 359 / BA[R], 57. SKS 4, 360 / BA[R], 57.
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu
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schreibliche Linderung und Genugtuung empfinden wie ein Geisteskranker, wenn man seine fixe Idee gefunden und dichterisch festgehalten hat, und sie nun weiter ausführt“²⁷. Wir wollen dieses Thema mit einem Zitat aus der neuesten Monographie von Vincent A. McCarthy abschließen, der Kierkegaards Psychologie ganz zutreffend als existenziales, intellektuelles Experiment, als Selbstbeobachtung und -reflexion auf Augustinus zurückgeführt: His notion of psychology was existential and experimental (even if still in the sense of intellectual experimentation) and oriented toward the individual, but it was also inductive, unlike the highly speculative and deductive psychology that would derive from Hegel and speculative idealism. His method is surely not Freud’s, nor is his perspective. Kierkegaard […] seems to be updating Augustine’s self-psychologizing in the Confessions. ²⁸ Kierkegaard is indeed a psychologist but one whose principal patient, as with William James and Sigmund Freud after him, was none other than himself.²⁹
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu Da Kierkegaards Bibelexegese in BA überwiegend auf Genesis 2– 3 fokussiert, insbesondere auf die Stelle Gen. 2, 16 – 17; 25 beziehungsweise Gen 3, 7, ist es leicht zu ersehen, dass in diesen kurzen Passagen über den Sündenfall der ersten Menschen kein Wort zu ihren Ängsten gesagt wird. Die einzige subjektive Beschreibung ihres psychologischen Zustands ist verhaltensmäßig und objektiv, nämlich dass sie sich erst nach dem Sündenfall zu schämen gelernt haben. Folgendermaßen geht Kierkegaard mit seiner psychologischen Methode an die subjektive Version dieser berühmten Erzählung heran. Mit dem ausgezeichneten Einfühlungsvermögen einen Anderen in der Leidenschaft genau zu beobachten und das Gleiche in sich selbst nachzudichten, versucht er die Geschichte aus der Ersten-Person-Perspektive heraus umzuschreiben. Er zergliedert die originale Geschichte in ihre zeitliche Struktur: Vor dem Sündenfall war Unschuld und nach dem Sündenfall war Schuld. Ganz gemäß der Schrift und antihegelianisch wird die Unschuld mit Unwissenheit gleichgesetzt: „Die Erzählung in der Genesis gibt nun auch die richtige Erklärung der Unschuld. Unschuld ist Unwissenheit. Sie ist durchaus nicht das reine Sein des Unmittel-
SKS 4, 360 / BA[R], 58. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 4. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 8.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
baren, sondern sie ist Unwissenheit“³⁰.³¹ Der Sündenfall, der Übergang vom ersten zum zweiten Zustand, wird – ganz nach dem Ton des Wort „Sündenfalls“ gefärbt – als Verlust des ursprünglichen Zustandes bestimmt. Es erhebt sich die Frage: „Unschuld ist also Unwissenheit; aber wie geht sie verloren?“³². Die Antwort ist eindeutig: durch eine Entscheidung, die die Geschichte in die falsche Richtung weist. Da aber diese im Zustand der Unschuld getroffen wird, und die Unschuld als Unwissenheit von allem nichts weiß, ist diese eine unschuldige Entscheidung. Dennoch darf sie ihrer Zurechenbarkeit nicht beraubt werden, da sie eine Entscheidung zum Bösen ist. Und wenn dies vor Gott geschieht, nennt man sie eine Sünde. So wird der Unschuldige durch die Entscheidung schuldig; und diese Entscheidung, der Sündenfall, ist qualitätsbestimmend. Wie kann ein unwissend Unschuldiger eine Entscheidung treffen, die ihn schuldig macht? Wir erinnern uns an den Vorwurf Kierkegaards hinsichtlich der idealistischen Voraussetzung der Ethik, „daß der Mensch im Besitz der Bedingungen sei“³³. Hier aber geht es genau um den Fall, dass die ersten Menschen nicht im Besitz der Bedingungen waren. Die Bedingung einer zurechenbaren Entscheidung ist vor allem die Freiheit, der sich die ersten Menschen aber nicht bewußt waren. Es muss also etwas vor der Entscheidung psychisch-innerlich geschehen sein, durch das der Mensch sich die Bedingung aneignen konnte, ohne dass die Unwissenheit qualitativ verändert wird, das heißt, ohne dass diese zu einer bewussten Unterscheidung von Gut und Böse wird. Dieses Sich-Aneignen der Bedingung für eine zurechenbare Entscheidung ist mithin das Aufwachen des Freiheitsbewusstseins, während das eigentliche, reflexive Selbstbewusstsein (CAB) erst durch den Sündenfall, durch die Entscheidung hervortritt.³⁴
SKS 4, 343 / BA[R], 37. Gleich danach jedoch bestimmt Kierkegaard den Zustand des Geistes in der Unschuld mit dem hegelianischen Begriff der Unmittelbarkeit: „Die Unschuld ist Unwissenheit. In der Unschuld ist der Mensch nicht als Geist bestimmt, sondern seelisch bestimmt, in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit. Der Geist ist träumend im Menschen“ (SKS 4, 347 / BA[R], 41). SKS 4, 345 / BA[R], 38. SKS 4, 324 / BA[R], 13. Damit wird in BA der Übergang vom Verhältnis I (A – B) zum Verhältnis II (CAB) thematisiert, während dieser in der KT nur systematisch, aber nicht existenzdialektisch dargestellt wird. Vgl. Abschnitt 1.2.6.2.
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu
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2.2.1 Die Selbstintensivierung der Angst vor dem Sündenfall in drei Phasen dargestellt Die Modifikation, die der träumende Geist in der Unschuld bis zum letzten Moment des Aufwachens durchlebt, teilt Kierkegaard in drei aufeinanderfolgende Phasen ein, und zwar: (1) die erste Erscheinung der Angst durch die Dialektik des träumenden Geistes; (2) die konzentrierte Unschuld und die erste Beute der Angst durch das Wort des Verbotes; (3) die Strafandrohung und die Unschuld auf ihrem äußersten Punkt, worauf der unerklärbare freie Sündenfall unmittelbar folgt. Dergestalt betonte Kierkegaard nachdrücklich die Rolle der Angst in diesem ganzen Prozess: „Daß die Angst in Erscheinung tritt, ist dasjenige, worum sich alles dreht“³⁵. Wie vorhin beschrieben, ist in der Unschuld zwar noch kein Selbstverhältnis, aber die Synthesisstruktur des Menschen vorhanden, in der die gegensätzlichen Momente nur zusammengehören, also noch nicht in einen wahren Gegensatz gebracht sind. Diese negative Einheit birgt aber die Möglichkeit einer positiven. Der Geist/das Selbst wirkt hier als ein latentes Moment: Insofern er nun vorhanden ist, ist er in gewissem Sinne eine feindliche Macht; denn er stört ständig das Verhältnis zwischen Seele und Leib, das zwar Bestand hat, aber dennoch insofern nicht Bestand hat, als es ihn erst durch den Geist enthält. Andererseits ist er eine freundliche Macht, die das Verhältnis ja gerade konstituieren will.Welches Verhältnis hat der Mensch denn zu dieser zweideutigen Macht, wie verhält sich der Geist zu sich selbst und zu seiner Bedingung? Er verhält sich als Angst.³⁶
Folglich ist in diesem Zustand doch ein Verhältnis, das sich zwar noch nicht reflexiv zu sich selbst verhält, jedoch eine Art vorreflexives Selbstverhältnis ist: ein Verhältnis des träumenden Geistes zu sich selbst (als Noch-nicht-Sein) und zu seiner Bedingung (der Synthesisstruktur). Da dieses Verhältnis in der Unschuld noch nicht als Wissen anzueignen ist, wird es dem Bewusstsein des Menschen phänomenal als eine Stimmung gegeben. So scheint es schlüssig zu sein zu behaupten, dass Kierkegaard in der Stimmung der Angst ein vorreflexives Selbstbewusstsein entdeckt.³⁷
SKS 4, 349 / BA[R], 44. SKS 4, 349 / BA[R], 44. Arne Grøn äußert sich dazu wie folgt: „In der Angst tritt das Selbstverhältnis hervor, indem es zu einer Art Verdoppelung kommt. Was sich in der Angst zeigt, ist die Möglichkeit, sich selbst zu verhalten (und sich anders zu verhalten), aber die Angst ist bereits selbst eine Weise, sich zu verhalten. Die Angst wird in besonderer Weise zu einer Selbsterfahrung. Man nimmt sich als den wahr, der sich in Angst verhält“ (Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, S. 27). Es wird hier aber eher
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Nun ist die Unschuld auf ihrer Spitze. Sie ist Unwissenheit, aber keine tierische Brutalität, sondern eine Unwissenheit, die geistbestimmt ist, die aber gerade Angst ist, weil ihre Unwissenheit eine Unwissenheit von Nichts ist. Hier gibt es kein Wissen von Gut und Böse usw.; sondern die ganze Wirklichkeit des Wissens projektiert sich in der Angst als das ungeheure Nichts der Unwissenheit.³⁸
Dieses vorreflexive Selbst-Ahnen in der Angst hat also nur einen phänomenalen, aber keinen kognitiven Gehalt. Die Unschuld bleibt trotz des Angsthabens unwissend, und genau diese Unwissenheit wird dem Menschen „ungeheuer“, weil sie eine Projektion von dem ist, was werden soll. In dieser Stimmung der von nichts wissenden Angst wird der unschuldige Mensch rezeptiv für alles, was diese Stimmung auslösen kann. Der nächste Auslöser der Angst ist im Falle Adams das Wort des Verbotes: „Nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen“³⁹. Dieses Wort ist dem unwissenden Adam als der erste kognitive Inhalt seines Bewusstseins gegeben. Darin wird ein Verbot, das heißt ein Befehl in seiner negativen Form, ausgedrückt. Dieses ist an sich ein Sprechakt⁴⁰, in dem vorausgesetzt wird, dass der Hörende einerseits imstande ist, das Befohlene/Verbotene durchzuführen, andererseits dieses Wort als einen Befehl/ein Verbot wahrnimmt. Dazu muss man aber zuvor der Unterscheidung von Gut und Böse gewahr werden, was aber erst durch den Sündenfall (durch den Genuss vom Baum der Erkenntnis) geschehen wird. Die einzige Wirkung des Verbotes auf Adam ist deshalb, dass seine Angst „ihre erste Beute“ erhält: „anstelle von Nichts hat sie ein rätselhaftes Wort erhalten“⁴¹, das er in seiner Unwissenheit nicht verstehen kann. In der Angst ist nun eine Möglichkeit dem unwissend-unschuldigen Bewusstsein erschlossen: Es ist nicht diese oder jene konkrete Möglichkeit, sondern überhaupt die Möglichkeit zu können:
ein allgemeiner Hinweis auf die Angsterfahrung gegeben, wobei kein Unterschied zwischen einem reflexiven und irreflexiven Selbstbewusstsein gemacht wird, während jedoch für den natürlicheinheitlichen Zustand der Unschuld charakteristisch ist, keine Reflexion in sich zu haben. SKS 4, 349 – 350 / BA[R], 44. SKS 4, 350 / BA[R], 44. Beachtenswert ist, dass der Begriff „Sprechakt“ schon bei Friedrich Schleiermacher in seiner Hermeneutik thematisiert wird. Dort wird dem „Sprachgesetz“ gegenüber der „Akt des Sprechens“ konzeptualisiert, den der Hörende „psychologisch, nämlich unter Beachtung des sich ‚stetig entwickelnden Geists‘ des Redenden“ verstehen soll (vgl. Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., völlig neu bearbeitete Ausgabe des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler, Basel: Schwabe Verlag 1971– 2007 [HWPh], Bd. 9 (Se– Sp), S. 1537). SKS 4, 350 / BA[R], 44.
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu
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Das Verbot ängstigt ihn, weil das Verbot in ihm die Möglichkeit der Freiheit weckt. Was als das Nichts der Angst an der Unschuld vorüberging, das ist nun in ihn selbst hineingekommen und ist hier wieder ein Nichts, die ängstigende Möglichkeit zu können.Was er eigentlich kann, davon hat er keine Vorstellung; denn sonst setzt man ja, wie es im allgemeinen geschieht, das Spätere, den Unterschied zwischen Gut und Böse, voraus. Nur die Möglichkeit zu können ist da, als eine höhere Form von Unwissenheit, als ein höherer Ausdruck von Angst, weil es in einem höheren Sinne ist und nicht ist, weil er es in einem höheren Sinne liebt und flieht.⁴²
Durch das Wort des Verbots wird der Unschuldige quantitativ verändert: Er ist immer noch unwissend darüber, was er kann; doch seine Freiheit ist ihm als eine vage Möglichkeit erschlossen. Diese verkörpert sich in einer intensiveren Stimmung der Angst, die nicht mehr eine völlig unbestimmte Angst ist, sondern eine Angst vor der eigenen Freiheit, vor dem allgemeinen Sein-Können. In den letzten Zustand der Unschuld bringt ihn ein weiteres Wort: die Strafandrohung des Sterben-Könnens, die den Unschuldigen entsetzt. Da aber das Sterben-Können als eine noch nicht erlebte Möglichkeit dem Bewusstsein gegeben ist, hat sich die Unwissenheit nicht an Qualität geändert. Nur die Angst wird intensiver, da nun eine bestimmte Möglichkeit als ihr Gegenstand hervortritt: die Möglichkeit zu sterben. Die unendliche Möglichkeit zu können, die durch das Verbot geweckt wurde, rückt jetzt dadurch näher, dass diese Möglichkeit als ihre Folge eine Möglichkeit aufweist.⁴³
Aus der Möglichkeit zu können folgt also die Möglichkeit zu sterben. Die Freiheitsangst wird nun zur Todesangst, obwohl vor dem Sündenfall weder die Freiheit noch der Tod verständlich waren. So stand Kierkegaards Adam – ganz unschuldig und verwirrt – im Paradies voller Angst vor dem, was geschehen könnte. Dies war sein letzter Augenblick vor dem eigentlichen Sündenfall. Wenn wir mit Kierkegaard die Schlange und die Frau als Strukturmomente des Mythos, als dessen eigene Sprache und die Verführung als aus dessen eigenem Willen⁴⁴ verinnerlichen, dann war dieser ängstliche Moment der letzte psychologische Zustand Adams vor dem, was er aus eigener Freiheit in die Welt gebracht hat, und zwar das, was nicht sein soll, nämlich die Sünde. In dieser Angst ist ihm seine
SKS 4, 350 / BA[R], 45. SKS 4, 350 / BA[R], 45. „Der Mythos läßt dasjenige äußerlich vor sich gehen, was innerlich ist“ (SKS 4, 352 BA[R], 47). Mithin können alle Einflüsse auf die Entscheidung in der Bibelerzählung als innere Szene interpretiert werden, und die Frau – als die erste Derivation vom ersten Menschen – ist auch nur für die eigene Sünde verantwortlich (vgl. SKS 4, 352 ff. / BA[R], 47 ff.).
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Freiheit im unbestimmtesten Sinne erschlossen als „Möglichkeit für die Möglichkeit“⁴⁵, sodass er sich die Bedingung „zu können“ aneignet, ethisch zurechenbare Entscheidung zu treffen. Durch diese Entscheidung wird die unmittelbare Einheit von Leib und Seele zerbrochen, denn diese ist zugleich die Selbstbehauptung des Geistes in seinem reflexiven Verhältnis zu sich selbst. Es ist nur durch den „Genuß vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“, dass der Mensch endlich zum Mensch wird, nämlich zum eigentlichen Selbstverhältnis (CAB) und zum Bewusstsein seiner Bedingung zugleich endlich und unendlich zu sein. Diese Bedingung bringt den Menschen zur Verzweiflung. Dadurch wird er aber auch erst beauftragt, zu sich selbst zu werden bis zur Selbstvervollkommnung, in der er ganz durchsichtig er selbst sein will in der Macht, die sie gesetzt hat. Nur dort werden alle Ängste und Verzweiflungen überwunden.
2.2.2 Die Charakterisierung der Angst in der Unschuld Nun kehren wir – nach Exegese der Psychologie Adams – zu Kierkegaards Bestimmung der Angst zurück, um die sich „alles dreht“. Wie im letzten Abschnitt dargelegt, besteht eine gelungene psychologische Erklärung darin, eine Zwischenbestimmung geben zu können, die zweideutig genug ist, zwischen dem Zustand „vorher“ und „nachher“ die Bestimmungskräfte der Einflüsse auf die Entscheidung zu kompensieren und ins Gleichgewicht zu bringen, sodass die Entscheidung trotz aller inneren (Disposition, Naturanlage und Hang) und äußeren (Verbot, Befehl, Konkupiszenz) Motivationen des Entscheidenden in Freiheit geschieht.⁴⁶ Da Adam im Zustand der unwissenden Unschuld – selbst in den verbietenden und drohenden Worten – kein kognitiver Inhalt zur Verfügung steht, besteht die einzige Bestimmungskraft in seinem natürlichen Zustand der Unmittelbarkeit, in der der Geist träumt und aufzuwachen droht. Es ist seine Wesensbestimmung als Mensch, dass er zu sich selbst werden muss: In diesem Zustand ist Friede und Ruhe; aber es ist zu gleicher Zeit etwas anderes da, das nicht Unfriede und Streit ist; denn es ist ja nichts da, womit sich streiten ließe. Was ist es denn? Nichts. Welche Wirkung aber hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, dass sie zu gleicher Zeit Angst ist. Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, dieses Nichts aber sieht die Unschuld ständig außerhalb ihrer.⁴⁷
SKS 4, 348 / BA[R], 42. Vgl. Abschnitt 2.2.1. SKS 4, 347 / BA[R], 41 f.
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu
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Dieser mysteriöse Absatz darf nicht wortwörtlich ausgelegt werden, da man sofort auf Selbstwidersprüche stößt. Die Angst in der Unschuld ist also nicht ex nihilo, sondern besteht immer schon in der Wesensbestimmung des Menschen als interesse. Sie ist dem Menschen von Geburt an disponiert, also viel früher als dass der Verstand in Kraft tritt. Deswegen ist es „das tiefe Geheimnis der Unschuld, dass sie zu gleicher Zeit Angst ist“. Angst ist das Verhältnis des Geistes zu sich selbst und zu seiner Bedingung, bevor er als das Dritte die ursprüngliche Einheit von Leib und Seele zerbricht, diese gegeneinander setzt und wieder synthetisiert. Das Nichts ist als das Noch-nicht-Sein des Geistes zu verstehen. Denn: Die Wirklichkeit des Geistes zeigt sich ständig als eine Gestalt, von der seine Möglichkeit gelockt wird, die aber verschwunden ist, sowie er nach ihr greift, und ein Nichts ist, das nur ängstigen kann. Mehr kann sie nicht, solange sie sich lediglich zeigt.⁴⁸
Die Angst der Unschuld ist demnach der psychologische Zustand des Menschen vor dem Aufwachen des reflexiven Selbstbewusstseins. Vor dem Aufwachen, das heißt der Selbstsetzung des Geistes in seine Wirklichkeit, wird deren Möglichkeit in der Angst erahnt. Es ist die Vorahnung einer Qualitätsänderung, die nicht unbedingt im Bewusstsein vorkommen muss, weshalb Kierkegaard am Ende seiner Monographie weiterhin betont, dass man zu ängstigen lernen soll. Zwischen dem Noch-nicht-Sein/Möglich-Sein des Geistes und der Angst besteht kein kausales Verhältnis. Vielmehr bildet die Wesensbestimmung des Menschen die Möglichkeitsbedingung des Angsthabens, denn im Vergleich zum Tier gehört die Angst dem menschlichen Kind wesentlich an. Zwischen dem Geistsein und dem Angsthaben gibt es ein proportionales Verhältnis: „je weniger Geist, desto weniger Angst“⁴⁹. Damit ist die erste Charakterisierung der Angst erzielt: Die Angst ist ein typisch menschliches Gefühl, da sie im Wesen des Menschen gründet. Dies zeigt ebenfalls ihren wesentlichen Unterschied zur Furcht, die auch das Tier haben kann. Den Begriff Angst findet man fast nie in der Psychologie behandelt; ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er von Furcht und ähnlichen Begriffen ganz und gar verschieden ist, dass sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Man wird daher bei einem Tier keine Angst finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist.⁵⁰
SKS 4, 347 f. / BA[R], 42. SKS 4, 348 / BA[R], 42. SKS 4, 348 / BA[R], 42.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Charakteristisch für Furcht ist, einen bestimmten Gegenstandsbezug zu haben. Dass die Angst im Gegensatz dazu keinen oder einen unbestimmten hat, ist eine Schlussfolgerung, die Kierkegaard erst später klärt: „Ebenso wie also das Verhältnis der Angst zu ihrem Gegenstand, zu etwas, das Nichts ist (Der Sprachgebrauch sagt ebenfalls prägnant: sich ängstigen vor nichts), ganz und gar zweideutig ist […]“⁵¹. Anstatt dieser negativen Formulierung hat Kierkegaard der Angst eine ganz positive – zwar stark metaphysische – Bestimmung gegeben, die scheinbar mit der Sache des Gegenstandsbezugs nichts zu tun hat: Die Angst ist also „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“. Wieso bildet dann diese Definition einen starken Gegensatz zu der der Furcht, sodass diese von jener „ganz und gar verschieden“ ist? Laut Kierkegaard ist die Freiheit „niemals möglich; sobald sie ist, ist sie wirklich“⁵². Die Freiheit gehört demnach nicht dem idealen Seinsbereich an, sondern dem realen; sie ist nicht Gegenstand der Spekulation, sondern immer im Vollzug gegenwärtig. Freiheit ist nur, wenn man von ihr Gebrauch macht. So kann ein Wissen um die Freiheit nur ein sogenanntes „existentielles Wissen“⁵³ sein, das nur im Vollzug, also im Gebrauch angeeignet werden kann. In diesem Wissen (in der Unschuld dann: in dieser Unwissenheit) geht es folglich um die „Möglichkeit für die Möglichkeit“, die nicht als eine bestimmte Möglichkeit unter anderen zu verstehen ist, sondern als das Vermögen, diese oder jene Möglichkeit verwirklichen zu können. In der Angst wird also ein vorreflexives Freiheitsbewusstsein als ein nicht verstehbares Wissen um dieses Vermögen erschlossen, um bestimmte Möglichkeiten vollziehen zu können. Solchermaßen bezieht sich die Angst vor allem auf die unverständliche Freiheit zu können. Im Unterschied zur Furcht bildet diese einen Gegenstand im völlig verschiedenen Sinne, da (1) diese sogar als Möglichkeit abstrakt ist und (2) diese Bezogenheit die Angst nicht unbedingt auslösen muss. Im Unterschied zur Furcht steht die Angst überhaupt nicht in der Kausalitätsbestimmung. Sie wirkt nicht als die Reaktion auf einen Stimulus, wird nicht unmittelbar ausgelöst durch den Gegenstand, vor dem sich geängstigt wird. Wie die Furcht von dem ausgelöst wird, wovor sich gefürchtet wird, so stimmt bei der Angst ebenfalls der Gegenstand mit der Ursache in ihrer negativen Form überein: das heißt in Form der Gegenstandslosigkeit und Ursachenlosigkeit im strengsten
SKS 4, 348 / BA[R], 43. SKS 4, 329 / BA[R], 20. Rochol bemerkt, dass es eine schwierige Terminologie sei, da Kierkegaard als Erster die Philosophie, deren Terminologien vor allem aus Abstraktion gewonnen sind, bewusst in die wahre Existenz versetzt. Vgl. Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 212.
2.2 Die Angst im Fall Adams oder: Angst in der ersten Sünde de actu
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Sinne. Dieses Nichts, worauf die Angst sich ständig bezieht, variiert sich im Zustand der Unschuld bereits von dem Noch-nicht-Sein des Geistes über die unverständliche Möglichkeit zu können bis zu einer immer noch unverständlichen Möglichkeit zu sterben als Folge des eigenen Vermögens. Im ganzen Prozess der Selbstwerdung des Menschen wirkt die Angst ständig als ein treuer Begleiter, der dem Menschen dieses Nichts in seinen verschiedensten Varianten zeigt. So ist die Angst überhaupt „das sich vor sich Zeigen der Freiheit in der Möglichkeit“⁵⁴, in dem der synthetisierende Geist zustande kommt und ins Selbstverhältnis tritt. Während sich der kognitive Inhalt der Angst dem Prozess der Selbstwerdung des Menschen anpasst, bleibt der phänomenale Gehalt – das Gefühlte in der Angst – derselbe: Es ist die oben zitierte Charakteristik der „sympathetischen Antipathie und antipathetischen Sympathie“⁵⁵, die die Angst zu einer ausgezeichneten psychologischen Zwischenbestimmung macht. Was gefühlt wird, vergleicht Kierkegaard mit einem „Suchen nach dem Abenteuerlichen, dem Ungeheuren, dem Rätselhaften“⁵⁶ bei den Kindern: Diese Angst ist dem Kind so wesentlich eigen, daß es sie nicht entbehren möchte; wenn sie es auch ängstigt, so fesselt sie es doch mit ihrer süßen Beängstigung.⁵⁷
Mit diesem Vergleich bringt Kierkegaard einerseits die Kindheit eines Menschen mit dem „träumenden Geist“ und ferner mit dem unschuldig-unwissenden Zustand Adams in Parallele und deutet an, dass die Angst mit dem Erwachsenwerden des Kindes zur Schwermut wird, in der die Freiheit sich zutiefst verkörpert.⁵⁸ Andererseits erläutert er anschaulich, was die dialektische Bestimmung abstrakt und trocken ausdrückt, nämlich ein Genussmoment dessen zu sein, wovor sich geängstigt wird, und Abneigung gegen das zu sein, was genossen wird. Genau in diesem abneigend-genießenden Moment, das in sich alle anziehenden und ablehnenden Triebkräfte zu kompensieren vermag, wird über den Sündenfall entschieden: […] wer durch die Angst hindurch schuldig wird, der ist ja unschuldig; denn nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, ergriff ihn, eine Macht, die er nicht liebte, sondern vor der er sich ängstigte; – und dennoch ist er ja schuldig; denn er versank in der Angst, die der
SKS 4, 413 / BA[R], 121. SKS 4, 348 / BA[R], 42. SKS 4, 348 / BA[R], 42. SKS 4, 348 / BA[R], 43. SKS 4, 348 / BA[R], 45.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
dennoch liebte, indem er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideutigeres als das; und deshalb ist diese Erklärung die einzige psychologische […].⁵⁹
Mithin bleibt die Unschuld auch an ihrem äußersten Punkt unschuldig: „Sie steht in der Angst in Verhältnis zum Verbotenen und zur Strafe“⁶⁰ und die psychologische Erklärung bleibt in den Grenzen der Wissenschaft. Diese aus der Wesensbestimmung des Menschen als Synthesisstruktur hervorkommende, außerhalb aller Kausalitätsbestimmung stehende zweideutige Stimmung, also die Angst, ist für Kierkegaard kein „negatives“ Gefühl, zumindest nicht in der Unschuld, denn sie ist „erstens keine Schuld; zweitens ist sie keine belastende Bürde, kein Leiden, das sich mit der Seligkeit der Unschuld nicht in Einklang bringen ließe“⁶¹. Sie ist, an die kantischen anthropologischen Kategorien angelehnt, ein gemischtes Gefühl der Lust und Unlust.Was als Erstes in ihr erschlossen ist, also das Freiheitsbewusstsein und sodann das reflexive Selbstbewusstsein, ist alles andere als negativ. Das Aufwachen des Geistes durch Selbstsetzung erinnert sofort an die allbekannte aufklärerische Idee des Ausgangs des Menschen aus der Unmündigkeit. Während aber bei den Aufklärern diese Unmündigkeit „selbstverschuldet“ ist, wird man bei Kierkegaard gerade durch diesen entscheidenden Ausgang schuldig. Wir werden weiter unten sehen, dass dieser scheinbare Gegensatz sich nicht halten kann, da Kierkegaard diese selbstverschuldete Unmündigkeit ebenfalls so geschildert hat, nämlich nicht als Unschuld bei Adam, sondern als Geistlosigkeit bei den späteren Individuen; also parallel: nicht bei den Kindern, sondern bei den moralisch fähigen Erwachsenen. In diesem Sinne ist die Angst in Kierkegaards anthropologischem Schema, das bereits die Probleme der erst im 20. Jahrhundert errichteten Entwicklungspsychologie thematisiert, ein nicht unwesentliches Moment, insofern gerade durch sie der Mensch Mensch wird.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst oder: die Erbsünde (Angst der Unschuld bei den späteren Individuen) Mit der Sünde de actu meint Kierkegaard sowohl die erste Sünde, die bei Adam die Sündhaftigkeit in die Welt brachte, als auch die erste Sünde bei jedem anderen
SKS 4, 349 / BA[R], 43. SKS 4, 351 / BA[R], 45. SKS 4, 348 / BA[R], 42.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
87
Individuum, die die geerbte Sündhaftigkeit (Sünde de potentia) aus eigener Freiheit in Vollzug bringt. Zwar hat das spätere Individuum „ein Mehr im Vergleich zu Adam und wiederum ein Mehr oder Weniger im Vergleich zu anderen Individuen […], so ist es doch in Richtung auf den Sprung ein ungültiges Mehr“⁶². In beiden Fällen gilt die Stimmung der Angst als der herannahende psychologische Zustand des Menschen, „die letzte Approximation“, in der „das Sich-vorsich-selbst-Zeigen der Freiheit“ als die eigentümlichste – in Kierkegaards Vokabular: die „selbstischste“⁶³ – Möglichkeit erschlossen ist.⁶⁴ Der Unterschied zwischen Adam und seinen Nachfolgern als Individuen besteht darin, dass er weder empfangen noch geboren wird.⁶⁵ Dazu kommt noch der sozial-geschichtliche Zusammenhang, in dem jedes spätere Individuum seinen Anfang nimmt.Wenn wir Kierkegaards Betrachtung von Adams Sündenfall als ein Gedankenexperiment ansehen, in dem ein idealer Fall – ohne zusätzliche störende Bedingungen – untersucht wird, dann wird dieses Experiment um bestimmte Variablen erweitert, während der Untersuchungsgegenstand wesentlich der Gleiche bleibt: das menschliche Individuum. Diese Variablen bilden insgesamt „das allgemeine Mehr der Generation für jedes spätere Individuum im Vergleich zu Adam“⁶⁶. Sie sind die Folge des Generationsverhältnisses, das Kierkegaard als „Derivation“ bezeichnet, das heißt innerhalb eines geschichtlichen Zusammenhangs geboren zu sein. Damit kommt Kierkegaard zum wahren Sinn des „Erbes“ im Begriff der Erbsünde, nämlich dazu, was angeboren ist und den Sündenfall ermöglicht. Die Erbsünde hat Kierkegaard ohne Weiteres mit der Angst in Verbindung gebracht, während er diese Angst von der oben erläuterten Angst, die in der Sünde de actu wirksam ist, unterscheidet: Die Sünde kam in der Angst herein; aber die Sünde führte wieder die Angst mit sich.⁶⁷ Angst bedeutet nun also zweierlei. Die Angst, in der das Individuum die Sünde im Wege des qualitativen Sprunges setzt, und die Angst, die mit der Sünde hereingekommen ist und hereinkommt und die insoweit auch quantitativ in die Welt kommt, jedesmal wenn ein Individuum die Sünde setzt.⁶⁸
SKS 4, 380 / BA[R], 82. SKS 4, 366 / BA[R], 64. SKS 4, 380 / BA[R], 82. Das Gleiche gilt auch für Eva, der ersten Pseudo-Derivation ohne Generationsverhältnis. SKS 4, 376 / BA[R], 77. SKS 4, 358 / BA[R], 55. SKS 4, 359 / BA[R], 56.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Was geerbt wird, ist die Sünde de potentia, die Möglichkeit zur Sünde. Diese wird nun in der Angst gezeigt, die eine Fortsetzung der Angst des ersten Sündenfalls ist, wie im Titel des zweiten Kapitels von BA deutlich aufgewiesen wird. Das allgemeine Mehr, das bei jedem Individuum sich variiert, zeigt sich genau an der „Reflektiertheit“⁶⁹ der Angst der „derivierten Synthese“⁷⁰. Es stellt sich nun die Frage, ob der Sündenfall trotz dieser Variation immer noch dieselbe Grundstruktur (Übergang von Unschuld zur Schuld) besitzt, und eng darauf bezogen ist die Frage, ob die Unschuld des späteren Individuums wegen der Erbsünde schuldiger als die Adams ist. In diesem Zusammenhang lässt sich erst die Reflektiertheit der Angst verstehen, die sowohl kognitiv als auch phänomenal modifiziert ist. Dies wird in dem berühmten „Schwindelvergleich“ thematisiert, der immer dann herangezogen wird, wenn von Kierkegaards Begriff der Angst die Rede ist. Meines Erachtens darf dieser Vergleich aber nicht auf die allgemeine Bestimmung der Angst kontextlos angewandt werden, da er einerseits aus der Unschuld des späteren Individuums hervorgeht und auf den Fall Adam und die sittlich bestimmten Individuen (Angst vor dem Guten/Bösen) nicht mehr zutrifft; andererseits finden sich bei Kierkegaard bereits eine Begrifflichkeit, die eine klare Struktur der Angst aufzeigt und die weit besser als eine schöne Metapher ist. Die Unterscheidung in der Verdoppelung des Angstbegriffs wollen wir untersuchen genauer und der Frage nachgehen, ob diese möglich ist und was sie genau besagt. Aufgrund dieser Untersuchung soll sodann auf die phänomenologische Betrachtung der verschiedenen Angstformen bei Kierkegaard eingegangen werden.
2.3.1 Die postparadiesische Struktur des Angsthabens Um der Zurechenbarkeit willen muss Kierkegaard die Unschuld, die erst durch den freien Sündenfall verloren geht, auch beim postparadiesischen Individuum annehmen. Existenzdialektisch gesehen gilt diese als das sogenannte ästhetische Stadium im Sinne einer vor-ethischen Existenzweise, die entwicklungspsychologisch mit der Existenzweise des Kindes und geistesgeschichtlich mit der des Heidentums zusammentrifft:⁷¹ Im Zustand der Unschuld – und von einem solchen muß ja auch beim späteren Menschen die Rede sein können – muß die Erbsünde die dialektische Zweideutigkeit haben, aus der die
SKS 4, 366 / BA[R], 65. SKS 4, 357/ BA[R], 54. Vgl. hierzu näher 1.3.2.2, c.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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Schuld im qualitativen Sprung hervorbricht. Dagegen wird die Angst in einem späteren Individuum reflektierter sein können als in Adam, weil der quantitative Zuwachs, den das Geschlecht zurücklegt, sich nun in ihm geltend macht.⁷²
Es ist das Vorhandensein der Erbsünde, das die postparadiesische Unschuld charakterisiert, während die Unschuld Adams in reinem Frieden und reiner Ruhe die Angst gebiert. Die Erbsünde ist nun als eine eigentümliche Möglichkeit vorhanden, die als kognitiver Inhalt in der Angst erschlossen ist, weswegen die Angst nun an Reflektiertheit zunimmt. Der Sündenfall als der Übergang vom Zustand vor zum nach bleibt trotz dieser Reflektiert transzendent und sprunghaft, denn: Diese Reflektiertheit ist ein Prädisponieren, das dennoch, bevor das Individuum schuldig wird, wesentlich betrachtet, nichts bedeutet, während es, wenn das Individuum durch den quantitativen Sprung schuldig wurde, die Voraussetzung ist, in der das Individuum über sich selbst hinausgeht, weil die Sünde sich selbst voraussetzt, natürlich nicht, bevor sie gesetzt ist (das würde Prädestination bedeuten), sondern sich voraussetzt, indem sie gesetzt ist.⁷³
Die Erbsünde als Sünde de potentia, die sich in der reflektierteren Angst verkörpert, ist also als Voraussetzung der Sünde eine Disposition im Sinne des kantischen „Hangs zum Bösen“, aber keine Destination im Sinne einer notwendigen Bestimmung. Damit wird sowohl das Generationsverhältnis (das Erbe) wie auch die Ursprünglichkeit jedes Einzelnen (die Sünde de actu) gesichert. Diese reflektierte Angst, die Verkörperung der Erbsünde, hat Kierkegaard mit seinem bekannten Schwindelvergleich veranschaulicht. Diese unter anderen beliebte Stelle bei Kierkegaard wollen wir im Folgenden zur genauen Betrachtung heranziehen: Angst lässt sich mit Schwindel vergleichen. Kommt jemand dahin, dass sein Auge in eine gähnende Tiefe hinuntersieht, so wird ihm schwindelig. Aber was ist der Grund, es ist ebenso sehr sein Auge wie der Abgrund; denn gesetzt, er hätte nicht hinuntergestarrt. So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. […] Im selben Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann.⁷⁴
Wenn es hier um die „derivierte Synthese“ geht, die der Geist setzen soll, ist der träumende Geist der Unschuld nicht mehr eine bloße Projektion des unwissenden
SKS 4, 357 / BA[R], 54. SKS 4, 366 / BA[R], 65. SKS 4, 365 f. / BA[R], 64.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Nichts, sondern hat gewissermaßen eine Ahnung davon, was vor sich geht. Dieses Nichts wird nun vor Augen geführt als eine „gähnende Tiefe“, als ein bodenloser Abgrund. Durch das Hinunterblicken – wir erinnern uns an die dynamischen Momente der Existenzdialektik – tritt die Phantasie in Kraft und löst in dieser Situation den Menschen von seiner unmittelbaren Daseinsbestimmtheit. Die Synthese und die darin enthaltenen Gegensätze sind nun „vor Augen“: auf der einen Seite die unendlich-unerschöpfliche Möglichkeit zu können; auf der anderen die Endlichkeit, die eine scheinbare Geborgenheit anbietet – man könnte daran „festhalten“: jedoch nur um den Preis der eigenen Freiheit. Das Dialektische in diesem Prozess ist gerade, dass die Freiheit lediglich dann in Kraft tritt, wenn sie missbraucht wird, also dazu, sich unfrei zu machen. So hat Kierkegaard seine Bestimmung der Angst um eine weitere Charakteristik vervollständigt: die Selbstverstrickung in der Freiheit. Die Angst ist keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch nicht der Freiheit; sie ist eine verstrickte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern verstrickt, nicht in die Notwendigkeit, sondern in sich selbst.⁷⁵
Es ist also eine ohnmächtige Freiheit, die hier zutage tritt. Trotzdem ist diese die eigene – oder mit Heideggers Vokabular: die jemeinige – Freiheit, die eigenste Bedingung für ein zurechenbares Selbstverhältnis. Da die Angst die Bestimmung der in sich selbst verstrickten Freiheit ist, zeigt sich diese eben gerade in dem, was in der Angst gefühlt ist: das ambige Gefühl der „antipathetischen Sympathie und sympathetischen Antipathie“. Im Vergleich zur Angst der ersten Sünde, in der ganz abstrakt der Geist zugleich als eine freundliche wie als eine feindliche Macht aus dem träumenden Nichts zu erwachen droht, gewinnt die süße Beängstigung hier für ihre Lust und Unlust eine gewisse Konkretion: Während das Freiheitsbewusstsein sich erschließt, wird jetzt dem Freiseinkönnen gegenüber zugleich ohnmächtig (antipathetisch) wie auch selbstsüchtig (sympathetisch) gefühlt: Wer in Angst schuldig wird, der wird in einem so zweideutigen Sinne schuldig wie möglich. Angst ist weibliche Machtlosigkeit, in der die Freiheit ohnmächtig wird; psychologisch gedacht, geht der Sündenfall immer in Ohnmacht vor sich; aber die Angst ist zugleich das Selbstischste, und keine konkrete Äußerung der Freiheit ist so selbstisch wie die Möglichkeit zu jeder Konkretion. Das ist wieder das Überwältigende, von dem das zweideutige, sympathetische und antipathetische Verhältnis des Individuums bestimmt wird. In der Angst ist die selbstische Unendlichkeit der Möglichkeit, die nicht lockt wie eine Wahl, sondern mit ihrer süßen Beängstigung bestrickend ängstigt.“⁷⁶
SKS 4, 354 / BA[R], 50. SKS 4, 366 / BA[R], 64.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
91
Hier liegt meines Erachtens genau der Anschlusspunkt der KT an BA, wo aus dem ohnmächtigen Nicht-sich-selbst-sein-Wollen beziehungsweise aus dem selbstsüchtigen Sich-selbst-sein-Wollen die Verzweiflung hervortritt. Die Angst unterscheidet sich also ganz deutlich von der Verzweiflung in ihrer eigentümlichen Zweideutigkeit, weswegen sie laut Kierkegaard die einzige Stimmung ist, die als Zwischenstimmung auf die Entscheidung wirken kann; während die Verzweiflung als die Folge der Entscheidung ganz eindeutig eine Seite bevorzugt, woraus das Missverhältnis im Selbst entsteht. Wenn wir uns an dieser Stelle an Fahrenbachs These erinnern, dass das Bewusstsein existenzdialektisch gesehen wesentlich ein Willensmoment enthält und – wenn dieses immer ein Wille in Bezug auf das Selbst ist –, Selbstbewusstsein ist, dann können wir aus der zitierten Stelle schließen, dass genau in dieser zweideutigen Angst das Selbstbewusstsein mit dem ohnmächtig-selbstsüchtigen Freiheitsbewusstsein zum Vorschein kommt. Es ist nicht mehr das vorreflexive Bewusstsein davon, was man außer der natürlichen Einheitlichkeit von Leib und Seele noch sein könnte. Vielmehr wird in der reflektierten Angst des späteren Individuums die Situation des inter-esses aufgezeigt, aus der entschieden wird, ob das Selbst gesetzt werden soll, das heißt, ob es zu sich selbst werden soll. Hier wird die Selbstwerdung als Aufgabe gesetzt und das ästhetische Leben ins Ethische durchbrochen. Später sehen wir in KT, dass die Entscheidung in beide Richtungen in ein Misssverhältnis führen muss und folglich Sünde ist, wenn das Selbstseinwollen nicht im richtigen Gottesbezug steht und ihm deswegen die Durchsichtigkeit fehlt. Diese Einsicht findet ihre Resonanz bereits in der sogenannten Angst vor dem Guten in der Angstabhandlung. Mit der These, dass in der schwindelnden Zweideutigkeit der Angst das spätere Individuum die Sünde de potentia, die durch Adams Sündenfall herbeigeführt wurde, in actu gesetzt und somit das Selbstbewusstsein reflexiv und das Selbstsein teleologisch gesetzt wird, argumentiert Kierkegaard gegen die allgemeinen Aussagen seiner Zeitgenossen über die Sünde, nämlich dass die Sünde aus dem Selbstischen zu erklären sei.⁷⁷ In diesem Zusammenhang fügt er weitere Argumente hinzu, nämlich (1) dass die sinnlich-leibliche Seite des Sündenfalls in der abstrakten Betrachtung der Sünde als das Selbstische vernachlässigt werde, (2) dass die Sünde zu keiner allgemeinen Kategorie, sondern zum Einzelnen als Einzelnen gehöre und (3) dass unter dem Selbstischen nicht zwischen der Sünde de actu und der Sünde de potentia unterschieden werde:⁷⁸ Er kommt zum Schluss, dass diese Erklärung die Sache verkehre, „denn das eigentliche ,Selbst’ ist erst im
SKS 4, 380/ BA[R], 82. Vgl. SKS 4, 380 – 382 / BA[R], 82– 84.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
qualitativen Sprung gesetzt. Im vorhergehenden Zustand kann davon nicht die Rede sein.Will man daher die Sünde aus dem Selbstischen erklären, so verwickelt man sich in Unklarheiten, da das Selbstische umgekehrt erst durch die Sünde und in der Sünde zustande kommt.“⁷⁹ Hier ist es nötig, auf das Nichts der Angst, das laut Kierkegaard „immer mehr zu Etwas wird“, ohne dass es jedoch „wirklich zu Etwas wird oder wirklich Etwas bedeutet“⁸⁰, näher einzugehen. Als „Gegenstand der Angst“⁸¹ ist es also „ein Complexus von Ahnungen, die sich in sich selbst reflektieren, dem Individuum immer näher kommen, obwohl sie, wesentlich gesehen, in der Angst dennoch wieder nichts bedeuten; aber wohlgemerkt nicht ein Nichts, mit dem das Individuum nichts zu tun hat, sondern ein Nichts, das mit der Unwissenheit der Unschuld eine lebendige Kommunikation unterhält“⁸². Da das Nichts der Angst bei Kierkegaard außergewöhnlich viele Sinnschichten hat, wollen wir genau wissen, zu welcher Schichte dieses Nichts, das zu Etwas wird, gehört. Im letzten Abschnitt habe wir verschiedene Aspekte in Bezug auf die Angst unterschieden: den Gegenstand (die Möglichkeit zu können oder eine bestimmte Möglichkeit), den Auslöser (das Verbot beziehungsweise die Strafandrohung) und die Möglichkeitsbedingung (die Wesensbestimmung des Menschen). Obwohl Kierkegaard an dieser Stelle ausdrücklich vom Nichts als „Gegenstand der Angst“ spricht und das Etwas, das das Nichts nun allmählich wird, „die Erbsünde stricte sic dicta“ bedeuten lässt, wäre es doch zu einfach zu sagen, dass es hier um eine Angst vor der Erbsünde geht. Was die Erbsünde hier genau besagt, zeigt sich an dem „allgemeinen Mehr“, das das Generationsverhältnis mit sich bringt. Aufgrund der anthropologischen These, die wir im vorhergehenden Kapitel erläutert haben, dass der Mensch zugleich Individuum und Gattung ist und damit das Generationsverhältnis in seiner Wesensbestimmung eingeschlossen ist, ist es naheliegend anzunehmen, dass die Reflektiertheit der Angst aus dem quantiativen Unterschied des späteren Individuums im Vergleich zu Adam hervorgeht, und zwar infolge der zusätzlichen Variablen in seiner Wesensbestimmung im gattungsgeschichtlichen Zusammenhang sich zu befinden. Dies bezieht sich also nicht auf den Gegenstand, sondern eher auf die Möglichkeitsbedingung der postparadiesischen Angst. Die Plausibilität dieser Annahme und die sich daraus ergebenen Angstformen aus einer psychologisch-phänomenalen Betrachtungsweise gesehen, sollen im Folgenden untersucht werden.
SKS 4, 382 / BA[R], 84 f. SKS 4, 366 / BA[R], 64 f. SKS 4, 366 / BA[R], 64. SKS 4, 366 / BA[R], 65.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
93
2.3.2 Die Angst und die Sünde de potentia – eine psychologisch-phänomenologische Betrachtung 2.3.2.1 Zur Unterscheidung von objektiver und subjektiver Angst Das Erbe, das Adam der Welt hinterlässt, betrifft nicht nur die Welt des Menschen. Die erste Sünde zerbricht nicht allein die ursprüngliche Einheit von Leib und Seele beim ersten Menschen, sondern auch die Einheit zwischen Mensch und Welt. Eine Unterscheidung von Objektivem und Subjektivem kommt – so Kierkegaard – in Adams Unschuldszustand gar nicht in Frage.⁸³ Die Erbsünde ist eine durch die erste Sünde gesetzte Qualität. Diese Qualität bleibt nicht nur in jedem geborenen Menschen als zu verwirklichende Möglichkeit, die sich in der Angst erschließt; sie färbt auch auf die ganze Welt ab: Unter objektiver Angst […] verstehen wir den Reflex jener Sündhaftigkeit der Generation in der ganzen Welt.⁸⁴ Als nun die Sünde in die Welt kam, war das für die ganze Schöpfung von Bedeutung. Diese Wirkung der Sünde im nicht-menschlichen Dasein habe ich als objektive Angst bezeichnet.⁸⁵
Neben dieser rein förmlichen Unterscheidung der subjektiven von der objektiven Seite der Angst hat Kierkegaard die objektive Angst auch noch metaphorisch erläutert, und zwar mit Rückgriff auf das Neue Testament (Röm 8, 19). So spricht er von der „Erwartung der Schöpfung“, vom „Harren und Sehnen“ und vom Ausdruck der „Sehnsucht“ als Angst⁸⁶. Zugunsten einer förmlichen Übereinstimmung mit der subjektiven Angst hat er sogar bei der Naturwelt den „Zustand der Unvollkommenheit“ (der dem Zustand nach dem Sündenfall entspricht) von einem „vorhergehenden Zustand“ (etwa der Unschuld), aus dem „der Erwartende“ (die Naturwelt) nicht zufällig, sondern aus sich selbst heraustritt, unterschieden.⁸⁷ Mit solchen Beschreibungen gerät Kierkegaard aber in die Gefahr des anthropomorphistischen Fehlschlusses, den er bei Schelling bereits kritisiert hatte, nämlich insofern dieser zwischen Metaphysik und Dogmatik keine Grenze gewahrt habe, ein Fehlschluss, der bei Schelling selbst die Grenze zwischen Naturphilosophie und Psychologie verwischt.⁸⁸ Dieselbe Kritik übt er noch wenig später an der zeitgenössischen Naturphilosophie (wohl auch der von Schelling),
SKS 4, 361 / BA[R], 59. SKS 4, 361 / BA[R], 59. SKS 4, 362 / BA[R], 60. SKS 4, 362 / BA[R], 60. SKS 4, 362 / BA[R], 60. SKS 4, 363 / BA[R], 62 (Anm.).
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
in der „das Zentrifugale in der Natur“ mit dem Selbstischen gleichgesetzt wird.⁸⁹ Dass der Begriff einer objektiven Angst Kierkegaard schon immer Schwierigkeiten bereitete, er diese Schwierigkeit auch selbst wahrnahm, infolgedessen mit der weiteren Ausführung abbrach und das Thema an die Dogmatik übergab, hat die Kierkegaard-Forschung einstimmig bestätigt.⁹⁰ Der Grund aber, wieso Kierkegaard diesen Paragraphen in seiner ganzen Argumentation nicht als unnötig empfindet, liegt in einem anderen Bedenken, das zwar auch theologisch im Ursprung, jedoch nicht rein förmlich ist. Ich würde es den umgekehrten Platonismus bei Kierkegaard nennen. Denn er versucht diesen Begriff selbst noch zu verteidigen – was zwar nicht gelungen ist, aber doch zu einer weiteren Problematik führt: Diese Angst in der Schöpfung dürfte sich mit Recht objektive Angst nennen lassen. Sie wurde nicht von der Schöpfung hervorgebracht, sondern dadurch, daß eine ganz andere Beleuchtung auf sie fiel, indem die Sinnlichkeit durch Adams Sünde dazu herabgesetzt wurde, und, insoweit die Sünde weiter in die Welt kommt, ständig dazu herabgesetzt wird, Sündhaftigkeit zu bedeuten.⁹¹
Im Folgenden fügt Kierkegaard eine Überzeugung hinzu, die problematisch ist: Es ist leicht zu sehen, daß diese Auffassung auch insofern ganz bei der Sache ist, als sie die rationalistische Anschauung pariert, daß Sinnlichkeit als solche Sündhaftigkeit sei. […] Im Quantitieren des Geschlechtes (also unwesentlich) ist die Sinnlichkeit Sündhaftigkeit; im Verhältnis zum Individuum ist sie es nicht, ehe das Individuum nicht selbst, indem es die Sünde setzt, wiederum Sinnlichkeit zu Sündhaftigkeit macht.⁹².
Es geht hier also darum, eine Sündhaftigkeit auch ohne individuelle Teilnahme denken zu wollen, die mit der Sinnlichkeit – als einem Naturphänomen – gleichzusetzen ist, jedoch nur insofern diese Gleichsetzung lediglich auf die
SKS 4, 381 / BA[R], 83. Dietz merkt zu Recht an, dass die Angst kein Naturphänomen, sondern ein Freiheitsphänomen sei und dass die Natur bei Kierkegaard im Sinne Kants gedacht werde (vgl. Dietz, Sören Kierkegaard, S. 295 – 297). McCarthy hat die Unterscheidung zu der in der Nachschrift in Parallele gezogen und schreibt, dass das Objektive bei Kierkegaard wie immer nur förmlich als Vorbereitung für die zentralen Gedanken über das Subjektive konzipiert sei, weswegen die Diskussion darüber fast gezwungen erscheine: „This is perhaps the weakes part of The Concept of Anxiety, for it is a section whick is seemingly taken up out of necessity, handled briefly and ended abruptly, as the author acknowledges“ (Vincent A. McCarthy, The Phenomenology of Moods in Kierkegaard, S. 41). Beide Autoren insistieren auf die psychologische Natur der von Kierkegaard konzipierten Angst. SKS 4, 363 / BA[R], 61. SKS 4, 363 / BA[R], 61 f.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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Gattung bezogen ist. Sie ist ein sogenanntes „Urbild“ der individuellen Sünde, die sich in der Sinnlichkeit allgemein verkörpert, die aber nur dann für das Individuum sündhaft ist, wenn dieses Urbild individualisiert wird, also durch den Sündenfall. Das Antiplatonische an diesem Gedanken ist, dass nur das Individuelle das Wirkliche, das Qualitative und das Wesentliche ist. Dass die Sinnlichkeit – gleichgültig in welchem Sinne – sündhaft sei, ist eine theologisch fundierte, philosophisch allerdings nur schwierig zu begründende Idee. Prekär wird dies auch, wenn Kierkegaard versucht, diese Idee mit dem Begriff der Angst zusammenzubringen, der psychologisch-anthropologischer Natur ist. Solche Schwierigkeiten kommen überall dort vor, wo Kierkegaard seine Gedankenführung mit dogmatischen Einstellungen beginnt. Dies bringt ihn immer wieder in Gefahr, den von ihm selbst kritisierten Einstellungen nahezukommen, beziehungsweise wie McCarthy schon ganz mit Recht äußerte: In terms of the dogmatic considerations, objective anxiety becomes a way of making Adam at least responsible for something and giving him some historic-metaphysical role in the history of the race, while at the same time safegarding his position within the race. (Adam, by the first sin, is responsible for objective anxiety in the world, which each individual increases by sin.)⁹³
Mit dieser Distinktion verliert aber die Aussagekraft von Kierkegaards Gedankenexperiment über Adam als Prototyp des Menschen an Bedeutung. Er ist zwar für das Zustandekommen der Erbsünde verantwortlich, dies hat jedoch für die Nachfolger keine qualitative Bestimmung. Man müsste ihm im Vergleich zu den späteren Individuen (quantitativ) mehr Sünde zuschreiben, was Kierkegaard jedoch nicht akzeptieren würde. Er würde noch weniger akzeptieren, dass die Sündhaftigkeit bei Adam schon disponiert ist, denn in diesem Falle würde Gott diese Disposition geschaffen haben. Das Dilemma liegt darin, dass die Sünde de potentia vorhanden ist, wie eine platonische Idee (für die spätere Individuation), jedoch nicht in der Weise sein soll wie eine platonische Idee, denn sie ist die Folge der ersten Sünde und muss ethisch gesehen berichtigt werden. Um aus diesem Dilemma herauskommen zu können, müsste Kierkegaard entweder bei Adam die Sünde de potentia voraussetzen, oder doch den Gedanken beiseitelassen, dass Sinnlichkeit, allgemein gesagt (auch für die nichtmenschliche Welt), Sündhaftigkeit bedeutet. Später werden wir bei Heidegger sehen, wie dieser die Kerngedanken Kierkegaards übernimmt, deren theologische Prämissen jedoch völlig außer Acht lässt. Diese Säkularisierung des Begriffs der Angst führt erst zur all-
McCarthy, The Phenomenology of Moods in Kierkegaard, S. 41.
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gemeinen Rezeption der Angst als eines philosophisch-relevanten Begriffs oder gar als Kernbegriff der Existenzphilosophie. Nach dieser Diskussion und Abgrenzung wollen wir im Folgenden nur von der Angst im Sinne der subjektiven Angst sprechen.
2.3.2.2 Die Angst des Erotischen In seiner Ausführung zur subjektiven Angst, in der das spätere Individuum seine Unschuld selbstverschuldet verliert, untersucht Kierkegaard die zusätzliche Möglichkeitsbedingung der postparadiesischen Angst unter zwei verschiedenen Aspekten: der Wirkung des Erotischen und der des historischen Zusammenhangs auf den Einzelnen. Dass die Gattungsgeschichte von einer funktionierenden Sexualität abhängt, gehört zu jedem Individuum als dessen Wesensbestimmung. Aufgrund der sexuellen Verschiedenheit von Mann und Frau aber wirkt diese in verschiedenen Formen der Angst. Die Intensität der Angst ist proportional zur Sinnlichkeit des Menschen, die in der Synthesisstruktur ständig das störende Moment des Geistes ist. Indessen ist stets festzuhalten, dass beide Geschlechter trotz ihrer Unterschiede wesentlich gleich sind und dass der synthetisierende Geist und die Aufgabe der Selbstwerdung jedem Individuum, egal ob Mann oder Frau, wesentlich zugehörig sind. Erst unter dieser Voraussetzung darf man die verschiedenen Angstformen und die dazu gehörende Synthesisstruktur in Mann und Frau untersuchen. Wenn Kierkegaard also annimmt, dass die Frau nur in dem Sinne schwächer als der Mann ist, weil in ihr mehr Sinnlichkeit als im Manne herrscht, dann gründet diese Annahme auf einer Idee der Geschlechterverschiedenheit in der „Verschiedenheit der Synthese“: Wenn in dem einen Teil der Synthese ein Mehr ist, so wird sich infolgedessen, indem der Geist sich setzt, die Kluft des Unterschiedes vertiefen; und die Angst wird in der Möglichkeit der Freiheit einen größeren Spielraum haben.⁹⁴ Schon hier hat die Untersuchung gezeigt, daß das Verhältnis der Sinnlichkeit dem der Angst entspricht. Sobald sich nun das Generations-Verhältnis zeigt, so […] gilt, daß nämlich, indem die Sinnlichkeit in der Generation zugenommen hat, auch die Angst zugenommen hat.⁹⁵
SKS 4, 368 / BA[R], 67. SKS 4, 368 f. / BA[R], 68.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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Es herrscht also ein Ungleichgewicht zwischen den Synthesismomenten, die gegeneinander spielen. Jedes Individuum ist wesentlich eine vom Geist getragene Synthese. Das Verhältnis beider Momente in der Synthese ist aber individuell verschieden. Je mehr Ungleichgewicht (durch den Zuwachs der Sinnlichkeit), desto größer der Spielraum der Freiheit – und dieser zeigt sich als Angst. Die Überzeugungskraft dieser Annahme aber bedarf einer näheren Überprüfung.Wir sehen, dass Kierkegaard erneut – nach dem Schwindelvergleich – in die metaphysische Erörterung einführt, um einen schwierigen Sachverhalt abzuklären: Die Metapher einer „Kluft“ in der Synthese, die Raum schafft für das Freiheitsspiel der Angst, wird von ihm eingeführt. Im Vergleich zur Angst des Adams, die aus der natürlichen Einheit von Leib und Seele hervorgeht, in der die Wirklichkeit der Freiheit sich in einer inhaltslosen Möglichkeit zu können projiziert, wird hier diese Projektion inhaltlich mit einem „Complexus von Ahnungen“ gefüllt, der „mit der Unwissenheit der Unschuld eine lebendige Kommunikation unterhält“⁹⁶. Diese Ahnungen können nur von der größeren Fülle der sinnlichen Wahrnehmungen der späteren Individuen herkommen, die die Waage der Synthesisstruktur auf die endliche, zeitliche und leibliche Seite sinken lässt. Dies führt aber nur dann zu einem Missverhältnis im Selbst, wenn man im Schwindel der Freiheit sich für die Endlichkeit (scheinbare Geborgenheit) entscheidet. Die Kluftmetapher besagt also eine biologische beziehungsweise geschichtliche Bedingtheit, die nur dann auf das Individuum wirkt, wenn der Geist sich davon bedingen lässt. Daraus können wir auf eine weitere Charakteristik der Angst schließen, die aber nur das Individuum im konkreten geschichtlichen Zusammenhang betrifft: nämlich dass die Intensität der Angst mit der Sinnlichkeit in einem direkten Verhältnis steht. Dies widerspricht aber weder dem oben behaupteten Verhältnis der Angst zum Geist⁹⁷, noch unserer Interpretation der Zweideutigkeit der Angst, dass in dieser verschiedene Wirkkräfte zur Entscheidung kompensiert werden. Dass die Angst in einem Verhältnis zum Geist steht, ist eine Aussage in Bezug auf den qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier und auf die verschiedenen Phasen der Selbstwerdung eines Individuums. Das Verhältnis bezieht sich hier aber auf die Synthesisstruktur des Menschen als Möglichkeitsbedingung der Angst, die einen quantitativen Unterschied von Individuum zu Individuum hat. Die Wirkkräfte, die sich in der Zweideutigkeit der Angst kompensieren, beziehen sich aber weder auf die Möglichkeitsbedingung der Angst, noch auf den Auslöser, sondern auf das „Wovor“, nämlich den Gegenstand der Angst. Diese strukturelle
SKS 4, 366 / BA[R], 65. SKS 4, 347 / BA[R], 42.
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Verschiedenheit, die wir in Bezug auf Adams Angst aufzuklären versucht haben, muss ständig festgehalten werden. Denn dasjenige, wovor sich geängstigt wird, ist stets die Möglichkeit der eigenen Freiheit zu können. Die Reflektiertheit der Angst des späteren Individuums hat also mit dem Zuwachs der Sinnlichkeit zu tun, der aus dem historischen Zusammenhang erfolgt. Die Sinnlichkeit der Frau ist im Vergleich zum Manne körperlich bedingt und gehört zum Gegenstand der Physiologie.⁹⁸ Der quantitative Unterschied lässt sich also in zwei Hinsichten allgemein denken: einerseits hinsichtlich des Derivationsverhältnisses, andererseits hinsichtlich der faktisch anzunehmenden sexuellen Verschiedenheit. Der Frau ist mehr angst als dem Mann. […] es liegt […] darin, daß sie sinnlicher ist, und doch wesentlich geistig bestimmt ist, so wie der Mann. […] Angst ist hier stets in Richtung auf die Freiheit zu verstehen.⁹⁹
Die Angst kulminiert bei der Empfängnis und bei der Geburt; in beiden Fällen zeigt sich das Geist-Selbst als das verstrickte Moment: Im Augenblick der Empfängnis ist der Geist am weitesten fort und darum die Angst am größten. In dieser Angst entsteht das neue Individuum. Im Augenblick der Geburt kulminiert die Angst zum zweiten Mal in der Frau, und in diesem Augenblick kommt das neue Individuum zur Welt. […] Wenn die Frau gebiert, befindet sie sich wieder an dem äußersten Punkt des einen Extrems der Synthese, deshalb zittert der Geist, denn er hat in diesem Augenblick keine Aufgabe, er ist sozusagen suspendiert. Die Angst ist indessen ein Ausdruck der Vollkommenheit der menschlichen Natur […].¹⁰⁰
In beiden Formen der Angst, die mit der Fortpflanzung der menschlichen Gattung im Zusammenhang stehen, ist der synthetisierende Geist als ein suspendiertes Moment erschlossen. Er ist „am weitesten fort“, „zittert“, „hat keine Aufgabe“, und lässt die Zweideutigkeit der Angst, in der die Freiheit sich zugleich in Ohnmacht und in Selbstsucht zeigt, in ihrer vollen Kraft wirken. Während diese Angstformen nur die Frau betreffen, zeigt sich dieselbe Angst beim Mann in
Die Sinnlichkeit der Frau hat Kierkegaard mit dem ästhetischen Ideal des Schönen und dem ethischen Ideal der Fortpflanzung in Zusammenhang gebracht (SKS 4, 369 / BA[R], 68). Diese Ausführung bildet ein brillantes Intermezzo für den besagten Gedankengang. An dieser Stelle wollen wir nicht auf die Details seiner Argumentation hinsichtlich beider Ideale eingehen, sondern mit ihm festhalten, dass einerseits die Frau sinnlicher ist und andererseits die Angst in einem Verhältnis zur Sinnlichkeit steht. SKS 4, 370 / BA[R], 70. SKS 4, 376 / BA[R], 76 f.
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verschiedenen Formen des Erotischen, die sich von der Scham über den Trieb bis zur Liebe entwickelt. Die Angst gehört also zu jeder Form der Erotik als ein konstitutives Moment.¹⁰¹ Dass das Erotische auf die Frau und auf den Mann verschieden wirkt, zeigt Kierkegaard anhand des Gedankenexperiments der Verführung auf. Dabei wird deutlich, dass eine männliche Verführung bei der Frau Angst, während eine weibliche Verführung bei dem Mann Scham verursacht, da der Mann „mehr als Geist bestimmt ist“¹⁰². Bei der Schamangst zeigt Kierkegaard, dass das sexuelle Bewusstsein schon vor dem Sündenfall da ist und der Unschuld des Menschen nicht widerspricht. Die Unschuld zeigt sich hier nur als Unwissenheit über die Sexualität. In Abgrenzung zu anderen sexuellen Unwissenheiten bestimmt Kierkegaard die Scham als eine Unwissenheit in der Form eines potentiellen Wissens, die wir als vorreflexives Sexualbewusstsein bezeichnen: Mit der Unwissenheit beginnt ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist. Dies ist der Begriff der Scham.¹⁰³
Im Unterschied zum Tier, das instinktiv handelt, wobei von einem Sexualbewusstsein nicht die Rede sein kann; zum Kind, das physiologisch noch nicht entwickelt ist; und zu einem liebesunfähigen Erwachsenen, den Kierkegaard als „sittlich unwissend“¹⁰⁴ bezeichnet, zeigt sich die Scham nur an einem sexuell mündigen, nicht instinkthaft, sondern mit Bewusstsein und Willen handelnden Menschen als ein vorreflexives Bewusstsein über die eigene Sexualität. In diesem Bewusstsein entdecken wir dieselbe Struktur der Angst wie bei der Empfängnis und dem Gebären der Frau: In der Scham ist Angst, weil der Geist auf der äußersten Spitze der Differenz der Synthese so bestimmt ist, daß der Geist nicht nur als Leib, sondern als Leib mit der geschlechtlichen Differenz bestimmt ist. […] Die eigentliche Bedeutung der Scham besteht darin, daß sich der Geist zu der äußersten Spitze der Synthese sozusagen nicht bekennen kann.¹⁰⁵ Die Angst in der Scham lag darin begründet, daß der Geist sich fremd fühlte. […] Das Sexuelle ist der Ausdruck jenes ungeheuren Widerspruches, daß der unsterbliche Geist als genus [Geschlecht] bestimmt ist. Dieser Widerspruch äußert sich als die tiefe Scham, die ihn verdeckt und es nicht zu verstehen wagt.¹⁰⁶
SKS 4, 375 / BA[R], 75. SKS 4, 371 / BA[R], 70. SKS 4, 372 / BA[R], 72. SKS 4, 372 / BA[R], 72. SKS 4, 372 / BA[R], 72. SKS 4, 373 / BA[R], 73.
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In der Scham hat sich der Geist aus Angst vor seiner eigenen Leibgebundenheit und dessen sexueller Verschiedenheit suspendiert.¹⁰⁷ Von der Möglichkeit geängstigt, dass der eigene Leib sexuell agieren kann, gerät er in die heikle Situation, von dieser Möglichkeit zugleich angezogen und abgeschreckt zu werden. Die Schamangst ist also „ungeheuer zweideutig“ und kann „durch sich selbst erwachen“¹⁰⁸, und sie hat die gleiche Struktur wie die Angst der Unschuld bei Adam¹⁰⁹, nur dass beim Letzteren die Sinnlichkeit/Leiblichkeit noch nicht mit Sexualität gleichgesetzt wurde, da diese Gleichsetzung erst durch Adams Sündenfall geschieht. Das unwissende Wissen über die Sexualität gehört also nur zur postpa-
Diese Angstform hat Walter Schulz ganz zutreffend auf den Punkt gebracht: „Kierkegaard erkennt den Geist im Gegensatz zu Hegel als konkret gebundenen Geist, und das heißt für ihn eben wesentlich, daß der Geist der Geist eines Menschen ist, der sexuelle bestimmt ist. […] Der Geist ist nicht absoluter Geist, er ist nicht vom Leib abgelöst, sondern er wird von ihm ständig bedrängt. Und dieses Bedrängtwerden erzeugt eben die Angst“ (Walter Schulz, „Kierkegaard: Die Leibgebundenheit des Geistes als Quelle der Angst“, S. 394). Die Kritikpunkte an Schulzes Interpretation haben wir oben in Abschnitt 1.2.6.1 des vorliegenden Textes ausgeführt. An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass die Leibgebundenheit des Geistes nicht der Auslöser, sondern die Möglichkeitsbedingung der Angst ist, da sie zur Wesensbestimmung des Menschen gehört. Dies wird aber nur an dem Punkt deutlich aufgezeigt, wo die Angst als das konstitutive Moment des Erotischen fungiert. Die Leibgebundenheit ist aber nicht die allgemeine Gestalt der Angst, wie Schulz annimmt, sondern wegen des Generationsverhältnisses nur die reflektierte Angst des späteren Individuums. Mit anderen Worten: Den Geist, der sich seiner Leibgebundenheit bewusst ist, gibt es bei Adam noch nicht. Das vorreflexive Selbstbewusstsein hat sich nun zum vorreflexiven Sexualbewusstsein gesteigert, wobei die unwissende Unschuld qualitativ dasselbe bleibt. SKS 4, 373 / BA[R], 72. Kierkegaard führt hierzu die Gegenstandslosigkeit und die Unerklärlichkeit der Scham in Parallele zur Angst ein. Leider hat er – wie an manch anderen Stellen – zu vielen Sinnschichten auf einmal Raum gegeben, sodass die Erklärung, in der sehr wichtige Ideen auf den – wohl falschen – Punkt gebracht wurden, weit hergeholt erscheint: „Es findet sich keine Spur von sinnlicher Lust; und dennoch wird Beschämung empfunden, worüber? über Nichts. Und doch könnte das Individuum vor Scham sterben, und verletztes Schamgefühl ist der tiefste Schmerz, weil er der unerklärlichste von allen ist. Deshalb kann die Angst der Scham durch sich selbst erwachen“ (SKS 4, 372 / BA[R], 72). Hier wird also nicht nur die Gemeinsamkeit, sondern auch der Unterschied zur Angst ausgedrückt: Normalerweise kann man nicht „vor Angst sterben“, und ein Angstgefühl kann auch nicht „verletzt werden“. Leider können wir an dieser Stelle das Thema nicht vertiefen. Eines ist jedoch anzumerken, nämlich dass Kierkegaard die Scham nur mit dem Sexualbewusstsein in Verbindung gebracht und die Dimension der Würde nicht angesprochen hat, obwohl in seinem Hinweis auf die Verletzung des Schamgefühls diese Dimension bereits angedeutet wird. Ähnliche Diskussionen liest man in: Mario Jacoby, „Scham-Angst und Selbstwertgefühl“, in Scham – ein menschliches Gefühl, hg. von Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze, Opladen 1997, S. 159 – 168. Und zum Unterschied Scham/Schuld siehe Wolfgang Blankenburg, „Zur Differenzierung zwischen Scham und Schuld“, im selben Sammelband Scham – ein menschliches Gefühl, hg. von Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze, Opladen 1997, S. 45 – 55.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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radiesischen Angst und macht die Reflektiertheit der Angst im Vergleich zu Adam aus. Eigentlich bleibt die Angst in der ganzen erotischen Entwicklung vom Keimen des Sexualbewusstseins (Scham) über den sinnlichen Genuss mit Lust (Trieb) bis zum Einssein mit dem Gegenstand (Liebe) ein konstitutives Moment: In der Scham ist die geschlechtliche Differenz gesetzt, aber nicht im Verhältnis zu ihrem Anderen. Das geschieht im Trieb. Da aber der Trieb nicht Instinkt oder nicht nur Instinkt ist, hat er eo ipso [eben damit] ein τέλος [ein Ziel], nämlich die Propagation, während das Ruhende die Liebe ist, das rein Erotische. Der Geist ist noch immer nicht mitgesetzt. Sobald er gesetzt wird, nicht nur als das die Synthese konstituierende, sondern als Geist, so ist es mit dem Erotischen vorbei.¹¹⁰ Wie nun in der Scham die Angst gesetzt ist, so ist sie in jeglichem erotischen Genuß vorhanden […]. Selbst wenn das Erotische so schön und rein und sittlich zum Ausdruck kommt, wie nur möglich, in seiner Freude ungestört von wollüstigen Reflexionen, so ist die Angst dennoch da, indessen nicht als etwas Störendes, sondern als ein Moment, das dazugehört.¹¹¹
Das Vorhandensein der Angst im Erotischen hat also immerhin damit zu tun, dass der Geist ausbleibt. Zwar wird das unwissende Wissen der Scham durch die sexuelle Erfahrung im Trieb zu einem aktuellen Wissen, das sich in der Liebe verklärt und sublimiert, doch ist dieses Wissen ein existentielles Wissen¹¹², das nicht reflexiv sein muss. Im Erotischen benötigt man die ästhetische Unmittelbarkeit, um genießen zu können. Die Entwicklung der Scham über den Trieb bis zur Liebe bildet die ästhetischen Momente im Prozess der Selbstwerdung, in denen das Selbstsein ausbleibt. Wie oben festgehalten wurde, bleibt der Geist immer mit Reflexivität verbunden und ist gleichzusetzen mit dem reflexiven Selbstbewusstsein, dahingegen wir im Erotischen immer verschiedene Formen des Selbstverlusts als Ausbleiben des Geistes entdecken: Bei der Scham verliert man sich in Verlegenheit¹¹³, dann im sinnlichen Genuss der Lust (Trieb), und schließlich im Geliebten (Liebe). Sobald der Geist sich einsetzt und auf das Erotische reflektiert, wird dieses entweder ironisch neutralisiert (im Heidentum) oder
SKS 4, 373 / BA[R], 73. SKS 4, 375 / BA[R], 75 f. Zum Begriff des existentiellen Wissens vgl. Rochol, „Kommentar des Herausgebers“, in Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 212, Kommentar zur Stelle 37, 12– 17. Hier ist vor allem mit Kierkegaard die sexuelle Scham gemeint, während die Scham als das Selbstwertgefühl den Blick gerade auf das eigene Selbst hinführt.Vgl. hierzu die Diskussion in der Fußnote 378.
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doch suspendiert (im Christentum). Durch die Reflexion wird das Erotische in die Indifferenz gesetzt, in der entweder das Schöne als Gegenstand des geistigen Genusses¹¹⁴ entdeckt wird, oder aber das Komische als Gegenstand der Ironie: Der Ausdruck des Geistes für das Erotische ist daher, daß es zugleich das Schöne und das Komische sei. Hier fällt kein Reflex des Sinnlichen auf das Erotische; denn das bedeutet Wolllust, und das Individuum befindet sich in einem solchen Fall weit unter der Schönheit des Erotischen; sondern es ist die Reife des Geistes. […] Der Sinn ist, daß er das Erotische in Indifferenz gesetzt hat […].¹¹⁵ Im Christentum hat das Religiöse das Erotische suspendiert, […] als das Indifferente, weil im Geist zwischen Mann und Frau kein Unterschied besteht. […] Indem in der Scham dem Geist angst wird und er sich scheut, sich die geschlechtliche Differenz anzulegen, springt die Individualität plötzlich ab; und greift, statt die Differenz ethisch zu durchdringen, nach einer Erklärung aus der höchsten Sphäre des Geistes.“¹¹⁶
Im Erotischen ist folglich immer diese „süße Beängstigung“ vorhanden, da der Geist an dessen Kulmination nicht teilnehmen kann.¹¹⁷ Durch den Genuss der Frucht der Erkenntnis erfährt der erste Mensch nicht nur etwas über den Unterschied zwischen Gut und Böse, sondern auch etwas über die sexuelle Bedeutung der Leiblichkeit. Das alles hat seinen Grund in der Wesensbestimmung des Menschen als Synthesisstruktur, in seiner Aufgabe der Selbstwerdung trotz der Missverhältnisse im Selbstsein, denn „ein vollkommener Geist läßt sich nicht sexuell bestimmt denken“¹¹⁸. Die Aufgabe der Selbstwerdung in Bezug auf das Erotische ist aber nicht ein ästhetisches, sondern ein ethisches Problem. Darin hat der Geist seinen festen Platz.¹¹⁹
Der Widerspruch von Seele und Leib, den der Geist nicht ohne Angst annehmen kann, wird also in der Schönheit als Einheit von Seele und Leib neutralisiert. So wird ein sinnlicher Genuss der ästhetischen Unmittelbarkeit zum geistigen Genuss der bewussten Reflexivität. SKS 4, 373 / BA[R], 73 f. SKS 4, 374 f. / BA[R], 74 f. SKS 4, 376 / BA[R], 76. SKS 4, 382 / BA[R], 85. Bezüglich des Themas des Erotischen beziehungsweise der ehelichen Liebe ist BA selbstverständlich nicht die Hauptreferenz bei Kierkegaard. Das Thema wird vor allem in Entweder/ Oder und in Der Liebe Tun behandelt, die im Rahmen einer Angstabhandlung leider nur am Rande erwähnt werden können. Wenn man darüber mehr erfahren möchte, empfiehlt sich unter anderem die Studie von McCarthy, Kierkegaard as Psychologist und der Klassiker der KierkegaardForschung Kresten Nordentoft, Kierkegaard’s Psychology, übers. von Bruce H. Kirmmse, Pittsburgh: Duquesne University Press 1978.
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2.3.2.3 Die Macht des Beispiels oder: Angst im historischen Zusammenhang Als das Mehr des späteren Individuums im Vergleich zu Adam wirken die beiden Bedingungen – das Generationsverhältnis und das historische Verhältnis – nicht isoliert, sondern sind ständig ineinander verwoben. Der große historische Zusammenhang in Kierkegaards Ausführung ist das Christentum, das im Vergleich zum Heidentum „das Licht eines Gegensatzes“ auf die Sinnlichkeit wirft, das zur „Erhärtung des Satzes führt, daß Sinnlichkeit Sündhaftigkeit sei.“¹²⁰ Denken wir uns nun das spätere Individuum, so hat jedes eine historische Umgebung, in der sich zeigen kann, daß die Sinnlichkeit Sündhaftigkeit bedeuten kann. Für das Individuum selbst bedeutet sie das nicht; aber dieses Wissen bringt der Angst ein Mehr. Der Geist ist also nicht nur im Verhältnis zum Gegensatz der Sinnlichkeit gesetzt, sondern zu dem der Sündhaftigkeit.¹²¹
Kierkegaard spricht von einem „dunklen Wissen“, von der Möglichkeit der Sünde in der christlichen Welt, ein Wissen, das das unschuldige Individuum nicht versteht. Es ist also die falsch interpretierte Erbsündenlehre, die hier erschreckt. Diese wirkt in der christlichen Welt in Form einer Warnung, die dem Individuum den „Anblick des Sündhaften“¹²² verschafft, jedoch oftmals gerade das hervorbringt, wovor gewarnt wird. So wird „in einer mißverstandenen historischen Aneignung“ des historischen Beispiels, das eigentlich nur zur Warnung herangezogen wird, fälschlich geglaubt, dass die Geschichte von ihm selbst erzählt wird, und dabei vergessen, dass man nicht nur zur Gattung gehört, sondern auch über „die individuelle Ursprünglichkeit“¹²³, das heißt die Freiheit, verfügt. Es ist immer die wesentlich gleiche Angst, die das Individuum im Moment vor dem Sündenfall überfällt. Die Warnung bringt das dunkle Wissen hervor, dass in der Sinnlichkeit die Möglichkeit der Sünde liegt. In diesem nicht recht verstandenen Wissen wird die Möglichkeit der Freiheit erschlossen, die sowohl anzieht wie auch abschreckt. Der Schwindel der Freiheit überfällt plötzlich. In dieser ohnmächtigen Ängstlichkeit gewinnt und verliert man zugleich die eigene Freiheit: Im Moment des Durchbruchs der ästhetischen Unmittelbarkeit, in dem die Freiheit als unendliche Möglichkeiten erschlossen wird, gibt man – aus Angst vor einer bestimmten Möglichkeit, das heißt der Möglichkeit des Missbrauchs dieser Freiheit – sie wieder auf. Damit aber gibt man gleichfalls die Möglichkeit auf, selbst zu werden und bleibt den kollektiven Bestimmungen ausgeliefert.
SKS 4, 378 / BA[R], 79. SKS 4, 377 / BA[R], 78. SKS 4, 378/ BA[R], 79. SKS 4, 377 / BA[R], 78.
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Die Angst hat übrigens wieder dieselbe Zweideutigkeit wie immer. In Fällen dieser Art kann es zu einem Maximum kommen, das jedem vorhergehenden, wonach das Individuum die Sünde in der Angst vor der Sünde hervorbringt, analog ist, nämlich, daß das Individuum, in der Angst, nicht schuldig zu werden, sondern, für schuldig gehalten zu werden, schuldig wird. ¹²⁴
Da es hier um den quantitativen Unterschied der Angst geht, spricht Kierkegaard ständig vom „Mehr oder Weniger“, ja schließlich auch vom „Maximum“ der Angst im extremen Fall. Das Maximum der Angst bringt allein schon ein Individuum in Verzweiflung, ins selbstverschuldete Misslingen bei der Selbstsetzung vor Gott, denn „Verzweiflung ist die Sünde“¹²⁵. Bereits aus der Angst vor dem Erwachen des Sexualbewusstseins beziehungsweise aus der Angst vor der (falschen) Gleichsetzung von Sexualität und Sünde wird man ohnmächtig gegenüber dem, was man in sich selbst erkennt: die Synthese von Leib und Seele, von Endlichem und Unendlichem, von Tierischem und Göttlichem. Um das Höchste, das dem Menschen aufgegeben wird, zu erreichen, nämlich im richtigen Selbstverhältnis zu sich selbst sein zu wollen und darin die Durchsichtigkeit im Selbst zu erzielen, muss man zuerst den Schwindel, den das erste Antlitz der Freiheit erbringt, ertragen können und die Ohnmacht des eigenen Selbst überwinden. Dadurch entsteht der Mut, den Gegensatz in sich selbst aufzuheben und zu einer höheren Einheit zu synthetisieren, in der sowohl der Leib wie auch die Seele nicht mehr als Gegensätze, sondern als gleichursprüngliche Strukturmomente aufbewahrt werden. Die Aufgabe ist […] zu erreichen, daß es in die Bestimmung des Geistes eingeht. (Hier liegen alle sittlichen Probleme des Erotischen.) Die Verwirklichung ist der Sieg der Liebe im Menschen, einer Liebe, in der der Geist so gesiegt hat, daß das Sexuelle vergessen ist und der Mensch sich des Sexuellen nur im Vergessen erinnert. Wenn das geschehen ist, so ist die Sinnlichkeit im Geist verklärt und die Angst verjagt.¹²⁶
Doch bevor dies geschieht, muss man noch im wahren – das heißt reflexiven – ethischen Bewusstsein des Unterschieds zwischen Gut und Böse die Angst in übersteigernder Form immer wieder neu erfahren.
SKS 4, 378 / BA[R], 79 f. SKS 11, 191 / KT[R] 73. SKS 4, 383 / BA[R], 85 f.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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2.3.3 Fazit: zur Angst der Unschuld im historischen Zusammenhang und im Vergleich zu Adam Im Anschluss an die obigen Ausführungen können wir nun versuchen, die Frage zu beantworten, die wir anfangs bezüglich der Modifikation der Angst beim späteren Individuum gestellt haben, ferner bezüglich Kierkegaards Unterscheidung verschiedener Angstformen und der Notwendigkeit dieser Unterscheidung. Dass der Prozess des Sündenfalls die gleiche Struktur besitzt, und der spätere Zustand der Unschuld genauso unschuldig wie der des Adams ist, haben wir schon geklärt. Nur die Angst, der psychologische Zustand im letzten Moment vor dem Sündenfall, ist reflektierter. Diese Reflektiertheit zeigt sich in verschiedenen Aspekten: Zwischen der Wesensbestimmung Adams und des späteren Individuum besteht mithin ein quantitativer Unterschied: Die anthropologische These, dass der Mensch wesentlich eine Synthese ist, die vom Geist getragen wird, gilt zwar für beide Fälle; doch beim späteren Menschen geht es laut Kierkegaard um eine „derivierte Synthese“, die sich als ein „Mehr an Sinnlichkeit“ zeigt, die zu einer proportionsmäßig intensivierten Angst führt. Dieses „Mehr an Sinnlichkeit“ liegt in dem Faktum begründet, dass das spätere Individuum im historischen Zusammenhang (hier: das Christentum) geboren wird. Bevor das reflexive Selbstbewusstsein mit dem Freiheitsbewusstsein durch den Sündenfall gesetzt wird, herrschte im Zustand der Unschuld ein vorreflexives Sexualbewusstsein beziehungsweise eine Ahnung des Umstandes, dass die Sexualität zur Sünde führen kann. Diese bildet meines Erachtens die – derivierte – Möglichkeitsbedingung der postparadiesischen Angst. Beide Bedingungen gehören gemäß den Bestimmungen Kierkegaards in den Rahmen der Unwissenheit, die zwar ganz verschiedentlich interpretiert werden können – bei dem einen als existentielle Unwissenheit, beim anderen als Unverständlichkeit der Aussage –, aber doch eine Zentralbestimmung gemeinsam haben, nämlich dass sie die Zurechenbarkeit ausfallen lassen und die Unschuld als solche garantieren. Trotz aller Unterschiede ist die Angst hier immer noch die ästhetisch unmittelbare Angst des Unschuldigen. Sie kann entweder eine Verführung, die sexuell motiviert ist, oder eine Warnung, die vor der aktuellen Sünde über deren Möglichkeit berichtet, auslösen. Der Gegenstand der Angst ist nun nicht mehr die ganz inhaltlose Möglichkeit der Freiheit zu können. Die Freiheit erschließt sich jetzt in der reflektierten Angst als konkrete, jemeinige, das Selbstsein einbeziehende Möglichkeit: Das Erotische als die eigentümliche Möglichkeit des Menschseins wirft einen scharfen Gegensatz auf den Geist; die Möglichkeit de te fabula narratur schreckt den Menschen von der Aufgabe der Selbstbestimmung ab. Dem Individuum schwindelt vor den unendlichen Möglichkeiten der eigenen Freiheit, deren
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Gebrauch beziehungsweise Missgebrauch Konsequenzen für die Selbstwerdung mit sich bringt. Man weiß nichts von den Konsequenzen, aber erahnt sie. In dieser ohnmächtigen Angst vor dem eigentlichen Selbstsein lässt man schließlich mit fataler Logik die Erbsünde sich fortpflanzen, indem man – immer wieder aus eigener Freiheit – die in der Warnung vorgezeigte Möglichkeit, die erst seit Adam möglich ist, in die Wirklichkeit umsetzt. Während die postparadiesische Angst sich von Adams Angst in ihrer Reflektiertheit und Intensivität unterscheidet, wird sie ihrerseits doch verschiedentlich kategorisiert. Während Kierkegaard „die Angst, in der das Individuum die Sünde im Wege des qualitativen Sprungs setzt“, von der Angst, „die mit der Sünde hereingekommen ist […] und quantitativ in die Welt kommt, jedesmal wenn ein Individuum die Sünde setzt“¹²⁷ unterscheidet, bestimmt er die Angst im Verhältnis zur Sünde jeweils als deren Voraussetzung und als deren Folge. Hier geht es also um eine andere Kategorie, die die Reflektiertheit nicht betrifft. Obwohl Kierkegaard in Bezug auf Adams Angst nur von deren Folge als qualitative Bestimmung der Sünde spricht, muss diese Unterscheidung ebenfalls auf Adams Angst angewandt werden können, ansonsten würde er aus der Menschheitsgeschichte herausfallen und zu einer „phantastischen“ Figur werden. Da aber zwischen Angst und Sünde kein Kausalverhältnis besteht, können wir – anstatt von Voraussetzung und Folge – nur von der Angst als begleitenden psychologischen Zustand vor und nach dem Sündenfall sprechen. Es liegt folglich nahe, diese Unterscheidung auch auf die paradiesische Angst anzuwenden, obwohl selbstverständlich auch die Angst Adams nach dem Sündenfall zur postparadiesischen Angst gehört, da er wegen des Sündenfalls aus dem Paradies vertrieben wurde. Mithin fällt unter die Kategorie paradiesische Angst nur noch die Angst der Unschuld bei Adam. Eine weitere Kategorie, durch die die Angst jeweils als objektive und als subjektive bezeichnet wird, geht über die Menschenwelt hinaus und gehört ebenfalls zur postparadiesischen Angst, da erst hier die Subjekt/Objekt-Unterscheidung fällig ist.¹²⁸. So haben wir nun drei Unterscheidungskategorien und darunter fünf Formen der Angst:
SKS 4, 359 / BA[R], 56. SKS 4, 361 / BA[R], 59.
2.3 Die in der späteren Sünde de actu vorausgesetzte Angst
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Aus der Graphik wird ersichtlich, dass 2 und 5 zusammenfallen. Während Kierkegaard die Reflektiertheit der Angst in Bezug auf die Unschuld des späteren Individuums im Vergleich zu Adam angenommen hat, entstehen in Bezug auf die Angst nach dem Sündenfall keine solchen Unterschiede. Eigentlich gilt die Folge des Sündenfalls „von Adam wie von jedem späteren Individuum; denn durch den qualitativen Sprung sind sie vollkommen gleich“¹²⁹. Außerdem müssen 2 und 3 zusammenfallen, da Kierkegaard gerade die objektive Angst als die Folge von Adams Sündenfall versteht.¹³⁰ So wird aus der Angst Adams nach dem Sündenfall ein grotesker Begriff, der sich nicht durchdenken lässt. Da wir oben die Möglichkeit einer objektiven Angst bereits mit guten Gründen abgestritten haben¹³¹, ist es naheliegend, nur die Angstformen, die psychologisch beschreibbar sind und der oben dargestellten Wesensstruktur des Angsthabens entsprechen, einzubeziehen. Daraus folgt die vereinfachte Unterscheidung von drei Angstformen, von denen wir zunächst die dritte zu behandeln haben:
SKS 4, 414 / BA[R], 121. SKS 4, 362 / BA[R], 60. Siehe Abschnitt 2.3.2.1
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders Dass die Angst nach dem Sündenfall noch weiter besteht, ist für Kierkegaard eine Aporie, die es zu bewältigen gilt. Das Aporetische besteht in seiner existenzdialektischen These, dass in einer dialektischen Bewegung die Möglichkeit aufgehoben und die Wirklichkeit gestiftet wird. Der Sündenfall ist eine solche Bewegung, in der die Möglichkeit der Freiheit, vor der der Mensch sich ängstigt, durch den Missbrauch dieser Freiheit in die Wirklichkeit der Sünde verwandelt wird. Dass die Angst ihren Gegenstand verliert, ist ein guter Grund dafür, dass sie selbst auch erlischt. Kierkegaard führt zwei Argumente gegen die Erlöschung der Angst mit dem Sündenfall an: Einerseits sei die Wirklichkeit nicht bloß ein Moment, sondern ein Prozess, der – in ständiger Wiederholung der Existenzbewegung als „Erinnerung in vorwärtiger Richtung“¹³² – immer wieder neu gesetzt werde. Als das ständig aufzuhebende Moment des Jetzt habe die Wirklichkeit die Möglichkeit ständig vor sich. Sie sei das Ganze des in der Vergangenheit Gesetzten mitsamt der er-
Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, hg. und übers. von Hans Rochol, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2000, S. 3. Eigentlich ist die Wiederholung ein Kernbegriff in Kierkegaards Existenzdialektik, die in Der Begriff Angst nur als hintergründig bzw. unthematisch einbezogen ist. Nach Feger hat Kierkegaard mit diesem Begriff „einen Terminus gefunden, der die grundlegende paradoxe Existenzproblematik erfasst, nämlich dass der Mensch in der Unwahrheit steht – und dass er doch auch den Zugang zur Wahrheit in sich selbst besitzt“ (Hans Feger, „Die Wiederholung. Kierkegaards Kritik am Vermittlungsdenken Hegels und Fichtes“, in Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2008, S. 280 – 300). Nach Liessmann geht es in der Wiederholung „nicht um Erinnern als Bewusstseins – oder Gedächtnisleistung“, sondern um „eine in der Zukunft gelebte Vergangenheit“ (Konrad Paul Liessmann, Sören Kierkegaard zur Einführung, 4 Aufl., Dresden: Junius Verlag GmbH 2006, S. 73). Ohne Wiederholung wäre die Identität eines Menschen nicht denkbar, worauf die Frage nach der „Möglichkeit der Ethik schlechthin“ gründet (ebd., S 75).
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
109
lebten Gegenwart, die sich vorwärts in die Zukunft ereigne; sie sei als die Synthesis von Vergangenheit und Zukunft das Ganze des Gewesenen und des NochNicht-Seienden. In diesem ganzen Zukunftsaspekt bestehe der Gegenstand der Angst: die Freiheit als Möglichkeit zu können. Andererseits sei die durch den Sündenfall gesetzte Wirklichkeit eine ethisch bestimmte, denn hier geschehe der Durchbruch von der Daseinsbestimmtheit des Ästhetischen zur Selbstbestimmung des Ethischen; und ethisch gesehen sei sie „eine unberechtigte Wirklichkeit“¹³³. Die modale Kategorie des Wirklichen wird damit ethisch qualifiziert und bekommt eine sie konkretisierende Mittönung. Erkenntnismäßig ist die Wirklichkeit die aufgehobene Unwissenheit, das heißt ein Wissen über den Unterschied von Gut und Böse. Dieses Wissen ist aber keineswegs ein rein epistemologisches Wissen, sondern trägt zur ethischen Urteilskraft bei, womit man sich als Sünder anerkennen muss und – zugunsten der Aufgabe der Selbstwerdung und Vervollkommnung – mit diesem Bekenntnis sich erneut zu bewähren sucht. Von der neuen (das heißt sündhaften) Wirklichkeit an ist die Existenzbewegung wieder mit neuen Möglichkeiten (erlöst zu werden, oder nicht erlöst zu werden) konfrontiert, die sich als Freiheitsphänomene in der Angst erschließen: Die Angst kehrt also im Verhältnis zum Gesetzten und zum Zukünftigen wieder. Der Gegenstand der Angst ist nunmehr jedoch etwas Bestimmtes, ihr Nichts ist wirklich Etwas, da der Unterschied zwischen Gut und Böse in concreto gesetzt ist und die Angst deshalb ihre dialektische Zweideutigkeit verloren hat.¹³⁴
Was aufgehoben wird und nie wieder zurückkehrt, ist also die ästhetisch-unmittelbare Angst des unschuldigen Kindes vor dem ungeheuer Mysteriösen, die Schamangst des unmündigen Geistes vor der Selbstverlorenheit in der Sexualität und die Angst der Pubertät, in der man sich für eigene Tat zu verantworten lernt. Die Angst kehrt zurück als ein Phänomen des geistigen Erwachsenseins, das den Aneignungsprozess der Bedingungen für die Zurechenbarkeit bereits hinter sich hat.¹³⁵ In ihrer ständigen Wiederkehr bleibt die Angst tatsächlich ein begleitendes Phänomen der ganzen Bewegung der Existenzdialektik. Den ganzen Sachverhalt fasst Kierkegaard wie folgt zusammen: Die Geschichte des individuellen Lebens verläuft in einer Bewegung von Zustand zu Zustand. Jeder Zustand wird durch einen Sprung gesetzt. Wie die Sünde in die Welt hereinkam, so kommt sie weiter herein, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird. Aber dennoch besteht jede ihrer Wiederholungen nicht in einer einfachen Konsequenz, sondern in einem neuen
SKS 4, 413 / BA[R], 121. SKS 4, 413 / BA[R], 121. Siehe Abschnitt 2.2.2.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Sprung. Jedem solchen Sprung geht ein Zustand als die nächste psychologische Approximation voraus. Dieser Zustand ist der Gegenstand der Psychologie. In jedem Zustand ist die Möglichkeit vorhanden und insoweit die Angst. So verhält es sich, nachdem die Sünde gesetzt ist, denn nur im Guten ist die Einheit von Zustand und Übergang.¹³⁶
Aus diesen Ausführungen sieht man sofort, dass dasselbe Modell des Sündenfalls sich stets wiederholt, bis schließlich das Gute gestiftet wird. Und dieses Gute, in dem der Zustand (das Ideale, das Mögliche) mit dem Übergang (dem Realen, der Existenz) zusammenfällt, also die existenzdialektische Bewegung zum Ziel gelangt, wird nur erreicht, wenn der Zustand des wahren Glauben zustande kommt: „Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte“¹³⁷. Es ist eben der Zustand, in dem die Entängstigung wahrlich geschieht. Es gilt nun, diese immer wieder zurückkehrende Angst genau zu betrachten, und zwar zugunsten unserer anthropologischen Fragestellung, ob diese Angst – oder die Angst in dieser Lebensphase – immer noch in dasselbe Schema hineinpasst; inwiefern sie dadurch, dass ihr Gegenstand etwas Bestimmtes wird, hinsichtlich ihres kognitiven Inhaltes abgewandelt wird und in welchem Sinne sie ihre „dialektische Zweideutigkeit“ verloren hat.
2.4.1 Eine Zwischenbemerkung zum religiösen Gebrauch der ethischen Kategorien in der Psychologie Dass die Freiheit nur durch ihren Missbrauch bewusst werden kann, haben wir bereits oben am Phänomen des Schwindels erläutert. Nun befindet sich das Individuum vor einer neuen Entscheidung, deren Einsatzpunkt die begangene Sünde ist. Kierkegaard nennt die Angst aufgrund dieser neuen Wirklichkeit, in der die Sünde eine unwiderrufliche Tatsache geworden ist, je nach Stellungnahme hierzu, die Angst vor dem Bösen, falls man diese bereut, und die Angst vor dem Guten, falls man trotzig dazu steht. Die Angst vor dem Guten und die Angst vor dem Bösen sind beides Phänomene des Unglaubens. Sie stehen aber nur für die eine Seite des Entweder/Oder, das McCarthy als „the narrowed human possibilities down to the twofold option of continuing in the same state or else getting out of it“¹³⁸ bezeichnet hat. Beide
SKS 4, 415 / BA[R], 123. SKS 11, 130 / KT[R] 14. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 109.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
111
Angstformen stehen im Widerspruch zur Erlösung, und führen in je eigener Art und Weise in die weiteren Konsequenzen der Sünde, die sich in verschiedenen Formen der Verzweiflung manifestieren. In welchem Sinne McCathy mit seiner Behauptung der „verengten Möglichkeiten“ durch den Sündenfall Recht hat, muss genauer diskutiert werden. Hat Kierkegaard etwa die Freiheit des Menschen nur als freie Stellungnahme gegenüber den bestimmten Glaubensbekenntnissen verstanden? Oder vielmehr umgekehrt, dass die Freiheit, die bei Kierkegaard ihre allgemeine Bestimmung als „Möglichkeit zu können“ erhalten hat, sich gerade deswegen als eine alternative Stellung zum Glauben zeigt, weil sie nicht eine abstrakte Freiheit, sondern immer eine Freiheit im historischen Zusammenhang ist. Und dieser Zusammenhang ist der eines reformierten Christentums. Der Ausgangspunkt von Kierkegaards Analyse über die Angst nach dem Sündenfall ist die Tatsache, dass „sündig sein“ zu einer unhintergehbaren Bestimmung des Individuums geworden ist, so dass man in der weiteren Selbstwerdung sich nur noch zu einem Selbst verhalten kann, das bereits schuldig ist. Da aber durch den Sündenfall das Selbstbewusstsein mit dem Freiheitsbewusstsein erwacht ist, wird dieses Schuldgefühl ständig bewusst gemacht und ist deswegen psychologisch relevant. Was Carl Gustav Jung zur jungfräulichen Geburt als religiöse Idee geäußert hat, trifft exakt diesen Sachverhalt: Dieser Standpunkt ist ausschließlich phänomenologisch; das will sagen, er beschäftigt sich mit Vorkommnissen, Ereignissen, Erfahrungen – kurz gesagt, mit Tatsachen. Seine Wahrheit ist ein Tatbestand, kein Urteil. Wenn die Psychologie z. B. von dem Motiv der jungfräulichen Geburt spricht, so beschäftigt sie sich nur mit der Tatsache, daß es eine solche Idee gibt, aber sie beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob eine solche Idee in irgend einem Sinne wahr oder falsch sei. Die Idee ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert.¹³⁹ Der Psychologe […] muß sein Augenmerk auf die menschliche Seite des religiösen Problems richten, da er sich mit der ursprünglichen religiösen Erfahrung befaßt, ganz abgesehen davon, was die Bekenntnisse daraus gemacht haben.¹⁴⁰
Es ist also genau die psychologische Existenz des Sündenbewusstseins als Phänomen, das der Psychologe Kierkegaard-Haufniensis im Blick hat. Er stellt sich die Frage, welche Konsequenzen es geben kann, wenn bestimmte religiöse Ideen (hier das Gesetztsein der Sünde) dem individuellen Bewusstsein als wahr erscheinen. Auch im Zusammenhang mit der Geschichte der christlichen Dogmatik beziehungsweise der ganzen religiösen Debatten seit der Aufklärung hat Kier-
Carl Gustav Jung, Psychologie und Religion, 4. revidierte Aufl., Zürich: Rascher Verlag 1962, S. 10. Jung, Psychologie und Religion, S. 14.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
kegaard die möglichen Konsequenzen nach den ethischen Kategorien des Guten und des Bösen aufgeteilt.¹⁴¹ Gut und Böse, die eigentlich zur Bestimmung des ethischen Wertes einer Handlung oder eines Willens dienen, werden hier zur Beurteilung einer religiösen Stellungnahme benutzt. Wenn von der Angst vor dem Bösen die Rede ist, dann steht das Böse entweder für den Zustand des Sündigseins oder einer möglichen Existenzweise der Sünde im Bewusstsein des Menschen: entweder als das Faktum, das Geschehene oder als eine Möglichkeit, die noch geschehen soll. Das Böse ist aber eine potenzierte Sündigkeit, wenn „von einem höheren Standpunkt aus betrachtet“¹⁴², die Angst vor dem Guten hervortritt, in der das Individuum bewusst Abstand von der Möglichkeit der Offenbarung nimmt. In diesem zweiten Sinne nennt Kierkegaard die bewusste Stellungnahme gegen den christlichen Glauben „das Dämonische“. Der Unterschied Gut/Böse kann mithin nicht einfach in den von Glaube/ Sünde übersetzt werden. Wenn die Sünde ihrerseits als Sünde de potentia und Sünde de actu verschieden zu verstehen ist, dann steht das Böse vor allem für die Stellungnahme dazu. Der die eigene Sünde Bereuende ist also deswegen im Vergleich zu dem Trotzigen „das Gute“ oder vielmehr: das Bessere. Beide Stellungnahmen zeigen sich in der Angst, während die Folgen, die Konsequenzen dieser Stellungnahmen sich in der Verzweiflung äußern. Für den Unterschied zwischen Angst und Verzweiflung wollen wir stets festhalten, dass die Verzweiflung – egal ob bewusst oder nicht – die Grundstimmung des Zustands des Gesündigthabens ist, während die Angst im Zustand der letzten Approximation zum Sündenfall, das heißt zum Setzen des Missverhältnis im Selbstsein vorherrscht. Beide sind Gegenstand der Psychologie als „etwas Ruhendes“, „das in bewegter Ruhe bleibt“, das die Existenz des Menschen als ein „Werden mit Freiheit“, ein selbstbestimmtes Werden im fremdbestimmten Werden der Natur, dialektisch abfärbt und motiviert.¹⁴³ Wir sehen also, KT und BA lassen sich in vielen Hinsichten parallelisieren. Die ersten beiden Kapitel von BA werden in KT zwar nicht thematisch behandelt, werden aber als Strukturmomente des Selbstseins beibehalten (Bewegung von A – B zu CAB, vgl. Abschnitt 1.2.6.2). Dies hat seinen Grund darin, dass die Verzweiflung nicht in der Menschennatur (also in der Synthesisstruktur) liegt, son-
Zur Geschichte der philosophischen bzw. christlich-dogmatischen Diskussion über den Ursprung des Bösen vgl. Christoph Schulte, „Böses und Psyche. Immoralität in psychologischen Diskursen“, in Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, hg. von Carsten Colpe und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1993, S. 300 – 322. SKS 4, 421 / BA[R], 130. SKS 4, 329 / BA[R], 19.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
113
dern eine Geisteskrankheit im Selbstsein ist.¹⁴⁴ Folglich ist es unmöglich, dass ein Unschuldiger verzweifelt, während er Angst haben kann. Die ästhetisch-unmittelbare Angst hat somit kein Pendant in der Verzweiflung. Die verschiedenen Ausführungsmöglichkeiten der Synthesismomente werden in KT eingehender diskutiert, was sich als Erweiterung der anthropologischen Grundlegung in BA erkennen lässt. Besonders sinnvoll ist es, das 4. Kapitel der Angstabhandlung in einen Zusammenhang mit KT zu bringen, da es in beiden Fällen um psychologische Zustände nach der Geistsetzung, also um die Fortsetzung der Sünde geht. Demgemäß entspricht zum Beispiel die Angst vor dem Bösen der schwachen Form der Verzweiflung, in der man nicht selbst sein will, während die Angst vor dem Guten in der trotzigen Verzweiflung, in der man sein Selbstsein im Missverhältnis vergeblich aufrechterhalten will, sein Gegenstück findet. Indessen muss man aber ständig Angst und Verzweiflung als zwei verschiedene Gefühle begrifflich und phänomenal auseinanderhalten, weil das eine den Zustand vor dem Sprung, das andere den Zustand danach charakterisiert.
2.4.2 Die Angst des Reuenden Die Angst vor dem Bösen ist eine verneinende Haltung zum Bösartigen oder dem möglichen Bösen in sich selbst. Sie entspricht der Verzweiflung der Schwachheit in KT, in der man sich voll bewusst nicht selbst sein will. Das Selbst, das man nicht sein will, ist ein von der vergangenen Sünde beflecktes Selbst, das weiterhin von der Möglichkeit der Sünde bedroht wird. Demnach entfaltet sich diese Angstform in drei verschiedenen Unterformen: Sie kann (a) als der vergebliche Versuch erscheinen, die gesetzte Wirklichkeit der Sünde zu verneinen, und gleichzeitig sündig sein wegen dieser Verneinung; sie kann (b) als die Angst vor der weiteren Möglichkeit der Sünde erscheinen, in deren Vergänglichkeit die Sünde wiederholt eintritt; sie kann (c) sich aber auch – bei den tieferen Naturen¹⁴⁵ – in der vergeblichen Reue zeigen, die der Sünde „Schritt für Schritt“ folgt, jedoch „immer einen Augenblick zu spät“¹⁴⁶ kommt. Indem die Reue die Handlung bereut, verzögert sie die nächste Handlung und potenziert sich wegen des „Defizits der Tat“¹⁴⁷ zur Reue über diese Reue, wodurch man schließlich in den Wahnsinn getrieben wird.
SKS 11, 131 / KT[R], 16. SKS 4, 418 / BA[R], 126. SKS 4, 417 / BA[R], 126. SKS 4, 419 / BA[R], 129.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Meines Erachtens entspricht diese Dreiteilung in der Angst vor dem bösartigen Selbst ganz exakt den existenziellen Zeiterlebnissen, die Kierkegaard in seiner Ausführung über die zweite Synthese im Menschen (vgl. Abschnitt 1.2.3.2) expliziert hat. In der Form (a) hat man Angst vor der Vergangenheit als dem zwar schon vergangenen, jedoch als Selbstbestimmung im Selbstsein beibehaltenen Bösartigen. In der Form (b) ängstigt man sich vor der Zukunft, in der die Möglichkeit des Bösen wiederholt vom Menschen als eigene Bestimmung übernommen und verwirklicht werden könnte. „Wie tief ein Individuum auch gesunken ist, es kann doch noch tiefer sinken, und dieses ,kann‘ ist der Gegenstand der Angst“¹⁴⁸. Die letzte Angstform (c) erscheint denjenigen, die die augenblickliche Gegenwart festhalten wollen, in der man sofort die Tat bereut und im nächsten Augenblick wieder Reue empfindet. Da aber die Gegenwart in der unendlichen Sukzession der Zeitlichkeit ständig vorübergeht, zeigt sich dies schließlich eben als ein vergeblicher Versuch. In jeder dieser Formen verliert man das authentische Zeiterlebnis dadurch, dass man sich nur auf die eine Zeitdimension konzentriert, anstatt in der stets neuen Wiederholung des Augenblicks als Synthese von Zeit und Ewigkeit sich selbst – auch als defizites Selbstsein – anzunehmen. Durch solche vergeblichen Versuche der Selbstverneinung verliert man schließlich seine Identität. Jede dieser Angstformen sind Konsequenzen der ersten Sünde und bereiten in sich approximierend die nächste Sündentat vor. Die motivierende Kraft der Angst in diesem Prozess nennt Kierkegaard deren „geschickte Sophistik“¹⁴⁹: Wer sich etwas auf die Menschen versteht, weiß sehr gut, daß die Sophisterei stets so vorgeht, daß man immer nur an einem einzigen Punkt stößt; einem Punkt, der unaufhörlich variiert wird. Die Angst will die Wirklichkeit der Sünde forthaben, nicht ganz, aber bis zu einem gewissen Grad; oder richtiger, sie will die Wirklichkeit der Sünde bis zu einem gewissen Grad bestehen lassen, aber wohlgemerkt, nur bis zu einem gewissen Grad. Sie ist deshalb nicht einmal abgeneigt, ein bißchen mit den quantitativen Bestimmungen zu schäkern; ja, je entwickelter sie ist, desto weiter wagt sie diese Schäkerei zu treiben; aber sobald der Scherz und Zeitvertreib des quantitativen Bestimmens Miene macht, das Individuum im qualitativen Sprung zu fangen, der wie der Ameisenlöwe in dem aus losem Sand gebildeten Trichter auf der Lauer liegt, so zieht die Angst sich vorsichtig zurück, so hat sie einen kleinen Punkt, der gerettet werden muß und der ohne Sünde ist; und im nächsten Augenblick einen zweiten.¹⁵⁰
SKS 4, 416 / BA[R], 124. SKS 4, 415 / BA[R], 123. SKS 4, 416 / BA[R], 124 f.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
115
Diese ganze „Schäkerei“ im Approximationsprozess, die die Wirklichkeit der Sünde als das Bösartige in sich selbst zwar forthaben, aber auch bestehen lassen will, zeigt also deutlich, dass die charakteristische Zweideutigkeit, die die Angst der Unschuld als die geeignete Zwischenbestimmung für den qualitativen Sprung auszeichnet hatte (die „sympathetische Antipathie und die antipathetische Sympathie“), auch für die Angst mit dem Sündenbewusstsein charakteristisch ist. Dass die Angst dadurch, dass jetzt zwischen Gut und Böse unterschieden wird, „ihre dialektische Zweideutigkeit verloren hat“¹⁵¹, ist deshalb eine Aussage, die nur für den kognitiven Inhalt – das, was in der Angst erschlossen ist – Gültigkeit besitzt, aber nicht für den phänomenalen Gehalt – also das, was in der Angst gefühlt wird. Was nun in der Angst vor dem Bösen gefühlt wird, ist immer noch diese kompensierende Macht, die einerseits die weitere Handlung hemmt, andererseits aber zur Handlung aus purer Freiheit motiviert. Denn die Angst ist „keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch nicht der Freiheit; sie ist eine verstrickte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern verstrickt, nicht in die Notwendigkeit, sondern in sich selbst“¹⁵².Was durch die Angst gehemmt wird, ist die Handlung aus Kausalverhältnissen, die fremdbestimmte Heteronomie; was durch die Angst motiviert wird, ist die wahre selbstbestimmende Autonomie. Denn nur dadurch, dass in der Angst alle Kausalverhältnisse suspendiert werden, kann die Freiheit aus derer Selbstverstrickung befreit werden. Es ist diesmal die Wahrnehmung des Bösartigen in sich selbst, die die Angst auslöst. In der Selbstreflexion mit vollem Bewusstsein des ethischen Gebots und Verbots ist das Böse dem Menschen ängstlich erschlossen. Er versucht vergeblich, dieses Bösartige aus der Vergangenheit, aus der Zukunft und aus der momentanen Gegenwart des Selbstseins – also von jeder Art und Weise des Selbstbezugs – zu tilgen. Weil er sich selbst nicht akzeptieren will, ist die Reue keine wahre Reue; sie ist im Bösartigen, von der Sophisterei der Angst getrieben. Aus ihr ergibt sich keine Hoffnung auf Erlösung.
2.4.3 Die Angst des Trotzigen Die Angst vor dem Guten ist eine verneinende Haltung zur Möglichkeit der Erlösung. Sie ist aber zugleich eine bejahende Haltung zu dem Selbst, das durch den Sündenfall gesetzt wird. So gesehen entspricht sie genau der Verzweiflungsform
SKS 4, 414 / BA[R], 121. SKS 4, 354 / BA[R], 50.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
des Trotzes in KT, in der man voll bewusst das problematische Selbst sein will. Der Versuch, sich mit dem von der Sündhaftigkeit geprägten Selbst zu identifizieren, soll vergeblich sein. Denn die Angst vor der Erlösung ist zugleich die Angst vor der Offenbarung des wahren Selbstseins. Mit dem Bewusstsein der Sünde, die man nicht bereuen will, verweigert man die authentische Kommunikation, in der das defizite Selbst verraten werden muss. So einem Selbst, das im freiwilligen Autismus verstrickt bleibt, muss es aber gerade an Durchsichtigkeit ermangeln, die ein gelungenes Selbstverhältnis, in dem die Verzweiflung überwunden wird, fordert. Eine Identität, die in der Verweigerung der Kommunikation und Kontinuität gewonnen wird, ist also keine wahre Identität. Ein solches Individuum, das trotzig das sündige Selbst sein will, nennt Kierkegaard dämonisch, da es geradewegs gegen das Gute, gegen die Erlösung aufsteht. Dieser Aufstand zeigt sich nicht als Empörung, sondern als Angst, da die Bemühung um ein autistisches Selbst schließlich ihre Vergeblichkeit – und damit auch ihre Schwachheit – aufweist: Das Dämonische ist Unfreiheit, die sich verschließen möchte. Das ist und bleibt indessen eine Unmöglichkeit, sie behält immer ein Verhältnis; und selbst wenn dieses Verhältnis scheinbar ganz aufgehört hat, so ist es dennoch vorhanden; und die Angst zeigt sich sofort im Augenblick der Berührung.¹⁵³
Diese Selbstverschlossenheit des Dämonischen, das sich vor jeder Bemühung wahren musste, zeigt sich zwar deutlich als das Gegenteil vom Zustand des Freiseins, ist aber als Unfreiheit gerade „ein Phänomen der Freiheit“, denn „es ist stets ein Wille in ihr“¹⁵⁴. Die Angst des Dämonischen entspricht also am besten der Charakteristik der Angst als der „verstrickte Freiheit“¹⁵⁵, denn in ihr geht die Freiheit freiwillig verloren. Um den Widerspruch in dieser Bestimmung zu bewältigen, unterscheidet Kierkegaard in einem dämonischen Menschen zwei verschiedene Willen, die ständig um die Macht konkurrieren: Er hat nämlich zwei Willen, einen untergeordneten, machtlosen, der die Offenbarung will, und einen stärkeren, der die Verschlossenheit will; daß aber dieser letztere Wille der stärkere ist, zeigt, daß das Individuum wesentlich dämonisch ist.¹⁵⁶
SKS 4, 424 / BA[R], 135. SKS 4, 436/ BA[R], 148 (Anm.). SKS 4, 354 / BA[R], 50. SKS 4, 430 / BA[R], 141.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
117
Den Streit zwischen den beiden Willen in einem Individuum nennt Kierkegaard eine Kollision. Je nach Ausdrucksweise des guten Willens zergliedert er die Kollision in vier verschiedene Formen: (1) in einer passiv erscheinenden Form wünscht das dämonische Individuum, dass die Offenbarung ihn plötzlich überfallen möge, obwohl es eigentlich lieber im dämonischen Zustand verbleiben möchte; (2) bei den Spießbürgern – den sog. „untergeordneten Geistern“¹⁵⁷ – erscheint der guter Wille als ein kraftloser Versuch, der sofort vom neuen Ansatz des Dämonischen ausgelöscht wird; (3) bei einer Dichter-Existenz findet man einen verheimlichten Wunsch zur Offenbarung; (4) in einem ziemlich seltenen Fall muss das Individuum sogar vor sich selbst verstummt bleiben, damit die Offenbarung nicht geschähe. Trotz all dieser Bemühungen des guten Willen bleibt das Individuum als dämonisch bestimmt, denn: Die Offenbarung kann schon gesiegt haben; aber in demselben Moment wagt die Verschlossenheit einen letzten Versuch; und ist so geschickt, die Offenbarung selbst in eine Mystifikation zu verwandeln; und die Verschlossenheit hat gesiegt.¹⁵⁸
Worauf diese beiden Willen eigentlich abzielen, geht schließlich aus der Art und Weise des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens hervor. Es ist im Fall des dämonischen Individuums der Wille, das gesetzte Selbst trotz des Sündenbewusstseins sein zu wollen, der sich als der stärkere erweist. So wird ständig ein unfreies Selbst bevorzugt. Der Unterschied zur Verzweiflung besteht ständig darin, dass das Dämonische als die Angst vor dem Guten ein Zustand ist, aus dem die neue Sünde hervorbricht¹⁵⁹, während die trotzige Verzweiflung den Zustand danach charakterisieren soll. Da aber der qualitative Sprung sich stets wiederholt und die Sünde ständig fortsetzt, liegt es nahe anzunehmen, dass in den meisten Situationen ein Verzweifelter zugleich Angst haben kann. Denn die Verzweiflung geht immer um die Gegenwart und die Angst um die Zukunft. Die Unfreiheit des Dämonischen beschreibt Kierkegaard in drei Aspekten: Der Form nach ist es verschlossen und ermangelt der Kommunikation; dem zeitlichen Verhältnis nach ist es plötzlich und ermangelt der Kontinuität; dem Inhalt nach ist es leer und entbehrt der subjektiver Wahrheit, unter der Kierkegaard Innerlichkeit und Gewissheit versteht. Im Gegensatz dazu ist die Freiheit „etwas ständig Kommunizierendes“¹⁶⁰, als Kommunikation „der Ausdruck für die
SKS 4, 429 / BA[R], 140. SKS 4, 329 / BA[R], 140. SKS 4, 436 / BA[R], 149. SKS 4, 425 / BA[R], 135.
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Kontinuität“¹⁶¹, und schließlich die Wahrheit, die „nur für den Einzelnen existiert, indem er selbst sie im Handeln hervorbringt“¹⁶². Folglich hat ein dämonisches Individuum ständig Angst vor dem Guten. Mit dem Guten meint Kierkegaard also „die Reintegration der Freiheit, die Erlösung, Errettung, oder wie man es sonst nennen mag“¹⁶³; die Kontinuität, „denn die erste Äußerung der Befreiung ist die Kontinuität“¹⁶⁴; und die Offenbarung, „denn die Offenbarung ist der erste Ausdruck der Befreiung“¹⁶⁵ oder gar die Durchsichtigkeit.¹⁶⁶ Den Topos vom Schwindel, den er als Schwindel vor dem Abgrund der Freiheit verwendet hat, zieht er diesmal zur Beschreibung der Schein-Kontinuität heran, um das Plötzliche im Dämonischen zu charakterisieren: Diejenige Kontinuität, die die Verschlossenheit hat, läßt sich am besten mit dem Schwindel vergleichen, in dem sich ein Kreisel, der sich ständig auf seiner Spitze dreht, befinden muß.¹⁶⁷ Während nun das Leben der Individualität bis zu einem gewissen Grade in Kontinuität mit dem Leben verläuft, erhält sich die Verschlossenheit in ihr in Gestalt eines KontinuitätAbrakadabras, das nur mit sich selbst kommuniziert und sich deshalb ständig als das Plötzliche äußert.¹⁶⁸
Der Unterschied des Schwindels eines Kreisel-Lebens zum Schwindel vor dem Abgrund besteht darin, dass das dämonische Individuum sich stets bemühen muss, auf der Spitze des Kreisels drehend zu verbleiben, mit vollem Bewusstsein dieser Kontinuität als bloßem Schein. Jede Kommunikation, jede Berührung mit einem anderen Gegenstand wird diese vergebliche Bewegung zunichtemachen, obwohl sie eigentlich schon auf dem Weg des Zusammenbruchs ist. Mit diesem Topos hat Kierkegaard das Dämonische und dessen Angst in jede Details veranschaulicht, nämlich dass diese Selbstverschließung freiwillig geschieht; dass man jede Kommunikation aus dem Bewusstsein der Zerbrechlichkeit dieser Schein-Kontinuität und Schein-Identität vermeidet; dass diese vergebliche Existenzbewegung dem Individuum nichts Wahres bringt und schließlich fatal ist. Man führt ein augenblickliches Leben, das als das Plötzliche stets vorübergeht, denn das Plötzliche „abstrahiert vollkommen von der Kontinuität, vom Vorher-
SKS 4, 430/ BA[R], 142. SKS 4, 439 / BA[R], 152. SKS 4, 421 / BA[R], 130. SKS 4, 431 / BA[R], 143. SKS 4, 428 / BA[R], 139. SKS 4, 428 / BA[R], 139 (Anm. 2). SKS 4, 431 / BA[R], 142. SKS 4, 431 / BA[R], 143.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
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gehenden und vom Folgenden“¹⁶⁹. In einer solchen Existenz aufgrund des bloßen Scheins bleibt nichts Ernstes mehr: „Der Lebenswein ist ausgeschenkt“¹⁷⁰. Was man über sich selbst entdeckt, ist schließlich nur das Langweilige und das Erstorbene, denn „die Langweiligkeit, die Erstorbenheit ist nämlich eine Kontinuität im Nichts“¹⁷¹. Da aber das Dämonische seinem guten Willen nicht loswerden kann, wird es stets zur Offenbarung gezwungen. Schon der winzigste Kommunikationsversuch kann seine Angst auslösen. So genügt „die unbedeutendste Berührung, ein Blick im Vorübergehen usw.“, „damit jene entsetzliche, oder im Verhältnis zum Inhalt der Verschlossenheit jene komische Bauchrednerei anhebt“¹⁷². Vor allem aber ist es die Sprache, die das Dämonische aus seiner autistischen Stummheit herauszuholen vermag, denn die Sprache ist das Organ der Freiheit: Wenn die Freiheit nun die Verschlossenheit berührt, so wird ihr angst. […] Das Verschlossene ist eben das Stumme; die Sprache, das Wort ist eben das Erlösende, das von der leeren Abstraktion des Verschlossenen Erlösende. […] das Gesetz für die Offenbarung des Dämonischen ist, daß es gegen seinen Willen mit der Sprache herausrückt. In der Sprache liegt nämlich die Kommunikation.¹⁷³
Es wird ersichtlich, dass gerade das Dämonische, indem es vor dem Guten, das sich durch die sprachliche Kommunikation zu offenbaren droht, Angst hat, ein zweideutiges Phänomen ist, an dem sich die für die Angst charakteristische „antipathetische Sympathie und sympathetische Antipathie“ deutlich aufzeigen lässt, denn: Wenn sie die Unfreiheit einerseits ganz abzuschließen und zu hypostasieren vermöchte und wenn sie das andererseits nicht ständig wollte, (worin der Widerspruch liegt, daß die Unfreiheit etwas will, da sie den Willen gerade verloren hat), so wäre das Dämonische nicht Angst vor dem Guten. Die Angst zeigt sich deshalb auch am deutlichsten im Augenblick der Berührung.¹⁷⁴
Trotz seiner Sympathie für das Guten, vor dem es Angst hat, beschließt das dämonische Individuum im Augenblick der Berührung, sich weiter zu verschließen und in den stets ins bloße Nichts vorübergehenden Lebensmomenten zu verbleiben und sich mit allen für ein verantwortliches Leben unbedeutenden Sachen
SKS 4, 433 / BA[R], 145. SKS 4, 446 / BA[R], 161. SKS 4, 434 / BA[R], 146. SKS 4, 430 / BA[R], 141. SKS 4, 425 f. / BA[R], 136. SKS 4, 435 f. / BA[R], 148.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
zu vergnügen. Es schreckt dabei vor der möglichen Konsequenz der Erlösung zurück, dass es öffentlich – nicht nur vor den Anderen, sondern auch vor sich selbst – gestehen muss, dass seine bisherige Existenz sündhaft war und dass es, um überhaupt seine Persönlichkeit in wahrer Kontinuität und Durchsichtigkeit bewahren zu können, sein bisheriges Selbstsein nach der ethischen Normalität, die allgemeingültig ist, berichtigen muss. Diese Zweideutigkeit, die sich hier in der Kollision beider Willen gezeigt hat – an der Tatsache, dass einerseits das Dämonische sich verschließen will und andererseits dieser Wille immer wieder scheitern muss –, ermöglicht die Angst wie vorher die Funktion einer psychologischen Zwischenbestimmung, während die Sünde de actu immer wieder als qualitativer Sprung geschieht, und zwar aus reiner, das heißt voraussetzungsloser Selbstbestimmung. Da im Dämonischen die Freiheit als selbstgewollte Unfreiheit erscheint, nennt Kierkegaard dieses Phänomen den „Verlust der Freiheit“¹⁷⁵. In seiner phänomenologischen Untersuchung zu den verschiedenen Formen dieses Verlustes hält Kierkegaard wie immer an seiner anthropologischen Grundlegung fest. So kann die Freiheit entweder somatisch-psychologisch verloren gehen, was dem Begriffspaar Leib-Seele entspricht; oder aber pneumatisch verloren sein, was ein geistiges Phänomen ist. Hinter dem leib-seelischen Phänomen der Unfreiheit verbirgt sich die anthropologische These, dass in der Synthesisstruktur der Leib als „das Organ der Seele und so wiederum des Geistes“¹⁷⁶ die dienende Funktion übernehmen soll. Bei einem verkehrten Verhältnis handelt es sich dann um das Dämonische, insofern der Geist auf der Seite des revoltierenden Leibs stehen soll. In diesem Fall zeigt sich die Angst in den allerverschiedensten Nuancen wie zum Beispiel „einer überspannten Sensibilität, einer überspannten Irritabilität, reizbaren Nerven, Hysterie, Hypochondrie“¹⁷⁷ beziehungsweise in einer „Sozialität der Angst“¹⁷⁸, die das Dämonische zusammenhalten und dazu ermuntern können, dämonisch zu bleiben.¹⁷⁹ Beim pneumatischen Verlust der Freiheit handelt es um die ausdrückliche Stellungnahme gegen den Glauben beziehungsweise gegen die Glaubenswahrheit als der Bestimmung des eigenen Selbst. Dahinter steckt Kierkegaards Spekulation über das Verhältnis zwischen Freiheit und
SKS 4, 437 f. / BA[R], 149 f. SKS 4, 437 / BA[R], 150. SKS 4, 437 / BA[R], 150. SKS 4, 438 / BA[R], 151. Es ist erstaunlich, dass Kierkegaard hier bereits ein massenpsychologisches Phänomen beobachtet, das nicht nur an die unzivilisierte Ochlokratie erinnert, sondern auch an die „Banalität des Bösen“ bei Hannah Arendt.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
121
Wahrheit, in der die Freiheit deutlich als Selbstbestimmung und die Wahrheit als das authentische Selbstsein zu verstehen ist: Der Inhalt der Freiheit, intellektuell gesehen, ist Wahrheit; und die Wahrheit macht den Menschen frei. Eben darum aber ist die Wahrheit in dem Sinne das Werk der Freiheit, als sie ständig die Wahrheit hervorbringt.¹⁸⁰
In einer selbstbestimmten Existenz (Wahrheit) hat man also die größte selbstbestimmende Kraft (Freiheit), sich selbst zu vervollkommnen, indem man immer nur dasjenige wählt, das für ein verantwortliches Leben bedeutend ist. Dazu muss man immer die Gewissheit und die Innerlichkeit besitzen, um zum richtigen Gegenstand eine eindeutige Haltung einzunehmen „Diesen Gegenstand hat jeder Mensch, denn das ist er selbst“¹⁸¹. Wenn aber diese Eigenschaften ausbleiben, ergibt sich das dämonische Phänomen, denn „jedesmal, wenn die Innerlichkeit diesem Bewußtsein [dem konkreten Selbstbewusstsein als intelligibler Tat (v. Verf.)] nicht entspricht, liegt eine Form des Dämonischen vor, sobald sich das Ausbleiben der Innerlichkeit als Angst, sie zu erwerben, äußert“¹⁸². Das Dämonische, in dem die Freiheit pneumatisch verloren geht, ist also die Angst vor der Gewissheit und Innigkeit in sich selbst; vor der Möglichkeit, voller Ernst sich zu sich selbst zu verhalten; vor dem authentischen, selbstbestimmten Selbstsein; und schließlich vor der Existenzbewegung, in der man in aller Durchsichtigkeit zu sich selbst wird. In dem historischen Kontext eines reformatorischen Christentums, unter dessen Voraussetzung Kierkegaard seine psychologische Forschung unternimmt, zeigt sich das Dämonische also gegenüber der Idee Gottes beziehungsweise der Erlösung, die jedes Individuum im Christentum geprägt haben muss, als die Angst vor dem Glauben. Man beobachtet mithin das reziproke Verhältnis zwischen Aberglaube und Unglaube, die ihre Gemeinsamkeit im Ausbleiben der Innigkeit haben: „Der Aberglaube ist ungläubig gegen sich selbst, der Unglaube abergläubisch gegenüber sich selbst. Der Inhalt beider ist Selbstreflexion“¹⁸³. Und die Innigkeit liegt in der genauen Entsprechung des Bewusstseinsaktes mit dem Bewusstseinsinhalt im reflexiven Selbstbewusstsein. Dass diese Entsprechung fehlschlägt und das Dämonische zustande kommt, zeigt sich auch in den alltäglichen Phänomenen der Heuchelei und Entrüstung beziehungsweise des Stolzes und der Feigheit. In allen diesen Nuancen bleibt der Gegenstand der Angst die Wahrheit über sich selbst und, da
SKS 4, 439 / BA[R], 152. SKS 4, 450 / BA[R], 165. SKS 4, 444 / BA[R], 157. SKS 4, 444 BA[R], 159.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
die Erlösung eine extreme Möglichkeit des Selbstseins ist, das Glaubensbekenntnis, das zur Erlösung führt. Aus der Angst vor der Offenbarung hat das Dämonische stets versucht, sich in sich selbst zu verschließen. Demgegenüber gibt es eine andere Form der Verschlossenheit, die „ein Pakt mit dem Guten“ ist und „die höchste Freiheit“¹⁸⁴ bedeuten kann. Eine solche Verschlossenheit geht nicht in Richtung des dämonischen Autismus, sondern ist zu vergleichen mit der erhabenen, edlen Innerlichkeit, die das Individuum nicht in sich verschließt, sondern geradezu ausweitet. Und an dieser Stelle bringt Kierkegaard wieder seinen entwicklungspsychologischen Gedanken zum Ausdruck, der vor allem pädagogisch von Bedeutung sein soll: Es ist von unendlicher Wichtigkeit, daß das Kind durch die Vorstellung von der erhabenen Verschlossenheit erhoben und von der mißverstandenen befreit wird. […] Die Kunst ist, ständig anwesend und doch nicht anwesend zu sein, so daß das Kind die Freiheit hat, sich selbst zu entfalten, während man dennoch darüber völlig im Bilde ist. Die Kunst ist, im allerhöchsten Grad nach dem größtmöglichen Maßstab das Kind sich selbst zu überlassen und dieser scheinbaren Preisgabe eine solche Gestalt zu geben, daß man zugleich unbemerkt über alles Bescheid weiß. […] Und ein Vater oder Erzieher, der für den ihm Anvertrauten alles täte, aber nicht verhinderte, daß das Kind verschlossen würde, der hat jedenfalls eine große Verantwortung auf sich geladen.¹⁸⁵
Ein Kind soll demnach dazu erzogen werden, ein Verantwortungsgefühl für sich selbst zu entwickeln und es soll die süße Beängstigung, die beim Erwachen das Freiheitsbewusstsein zugleich anzieht und abschreckt, letztendlich überwinden. Vor der Freiheit darf man zwar Angst haben, doch soll diese Angst nicht im Menschen vorherrschen, sodass er entweder aus Angst jede Kommunikation vermeidet und autistisch lebt, oder aber die Wirkung der Angst ins Unbewusstsein verdrängt, sodass er sich ganz behaglich in Heteronomie verlieren könnte. Bevor wir schließlich zur Entängstigung kommen, wollen wir zuerst diese letzte Form der Angst im christlichen Kontext behandeln: Es ist die verborgene Angst bei denjenigen, die über das ethische Gebot der Selbstwerdung und über die eigene Freiheit als Selbstbestimmungskraft diese völlig vergessen haben.
SKS 4, 425 / BA[R], 135. SKS 4, 427 / BA[R], 138.
2.4 Die Angst nach dem Sündenfall: die Angst des Sünders
123
2.4.4 Die Angst des Geistlosen: unbewusste Angst Das Phänomen der Geistlosigkeit hat Kierkegaard in Zusammenhang mit der welthistorischen Phase des Heidentums thematisiert und auf die Gemeinsamkeit beider hingewiesen, dass bei ihnen aus dem quantitativen Bestimmen „der qualitative Sprung der Sünde nicht hervorbricht“ und dennoch „vom Standpunkt des Geistes aus gesehen“ gerade der Zustand der Sündhaftigkeit waltend sei.¹⁸⁶ Man muss dennoch festhalten, dass es zwischen beiden Phänomenen einen qualitativen Unterschied gibt: […] das Heidentum unterscheidet sich von der Geistlosigkeit dadurch, daß es in Richtung auf den Geist hin bestimmt ist, während sie in Richtung vom Geist weg bestimmt ist. Das Heidentum ist daher, wenn man so will, Geistesabwesenheit und infolgedessen von der Geistlosigkeit ganz verschieden. Die Geistlosigkeit ist die Stagnation des Geistes, und das Zerrbild der Idealität.¹⁸⁷
Als Kierkegaard später in KT auf diese Stelle in BA zurückgriff, sprach er ausdrücklich von einem qualitativen Unterschied zwischen beiden.¹⁸⁸ Dieser Unterschied wird aber nicht nur qualitativ, sondern „absolut“, wenn wir eine andere Stelle heranziehen, in der Kierkegaard mit einer ähnlichen Argumentationsweise den Unterschied zwischen dem Dämonischen und der Unschuld ausführt: In der Unschuld war die Freiheit nicht als Freiheit gesetzt, ihre Möglichkeit war in der Individualität Angst. Im Falle des Dämonischen ist das Verhältnis umgekehrt. Die Freiheit ist als Unfreiheit gesetzt; denn die Freiheit ist verlorengegangen. Die Möglichkeit der Freiheit ist hier wieder Angst. Der Unterschied ist absolut; denn die Möglichkeit der Freiheit zeigt sich hier im Verhältnis zur Unfreiheit, die genau das Entgegengesetzte zur Unschuld ist, die eine Bestimmung zur Freiheit hin ist.¹⁸⁹
Diese Differenzierung in der Orientierung, ob ein Phänomen sich zum Geist/zur Freiheit hinwendet oder vom Geist/von der Freiheit abfällt, macht eigentlich den qualitativen Unterschied aus. Das Qualitative in dem Unterschied besteht nämlich darin, dass im zweiten Phänomen (Verfall von Geist/Verlust der Freiheit) der Geist/die Freiheit vorausgesetzt werden muss. Da aber der Geist und die Freiheit Bestimmungen der Subjektivität und keine Eigenschaften sind, die einfach so verloren gehen, sondern selbst zu den Akteuren gehören, kann dieser Verfall/ dieser Verlust nur aus der eigenen Freiheit des Geist-Menschen erfolgen. Im
SKS 4, 396 f. / BA[R], 101 f. SKS 4, 398 / BA[R], 103 f. SKS 11, 161 / KT[R], 45. SKS 4, 424 / BA[R], 134.
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2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Vergleich zur Unschuld ist das Dämonische also ein Freiheitsphänomen. Mit demselben Argument ist es naheliegend festzustellen, dass die Geistlosigkeit im Vergleich zum Heidentum ein Freiheitsphänomen ist, nur dass in der Geistlosigkeit das Selbstsein als Geist, die Aufgabe der Selbstwerdung zu sich und die eigene Freiheit als Selbstbestimmungskraft – aus Freiheit – ins Unbewusste verdrängt wurde, das heißt aber in Vergessenheit geriet. Wenn wir uns an die Stadienlehre erinnern, in der das Heidentum für das welthistorisch Ästhetische steht und dem entwicklungspsychologischen Zustand der kindlichen Unschuld analog ist¹⁹⁰, so können wir ein ähnliches Verhältnis zwischen der Geistlosigkeit und dem Dämonischen feststellen. Dies zeigt sich deutlich, wenn Kierkegaard das Geistlose mit den Sklaven in der Antike vergleicht: Vergleicht man diese Glückseligkeit der Geistlosigkeit mit dem Zustand der Sklaven im Heidentum, so hat der Sklavenstand immerhin einen Sinn; denn er ist gar nichts an sich. Das Verderben der Geistlosigkeit dagegen ist das Entsetzlichste von allem; denn das Unglück ist gerade, daß die Geistlosigkeit zum Geist ein Verhältnis hat, das keines ist.¹⁹¹
So betrachtet ist die Geistlosigkeit gerade das Gegenteil von jeglicher Form der Unschuld. Indem sie sich die Glückseligkeit verleidet, die die Unschuld auszeichnet, ist sie als ein Freiheitsphänomen das verhüllte Dämonische: Ohne sich verschließen zu müssen, hat sie das Gute/die Offenbarung gänzlich ausgeschlossen. Dadurch, dass sie die Entwicklung zu einem selbstbewusst-selbstbestimmenden Wesen verweigert, hat sie die Unterscheidung von Gut und Böse beziehungsweise jedes ethische Gebot freiwillig unterlassen. Solchermaßen ist sie zwar keine ausdrückliche Angst vor dem Guten, aber eine verhüllte Angst vor sich selbst als Geist/Selbst über Freiheit zu verfügen. Die entsprechende Verzweiflungsform erweist sich als die Verweigerung der Frage, ob man sich selbst sein will, da man den eigenen freien Willen freiwillig „vergisst“. Die Ähnlichkeit des Geistlosen mit dem Dämonischen tritt auch am Phänomen zutage. In der ästhetischen Darstellung gehört es zur Rubrik des Komischen, das sich an dem Inhaltslosen, Langweiligen zeigt: „Die Geistlosigkeit kann ganz und gar dasselbe sagen, was der reichste Geist gesagt hat; nur sagt sie es nicht kraft des Geistes. Als geistlos bestimmt wird der Mensch zu einer Sprechmaschine […]“¹⁹². Ein Geistloser hat ebenfalls Angst vor der Offenbarung der Wahr-
Hierzu vgl. im vorliegenden Text Abschnitt 1.3.2.2, c. SKS 4, 397 / BA[R], 103. SKS 4 398 / BA[R], 103.
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt
125
heit an sich selbst: „Selbst der Betrachtung graut es bei dem Anblick […]“¹⁹³ und verhält sich heuchlerisch, „denn so entsetzlich die Gestalt der Angst, wenn man die Phantasie eine solche bilden lassen wollte, anzusehen ist, so würde ihre Gestalt doch noch entsetzlicher, wenn sie es für nötig hielte, sich zu verkleiden, um nicht als das aufzutreten, was sie ist, obwohl sie es nichtsdestoweniger ist“¹⁹⁴. Auf diese Weise kommt durch die Kommunikation eine Kollision zustande: „Wird sie schließlich ein seltenes mal vom Geist berührt und fängt sie dann einen Augenblick an zu zappeln wie ein galvanisierter Frosch“¹⁹⁵. Der Geistlose findet seine Erlösung erst durch die kommunizierenden Sprache, in der die Wahrheit über ihn selbst ausgesprochen wird: „das mindeste, was man für sie tun kann, ist, daß man es ausspricht und auf diesem Wege Geist von ihr fordert“¹⁹⁶. Was den Geistlosen zugleich anzieht und abschreckt, ist nicht das vorreflexive Bewusstsein von der eigenen Freiheit als Möglichkeit zu können, aber auch nicht die religiöse Wahrheit der christlichen Offenbarung, sondern die von ihm selbst verweigerte Möglichkeit eines verantwortlichen Selbstverhältnisses. Doch diese Angst ist nur von einem äußerlichen Standpunkt aus zu entdecken, da sie sich als scheinbare Glückseligkeit verschleiert, die nicht nachzudenken wagt. Die Zweideutigkeit der Angst hat sich dem Geistlosen phänomenal nicht gegeben. Man kann sie nur quasi-psychoanalytisch aus dem Unbewusstsein ausgraben, als eine unbewusste Angst vor dem unterdrückten Freiheits- und Selbstbewusstsein. Die Geistlosigkeit ist daher zurecht als ein Phänomen des Verfalls in der Selbstwerdung des Menschen zu bezeichnen. Wir werden später sehen, wie Heidegger ausschließlich diesen Zustand als Ausgangspunkt seiner Angstanalyse auswählt und statt der kierkegaardschen Bezeichnung plebs ¹⁹⁷ dem Geistlosen einen anderen Namen gab: das Man.
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt Kierkegaard diskutiert kurz nach seiner zweiten anthropologischen These, nämlich dass der Mensch als Geist zugleich die Synthese vom Zeitlichen und Ewigen sei, die Möglichkeit von Angst und Sünde im nichtchristlichen Zusammenhang. Für ihn bilden diesen Zusammenhang vor allem die welthistorischen Phasen des
SKS 4, 399 / BA[R], 104. SKS 4, 399 / BA[R], 104. SKS 4, 398 / BA[R], 104. SKS 4, 397 / BA[R], 102. SKS 4, 397 / BA[R], 102.
126
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Heidentums und des Judentums, die (innerhalb der westlichen Kultur) vor dem Christentum auftraten. Dass der historische Zusammenhang keinen qualitativen Unterschied im Wesen des Menschlichen bilden kann, ist gerade ein Beweis dafür, dass Kierkegaards anthropologische Grundlegung zwar hamartiologisch angelegt ist, doch sich trotzdem universal anpassen kann. Auch in der außerchristlichen Welt ist jeder Einzelne als Individuum zugleich ein Gattungswesen. Er ist gleichfalls mit der Möglichkeit geboren, die eigene Freiheit zu missbrauchen, und zwar dadurch, dass er die eine Seite der Synthesismomente bevorzugt und deshalb nicht zum richtigen Selbstverhältnis gelangt. Demgemäß muss dieses Individuum auf ähnliche Weise Angst und Verzweiflung empfinden können. Die Angst hat dieselbe Grundstruktur: Sie wird ermöglicht durch die Wesensbestimmung des Menschen; sie kann unter Umständen ausgelöst werden; sie bezieht sich auf keine bestimmte Gegenstände, sondern weist auf die Zukunft als bestimmte Möglichkeit hin; sie zeigt sich zweideutig als eine alle Triebkräfte (in ihrer hedonischen Valenz von Lust oder Unlust) kompensierende Macht, die die Entscheidung ausschließlich der Freiheit überlässt. Nur ihre Erscheinungsformen werden anders. Die Angst im Heidentum bezieht sich vor allem auf das Schicksal, das man im Orakel zu ermitteln vermeint, während sich die Angst im Judentum auf die gesetzlich verstandene Schuld ausrichtet. Der Unterschied zur Angst im Christentum liegt aber darin, dass diese Ängste den Menschen nicht zur Autonomie zwingen, sondern zu einer (selbst gewählten) Heteronomie führen, in der er sich dem Schicksal beziehungsweise der fremdbestimmten Schuld überlässt, denn nur „[d]er Begriff Sünde und Schuld setzt […] den Einzelnen als den Einzelnen“¹⁹⁸. Mit quantitierenden Bestimmungen zieht das Heidentum sozusagen die Zeit hin und kommt nie zur Sünde im tiefsten Sinne; das aber ist gerade die Sünde.¹⁹⁹ Hier liegt die Wahrheit der karpokratianischen Anschauung, wonach man auf dem Wege über die Sünde die Vollkommenheit erreicht. Sie hat ihre Wahrheit im Augenblick der Entscheidung, in dem der unmittelbare Geist sich durch den Geist als Geist setzt; dagegen wäre es Blasphemie zu meinen, eine solche Anschauung soll in concreto realisiert werden.²⁰⁰
Da das Heidentum und das Judentum nicht zum eigentlichen Sündenbewusstsein gelangten sind, können sie in der Angst nicht den richtigen Begriff der Freiheit entdecken, in der man trotz aller Einflüsse für sich selbst entscheiden soll. Aus Angst vor dem Schicksal beziehungsweise der Schuld nehmen sie Zuflucht ent-
SKS 4, 401 / BA[R], 107. SKS 4, 397 / BA[R], 102. SKS 4, 406 / BA[R], 113.
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt
127
weder ins Orakel oder ins Opfer. Daraus ergibt sich keine erlösende Entängstigung, sondern nur unlösliche Widersprüche.
2.5.1 Heidentum: Schicksalsangst Als das ästhetische Stadium der Gattungsgeschichte des Menschen, die der individuellen Existenzbewegung analog ist²⁰¹, ist das Heidentum von Sinnlichkeit und Glückseligkeit überwältigt und kommt nie zum richtigen Begriff der Schuld, da der Geist stets abwesend ist, denn „[d]as Heidentum ist überhaupt Sinnlichkeit, aber eine Sinnlichkeit, die ein Verhältnis zum Geist hat, ohne daß jedoch der Geist im tiefsten Sinne als Geist gesetzt wird“²⁰². Es ist nicht die später im Christentum auftretende Geistlosigkeit, in der der Geist – freiwillig aus einer unbewussten Angst vor sich selbst – erst in Vergessenheit gerät, nachdem er gesetzt wurde. Hier geht es von Anfang an um eine Abwesenheit des Geistes, denn die Zwischenbestimmung zum Sündenfall beziehungsweise zur eigentlichen Existenzbewegung, das heißt der Angst, ist bereits abwegig. Sie bezieht sich nicht auf die unendlichen Möglichkeiten zu können, sondern auf eine bestimmte Möglichkeit, die dem Individuum zugeschrieben wird: die Möglichkeit, die das Schicksal dem Menschen bietet. […] das Schicksal eben eine Einheit von Notwendigkeit und Zufälligkeit ist. Das findet seinen sinnreichen Ausdruck darin, daß das Schicksal blind ist; […]. Eine Notwendigkeit, die sich ihrer selbst nicht bewußt ist, ist eo ipso im Verhältnis zum nächsten Augenblick eine Zufälligkeit.²⁰³
Als das zugleich Notwendige und Zufällige kann das Schicksal dem Individuum nur eine unfassbare Möglichkeit des zukünftigen Handelns bieten. Der Glaube an das Schicksal führt also zu einem reduzierten Begriff der Freiheit, in der man
Vgl. Abschnitt 1.2.4.3 und Abschnitt 1.3.2.2 im vorliegenden Text. Ferner hat Michael Bösch eine Monografie dem Problem der Schicksalsangst gewidmet, in der eine ausführliche Analyse zum Schicksal als ästhetische Äußerung des Geistes vorgelegt wird (II.4). Das Verhältnis zwischen dem Heidentum und dem ästhetischen Stadium beschreibt er wie folgt: „Das Schicksal bezeichnet in der Phänomenologie der Unfreiheit den Gegenstand der Angst im Griechentum, das von Vigilius als ästhetisch-sinnliche Lebensanschauung dargestellt wird. Die Schicksalsangst soll als psychologischer Hintergrund des ästhetischen Lebens aufgewiesen werden, um die darin liegende Unfreiheit als Verdrängung der eigentlichen Gefährdung der Freiheit durch sich selbst zu deuten“ (Bösch, Søren Kierkegaard, S. 47). SKS 4, 399 / BA[R], 105. SKS 4, 400 / BA[R], 106.
128
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
nicht eigentlich über sich selbst verfügt, sondern ständig von einer äußeren Kraft bestimmt wird. So überlässt sich das Individuum, das eigentlich durch das richtige Schuldbewusstsein zur Selbstbestimmung gelangen könnte, dem Überfall des Schicksals und gerät schließlich in die Heteronomie: Das Schicksal ist ein Verhältnis zum Geist als etwas Äußerlichem; es ist ein Verhältnis zwischen dem Geist und etwas anderem, das nicht Geist und zu dem er dennoch in einem geistigen Verhältnis stehen soll.²⁰⁴
Vor einem solch unfassbaren Äußerlichen kann man nur Angst haben. In seiner Angst vor dieser fremden Bestimmungskraft flieht der Heide ins Orakel, durch das er das Schicksal vorauszusehen vermeint. Doch diese Voraussage bringt nichts als Angst – zugleich als die Angst vor dem Orakel und als die Angst vor dessen Erklärung –, die sich in ihrer eigentümlichen Zweideutigkeit zeigt: Das Verhältnis des Heiden zum Orakel ist also wiederum Angst. Hier liegt die tiefe und unerklärliche Tragik im Heidentum. Sie liegt […] darin, daß der Heide es nicht zu unterlassen wagt, bei ihm Rat zu holen. Er steht zu ihm in einem Verhältnis; er wagt nicht, die Befragung zu unterlassen; selbst in dem Augenblick, in dem er um Rat bittet, befindet er sich zu ihm in einem zweideutigen Verhältnis (sympathetisch und antipathetisch), Und nun denke man an die Erklärungen des Orakels.²⁰⁵
Die Vorhersage führt künftige Möglichkeiten vor Augen, die aber trotz aller Gegenbemühungen geschehen müssen. Die Wirklichkeit, die in dieser Angst projiziert wird, ist nicht das Noch-nicht-Sein des selbstbestimmenden Geistes, sondern das Noch-nicht-Sein des determinierenden Notwendig-Zufälligen. So wird in der tragischen Geschichte des Königs Ödipus²⁰⁶ das Schicksal des Kindes vorausgesehen. Auf diese Vorhersage wird mit scheinbar freier Entscheidung reagiert
SKS 4, 399 / BA[R], 105. SKS 4, 400 / BA[R], 106. Das tragische Moment an der Geschichte des Königs Ödipus hat Hans Feger mit seiner Schelling-Interpretation auf den Punkt gebracht: „In der Sicht Schellings gelangt Ödipus zu der Anerkennung eines schuldhaften tragischen Verstrickungszusammenhangs, obwohl ihm der Vorsatz für ein schuldhaftes Vergehen fehlte, ja er in seinem ganzen Bestreben ,die Schuld fliehend‘ war“ (Hans Feger, „Ethik im Existenzialismus? Tragisch reformuliert“, in Existenzphilosophie und Ethik, hg. von Hans Feger und Manuela Hackel, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2014, S. 251). Die hier dargestellte griechische Idee des Tragischen wird laut Walter Dietz von Kierkegaard-Haufniensis nicht erfasst: „Die spezifisch grch. Idee einer tragischen Schuld wird hier von VIGILIUS nicht erfaßt: Der Mensch kann gerade durch das Schicksal schuldig werden. Aber das „tragische“ Gar-nicht-anders-Können hebt seine Schuld nicht auf“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 317, Anm.).
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt
129
(Aussetzen des Kindes in die Wildnis), doch diese Entscheidung führte nicht nur genau zu dem vorausgesehenen Schicksal, sondern sie liegt auch in sich bereits im Widerspruch, da sie aus dem Glauben an das Schicksal genau diesen Glauben zu verneinen versucht. Die Freiheit, die hier ausgeübt wird, ist also keine Freiheit im eigentlichen Sinne. Sie ist vielmehr eine Unfreiheit im Sinne einer sich selbst verneinenden Freiheit, denn im Glauben an das Schicksal werden alle Möglichkeiten zum Notwendig-Zufälligen hin interpretiert und so wird die Freiheit an sich verneint. Die Zurechenbarkeit des Einzelnen, die der Begriff Schuld streng einfordert, wird also im Heidentum stets zur Schicksalssache reduziert. Durch das Schicksal schuldig zu werden, ist aber ein Widerspruch, da die Zurechenbarkeit ausschließlich auf die Selbstbestimmung des Individuums zu beziehen ist und jede andere Bestimmungskraft den qualitativen Sprung beeinträchtigt. So lässt sich die schicksalhafte erste Sünde des Menschen, die aus der unwissenden Angst hervorbricht, nur aus dem christlichen Begriff der Vorsehung heraus verstehen: Dieser Widerspruch, auf mißverstandene Weise aufgefaßt, ergibt den mißverstandenden Begriff von der Erbsünde; richtig verstanden, ergibt er den wahren Begriff, nämlich in dem Sinne, daß jedes Individuum es selbst und das Geschlecht ist, und daß das spätere Individuum vom ersten nicht wesentlich verschieden ist. In der Möglichkeit der Angst sinkt die Freiheit nieder, vom Schicksal überwältigt; nun steht ihre Wirklichkeit auf, jedoch mit der Erklärung, daß sie schuldig wurde. Die Angst auf ihrer äußersten Spitze, wo es ist, als wäre das Individuum schuldig geworden, ist noch nicht die Schuld. Die Sünde tritt also weder als Notwendigkeit noch als Zufall ein; und deshalb entspricht dem Begriff der Sünde: die Vorsehung.²⁰⁷
Im Vergleich zum Schicksal, das für das Notwendig-Zufällige steht, steht der christliche Begriff der Vorsehung für die unendliche Möglichkeit des Menschen, sich für sich selbst zu entscheiden. Mithin ist die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, durch die die ursprüngliche Unschuld verloren ging, gerade deshalb nicht tragisch, da aus der Sicht der göttlichen Vorsehung diese den ersten Schritt ausmacht, mit dem der Mensch zum richtigen Selbstverhältnis zu sich selbst wird.²⁰⁸ Die Schicksalsangst, die nicht zum qualitativen Sprung motiviert
SKS 4, 401 / BA[R], 107. So auch bei Dietz: „Es gibt für grch. Denken keinen Widerspruch zwischen Schicksal und Schuld, sondern nur den Widerspruch des Tragischen selbst. Von diesem Begriff des Tragischen kann man im Christentum sagen, daß er im Begriff der (Heils‐) Geschichte aufgehoben ist durch die Vorstellung göttlicher Notwendigkeit (grch. dei) und Intention (providentia Dei)“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 317).
130
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und die ästhetische Unmittelbarkeit nicht zu durchbrechen vermag, ist also keine Angst im eigentlichen Sinne.
2.5.2 Judentum: Schuldangst In Kierkegaards Beschreibung der Angst im Judentum wird das Schuldigsein vor dem Gesetz thematisiert. Zwar hat er keine Aussage zum Geisteszustand im Judentum gemacht, doch kann zumindest festgestellt werden, dass das Judentum nicht mehr in den Bestimmungen des Ästhetisch-Unmittelbaren lebt und somit einen Fortschritt gegenüber dem Heidentum darstellt. Dieser Fortschritt soll sich gerade in dem sympathetischen Moment seiner Angst vor der Schuld zeigen, sodass „es dieses Verhältnis [sc. das Angstverhältnis zur Schuld] um keinen Preis aufgeben würde, um die leichtsinnigeren Ausdrücke des Griechentums, Schicksal, Glück und Unglück, dafür einzutauschen“²⁰⁹. So zeigt die Angst vor der Schuld auch hier ihre eigentümliche Zweideutigkeit: […] während die Angst fürchtet, unterhält sie eine hintergründige Kommunikation mit ihrem Gegenstand, kann nicht von ihm wegsehen, ja will es nicht; denn will das Individuum es, so wird die Reue eintreten.²¹⁰ Das Leben weist außerdem oft genug das Phänomen auf, daß das Individuum in Angst fast verlangend auf die Schuld starrt und sie dennoch fürchtet. Die Schuld hat für das Auge des Geistes die Zaubermacht, die der bannende Blick der Schlange hat.²¹¹
Aus dieser Angst ergibt sich aber kein eigentliches Freiheitsbewusstsein als die unendliche Möglichkeit zu können, denn im Judentum wird das Können vom Gesetz vorgeschrieben. Was in der Angst vor der Schuld erschlossen wird, ist also nur die Möglichkeit, vor dem Gesetz als einer autoritären Instanz für die Moralität eines Individuums schuldig zu sein. Und die Reue, die danach hinzutritt, ist auch keine wahre Reue, denn man bereut nur wegen der kommenden Strafe. Die Zurechenbarkeit des Individuums wird hier auf ein gesetzliches, das heißt äußerliches Verhältnis reduziert und die Normativität des Ethischen wird zu einem Gebot – nicht des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens des synthetisierenden Geist, sondern – einer äußerlichen Autorität.²¹² So ist die Sühne auch durch einen äußerlichen Akt zu leisten: dem Opfer. SKS 4, 406 / BA[R], 113. SKS 4, 405 / BA[R], 113. SKS 4, /405 BA[R], 113. An einer späteren Stelle hat Kierkegaard selbst das Juristische mit dem Äußerlichen gleichgesetzt (SKS 4, 459 / BA[R], 178). Aus der Abgrenzung davon folgt seine Bestimmung der
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt
131
Der Jude nimmt seine Zuflucht zum Opfer, aber es hilft ihm nicht; denn das, was eigentlich helfen soll, wäre, daß das Verhältnis der Angst zur Schuld aufgehoben und ein wirkliches Verhältnis gesetzt würde. Da das nicht geschieht, ist das Opfer zweideutig, was in seiner Wiederholung zum Ausdruck kommt, deren weitere Konsequenz reine Skepsis in Richtung auf Reflexion über den Opferakt selbst wäre.²¹³
Dass das Opfer stets wiederholt wird, zeigt schon das Scheitern des Kompensationsversuchs.²¹⁴ Solange das Individuum nicht mit der Angst vor den wahren, jemeinigen Möglichkeiten konfrontiert wird und den qualitativen Sprung nicht wagt, kommt es nicht zur Versöhnung, denn „erst mit der Sünde ist die Versöhnung gesetzt“²¹⁵.
2.5.3 Die Angst des Genies Parallel zu den Angstformen in der außerchristlichen Welt behandelt Kierkegaard die analogen Erscheinungen im Christentum, die nur bei außergewöhnlichen Individuen vorkommen. Diese sind das Genie der Unmittelbarkeit, dessen Gottesverhältnis einen „irrigen Ausdruck als Schicksal“²¹⁶ findet beziehungsweise zum Gegenstand der Angst wird, und das religiöse Genie, das sich – anstatt seine Begabung in weltlichen Verhältnissen zu verwenden – in sich selbst zurückzieht und in der Angst die Schuld entdeckt. Dass die Religiosität auch eine Begabung sein kann, macht Kierkegaard in Abgrenzung zum griechischen Denken deutlich, indem er eine Geschichte aus Platons Protagoras wiedergibt, die wir zur Klärung des Begriffs gerne vollständig zitieren möchten: Als Epimetheus den Menschen mit allen möglichen Gaben ausgestattet hatte, fragte er Zeus, ob er nun die Fähigkeit austeilen solle, zwischen Gut und Böse zu wählen, ganz so, wie er die anderen Gaben verteilt habe, so daß irgendein einzelner sie erhielte, so wie ein anderer die Gabe der Rhetorik, ein weiterer die des Dichtens, ein Dritter die Gabe der Kunst. Aber Zeus
Schuld als unendlich: „Wer daher seine Schuld nur durch Analogien zu polizeilichen und höchstrichterlichen Entscheidungen kennenlernt, der begreift eigentlich nie, daß er schuldig ist; denn ist ein Mensch schuldig, so ist er unendlich schuldig“ (SKS 4, 460 / BA[R], 178). SKS 4, 406 / BA[R], 113 f. Walter Dietz spricht zurecht von der Einmaligkeit des Opfers, die das Judentum nicht fassen kann: „Da im Judentum der Vorsehungsbegriff (BA 114,5 = GW 11,107) fehlt, wird die Einmaligkeit des Opfers nicht erfaßt: es muß wiederholt werden […]“ (Dietz, Sören Kierkegaard, S. 319 f. Mehr dazu siehe Dietz, Sören Kierkegaard S. 320, Fußnote 845). SKS 4, 406 / BA[R], 114. SKS 4, 411 / BA[R], 120.
132
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
antwortete, diese Fähigkeit soll an alle gleich ausgeteilt werden, weil sie jedem Menschen gleich wesentlich zugehöre.²¹⁷
Genies sind außergewöhnliche Individuen, die den vorgeschriebenen Rahmen des Menschseins nicht unbedingt erfüllen. Bei einem Genie kann der Geist zwar vorhanden sein, wird aber „nicht wesentlich als Geist gesetzt“. So ist das Genie also „unmittelbar als solches überwiegend Subjektivität“²¹⁸. Die anthropologische These, dass der Mensch eine vom Geist getragene Synthese ist, und dass beim synthetisierenden Selbstsetzen des Geistes die unmittelbare Einheit von Leib und Seele in einem vorreflexiven Verhältnis zu dieser destruierend-konstruierenden Macht, das heißt in der unschuldig-unmittelbaren Angst durch den qualitativen Sprung zum reflexiven Selbstverhältnis wird²¹⁹, gilt hierfür nicht mehr, denn der Geist gehört zum Genie – wie eine natürliche Begebenheit – als seine Begabung. Das religiöse Genie zeigt sich in seiner außergewöhnlichen Ursprünglichkeit, sodass der historische Zusammenhang, in dem es sich befindet, es nicht so sehr betrifft wie die anderen. Da es „in ursprünglicher Weise mit sich selbst zu tun hat“²²⁰, werden bei ihm die Weltbezüge zu einem integrierten Moment seines Selbstseins: Jedesmal, wenn ein Genie geboren wird, wird sozusagen die Probe auf Existenz gemacht; denn es durchläuft und erlebt alles Zurückgelegte, bis es sich selbst einholt. Das Wissen des Genies vom Vergangenen ist deshalb von ganz anderer Art als dasjenige, das in welthistorischen Übersichten geboten wird.²²¹
Infolgedessen geht die Bestimmung der beiden Genies in entgegengesetzte Richtung: Das unmittelbare Genie hat in sich kein genuines Selbstverhältnis. Es wendet sich ständig nach außen, wird „aus dem Allgemeinen hinausversetzt“²²², indem es ohne Verzögerung dem Befehl des unmittelbaren Geistes folgen und das Außergewöhnliche schaffen kann. Das religiöse Genie aber lässt die Außenwelt außer Acht, denn „[d]as erste, was es tut, ist, daß es sich zu sich selber hinkehrt“²²³. Die Auswendigkeit des unmittelbaren Genies führt zum Schicksalsglauben, während die Inwendigkeit des religiösen Genies – bevor es von ir-
SKS 4, 408 / BA[R], 115 (Anm.). SKS 4, 401 / BA[R], 107. Vgl. Abschnitt 2.2.1 f. SKS 4, 409 / BA[R], 117. SKS 4, 407 / BA[R], 114. SKS 4, 403 / BA[R], 109. SKS 4, 409 / BA[R], 117.
2.5 Die Angst in der außerchristlichen Welt
133
gendetwas beeinflusst wird – das Schuldbewusstsein hervorbringt. Nur eines haben sie gemeinsam: Sie sind beide ein pures An-sich, das Kierkegaard quasi als ein Naturphänomen betrachtet, das in der Gesamtordnung der Welt sein Pendant jeweils im Schicksal und in der Schuld findet: Das Genie ist ein allmächtiges An-sich, das als solches die ganze Welt erschüttern würde. Um der Ordnung willen ersteht daher zugleich mit ihm eine andere Gestalt, es ist das Schicksal.²²⁴ Indem sich das Genie also nach innen kehrt, entdeckt es die Freiheit. […] die Freiheit ist ihm seine Seligkeit, […] die Freiheit, bei sich zu wissen, daß er Freiheit ist. […] der Ordnung halber entsteht mit diesem An-sich der Freiheit eine andere Gestalt, die Schuld.²²⁵
Das Verhältnis des Genies zu seinem Pendant ist wiederum die Angst, die sich in ihrer eigentümlichen Zweideutigkeit zeigt. „Darin erweist das [sc. unmittelbare] Genie gerade seine mächtige Urkraft, daß es das Schicksal entdeckt, und daran zeigt es auch wieder seine Ohnmacht“²²⁶. Das Notwendig-Zufällige, das das Heidentum durch das Orakel vorauszusehen vermeint, entdeckt das Genie, immer wenn es sich in sich zurückzieht. „Das Genie vermag alles, und dennoch ist es von Geringfügigkeiten abhängig, die niemand begreift, von einer unbedeutenden Kleinigkeit, der das Genie selbst wieder durch seine Allmacht allmächtige Bedeutung verleiht“²²⁷. Darin liest es „den Willen des Schicksals“²²⁸, an den es ohnmächtig glaubt. Im Grunde genommen wird das Schicksal dem Genie selbst Schicksal, sodass das Genie nur durch sich selbst – im Glauben an das Schicksal – siegen oder fallen kann. So zeigt sich seine Angst eben als die außergewöhnlichste: „Das Genie ist im Augenblick der Gefahr am allerstärksten; dagegen fällt seine Angst in den Augenblick davor und in den Augenblick danach, diesen zitternden Moment, indem es sich mit jenem großen Unbekannten unterhalten muß, der das Schicksal ist“²²⁹. Das religiöse Genie hat wegen seiner Inwendigkeit keine Angst vor dem Schicksal, das nur die Endlichkeit betrifft. Im gleichen Moment, indem es die Freiheit in sich entdeckt, entdeckt es die Möglichkeit der Schuld, noch bevor es von seiner Freiheit Gebrauch macht:
SKS 4, 402 / BA[R], 108. SKS 4, 410 / BA[R], 118. SKS 4, 401 / BA[R], 108. SKS 4, 402 / BA[R], 108. SKS 4, 403 / BA[R], 109. SKS 4, 403 / BA[R], 110.
134
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Das Verhältnis der Freiheit zur Schuld ist Angst, weil die Freiheit und die Schuld noch Möglichkeit sind. Indem aber die Freiheit so mit all ihrer Leidenschaft verlangend auf sich selber starrt und die Schuld fernhalten will, so daß kein Stäubchen von ihr an der Freiheit zu finden ist, kann sie es nicht lassen, auf die Schuld zu starren, und dieses Starren ist das zweideutige Starren der Angst, so wie selbst die Entsagung innerhalb der Möglichkeit ein Begehren ist.²³⁰
Das Außergewöhnliche an seiner Angst besteht nämlich darin, dass es sich nicht um sein Ansehen in den Augen der Anderen kümmert, sondern um die Schuld an sich. „Nur die Schuld fürchtet er; denn sie ist das einzige, was ihn der Freiheit berauben kann“²³¹. In beiden Fällen ist das Sündenbewusstsein zurückgedrängt²³², worin gerade die Sünde bestehen soll. Kierkegaard kritisiert am unmittelbaren Genie, dass es sich in seinem Glauben an das Schicksal nur um endliche Bestimmungen wie zum Beispiel die Ehre sorgt und weder zur Sünde noch zur Vorsehung durchdringen kann. Folglich ist das Schicksal nur eine „Antizipation der Vorsehung“²³³ und der Ehrverlust das Scheinbild der wahren Schuld²³⁴. Indem das religiöse Genie mit seiner Begabung in den unmittelbaren Bestimmungen verbleibt und nicht zum authentischen Selbstverhältnis kommt, in welchem es nichts Äußerlichem erliegt und rein für sich selbst bestimmt, was es werden soll, kommt es nicht zur Erlösung. Indem das religiöse Genie – in seinem kontemplativen Selbstverhältnis – sich von der Angst vor der möglichen Schuld erfassen lässt und deshalb nicht zur Handlung, nicht zum Weltverhältnis kommt, dringt es ebenfalls nicht zur Wirklichkeit der Sünde durch. Die Entängstigung, deren Möglichkeit lediglich im Durchleben aller möglichen Gegenstände der Angst liegt, fordert also zu einer Existenzbewegung auf, wozu man den qualitativen Sprung wagen muss.
2.6 Entängstigung und Existenzbewegung In der neuesten Auflage des Pschyrembel Lexikons für Psychiatrie, Klinische Psychologie und Psychotherapie wird der Begriff Entängstigung wie folgt definiert:
SKS 4, 411 / BA[R], 119. SKS 4, 410 / BA[R], 118. SKS 4, 410 / BA[R], 119. SKS 4, 402 / BA[R], 108. SKS 4, 404 / BA[R], 111.
2.6 Entängstigung und Existenzbewegung
135
Entängstigung: (engl.) normalization; Erarbeiten einer für den Patienten nachvollziehbaren Erklärung für Angst auslösende Symptome u. Erlebnisse, um deren Angst auslösendes Potential zu reduzieren; vgl. Entpathologisierung²³⁵.
Eine Therapie, die nicht allein darauf abzielt, die Angst eines (kranken) Individuums völlig zu vertreiben, sondern auch darauf, ihm dabei zu helfen, seine Angstsymptome zu bewältigen und eine gesunde Persönlichkeit zu entwickeln, gibt es auch bei Kierkegaard in einer spirituellen Form. Diese Therapie nennt er eine Bildung durch die Angst, in der man „den Kursus der Möglichkeit im Unglück“²³⁶ durchmachen muss. In der anthropologischen Grundlegung haben wir anhand von ausgewählten Passagen in KT dargestellt, dass ein Individuum, das in seiner Existenzbewegung ein verfehltes Selbstverhältnis hervorgebracht hat, sich in Verzweiflung befindet. Diese Verzweiflung bezeichnet Kierkegaard als eine geistige Krankheit, die sich auch beim Sterben nicht heilen lässt. Nicht nur bei der Verzweiflung, sondern auch bei der Angst geht es um geistige Störungen, die tief in der Wesensbestimmung des Menschen liegen, also jeden betreffen können, egal ob bewusst oder unbewusst. Deshalb kommt eine Krankheit des Geistes nicht durch äußere Ursachen zustande, sondern jeder erschafft sie sich durch eine selbstverschuldete Verfehlung im Sich-zu-sich-selbst-Verhalten. Das Krank- und Gesundsein ist bei Kierkegaard nicht in derselben Bedeutung wie in der Psychiatrie zu verstehen. Die Entängstigung zielt hier auf jedes Individuum, das sich um die eigene Vervollkommnung streitet. Laut dem Therapeuten Kierkegaard-Haufniensis muss „jeder Mensch […] lernen, wie man sich ängstigt, damit er nicht entweder dadurch verlorengeht, daß ihm nie angst gewesen ist, oder dadurch, daß er in der Angst versinkt“²³⁷. Die Gefahr des falschen Angsthabens führt entweder zur scheinbaren Angstlosigkeit, die tatsächlich in der Geistlosigkeit gründet²³⁸; oder auf den Irrweg des Angsthabens, das heißt in diesem Falle zum Selbstmord. Wenn man nämlich „bei Beginn seiner Ausbildung die Angst mißversteht, so daß sie ihn nicht zum Glauben führt, sondern vom Glauben wegführt, so ist er verloren“²³⁹. In Abgrenzung zum
Pschyrembel Psychiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie, hg. von Jürgen Margraf und Wolfgang Maier, 2. Aufl., Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2012, S. 258. Vgl. die Einträge im gleichen Wortfeld wie z. B. Angstbewältigung bzw. Angst-Management. SKS 4, 457 / BA[R], 174 f. SKS 4, 454 / BA[R], 171. Vgl. Abschnitt 2.4.3. SKS 4, 457 / BA[R], 175.
136
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
möglichen Missverständnis führt er erneut den mehrmals ausgeführten Begriff der Angst vor Augen: Wäre der Mensch ein Tier oder ein Engel, so könnte er sich nicht ängstigen. Da er eine Synthese ist, kann er sich ängstigen; und je tiefer er sich ängstigt, desto größer der Mensch; jedoch nicht in dem Sinne, wie die Menschen es im allgemeinen verstehen, wonach die Angst dem Äußerlichen gilt, dem, was außerhalb des Menschen ist, sondern so, daß er selbst die Angst produziert.²⁴⁰ Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit; nur diese Angst ist etwas, was durch den Glauben absolut bildet, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschung an ihnen entdeckt.²⁴¹
Nur die von der Wesensbestimmung des Menschen ermöglichte, von jedem in sich selbst produzierte Angst, in der die Möglichkeit der Freiheit erschlossen ist, hat die Funktion der geistigen Bildung. Nicht diese Angst, sondern die Ängste, die den Endlichkeiten, das heißt „den Schrecknissen des Lebens“²⁴² gelten, müssen bewältigt werden. Die Entängstigung zielt also darauf ab, die normalen Ängste, die nach der oben eingeführten Unterscheidung von Furcht und Angst vielleicht besser Fürchte genannt werden sollen, durch die existentielle Angst, in der man mit den unendlichen Möglichkeiten zu können konfrontiert wird, zu verjagen: […] erst, wer die Angst der Möglichkeit durchgemacht hat, erst der ist dazu herangebildet, sich nicht zu ängstigen; nicht weil er den Schrecknissen des Lebens entginge, sondern weil diese Schrecknisse im Vergleich zu denen der Möglichkeit immer unbedeutend bleiben.²⁴³
Die Bildung durch die Angst ist also die Bildung durch die in der Angst erschlossenen Möglichkeiten. Diese Erschließung geschieht aber nur dank eines dynamischen Moments im Selbstsein, das heißt der Phantasie als der unendlich machenden Reflexion.²⁴⁴ Hier kommt die Doppelsinnigkeit der Bildung besonders ins Spiel: Die Möglichkeit bildet, indem das Individuum sich Möglichkeiten einbildet, damit das Gebildete ihm im nächsten Moment „die Macht nimmt“²⁴⁵. Dass man gegenüber der eigenen Einbildung ohnmächtig wird, geschieht nur durch die eigentümliche Zweideutigkeit der Angst. Die Möglichkeit, die in der Synthesisstruktur der menschlichen Wesensbestimmung auf der Seite der Unendlichkeit steht, soll also im Prozess der Einbil-
SKS 4, 454 / BA[R], 171. SKS 4, 454 / BA[R], 171. SKS 4, 456 / BA[R], 173. SKS 4, 456 / BA[R], 173. Vgl. Abschnitt 2.3.2.1. SKS 4, 456/ BA[R], 173.
2.6 Entängstigung und Existenzbewegung
137
dung „alle Endlichkeiten entdecken, sie aber in der Gestalt der Unendlichkeit idealisieren“²⁴⁶. Dabei muss das Individuum stets vermeiden, die Flucht vor dem zu ergreifen, was eine angemessene Reaktion auf eine normale Angst ist. Im Gegensatz dazu muss es lernen, die Angst zu begrüßen und sie zu einem „dienenden Geist“ machen, der es zur Entängstigung führt: Wer sich […] bilden läßt, der bleibt bei der Angst; er läßt sich nicht von ihren zahllosen Fälschungen betrügen, er erinnert sich genau an das Vergangene; dann sind schließlich die Anfälle der Angst, obwohl entsetzlich, doch nicht von der Art, daß er vor ihnen flieht. Die Angst wird für ihn zu einem dienenden Geist und muß ihn gegen ihren Willen dahin führen, wohin er will.Wenn sie sich dann meldet, […] so weicht er nicht zurück; […] sondern er heißt sie willkommen, er begrüßt sie festlich, wie Sokrates den Giftbecher schwang, er schließt sich mit ihr ein, er sagt, wie der Patient zum Chirurgen, wenn die schmerzhafte Operation beginnen soll: Jetzt bin ich bereit. Dann dringt die Angst in seine Seele ein und durchforscht alles, und ängstigt das Endliche und Kleinliche aus ihn hinaus, und so führt sie ihn dort, wohin er will.²⁴⁷
Damit die Bildung gelingt, muss man redlich zu den Möglichkeiten sein, die man selbst hervorruft. Dies aber geschieht nur im Glauben, den Kierkegaard gerade hier nicht spezifisch als den christlichen Glauben erfasst, sondern dessen hegelianische Definition heranzieht, das heißt als „die innere Gewißheit, die die Unendlichkeit vorwegnimmt“²⁴⁸. Gewissheit und Innerlichkeit, dazu noch das ernste Interesse an der eigenen Existenz²⁴⁹, bilden den Inhalt des redlichen Glaubens, der dem Menschen durch die selbstgebildeten Möglichkeiten die endlichen Ängste verjagt. Ohne Ernst und Redlichkeit aber wird der Glaube nur zu einer „Klugheit der Endlichkeit“²⁵⁰. In dieser bildenden Angst versinkt der Mensch ganz und gar in der Einbildung der Möglichkeiten, verliert dabei alle Weltbezüge und wird gerade im heideggerschen Sinne „vereinzelt“. Wie folgt beschreibt Kierkegaard quasi-phänomenologisch diesen Verlust der Weltbezüge durch Verwischen der Sinnesorgane: Wer aber in der Möglichkeit versank, dessen Blick schwindelte, dessen Auge wurde unklar, so daß er den Maßstab nicht erfaßte, den Hinz und Kunz dem Sinkenden als rettenden Strohhalm hinhalten, sein Ohr verschloß sich, so daß er nicht hörte, in welchem Marktpreis die Menschen bei seinen Zeitgenossen standen; nicht hörte, daß er ebensogut sei wie die
SKS 4, 456 / BA[R], 173. SKS 4, 457 f. / BA[R], 175 f. SKS 4, 456 / BA[R], 173. Vgl. dazu Abschnitt 2.4.2. SKS 4, 456 / BA[R], 174.
138
2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
meisten. Er sank absolut; dann aber tauchte er aus der Tiefe des Abgrundes wieder auf, leichter als all das Belastende und Erschreckende im Leben.²⁵¹
Eine Gefahr dieser Bildung besteht aber darin, dass der Mensch in dieser Vereinzelung versunken bleibt und schließlich Selbstmord begeht. Doch dies geschieht laut Kierkegaard nur wegen des Missverständnisses der Angst. Man darf nicht in der Angst verbleiben, sondern muss die Existenzbewegung nach vorne treiben, die aber nicht in der Phantasie, sondern nur in der Wirklichkeit geschehen kann. Man muss die anziehende und zurückschreckende Macht der Angst, die alle Einflüsse kompensiert und alle Weltbezüge forttreibt, schließlich überwinden können, um den qualitativen Sprung zu wagen. Egal ob der Sprung zur Sünde oder zum wahren Glauben führt, er ist die Bestätigung der Selbstbestimmungskraft des Menschen, unabhängig von allen Bedingungen für sich selbst zu entscheiden. In der Autonomie profitiert das Individuum auch von den falschen Entscheidungen, während es durch die Heteronomie nur zu einem unbewussten Geistlosen wird, der in scheinbarer Glückseligkeit „die Zeit hinzieht“²⁵² und weder zur Sünde noch zur Erlösung kommt. Die Selbstwerdung des Menschen, die ihm aufgegeben ist, kann ohne Angst und Entängstigung nicht gelingen. Im Zustand des wahren Glaubens, in dem die Verzweiflung überwunden wird, soll schließlich die Angst bewältigt sein. Er ist der telos der gesamten Existenzbewegung.
SKS 4, 457 / BA[R], 175. SKS 4, 397 / BA[R], 102.
Nach dem Sündenfall (analog: die ethische Existenz)
Der Reuende
Das spätere Individuum
Anth. Th. + derivierte Synthese + verneinendes Selbstverhalten
Selbstreflexion (Selbstbezug)
Anth. Th. + deriVerführung vierte Synthese: Warnung Das vorreflexive Sexualbewusstsein Die Erfahrung mit der Erbsündenlehre
Anthropologische Verbot These: Strafandrohung Synthesisstruktur + Aufgabe der Selbstwerdung
Christentum Vor dem Sün- Adam denfall (analog: die ästhetische Existenz)
Auslöser
Möglichkeitsbedingung
Historischer Zusammenhang Der Ängstigende
Möglichkeit, die bereits begangene Sünde zu wiederholen
Möglichkeit der Freiheit in jede Konkretion, darunter im Extremfall: Möglichkeit des sexuellen Gebrauchs des Leibs im Bewusstsein der Leibgebundenheit des Geistes Möglichkeit, für schuldig gehalten zu werden
Möglichkeit der Freiheit, zu können Möglichkeit des Sterbens
Gegenstand/ kognitiver Inhalt
Erscheinungsform
Zweideutigkeit, die sich in der Schäckerei der Angst mit den quantitativen
Zweideutigkeit, die sich im Schwindel der Freiheit zeigt: Ohnmacht (antipathetisch) und Selbstsucht (sympathetisch)
Quantitätsetzende spätere Sünde: Sünde de potentia fortgesetzt durch die je individuelle Sünde de actu
Die Reue kommt immer zu spät: keine Erlösung
Angst der wahnsinnigen Reue
Qualitätsetztende erste Sünde: Sünde de potentia als Folge der Sünde de actu
Verhältnis zur Sünde und Erlösung
Die postparadiesische Angst der Unschuld in Form von: Angst beim Empfang bzw. bei der Geburt Schamangst Angst vor der Macht des Beispiels (De te fabula narratur.)
Zweideutigkeit, Die paradiesische die sich in der sü- Angst der Unßen Beängstigung schuld zeigt: sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie
phänomenaler Gehalt
2.7 Fazit: Versuch einer tabellarischen Darstellung der Angst in ihren wesentlichen Momenten
2.7 Fazit: Versuch einer tabellarischen Darstellung der Angst
139
Anth. Th. + derivierte Synthese + bejahendes Selbstverhalten zum sündigen Selbstsein
zum sündigen Selbstsein
Möglichkeitsbedingung
Kommunikation (Weltbezug)
Auslöser
Die Angst Der Geistlose Anth. Th. + deribleibt aus vierte Synthese + Verfall zum Geistlosen
Der Trotzige
Historischer Zusammenhang Der Ängstigende
Fortsetzung
Möglichkeit des verantwortlichen Selbstseins
Möglichkeit der Offenbarung, der Kommunikation, der Kontinuität, der Innerlichkeit und Gewißheit (Ernst)
Gegenstand/ kognitiver Inhalt
Angst in Formen von: Autismus Hypochondrie Grillenfängerei Bauchrednerei usw.
Erscheinungsform
scheinbare Glück- unbewusste Angst seligkeit
Zweideutigkeit, die sich in der Kollision der Verschlossenheit mit der Offenbarung zeigt: der Wille, der die Offenbarung will (sympathetisch) und der Wille, der die Verschlossenheit will (antipathetisch)
Bestimmungen zeigt: die Wirklichkeit der Sünde als das Bösartige in sich selbst zwar forthaben (antipathetisch), aber auch bestehen lassen (sympathetisch) zu wollen
phänomenaler Gehalt
Der fernste Zustand zur Erlösung
Freiwillige Selbstverstrickung in der Unfreiheit: keine Erlösung
Verhältnis zur Sünde und Erlösung
140 2 Angst und Entängstigung in Kierkegaards Angstabhandlung
Die nichtchristliche Welt
Nach der gelungenen Selbstsetzung (analog: die religiöse Existenz)
Gegenstand/ kognitiver Inhalt
Zuflucht zum Opfer: keine Erlösung
Zweideutigkeit Angst vor der Schuld gegenüber der Schuld: fürchterlich (antipathetisch) darauf starrend (sympathetisch)
Möglichkeit, die Anthr. Th. + histori- Gesetz (beim Genie: In- vom Gesetz vorgescher Zusammenhang + reduziertes trospektion) schrieben wird Selbstverhältnis
Judentum (analog: das religiöse Genie)
Erlösung durch den Glauben
Verhältnis zur Sünde und Erlösung
Zuflucht zum Orakel: keine Erlösung
Angst als der dienende Geist, der den Menschen zum Glauben hinführt
Erscheinungsform
Angst vor dem Schicksal
Innerlichkeit, Gewissheit, Redlichkeit, Ernst zu sich selbst und Durchsichtigkeit im Selbstverhältnis
phänomenaler Gehalt
Zweideutigkeit, die sich im Verhältnis zum Orakel zeigt: Das Orakel brauchen (sympathetisch) und nicht wagen zu befragen (antipathetisch) Im Fall des Genies: Urkraft (sympathetisch) und Ohnmacht (antipathetisch)
Keine Angst vor Möglichkeit als den Schrecknis- Vorsehung sen des Lebens
Auslöser
Anthr. Th. + histori- Orakel Möglichkeit als scher Zusammen(beim Genie: In- das Notwendighang + Geistabwe- trospektion) Zufällige senheit
Anth. Th. + gelungenes Selbstverhältnis
Möglichkeitsbedingung
Heidentum (analog: das unmittelbare Genie)
Der wahre Christ
Historischer Zusammenhang Der Ängstigende
Fortsetzung
2.7 Fazit: Versuch einer tabellarischen Darstellung der Angst
141
3 Die Angstthematik im quellengeschichtlichen und wirkungsgeschichtlichen Kontext Kierkegaard lebte in einem Zeitalter, in dem der Deutsche Idealismus seinen Höhepunkt im Hegelianismus erreicht und dessen länderübergreifender Einfluss überzeugt hatte. Kierkegaards Rezeption und Rebellion im Verhältnis zur hegelschen Philosophie hat die Forschung bereits umfassend dargestellt.¹ Auch in BA wird deutlich, dass Kierkegaard einerseits den Hegelianismus wiederholt mit seiner scharfsinnigen Spöttelei bewitzelt, andererseits aber – insbesondere in seiner anthropologischen Grundlegung – sehr von den hegelianischen Terminologien beziehungsweise ihrer Vollzugsweise abhängig ist.² Was unser Thema an dieser Stelle betrifft, so ist der philosophiegeschichtliche Zusammenhang in Kierkegaards Angstthematik von eher hintergründigen Sinne.³ In der Angstabhandlung ist kein Zitat von Kant zu finden. Die Forschung hat bislang keinen Beleg erbringen können, inwiefern Kierkegaard seine Kennt-
Vgl. u. a. Niels Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus 1835 – 1846. Historisch-analytische Untersuchung, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1972. Stewart vertritt die Ansicht, dass das Verhältnis Kierkegaards zu Hegel in BA besonders bemerkenswert ist, weil hier die Hegelkritik eigentlich auf Adler ausgerichtet ist: „I will argue that the real target of Vigilius Haufniensis’ purported criticism of Hegel here is the Hegelian Adolph Peter Adler and in particular Adler’s Popular Lectures on Hegel’s Objective Logic. Virtually all of the main points concerning Hegel’s philosophy that Vigilius Haufniensis touches on can be found in the Introduction to this work. […] Kierkegaard has Vigilius Haufniensis criticize Adler under the name of Hegel and Hegelianism“ (Jon Stewart, „The Dispute with Adler in The Concept of Anxiety“, in Jon Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 380 f.). Nach Thulstrup „verwendete Kierkegaard, im Begriff Angst (Begrebet Angest) sogar in recht auffälligem Maße, die Terminologie und die Form seiner Gegner“ (Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus, S. 295). Um nur ein Beispiel zu nennen – bei der Definition des Glaubens hat Kierkegaard sogar direkt Bezug auf Hegels Terminus genommen: „Unter dem Glauben verstehe ich hier, wie Hegel ihn einmal auf seine Weise überaus richtig kennzeichnet, die innere Gewißheit, die die Unendlichkeit vorwegnimmt“ (SKS 4, 456 / BA[R], 173). So werden z. B. Rosenkranz und Baader, die Kierkegaard im Buch erwähnt, zitiert und gegebenenfalls paraphrasiert hat, nicht thematisiert. Kierkegaard setzt sogar voraus, dass sein Leser sich in den Werken beider Autoren auskennt, vgl. (SKS 4, 345 / BA[R], 39 (Anm.); SKS 4, 447 / BA [R], 162 (Anm.). Mehr dazu siehe Peter Koslowski, „Baader: The Centrality of Original Sin and the Difference of Immediacy and Innocence“, S. 1– 16; Heiko Schulz, „Rosenkranz: Traces of Hegelian Psychology and Theology in Kierkegaard“, in Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome II, Theology, hg. von Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2007 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6), S. 161– 196. https://doi.org/10.1515/9783110546941-004
3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
143
nisse der kantischen Philosophie durch Primärliteratur erworben hat.⁴ Dennoch erkennt man an verschiedenen Hinweisen in BA, dass die anthropologisch angelegte Hamartiologie die kantischen Religionsphilosophie zur Voraussetzung hat. Außer dass bekanntlich Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) das gleiche Thema wie BA behandelt, ist die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) ebenfalls erwähnenswert, denn der kantische Begriff für die Folge des Sündenfalls, nämlich der selbstverschuldete „Hang zum Bösen“, gehört zum Forschungsgebiet der Anthropologie. Schelling ist zwar der einzige Zeitgenosse in der Epoche des Deutschen Idealismus gewesen, den Kierkegaard noch persönlich gekannt hat⁵, doch die Anschlusspunkte an Schelling in BA erweisen sich fast alle als abgrenzend.⁶ McCarthy hat zwar darauf hingewiesen, dass sieben der insgesamt neun direkten Bezüge Kierkegaards auf Schelling in BA zu finden sind⁷, weshalb BA als die Hauptreferenz für das Verhältnis Kierkegaards zu Schelling gelten soll. Über weiterführende Erkenntnisse Kierkegaards aus Schellings Schriften ist die Forschung jedoch noch zu keiner einheitlichen Meinung gelangt. In seiner umfangreichen historischen Einführung des Verhältnisses beider zueinander⁸ zeigt Olesen, dass es keine Belege dafür gibt, dass Kierkegaard Schellings Primärtexte studiert hat.⁹ Hennigfeld erwidert jedoch darauf mit Belegen, dass Kierkegaard sich durchaus mit dem Primärtext vertraut gemacht hatte. Eine mittlere Meinung vertritt McCarthy, der diese Lektüre zu datieren versucht und vermutet, dass Kierkegaard die Freiheitsschrift zwar sorgfältig studierte, aber definitiv nicht vor der Berlin-Reise, sondern nachdem er in Berlin Schellings Vorlesung gehört hatte, sehr wahrscheinlich initiiert durch die Lektüre von Rosenkrantz’s Vorlesungen Vgl. u. a. Roe Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil: Kierkegaard and Kant“, in Kantian Review, Bd. 17, 2012, S. 222. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 111. Zu den Stellen in BA, in denen sich Kierkegaard direkt auf Schelling bezieht vgl. Jochem Hennigfeld, „Angst – Freiheit – System. Schellings Freiheitsschrift und Kierkegaards Der Begriff Angst“, in Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hg. von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart, Berlin: Walter de Gruyter 2003, S. 103 – 105. Die Stelle im zweiten Kapitel, von der Hennigfeld annimmt, dass Kierkegaard Schellings Anthropomorphismus verteidigt, sehe ich jedoch eher als eine Einräumung an. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 112. Tonny Aagaard Olesen, „Kierkegaards Schelling. Eine historische Einführung“, in Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hg. von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart, Berlin: Walter de Gruyter 2003, S. 1– 102. Olesen, „Kierkegaards Schelling. Eine historische Einführung“, S. 67 f. Olesen vermutet auch, dass Schellings Erwähnung des Begriffs Angst in seiner Freiheitsschrift Kierkegaard sehr wahrscheinlich unbekannt war (vgl. Olesen, „Kierkegaards Schelling. Eine historische Einführung“, S. 72 f.).
144
3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
über Schelling und Sendschreiben an P. Leroux über Schelling und Hegel. ¹⁰ Aus dieser Kontroverse können wir zumindest den Schluss ziehen, dass Schellings Einfluss auf Kierkegaard allenfalls im Hintergrund bleibt. Die philosophiegeschichtliche Wirkung von Kierkegaards innovativer Bestimmung der Angst als Zwischenbestimmung in der Selbstwerdung des Menschen zeigt sich vor allem in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, in dem dieser Kierkegaards Analyse des Angstphänomens in BA als im theologischen Zusammenhang „am weitesten […] vorgedrungen“¹¹ bezeichnet und an einer späteren Stelle in Abgrenzung zu allen anderen „theoretischen“ Schriften¹² positiv bewertet.¹³ Auf die Frage, inwiefern er von Kierkegaards Schriften beeinflusst wurde, hat er aber weitgehend auf eine klare Stellungnahme verzichtet.¹⁴ Die dritte Anmerkung über Kierkegaard in SuZ, in der Heidegger Kierkegaards Auffassung der existenzialistischen Zeitlichkeit deutlich missinterpretiert¹⁵ ¹⁶, zeigt aber deutlich, dass Heidegger sich – zumindest durch intensive Diskussion mit Karl Jaspers – mit dem Inhalt und den Argumenten von BA vertraut gemacht hatte. Es geht uns hier weniger um das Verhältnis beider Philosophen zueinander, als um die Frage nach der Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Angst ausgehend von der anthropologischen Grundlegung Kierkegaards zu einem Kernmoment der Fundamentalontologie. Die Strukturanalyse der Angst als Stimmung/Grundbefindlichkeit ist im Folgenden ein weiterer Vergleichspunkt.
McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 112. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19 Aufl., Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006 (im Folgenden abgekürzt mit SuZ), S. 190 (Anm.). SuZ, 235 (Anm.). So interpretiert z. B. McCarthy: „Heidegger here is clearly identifying Kierkegaard’s The Concept of Anxiety as the exceptional place where something is indeed to be learned from Kierkegaard philosophically – as manifestly was the case in that work but also in others“ (McCarthy, Kierkegaard as Psychologist. S. 154). „Heidegger does mention Kierkegaard from time to time, but when brought together these remarks do not form a clear interpretation or assessment.“ Vgl. Clare Carlisle, „Kierkegaard and Heidegger“ in The Oxford Handbook of Kierkegaard, hg. von John Lippitt und George Pattison, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 421 f. SuZ, 338 (Anm.). Die Missinterpretation liegt darin, dass Heidegger Kierkegaards deutliche Abgrenzung vom Jetzt als unendliche Sukzession in seiner Bestimmung des Begriffs ‚Augenblick‘ übersehen hat. Zu Kierkegaards Ausführung siehe Abschnitt 1.2.3.2 der vorliegenden Untersuchung. Mehr zum Verhältnis Kierkegaard-Heidegger bezüglich des Begriffs der Zeitlichkeit vgl. Gerhard Thonhauser, Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Søren Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger.
3.1 Kants Religionsschrift als thematischer Ursprung der Angstabhandlung
145
3.1 Kants Religionsschrift als thematischer Ursprung der Angstabhandlung 3.1.1 Kants Versuch einer rationalistischen Hamartiologie und Soteriologie in seiner Religionsschrift¹⁷ In der Fragestellung, ob der Mensch von Natur gut oder böse sei, versucht Kant zwei verschiedene Bedeutungen des Angeborenseins auseinanderzuhalten. Das Gute, das dem Menschen in der Natur liege, nennt er eine ursprüngliche Anlage, während das Böse als ein Hang zur menschlichen Natur gehöre: Unter Anlagen eines Wesens verstehen wir sowohl die Bestandstücke, die dazu erforderlich sind, als auch die Formen ihrer Verbindung, um ein solches Wesen zu sein. Sie sind ursprünglich, wenn sie zu der Möglichkeit eines solchen Wesens notwendig gehören; zufällig aber, wenn das Wesen auch ohne dieselben an sich möglich wäre.¹⁸
Der Hang aber […] unterscheidet sich darin von einer Anlage, daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.¹⁹
So gehört die Anlage zum Guten zur Wesensbestimmung des Menschen, während der Hang zum Bösen die Konsequenz einer freien Handlung ist. Diese Handlung ist aber – um angeboren zu sein – nicht in der Zeit zu denken, sondern nur als eine „intelligibele Tat“, die „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“²⁰ ist. Durch diese intelligible Tat hat sich der Mensch also eine Prädisposition zugezogen, einen „subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia)“²¹. Diese ist aber zugleich als der subjek-
Die nachfolgende zusammenfassende Darstellung bezieht sich ausschließlich auf die Inhalte des ersten Stücks von Kants Religionsschrift, in dem zwar keine systematische Darstellung einer Soteriologie, aber doch schon die Möglichkeit einer solchen angegeben wird. Alle zitierten Textstellen beziehen sich auf folgende Ausgabe: Immanuel Kant, „Erstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur“, in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. von Bettina Stangneth, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2003, S. 19 – 69 (im Folgenden abgekürzt mit Rel., im laufenden Text auch Religionsschrift genannt). Rel., 34. Rel., 34 f. Rel., 38. Rel., 34.
146
3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
tive Grund der „Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“²² die „oberste Maxime“²³, die dem Gesetz zuwider ist. Dass man bei einer intelligiblen Tat diese Maxime im Gebrauch der Freiheit beansprucht, nennt Kant die Sünde im ursprünglichen Sinne (peccatum originarium), während alle Handlungen, die in der Zeit geschehen, gemäß dieser Maxime ausgeübt werden und deswegen nur Sünde im derivierten Sinne (peccatum derivativum) sind: „Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang, und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann […]“²⁴. Demgemäß muss man bei der Feststellung, dass ein Mensch böse ist, dies durch eine „zweifache Induktion“²⁵ der zugrunde liegenden Maximen bis auf die oberste Maxime, nämlich den Hang zum Bösen zurückverfolgen können: Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung, a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen.²⁶
Das Angeborensein des Hanges zum Bösen im Menschen, mit dem Kant die Universalität der Sünde begründen will, wird ihrer Zurechenbarkeit wegen eine „subjektive Notwendigkeit“²⁷ genannt. So hat der ursprünglich gut geschaffene Mensch im Gebrauch der eigenen Freiheit – anstatt die zu seinem Wesen gehörenden Anlage zum Guten – eine Prädisposition zur Annahme böser Maximen, die in Konkurrenz mit den moralischen Gesetzen stehen, als seine oberste Maxime in die Willkür angenommen. Wegen dieser Prädisposition tendiert der Mensch also in den – nicht zeitlich, sondern logisch – späteren Taten entweder aus Willensschwäche (Gebrechlichkeit der Natur, Unlauterkeit des Herzens) oder aus der willentlichen Bösartigkeit (Verkehrtheit des Herzens) – wenn nicht gleich in der Handlung, so doch zumindest in der Denkungsart – zur Umkehrung der sittlichen Ordnung in Ansehung der Triebfedern. Da diese Prädisposition als
Rel., 35. Rel., 38. Rel., 38. „This involves a two-step inference: first, an inference from an evil act to an evil lower-level maxim, and then an inference to the supreme maxim. The idea seems to be that it is only possible to explain some acts by assuming that the moral incentive is overridden by some other principle (i. e. the incentive of self-love)“ (Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 204). Fremstedal hat auf die Asymmetrie zwischen der Indukiton der guten und bösen Maximen hingewiesen: „[…] radical evil has corrupted the disposition (Gesinnung) in general“ (ebd.). Rel., 23. Rel., 39.
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gattungsüblich anzusehen ist, nennt Kant sie nicht nur einen Hang zum Bösen, sondern sogar das radikal Böse, das mit der menschlichen Natur verwoben ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und, da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radikales, angebornes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.²⁸
Dennoch aber darf man, da die Anlage zum Guten die Natur des Menschen ursprünglich ausmacht, zu keiner Zeit die Hoffnung aufgeben, diese wieder in Kraft zu setzen. Dazu muss eine „Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben)“²⁹ vollgezogen werden, die aber ohne Beihilfe einer „übernatürlichen Mitwirkung“³⁰ nicht geschehen kann. Mit dieser Revolution ist das ursprüngliche Gute zu stiften, das in lauter Reinigkeit als die oberste Maxime der sittlichen Handlung wieder angenommen werden soll: Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht; wodurch der Mensch, der diese Reinigkeit in seine Maxime aufnimmt, ob zwar darum noch nicht selbst heilig (denn zwischen der Maxime und der Tat ist noch ein großer Zwischenraum), dennoch auf dem Wege dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern.³¹
3.1.2 Das Erbe Kants in Kierkegaards Hamartiologie Ronald M. Green spricht von Kierkegaard als „einen der besten Leser“³² von Kants Religionsschrift. Ein Kantianer, der sich mit dieser Schrift vertraut gemacht hat, wird sich hinsichtlich Kierkegaards Erbsündenlehre, wie sie in BA ausgeführt wird „unmittelbar zu Hause“³³ fühlen. Er sieht BA nicht nur als eine „natürliche Fortsetzung“ der Religionsphilosophie Kants, sondern beide Werke – BA und Rel. – als einander komplementierend:
Rel., 40. Rel., 61. Rel., 57. Rel., 60. Ronald M. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, in The Concept of Anxiety, hg. von Robert L. Perkins, Macon: Mercer University Press 1985 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 8), S. 86. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 64.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
Read together the two treatises even complement one another, with Kant’s careful conceptual analysis illuminating Kierkegaard’s major unexplained presuppositions and Kierkegaard’s psychological insight adding a new dimension to Kant’s more formal analysis.³⁴
Unter den „meist unerklärten Voraussetzungen“ Kierkegaards, die bei Kant systematisch dargestellt werden, zähle vor allem seine anthropologische Grundlegung mit Nachdruck auf das – nur der Gattung Mensch zugehörende – Vermögen der Freiheit.³⁵ Auch Roe Fremstedal weist darauf hin, dass es bei beiden um eine Anthropologie geht, die von der Dualität der menschlichen Natur ausgeht.³⁶ Eine andere Voraussetzung, die Green auflistet, ist der normative Charakter der Ethik sowohl in Rel. als auch in BA. Bei Kierkegaard spiele aber – anstatt der moralischen Gesetze – das Gebot der Individuation und Selbstrealisierung die Rolle des Normativen.³⁷ Darüber hinaus seien beide Philosophen darin einig, dass die Zurechenbarkeit einer moralischen Handlung nicht auf deren Konsequenz, sondern auf den Willen des Handelnden zurückgeführt werden müsse, und dass die Moralität, die bei Kant gelegentlich ein moralischer Beweis der Existenz Gottes genannt werde, im Glauben gründen müsse.³⁸ Sowohl Green als auch Fremstedal weisen auf die Idealität der Ethik bei Kierkegaard als ein kantisches Element hin. Green bringt dazu das Argument, dass die Ethik an der Sünde, die die Idealität der Ethik voraussetze, scheitern müsse. Daraus schließt er, dass in BA ein ethischer Rigorismus, wie Kant anfangs seiner Religionsschrift ausgeführt hat, im Hintergrund stehe.³⁹ Fremdstedal gelangt zur These des ethischen Rigorismus bei Kierkegaard mit einer anderen Begründung. Er meint, die Möglichkeit eines Übergangs von der ersten Ethik zur
Ebd. Dieser Voraussetzung haben wir bereits ein Kapitel gewidmet, vgl. insbesondere Abschnitt 1.2. Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 200. Spezifisch zum Vergleich der Anthropologie bei Kant und Kierkegaard vgl. ferner: Roe Fremstedal, „Anthropology in Kierkegaard and Kant. The Synthesis of Facticity and Ideality vs. Moral Character“, Kierkegaard Studies Yearbook 2011, S. 19 – 50. Zur Möglichkeit einer emotional motivierten Schuldethik bei Kierkegaard, in der die Individualisierung und Selbstrealisierung geboten wird vgl. Deng Zhang, „Eine existenzphilosophische Gefühlsethik? Versuch über Angst und Verzweiflung bei Kierkegaard“, in Existenzphilosophie und Ethik, hg. von Hans Feger und Manuela Hackel, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 285 – 296. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 66 – 67. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 69 – 73.
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zweiten Ethik müsse die Gültigkeit der ersten Ethik voraussetzen. Diese gehe wiederum auf die Grundeinstellung des ethischen Rigorismus zurück.⁴⁰ Ein weiterer Punkt, in dem Kant und Kierkegaard im höchsten Grade einig sind, sei die Unerklärbarkeit der Sünde oder mit Kant: des radikalen Bösen in der menschlichen Natur.⁴¹ Auf die Argumentation der Universalität des Bösen hat Fremstedal besonders Acht gegeben.⁴² Andere von der Forschung behandelte Bezugspunkte, die hamartiologisch relevant sind, sind (bei Green) die Rolle des Adams als Prototyp⁴³ und (bei Fremstedal) die Unterscheidung von Erbsünde und Sündentat⁴⁴ beziehungsweise dass der Ursprung der Sünde nicht im Angeborensein, sondern in einem Willensakt des Individuums liegen müsse, da im Begriff einer „angeborenen Sünde“ ein kategorischer Fehler liege, denn das Naturphänomen und das Freiheitsphänomen seien inkompatibel⁴⁵. Beide Autoren kommen nach dem Vergleich von Rel. und BA zum Ergebnis, dass Kierkegaard von Kants Erbe stark profitiert haben muss.⁴⁶
3.1.3 Kierkegaards neuer Ansatz Nach Kant ist der Mensch ursprünglich mit der Anlage zum Guten geboren, während er sich selbst jedoch – in einer intelligiblen Tat, die kein zeitliches Verhältnis mit dem Selbstsein hat – den Hang zum Bösen zugezogen hat, der in jeder weiteren bösen Tat prädisponiert wird. Die Lösung für den kategorischen Fehler im Begriff der Erbsünde, zugleich ein Naturphänomen und ein Freiheitsphänomen zu sein, liegt für Kant also darin, einen mittleren Begriff zwischen dem wahren Angeborensein, wie es bei der Anlage der Fall ist, und einer freien Tat, die die Zurechenbarkeit beansprucht, zu finden. Der Begriff eines Hangs, der zwar nicht angeboren, aber doch nur so gedacht werden darf, als ob er angeboren wäre, bedarf näherer Untersuchung, um genau zu entscheiden, inwiefern Kierkegaards Lösung mit der kantischen übereinstimmt.
Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 198 – 201. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 5. Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 208 – 213. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 76 – 81. Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 206 – 208. Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 215 – 218. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone“, S. 86; Fremstedal, „Original Sin and Radical Evil“, S. 221.
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In der Anthropologie wie in der Religionsschrift wird der Hang als der Möglichkeitsgrund eines Begehrens definiert: „Die subjektive Möglichkeit der Entstehung einer gewissen Begierde, die vor der Vorstellung ihres Gegenstandes vorhergeht, ist der Hang (propensio)“⁴⁷. In einer Anmerkung in der Rel. hat Kant den Hang als Prädisposition zur Neigung beschrieben, ihn zugleich aber noch in Begehrensstufen geordnet: Hang ist eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt. So haben alle rohen Menschen einen Hang zu berauschenden Dingen; denn obgleich viele von ihnen den Rausch gar nicht kennen und also auch gar keine Begierde zu Dingen haben, die ihn bewirken, so darf man sie solche doch nur einmal versuchen lassen, um eine kaum vertilgbare Begierde dazu bei ihnen hervorzubringen.⁴⁸ – Zwischen dem Hange und der Neigung, welche Bekanntschaft mit dem Objekt des Begehrens voraussetzt, ist noch der Instinkt, welcher ein gefühltes Bedürfnis ist, etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat (wie der Kunsttrieb bei Tieren, oder der Trieb zum Geschlecht). Von der Neigung an ist endlich noch eine Stufe des Begehrungsvermögens, die Leidenschaft (nicht der Affekt, denn dieser gehört zum Gefühl der Lust und Unlust), welche eine Neigung ist, die die Herrschaft über sich selbst ausschließt.⁴⁹
Wenn wir die Definition in Rel., in der der Hang in Abgrenzung zur Anlage dargestellt wird, hierin einbeziehen und mit den beiden anderen Textstellen vergleichen, so können wir daraus auf drei verschiedene Bedeutungen, wofür der „Hang“ begrifflich bei Kant steht, schließen: (1) Ein Hang ist eine freie intelligible Tat außerhalb der Zeit, (2) er ist eine Prädisposition und (3) eine der verschiedenen Begehrungsformen. Alle drei Sinnschichten finden eine Entsprechung in Kierkegaards Lösung. Bei Kierkegaard steht die qualitätssetzende erste Sünde für die freie Tat, wodurch die Sündhaftigkeit zustande kommt (1). Und die Sündhaftigkeit als die Sünde de potentia, die wegen Adams erste Sünde für die ganze Gattung essentiell geworden
Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. von Reinhard Brandt, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2000, S. 187 f. (im Folgenden abgekürzt mit Anthr.). Man findet hierzu ein analoges Beispiel bei Kierkegaard: „Man erzählt von einem indischen Einsiedler, der zwei Jahre lang von Tau gelebt hatte, er sei einmal in die Stadt gekommen, habe Wein probiert und sei darauf dem Trunk verfallen“ (SKS 4, 456 / BA[R], 174). Kierkegaard geht es mehr um den erbaulichen Sinn des Beispiels, d. h. die Angst der Möglichkeit zu erwecken: „Man kann diese Geschichte wie jede andere dieser Art auf vielerlei Weise verstehen, man kann sie komisch, man kann sie tragisch auffassen; aber der Individualität, die durch die Möglichkeit gebildet wird, genügt eine einzige solche Geschichte. In demselben Augenblick ist sie mit jenem Unglücklichen absolut identisch […]. Nun hat die Angst der Möglichkeit sie zur Beute, bis sie sie gerettet im Glauben hergeben muß […]“(SKS 4, 456 f. / BA[R], 174). Rel., 34 (Anm.).
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ist, wird als eine Prädisposition geerbt – ist also angeboren – , die aber nur durch freie Entscheidung des späteren Individuums übernommen und verwirklicht werden kann (2). Dass der Hang eine (zwar schwächere) Form des Begehrens sein kann, gehört bei Kierkegaard zu den Erklärungsversuchen mithilfe des Begriffs der concupiscentia. Gegen diese Erklärung argumentiert er, dass das vom Verbot erweckte Begehren bereits als schuldig anzusehen sei, bevor die eigentliche Sünde gesetzt sei. Damit unterscheidet er das Begehren von der eigentlichen Tat (3). Hieraus ist deutlich zu ersehen, dass Kierkegaard beim Kernbegriff des Hangs zum Bösen, mit dem Kant den kategorischen Fehler im Begriff der Erbsünde bewältigen wollte, den Vollzugssinn einer Tat (1) von ihren Konsequenzen, die sich jeweils als einen psychologischen Zustand (3) und als die Möglichkeitsbedingung weiterer Taten (2) zeigen, auseinanderhalten möchte. Dadurch hat er den Vorteil, die Sünde in Adam wie in jedem Nachfolgenden sowohl de potentia als auch de actu bis zum unerklärlichen Sprung der Freiheit gedanklich widerspruchslos erklären zu können⁵⁰, und dabei an der Dogmatik der Erbsünde festzuhalten, dass Adam die Sündhaftigkeit in jedem Späteren – sogar in der nichtmenschlichen Welt – inauguriert haben muss⁵¹. Mit seinem von Kant ganz abweichenden Zeitbegriff vermag er die Schwierigkeit einer intelligiblen Tat zu vermeiden, da er die freie Entscheidung weder in der Zeit noch in der Ewigkeit denkt, sondern in der Synthese beider, das heißt im sich stets wiederholenden Augenblick, während er in Einheit mit Kant die Tat an sich – den qualitativen Sprung – als unerforschlich ansieht. Trotz dieser Unerforschbarkeit macht Kierkegaard einen neuen Ansatz im Versuch, den psychologischen Zustand bis zur Grenze dieser Entscheidung so zu beschreiben, dass eine Zwischenbestimmung begrifflich festgehalten wird, die zwar als die Motivation zu dieser Entscheidung (Missbrauch der Freiheit) sich denken lässt, jedoch nicht im kantischen Sinne, das heißt nicht als Triebfeder für die Tat angenommen werden kann, da in ihr (der Angst) alle Triebfedern in ihren anziehenden beziehungsweise abschreckenden Kräften kompensiert werden, so dass die Freiheit in ihrer puren Spontaneität gebraucht oder missbraucht wird. Bei Kant wäre so ein Freiheitsbegriff als „eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache“⁵² völlig undenkbar. Der Haupteinwand, den Kierkegaard an Kants Lösung ausüben würde, ist aber der Mangel einer Vorstellung vom Zustand vor dem Sündenfall, in dem der
Vgl. Abschnitt 1.2.2. Vgl. Abschnitt 2.3.3. Rel., 43.
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Mensch nicht nur unschuldig ist, sondern überhaupt moralisch indifferent – also weder gut noch böse ist. In diesem Sinne würde sich Kierkegaard dem ethischen Rigorismus, wie Kant ihn vertritt, nur beschränkt anschließen, nämlich nur nach der ersten Sündentat des Individuums, durch die es die moralische Zurechenbarkeit in sich entwickelt. Hierin liegt genau der Kritikpunkt Kierkegaards an der ersten Ethik, dass diese immer voraussetzt, „daß der Mensch im Besitz der Bedingungen sei“⁵³. Die moralischen Gesetze, wie das göttliche Gebot, kann der Unwissend-Unschuldige in seiner Situation noch gar nicht verstehen. Deswegen muss die ideale Ethik am Faktum der Existenz der Sünde scheitern, da sie bei den moralisch Unfähigen durchsetzen möchte, was nur bei den moralisch Fähigen durchgesetzt werden kann, nämlich gemäß den moralischen Gesetzen, die man erst verstehen können muss, zu handeln. Im Gegensatz dazu sieht Kant auch Adam als ein Individuum mit voller Zurechenbarkeit: Der erste Mensch wird also „schon mit völligem Vermögen seines Vernunftgebrauches vorgestellt […]“⁵⁴. Mit anderen Worten: Die Zurechenbarkeit des Individuums bei einer schuldigen Tat führt bei Kant zu einer Aporie, da der Mensch vor der Tat moralisch unfähig ist. Deswegen muss Kant zu jeder Zeit am ethischen Rigorismus festhalten, nach welchem der Mensch entweder gut oder böse ist und sich nie in einem mittleren Zustand befinden kann. Für Kierkegaard führt dieser Begriff zu einer Aporie: sündigt der Mensch nicht dadurch, dass er die ursprüngliche Unschuld verliert? Was dem moralischen Wert und der Zurechenbarkeit einer Tat schadet, ist laut Kierkegaard nicht das Unbewusstsein des Falschen dieser Tat, sondern die Annahme, dass das Individuum vor jeder wirklichen Sündentat schon gesündigt hätte. Die erste Sünde ist also für Kierkegaard keine bloß intelligible Tat, sondern sie kann jede Form des faktischen Missbrauchs der Freiheit sein, durch den das Individuum erst ein Bewusstsein über die eigene Freiheit entwickelt. Um es mit der Bibelerzählung zu sagen: Sie ist die folgenschwere Entscheidung des ersten Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Dabei wird für Kierkegaard (als wahren Christen) kein reiner Mythos erzählt, sondern die wahre Geschichte über den faktischen Anfang der Gattung Mensch. Was dieser Entscheidung vorausgeht, ist nur noch die Zwischenbestimmung der Angst, die dem Nichts gilt. Hierin liegt Kierkegaards wahrer neuer Ansatz, der nicht nur mit einer psychologischen Dimension die kantische Lösung bereichert, sondern die Spontaneität der selbstbestimmenden Freiheit behaupten will. Dieser Freiheitsbegriff richtet sich nach keinem moralischen Gesetz außer dem einzigen: der Aufgabe der Selbstwerdung, das heißt die Vervollkommnung der Gattungs-
SKS 4, 324 / BA[R], 13. Rel., 54.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
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geschichte so voranzutreiben, dass das Individuum zugleich an sich selbst und an seinen Mitmenschen interessiert ist. Das Gesetz ist als Gebot zugleich das, was der Mensch gegenüber sich selbst verschuldet hat. Diese Schuld als das den Menschen in die Verzweiflung treibende Defizit an dem Selbstsein gilt es zu berichtigen.⁵⁵
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie 3.2.1. Schellings anthropomorphistische Lösung der Hamartiologie Schellings Versuch über die Hamartiologie in seiner Freiheitsschrift⁵⁶ hat die Grenzen überschritten, die Kant für den richtigen Gebrauch der menschlichen Vernunft gesetzt hat. So glaubt er, dass man – um die Herkunft des Bösen im Menschen durchsichtig zu machen – auf die Spekulation über das Wesen des Schöpfers, das heißt Gottes, zurückgreifen müsse. Er übernimmt von Kant die Idee einer intelligiblen Tat, die dem Menschen für ewig zugerechnet werden muss; und die Idee des Bösen als Umkehrung der Maximen – nur dass das, was in der intelligiblen Sündentat umgekehrt wird, keine Maximen für die Triebfeder der Handlung sind, sondern das Verhältnis von Eigenwillen und Universalwillen, deren Unterscheidung bereits in Gottes eigenem Wesen als Grund und Existenz vorliegt. Jedes der […] in der Natur entstandenen Wesen hat ein doppeltes Princip in sich, das jedoch im Grunde nur ein und das nämliche ist, von den beiden möglichen Seiten betrachtet. Das erste Princip ist das, wodurch sie von Gott geschieden, oder wodurch sie im bloßen Grunde sind […]. Das Princip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Creatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Princip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist. Diesem Eigenwillen der Creatur steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet.⁵⁷
Demnach liegt die Möglichkeit des Bösen in der Trennung der beiden Prinzipien (Eigenwille und Universalwille) im Menschen und nur im Menschen, denn:
Mehr dazu vgl. Zhang, „Eine existenzphilosophische Gefühlsethik?“, S. 285 – 296. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg: Meiner 1997 (im Folgenden abgekürzt mit WmF, im laufenden Text auch Freiheitsschrift genannt). WmF, 35.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
„[I]m Thier, wie in jedem andern Naturwesen, ist zwar auch jenes dunkle Princip wirksam; aber es ist in ihm noch nicht ins Licht geboren, wie im Menschen, es ist nicht Geist und Verstand, sondern blinde Sucht und Begierde; kurz, es ist hier kein Abfall möglich, keine Trennung der Principien, wo noch keine absolute oder persönliche Einheit ist“.⁵⁸
In der göttlichen Schöpfung ist der Mensch also „auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freies“⁵⁹. Nur so vermag der Mensch durch eine intelligible Tat, die nicht in der Zeit geschieht, das Verhältnis beider Prinzipien umzukehren und in sich eine falsche Einheit zu bilden, in der allein die Disharmonie, das Böse bestehen kann. Genau auf der Gegenseite Kierkegaards steht Schelling, indem er außer der Möglichkeit des Bösen auch dessen Wirklichkeit wissenschaftlich zu erklären beziehungsweise in ein reell-ideelles Vernunftsystem zu integrieren versucht. Es geht ihm also nicht nur um die Wirklichkeit des Bösen im einzelnen Menschen, sondern – wie bei Kant – um dessen universelle Wirksamkeit. Auf diese Weise behandelt auch Schelling den Sündenfall des ersten Menschen, indem er die Strukturmomente dieser mythischen Geschichte in seiner anthropomorphistischen Sprache darstellt. Schelling beginnt seine Beobachtung der ersten Sünde, als der erste Mensch im Zustand der Unentschiedenheit war, in der dieser aber wegen der Notwendigkeit der Selbstoffenbarung Gottes nicht verbleiben konnte. Er kann sich aber nicht vorstellen, dass der Mensch rein aus sich selbst aus diesem Zustand heraustritt. Deswegen muss man sich einen „allgemeinen Grund“ vorstellen, der den Menschen zum Bösen versucht: Es muß daher ein allgemeiner Grund der Sollizitation, der Versuchung zum Bösen seyn, wäre es auch nur, um die beiden Principien in ihm lebendig, d. h. um ihn ihrer bewußt zu machen.⁶⁰ Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig unstatthaft ist. […] Der Grund ist nur ein Willen zur Offenbarung, aber eben, damit diese sey, muß er die Eigenheit und den Gegensatz hervorrufen.⁶¹
Demzufolge musste der Grund als der Wille zur Offenbarung in der ersten Schöpfung schon den Eigenwillen im Menschen erregen, der sich als Lust und
WmF, 44 f. WmF, 46. WmF, 46. WmF, 47.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
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Begierde im Naturphänomen zeigt. Lust und Begierde sind nach Schelling letztlich auf den Begriff der Selbstheit und Ichheit zurückzuführen.⁶² In der Schöpfung steht der „urbildliche und göttliche“ Mensch, „der im Anfang bei Gott war“, auf dem „höchste[n] Gipfel der Offenbarung“⁶³. In dieser musste das Wort Gottes „die Menschheit oder Selbstheit annehmen und selbst persönlich werden“⁶⁴, damit der Geist im Menschen wird, mit dessen Geburt die Geschichte beginnt. Dem Anfang im Einzelnen entsprechend gibt es in der Geschichte auch „eine Zeit der Unschuld oder der Bewußtlosigkeit über die Sünde“, die „dem Zeitalter der Schuld und Sünde“ vorangeht.⁶⁵ Mithin trifft die Wirkung des allgemeinen Grundes nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte, sodass dieser das völlige Chaos bringt, bis schließlich eine „zweite Schöpfung“⁶⁶ inauguriert wird. Nur vor dem Hintergrund des allgemeinen Bösen glaubt Schelling das individuelle Böse im Menschen erklären zu können: Wenn nämlich bereits in der ersten Schöpfung das Böse mit erregt und durch das für-sichWirken des Grundes endlich zum allgemeinen Princip entwickelt worden, so scheint ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen schon dadurch erklärbar, weil die einmal durch Erweckung des Eigenwillens in der Creatur eingetretene Unordnung der Kräfte ihm schon in der Geburt sich mittheilt.⁶⁷
Schelling verwendet hier ausdrücklich den Terminus Kants aus dessen Religionsschrift und gesteht später auch, dass er hier – insbesondere bei der Darstellung der intelligiblen Tat – Kant rekapituliert.⁶⁸ Der Hang zum Bösen, der bei Kant für ein nicht-angeborenes Angeborensein steht, wird in dieser Hinsicht bei Schelling als die Wirkung des schöpferischen Grundes bei der Geburt des Menschen vorgestellt, der den Eigenwillen im Menschen erwecken soll. Es ist der Wille des Grundes, „alles zu particularisiren oder creatürlich zu machen“, der dem Willen der Liebe entgegenwirkt und in der Freiheit des Menschen die Lust zum Creatürlichen erweckt, so dass dieser – wie vom Schwindel erfasst beziehungsweise von der „Angst des Lebens“ getrieben – fast notwendig das Verhältnis der Prinzipien umkehren musste:
Wir erinnern uns an Kierkegaards [laut McCarthy bloß formale] Darstellung der „objektiven Angst“, die in sein Gesamtkonzept einer psychologischen Darstellung des Seelenzustandes vor dem Sündenfall nicht richtig hineinpasst. Vgl. Abschnitt 2.3.2.1. WmF, 49. WmF, 49. WmF, 50. WmF, 52. WmF, 52 f. WmF, 5.
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Schon an sich scheint die Verbindung des allgemeinen Willens mit einem besondern Willen im Menschen ein Widerspruch, dessen Vereinigung schwer, wenn nicht unmöglich ist. Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden; denn dieses als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden besondern Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben, weshalb es ein fast nothwendiger Versuch ist, aus diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen. Daher die allgemeine Nothwendigkeit der Sünde und des Todes, als des wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch welches aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen muß, um geläutert zu werden. Dieser allgemeinen Nothwendigkeit unerachtet bleibt das Böse immer die eigne Wahl des Menschen; das Böse, als solches, kann der Grund nicht machen, und jede Creatur fällt durch ihre eigne Schuld.⁶⁹
An dieser Stelle sieht man deutlich, dass der Hang zum Bösen, der bei Kant als eine durch eine intelligible Tat zustande gekommene Prädisposition vorgestellt wird, die sich (im Rahmen der Anthropologie) als ein – im Vergleich zum Instinkt und zur Neigung – schwaches Begehren zeigt, hier bei Schelling nur noch als der Eigenwille des Menschen dargestellt wird, der im Streit mit dem Universalwillen, der jeden besonderen Willen verzehren muss, den Menschen dazu treibt, sich für diesen (den Eigenwillen) zu entscheiden, um überhaupt die eigene Selbstheit am Leben zu halten. Diese Entscheidung, als eine freie, ist wie bei Kant eine intelligible Tat: Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist diesem zufolge außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit. […] Die freie Handlung folgt unmittelbar aus dem Intelligibeln des Menschen. Aber sie ist nothwendig eine bestimmte Handlung, z. B. um das Nächste anzuführen, eine gute oder böse. […] Um sich selbst bestimmen zu können, müßte es in sich schon bestimmt seyn, nicht von außen freilich […] sondern es selber als sein Wesen, d. h. seine eigne Natur, müßte ihm Bestimmung seyn.⁷⁰
Durch diese Entscheidung bestimmt der Mensch also ein für alle Mal sein eigenes intelligibles Wesen. Diese Entscheidung, die in sich die innere Notwendigkeit eines Wesens mit dessen Freiheit vereinigt, nennt Schelling die Selbstprädestination des Menschen. Der Mensch entscheidet sich folglich – als er in der Schöpfung geschaffen wurde – , vor allen zeitlichen Bestimmungen schon für den Hang zum Bösen in sich. „[S]o hat der Mensch […] in der ersten Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen, und wird als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene That sogar die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation
WmF, 53 f. WmF, 55 f.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
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bestimmt ist.“⁷¹ Mit seinem eigentümlichen Begriff der Prädestination, in der der Mensch in Autonomie und Selbstbestimmung sein eigenes Wesen vorherbestimmt, nähert sich Schelling schließlich der kantischen Bestimmung des radikal Bösen im Menschen: Nachdem einmal in der Schöpfung, durch Reaktion des Grundes zur Offenbarung, das Böse allgemein erregt worden, so hat der Mensch sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen, und alle, die geboren werden, werden mit dem anhängenden finstern Princip des Bösen geboren […]. Dieses ursprüngliche Böse im Menschen […] ist […] doch in seinem Ursprung eigne That, und darum allein ursprüngliche Sünde […]. Nur jenes durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogene Böse kann daher das radikale Böse heißen […].⁷²
Trotz der Unabhängigkeit dieser Entscheidung muss Schelling – der Bibelerzählung entsprechend – einen „Verführer“ einführen, und zwar den nur durch falsche Einbildung zustande gekommenen „umgekehrten Gott“ als das „durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisierung erregte Wesen“, das – wie die Schlange – den Menschen „zur falschen Lust und Aufnahme des Nichtseyenden in seine Imagination lockt, worin es [das Nichtseyende] von der eignen bösen Neigung des Menschen unterstützt wird […]“⁷³. So fällt der Mensch durch seinen vom Willen des Grundes verlockten „Uebermuth, alles zu seyn“, der ständig nach einer unbegrenzten Kreatürlichkeit strebt, schließlich „ins Nichtseyn“⁷⁴. Um diese anfängliche Sünde, die vor aller Zeit begangen wurde, wiedergutzumachen, bedarf der Mensch der göttlichen Gnade, da „das wahre Gute nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden könne“⁷⁵. Angestrebt wird die vollkommene Eintracht der beiden Prinzipien, in der der Wille des Grundes an den Willen der Liebe gebunden bleibt. Diese wird nur in der wahren Religiosität erreicht, deren ursprüngliche Bedeutung Schelling zufolge in der Gewissenhaftigkeit des Menschen besteht, sodass „man handle, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntniß in seinem Thun widerspreche“⁷⁶. Ein gewissenhafter Mensch handelt nicht nach dem kantischen Imperativ, sodass er „sich im vorkommenden Fall noch erst das Pflichtgebot vorhalten muß, um sich durch Achtung für dasselbe zum Rechtthun zu entscheiden“⁷⁷, sondern nach dem „Zutrauen, Zuversicht
WmF, 59. WmF, 60. WmF, 61 f. WmF, 62. WmF, 63. WmF, 64. WmF, 64.
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auf das Göttliche, die alle Wahl ausschließt“⁷⁸. Demgemäß spricht Schelling in diesem typisch kierkegaardschen Durchbruch vom Ethischen zum Religiösen schließlich vom „Ernst der Gesinnung“ als einer unerlässlichen Bedingung der Erlösung: Wenn endlich in den unverbrüchlichen Ernst der Gesinnung, der aber immer vorausgesetzt wird, ein Strahl göttlicher Liebe sich senkt, so entsteht die höchste Verklärung des sittlichen Lebens in Anmuth und göttliche Schönheit.⁷⁹
3.2.2 Das Erbe Schellings in Kierkegaards Angstabhandlung Seit Wolfgang Struve 1955 Kierkegaards Angstabhandlung als „eine Gegenschrift zu Schellings Freiheitsabhandlung“ bezeichnet hat, „ohne die Kierkegaards Schrift in ihrem ganzen philosophischen Gehalt gar nicht zu verstehen ist“ ⁸⁰, kommt es zu einem Aufschwung in der Erforschung des Verhältnisses beider Philosophen zueinander in der deutschsprachigen Forschungsgemeinschaft. Zum Vergleich der beiden Hauptschrift hat vor allem Jochem Hennigfeld mit seinen drei Aufsätzen aus drei verschiedenen Jahrzehnten⁸¹ beigetragen. In seiner Untersuchung zur Wesensbestimmung des Menschen in BA hat Hennigfeld bereits Schellings Freiheitsschrift zum Vergleich herangezogen. Er hat darauf hingewiesen, das Erbe Schellings bei Kierkegaad sei, (1) dass beide Philosophen gegen die Auffassung der Freiheit als liberum arbitrium eine positive Auffassung der Freiheit als das Vermögen zum Guten und zum Bösen vertreten; (2) den Zustand vor dem Sündenfall als Unschuld/Unentschiedenheit beschreiben; (3) die Topoi von Angst und Schwindel bei der Beschreibung des Freiheitsgefühls verwenden, wobei die Angst auch bei Schelling als Zwischenbestimmung fungiert; (4) die Erbsünde als freie Tat des Menschen feststellen beziehungsweise (5) diese freie Tat von den zeitlichen Bestimmungen losgelöst haben; (6.) sich Gedanken über die verschiedenen Phasen der Weltgeschichte beziehungsweise
WmF, 65 f. WmF, 66. Wolfgang Struve, „Kierkeggard und Schelling“, Orbis Litterarum, Bd. 10, 1955, S. 256. Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst“, S. 296 – 284; ders., „Die Freiheit der Existenz. Schelling und Kierkegaard“, in Zeit und Freiheit. Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger, hg. von István M. Fehér und Wilhelm G. Jacobs, Budapest: Kétef Bt. 1999, S. 83 – 93; ders., „Angst – Freiheit – System“, S. 103 – 116.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
159
(7.) über eine analoge Erscheinung der menschlichen Freiheit im Naturphänomen gemacht haben.⁸² In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1999 bemüht sich Hennigfeld um eine „umfassende Bestandsaufnahme“⁸³ des Verhältnisses beider Philosophen zueinander, in der „die tiefe Verwandtschaft beider Denkansätze“⁸⁴ aufgezeigt werden soll. Er sieht in der Annahme eines Zustandes der Unschuld vor dem Sündenfall das gemeinsame Erbe Kants für die Freiheitsauffassung beider Philosophen und kommt trotz festgestellter Kontroversen zu dem Schluss, dass eine „grundlegende Übereinstimmung“ in der Zweideutigkeit des Zustandes beziehungsweise einer prägenden „angstvollen Ahnung selbsthafter Freiheit und Schuld“⁸⁵ besteht. Die von Kant stammende Bestimmung der intelligiblen Tat außerhalb aller zeitlichen Bestimmungen, die „die Denkbarkeit einer die Freiheit sichernden Urtat“⁸⁶ ermöglichen soll, sieht er sowohl in WmF als auch in BA präsent. Auf die Unerklärbarkeit dieser Urtat des Menschen hat er ebenfalls hingewiesen, wobei diese Unerklärbarkeit bei Schelling letztlich auf die Selbstoffenbarung Gottes zurückgeführt werden muss.⁸⁷ Im Jahre 2003 erschien die bisher wichtigste Veröffentlichung über das Verhältnis Kierkegaards zu Schelling in Form einer Aufsatzsammlung.⁸⁸ Die beiden Hauptschriften thematisierend, behandelt Hennigfeld in seinem Beitrag die Stellen in BA, in denen Kierkegaard sich direkt auf Schelling bezieht und kommt gegen Hirsch und Struve zu dem Schluss, dass Kierkegaard sich mit dem Pri-
Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst, S. 277 f. Hennigfeld, „Die Freiheit der Existenz“, S. 83. Hennigfeld, „Die Freiheit der Existenz“, S. 84, Anm. Hennigfeld, „Die Freiheit der Existenz“, S. 84– 86. Diesbezüglich haben wir aber oben bei den Ausführungen über Kants Religionsschrift festgestellt, dass Kant den Zustand der Unschuld im Gegensatz zu Kierkegaard nicht wirklich zulässt (vgl. Abschnitt 3.2.1). Außerdem scheint mir die Feststellung einer Zweideutigkeit der Angst im Zustand der Unschuld auch bei Schelling weit hergeholt zu sein, wobei zweifelsohne dieser Zustand bei beiden Philosophen als unentschieden (bei Kierkegaard als das Nichts, das „Noch-nicht-Sein“ des Geistes und die „unmittelbare Einheit“ der Synthesismomente) bestimmt wird. Hennigfeld, „Die Freiheit der Existenz“, S. 87. Einen Unterschied zwischen dem Begriff der „intelligiblen Tat“ und dem „Augenblick“ bei Kierkegaard, in dem die Entscheidung durch einen qualitativen Sprung getroffen wird, hat Hennigfeld zwar bemerkt, aber leider nicht explizit gemacht: „[…] der Sprung widersetzt sich allen vermittelnden Erklärungsversuchen des Denkens. Dies gilt nach Kierkegaard für alle wichtigen Entscheidungen des menschlichen Lebens; es gilt zuerst und grundlegend für die Urtat des Menschen“ (ebd.). Hennigfeld, „Die Freiheit der Existenz“, S. 88. Jochem Hennigfeld und Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, Berlin: Walter de Gruyter 2003.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
märtext von WmF auseinandergesetzt haben muss.⁸⁹ Die Stellen in WmF, in denen Schelling ausdrücklich die Topoi Angst und Schwindel verwendet hat, sollen Kierkegaard bei seiner Abfassung von BA direkt inspiriert haben.⁹⁰ Gegen Kierkegaards anthropomorphistischen Vorwurf argumentiert Hennigfeld, dass Schelling tatsächlich nie von Angst oder Schwermut „in der Gottheit“ gesprochen habe.⁹¹ Er kommt zu dem Schluss, dass Schelling bereits die „besondere Funktion der Angst“ entdeckt habe, die dann Kierkegaard aufgrund einer „Fundamentalontologie“ weiter entwickelte.⁹² Ebenfalls erwähnenswert ist in der englischsprachigen Forschung vor allem McCarthys Aufsatz⁹³, der überarbeitet als ein Kapitel seiner aktuellsten Veröffentlichung über Kierkegaard erschienen ist.⁹⁴ Er hat hier bei beiden Philosophen den Vollzugssinn der Existenz entdeckt und bezeichnet den Prozess der Selbstwerdung des Menschen bei Kierkegaard analog dem schellingschen Begriff der Theogonie als Anthropogonie.⁹⁵ Außerdem sieht er eine klare Kontinuität zwischen Schellings Begriff des dunklen Grundes und Kierkegaards Beschreibung des Nichts, aus dem die Angst hervorgeht.⁹⁶
3.2.3 Kierkegaards neuer Ansatz Wie wir gesehen haben, wird die hamartiologische Problematik in WmF im Zusammenhang eines universalontologischen und willensmetaphysischen Gesamtkonzeptes zur Lösung gebracht. Was Schelling darin anstrebt, ist die Belebung und Vergeistigung des spinozistischen Pantheismus als eines „einseitigrealitisch[en] System[s]“⁹⁷ durch das Prinzip des Idealismus, in dem die Freiheit als Wille bestimmt wird, denn
Jochem Hennigfeld und Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling, S. 104 f. Jochem Hennigfeld und Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling, S. 106. Jochem Hennigfeld und Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling, S. 107, Anm. Jochem Hennigfeld und Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling, S. 108. Vincent A. McCarthy, „Schelling and Kierkegaard on Freedom and Fall“, in The Concept of Anxiety, hg. von Robert L. Perkins, Macon: Mercer University Press 1985 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 8), S. 89 – 109. Vincent A. McCarthy, „The Dark Ground of Anxiety: Kierkegaard and Schelling“, in Kierkegaard as Psychologist, Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2015, S. 109 – 122. McCarthy, „The Dark Ground of Anxiety“, S. 115. McCarthy, „The Dark Ground of Anxiety“, S. 121 f. WmF, 22.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
161
[e]s gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.⁹⁸
In diesem System muss folglich die Wesensbestimmung des Menschen ebenfalls willensmetaphysisch dargelegt sein, das heißt im Streit zwischen dem Eigenwillen und dem Universalwillen. Für den Eigenwillen hat sich der Mensch in einer intelligiblen Tat, die in der ersten Schöpfung geschehen sein soll, entschieden. Daher der Hang zum Bösen, der allen Entscheidungen im Laufe des Lebens zugrunde liegt. Um diesen zu berichtigen, bedarf der Mensch außer einer ernsthaften Religiosität in sich selbst noch der göttlichen Magie als Beihilfe. Die wesentlichen Momente dieser Darstellung können wir gleichfalls in Kierkegaards anthropologischer Grundlegung seiner Hamartiologie wieder entdecken. Obwohl es Kierkegaard stets ablehnt, direkt vom Wesen Gottes zu sprechen, ist aber ihm für das Selbstsein des Menschen ein Gottesverhältnis wesentlich (C – C’ oder: Seinsgrund des Menschen). Die Naturgegebenheit eines Menschen wird als eine Synthese von gegensätzlichen Momenten dargestellt, die vor der Setzung des Geistes unbewusst bleibt (A – B oder: Was-Sein des Menschen). Die verschiedenen Formen der Verzweiflung zeigen die Willensverhältnisse des Menschen in seinem Selbstverhältnis (CAB oder: Wie-Sein des Menschen).⁹⁹ Kierkegaards neuer Ansatz liegt aber nicht allein darin, dass er das Systemdenken als Ganzes ablehnt¹⁰⁰. In Hinsicht darauf hat er in seiner Wissenschaftstopographie die verschiedenen Wissensbereiche je nach „Stimmung“ abgegrenzt, um eine wahre positive Philosophie zu gewährleisten, in der der unerklärliche, qualitative Sprung erlaubt wird. In seiner Existenzdialektik hat er sein Augenmerk ausschließlich auf die Selbstwerdung des Menschen ausgerichtet, sodass er eine Anthropogonie – um McCarthys Wort zu verwenden – entwickelt hat, die drei verschiedene Existenzstadien durchlaufen soll. In seiner Absicht, die Vernunft zu begrenzen, um dem Glauben Platz zu machen, zeigt Kierkegaard im Vergleich zu Schelling seine Nähe zu Kant. WmF, 23. Zur ontologischen Teilung in der Struktur des Selbstseins des Menschen bei Kierkegaard vgl. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, S. 11. Wolfgang Struve schreibt zutreffend: „Das spekulative Eindringenwollen in die Geheimnisse der Gottheit und das spekulative darum-Bescheidwissenwollen, wie es den späten Schelling nicht weniger als den frühen kennzeichnet, und wie es im Verlauf der Berliner Vorlesungen immer mehr hervortrat, mußte Kierkegaard aufs äußerste abstoßen“ (Struve, „Kierkeggard und Schelling“, S. 258).
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
Trotz dieser Nähe markiert Kierkegaards anthropologische Hamartiologie nicht nur einen nicht unwesentlichen Abstand zu Kant, sondern auch zu Schelling. Wie wir oben gezeigt haben, hat Kierkegaard zur Erklärung des radikalen Bösen den Vollzugssinn einer Tat (1) von ihren Konsequenzen, die sich jeweils als einen psychologischen Zustand (3) und als die Möglichkeitsbedingung weiterer Taten (2) zeigen, getrennt. Die drei Gesichtspunkt zeigen bei Kierkegaard jeweils den qualitativen Sprung in der ersten Sünde, die Zwischenbestimmung der Angst und die Sünde de potentia als Prädisposition. Bei Schelling haben wir gesehen, dass er den Begriff der intelligiblen Tat von Kant übernimmt und die Folge dieser mit „Prädestination“ im Sinne einer Vorherbestimmung des eigenen Wesens in völliger Autonomie erklärt.¹⁰¹ Obwohl diese alles bestimmende Urtat des Menschen eine gewisse Nähe zu Kierkegaards qualitativem Sprung gezeigt hat¹⁰², können wir den wesentlichen Unterschied zwischen beiden nicht übersehen, wozu nicht zuletzt auch gehört, dass der Sprung bei Kierkegaard nicht „intelligibel“ (dem wörtlichen Sinn nach) ist. Vor allem ist der Sprung eine Kategorie der Existenzdialektik, die die Selbstwerdung des Menschen auszeichnet, die aber nicht vor aller Zeit, oder – etwa mit Schelling – in der ersten Schöpfung geschieht, sondern sich in jedem Augenblick einer (ethisch relevanten) Entscheidung wiederholt. Der Augenblick als die existentielle Zeitlichkeit steht auch nicht für eine zeitlose Ewigkeit, sondern ist die Synthese von Zeit und Ewigkeit, die die Wesensbestimmung des Menschen ausmacht. Zwar wird bei Kierkegaard durch die erste Sünde die Sündhaftigkeit gesetzt, die das Selbstsein sündhaft abfärbt, was erst durch göttliche Gnade berichtigt wird; jedoch ist für Kierkegaard die erste Sünde nicht der einzige unerklärliche Sprung. Die Selbstidentität im Prozess der Selbstwerdung wird nur dadurch gewährt, dass jede freie Entscheidung, die eine Veränderung zum Selbstverhältnis mit sich bringt, zum Ursprung weiterer Entscheidungen werden muss.¹⁰³ Und dies gilt nicht nur für die erste Sünde als eine fatale Entscheidung zum Bösen. Ein weiterer neuer Ansatz Kierkegaards besteht darin, dass er das Selbstsein im Gegensatz zu Kant und Schelling nicht als den Ursprung der Entscheidung zum Bösen, sondern als die Konsequenz daraus aufzeigt. Kierkegaard zufolge verwandelt diese Erklärung die eigentliche Sache ins Gegenteil, „denn das eigentliche ,Selbst’ ist erst im qualitativen Sprung gesetzt. Im vorhergehenden Zustand kann davon aber nicht die Rede sein. Will man daher die Sünde aus dem Selbstischen erklären, so verwickelt man sich in Unklarheiten, da das Selbstische
WmF, 59. Hennigfeld, „Angst – Freiheit – System“, S. 112, Anm. Vgl. Abschnitt 1.3.2.2.
3.2. Schellings Theogonie als Quelle von Kierkegaards Anthropogonie
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umgekehrt erst durch die Sünde und in der Sünde zustande kommt“¹⁰⁴. So muss der Eigenwille, der bei Schelling als die Sollizitation des Bösen fungiert, Kierkegaard zufolge vor dem Sündenfall – wenn nicht völlig ausbleiben – , so doch zumindest unbewusst sein. Dasselbe gilt bei Kant für die Rangordnung der Maximen, die der Mensch bei der Setzung des Hangs zum Bösen veränderte. Für den Zustand vor der ersten Sünde bei Kant und Schelling hat immer noch der Vorwurf Kierkegaards Bedeutung, dass sie voraussetzen, „daß der Mensch im Besitz der Bedingungen sei“¹⁰⁵. Durch die Bestimmung der Unschuld als Unwissenheit ist es Kierkegaard gelungen, diesen Zustand nicht nur ideell vorzustellen, sondern auch real und phänomenal zu beschreiben, zumal diese Beschreibung entwicklungspsychologisch bestätigt werden kann. Dies bestätigt sich auch für Kierkegaards Zentralthema in BA, dem Existenzgefühl der Angst, mit dem er den psychologischen Zustand vor dem qualitativen Sprung als Zwischenbestimmung beschreibt. Diese Angst kann zwar unbewusst bleiben, ist jedoch in ihrer Zweideutigkeit gänzlich erfahrbar¹⁰⁶ und gehört zum Gegenstand der psychologischen Forschung; während die Topoi Angst und Schwindel bei Schelling keinen empirischen Tatbestand ausdrücken, sondern vielmehr als Metaphern dienen sollen. Mit der „Angst des Lebens“ beschreibt er nicht die erfahrbare Psyche des Menschen, sondern den Streit zweier Willen, in dem der Eigenwille für die Persönlichkeitsbildung eines Menschen unentbehrlich ist. Hier gibt es unendliche Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf die Frage, wer das Subjekt dieser Angst ist. Auch wenn es Belege dafür gibt, dass dieses der selbstbestimmende Mensch ist, kann die Angst nicht das erfahrbare Gefühl sein, das psychologisch erforschbar ist. Denn in einer intelligiblen Tat, die alle zeitlichen Bestimmungen transzendiert, kann man sich einen psychologischen Zustand schwer vorstellen, zumal dieser noch vor der Geburt sein soll.
SKS 4, 382 / BA[R], 84 f. SKS 4, 324 / BA[R], 13. Allerdings sieht Hennigfeld darin kein echtes Gefühl, sondern nur einen methodisch gezwungenen Begriff: „Kierkegaards Wesensbestimmung des Menschen in „Der Begriff Angst“ enthüllt die Angst als Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz. Dabei ist freilich zu beachten: Die Angst, wie sie hier zur Klärung des Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geistigfreier Existenz beansprucht wird, ist nicht die ,konkrete‘ Angst, wie sie der eine mehr, der andere weniger erfahren haben mag. Vielmehr ist die Angst in diesem Zusammenhang gleichsam methodisch erzwungen, um den Sprung aus dem unschuldigen Zustand des träumenden Geistes in die Geschichte der Sündhaftigkeit des sich verwirklichenden Geistes möglichst weitgehend erhellen zu können“ (Hennigfeld, „Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards Der Begriff Angst“, S. 280). Diese Auffassung glauben wir durch die Textanalyse im obigen Abschnitt 3.3.2 widerlegt zu haben.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
Zusammenfassend können wir sagen, dass es bei Schelling eine wahre Individualgeschichte als Existenzbewegung eigentlich nicht gibt. Eine Gattungsgeschichte, in der der erste Mensch mit den späteren Individuen in einem Generationsverhältnis steht, kann man bei Schelling auch nicht ausfindig machen.Was Kierkegaard inspiriert hat, ist vor allem die Selbstwerdung Gottes, der aus einem indifferenten Urgrund heraustritt, in der Selbstschöpfung seine Natur als den Willen des Grundes wirken lässt, damit sich alles differenziert, und schließlich all diese Differenzen durch den Willen der Liebe vereint. Dieses Model der Selbstwerdung hat Kierkegaard auf das menschliche Individuum angewandt und zu einer selbstbestimmenden Individualgeschichte des Menschen verwandelt, die sich von der Unschuld durch den Sündenfall zum Selbstbewusstsein und Freiheitsbewusstsein, was sich in verschiedenen Formen des verfehlten Selbstverhältnisses ausdrückt, und schließlich durch den Sprung in den Glauben zum gelungenen Selbstverhältnis mit dem richtigen Gottesbezug entwickelt. In dieser Geschichte fungiert der Sprung nicht als ein einmaliges Geschehnis, das – zwar ebenfalls aus Selbstbestimmung – ein für alle Mal das ganze Leben vorherbestimmt, sondern vielmehr als der sich immer wieder-holende¹⁰⁷ Augenblick, in dem der Mensch verantwortlich und zukunftsorientiert sich selbst definiert.¹⁰⁸
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift¹⁰⁹ – eine Untersuchung zum Wesen des Grundes mit Rücksicht auf Heidegger¹¹⁰ „Erst die Philosophie des spekulativen Idealismus stiftet, vorbereitet von Kant, durch Fichte, Schelling und Hegel dem in sich synthetischen Wesen der Identität Wiederholung ist natürlich nicht in dem Sinne zu verstehen, dass das Gleiche immer wieder zurückkommt, sondern in dem typisch kierkegaardschen Sinne, dass man sich dabei immer transzendiert, indem man das Zukünftige hierher holt und darüber das Vergangene nicht vergisst. Mehr dazu vgl. Feger, „Die Wiederholung“, S. 280 – 300. Zum Vergleich der Theogonie Schellings und der Anthropogonie Kierkegaards wird mit nachfolgendem Abschnitt 3.3 ein Exkurs eingefügt, der Schellings verschiedene Verwendungen des Begriffs Grund untersucht, um so Heidegger in den Kontext der Diskussion einbeziehen zu können. Im Folgenden zitiert aus: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg: Meiner 1997. Seitenangabe im Text nach: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, 1. Abteilung, Bde. 1– 10, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart: Cotta 1856 – 1861 (im Folgenden abgekürzt mit SW). Bei der Überleitung handelt es sich um einen stark überarbeiteten Aufsatz, der ursprünglich für die NNGI (Nordic Network for German Idealism http://nngi.org/) Konferenz in München
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift
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eine Unterkunft. […] Seit der Epoche des spekulativen Idealismus bleibt es dem Denken untersagt, die Einheit der Identität nur leer als das bloße Einerlei vorzustellen und von der in dieser Einheit waltenden Synthesis und Vermittlung abzusehen.“¹¹¹ – eine Bemerkung Heideggers aus seiner Untersuchung zum Satz der Identität, welche die Leser dazu ermutigen soll, die Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz zu denken.¹¹² Diese Bemerkung ist an dieser Stelle als das Motto der Überleitung anzusehen, in der einige Überlegungen über den Begriff Grund in Schellings Freiheitsschrift gemacht werden sollen. Da der Begriff Grund offensichtlich eine zentrale Rolle in der Freiheitsschrift spielt, doch an verschiedenen Stellen uneinheitlich verwendet wird, ist es von Interesse zu fragen, wie Schelling den Begriff Grund von der bloßen logischen Bestimmung (wie es bei Leibniz der Fall ist) herausgelöst und in seinen verschiedenen Bedeutungen untersucht hat. Es wird also versucht, diese begriffliche Variation darzustellen, die nur aus der „größte[n] Not des Denkens“¹¹³ entwickelt werden kann. In die Diskussion sollen sowohl Heideggers Interpretation als auch seine eigenen Gedanken zum gleichen Thema einbezogen werden, die er in der Zeit nach der sogenannten „Kehre“ entwickelt hat. Wichtig ist also zu zeigen, wie Schellings Gedanken bei Heidegger funktionieren und in Heideggers eigenen Kategorien fortgesetzt werden, damit die Freiheitsschrift nicht – wie Hegel einmal bemerkt hat – für sich einzeln steht¹¹⁴, sondern in der Geistesgeschichte für die späteren Philosophen, deren Hauptinteresse die menschliche Existenz ist, den Grundstein legt. Der Begriff Grund erfährt im Verlauf der Untersuchung Schellings eine starke Modifikation. In der Einleitung der Freiheitsschrift wird er als ein Strukturmoment des Grund-Folge-Verhältnisses eingeführt, um den Pantheismus- beziehungsweise Fatalismusvorwurf gegen jegliches Vernunftsystem zu widerlegen. Im Hauptteil der Untersuchung wird er als ein „Wesen, das Grund von Existenz ist“ vom „Wesen als Existierenden“ unterschieden – eine Unterscheidung, die für die ganze Untersuchung grundlegend sein wird. Zum Schluss und „Höhepunkt der 26. – 27. Mai 2010 geschrieben und selbst online publiziert wurde. Deng Zhang, Der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift, München: GRIN Verlag 2011. Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, in Martin Heidegger Gesamtausgabe [GA], Bd. 79, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 1994, S. 116 – 117. Martin Heidegger, „Vorwort“, in Identität und Differenz, hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2006 (GA, Bd. 11). Martin Heidegger, „Nur noch ein Gott kann uns retten“, Der Spiegel 23 (1976), S. 219. „Schelling hat eine einzelne Abhandlung über die Freiheit bekanntgemacht, diese ist von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Vollständige Neuausgabe hg. von Karl-Maria Guth, Berlin: Hofenberg 2013, S. 378).
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
Untersuchung“¹¹⁵ hat Schelling die indifferente Einheit dieser noch nicht differenzierten Differenz als „Ungrund“ bezeichnet, der nach der göttlichen Offenbarung erst als absolute Identität der Liebe erscheint. Weil der Grund (zumindest wörtlich gesehen) immer Grund von etwas ist, kann es eine interessante Perspektive sein zu zeigen, in welcher Beziehung der jeweilige Grund zu dem Etwas, das sich auf den Grund bezieht, steht. Diese Beziehung möchte ich als den dreifachen Sinn der Identität interpretieren.
3.3.1 Schöpferische Identität: Das Grund-Folge-Verhältnis von Gott und Welt Um den identifizierenden Pantheismus zu widerlegen, hat Schelling die klassische Unterscheidung Spinozas eingeführt, die zwischen Gott als „was in sich ist und allein aus sich selbst begriffen wird“ und dem Endlichen als „was notwendig in einem andern ist, und nur aus diesem begriffen werden kann“¹¹⁶ besteht. Dadurch wird nicht nur die bloße Identität von Gott und Weltdingen verneint, indem er betont, dass das Endliche „toto genere von Gott verschieden“¹¹⁷ sei, sondern es wird auch das Verhältnis beider als ein Grund-Folge-Verhältnis definiert. Gott ist also „der allein selbständige und ursprüngliche, der allein sich selbst bejahende […], zu dem alles andere nur wie Bejahtes, nur wie Folge zum Grund sich verhalten kann“¹¹⁸. Dies wird wiederum nur aufgrund einer neuen Bestimmung des Identitätsprinzips verständlich. Die Identität des Subjekts mit dem Prädikat besagt keineswegs die Einerleiheit oder den unmittelbaren Zusammenhang beider. Das Verhältnis, das im Identitätsgesetz herrscht, trägt in der Logik viele Namen: Grund-Folge, Eingewickelte-Entfaltete, implicitum-explicitum, antecedens-consequens. Im formalen Sinne besagt dieses Verhältnis, dass der Grund das Wahrmachende für die Folge ist¹¹⁹. Hier geht es lediglich darum, dass die Aussagen über das Prädikat nur aufgrund von denen über das Subjekt wahr sein können. Das Subjekt ist also die Wahrheitsbedingung für das Prädikat.Wenn wir in diesem Sinne von der Identität Gottes mit den Weltdingen sprechen, dann bewegt sich diese Identität immer noch im logischen Bereich der Aussagen, so als ob der Pantheismus besagen würde, dass alle Aussagen über die Weltdinge von den Aussagen über Gott ab-
SW, 406. SW, 340. SW, 340. SW, 340. Thomas Buchheim, „Anmerkung des Herausgebers“, in Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 95, Anmerkung 31.
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift
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geleitet werden sollen. Doch weil im Pantheismusvorwurf des Vernunftsystems behauptet wird, dass alle Weltdinge mit Gott identisch sind, geht es um eine Debatte im Seinsbereich. Wie kann Schelling mit einer Sinnverwandlung in der Logik einen Vorwurf in Hinsicht auf das Sein widerlegen? Schelling versteht das Grund-Folge-Verhältnis und das Identitätsprinzip eher im „reellen Sinn“¹²⁰ als im formalen. Damit ist die Identität als eine „unmittelbar schöpferische“¹²¹ ausgedeutet. Sie ist deswegen schöpferisch, weil es (1) in dieser Identität um ein Schöpfungsverhältnis Gottes mit der Welt geht, und weil (2) das Sein der Weltdinge unmittelbar von dem Gottes abhängig ist. Die Widerlegung des Pantheismus geht also folgendermaßen: Weil die Identität des Endlichen mit Gott (damit auch die Immanenz desselben in Gott) eine unmittelbar schöpferische ist, in der ein Grund-Folge-Verhältnis ausgedrückt wird, ist die in diesem Verhältnis implizierte Abhängigkeit der Ding als Folge des Grundes nur eine genetische (in Hinsicht auf das Werden), jedoch keine Abhängigkeit in Hinsicht auf das Sein. Deswegen kann zwischen dem Freiheitsanspruch des Geschöpfs (also des Menschen), der eher zu dessen Wesen/Sein gehört, und der Abhängigkeit desselben als Folge von Gott als Grund, die lediglich in Hinsicht auf die Genese des Menschen besteht, kein richtiger Widerspruch bestehen. Die schöpferische Identität Gottes mit der Welt hebt also nicht die Freiheit des Menschen auf. Das Ziel der Schöpfung ist keine absolut determinierte Welt, sondern die Selbstoffenbarung Gottes in einem freien Wesen: „Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden Wesen; für deren Sein es keinen Grund gibt als Gott, die aber sind, so wie Gott ist. Er spricht, und sie sind da“¹²². In Bezug auf den Begriff des Grundes können wir das Bisherige so zusammenfassen: Schelling hat Gott als Grund einmal als logisch Begründenden/ Wahrmachenden, einmal als Seinstiftenden¹²³ der Weltdinge interpretiert. Die schöpferische Identität beider ist also eine Bestimmung, die im Logischen wie im Seinsbereich dominiert. Heideggers Denken weist insofern Parallelen zum Denken Schellings auf, als auch er die rein logische Bestimmung des Satzes der Identität kritisiert und versucht hat, sich über die Identität als solche Gedanken zu machen.¹²⁴
SW, 345. SW, 345. SW, 349. Dies auch in der alten Bedeutung der ersten Ursache. Vgl. Heidegger, GA, Bd. 79, S. 115.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
3.3.2 Zusammengehörende Identität: die ontologische Unterscheidung von Grund und Existenz Schelling unterscheidet schon am Anfang seiner Untersuchung zwischen „dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ und erwähnt, dass es „die nämliche Unterscheidung ist, auf welche die gegenwärtige Untersuchung sich gründet“¹²⁵. Die grundlegende Bedeutung dieser Unterscheidung für die Untersuchung im Rahmen der Freiheitsschrift zeigt sich hauptsächlich daran, dass die Gerechtigkeit Gottes trotz der Existenz des menschlichen und natürlichen Übels gewährleistet ist, denn die „Natur – in Gott“ ist „ein von ihm zwar unabtrennlich, aber doch unterschiedenes Wesen“¹²⁶, so dass Gott als das Absolute (also als Existierender im Unterschied zu seiner Natur/seinem Grund) die freie Tat des Menschen zum Bösen nicht verschulden kann. Jedoch hat diese Unterscheidung noch einen nachträglichen Einfluss, der nach Heideggers Interpretation das gesamte Verständnis der neuzeitlichen Philosophie über die Subjektivität umdrehen soll. Im Folgenden werde ich zuerst auf die intensive Analyse dieser Unterscheidung in Schellings eigenem Text eingehen, um anschließend zur Interpretation Heideggers überzugehen.
3.3.2.1 Schellings Unterscheidung von Grund und Existenz in der Freiheitsschrift In seiner „Darstellung meines Systems“ aus dem Jahre 1801 hat Schelling bereits die Unterscheidung von „Grund von Existenz“ und „Existierendem“ in ein und demselben Wesen der „absoluten Identität“ eingeführt.¹²⁷ In der Freiheitsschrift hat er dieses Begriffspaar als solches nicht ausführlich behandelt, sondern direkt davon Gebrauch gemacht. Nachdem er in der Einleitung das Verhältnis Gottes zu den Weltdingen als schöpferische Identität interpretiert hat, ist nun die Schöpfung thematisch. Weil aber der „reale und lebendige Begriff“ der Freiheit „ein Vermögen des Guten und des Bösen sei“¹²⁸, muss nun erklärt werden, woher die Menschen als Geschöpfe Gottes das Vermögen des Bösen überhaupt haben können, ohne Gott selbst als Schöpfer des Bösen tadeln zu müssen.
SW, 357. SW, 358. Zitiert nach Buchheim, „Anmerkung des Herausgebers“, S. 112, Anmerkung 101. SW, 352.
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Sehr spekulativ beginnt Schelling mit dem traditionellen Begriff Gott. Weil das Begriffspaar Grund und Existenz als ontologische Kategorie bestimmt ist, muss die Seinsweise Gottes als eine solche verstanden werden, die in den Grund und die Existenz Gottes geschieden ist. Da der Begriff Gott selbst impliziert, dass „nichts vor oder außer Gott“¹²⁹ sein kann, muss er „den Grund seiner Existenz in sich selbst haben“¹³⁰. Wenn dies im traditionellen Sinne als causa sui verstanden wird, dann ist diese Unterscheidung immer noch eine formale. Der Begriff Grund, der nur noch zur Aushilfe genommen wird, um das philosophische Denken aus der unendlichen Regression des Kausalverhältnisses retten zu können, bleibt ein „bloßer Begriff“¹³¹, dessen Erklärungskraft sehr beschränkt ist. Diesen bloßen Begriff möchte Schelling durch „etwas Reelles und Wirkliches“ ersetzen. „Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen“¹³². Der Grund als Grund der Existenz soll der Existenz Gottes zwar dem Begriff nach bereits vorhergehen, aber er ist „weder als Vorhergehen der Zeit nach, noch als Priorität des Wesens zu denken“¹³³. Das Verhältnis beider soll vielmehr als Folgendes verstanden werden: Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierenden vorangeht: aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existiere.¹³⁴
Aus der Forschung kann man dazu Einiges heranziehen. Jörg Jantzens hat versucht, die Struktur dieser Unterscheidung zu formalisieren.¹³⁵ Dieser Versuch widerspricht aber meines Erachtens gerade Schellings eigenem Ansatz. Jedoch
SW, 357. SW, 358. SW, 358. SW, 358. SW, 358. SW, 358. Der Formalisierungsversuch verläuft wie folgt: Die Unterscheidung fällt zwischen einem als „absolut“ definierten X und der Existenz dieses X (1); da die Existenz einen Grund haben muss und dieser nicht unabhängig von X gedacht werden kann (Df. X: „absolut“), wird X auch als Grund gedacht (2); da Grund nur gedacht werden kann, wenn er Grund von etwas ist, ist die Rede vom Grund abhängig von der Rede von der Existenz.Vgl. Jörg Jantzen, „ Die Möglichkeit des Guten und des Bösen“, in F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Otfried Höffe, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 61– 90.
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hat er mit Recht gezeigt, dass die Existenz und der Grund nicht bloß terminologisch oder funktional unterschieden sind, sondern geradezu identifiziert werden und ihrerseits das Absolute identifizieren sollen. Der Bezug zum Grund-FolgeVerhältnis wird auch betont: „Sie gehen ihr Grund-Folge-Verhältnis ein, insofern sie in einer Relation zum Absoluten stehen.“¹³⁶ „Wer ‚A ist B‛ sagt, behauptet Existenz beziehungsweise Identität und das Verhältnis von Grund und Folge.“¹³⁷ Dennoch wird die Sinnverschiedenheit des Begriffs Grund im Grund-Folge-Verhältnis und im Grund-Existenz-Verhältnis nicht erwähnt. Die Interpretation Buchheims, dass Grund in Gott allein schon zweierlei bedeutet, möchte ich auch anzweifeln. Er unterscheidet (1) zwischen dem Grund, der mit Gott als Existierendem identisch ist (Grund seiner eigenen Existenz), und (2) dem Grund, der als Grund eines anderen gedacht wird und deswegen „ein von ihm zwar unabtrennlich, aber doch unterschiedliches Wesen“ ist, also die Natur in Gott. Die Schwierigkeit, Grund und Existenz identisch zu denken, wird aber durch die Einführung des Grundes im zweiten Sinne erhöht.¹³⁸ Im Gegensatz zu Jantzen möchte ich behaupten, dass der Grund als Grund der Existenz auch (wie im Fall des Grundes der Folge) reell erklärt werden muss; gegen Buchheim bin ich der Meinung, dass die Unterscheidung eines Grundes Gottes von einem Grund des Geschöpfes nicht nötig ist. Schellings erste Formulierung in der Einführung des Begriffspaars, dass der Grund „ein Wesen“ ist, „sofern es bloß Grund von Existenz ist“¹³⁹, zeigt bereits die Differenzierung als eine reelle. Dies wird später ausdrücklicher formuliert: Weit entfernt, daß die Unterscheidung zwischen dem Grund und dem Existierenden eine bloß logische, oder nur zur Aushilfe herbeigerufene und am Ende wieder als unecht zu befindende gewesen wäre, zeigte sie sich vielmehr als eine sehr reelle Unterscheidung, die von dem höchsten Standpunkt aus erst recht bewährt und völlig begriffen wurde.¹⁴⁰
Laut Buchheim ist der Grund „das Möglichmachende (der Boden) für verschiedene Existenzalternativen ist, von denen ein existierendes Wesen jeweils eine bestimmte festlegt oder entscheidet“.¹⁴¹ So ist der Grund im Unterschied zur Existenz als ein Wesen zu verstehen, dessen Sein aus reinen Möglichkeiten besteht, die noch zu entfalten sind. Dagegen gehört die Existenz zum Wirklich-
Jantzen, „ Die Möglichkeit des Guten und des Bösen“, S. 81. Jantzen, „ Die Möglichkeit des Guten und des Bösen“, S. 83. Buchheim, „Anmerkung des Herausgebers“, S. 113, Anmerkung 102. SW, 357. SW, 407. Buchheim, „Anmerkung des Herausgebers“, S. 113, Anm. 102.
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift
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keitsbereich.¹⁴² Als das Absolute muss Gott in seiner Existenz die höchste Wirklichkeit haben. Schelling geht davon aus, dass es ein Widerspruch ist, wenn behauptet wird, dass die Weltdinge einerseits mit Gott in einer (zwar schöpferischen) Identität bleiben, andererseits jedoch qualitativ von Gott unterschieden sind. Dieser Widerspruch soll durch die Einführung der kategorialen Unterscheidung zwischen Grund und Existenz ausgeschlossen werden. Die Weltdinge als Folge der Schöpfung müssen nach Schelling auch von dieser kategorialen Unterscheidung aus betrachtet werden. Qualitativ unterschieden sind die Dinge und Gott in ihrer jeweiligen Existenz. Die Schöpfung aber erfolgt durch die Verleihung des Grundes. Die Dinge haben ihren Grund in dem, „was in Gott selbst nicht Er Selbst ist, das heißt in dem, was Grund seiner Existenz ist“¹⁴³. Mit den Modalitätsbegriffen, die wir oben eingeführt haben, können wir eben dieses Verhältnis beschreiben: In der Schöpfung bekommen die Weltdinge von Gott die Möglichkeiten, die von ihnen selbst zu entfalten und zu verwirklichen sind. Im Fall des Menschen besteht hier bereits der richtige Begriff der positiven Freiheit: Erst durch die freie Selbstbestimmung des Menschen zum Guten oder zum Bösen, die im Grunde seiner Existenz als gleichwertige Alternativen bestehen, kann der Mensch erst zu sich selbst werden, also zu seiner eigenen individuellen Existenz.
3.3.2.2 Heideggers Interpretation: das erneute Verständnis des menschlichen Wesens in Hinsicht auf die Unterscheidung von Grund und Existenz Wie anfangs schon erwähnt wurde, steht die kategoriale Unterscheidung von Grund und Existenz im Zentrum Heideggers beider Schelling-Interpretationen, allerdings mit offensichtlichen Unterschieden in den Erklärungsrichtungen. ¹⁴⁴
An dieser Stelle lohnt es sich, Heideggers Vom Wesen des Grundes (im Folgenden abgekürzt mit WdG) hiermit in Parallele zu bringen. Heidegger hat in WdG die Freiheit als „Freiheit zum Grunde“ bestimmt, in der der Grund in einem dreifach verschiedenen Sinn gedeutet wird, nämlich als (1) das Gründen als Stiften, (2) das Gründen als Bodennehmen, (3) das Gründen als Begründen. Vgl. Martin Heidegger, „Vom Wesen des Grundes (1929)“, in Wegmarken, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2004 (GA, Bd. 9), S. 165. Unter dem stiftenden Gründen versteht er vor allem „den Entwurf von Möglichkeiten“ (Heidegger, Vom Wesen des Grundes (1929), S. 167). SW, 359. Zu den Unterschieden beider Interpretationen vgl. Christian Iber, „Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins“, in Heidegger Handbuch, hg. von Dieter Thomä, 2. Aufl., Stuttgart und Weimar 2007, S. 66 – 174.
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In der ersten Schelling-Vorlesung von 1936 hat er diese Unterscheidung als „Seynsfuge“ gedeutet, in der der Grund als das „Unterlage Bildende“ und die Existenz als „das sich selbst Offenbarende“ verstanden werden sollen.¹⁴⁵ Bemerkenswert ist seine Erklärung zum Begriff der Existenz, der bei Schelling noch nicht in einer solchen Fülle entfaltet ist: in der Existenz und als Existenz kommt ein Seiendes zu sich selbst; existierend ist ein Seiendes selbst, das, was es ist. Selbstsein heißt nach der idealistischen Deutung: „Ich“ sein; Ich als Subjekt. Daher meint Schelling mit Existenz immer auch „Subjekt“ der Existenz.¹⁴⁶
Und die zusätzliche Bemerkung dazu: Bedenken wir dieses, dann ist leicht zu sehen, wie sich gegenüber der griechischen Denkweise eine völlige Umwälzung vollzogen hat. Hypokeimenon ist das, was zu Grunde liegt, die Grundlage, der Grund im Schellingschen Sinn; die lateinische Übersetzung davon lautet: subiectum. Dieses Subjektum aber wird seit Descartes zum Ich, so dass jetzt Schelling in die Lage kommt, dem Hypokeimenon das Subjekt entgegenzusetzen.¹⁴⁷
In der zweiten Schelling-Vorlesung hat er die Analyse des Begriffspaars fortgesetzt, indem er eine begriffsgeschichtliche Erläuterung von der Antike bis zu Sein und Zeit macht. Damit wird die Verwandlung des Sinns der Subjektivität mit den beiden Kategorien beschrieben: Jedes eigentlich Seiende, d. h. von sich her Anwesende, ist subjectum; in diesem griechisch gedachten Subjektbegriff liegt nichts von ‚Ich‘ und Bewusstsein und Selbstheit. So wie jedes Seiende, sofern es ist, anwest, existiert, so ist jedes Seiende ein subjectum, d. h. schon Vorliegendes und den Eigenschaften Zugrundeliegendes: Grund. ¹⁴⁸
Dieses Subjekt, das in der Antike als Grund jedem Seienden zugrunde lag, ist in der Neuzeit wegen des Gewissheitsbedürfnisses des Menschen ein „ausgezeichnetes subjectum“ geworden, „das subjectum im Sinne des sich vorstellenden Vorstellens von etwas“, das von Leibniz wiederum zum Wesen der „Subjektivität überhaupt (Egoität)“ gemacht wurde, „zum Wesen des Seins eines jeden von sich
Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 1988 (GA, Bd. 42), S. 129. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), S. 133. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), S. 133. Martin Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, hg. von Günter Seubold, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 1991 (GA, Bd. 49), S. 80 – 82.
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift
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her in sich Seienden“. Diese durch das Selbstsein gekennzeichnete Subjektivität ist nun bei Schelling das Wesen der Existenz geworden.¹⁴⁹ Obwohl es bei Schelling noch um den Begriff der Existenz geht, der das Selbstsein jedes Seienden bezeichnet¹⁵⁰, ist diese Umwälzung des Verhältnisses von Grund und Existenz von Bedeutung, falls diese dem Menschen betrifft, der als das ausgezeichnete Seiende anzusehen ist, das Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung erhebt. Wie Heidegger früher in WdG (1929) erwähnt hat, bedeutet der Grund zuerst „das Gründen als Stiften“, das als „Entwurf von Möglichkeiten“ verstanden werden soll, um sich dann als „Bodennehmen“ und „Begründen“ zu entfalten.¹⁵¹ Dann ist der Grund des Daseins, das sich zu sich selbst verstehend verhält, ein Erkennen der in sich verborgenen Möglichkeiten, deren Entfaltung und Verwirklichung der Entscheidung des Daseins selbst unterstehen müssen. Die Freiheit in diesem Sinne ist schon nicht mehr – wie es bei Schelling der Fall ist – eine moralisch gestimmte Freiheit zu guten oder bösen Taten, sondern eine Freiheit unter verschiedenen Möglichkeiten, die allen anderen auch gegeben sein könnten, seine eigene Existenz als Individuum, die niemand anderem gleich sein kann, zu entwickeln, also im heideggerschen Sinne „‚aus sich Heraus-treten‘, sich Offenbaren und im Sich-offenbar-Werden zu sich selbst Kommen und kraft dieses Geschehens bei sich selbst und so erst sich selbst ‚Seyn‘“¹⁵². Die Identität, die im Grund-Existenz-Verhältnis waltet, ist also Heidegger zufolge eine zusammengehörende Identität des Verschiedenen: ¹⁵³ In dieser Metaphysik des Bösen sollen wir die Frage nach dem Wesen des Seyns vollziehen. Seyn hat das Wesen der Identität; Identität ist die Einheit als Zusammengehörigkeit des Verschiedenen. Die Geschiedenheit der Verschiedenen ist aber nicht als ein nur leer gedachter Unterschied gefasst, im Sinne des nur gemeinten Unterscheidens einer leeren Logik, die sich aus allem heraushält, sondern als das Geschehnis der Scheidung; diese Scheidung ist immer nur der Abschied zu einem früheren Sichgehören.“¹⁵⁴
Infolgedessen muss diese zusammengehörende Identität zwischen Grund und Existenz zu einem „früheren Sichgehören“, das heißt zu einer ursprünglichen
Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 80 – 82. Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 75. Laut Heidegger bezieht sich der Begriff Existenz erst seit Kierkegaard ausgezeichnet auf die menschliche Existenz. Heidegger, „Vom Wesen des Grundes (1929)“, S. 167. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), S. 131. Heidegger hat in seiner eigenen Untersuchung zum Satz der Identität das Wesen der Identität als das Zusammengehören interpretiert (vgl. Heidegger, Identität und Differenz, S. 31 f.). Heidegger, Identität und Differenz, S. 126.
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Identität beider zurückgeführt werden, in der es diese Differenz noch zu offenbaren gilt. Dieser Ansatz findet sich auch bei Schelling in der Freiheitsschrift am Ende der Untersuchung, also unter dem Stichwort „Ungrund/Urgrund“.
3.3.3 Indifferenz als unoffenbarte Identität: zum Ungrund/Urgrund Am Ende seiner Untersuchung zur Freiheit des Menschen hat Schelling einen dritten Sinn des Begriffs Grund eingeführt, nämlich den Grund als Ungrund/Urgrund. Wie der Grund als Grund der Folge bezeichnet der Ungrund den Zustand Gottes vor der Selbstoffenbarung. Der Aspekt aber, unter dem die Beziehung Gottes mit dem Geschöpf betrachtet wird, hat sich verändert. Im Grund-FolgeVerhältnis wird das Ereignis der Schöpfung vom logischen Aspekt her betrachtet, um einen lebendigen Pantheismusbegriff aufzuzeigen, in dem Gott und das Geschöpf seiner Selbstoffenbarung in einer schöpferischen Identität bleiben. Als Ungrund wird Gott aber noch nicht als die absolute Identität angesehen, sondern als Indifferenz, in der alle Gegensätze, die sich noch daraus ergeben sollen, zwar nicht vorhanden, aber doch schon gewissermaßen verborgen da sind. Da Schelling zufolge die Schöpfungsgeschichte zugleich der Prozess der Selbstwerdung Gottes ist, muss sich die Identität Gottes innerhalb dieses Prozesses modifiziert haben: Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Indifferenz des Ungrundes und läuft auf die absolute Identität der Liebe hinaus. Damit Gott in der Geschichte der Offenbarung immer noch an sich identisch bleibt, müssen alle Abspaltungen, die durch die Offenbarung hervorgebracht werden, innerhalb dessen Identität geschehen. „[…] ohne Indifferenz, d. h. ohne einen Ungrund, gäbe es keine Zweiheit der Prinzipien“¹⁵⁵. Der Ungrund, der durch seine Indifferenz vor der späteren Unterscheidung von Grund und Existenz charakterisiert ist, ist das grundlegende Moment der Schöpfungsgeschichte, ohne das die Differenz in Gott, die sich aus der Schöpfung ergibt, mit der immerwährenden Identität Gottes nicht kohärent gedacht werden kann. Demgemäß wird auch die schöpferische Identität von Gott und Geschöpft erst dadurch verständlich, dass die Schöpfung als nichts Anderes als die Selbstwerdung Gottes in sich selbst beziehungsweise in der geschöpften Welt zu verstehen ist. Als Grund aller Schöpfung bezeichnet Schelling diesen Grund in völliger Indifferenz auch als Urgrund. Als Ur-Grund genannt, bildet dieser Zustand die Grundlage aller späteren Geschichte. Als Un-Grund ist er ein grundloser Grund, das heißt ein endgültiger Grund, der auf nichts mehr zurückgeführt werden kann.
SW, 407.
3.3 Überleitung: der dreifache Sinn der Identität in Schellings Freiheitsschrift
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Als ein Wesen „vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität“¹⁵⁶ ist dieser Ur- beziehungsweise Un-Grund ein Zustand, wo alle Gegensätze und Unterschiede noch nicht gesetzt sind.¹⁵⁷ Die Indifferenz oder die Gleichgültigkeit der Unterschiede im ursprünglichen Ungrund hat Schelling mit dem Begriff der Disjunktion erläutert – im Unterschied zur Beziehung der Konjunktion in der absoluten Identität – das heißt, die Unterschiede sind gewissermaßen da (im Ungrund) als verschiedene Alternativen, die jeweils zu verwirklichen sind: Das Wesen des Grundes, wie das des Existierenden, kann nur das vor allem Grunde Vorhergehendes sein, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber […] nicht anders sein, als indem er in zwei gleich ewige Anfänge auseinander geht, nicht dass er beide zugleich, sondern dass er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eigenes Wesen ist.¹⁵⁸
Die Unterscheidung von Grund (als Grund von Existenz) und Existenz beruht auf diesem ursprünglichen Ungrund. Indem er betont, dass diese Unterscheidung keine „bloß logische, oder nur zur Aushilfe herbeigerufene und am Ende wieder als unecht zu befindende“, sondern vielmehr „eine sehr reelle Unterscheidung“¹⁵⁹ sei, hat er diese Unterscheidung ausdrücklich ontologisch charakterisiert, die zwei Seinsweisen desselben Wesens darstellt: den Grund als das Möglichsein und die Existenz als das Wirklichsein. Der Ungrund ist gedacht als der Ursprung dieser Alternativen, die am Ende der Offenbarung wieder in der absoluten Identität der Liebe verbunden werden sollen.
3.3.4 Fazit Durch die Darstellung der Sinn-Nuancen der schellingschen Grund-Gedanken in der Freiheitsschrift glauben wir, das zentrale Moment von Schellings Hamartiologie vorgelegt zu haben, die Kierkegaards anthropologische Grundlegung in hohem Maße beeinflusst hat. So können wir McCarthys These der Entsprechung des dunklen Grunds bei Schelling und des Nichts der Angst bei Kierkegaard erneut beobachten:
SW, 406. Dies erinnert an die kierkegaardsche Beschreibung der Unschuld des Menschen, in der der Geist noch nicht gesetzt ist, also die Unterscheidung zwischen Leib und Seele noch nicht durchgedrungen ist (vgl. SKS 4, 347 / BA[R], 41 f.). SW, 407 f. SW, 407.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
Kierkegaard does not use the term „dark ground“ and he does not make the connection, but his „nothing“ and Schelling’s „dark ground“ are parallel categories and function in the same way.¹⁶⁰ To Kierkegaard’s mind, both sin and the overcoming of sin – in secular language, selfalienation and self-recovery – are possibilities proceeding from the dark ground of one’s unactualized being, from one’s own nothingness that rises up to the level of experience in anxiety to confront one with one’s own freedom to choose to create oneself or nor, and ultimately with one’s responsibility for what one chooses.¹⁶¹
Faktisch hat McCarthy hier ein wichtiges Moment der Existenzdialektik formuliert, nämlich die modalen Kategorien.¹⁶² Die Interpretation vom Nichts als Möglichkeit, die durch den Sprung zu verwirklichen ist, haben wir oben dargestellt.¹⁶³ Die Interpretation des Grundes als zu verwirklichende Möglichkeit muss aber darauf beschränkt sein, dass der Grund im zweiten Sinne, und zwar als der Grund im Vergleich zur Existenz, zu verstehen ist. Der Ungrund/Urgrund vor aller Differenzierung entspricht dem Zustand der Unschuld des Menschen vor dem Sündenfall. Gott als Grund der gesamten Schöpfung wird bei Kierkegaard überhaupt nicht thematisiert, sondern eher vorausgesetzt. Außerdem muss man darauf achten, dass das Nichts als der dunkle Grund der Angst keinen ontologischen Status bei Kierkegaard bekommt, sondern ein durch und durch Noch-nicht-Sein bleibt.
3.4 Zur Wirkungsgeschichte der Angstproblematik: Heideggers Fundamentalontologie Heideggers Fragestellung nach der Stimmung der Angst ist nicht dialektisch, sondern hermeneutisch. Für eine Hermeneutik des Daseins, die „als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt“¹⁶⁴, ist von Bedeutung, „zum Sein der Ganzheit des Strukturganzen vorzudringen“¹⁶⁵, zu dem der Ausgang am Phänomen des Verfallens liegt, das das Dasein in seiner Alltäglichkeit charakterisiert. Die zentrale Funktion der Angst in dieser Hermeneutik besteht nämlich darin, dass sie das Dasein vereinzelnd aus seinem Verfallen zurückholt.
McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 119. McCarthy, Kierkegaard as Psychologist, S. 120. Vgl. Abschnitt 1.3.2.2, a. Vgl. Abschnitt 2.2. SuZ, 38. SuZ, 184.
3.4 Zur Wirkungsgeschichte der Angstproblematik
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Durch diese Vereinzelung kommt der Mensch erst zum reflektierten Selbstbewusstsein, in dem er über die eigene Möglichkeit des Seins als eigentlich oder uneigentlich Bescheid weiß¹⁶⁶. Bereits diese grobe Darstellung enthüllt, dass bei Heidegger das Sein des Daseins – wie bei Kierkegaard – in seinem Vollzugscharakter gedacht wird. Zwar gibt es bei Heidegger keine aus der Synthese zweier gegensätzlicher Momente gedachte anthropologische Grundlegung¹⁶⁷, aber der Lebensvollzug eines Daseins als Selbstverhältnis und Selbstwerdung ist bereits ersichtlich.¹⁶⁸ Ungeachtet dessen, ob und wie Heidegger sich zu Kierkegaards Einfluss auf ihn selbst geäußert hat, wollen wir hier die These vertreten, dass die Fragestellung nach der Rolle der Angst im Prozess der Selbstwerdung des Menschen auf ähnliche Weise entfaltet wird. Es wird bei Heidegger wie bei Kierkegaard ein Zustand vorgestellt, aus dem heraus die Angst zustande kommt. Derjenige, dem die Angst die Möglichkeiten des Seins erschließen soll, ist nicht das unschuldig-unwissende Kind oder der dem Kind ähnliche Adam, sondern das Dasein in seiner Alltäglichkeit, das durch eine ontologisch vorgegebene Beweglichkeit des Verfallens in den Zustand des „Man“ geraten ist. Dieser Zustand, den Heidegger als Uneigentlichkeit des Daseins bezeichnet¹⁶⁹, ist aber ein solcher, dem die eigene Uneigentlichkeit unbewusst bleibt. Die Vereinzelung der Angst holt das Dasein nicht nur aus seinem Verfallen heraus in die Öffentlichkeit, sondern überhaupt aus dem Unbewusstsein ins selbstbewusste Verhalten-zu-Sich, das erst eine authentische Selbstbestimmung ermöglicht. Im Folgenden wollen wir den Zustand des „Man“, die ontologische Beweglichkeit des Verfallens und die Strukturanalyse der Angst unter Berücksichtigung der parallelen Strukturmomente bei Kierkegaard nacheinander darstellen.
SuZ, 191. Zum Unterschied der anthropologischen Grundlegung zwischen Heidegger und Kierkegaard vgl. Jörg Disse, „Philosophie der Angst. Kierkegaard und Heidegger im Vergleich“, Kierkegaardiana, Bd. 22, 2002, S. 64– 88. So sieht auch Figal beide Philosophen in diesem Punkt einig: „[…] der Gedanke [des Verhaltens-zu-sich] habe seine prägnanteste Formulierung erst bei Kierkegaard gefunden: in seiner Bestimmung des Menschen als ,Selbst‘ und des Selbst als eines ,Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält‘. Und es ist Heidegger, der dem Gedanken durch die fundamentalontologische Bekräftigung des Kierkegaardschen Befunds zu einer allgemein-philosophischen Bedeutung verholfen hat“ (Günter Figal, Lebensverstricktheit und Abstandnahme. „Verhalten zu sich“ im Anschluss an Heidegger, Kierkegaard und Hegel, Tübingen: Attempto Verlag 2001, S. 10). SuZ, 175.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
3.4.1 Das Ängstigende: das „Man“ versus Geistlosigkeit Wie wir bei der Darstellung von Schellings Begriff des Grundes gesehen haben¹⁷⁰, sieht Heidegger schon bei Schelling die von ihm als aufschlussreich gehaltene innovative Umwälzung des ontologischen Status von Grund und Existenz. Das als das Grundliegende vorgestellte Selbstsein, das „sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält und sich dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht“¹⁷¹, bildet gerade nicht die zunächst und zumeist gegebene Seinsweise des Daseins. Denn „[es] könnte sein, daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin“¹⁷². Die Jemeinigkeit des Daseins entfaltet sich in den Möglichkeiten des Selbstseins und des Nichtselbstseins, wobei die letzte Möglichkeit sich nicht auf ein anderes Dasein bezieht, sondern auf die Selbstverlorenheit desselben Daseins.¹⁷³ Das alltägliche Selbstsein des Daseins ist die Selbstverlorenheit unter der „vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen“, die unauffällig in „das Neutrum, das Man“ verschwunden bleiben¹⁷⁴. Die Seinsweise des Mans zeichnet sich als ein Ringen um Abstand, um Durchschnitt und um Einebnung aller Seinsmöglichkeiten des Daseins aus und bleibt sozusagen jenseits jeder Ursprünglichkeit. Das „Man“ herrscht als die sogenannte „öffentliche Ausgelegtheit“¹⁷⁵ vor, entlastet das Dasein von seiner eigenen Verantwortlichkeit, sodass das Selbstsein des Daseins sich in ihm auflöst und das Niemand wird:
Vgl. Abschnitt Überleitung II, b. SuZ, 114. SuZ, 115. Der Einwand gegen die Idee eines „Subjekt-Ich“, das als das unveränderlich Zugrundliegende immer das Selbe bleibt und als solches sich ständig von anderen „Ichs“ distinguiert, gründet in Heideggers Abstand, den er bereits bei der Abfassung von SuZ zeigte, von der von seinem Lehrer Edmund Husserl inaugurierten klassischen Phänomenologie, , die von Marquard als „essentialistische Reduktion“ bezeichnet wird. In dieser wird nämlich die Existenz suspendiert und stattdessen die Essenz als „Sache selbst“ erstrebt. Das Verfahren der die Existenz ausklammernden Wesensschau lässt sich auf die Tradition des platonischen Essentialismus zurückführen, der schließlich auf Weltfremdheit reduziert wird. Eine umwälzende Maßnahme trifft Heidegger dagegen, indem er von der Essenz, vom Wesen, vom Was absieht, sodass nur das reine Dass übrig bleibt und die faktische Existenz den Primat bekommt (vgl. Marquard, Der Einzelne, S 187). „Darum werden ja bei Heidegger jene Begriffe ins Zentrum des Interesses gerückt, die bei Husserl gerade der Epoché verfielen: Sein, insbesondere Dasein, Existenz, Zeit“ (Marquard, Der Einzelne, S. 199). SuZ, 126. SuZ, 177.
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Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.¹⁷⁶ Diese Seinsweise des Daseins, das sich ausschließlich durch die Öffentlichkeit bestimmen lässt, kennzeichnet also das unbewusst-ungelungene Sich-zusich-selbst-Verhalten. Es herrscht in diesem Zustand eine Heteronomie, die schweigend über jeden Einzelnen herrscht und diesem unbewusst bleibt. Es gehört zur Aufgabe der Selbstwerdung des Daseins, aus diesem Zustand herauszutreten. Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-Selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muss sich erst finden.¹⁷⁷ Dieses verfehlte Selbstverhältnis in der Alltäglichkeit des Daseins bildet bei Heidegger den Ausgangspunkt der Existenzbewegung des Selbstwerdens-zu-Sich, denn „[z]unächst bin nicht ich im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir selbst zunächst gegeben“¹⁷⁸.
Das alltägliche Dasein als das „Wer“ des Angsthabens ist also das selbstlose ManSelbst, das an diesen Zustand selbst schuld ist. Wenn wir uns an die Angstanalyse in BA erinnern und die Verschiedenheit der Ängstigenden in dieser Analyse heranziehen¹⁷⁹, sehen wir deutlich, dass in diesem selbstlosen Zustand nicht Adam der Prototyp oder seine Nachkommen in ihrer unwissenden Unschuld parallel stehen, sondern der Geistlose, der sich durch „die Stagnation des Geistes“ charakterisiert und „in Richtung vom Geist weg bestimmt ist“¹⁸⁰. Wie wir oben festgestellt haben, ist die Geistlosigkeit im Gegensatz zur Unschuld ein Freiheitsphänomen, in dem „das Selbstsein als Geist, die Aufgabe der Selbstwerdung zu sich und die eigene Freiheit als Selbstbestimmungskraft – aus Freiheit – ins Unbewusste verdrängt wurde, das heißt aber in Vergessenheit geraten ist.“¹⁸¹ Die öffentliche Meinung, die das Man-Selbst unauffällig beherrscht, wurde von Kierkegaard plebs ¹⁸² genannt. Die scheinbare Glückseligkeit des Geistlosen zeigt ebenfalls eine phänomenale Affinität zum Entlastetsein des alltäglichen Daseins
SuZ, 128. SuZ, 129. SuZ, 129. Vgl. Abschnitt 2.7. SKS 4, 398 / BA[R], 103 f. Vgl. Abschnitt 2.4.3. SKS 4, 397 / BA[R], 102.
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in seiner Selbstlosigkeit. Vor allem aber zeichnen sich beide Phänomene dadurch aus, dass sie durch einen „Fall“ zustande gekommen sind, nur dass bei Heidegger das Verfallensein nicht als die Folge einer Urtat gedacht wird, sondern als die zunächst gegebene Seinsart des alltäglichen Daseins, die für eine Hermeneutik des Daseins phänomenal zugänglich ist. Wie aber dieses Phänomen in seiner ontologischen Beweglichkeit zu denken ist, und in welchem Verhältnis es zum „Fall“ in die Sünde bei Kierkegaard steht, ist das Thema der nachfolgenden Darstellung.
3.4.2 Verfallen versus Sündenfall Der gesamte Paragraph § 38 von SuZ mit der Überschrift Das Verfallen und die Geworfenheit darf meines Erachtens als eine abgrenzende Antwort auf Kierkegaards Beschreibung des Sündenfalls angesehen werden. Nicht nur von einem „Urstand“¹⁸³ vor dem Verfall ist die Rede, sondern auch von einer ontologischen „Bewegtheit“¹⁸⁴, deren Kontinuität in der Existenz des Daseins Heidegger als „Wirbel“¹⁸⁵ veranschaulicht. Das Verfallen, das den Zustand des Nicht-selbst-Seins des Daseins in seiner Alltäglichkeit beschreibt, gilt als der erste phänomenal zugängliche Zustand des Daseins, denn „das Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten Welt“¹⁸⁶. Daher darf „[d]ie Verfallenheit des Daseins“ nicht als „Fall aus einem reineren und höheren Urstand aufgefaßt werden“¹⁸⁷. Das Weigern Heideggers, sich einen Urstand vor dem Verfall vorzustellen, zeigt nicht nur seinen Abstand zum „Fall“ des Menschen im biblischen Sinne, sondern auch, dass er keinen Ansatz der Entwicklungspsychologie in seiner Daseinshermeneutik erlaubt. Der Zustand der Unschuld beziehungsweise des Ästhetischen, in dem das Dasein in seiner unmittelbaren Einheit mit seiner Natürlichkeit nicht im Besitz der Bedingung ist, aus Freiheit über sich selbst zu bestimmen, ist also in einer Daseinshermeneutik nicht nur phänomenal unzugänglich, sondern phänomenologisch unfassbar: „[d]avon haben wir ontisch nicht nur keine Erfahrung, sondern auch ontologisch keine Möglichkeiten und Leitfäden der Interpretation“¹⁸⁸.
SuZ, 178. SuZ, 179. SuZ, 178. SuZ, 176. SuZ, 176. SuZ, 176.
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Als ein Fall „von ihm selbst“ und „an die Welt“¹⁸⁹ bezeichnet das Verfallensein im Perfektum eine vollendete Bewegung, die aber wie die Geworfenheit weder „eine fertige Tatsache“ noch „ein abgeschlossenes Faktum“¹⁹⁰ ist, sondern vielmehr den Tatbestand ausdrückt, dass das Dasein ständig im „Absturz“¹⁹¹ und „im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird“¹⁹². Dieses ständige Losreißen von der Eigentlichkeit und doch immer Vortäuschen derselben, in eins mit dem Hineinreißen in das Man charakterisiert die Bewegtheit des Verfallens als Wirbel. ¹⁹³ Dasselbe Lebensbild, in dem der Mensch ständig ins verfehlte Selbstverhältnis gerät, drückt Kierkegaard genau in Bezug auf die Möglichkeit und die Wirklichkeit der Verzweiflung aus: Also ist es ein unendlicher Vollzug, verzweifelt zu können […]. Dies, nicht verzweifelt sein, muß die vernichtete Möglichkeit dessen bedeuten, es sein zu können; wenn dies wahr sein soll, daß ein Mensch nicht verzweifelt ist, so muß er in jedem Augenblick die Möglichkeit zunichte machen.¹⁹⁴
Darüber hinaus kümmert Kierkegaard sich noch darum, dass diesen Wirbel der Existenz der Mensch selbst verschuldet hat, während dieser für Heidegger zur Faktizität des Daseins gehört: […] jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist auf die Möglichkeit zurückzuführen, jeden Augenblick, da er verzweifelt ist, zieht er sich dies [Verzweifeltsein] zu […].¹⁹⁵
Die Geworfenheit, in der sich die Faktizität phänomenal beobachten lässt, gehört zum Dasein, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht. Dasein existiert faktisch.¹⁹⁶. Ungeachtet dieser Unterscheidung bleibt Heidegger aber in der Beschreibung der ontologischen Bewegtheit des Verfallens mit Kierkegaard in höchstem Grade einig. Dies lässt sich an vier Strukturmomenten dieser Bewegtheit aufzeigen:
SuZ, 176. SuZ, 179. SuZ, 178. SuZ, 179. SuZ, 179. SKS 11, 131 / KT[R] 15. SKS 11, 132 / KT[R], 17. SuZ, 129.
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3.4.2.1 Versuchung versus concupiscentia Das Verfallen geschieht nicht als eine Wirkung von außen. Es ist das Gerede als die Seinsart des Miteinanderseins, das das Dasein versucht, ins Man-Selbst zu verfallen. „[D]as Dasein bereitet ihm selbst die ständige Versuchung zum Verfallen. Das In-der-Welt-sein ist an ihm selbst versucherisch.“¹⁹⁷ Dies besagt aber auch, dass Heidegger die concupiscientia zum Fall als zum In-der-Welt-Sein des Daseins zugehörend sieht, nur dass bei ihm nicht der Geist-Mensch sich selbst sprachlich versucht¹⁹⁸, sondern das Dasein in der Welt sich selbst die Möglichkeit vorgibt, von der öffentlichen Ausgelegtheit versucht zu werden und „der Bodenlosigkeit zu verfallen“¹⁹⁹. Der Fall geschieht durch eine Versuchung durch sich selbst, die bei Kierkegaard aber keineswegs selbstverständlich ist, sondern unter Mitwirkung der Zwischenbestimmung der Angst vollzogen werden muss.²⁰⁰
3.4.2.2 Beruhigung versus scheinbare Glückseligkeit Die Verfallenheit ist selbst beruhigend und hält das Dasein fest. Die öffentliche Ausgelegtheit ist folglich entschieden und allenfalls verfügbar, dass alle anderen Seinsmöglichkeiten verborgen bleiben, sodass das eigentliche „befindliche Verstehen“ nicht mehr bedürftig wird: „Das verfallende In-der-Welt-sein ist sich selbst versuchend zugleich beruhigend“²⁰¹. Kierkegaard drückt denselben Tatbestand aus, wenn er von der scheinbaren Glückseligkeit des Geistlosen spricht, denn gerade dieser Schein drängt die Angst, in der der Geist gesetzt wird, ins Unbewusstsein ab und hält den Menschen in seinem geistlosen Glück fest. Außerdem ist es im Schwindelvergleich der Angst das Synthesismoment der Endlichkeit, an der der Menschen ohnmächtig festhält, um vor den in der Angst erschlossenen eigenen Existenzmöglichkeiten zu fliehen. Da nicht in der Unendlichkeit, sondern nur in der Endlichkeit der Weltbezug des Menschen liegen kann, dürfen wir bei Kierkegaard auch sagen, dass das In-der-Welt-Sein den Menschen zugleich versucht und beruhigt. Auch bei Schelling geschieht der Fall durch die Flucht in die Peripherie aus einer Lebensangst des Eigenwillens heraus, „um da eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen“²⁰². Der Fall an sich ist beruhigend,
SuZ, 177. Vgl. Kierkegaards Auslegung der Rolle der Schlange in der Bibelerzählung als ein Selbstgespräch, das man nicht unbedingt verstehen muss (SKS 4, 353 / BA[R], 48). Ebd. Vgl. Kierkegaards Einwand gegen Usteris psychologische Erklärung der Erbsünde mit dem Begriff concupiscentia (SKS 4, 345 f. / BA[R], 39 f.), dazu Abschnitt 3.1 der vorliegenden Forschung. SuZ, 177. WmF, 53 f.
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nur dass bei Heidegger dieser weder als eine intelligible Tat (Kant/Schelling), noch als ein psychologischer Zustand vor der Entscheidung (Kierkegaard) beschrieben wird, sondern phänomenal als die Folge einer abgeschlossenen Tat, die sich stets wiederholt. Diese Tat an sich ist phänomenal unzugänglich und zeigt sich nur in ihrer Abgeschlossenheit: Verfallensein, Geworfensein.
3.4.2.3 Entfremdung versus Verzweiflung: Das beruhigende Verfallensein ist zugleich ein Fallen aus dem wahren Selbstsein und hat die Entfremdung im Selbstverhältnis zur Folge. Diese zeigt sich am Phänomen der Neugier, das als ein hemmungsloser Betrieb charakterisiert wird. Die Neugier auf Fremdheiten ist lediglich die Vortäuschung eines universalen Daseinsverständnisses. Es bleibe jedoch immer noch unverstanden, „daß Verstehen selbst ein Seinkönnen ist, das einzig im eigensten Dasein frei werden muß“²⁰³. Diese Neugierde entfernt das Dasein stets von sich selbst: Diese Entfremdung, die dem Dasein seine Eigentlichkeit und Möglichkeit, wenn auch nur als solche eines echten Scheiterns, verschließt, liefert es jedoch nicht an Seiendes aus, das es nicht selbst ist, sondern drängt es in seine Uneigentlichkeit, in eine mögliche Seinsart seiner selbst. ²⁰⁴. Ein solches Phänomen drückt sich bei Kierkegaard als das verfehlte Selbstverhältnis aus, in dem man unbewusst nicht sich selbst sein will: „[d]iese Form der Verzweiflung (die Unwissenheit über sie) ist die allgemeinste in der Welt […]“.²⁰⁵. Die genaue Entsprechung findet man aber in der Form der Verzweiflung als Spießbürgerlichkeit, die mit allen trivialen Kausalitäten beschäftigt ist und die Möglichkeit übersieht.²⁰⁶ In BA wird die Geistlosigkeit als Fetisch beschrieben, da sie „nichts geistig versteht, nichts als Aufgabe erfaßt“ und schließlich zu einer „vollendeten Götzendienerin“ wird, die nur den „Scharlatan“ anbetet²⁰⁷.
3.4.2.4 Selbstverfangen versus Selbstverstrickung Wenn die Versuchung nicht von außen kommt, sondern durch das In-der-WeltSein selbst bereitet wird; wenn die Beruhigung das Dasein an seiner eigenen Verfallenheit festhält; wenn die Entfremdung das Dasein zu einer bestimmten
SuZ, 178. SuZ, 178. SKS 11, 160 / KT[R] 43. SKS 11, 156 / KT[R] 39. SKS 4, 398 f. / BA[R], 104.
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Seinsart seines Selbstseins treibt: dann besagt das alltägliche Phänomen des Verfallens nichts anderes als ein Selbstverfangen des Daseins in sich selbst. Der ontologische Bewegungsbegriff des Verfallens muss als die innere Bewegtheit des Daseins verstanden werden. „Die versuchend-beruhigende Entfremdung des Verfallens führt in ihrer eigenen Bewegtheit dazu, daß sich das Dasein in ihm selbst verfängt“²⁰⁸. Dieses Selbstverfängnis des Daseins ist ein Freiheitsphänomen, das bei Kierkegaard in der Zwischenbestimmung der Angst ausgesprochen wird. So ist die Angst „eine verstrickte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern verstrickt, nicht in die Notwendigkeit, sondern in sich selbst“²⁰⁹. Dass das Verfangensein als das perfektum einer ontologischen Bewegtheit, die das Dasein stets zum Verfall wirbelt, wiederholbar ist, zeigt sich bei Kierkegaard in der Tatsache, dass die Angst sich mit der Existenzbewegung fortsetzt und für den immer wiederkehrenden „Augenblick im individuellen Leben“²¹⁰ steht. Trotz all dieser Gemeinsamkeiten versucht Heidegger, sich von Kierkegaards Ansatz, der thematisch und argumentativ von Kant und Schelling abstammt, abzugrenzen: Die existenzial-ontologische Interpretation macht daher auch keine ontische Aussage über die „Verderbnis der menschlichen Natur“, nicht weil die nötigen Beweismittel fehlen, sondern weil ihre Problematik vor jeder Aussage über Verderbnis und Unverdorbenheit liegt. Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff. Ontisch wird nicht entschieden, ob der Mensch „in der Sünde ersoffen“, im Status corruptionis ist, ob er im Status integritatis wandelt oder sich in einem Zwischenstadium, dem Status gratiae, befindet.²¹¹
Es ist also Heideggers Verdienst, eine die Anthropologie grundlegende Fundamentalontologie von der hamartiologischen Fragestellung zu unterscheiden, ohne dass die dabei untersuchten Phänomene übersehen werden. Die Frage nach der Universalität des Bösen wird aus einem phänomenologischen beziehungsweise ethisch neutralen Aspekt heraus erneut gestellt, sodass diese Alltäglichkeit, die von Kant sehr bedauert, von Schelling tragisch dargestellt und von Kierkegaard stark kritisiert wird, zu einer grauen Gegebenheit wird und in ihrer Bosheit verbleibt. Dies ist Kierkegaard zufolge genau der Zustand der Sünde, aus dem der Mensch erlöst werden muss, und bei Heidegger der Ausgangspunkt der Existenzbewegung ins eigentliche Sein-Sollen, deren Wendepunkt in der Erschlossenheit der Befindlichkeit der Angst liegt.
SuZ, 178. SKS 4, 354 / BA[R], 50. SKS 4, 384 / BA[R], 87. SuZ, 179 f.
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3.4.3 Stimmung versus Zwischenbestimmung Wenn Heidegger von der Allgegenwärtigkeit der Stimmung spricht, „daß das Dasein je schon immer gestimmt ist“²¹², dann hat er sehr wohl Kierkegaards Wissenschaftstopographie im Blick, in der jede Wissenschaft richtig gestimmt werden muss. Auch die Psychologie, die die Stimmung zum Gegenstand hat, muss eine Stimmung der „beobachtende[n] Ausdauer“ und „spionierende[n] Unerschrockenheit“²¹³ des Forschenden voraussetzen²¹⁴. In einer Daseinshermeneutik bildet das Gestimmtsein des Daseins den ersten Zugang zu einer phänomenologischen Betrachtung, die jedem thematischen Erkennen vorausgeht, denn „auch die reinste θεωρία hat nicht alle Stimmung hinter sich gelassen […]“²¹⁵. Diesen Zugang zum Daß- und Wie-Sein des Daseins bietet die Stimmung mit ihrer Erschließungskraft, die vor allem die Seinsweise des Daseins in seiner unmittelbaren Alltäglichkeit – dem Verfallensein – aufzeigt: Das Dasein weicht zumeist ontisch-existenziell dem in der Stimmung erschlossenen Sein aus; das besagt ontologisch-existenzial: in dem, woran solche Stimmung sich nicht kehrt, ist das Dasein in seinem Überantwortetsein an das Da enthüllt. Im Ausweichen selbst ist das Da erschlossenes.²¹⁶ Die Stimmung erschließt nicht in der Weise des Hinblickens auf die Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr.²¹⁷
Das psychologische Phänomen des Gestimmtseins wird phänomenologisch als ein „gestimmtes Sichbefinden“²¹⁸ bestimmt. So findet sich das alltägliche Dasein stets in einer Situation, in der es sich im Zustand nach der Abkehr vor dem wahren Selbstsein befindet. Die von Kant, Schelling und Kierkegaard unermüdlich erforschte Urtat des Menschen zeigt sich einer phänomenologischen Betrachtungsweise nur in ihren Folgen, wobei es unerlaubt ist, von der Faktizität des Verfallenseins zu einem vorausgehenden Fall des Daseins zurückzukehren. Die Erschließungskraft der Befindlichkeit bringt das Dasein zu einem vagen, vorreflexiven Selbstverhältnis, in dem nicht nur das Verfallensein, sondern auch die gesamte Situation des In-der-Welt-Seins gezeigt wird. Die Befindlichkeit ermöglicht es, dass das Dasein sich von den Gegebenheiten der Welt überhaupt
SuZ, 134. SKS 4, 322 / BA[R], 12. Vgl. Abschnitt 2.1.3; Abschnitt 3.1. SuZ, 138. SuZ, 135. SuZ, 135. SuZ, 135.
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affektieren lässt: „Wir müssen in der Tat ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der ‚bloßen Stimmung‘ überlassen“²¹⁹. Auch die Täuschbarkeit dieser primären Entdeckung ist Heidegger zufolge ein existenzial positives Phänomen, denn „[g]erade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifi- schen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist“²²⁰. Zwar kann man diesen epistemologischen Ansatz nicht auch bei Kierkegaard feststellen, jedoch zeigt Kierkegaards spekulative Psychologie eine besondere Affinität zur phänomenologischen Methode, denn er meint, dass der Psychologe mit Einfühlungsvermögen und Einbildungskraft arbeiten und einen „Blick von einer solchen inquisitorischen Schärfe“ haben muss, um zu wissen, „wo er suchen muß“.²²¹ Er konnte so den Blick vom Phänomen lenken lassen und das entdecken, was das Gegebene essentiell darbietet. Und diese Forschung gilt als die einzige, die Kierkegaard zulässt, die einer wahren Ethik über Werterkennen (Gut und Böse) und Entscheidung vorausgehen darf. Im Grunde wendet sich Heidegger gegen das Verständnis der Stimmung als ein psychologisches Phänomen. Er zeigt durch den Rückgriff auf Aristoteles’ Rhetorik, dass „die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der Psychologie abgehandelt ist“²²². Dass die spätere Philosophiegeschichte die Affekte als psychisches Phänomen behandelt, sieht Heidegger als einen Rückschritt, ein Herabsinken zum „Begleitphänomen“²²³, an. Dabei übersieht er aber, dass Kierkegaard in seiner Existenzdialektik der Erforschung der Stimmung als Zwischenbestimmung, die gegenüber allen anderen Forschungsmethoden einen primären Zugang zur Sündenproblematik innehat, einen methodischen Vorrang einräumt. Dass die Befindlichkeit keinen „seelischen Zustand“ beschreibt, der nur durch erinnernde Reflexion gefasst werden kann, sondern die Reflexion überhaupt erst ermöglicht, wird als Heideggers Kritik an der psychologischen Forschungsmethode angesehen. Diese Kritik kann aber Kierkegaards spekulative Psychologie nicht treffen. Einerseits liegt dies daran, dass Kierkegaards Verständnis der Psychologie nicht mit der modernen Wissenschaft zusammenfällt; andererseits – wie wir bereit gezeigt haben – wird das Gestimmtsein jeder wissenschaftlichen Forschung bereits von Kierkegaard aufgezeigt. Die Stimmung ist nicht nur Gegenstand der Psychologie, sondern bestimmt auch die Forschung im
SuZ, 138. SuZ, 138. SKS 4, / BA[R], 57. SuZ, 138. SuZ, 139.
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Vorhinein, nur nicht in einem so starken Sinne wie bei Heidegger, gemäß ihm sie alles Erkennen ermöglichen soll. Die Befindlichkeit ist eine existenziale Grundart, in der das Dasein sein Da ist. Sie charakterisiert nicht nur ontologisch das Dasein, sondern ist zugleich auf Grund ihres Erschließens für die existenziale Analytik von grundsätzlicher methodischer Bedeu- tung.²²⁴ Die phänomenologische Interpretation muß dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen.²²⁵
Bei Heidegger erhält die Stimmung nicht nur einen methodischen Vorrang in der Daseinshermeneutik, sondern auch einen ontologischen Vorrang als Grundart der menschlichen Existenz.Von der hamartiologischen Fragestellung abgelöst und von der psychologischen Methode abgegrenzt, wird die Untersuchung einer „Zwischenbestimmung“ der Angst – die bei Kierkegaard keineswegs nur ein „Begleitphänomen“ ist, sondern vielmehr die Existenzdialektik mitkonstruiert – schließlich bei Heidegger zu einer daseinshermeneutischen Phänomenologie der Stimmung, die nicht methodisch erzwungen, sondern eigens thematisiert werden soll. Eine systematische Darstellung der Stimmungen beziehungsweise deren Bedeutung für die Selbstwerdung des Menschen gibt es erst bei Heidegger. Inwiefern diese aber in ihrer Struktur von der Darstellung Kierkegaards abweicht, wollen wir im Folgenden noch behandeln.
3.4.4 Angst und Furcht: die Strukturanalyse der Befindlichkeit Kierkegaard hat zwar als Erster die Angst von der Furcht unterschieden und dabei die Kategorie der Gegenstandsbezogenheit angewandt, jedoch weder diese Unterscheidung noch das Gefühl der Furcht eigens thematisiert, sondern diese nur zur Abgrenzung erwähnt. Die einzige Stelle, wo er über diese Unterscheidung spricht, wollen wir hier zum Zweck eines Vergleichs mit Heidegger nochmals heranziehen: Den Begriff Angst findet man fast nie in der Psychologie behandelt; ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er von Furcht und ähnlichen Begriffen ganz und gar verschieden ist, dass sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Man wird daher bei einem Tier keine Angst finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist.²²⁶
SuZ, 139. SuZ, 140. SKS 4, 348 / BA[R], 42.
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Die Pointe dieser Unterscheidung liegt darin, dass die Angst – im Unterschied nicht nur zur Furcht, sondern auch zu „ähnlichen Begriffen“ – kein der Kausalbestimmung unterworfenes Naturphänomen, sondern ein Freiheitsphänomen ist, das nur dem Menschen als Geisteswesen zugeschrieben werden kann. Die Gegenstandslosigkeit der Angst ist nur eine Folgerung aus dieser abgrenzenden Bestimmung, die nicht standhält.²²⁷ Eigentlich haben wir in BA diverse Gegenstände der Angst entdeckt, die zwar alle auf die Möglichkeitsebene zurückzuführen sind, doch keineswegs mit dem bloßen „Nichts“ gleichzusetzen sind. Es ist also charakteristisch für die Angst, dass sie zwar ausgelöst werden kann, jedoch nicht ausgelöst werden muss, und dass kein Kausalverhältnis zwischen der Angst und ihrem Gegenstand besteht; während bei der Furcht der Gegenstand und die Ursache immer zusammenfallen. Was die Angst ermöglicht, ist die Wesensbestimmung des Menschen als Synthese. Deswegen haben wir bei der Strukturanalyse der Angst den Auslöser, den Gegenstand und die Möglichkeitsbedingung als verschiedene Kategorien aufgezeigt. ²²⁸ Die Struktur der Befindlichkeit entfaltet Heidegger am Beispiel der Furcht aufgrund einer Interpretation der Schilderung derselben in Aristoteles’ Rhetorik. Dort wird der Affekt der Furcht als „eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung auf Grund der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzhaften Übels“²²⁹ definiert. In dieser Definition wird bereits das Wovor der Furcht (Übel), das Fürchten (Kummer und Beunruhigung) und das Worum der Furcht (was das Verderben oder den Schmerz betreffen kann) angesprochen. Auch die Nähe des Gegenstandes hat Aristoteles aufgezeigt: „Das bedeutet nämlich Gefahr: die Annäherung an etwas Furchtbares“²³⁰. Die Möglichkeit des Ausbleibens dieser Drohung ist ebenfalls konstitutiv für diese Affektion. So spricht Aristoteles von der Verbundenheit der Furcht mit der Erwartung, „ein vernichtendes Leid erdulden zu müssen“²³¹, in der „ein Funke Hoffnung auf Rettung vor dem, weswegen man sich ängstigt²³²“ nicht ausbleibt. Bemerkenswert ist aber vor allem bei Heidegger, dass bei ihm die Furcht nicht – wie bei Aristoteles – durch die Vorstellung eines kommenden Übels ausgelöst wird, sondern er weist darauf hin, dass der Gegenstand (Wovor) in der
Argumente und detaillierte Darstellungen vgl. Abschnitt 3.2.2. Vgl. die tabellarische Darstellung Abschnitt 2.7. Aristoteles, Rhetorik. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, hg. und übers. von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 2007, S. 89 f. (im Folgenden abgekürzt mit Rhet.). Rhet., 90. Rhet., 91. Rhet., 92.
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Stimmung erschlossen wird. Hierin zeigt sich also der methodische beziehungsweise der ontologische Vorrang der Befindlichkeit in der Daseinshermeneutik: Nicht wird etwa zunächst ein zukünftiges Übel (malum futurum) festgestellt und dann gefürchtet. Aber auch das Fürchten konstatiert nicht erst das Herannahende, sondern entdeckt es zuvor in seiner Furchtbarkeit. Und fürchtend kann dann die Furcht sich, ausdrücklich hinsehend, das Furchtbare klar machen. ²³³
Die Disponiertheit dieser Stimmung, ihren Gegenstand als nahende Drohung zu entdecken, bezeichnet Heidegger als „Furchtsamkeit“.²³⁴ Alle Varianten der Furcht wie zum Beispiel Erschrecken, Grauen und Entsetzen sind darauf zurückzuführen, dass „das Dasein als In-der-Welt-sein ‚furchtsam‘ ist“²³⁵, das heißt stets bereit ist, sich zu fürchten und währenddessen die Drohung als solche zu entdecken. Heidegger bestreitet aber, diese Disponiertheit als eine faktische Anlage des Menschen zu verstehen. Sie sei vielmehr die „existenziale Möglichkeit“ der einen von mehreren wesenhaften Befindlichkeiten des Daseins.²³⁶ Die Weigerung Heideggers, die Möglichkeitsbedingung der Furcht als eine Naturanlage des Menschen zu sehen, gründet darauf, dass er – im wesentlichen Unterschied zu Kierkegaard – die Furcht als ein typisch menschliches Gefühl sieht: Das Worum die Furcht fürchtet, ist das sich fürchtende Seiende selbst, das Dasein. Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann sich fürchten. Das Fürchten erschließt dieses Seiende in seiner Gefährdung, in der Überlassenheit an es selbst.²³⁷
Nur das Dasein kann im Sich-Fürchten seine eigene Ohnmacht gegenüber den Gegebenheiten der Welt entdecken. Die Furchtsamkeit ist also typisch menschlich – nicht im anthropologischen Sinne, sondern gehört daseinshermeneutisch dem Selbstverständnis des Menschen an. Die Furcht gehört nicht zu den Gefühlen, die der Mensch mit den Tieren teilt. Es bleibt aber fraglich, ob Heidegger
SuZ, 141. Jan Slaby versteht unter Furchtsamkeit eine „existenziale Tiefendimension des Fürchtens – seine ,Bedingung der Möglichkeit‘ […] Die Furchtsamkeit ist eine „vorgängige Offenheit“ für das Furchtbare – eine grundlegende Bereitschaft zur Furcht“ (Jan Slaby, „Emotionaler Weltbezug. Ein Strukturschema im Anschluss an Heidegger“, in Gefühle – Struktur und Funktion, hg. von Hilge Landweer, Berlin: Akademie Verlag GmbH 2007, S. 96 – 97). SuZ, 142. SuZ, 142. SuZ, 141.
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3 Die Angstthematik im quellen- und wirkungsgeschichtlichen Kontext
überhaupt in der Fragestellung nach der Stimmung und der Befindlichkeit einen Vergleich zwischen Mensch und Tier zulassen würde. Eine weitere Dimension der Furcht, das „Fürchten für …“, in dem man nicht um die eigene Existenz, sondern um das Mitsein mit anderen fürchtet, zeigt einen weiteren Abstand zu Kierkegaards Verständnis dieses Gefühls. Die Furcht sieht Heidegger überhaupt als ein Prototyp für jede Stimmung, die ontologisch das „wie einem ist“²³⁸ darstellt. Es ist aus dem Obigen zumindest ersichtlich, dass die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst bei Heidegger eine ganz andere ist. Die Furcht gehört bei Kierkegaard zum Naturphänomen, das dem Kausalitätsverhältnis unterliegt, während die Angst ihren Möglichkeitsgrund in der Wesensbestimmung des Menschen hat. Es ist naheliegend festzustellen, dass Kierkegaard unter den diversen Gefühlen ganz deutlich unterscheidet, was nur der Geist-Mensch fühlen kann. Dazu gehört außer der Angst zum Beispiel noch die Schwermut, die Melancholie und die Langeweile. Diese offensichtlich anthropologisch angelegte Unterscheidung würde Heidegger nicht akzeptieren, da die Frage nach der Struktur der Befindlichkeit fundamentalontologisch im Ansatz ist. Diese muss voraussetzen, dass alle Stimmungen, die hier in Frage kommen, im Zusammenhang der Existenzauslegung des Daseins betrachtet werden, das im Vorhinein nicht als animal rationle zu bestimmen und mit dem Tier nicht zu vergleichen ist. Was Heidegger von Kierkegaards Unterscheidung übernimmt, ist vielmehr die Kategorie der Gegenstandsbezogenheit oder vielmehr Gegenstandslosigkeit. Diese Kategorie bezieht sich bei Kierkegaard gerade nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Modalität dessen: ob dieser ein konkret-wirklicher, oder ein abstrakt-möglicher ist. Wir wenden uns nun der „ausgezeichnete[n] Befindlichkeit“²³⁹ der Angst zu, um diesen Eindruck genauer zu überprüfen. Der erste Unterschied zur Furcht, den Heidegger aufzeigt, besteht darin, dass der Ausgangspunkt der Angstanalyse im Phänomen des Verfallenseins liegt: Die Herausarbeitung dieser Grundbefindlichkeit und die ontologische Charakteristik des in ihr Erschlossenen als solchen nimmt den Ausgang von dem Phänomen des Verfallens und grenzt die Angst ab gegen das früher analysierte verwandte Phänomen der Furcht.²⁴⁰
SuZ, 134. SuZ, 184. SuZ, 182.
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Zwischen Angst und Furcht besteht eine „phänomenale Verwandtschaft“²⁴¹, deren Beleg in der sprachliche Verwechslung beider liegt. Diese Verwandtschaft zeigt sich zudem in dem Aktus, den die Stimmung auslöst: das heißt der Flucht vor dem Bedrohlichen, vor dem Gegenstand der Stimmung. In der ontologischen Bewegtheit des Verfallens, die wir oben diskutiert haben, wird vor der eigentlichen Seinsweise geflohen, sodass das Dasein als Man-Selbst in den innerweltlichen Seienden aufgeht und sich überhaupt erst davor fürchten kann: „Die Abkehr des Verfallens gründet vielmehr in der Angst, die ihrerseits Furcht erst möglich macht“²⁴². Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in dem Gegenstand, dem „Wovor“ der Stimmung, der nach der oben erforschten Grundstruktur der Stimmung gerade durch die und in der Stimmung erschlossen werden soll: Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. […] Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit läßt nicht nur faktisch unentschieden, welches innerweltliche Seiende droht, sondern besagt, daß überhaupt das innerweltliche Seiende nicht „relevant“ ist. Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet. […] Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.²⁴³
Das besagt aber nicht, dass das Dasein in der Angst weltlos wird, denn „das Wovor der Angst ist die Welt als solche“²⁴⁴. Was in der Angst erschlossen wird, ist „allererst die Welt als Welt“²⁴⁵. Wenn die Welt als „die Möglichkeit von Zuhandenem überhaupt“ bestimmt wird und wesentlich zum Sein des Daseins gehört, dann ist schließlich der Gegenstand der Angst „das In-der-Welt-sein selbst“²⁴⁶. Man sieht leicht, dass das „Nichts und Nirgends“²⁴⁷, mit dem Heidegger den Gegenstand der Angst beschreibt, nicht als ein bloßes Nichts zu verstehen ist.Wie bei Kierkegaard bezieht sich der Gegenstand der Angst auf die Möglichkeit, jedoch nicht auf die Möglichkeit einer bestimmten Perspektive des zukünftigen Selbstseins, sondern auf die Welt als die Möglichkeit des Zuhandenen überhaupt, die zur Wesensbestimmung des Menschen, bei Heidegger zum In-der-Welt-Sein des Daseins, gehört. So dürfen wir zuerst feststellen, dass das Wovor der Angst mit der
SuZ, 185. SuZ, 186. SuZ, 186. SuZ, 187. SuZ, 187. SuZ, 187. SuZ, 187.
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Wesensbestimmung des Daseins zusammenfällt, die – nicht nur die Angst, sondern alle Stimmungen als solche – ermöglichen soll. Auch im Worum der Angst geht es nicht um irgendeinen Teilaspekt des Daseins, sondern um „das In-der-Welt-sein selbst“²⁴⁸. Gerade das dritte Strukturmoment, das Sich-Ängstigen, bezeichnet Heidegger als eine „Grundart des In-derWelt-seins“²⁴⁹. Die Möglichkeit der Angst um das Mitsein mit Anderen hat Heidegger abgewiesen.²⁵⁰. Alles, was die Alltäglichkeit zu bieten hat, wird in der Angst bedeutungslos. Was in der Angst erschlossen ist, ist nichts als das reine Selbstsein des Menschen, mit dem er sich zu verhalten hat: Die ‚Welt‘ vermag nichts mehr zu bieten, ebenso wenig das Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt‘ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes Inder-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.²⁵¹
Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ‚solus ipse‘.²⁵² Das alltägliche Dasein, das durch eine ontologisch vorangestellte Beweglichkeit des Verfallens in den Zustand des „Man“ geraten ist, wird nun durch die Angst in eine Situation versetzt, in der sein von der „öffentlichen Ausgelegtheit“ bestimmtes Ringen um Abstand, um Durchschnitt und um Einebnung eigener Seinsmöglichkeiten suspendiert wird. Das unbewusst-ungelungene Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, das das Man-Selbst charakterisiert, wird durch die Vereinzelung der Angst zu Bewusstsein gebracht, sodass alle vorher eingeebneten Möglichkeiten nun dem selbstverstehenden Dasein zum Vorschein kommen und einem bewussten und verantwortlichen Selbstentwurf zur Verfügung stehen können: Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Sein-können, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … (propensio in …) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet ist.²⁵³
Nicht in dem Sinne, dass das Dasein erst in der Angst frei wird, macht die Angst das Dasein frei; sondern eher, dass die Freiheit, die ihm schon immer zur Ver-
SuZ, 187. SuZ, 188. SuZ, 187. SuZ, 187 f. SuZ, 188. SuZ, 188.
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fügung stand, aber im Verfallen verborgen blieb, nun in der alle alltäglichen Beschäftigungen suspendierenden Angst wieder in Kraft tritt, indem die Möglichkeit zu können zum Bewusstsein kommt (= erschlossen wird). Diese Bewegung von der Unwissenheit zum existentiellen Wissen, in der die Freiheit als Möglichkeit zu können sich ereignet, hat Kierkegaard in der Analyse der Angst Adams bereits beschrieben. Der wesentliche Unterschied zu Heidegger besteht aber darin, dass Adam vor der Aneignung der Freiheit weder frei noch unfrei war, da er erst durch den Sündenfall zum Geist-Menschen, das heißt zum ethisch zurechenbaren Individuum wird. Das Man-Selbst des alltäglichen Daseins ist aber dem Geistlosen entsprechend durch eine vorausgehende freie Wahl fürs Verfallen entschieden, obwohl Heidegger weder das Verfallen als ethisch verwerflich noch diese Tat als tatsächlich geschehen sehen würde. In ihrer Folge liegt bekanntlich erst der Ausgangspunkt einer daseinshermeneutischen Phänomenologie. Es geht bei Heidegger also um eine durch die Angst motivierte Existenzbewegung des Geistlosen als dem verhüllten Dämonischen in die Selbsterlösung. Die unbewusste Angst „kann in der harmlosesten Situation aufsteigen“, in der man sich voll Sicherheit zuhause fühlt in der Fremdbestimmung durch die Öffentlichkeit.²⁵⁴. Was in der Angst gefühlt wird, ist die „Unheimlichkeit“ im Sinne des Nicht-zuhause-Seins des Daseins.²⁵⁵ Die süße Beängstigung der Angst, die bei Kierkegaard durch ihre Zweideutigkeit als „antipathetische Sympathie und sympathetische Antipathie“ zum Ausdruck gebracht wurde, wird bei Heidegger zu einem lediglich negativen Gefühl. In diesem Sinne ist Heidegger pessimistischer als Kierkegaard. Für Heidegger ist das freie Selbstverhältnis nicht anziehend, sondern nur abschreckt. In einem anderen Sinne ist er aber optimistischer, denn für Kierkegaard gibt es für den Geistlosen die kärgste Hoffnung auf Erlösung. Die Unterscheidung von Furcht und Angst besteht schließlich darin, dass die Furcht eine „an die ‚Welt‘ verfallene, uneigentliche und ihr selbst als solche verborgene Angst“²⁵⁶ ist. Die Angst soll nicht nur die Furcht als ihren uneigentlichen Modus ermöglichen, sondern die Furchtsamtkeit als die Disponiertheit zur Furcht überhaupt, denn das Dasein ist nur deswegen furchtsam, weil es sich unheimlich fühlt.²⁵⁷
SuZ, 189. SuZ, 188. SuZ, 189. Zur Frage nach dem Verhältnis der Angst zur Furchtsamkeit beziehe ich mich auf eine Anmerkung von Jan Slaby, wobei ich seinen Vorschlag zurückweisen möchte, dass die Furchtsamkeit mit der Angst gleichzusetzen sei. Das Problem bei einer Gleichsetzung liegt nämlich darin, dass die Angst ebenfalls disponiert ist und wenn sie dann aufkommt, erscheint sie eher als Angst, aber
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In der Angst wird das eigentliche In-der-Welt-Sein, das dem Menschen unheimlich ist, in seiner Unheimlichkeit erschlossen. Dieser Zustand wird als das ontologisch ursprünglichere Phänomen in Bezug auf das des Verfallenseins angesehen, das erst durch eine ontologische Bewegtheit von dem Ursprünglichen weg zustande kommt. So zeigt sich die Angst in der Analyse Heideggers gerade als die „Voraussetzung der Erbsünde und als das, was die Erbsünde retrograd in Richtung auf ihren Ursprung erklärt“²⁵⁸, falls wir die „Erbsünde“ durch das „Verfallen“ ersetzen. Inwiefern diese Angst, die bei Heidegger ihre süße Anziehungskraft verloren hat, immer noch zur Autonomie und zum selbstbestimmenden Sich-zu-sich-selbst-Verhalten motivieren kann, bleibt hier jedoch unklar. Heideggers Angst vereinzelt, indem sie alles Weltliche suspendiert und das Dasein im ausschließlichen Selbstverhältnis belässt. Kierkegaards Angst bereitet die selbstbestimmende Entscheidung psychologisch vor, indem sie alle Triebfedern einander entgegenarbeiten lässt und die Bestimmungskräfte kompensiert, sodass der qualitative Sprung nur aus Spontaneität der Freiheit geschieht. Wenn wir das mögliche Ganzsein des Daseins als das Sein zum Tode in den Blick nehmen, können wir den Unterschied beider Philosophen in Bezug auf den Begriff der Angst letztlich in der jeweiligen anthropologischen Grundlegung verorten: Die in der Angst erschlossene Möglichkeitsbedingung ist bei Kierkegaard die Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit durch den Geist des Menschen, deren Struktur die stetige Verfehlung im Selbstverhältnis ermöglicht. Was aber Heidegger zufolge in der Angst erschlossen werden soll, ist dagegen nur die eine Seite der Synthese, nämlich die Endlichkeit des Menschen.²⁵⁹ Aus diesem Vergleich ergibt sich bei Kierkegaard – ungeachtet aller Bezüge zum Christentum und zum Glauben – ein weitaus hoffnungsvolleres Bild der menschlichen Existenz als bei Heidegger.
nicht als Furcht. Angst ist zwar die Möglichkeitsbedingung der Furcht, kann aber nicht als bloße Möglichkeit (= Bereitschaft, Disposition) verstanden werden. Der Unterschied zwischen beiden Stimmungen muss stets festgehalten werden (vgl. Slaby, „Emotionaler Weltbezug“, S. 98, Anm.). SKS 4, 351 / BA[R], 46 (Paragraphentitel). Diese These kann sehr wohl in einem weiteren Vergleich des Zeitverständnisses beider Philosophen entfaltet werden, was aber nicht in der Ambition der vorliegenden Abhandlung liegt. Mehr dazu vgl. Gerhard Thonhauser, Ein rätselhaftes Zeichen. Zum Verhältnis von Martin Heidegger und Søren Kierkegaard, Berlin und Boston: Walter de Gruyter, 2016.
4 Schluss Dass Kierkegaard gegen Hegel protestierte und zum Existenzialismus aufruft, gilt allgemein als der erste Eindruck, den die Lektüre Kierkegaards hervorruft. Gegen diese Gegebenheit erhebt Ricœur jedoch Einspruch, „um eine neue Lektüre anzudeuten“ und „dem Werk Kierkegaards eine neue Zukunft zu eröffnen“.¹ Es gehört nicht zum Anliegen der vorliegenden Schrift, dem Umfang der Problematik des Philosophierens nach Kierkegaard, wie sie Ricœur in Abgrenzung einer vorurteilenden Interpretation Kierkegaards als Gegner Hegels und Vater des Existenzialismus aufgeworfen hat, völlig gerecht zu werden. Ich hoffe aber, in einer philosophiegeschichtlichen Darstellung der Genese der Angstproblematik die Bezugspunkte zum Deutschen Idealismus zumindest peripher angesprochen zu haben. Für eine Philosophie der Gefühle, die die Angst als ihr Kardinalbeispiel ständig thematisiert hat, muss Kierkegaards Angstabhandlung als der faktische Ansatzpunkt angesehen werden, von der ausgehend diese Emotion systematisch ins Blickfeld einer philosophischen Betrachtung gekommen ist. Die philosophiegeschichtliche Laufbahn dieses Gefühls fängt mit Aristoteles’ Rhetorik an, wird durch theologische Überlegungen über Theodizée und Hamartiologie zum Bestandteil einer Metaphysik der Freiheit, wird in der anthropologischen Grundlegung Kierkegaards zur Zwischenbestimmung der existenzdialektischen Selbstwerdung des Menschen, und erlebt bei Heidegger eine Rückkehr zu Aristoteles‘ rhetorischer Fragestellung als dem Zugang zu einer phänomenologischen Beschreibung, indem er die Angst von der theologischen Fragestellung befreit und die anthropologische Grundlegung in eine fundamentalontologische verwandelt und durch eine neu interpretierte Unterscheidung zwischen Angst und Furcht das existenzielle Angstgefühl als eigenes Thema in der Philosophie der Gefühle aufwertet. Zweifelsohne ist die Angstthematik nach dieser gesamten Laufbahn ein selbständiges Thema der philosophischen Forschung geworden, deren Reichweite kaum überschaubar ist. Vom Standpunkt einer philosophischen Anthropologie ist die Forschung von Otto Friedrich Bollnow, die die Fundamentalontologie Heideggers fortsetzt, besonders beachtenswert. Das Wesen der Stimmungen
Paul Ricœur, „Philosophieren nach Kierkegaard“, in Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 579 – 596. https://doi.org/10.1515/9783110546941-005
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4 Schluss
aus dem Jahre 1956² wird als die bisher einzige umfangreiche existenzielle Stimmungslehre unter den ansonsten überwiegend wissenschaftlich orientierten Forschungen zum menschlichen Gefühlsleben angesehen. In dieser Schrift wird der Unterschied der Stimmung zur Emotion explizit gemacht und der Gegenstandsbezug des Ersteren als zufällig und ungebunden festgestellt.³ Im Anschluss daran bestreitet er die heideggersche Hervorhebung der Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen und möchte die Gleichrangigkeit aller Grundstimmungen – gedrückter sowie gehobener – an der Erschlossenheit des Daseins rehabilitieren.⁴ Der Abstand gegenüber dem existenzphilosophischen Verständnis der Angst, den Bollnow durch seine anthropologische Bemühungen gewonnen hat, hat die Relevanz der Angstthematik als ein philosophisches Problem nicht beeinträchtigt, sondern gerade gestärkt, indem er die Rede über die Angst aus der am Anfang besprochenen Verlegenheit, ein existenzphilosophischer Jargon zu sein, rettet und als ein Phänomen des menschlichen Gefühlslebens aus einer wissenschaftlichen Sicht heraus beobachtet. Das Phänomen einer von der tierischen Furcht abgegrenzten Angst gewann seine feste Position in der interdisziplinären Forschung über die menschlichen Gefühle. Entsprechend sehen wir in der neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz dieses Phänomen als ein leibliches Befinden mit der etymologisch relevanten Kategorie der „Enge“ untersucht und die kierkegaardsche Bestimmung der Zweideutigkeit der Angst als einen „gehinderten Weg!“ beschrieben.⁵ Auch sehen wir, dass die phänomenologische Betrachtung dieses Phänomens in der aktuellsten Publikation von Bernhard Waldenfels in ihrer sozialen Dimension beziehungsweise in Hinsicht auf eine Erfahrung des Andersseins erweitert wird.⁶ Einen Erweiterungsversuch dieser Thematik sieht man auch schon in dem im Jahre 2011 erschienenen Sammelband Moral und Angst, in dem die Angstthematik im Kontext der Moralpsychologie und der Ökonomie betrachtet wird, was in der globalisierten Welt besonders sinnvoll ist.⁷
Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, hg. von Ursula Boelhauve, Gudrun KühneBertram, Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi, 3. Aufl., Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2009. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 25 – 28. Zu den Argumenten gegen diese Hervorhebung vgl. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 55 – 59. Hermann Schmitz, Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, hg. von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch, Paderborn: Junfermann-Verlag 1989, S. 135– 152; vgl. dazu auch Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 64– 69. Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2015, S. 110 – 154. Philipp Aerni und Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Moral und Angst, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011.
4 Schluss
197
Eine anthropologisch anvisierte Angstthematik, die von Kierkegaard inauguriert wurde, wird immer wieder erneut ihr Wort finden: nicht nur im privaten Bereich eines selbstbestimmenden Selbstverhältnisses, sondern auch in der Öffentlichkeit, in der Weltpolitik und im sozialen Leben jedes Einzelnen.
Siglenverzeichnis 1 Kierkegaard
BA[R] EO2 KT[R] PB SLW AUN1 AUN2 SKS
Der Begriff Angst Entweder/Oder, 2. Teil Die Krankheit zum Tode Philosophische Brocken Stadien auf des Lebens Weg Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 1. Band Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 2. Band Søren Kierkegaards Skrifter
2 Andere Autoren Aristoteles Rhet. Rhetorik Heidegger SZ Sein und Zeit WdG Vom Wesen des Grundes Kant Anthr. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Schelling SW Sämmtliche Werke WmF Über das Wesen der menschlichen Freiheit
3 Hilfsmittel
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie https://doi.org/10.1515/9783110546941-006
Literaturverzeichnis 1 Quellen 1.1 Kierkegaard Zitiert wird, nach Siglen, im laufenden Text zunächst die jeweilige Band- und Seitenzahl (z. B. SKS 4, 112) der dänischen Ausgabe: Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 1 – 28, Kommentarbände K1-K28, hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Jette Knudsen u. a. Johnny Kondrup, Alastair McKinnon und Finn Hauberg Mortensen, Kopenhagen: Gads Forlag 1997 – 2013. Durch einen Schrägstrich angeschlossen folgen, wiederum nach Siglen (z. B. FZ, 113), die entsprechenden Belege der deutschen Ausgabe; die Siglen folgen mit Ausnahme von BA[R] (Der Begriff Angst, Übersetzung Hans Rochol) und KT[R] (Die Krankheit zum Tode, Übersetzung Liselotte Richter) der Abkürzungsliste für Kierkegaard-Belege in Kierkegaard Studies. Monograph Series. Zitiert wird nach folgenden Ausgaben:
Gesammelte Werke und Tagebücher [Neuauflage], hg., übers. und mit wissenschaftlichen Einführungen und Anmerkungen versehen von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, 38 Abtlg. in 32 Bdn., Simmerath 2003 – 2004. Der Begriff Angst, hg. und übers. von Hans Rochol, Hamburg 1984. Die Krankheit zum Tode, hg. und übers. von Liselotte Richter, 2. Aufl., Hamburg 1995.
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Index Angst 1 – 8, 10, 12 – 14, 16 f., 19 – 22, 26, 28, 33 f., 37, 39 – 46, 50, 52, 57, 68 f., 71, 73, 75, 77, 79 – 144, 148, 150 – 152, 155 f., 158 – 160, 162 f., 175 – 177, 182, 184, 187 f., 190 – 196 Anthropologie 1, 5 f., 9, 15, 19 f., 31, 40, 44, 46, 52, 54, 59, 143, 148, 150, 156, 184, 195 – anthropologisch 1 f., 5, 7, 15 – 17, 19, 27 – 29, 36 f., 39, 41, 46 f., 50, 53 – 55, 65, 86, 92, 95, 105, 110, 113, 120, 125 f., 132, 135, 139, 142 – 144, 148, 161 f., 175, 177, 189 f., 194 – 197 Approximation 26, 28, 62, 75, 87, 110, 112 Augenblick 21, 23, 25 f., 28 f., 31, 33 – 35, 38, 40 f., 45, 56, 62 – 65, 76, 81, 89, 98, 113 f., 116, 119, 125 – 128, 133, 144, 150 f., 159, 162, 164, 181, 184 Befindlichkeit 2, 7, 184 – 190 Begehren 134, 150 f., 156 Bewegung 8 – 10, 12, 21, 24, 27 f., 34 – 36, 46, 50, 54, 57, 60 – 64, 66, 68 – 70, 108 – 110, 112, 118, 181, 193 Bewusstsein 21, 25, 57 – 59, 70, 79 – 83, 91, 99, 104, 108, 111 f., 115 f., 118, 125, 139, 152, 172, 192 f. Christentum 15, 26, 33 f., 36, 102 f., 105, 111, 121, 126 f., 129, 131, 139, 194 – christlich 5, 8, 14, 16, 26, 31, 43 f., 52, 70, 103, 111 f., 122, 125, 129, 137 Daseinshermeneutik 7, 180, 185, 187, 189 Derivation 21, 31 f., 81, 87 – deriviert 21, 29, 32, 88 f., 105, 139 f., 146 Dialektik 5, 20, 40, 50 – 54, 56, 58, 63 f., 66, 79 dialektisch 4, 17, 30, 35 f., 42 f., 46, 52 – 55, 58, 60 f., 66, 75, 85, 88, 90, 108 – 110, 112, 115, 176
https://doi.org/10.1515/9783110546941-008
Disposition 13, 17, 30, 38 f., 82, 89, 95, 146, 194 – disponiert 11, 13, 83, 95, 193 Dogmatik 5, 9, 11 – 17, 69, 93 f., 111, 151 – dogmatisch 1, 9, 12, 15, 18, 46, 49, 73, 95, 112 dynamisch 16, 19, 40, 48, 53, 55, 70, 90, 136 Einzelne, der 5, 12 – 15, 21, 29 – 33, 35 f., 39, 44, 50, 53, 56, 63, 70, 89, 91, 96, 118, 126, 129, 131, 154 f., 165, 178 f., 197 Entängstigung 1, 6, 71, 110, 122, 127, 134 – 138 Entscheidung 9, 11 f., 14, 17, 28, 30 f., 38, 62 f., 65 f., 70 f., 75 f., 78, 81 f., 91, 97, 110, 126, 128 f., 131, 138, 151 f., 156 f., 159, 161 f., 173, 183, 186, 194 Erbsünde 1, 5, 8 f., 11 f., 14 – 17, 21, 29, 32, 37, 39 f., 50, 54, 69 f., 75, 86 – 89, 92 f., 95, 106, 129, 149, 151, 158, 182, 194 Erlösung 6, 12, 31, 33 f., 74, 111, 115 f., 118, 120 – 122, 125, 134, 138 – 141, 158, 193 Ernst 4, 11, 119, 121, 137, 140 f., 158 Erotische, das 96, 99 – 102, 104 f. Essenz 14, 31 f., 35, 37, 178 Ethik 11 – 13, 48, 51, 53 – 57, 59, 61, 65 f., 69, 78, 108, 128, 148 f., 152, 161, 186 – Ethik, die zweite 11 – 13, 48, 51, 53 – 57, 59, 61, 65 f., 69, 78, 108, 128, 148 f., 152, 161, 186 Ewigkeit, 16, 24, 161 f. – Ewige, das 23 – 26, 28, 41, 45, 47, 61, 125, 175 Existenz 1, 4, 8 – 10, 12, 25, 27, 29, 31, 33, 35 f., 44, 52 – 55, 58 – 60, 63 – 65, 67 f., 70, 75, 84, 110 – 112, 117, 119 – 121, 132, 137, 139, 141, 148, 152 f., 158 – 160, 163, 165, 168 – 176, 178, 180 f., 187, 190, 194 Existenzauslegung 54 f., 68, 190 Existenzbewegung 6, 108 f., 118, 121, 127, 134 f., 138, 164, 179, 184, 193
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Index
Existenzdialektik 6 f., 51 – 55, 60 – 66, 68 – 70, 75 f., 90, 108 f., 161 f., 176, 186 f. – existenzdialektisch 46, 48, 51, 53 – 57, 59, 61 f., 65 f., 69, 71, 78, 88, 91, 108, 110, 161, 195 Existenzphilosophie 2, 4 f., 12, 35, 71, 96, 128, 148 Faktizität 6, 13, 33, 48, 181, 185 Freiheit 1 f., 8 – 10, 13 f., 16 – 18, 21, 23, 27 f., 32 – 34, 36 f., 39 – 41, 44, 47 f., 52, 60 f., 65, 69 – 71, 75 f., 78, 81 – 85, 87, 89 f., 96 – 98, 103 – 106, 108 – 112, 115 – 127, 129, 133 f., 136, 139, 143, 146, 148, 151 – 153, 155 f., 158 – 160, 162, 164 – 169, 171 – 174, 179 f., 184, 187, 192 – 195 Fundamentalontologie 144, 160, 176, 184, 195 Furcht 1 – 5, 7, 64 f., 83 f., 136, 187 – 191, 193 – 196 Gattung 14, 29 – 32, 39 f., 60 f., 92, 95, 98, 103, 148, 150, 152 Gefühl 1 – 5, 17, 56 f., 71, 83, 86, 90, 100, 113, 150, 163, 187, 189 f., 193, 195 f. Gegenwart 28, 41, 61, 109, 114 f., 117 Geist 2, 5, 13, 16, 19 – 23, 25, 31 f., 34, 40 – 48, 51, 54 f., 58, 64, 66, 78 – 80, 82 f., 85 f., 89 f., 96 – 105, 109, 120, 123 – 128, 130, 132, 135, 137, 139, 141, 154 f., 159, 161, 163, 175, 179, 182, 187, 190, 193 f. – Geist, der träumende 2, 5, 13, 16, 19 – 23, 25, 31 f., 34, 40 – 48, 51, 54 f., 58, 64, 66, 78 – 80, 82 f., 85 f., 89 f., 96 – 105, 109, 120, 123 – 128, 130, 132, 135, 137, 139, 141, 154 f., 159, 161, 163, 175, 179, 182, 187, 190, 193 f. Geistlose, der 125, 140, 179 – geistlos 34, 51, 123 – 125, 138, 140, 179, 182, 193 Genie 131 – 134, 141 Glaube 5, 9, 14, 34, 37 f., 50, 110 – 112, 120 f., 127, 129, 133 – 138, 141 f., 148, 150, 161, 163 f., 175, 194 Glaubenswahrheit 59, 120
Gott
12, 32, 37, 49 f., 59, 62, 64 f., 69 f., 78, 95, 104, 121, 148, 153 – 155, 157, 159, 161, 164 – 171, 174, 176 Grund 1, 7, 29, 43 f., 50, 52, 54, 63, 66, 68 f., 89, 94, 102, 108, 112, 133, 145 f., 153 – 157, 160, 164 – 176, 178, 186 – 188 Hamartiologie 5, 17 – 19, 21, 39 f., 143, 145, 147, 153, 161 f., 175, 195 Hang zum Bösen 17, 89, 143, 145 – 147, 149, 151, 155 f., 161, 163 Heidentum 33 f., 67, 88, 101, 103, 123 f., 126 – 130, 133, 141 historisch 1, 5 f., 16, 25, 27 – 29, 31, 33 – 37, 43, 45, 58, 61, 63, 80, 96, 98, 103, 105, 111 f., 121, 126, 132, 139, 141 – 143 Idealität 11 f., 34, 55 – 58, 64, 69 f., 123, 148 Identität 48 f., 60, 63, 108, 114, 116, 118, 164 – 168, 170 f., 173 – 175 Immanenz 10, 167 – immanent 9, 11, 19, 27, 46, 62 individuell 11, 14, 17, 28, 30, 32 – 34, 39, 65, 94 f., 97, 103, 109, 111, 127, 139, 155, 171, 184 Individuum 16, 18 f., 22, 27 – 40, 45, 50, 54, 60, 67 – 70, 75 f., 87 – 92, 94 – 98, 100, 102 – 107, 110 – 112, 114, 116 – 119, 121 f., 126 – 131, 135 – 139, 149, 151 – 153, 164, 173, 193 konkret 6, 39, 51, 55, 80, 90, 97, 100, 105, 121, 163, 190 Kontingenz 30, 33 f., 36 – kontingent 33 Krankheit zum Tode 1, 12, 15, 39, 44 – 46, 48, 50, 64 f. Leib
5, 16, 19 f., 22 f., 25, 31, 33, 40 – 45, 47 f., 66, 79, 82 f., 91, 93, 97, 99 f., 102, 104, 120, 132, 139, 175, 196 Logik 9 f., 27, 40, 53, 62 f., 106, 166 f., 173 – logisch 9 – 11, 35, 146, 165 – 167, 170, 174 f. Metaphysik 1, 10, 20, 52, 93, 172 f., 195 – metaphysisch 2, 9, 15, 46, 84, 97
Index
Möglichkeit 2 f., 11, 13, 22 f., 27, 30, 33 – 36, 38, 40, 44, 46, 48 – 52, 55 – 58, 60 – 63, 66, 69 f., 73, 75 f., 79 – 85, 87 – 90, 92 f., 96 – 98, 100, 103, 105 – 115, 121 – 123, 125 – 131, 133 – 137, 139 – 141, 145 f., 148, 150, 153 f., 163, 169 – 171, 173, 176 – 178, 180 – 183, 187 – 189, 191 – 194 – ideelle Möglichkeit 14, 58 – reale Möglichkeit 13, 27, 76 Negativ, das 9, 47 f., 57, 79 f., 84, 86, 193 Normalität 11, 120 Notwendige, das 9, 36, 41, 54, 61, 69, 89, 127 phänomenale Gehalt, der 5 f., 85, 115, 139 Prädisposition 145 f., 150 f., 156, 162 – prädisponiert 17, 21, 28, 149 Psychologie 1 f., 4, 9 f., 13 f., 20, 27, 38 f., 69, 75 – 77, 82 f., 93, 110 – 112, 134 f., 185 – 187 psychologisch 1 f., 5 f., 8 f., 12 f., 18, 20, 27 f., 35, 37, 46, 49, 73 – 77, 80 – 83, 85 – 87, 90, 92 – 95, 105 – 107, 110 – 113, 120 f., 127, 151 f., 155, 162 f., 182 f., 185 – 187, 194 Reue
11, 38, 113 – 115, 130, 139
Schuld 17 f., 27 f., 32, 39, 42, 77, 86, 88 f., 100, 126 – 131, 133 f., 141, 153, 155 f., 159, 179 – schuldig 17 f., 21, 23, 32, 38 f., 75, 78, 85 f., 88 – 90, 104, 111, 128 – 131, 139, 151 f. Schwindel 7, 44, 89, 97, 103 f., 110, 118, 139, 155, 158, 160, 163 Seele 16, 19 f., 22 – 25, 31, 37, 40 – 43, 45, 47 f., 66, 79, 82 f., 91, 93, 97, 102, 104, 120, 132, 137, 175 Selbst 2, 4 f., 10, 17, 20 – 23, 28 – 30, 32, 34 – 36, 40 – 42, 44 – 59, 61, 63 – 66, 68, 70 f., 75, 77, 79 – 83, 85, 87, 89 – 95, 97 f., 100 f., 103 f., 108, 110 f., 113 – 138, 140 f., 145 – 147, 149 f., 153 – 156, 161 f., 164 – 169, 171 – 174, 177 – 185, 187, 189, 191 – 194
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Selbstbestimmung 48, 68, 105, 109, 114, 120 f., 128 f., 157, 164, 171, 173, 177 – selbstbestimmend 34, 63, 68, 115, 121, 124, 128, 152, 163 f., 194, 197 Selbstsein 6, 16, 22, 46 f., 49 – 51, 54 – 57, 59, 61, 64 – 66, 68 – 70, 91, 101 f., 105 f., 112 – 116, 120 – 122, 124, 132, 136, 140, 149, 153, 161 f., 172 f., 178 f., 183 – 185, 191 f. Selbstverhältnis 47 – 49, 51, 55 – 58, 66, 68 – 70, 79, 82, 85, 90, 104, 116, 126, 129, 132, 134 f., 141, 161 f., 164, 177, 179, 181, 183, 185, 193 f. Selbstwerdung 45, 48, 50 f., 55, 59 f., 62 – 66, 68 – 71, 75, 85, 91, 96 f., 101 f., 106, 109, 111, 122, 124 f., 138 f., 144, 152, 160 – 162, 164, 174, 177, 179, 187, 195 Sexuelle, das 21 – 23, 31, 43, 96, 98 – 102, 104, 139 Sinnlichkeit 21 f., 33, 40, 43, 63, 94 – 98, 100, 103 – 105, 127 Soteriologie 145 Sprung 12, 14, 23, 27, 34, 39, 50, 62 – 64, 70 f., 75 f., 87, 89, 92, 106 f., 109 f., 113 – 115, 117, 120, 123, 129, 131 f., 134, 138, 151, 159, 161 – 164, 176, 194 Stimmung 3, 7, 10, 14, 20, 70, 73, 79 – 81, 86 f., 91, 144, 161, 176, 185 – 187, 189 – 192, 194 – 196 Subjekt 2, 19, 26, 106, 146, 150, 163, 166, 172, 178 Sünde 6, 8 – 15, 17 – 19, 21 f., 27, 29, 31 – 34, 37 – 41, 43, 50, 62 f., 65, 69 f., 74 – 76, 78, 81, 86 – 95, 103 – 106, 108 – 117, 123, 125 f., 129, 131, 134, 138 – 140, 146, 148 – 152, 154 – 157, 162 f., 180, 184 – Sünde de actu 14, 17, 39, 77, 86 f., 89, 91, 112, 120, 139 – Sünde de potentia 14, 17, 28, 30, 32, 37, 39, 69, 87 – 89, 91, 93, 95, 112, 139, 150, 162 – Sündenfall 11 – 14, 17 – 19, 21 f., 26 – 29, 31 f., 34, 36, 38 – 41, 43 f., 48, 50, 62 f., 69, 74 – 81, 85, 87 – 91, 93, 95, 99 f., 103, 105 – 112, 115, 127, 139, 143, 151, 154 f., 158 f., 163 f., 176, 180, 193 – sündhaft 8, 13, 95, 103, 109, 120, 162
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Index
Suspension 50, 65, 68 Synthese 16, 19 – 26, 28 f., 31, 33, 40 – 45, 47 – 49, 55, 70, 88 – 90, 96 – 99, 101, 104 f., 114, 125, 132, 136, 139 f., 151, 161 f., 177, 188, 194 System 27, 33, 44, 52, 54, 143, 158, 160 – 162, 168 Tathandlung 12, 59, 62 Teleologie 67 – teleologisch 29, 34 – 36, 51, 55, 60, 91 Transzendenz 9 f. – transzendent 9, 11 f., 14, 27, 89 Trotz 23, 32, 46, 50, 52 f., 63, 73, 80, 82, 88 f., 96, 102, 105, 116 f., 119, 126, 128, 151, 157, 159, 162, 168, 184 Übergang 10, 25 – 28, 60, 62, 78, 88 f., 110, 147 f., 163 Überwindung der Sünde 12, 14 Unendlichkeit 6, 24, 44, 47, 49, 51, 55 f., 90, 136 f., 142, 182, 194 Unmittelbare, das 9, 20 – 23, 25, 42, 48, 56 f., 65 f., 78, 82, 90, 105, 109, 113, 126, 130, 132 – 134, 141, 159, 166, 180, 185 Unschuld 19 – 23, 27 f., 31 f., 34, 39 f., 42, 45, 48, 66, 75, 77 – 86, 88 f., 92 f., 96 f., 99 f., 105 – 107, 115, 123 f., 129, 139, 152, 155, 158 f., 163 f., 175 f., 179 f. Versöhnung 9, 28, 131 Verzweiflung 12 – 14, 46 – 51, 56 f., 59, 70, 82, 91, 104, 110 – 113, 116 f., 126, 135, 138, 148, 153, 161, 181, 183 – verzweifelt 49, 51, 56, 113, 117, 181 Wahl 11, 64, 66, 73, 90, 156, 158, 193 Werden 2 – 4, 6 – 8, 10 f., 13 – 15, 17 – 20, 22, 27 f., 34, 37 f., 40 – 42, 44, 47 – 49,
52 – 57, 59 – 66, 68 – 71, 75 f., 78, 80 – 84, 86, 88, 91 f., 95, 97 f., 100, 102 – 106, 109 – 116, 122 f., 125 – 132, 134, 136, 139, 142, 145 – 149, 151 – 153, 155 – 157, 159, 162 f., 165 – 175, 178, 180, 182 – 188, 190 f., 194 f. Wesen 1, 17, 25, 29, 35, 41, 43 f., 47, 54, 60 f., 63, 70 f., 83, 124, 126, 145 f., 153, 156 f., 161 f., 164 – 173, 175, 178, 195 f. Wesensbestimmung 16, 19 f., 22, 24 f., 28 f., 34, 37, 39, 43, 60, 65, 82 f., 86, 92, 96, 100, 102, 105, 126, 135 f., 145, 158 f., 161 – 163, 188, 190 – 192 Wille Wirklichkeit 2, 9 – 11, 13, 22 f., 27, 35 f., 40, 44, 52, 55, 58, 60 – 62, 64, 69 f., 74, 80, 82 – 84, 97, 106, 108 – 110, 113 – 115, 128 f., 134, 138, 140, 143, 154, 159, 163, 171, 181, 187 Zeit
1 f., 7, 9 f., 15, 21, 23 – 26, 28 – 31, 34, 40 f., 45, 48, 56, 60 f., 76, 82 f., 114, 126, 138, 144 – 147, 150 – 152, 154 – 158, 161 f., 165, 169, 172, 178 – Zeitlich, das 23 – 26, 28 f., 41, 45, 47, 61, 77, 97, 117, 125, 149, 156, 158 f., 163 Zufälligkeit 9, 127 Zustand 10 f., 14, 18 – 23, 27 f., 31 f., 34 f., 37, 40 – 42, 45, 48, 50 f., 58, 60, 65 f., 69 f., 75 – 83, 85, 87 – 89, 92 f., 105 f., 109 f., 112 f., 116 f., 121, 123 – 125, 135, 138, 140, 150 – 152, 154, 156 – 159, 162 f., 174 – 177, 179 f., 183 – 186, 192, 194 Zwischenbestimmung 7, 28, 37, 52, 57, 71, 73, 75, 82, 85, 115, 120, 127, 144, 151 f., 158, 162 f., 182, 184 – 187, 195