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German Pages 232 Year 2015
Gabriele Fischer Anerkennung – Macht – Hierarchie
Gesellschaft der Unterschiede | Band 25
Gabriele Fischer (Dr. phil.) ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Esslingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeit, Gender Studies, Anerkennung und soziale Ungleichheit.
Gabriele Fischer
Anerkennung – Macht – Hierarchie Praktiken der Anerkennung und Geschlechterdifferenzierung in der Chirurgie und im Friseurhandwerk
Dieses Publikation wurde gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung.
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Inhalt
1 C ut –
and go
2 V om B ader
zum
9
B arbier
zum
C hirurg
zur
F riseurin
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2.1 Chirurgie | 19 2.2 Friseurhandwerk | 23
3 A nerkennung – A rbeit – G eschlecht
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3.1 Anerkennung und soziale Wertschätzung | 29 3.2 Anerkannte Unterscheidungen – Doing gender while doing work | 36 3.3 Anerkennungspraktiken – Doing gendered recognition | 40
4 A nerkennung – S elbstbezüge – S ubjektivierung
45
4.1 Was wird anerkannt? – Anerkennung und Pluralisierung | 47 4.2 Wer erkennt an? – Anerkennung, das Selbst und die Anderen | 54 4.3 Wer wird anerkannt? – Anerkennung und Subjektivierung | 60 4.4 Fazit: Anerkennung als Adressierung | 68
5 A nerkennung – E rzählung – R ekonstruktion
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5.1 Anerkennungspraktiken erkennen – eine Frage der Deutung | 74 5.2 Anerkennungspraktiken erzählen – Erfahrungen in Lebensgeschichten | 76 5.3 Anerkennungspraktiken rekonstruieren – erzählte Positionierungen | 82 5.4 Sampling und Fallauswahl | 87
6 E rzählte A nerkennungspraktiken
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6.1 Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer | 89 6.1.1 Lebensgeschichte | 89 6.1.2 „Du glaubst ja, dass du was Besseres bist“ – Anerkennung durch die Eltern | 91 6.1.3 „Ich behandle die ganz normalen Leute von der Straße“ – Anerkennung im Klinikalltag | 97 6.1.4 „Wo ich einfach merke, dass viele Patienten einfach, ja, einen Mann als Chirurgen brauchen“ – Anerkennung als Chirurgin | 102 6.1.5 „Insgesamt finde ich es sehr angenehm, in der Chirurgie zu arbeiten, gerade weil da auch so viele Männer sind“ – Anerkennung als Kollegin | 105 6.1.6 „Weil ich mich nicht als Rabenmutter fühle“ – Anerkennung als ‚gute Mutter‘ | 109 6.1.7 Anerkennungspraktiken | 115 6.2 Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch | 117 6.2.1 Lebensgeschichte | 117 6.2.2 „Ich war ja völlig der Exot, ein Kind hatte ich schon, ein Abitur hatte ich“ – Zurückweisen der Anerkennung als ‚typische‘ Friseurin | 118 6.2.3 „Ich kannte da niemanden, der als Frau gut war“ – Anerkennung und Geschlechterbeziehungen | 124 6.2.4 „Wie wichtig es ist, dass der Laden absolut zu einem passen muss“ – Anerkennung als frisierende Künstlerin | 127 6.2.5 „Weil die Leute einfach auch was zu erzählen haben, gerade wenn man nicht so der günstige Friseur ist“ – Anerkennung durch Kund_innen | 131 6.2.6 „Dann wohnte ich mit Laura in einer Frauen-WG, also fünf Frauen, Laura, Hund und Katze“ – Anerkennung als ‚gute Mutter‘ | 134 6.2.7 Anerkennungspraktiken | 139
6.3 Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement | 142 6.3.1 Lebensgeschichte | 142 6.3.2 „Wenn man sich mit dem Chef gut versteht, dann bleibt man da auch gleich viel lieber“ – Anerkennung durch Vorgesetzte | 143 6.3.3 „Hierarchiegläubigkeit, die haben wir mitgenommen“ – Anerkennung in neuem kulturellen Rahmen | 147 6.3.4 „Dass ich nach dem Jahr gesagt habe, sowas mache ich nie wieder“ – Anerkennung als Vater in Elternzeit | 151 6.3.5 „Als Mann, als Arzt, als Kollege“ – Anerkennung und Männlichkeiten | 156 6.3.6 Anerkennungspraktiken | 158
6.4 Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo | 161 6.4.1 Lebensgeschichte | 161 6.4.2 „Ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten damit, aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kommen“ – Anerkennung und Krisenerfahrung | 162 6.4.3 „Das hat mich schon am meisten begeistert tatsächlich, die Veränderung“– Anerkennung als Friseur | 166 6.4.4 „Ich bin nicht nur Friseur, sondern auch der Kapitän auf einem Schiffchen“ – Anerkennung als Salonbesitzer | 172
6.4.5 „Weil man mit 15 in eine komplett hocherotische Welt hineingeschmissen wird“ – Anerkennung und stereotype ‚schwule‘ Männlichkeit | 176 6.4.6 Anerkennungspraktiken | 180
7 A nerkennungspraktiken
und P ositionierungen 7.1 Selbstverständlichkeit anerkannter Positionen | 184
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7.2 Anerkennung in Hierarchien | 184 7.2.1 Als Friseur_innen ‚anders‘ – Aufwertende Selbstadressierungen | 185 7.2.2 Weiblichkeiten gegen Weiblichkeiten – Aufwertende Umdeutungen | 187 7.2.3 Selbstaufwertung und Ausblenden hierarchischer Strukturen | 188 7.3 Anerkennungsbeziehungen – sozial verortete Anerkennende | 189 7.3.1 Vorgesetzte oder Patient_innen – Kompensation von Anerkennenden | 190 7.3.2 Patient_innen und Patient_innen – dieselben Anderen, andere Anerkennung | 192 7.3.3 Suche nach Anerkennung als Friseur_in – Konstruktion von Anerkennenden | 193 7.3.4 Suche nach Anerkennung von Männlichkeiten – der vergeschlechtlichte Andere | 195
7.4 Produktion und Reproduktion – Konkurrenz der (Be-) Deutung | 197 7.4.1 Aneignungen der ‚guten Mutter‘ – Umdeutungen der Norm | 197 7.4.2 Vatersein und Muttersein – die Macht vergeschlechtlichter Arbeitszeit | 199 7.5 Anerkennung und Zeitlichkeit – Nachträgliche Aneignungen | 201 7.6 Anerkennung in Arbeit | 203
8 Z um S chluss : A nerkennung – S ubjektivierung – H ierarchien
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L iteraturverzeichnis
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D ank !
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Cut – and go Louis hat eine Krise. Er ist 14 Jahre alt, Sohn eines angesehenen Chirurgen in Paris und müsste sich eigentlich um einen Praktikumsplatz kümmern. Eine Woche lang sollen die Schüler_innen1 seines Gymnasiums eine Tätigkeit ausprobieren, die ihnen vielleicht Spaß machen könnte. Louis absolviert das Praktikum in einem Friseursalon und stößt damit vor allem seinen Vater, aber auch seinen Mitschüler Ludovic vor den Kopf. Dies ist der Beginn des Jugendbuchs „Über kurz oder lang“ der französischen Autorin Marie-Aude Murail (2010), auf das ich zufällig gestoßen bin, als ich schon einige Zeit an meiner Dissertation gearbeitet und bereits erste Interviews in meinem empirischen Feld – Friseurhandwerk und Chirurgie – geführt hatte. Die Geschichte dieses Jugendbuchs, die Konstruktion des Plots und der Ausgang eignen sich dazu, das Themenfeld meiner Arbeit aufzuspannen. Das Buch beginnt mit einem Gespräch während des Abendessens der Familie, bei dem das anstehende Praktikum Thema wird. Louis‘ Vater, Monsieur Feyrières, findet allein die Vorstellung, dass sein Sohn ein Berufspraktikum machen soll, merkwürdig und sieht deswegen keine Notwendigkeit, ihm bei der Suche nach einem geeigneten Platz behilflich zu sein. Louis‘ Großmutter bietet ihm an, bei ihrer Friseurin nachzufragen. Diese Idee kommentiert Monsieur Feyrières mit aufgerissenen Augen und den Worten „Ein Friseurpraktikum? Für Louis?“ (Murail 2010: 9). Zunächst lässt Louis die Wahl seines Praktikumsplatzes über sich ergehen. Ihm ist es vor allem egal. Er willigt also ein. Am nächsten Tag trifft er seinen Mitschüler Ludovic in der Schulkantine. Dieser erzählt ihm stolz, dass er sein Praktikum bei einem angesagten Radiosender machen wird und bereits Stars getroffen hat, die dorthin zum Interview kamen. Wie erwartet, fragt er nach Louis‘ Plänen. Dieser zögert, ob er die Entscheidung, in einem Friseursalon 1 | Ich verwende in meiner Arbeit im Sinne der geschlechtergerechten Schreibweise das Gender Gap (Unterstrich). Dies symbolisiert, dass nicht alle Personen sich dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen oder als solche wahrgenommen werden wollen.
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zu arbeiten, wirklich offenbaren soll. Doch dann sagt er es – eher um zu provozieren: „‚Ich mach ein Praktikum in einem Friseursalon‘, erklärte Louis, um die Wirkung zu testen. ‚Willst Du mich verarschen?‘ Louis dachte ja und antwortete: ‚Nein.‘ ‚Hast du keine Angst? Friseure sind doch alle schubidubidu ...‘ Ludovic setzte ein feminines Gesicht auf und schlenkerte mit dem Handgelenk. ‚Täuschend echt‘, gratulierte Louis. ‚Aber im Salon Marielou gibt’s nur Friseurinnen.‘ (Murail 2010: 14; Hervorhebung im Original)
Sowohl für Louis‘ Vater als auch für seinen Freund scheint es unvorstellbar zu sein, dass ein Junge mit angesehenen, gebildeten Eltern, dem im Prinzip alle Wege offenstehen, ausgerechnet ein Praktikum in einem Friseursalon absolvieren möchte. Der Vater erwartet von seinem Sohn etwas anderes. Der Mitschüler sieht mit Louis‘ Entscheidung Coolness, Ansehen und jugendliche, heterosexuelle Männlichkeit in Frage gestellt, eventuell sogar bedroht. Aus unterschiedlichen Beweggründen hätten sich beide etwas anderes für Louis vorgestellt. Louis lässt sich nicht beirren und beginnt – auch aus Trotz – das Praktikum. Seine Kolleg_innen – in der Tat nur Frauen und ein schwuler Mann – trauen ihm als Gymnasiasten zunächst nicht viel zu. Relativ schnell erweist er sich jedoch als talentiert und geschäftstüchtig. Er entdeckt die Liebe zum Haareschneiden und will die Schule verlassen, um eine Ausbildung als Friseur zu beginnen. Gegen den Widerstand vor allem seines Vaters, aber mit der Unterstützung der Mutter, des schwulen Kollegen und des Schuldirektors wird ein Weg gefunden, der es Louis ermöglicht, die Schule abzuschließen und parallel dazu mit der Berufsausbildung als Friseur zu beginnen. Nach einer harten Auseinandersetzung sieht auch der Vater ein, dass er Louis nicht dazu zwingen kann, einen Beruf zu ergreifen, der zwar den Vorstellungen des Vaters entspricht, den Louis aber nicht ausüben will. Louis wird ein sehr erfolgreicher Friseur, macht sich einen Namen, eröffnet 450 Salons in Frankreich und heiratet eine junge Frau, die als Dozentin an der Universität arbeitet. Am Ende der Geschichte ist auch sein Vater stolz auf ihn und sagt, er habe immer an den Jungen geglaubt, denn: „Er war schon mit vierzehn eine beeindruckende Persönlichkeit.“ (Murail 2010: 224) Für die Konstruktion dieser fast märchenhaften Geschichte eines Jugendlichen, der bei der Berufswahl von den Erwartungen seiner Eltern abweicht und seinen eigenen Weg durchkämpft, erscheint das Gegensatzpaar Friseurhandwerk und Chirurgie von der Autorin idealtypisch gewählt. Im gesellschaftlichen Ansehen liegen die beiden Berufe weit auseinander. Zudem sind sie geschlechtlich codiert, so dass Louis mit seiner Entscheidung nicht nur hinsichtlich seiner sozialen Herkunft, sondern auch bezüglich seiner geschlechtlichen Zuordnungen vom erwarteten Weg abweicht. Der Dialog zwi-
Cut – and go
schen Ludovic und Louis vermittelt die stereotype Geschlechtercodierung des Friseurberufs knapp und eindeutig: Es arbeiten vor allem Frauen in diesem Berufsfeld. Wenn Männer dort arbeiten, werden sie als homosexuell stereotypisiert und damit von den Jugendlichen als bedrohlich wahrgenommen. Der Weg, den Louis eingeschlagen hat, wirkt zunächst wie ein abweichender Weg, letztendlich führt er jedoch zu genau dem, was gesellschaftlichen Normen entspricht: Louis wird ein erfolgreicher Unternehmer, auch wenn er den Beruf des Friseurs ergriffen hat. Er führt eine heterosexuelle Beziehung. Mit der Entscheidung für diesen weiblich codierten Beruf ist letztendlich nicht keine Infragestellung von Männlichkeit verbunden. Cut. Wie würde sich die Geschichte lesen, wenn der Protagonist seinem Interesse folgt und Friseur wird, im weiteren Verlauf aber in einem kleinen Salon bleibt und dort jeden Tag den Menschen aus dem Viertel die Haare schneidet? Nur Spitzen schneiden oder ältere Frauen frisieren, ab und an einen modischen Schnitt? Wie würde sein Vater reagieren? Würde er auch in diesem Fall im Nachhinein sehen, dass sein Sohn in seinem Wunschberuf tätig ist und davon gerne seinen Freund_innen und Kolleg_innen erzählen? Die Moral der Geschichte wäre nicht mehr so überzeugend. Der Junge hätte mit dem, was er gegen Widerstand durchgesetzt hat, keinen gesellschaftlich wertgeschätzten Erfolg erzielt. Die Geschichte könnte den Eindruck hinterlassen, die Auseinandersetzung hätte sich nicht wirklich gelohnt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wo, wie und von wem Louis sich Bestätigung für diesen Lebensentwurf suchen und was diese Bestätigung für ihn bedeuten würde. Die Gegenüberstellung dieser beiden Versionen verweist auf die unterschiedliche soziale Wertschätzung von Berufen und damit auf einen Aspekt sozialer Ungleichheit. In der ursprünglichen Geschichte geht Louis einen Weg, der letztendlich seiner sozialen Herkunft entspricht. Dafür erhält er Bestätigung von vielen Seiten und am Schluss sogar von seinem Vater. Der alternative Entwurf würde einen Bruch mit jenem normativen Rahmen bedeuten, der Louis von seinem Vater vermittelt wurde. Louis hätte einen Beruf mit wenig gesellschaftlichem Ansehen und geringem Einkommen gewählt und sich nicht hochgearbeitet. Sehr wahrscheinlich müsste er seinen Schritt erklären und rechtfertigen – hinsichtlich der Berufswahl, aber auch hinsichtlich der damit verbundenen Vorstellung von Männlichkeit. An der Geschichte von Louis und dessen Auseinandersetzung mit seinem Vater ließe sich sicherlich noch sehr viel mehr interpretieren und herauslesen, aber meine Arbeit ist keine literaturwissenschaftliche. Der Plot beschreibt jedoch, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund und innerhalb welcher vergeschlechtlichten Hierarchien Individuen ihre Lebensentwürfe gestalten und wie wichtig die Bestätigung dieser Lebensentwürfe durch Andere ist. Bestätigung oder Ablehnung erhält unterschiedliches Gewicht, je nachdem, von wem
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sie entgegengebracht wird. Dies wird in dem Buch über die nachträgliche Anerkennung des Vaters vermittelt. Diese wird als besonders relevant beschrieben, einerseits weil es sich um den Vater handelt, andererseits weil er als heterosexueller Mann und Chirurg eine gesellschaftliche Position repräsentiert, aus der heraus seine bestätigende Anerkennung auch eine statusrelevante Bedeutung erhält. Damit wird über die Diskussion von Louis‘ Geschichte ein für die Soziologie relevantes Thema offenbar: die Bedeutung von Anerkennung für hierarchische und in hierarchischen Strukturen der Gesellschaft. Anerkennung ist von hoher Relevanz für die Bestätigung des gewählten Weges. Sie ist gleichzeitig mitverursachend für Zuweisungen in Positionen innerhalb hierarchischer Strukturen. Denn die Anerkennung als Friseur weist Louis aufgrund der geringen Wertschätzung des von ihm gewählten Berufs eine niedrige soziale Position zu. Es werden aber keine statischen Positionen festgelegt, sondern Anerkennung kann, wie hier vom Vater, auch nachträglich erfolgen und zwar dann, wenn der Weg wieder in den normativen Rahmen des jeweiligen Kontextes hineinführt. Genau an diesem Spannnungsverhältnis zwischen Anerkennung als Bestätigung und Anerkennung als Zuweiserin in Positionen hierarchischer Strukturen setzt meine Arbeit an. Meine Fragestellung lautet: Wie gehen Individuen vor dem Hintergrund geschlechterhierarchischer beruflicher Arbeitsteilung mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung um? Wie finden sie Anerkennung, auch wenn sie in gesellschaftlich geringgeschätzten Positionen verortet sind? Dabei richtet sich mein Blick nicht nur auf die Umgangsweisen innerhalb der beruflichen Kontexte und damit der Erwerbssphäre. Da ich in meiner Arbeit eine geschlechtertheoretische Perspektive einnehme, beziehe ich auch außerberufliche Kontexte wie die Reproduktionssphäre mit ein und fokussiere auf Herstellungsprozesse von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Für die theoretische Konzeption meiner Analyse nehme ich die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung von Axel Honneth (1994) als Ausgangspunkt (vgl. Abschnitt 3.1). Axel Honneth beschreibt soziale Wertschätzung als Anerkennung von Leistungen gemäß ihres Beitrags zur Erreichung von gesellschaftlichen Normen und Zielen (Honneth 1994: 209). Er leitet aus dieser Form der Anerkennung ein Selbstwertgefühl für diejenigen ab, denen soziale Wertschätzung entgegengebracht wird. Somit enthält sein Ansatz eine Verknüpfung zwischen dem abstrakten Konzept der sozialen Wertschätzung und dem Selbstbezug von Individuen. Diese Verknüpfung ist für für die Bearbeitung meiner Frage nach Umgangsweisen mit gesellschaftlicher Anerkennung relevant. Denn dafür muss zunächst geklärt werden, wie sich soziale Wertschätzung in subjektive Bezüge vermittelt. Axel Honneth hat jedoch in seinem Ansatz die Geschlechterperspektive nicht mitgedacht. Da diese für meine Fragestellung von zentraler Bedeutung
Cut – and go
ist, muss das Konzept der sozialen Wertschätzung um die Geschlechterperspektive erweitert werden. Meine Arbeit basiert auf einem konstruktivistischen Verständnis von Geschlechterdifferenz. Ich gehe also nicht von einem gegebenen Unterschied zwischen Männern und Frauen aus, sondern verstehe ihn als Ergebnis von Herstellungsprozessen. Für die Erweiterung der Überlegungen zu sozialer Wertschätzung um die Geschlechterperspektive beziehe ich mich daher auf den Ansatz des doing gender (vgl. Gildemeister und Wetterer 1992; West und Zimmermann 1987) den ich im Abschnitt 3.2 vor dem Hintergrund der beruflichen Arbeitsteilung und damit des doing gender while doing work (vgl. Wetterer 2002) diskutiere. Auch wenn Axel Honneths moralphilosophische Überlegungen zu sozialer Wertschätzung und der handlungsorientierte Ansatz des doing gender zunächst unvereinbar erscheinen, lassen sich diese beiden Konzepte zusammendenken (vgl. Abschnitt 3.3). Das über soziale Wertschätzung vermittelte Selbstwertgefühl ist nicht ohne die Kategorie Geschlecht zu denken, denn innerhalb einer geschlechterdichotomen und heteronormativen Gesellschaft lässt sich nicht von einem geschlechtsneutralen Selbst sprechen. Daher muss das Selbstwertgefühl innerhalb dieses Rahmens analysiert werden. Gleichzeitig fließen, wie sich zeigen wird, in die Interaktionen des doing gender Anerkennungsprozesse ein, denn sowohl die Darstellung als auch die Zuweisung der Geschlechtertypisierung bedürfen jeweils der Anerkennung. Damit beschreiben Prozesse sozialer Wertschätzung nicht mehr nur ein gesellschaftlich mehr oder weniger Anerkannt-Werden, wie es Axel Honneth konzipiert hat. Das Konzept des doing, das sich über das Einbeziehen von doing gender in Prozesse sozialer Wertschätzung integrieren lässt, schließt eine Wechselwirkung aus Anerkennen und Anerkannt-Werden ein und verweist auf die Gestaltungsmöglichkeit, vielleicht sogar eine Gestaltungsnotwendigkeit der Individuen innerhalb von Anerkennungsprozessen. Aus diesen Überlegungen entwickle ich ebenfalls in Abschnitt 3.3 den für diese Arbeit zentralen Begriff der Anerkennungspraktiken. Dieses von mir um die Geschlechterperspektive ergänzte und als Praxis verstandene Konzept von Anerkennung stellt die Grundlage für die weitere Diskussion im Kontext von Anerkennung und Geschlechterhierarchie in der beruflichen Arbeitsteilung dar. Wenn sich wie in dieser Arbeit die Perspektive vom Anerkannt-Werden zu Anerkennungspraktiken verschiebt, schließen sich theoretische Fragen an, die sich zu drei Komplexen bündeln lassen, die Kapitel 4 strukturieren. Vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen in einer reflexiv-modernisierten Gesellschaft und der damit verbundenen Pluralisierung von Normen wird die normative Grundlage von Anerkennungspraktiken komplex, vielschichtig und widersprüchlich (vgl. Wagner 2004). Daraus ergibt sich die Frage, worauf sich Individuen in Anerkennungspraktiken beziehen kön-
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nen. Also: „Was wird anerkannt?“ Dies diskutiere ich in Abschnitt 4.1. Wie sich zeigen wird, ergeben sich aus der Pluralisierung eine höhere Komplexität von Anerkennungspraktiken, aber auch Möglichkeiten eigenmächtiger Handlungen. Wenn Anerkennungspraktiken komplex und die normativen Bezüge widersprüchlich sind, hat dies Rückwirkungen auf Anerkennungsbeziehungen. Hinsichtlich sozialer Wertschätzung sind die Anerkennenden ohnehin nicht einfach ermittelbar. Ist es die Gesellschaft? Wer repräsentiert sie? Die Frage „Wer erkennt an?“ wird somit relevant. Diese werde ich in Abschnitt 4.2 erörtern. Dort werde ich mit Bezug auf George H. Mead (vgl. Mead 1980c) diskutieren, über wen sich soziale Wertschätzung in Anerkennungspraktiken vermittelt und welche Rolle Hierarchie und Macht in Anerkennungsbeziehungen für die Praktiken und die Möglichkeiten eigenmächtigen Handelns spielen. Ich werde der Frage nachgehen, inwieweit sich Meads Unterscheidung zwischen dem konkreten und dem generalisierten Anderen für die Analyse von Anerkennungspraktiken mit Bezug auf gesellschaftliche Anerkennung aufrechterhalten lässt. Ausgehend von der Vervielfältigung von Anerkennungsbezügen lässt sich nicht mehr von einem über Anerkennung hergestellten Selbst sprechen, wie das bei Anerkennungskonzepten vorgenommen wird, die sich auf Axel Honneth beziehen. Vielmehr werden in verschiedenen Anerkennungsfeldern unterschiedliche Positionen hergestellt. Damit lenke ich den Blick auf die subjektivierungstheoretische Perspektive von Judith Butler (vgl. Butler 2001, 2003, 2009a). Anerkennung wird somit nicht als Bestätigung verstanden, sondern als Moment der Subjektivierung und damit als elementarer Bestandteil gesellschaftlichen Werdens. Dieser Perspektivwechsel erlaubt eine theoretische Konzeptionalisierung von Anerkennung innerhalb hierarchischer Strukturen, ohne dabei ausschließlich auf Missachtung oder Abwertung und damit auf ein Fehlen von Anerkennung fokussieren zu müssen (vgl. Abschnitt 4.3). Diese subjektivierungstheoretische Perspektive führt zu dem praxeologischen Ansatz von Anerkennung verstanden als Adressierung von Nicole Balzer und Norbert Ricken (vgl. Balzer und Ricken 2010), den ich in Abschnitt 4.4 ausführe und den ich für meine empirische Analyse fruchtbar mache. Anerkennungspraktiken werden dabei über Adressierungen und Re-Adressierungen konzipiert, so dass eigenmächtiges Handeln, wie beispielsweise das Zurückweisen von Adressierungen, theoretisierbar wird. Ausgehend von moralphilosophischen Ansätzen sozialer Wertschätzung als Form gesellschaftlicher Anerkennung entwickle ich somit einen geschlechtertheoretisch fundierten Ansatz, der Anerkennung als Subjektivierungspraxis und damit als zentrales Moment gesellschaftlichen Werdens versteht. Die Frage, wie Anerkennungspraktiken in hierarchischen Strukturen und damit in unterschiedlichen Positionen innerhalb dieser Strukturen aussehen,
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analysiere ich vor diesem Hintergrund empirisch. Als soziale Felder habe ich, wie oben erwähnt, das Friseurhandwerk und die Chirurgie gewählt, weil diese beiden Berufe eine sehr unterschiedliche soziale Wertschätzung genießen und weil beide geschlechtlich codiert sind. Damit repräsentieren sie Hierarchien in doppelter Weise, so dass sie sich für einen Vergleich von Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung anbieten. Eine Beschreibung der beiden Felder erfolgt in Kapitel 2. Die empirische Analyse der Anerkennungspraktiken erfolgt aufgrund der hohen Relevanz von Deutungen – Deutung von Normen, Anerkennenden, Anerkennung selbst – auf der Basis von biographisch-narrativen Interviews mit Friseur_innen und Chirurg_innen. Diese offene Methode ermöglicht es den Interviewten, ohne Vorgaben eine Selbstpräsentation vornehmen zu können. Daraus lassen sich jeweils relevante Anerkennungsfelder und subjektive Deutungen der dort jeweils geltenden Normen und Umgangsweisen mit unterschiedlichen Adressierungen rekonstruieren (Abschnitt 5.1). Um die subjektivierungstheoretische Perspektive meiner Arbeit an die Analyse biographisch-narrativer Interviews anschlussfähig zu machen, ist eine theoretische Auseinandersetzung mit dem jeweils zugrunde liegenden Subjektbegriff notwendig. Während der Biographieforschung das Verständnis eines einheitlichen, gewordenen Subjekts zugrunde liegt, wird in dieser Arbeit das Selbst als aus pluralen und sich auch widersprechenden Subjektpositionen bestehend konzipiert. Ich entwickle eine Anschlussmöglichkeit beider Ansätze über den Begriff der Erfahrung, der sowohl in der Biographieforschung als auch in Anerkennungspraktiken eine wichtige Rolle spielt. Mit Bezug auf Joan W. Scott (vgl. Scott 1994) verstehe ich Erfahrung als Moment von Subjektivierung. Erfahrungen existieren nur aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse und weisen mit Bezug darauf Individuen Subjektpositionen zu. Gleichzeitig durchlaufen sie das Raster des „Anerkennbaren“ (Butler 2003: 63), so dass Erfahrung im Kontext dessen erzählt wird, was gesellschaftlich als anerkennenswert gilt. Erzählte Erfahrungen können demnach als erzählte Anerkennungserfahrungen verstanden werden (vgl. Abschnitt 5.2). Damit lassen sich aus den biographisch-narrativen Interviews unterschiedliche Positionen der Selbstgestaltung herausarbeiten. Über Anerkennungspraktiken werden also Positionierungen in unterschiedlichen Feldern zugewiesen. Für die Rekonstruktion von Anerkennungspraktiken beziehe ich mich auf die Positionierungsanalyse (vgl. Bamberg 2003; Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Aus den in den Lebensgeschichten enthaltenen Erzählungen in Bezug auf andere Personen oder soziale Felder lassen sich Positionierungen herausarbeiten. Mit dem Konzept der Anerkennung als Adressierung werden Anerkennungspraktiken und damit die Herstellung dieser Positionierungen rekonstruiert (vgl. Abschnitt 5.3). Theoretische Analysen zu Anerkennung werden hier also um eine praxeologische
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Perspektive erweitert. Diese wird sowohl aus theoretischen Überlegungen als auch aus empirischen Befunden hergeleitet. Anhand der Erzählungen von zwei Chirurg_innen (Dagmar Cramer und Carsten Clement) und zwei Friseur_innen (Viktoria Frisch und Leo Farolo) beschreibe ich in Kapitel 6 erzählte Anerkennungspraktiken im Kontext von beruflicher Arbeitsteilung und Geschlechterhierarchie. Dabei lasse ich mich von der zentralen Frage meiner Arbeit nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung leiten. Es geht um die Positionierung zum eigenen Beruf, zum gesellschaftlichen Bild des eigenen Berufs, um die damit verbundenen geschlechtlichen Zuschreibungen und die Herstellungsleistungen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Hier arbeite ich heraus, welche Anerkennungsfelder von den Interviewten relevant gemacht werden, in welche (hierarchische) Beziehung sie jeweils zueinander gesetzt werden, welche Adressierungen angenommen, welche zurückgewiesen werden und welches eigenmächtige Handeln vor allem dann als möglich thematisiert wird, wenn eine hierarchisch niedrige Positionszuweisung erfolgt. Nach einer ausführlichen Darstellung der empirischen Ergebnisse fasse ich diese in Kapitel 7 zusammen und diskutiere sie vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen der Kapitel 3 und 4.
Vom Bader zum Barbier zum Chirurg zur Friseurin
Das Anliegen meiner Arbeit besteht darin, Umgangsweisen mit unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung empirisch zu analysieren. Als empirisches Feld habe ich dafür die beiden Berufe Friseurhandwerk und Chirurgie1 gewählt. Beide genießen sehr unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung und beide sind geschlechtlich codiert. Während die Chirurgie als ‚männlich‘ angesehen wird, gilt das Friseurhandwerk als ‚Frauenberuf‘. Diese Kombination aus unterschiedlicher sozialer Wertschätzung und geschlechtlicher Codierung macht diese beiden Berufe für meine Analyse interessant.2 Hinsichtlich der Umgangsweisen mit hierarchisierender Anerkennung lässt sich die Frage stellen, welche Relevanz die unterschiedliche Wertschätzung des Berufs für die diesen Beruf Ausübenden jeweils hat. Wie gehen Friseur_innen mit der geringen Wertschätzung ihres Berufes um? Welche Bedeutung schreiben Chirurg_innen dem hohen Ansehen ihres Berufes zu? Es lassen sich Zusammenhänge zwischen der geschlechtlichen Codierung der Berufe und darin anerkannten Männlichkeiten und Weiblichkeiten analysieren. In Kapitel 1 habe ich bereits auf das Stereotyp des schwulen Friseurs hingewiesen. Wie gehen Männer im Friseurhandwerk mit diesem Stereotyp um? Was bedeutet das für ihre Vorstellungen von Männlichkeit? Wie finden Chirurginnen Anerkennung bei ihren männlichen Kollegen oder den Patient_ innen? Wie suchen sie nach Bestätigung von Weiblichkeiten? Vor diesem Hintergrund stellen beide Berufsfelder eine maximale Kontrastierung (Flick 2010: 165 ) dar und bieten sich an, um unterschiedliche soziale Wertschätzung innerhalb und zwischen den Berufen zu untersuchen und 1 | Ich beziehe mich dabei nur auf die klinische Chirurgie, da niedergelassene Chirurg_innen hinsichtlich sozialer Wertschätzung ein sehr heterogenes Feld darstellen. 2 | Ich werde in Abschnitt 3.2 noch genauer auf den theoretischen Zusammenhang von geschlechterdifferenzierender Segregation auf dem Arbeitsmarkt und sozialer Wertschätzung der Berufe eingehen.
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dabei Geschlechterhierarchien mitzuberücksichtigen. Die Frage danach, wie Friseur_innen und Chirurg_innen mit sozialer Wertschätzung und Hierarchien jeweils umgehen lässt sich zwischen den Berufen, zwischen Männern und Frauen über die Berufe hinweg sowie zwischen Männern und Frauen innerhalb der Berufe vergleichend analysieren. Die beiden heute sehr unterschiedlichen Berufe verweisen historisch interessanterweise auf einen gemeinsamen Ursprung. Vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Akademisierung der Medizin und der Chirurgie Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Friedrichs und Schaub 2011) wurden chirurgische Eingriffe von Badern oder Barbieren in Badehäusern vorgenommen.3 Diese Eingriffe galten als Handwerk an kranken Menschen und waren deswegen schlecht angesehen (Bergmeier 2002: 8). Die Dienste der Bader und Barbiere wurden vor allem von ärmeren Bevölkerungsteilen in Anspruch genommen. Adlige und Klerus wurden von klerikalen Ärzten behandelt. Die Zuständigkeit der Bader und Barbiere umfasste nicht nur chirurgische Eingriffe, sondern verschiedene medizinische Tätigkeiten wie Schröpfen, Aderlass, Augen- und Zahnheilungen, aber auch kosmetische Körperpflege sowie Haar- und Bartschneiden (Stolz 1992: 82 ff.). Aus der Tätigkeit der Bader und Barbiere entwickelten sich vom späten Mittelalter an unterschiedliche Berufe. Mit Beginn der Akademisierung der Medizin im 18. Jahrhundert entstanden verschiedene Fachbereiche der Medizin. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung wurde zunehmend in Kliniken von universitär ausgebildeten Ärzten übernommen. Bader und Barbiere spezialisierten sich hinsichtlich der Haarpflege auf Bartschneiden oder auf das Handwerk des Perückenmachers, das seine Blütezeit unter Ludwig dem XIV. erlebte (Stolz 1992: 121 ff.). Bader und Barbiere stellen somit den gemeinsamen Ursprung der beiden Berufe dar, die in meiner Arbeit als Grundlage für die empirische Erhebung dienen. Mittlerweile haben diese beiden Berufe, wie oben erwähnt, sehr verschiedene Positionen in der Prestigehierarchie der Berufe. Die Chirurgie genießt sehr hohes Ansehen, was für das Friseurhandwerk nicht gilt. Es wäre sicherlich interessant, die Entstehung dieser unterschiedlichen Anerkennung historisch zu untersuchen. Dies steht allerdings hier nicht im Fokus. Ich nehme die hierarchische Beziehung zwischen den beiden Tätigkeiten als Ausgangspunkt für meine Analyse, wie Menschen, die in diesen Berufen tätig sind, mit der unterschiedlichen Wertschätzung umgehen. In den folgenden beiden Abschnitten gehe ich näher auf die beiden Berufe ein, um ein Verständnis für das Feld zu schaffen, in dem die Personen arbeiten, deren Umgangsweisen mit sozialer Wertschätzung ich später in Kapitel 6 3 | Die Begriffe Bader und Barbier wurden regional unterschiedlich zur Bezeichnung des gleichen Berufs verwendet (Bergmeier 2002: 9).
Vom Bader zum Barbier zum Chirurg zur Friseurin
ausführlich darstelle. Die Beschreibung des Feldes erfolgt unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive.
C hirurgie In einer Glosse mit dem Titel „Der, die, das Chirurg“ schreibt der Chefarzt der Klinik für Viszeral- und Gefäßchirurgie am Vivantes Klinikum Neukölln, Bartholomäus Böhm, für die Chirurgische Allgemeine über Lebens- und Arbeitsbedingungen von Chirurg_innen Folgendes: „Wir benötigen ein Wesen, das durch Familie oder Freunde nicht gebunden ist. Es darf nicht schwanger werden, keine Elternzeit nehmen, keine Kinder aufziehen, sich nicht um kranke Familienmitglieder kümmern, muss immer belastbar und verfügbar sein und wenig Urlaub benötigen. Eigentlich wäre ein asoziales Element wünschenswert, das jederzeit mit vollem Engagement verfügbar ist. Das Chirurg könnte tagsüber am Patienten tätig sein und operieren und sich außerhalb der Kernarbeitszeit um Fortbildung oder DRG-Kodierung kümmern. Für Forschung und Lehre wäre sicherlich auch noch ein Zeitfenster zu finden.“ (Böhm 2013: 121)
Beschrieben wird hier ein geschlechtsneutrales und nahezu asoziales Wesen, das nur für die Chirurgie lebt und alle Anforderungen, die an Chirurg_innen gerichtet werden, erfüllen kann. Es gibt keine außerberuflichen Interessen oder Verpflichtungen, das Chirurg sieht sich nie mit Entscheidungsdilemmata konfrontiert oder muss Konflikte mit anderen, ihm wichtigen Menschen fürchten. Es lebt nur für die Chirurgie. Auch wenn Bartholomäus Böhm dem Wesen kein Geschlecht zuordnet und den Artikel das einführt, so fallen die meisten der angesprochenen außerberuflichen Aktivitäten doch in weiblich codierte Bereiche: schwanger werden, Elternzeit nehmen, Kinder aufziehen, sich um kranke Familienangehörige kümmern. Dies ist kein Zufall. Mit dieser sicherlich überspitzten Darstellung verweist Bartholomäus Böhm auf die Virulenz, mit der Fragen nach beruflichen Anforderungen und möglichen Bedürfnissen in anderen Lebensbereichen innerhalb der Chirurgie verhandelt werden. Diese Diskussion steht im Zusammenhang mit der berufsinternen Debatte um das Verhältnis von Arbeit und Leben, ausgelöst durch die Zunahme von Frauen in der Chirurgie, die vermehrt als Nachwuchskräfte rekrutiert werden sollen (vgl. Ahnsorg 2010). Die Medizin hat im Laufe des letzten Jahrhunderts deutliche Veränderungen hinsichtlich der Geschlechterzusammensetzung erlebt. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Öffnung des Medizinstudiums für Frauen diskutiert wurde, war die Abneigung der Ärzte groß. Sie sprachen beim 26. Deutschen Ärztetag offen aus, dass sie in der Zulassung von Ärztinnen weder einen Nutzen
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für die Medizin noch für die Patient_innen sähen und sowohl einen Schaden für die Frauen selbst als auch eine Minderung des eigenen ärztlichen Ansehens fürchteten (vgl. Eckelmann 1992). Die Ärzte sahen also ihr Prestige allein durch die Mitarbeit von Frauen in der Ärzteschaft gefährdet – unabhängig von deren Qualifikation und Eignung als Ärztinnen. Die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium verlief in umkämpften Etappen. 1896 wurden sie in Preußen als Gasthörerinnen zugelassen, am 24.4.1899 wurde die Möglichkeit der Immaktrikulation und Approbation für Frauen in der Medizin im Deutschen Reich beschlossen (Brinkschulte 2005: 105). Die ersten Approbationen wurden an Frauen verliehen, die ihr Medizinstudium bereits in der Schweiz absolviert hatten (ebd.). Seitdem ist der Anteil der Ärztinnen kontinuierlich angestiegen. Mittlerweile sind 43 % der berufstätigen Ärzt_innen Frauen (vgl. Kopetsch 2010). Mit zunehmendem Frauenanteil begann eine Aushandlung der geschlechterdifferenzierenden Zuordnung medizinischer Tätigkeiten, mit der eine Hierarchisierung einherging. Dies lässt sich unter anderem am Frauenanteil in den einzelnen Tätigkeitsfeldern ablesen: In der prestigeträchtigen Chirurgie liegt der Frauenanteil bei 2 %. Dagegen ist der Frauenanteil in weniger prestigeträchtigen Bereichen wie der Frauenheilkunde und Geburtshilfe deutlich höher (55 %).4 Nach der aktuell gültigen Weiterbildungsverordnung der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2003 umfasst die chirurgische Ausbildung nach Abschluss des Zweiten Staatsexamens zunächst eine zwei Jahre dauernde Basisweiterbildung in der Chirurgie, auf die eine vier Jahre dauernde Weiterbildungszeit folgt, in der eine Spezialisierung auf die acht möglichen Facharztabschlüsse der Chirurgie stattfindet.5 Ausgelöst vor allem durch gesundheitspolitische Veränderungen wird in der Chirurgie ein Nachwuchsmangel prognostiziert, weshalb dieser Teilbereich für Frauen attraktiver gemacht werden soll (vgl. Ahnsorg 2010). Ich zeichne diese Veränderungen kurz nach, da sie auch Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in der klinischen Chirurgie haben. Bereits seit Mitte der 1970er Jahre verfolgten Gesundheitsreformen hinsichtlich der stationären Versorgung ein vorrangiges Ziel: Kostendämpfung mit der Auflage
4 | Die Zahlen entstammen der Bundesärztestatistik 2008, zum Stand 31.12.2008 5 | Konkret sind das Facharzt_ärztin für Allgemeinchirurgie, Gefäßchirurgie, Herzchirurgie, Kinderchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Plastische und Ästhetische Chirurgie, Thoraxchirurgie und Viszeralchirurgie. Die genauen Ausführungen zu den Zeiten und Inhalten der Weiterbildungen sind jeweils länderspezifisch geregelt. Einen Überblick bietet die Muster-Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer: http:// www.bundesaerztekammer.de/downloads/20130628-MWBO_V6.pdf; zuletzt ab gerufen am 27.2.2014.
Vom Bader zum Barbier zum Chirurg zur Friseurin
der Beitragssatzstabilität (vgl. Busse und Riesberg 2005).6 Auch wenn es während der beiden Regierungsphasen der christlich-liberalen (1982 bis 1998) und der rot-grünen Koalition (1998 bis 2004) unterschiedliche Strategien zur Reform der Strukturen im Gesundheitswesen gab, hatte die Kostendämpfung immer oberste Priorität (ebd.). Vor allem nach den 1990er Jahren gewann die Beitragssatzstabilität mit der zunehmenden Internationalisierung des Wettbewerbs und der Debatte um die Höhe der Lohnnebenkosten an Bedeutung. In diesem Zeitraum wurden strukturelle Veränderungen der Krankenhausfinanzierung eingeführt: Seit 1993 gilt die sogenannte ‚Budgetdeckelung‘, bei der sich die Krankenhausbudgets nicht mehr an den Kosten der Krankenhäuser, sondern an der Entwicklung der Einnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung orientieren. Im Jahr 2003 wurde die Umstellung der Finanzierung auf ein sogenanntes DRG-System (DRG = Diagnosis Related Groups) beschlossen, dessen Einführung momentan noch im Gang ist. Das DRG-System sieht vor, Patient_innen in Abhängigkeit ihrer Haupt- und Nebendiagnosen und der zugehörigen medizinischen Leistungen in Gruppen einzuteilen, für die dann entsprechende Therapien und Abrechnungspauschalen vorgesehen sind (vgl. Simon 2008). Damit ist ein höheren Verwaltungsaufwand für die Ärzt_innen verbunden. Der permanente Kostendruck, ausgelöst durch die Gesundheitsreformen und die Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser 7, wirkt sich auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsbelastung in den Krankenhäusern aus. In einer Evaluation der Auswirkungen der Einführung der DRG auf die Arbeitsbedingungen zeigt sich, dass Ärzt_innen eine zusätzliche Belastung durch die vermehrten Verwaltungstätigkeiten sehen, die sie davon abhält, sich in ausreichendem Umfang um die Behandlung der Patient_innen zu kümmern. Die Folge sind Überstunden und ethische Konflikte, die sich aus dem Spannungsfeld von Kostendruck und eigenem Anspruch an angemessene Versorgung ergeben (vgl. Braun u. a. 2009). Diese Entwicklung trifft die Chirurgie besonders, wird sie doch ohnehin als die Disziplin mit der höchsten Arbeitsbelastung angesehen (vgl. Bohrer 2009; Rosta 2007). Dies hat Auswirkungen auf die Berufswahl der angehenden Ärzt_innen. Eine Befragung von Studierenden zeigt, dass mehr als ein Drittel der Studierenden im ersten Semester noch als Wunschfachrichtung die Chirurgie angeben. Dieser Anteil geht bei den angehenden Ärzt_innen im Praktischen Jahr auf 16 % zurück. Damit ist die Chirurgie nach der Labor6 | Maßgeblich hierfür ist das sogenannte Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz, das 1977 verabschiedet wurde. 7 | Der Anteil der privaten Kliniken ist von 1991 (15,2%) bis 2005 auf fast das Doppelte (26,4%) angestiegen. Der Anteil der Krankenhausbetten, die in öffentlichen Kliniken bereitstehen, sank von rund 61% 1991 auf 51,5% in 2005 (vgl. Simon 2008).
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medizin die Fachrichtung mit den höchsten Umentscheidungen während der Ausbildung. Als Ursache wird von der Mehrheit der Befragten die Arbeitsbelastung genannt (vgl. Osenberg 2010). Parallel dazu steigt das Durchschnittsalter der aktuell tätigen Chirurg_innen. Hochrechnungen zufolge geht bis zum Jahr 2020 über ein Drittel der Krankenhauschirurg_innen in Rente. Um diese Stellen wieder besetzen zu können, müsste sich die Absolvent_innenquote in den nächsten Jahren im Vergleich zu heute verdoppeln (vgl. Ahnsorg 2010). Die Neufassung des Arbeitszeitgesetzes vom 1.1.2004 legt fest, dass Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienste zur Arbeitszeit hinzugerechnet werden und die werktägige Arbeitszeit auf 24 Stunden am Stück begrenzt wird. Das bedeutet, dass die bis dahin üblichen Arbeitszeitmodelle, bei denen Regelschichten und Bereitschaftsdienste so kombiniert werden konnten, dass bis zu 48 Stunden dauernde Dienste entstehen, nicht mehr zulässig sind (vgl. Schlottfeldt und Herrmann 2008).8 Trotz dieser Verbesserung der Arbeitszeitregelung ist die Belastung für Chirurg_innen immer noch sehr hoch und wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit aus. In einer Umfrage unter in Krankenhäusern tätigen Chirurg_innen gaben 72 % der Befragten an, neben der Arbeit keine Kraft mehr für private Aktivitäten zu haben. 22 % der Befragten denken daher mehrmals im Monat über die Aufgabe des Berufs nach. Rund ein Drittel trägt sich häufiger mit Gedanken an eine Abwanderung ins Ausland (vgl. Knesebeck u. a. 2010). Tatsächlich ist der Anteil der Ärzt_innen, die ins Ausland abgewandert sind, in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (vgl. Kopetsch 2010). Die Arbeitsbedingungen in der Chirurgie haben sich also verändert, so dass die Themen Nachwuchsmangel und Nachwuchsförderung in der berufsinternen Debatte virulent geworden sind. Damit geraten auch Frauen in den Blick (vgl. Ahnsorg 2010). Der Anteil der Frauen in der Chirurgie ist in den letzten Jahren tatsächlich angestiegen. Diese Entwicklung bestärkt Angelika Wetterers These, wonach eine sinkende Attraktivitiät von Berufen (hier: Arbeitsbelastung im Verhältnis zur tendenziell schlechteren Bezahlung) zu einer Öffnung auch für Frauen führt (Wetterer 2002: 97 ff. und Abschnitt 3.2.). Die stärkere Präsenz von Frauen in der Chirurgie lässt auch in diesem Fachbereich differenzierte Arbeitsteilungsprozesse erkennen. Während Chirurginnen eher in der Allgemeinen Chirurgie tätig sind (20 %), ist ihre Präsenz in der prestigeträchtigen Herzchirurgie sehr gering (3 %).9 Eine vom Bund der Chirurgen angestoßene Umfrage zu Arbeitsbedingungen und Arbeitszufriedenheit bei Chirurginnen zeigt darüber hinaus eine geschlechterhierarchische 8 | In den einzelnen Tarifverträgen sind allerdings Ausnahmen und genaue Definitionen von Ruhe- und Arbeitszeit definiert. Siehe hierzu Schlottfeldt und Herrmann 2008: 30 ff.. 9 | Die Zahlen entstammen der Bundesärztestatistik 2008, Stand 31.12.2008.
Vom Bader zum Barbier zum Chirurg zur Friseurin
Arbeitsteilung bei den chirurgischen Tätigkeiten selbst: Frauen übernehmen überwiegend Anamnese und zuarbeitende Tätigkeiten, während Männer überwiegend prestigeträchtige chirurgische Tätigkeiten10 ausüben (vgl. Leschber 2008). Im Fazit der Auswertung der Umfrage wird geschlossen, dass Frauen eher für die Tätigkeiten zuständig sind, für die so genannte Soft skills erforderlich sind (ebd.). Die veränderten Rahmenbedingungen in der Chirurgie haben also mit dazu beigetragen, dass der Frauenanteil in diesem Beruf zwar immer noch gering, aber doch angestiegen ist. Geschlechterverhältnisse und deren Aushandlung innerhalb des Berufs verändern sich.11
F riseurhandwerk Der Friseurberuf genießt im Vergleich zur Chirurgie weniger soziale Wertschätzung. Zudem – oder vielleicht deswegen – ist der Friseurberuf bislang nur selten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung (Dunkel 2006: 221). In der Diskussion um Mindestlöhne wurde der Friseurberuf immer wieder als Beispiel für die Notwendigkeit einer Mindestlohnregelung herangezogen. Dies unterstreicht die geringe Wertschätzung der in diesem Bereich ausgeführten Tätigkeiten, die sich nicht zuletzt in schlechter Bezahlung ausdrückt. Bereits im April 2013 wurde im Rahmen von Tarifverhandlungen eine Einigung hinsichtlich der Einführung von Mindestlöhnen in der Friseurbranche erzielt. Diese sieht eine schrittweise Anhebung der Stundenlöhne von teilweise unter fünf Euro auf bundesweit 8,50 Euro bis August 2015 vor (vgl. Esslinger 2013; verdi o. J.). Der Friseurberuf wird in Deutschland als Handwerksberuf geführt. Die Ausbildung dauert drei Jahre und findet im dualen Berufsausbildungssystem, also in Kombination von betrieblicher Ausbildung und Berufsschule statt.12 Voraussetzung dafür ist ein qualifizierender Abschluss der Mittelschule. Für die Eröffnung eines eigenen Salons wurde bis zur Handwerksrechtsnovelle im Jahr 2004 die Meisterprüfung vorausgesetzt. Mit der gesetzlichen Veränderung ist es möglich, auch ohne Meisterbrief einen eigenen Salon zu eröffnen. 10 | Leider wurden in der Veröffentlichung keine Beispiele für prestigeträchtige chirurgische Tätigkeiten genannt. 11 | Dazu gehört auch, dass immer wieder Männer in Elternzeit gehen. Dies stellt jedoch die Ausnahme dar und wird extra erwähnt – wie beispielsweise an der Uniklinik Heidelberg, die eine Pressemitteilung herausgab, als der erste Gefäßchirurg in Elternzeit ging (vgl. Tuffs 2009). 12 | Vgl. http://www.friseurhandwerk.de/; zuletzt abgerufen am 12.2.2014.
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Für die Tätigkeit als Ausbilder_in wird das erfolgreiche Absolvieren der Meisterschule nach wie vor verlangt.13 Wie bereits ausgeführt, hat das Friseurhandwerk eine jahrtausendealte Tradition. Bereits in der Antike wurden mit aufwändigen Methoden komplizierte Frisuren und Perücken hergestellt (Dunkel 2006: 220). In seinen Ausführungen zur Kulturgeschichte des Friseurberufs schreibt Wolfgang Dunkel (2006), in Barbiersalons im antiken Rom und Griechenland „wurden Haare geschnitten und gefärbt, es wurden künstliches Haar, Pomade und Salben benutzt, Bärte rasiert und der neueste Klatsch ausgetauscht. Damit sind die wesentlichen Leistungen des heutigen Friseurs bereits vor Tausenden von Jahren angeboten worden.“ (2006: 220)
Damit beschreibt Wolfgang Dunkel zwei zentrale Aspekte, die auch heute noch für den Friseurberuf relevant sind: neben der Kunst des Umgangs mit Haar, Haarersatz und Pflegeprodukten spielt der soziale Austausch eine wichtige Rolle. Darauf werde ich später noch eingehen. Mit der Ausdehnung von Konkurrenz- und Marktbedingungen im 19. Jahrhundert begann die Organisierung von Friseuren in Verbandsstrukturen. 1872 gründete sich beispielsweise der Verband Deutscher Barbierherren.14 Damit war eine Etablierung des Berufs als Handwerk ebenso verbunden wie eine Vermännlichung, da innerhalb der Verbände berufliche Standards entwickelt wurden, die sich an dem männlichen Handwerker orientierten; Frauen wurden dabei höchstens als mithelfende Ehefrauen gesehen (Kornher 2012: 194 ff.). Gleichwohl waren zu dieser Zeit noch immer Frauen auch gewerblich tätig. Bereits während der Hochphase der Perückenmacher_innen im 18. Jahrhundert galten sie als virtuos. Nach Ende dieser Phase arbeiteten die meisten zwar als Dienstmädchen und frisierten in diesem Kontext, einige waren aber auch als Gewerbetreibende aktiv (ebd.: 21 f.). Die wenigsten von ihnen eröffneten jedoch Geschäfte, sondern sie suchten ihre Kundschaft vielmehr meist privat auf, wodurch sie bei der Gründung der Berufsverbände erst recht keine Berücksichtigung fanden (ebd.: 178 ff.). Ende des Ersten Weltkrieges wurde, wie verbandsinterne Debatten zeigen, für unangemessen angesehen, wenn Frauen Männern den Bart rasieren. Friseurinnen wurde von männlichen Handwerksvertretern unterstellt, sie nutzten das Frisieren zum Zwecke der Prostitution. 13 | Vgl. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/15/012/1501206.pdf; zuletzt abgerufen am 27.2.2014. 14 | Für eine historische Übersicht über die Entwicklung der Verbandsstrukturen siehe http://www.friseurhandwerk.de/zentralverband-partner_der-zentralverband_chro nik,69_72_76.html; zuletzt abgerufen am 27.2.2014.
Vom Bader zum Barbier zum Chirurg zur Friseurin
Deswegen wurde Friseurinnen der Bereich der Damenfrisuren zugesprochen, womit eine weniger umfassende Ausbildung verbunden war. Schneiden gehörte nicht dazu. Dies wurde von engagierten Friseurinnen kritisiert, da damit ihre Fachlichkeit leide (Kornher 2012: 205 f.). Die Veränderung der weiblichen Haarmode in den 1920er Jahren, Bubikopf und Kurzhaarfrisuren für Frauen, entzogen diesen Friseurinnen, die ihre Kundinnen zu Hause besuchten, die Basis. Aufwändige Kämm- und Steckfrisuren waren immer weniger üblich, Frauen ließen sich die Haare in Friseursalons schneiden.15 Für diese Frisuren fehlte den meisten Friseurinnen dieser Zeit die Ausbildung. Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung setzten sich im Zusammenhang mit der Förderung von Arbeitertöchtern für eine gleichwertige Ausbildung ein, stießen dabei aber auf Widerstand in den Verbänden (Kornher 2012: 207 ff.). Modische Veränderungen und damit der zunehmende Anteil weiblicher Kundschaft führten zu einem größeren Bedarf an Damenfriseuren, der von Friseurinnen gedeckt wurde und zu einer Verweiblichung des Handwerks führte (Stolz 1992: 335). Auch wenn der Friseurberuf heute noch immer als Handwerk eingeordnet ist, lässt er sich aufgrund der engen Kundenbeziehung als „personenbezogene Handwerksdienstleistung“ (Braun 2010: 125) bezeichnen. Damit werden neben der handwerklichen Fähigkeit des Haareschneidens auch dienstleistungsbezogene Aspekte wie Kommunikation und Kund_innen-, in diesem Fall sogar Körperkontakt relevant (vgl. Dunkel 2006; Kutzner u. a. 2009: 158 ff.; Voswinkel 2005: 62 ff.). Um als Friseur_in erfolgreich zu sein, reichen handwerkliche Fähigkeiten somit nicht aus. Die Friseur_innen müssen in der Lage sein, sich auf Kund_innen und deren „jeweils andere Logik“ (Kutzner u. a. 2009: 157) einzulassen. Dies schließt eine Inszenierung von Beziehungen, eine „Inszenierung von Freundschaft“ (Holtgrewe 2004: 75) ein, wobei soziokulturelle und geschlechterdifferenzierende Aspekte relevant werden (ebd.: 76). Die Interaktion mit Kund_innen stellt den Hauptbestandteil der alltäglichen Arbeit dar. Dabei finden handwerkliches Können und Kund_innenorientierung nicht getrennt voneinander statt. Für eine gelungene Dienstleistungsbeziehung muss beides gleichzeitig geschehen (Dunkel 2006: 225). Über die Interaktion mit Kund_innen werden Anerkennung und Selbstwertgefühl vermittelt. Kund_innen stellen zudem eine wichtige ökonomische Grundlage dar, denn ihre Zufriedenheit ist notwendig für die Kund_innenbindung und das Weiterempfehlen des Geschäfts (Braun 2010: 144 f.).
15 | Svenja Kolher beschreibt die zeitgenössischen berufsinternen kontroversen Einschätzungen, wie sich die Veränderung von Frauenmode auf das Handwerk auswirken könnte (2012: 239 ff.).
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Aktuell ist der Friseurberuf ein Frauenberuf. Der Frauenanteil betrug von 1999 bis 2009 kontinuierlich 93 %.16 Im Gegensatz zu vielen anderen weiblich codierten Berufen sind im Friseurhandwerk auch Führungskräfte, also Geschäftsinhaberinnen, Frauen. Die Friseurbranche lässt sich als sehr heterogen beschreiben. Im Jahr 2012 existerten knapp 80.000 Salons in Deutschland.17 Dabei lässt sich eine große Spannbreite unterschiedlicher Salons – vom hochpreisigen Starsalon über lokal verortete Betriebe bis zu Billigketten – feststellen (Braun 2010: 126). Innerhalb der Branche zeigt sich eine hierarchische geschlechterdifferenzierende Segregation, die sich vor allem am Kundensegment festmacht: Starfriseure, also Friseure, die als Trendsetter gelten, ein teures Marktsegment bedienen und innerhalb der Branche höheres Prestige genießen, sind überwiegend Männer. In den Salons, die als prestigeträchtige Starsalons gelten, sind männliche Friseure überdurchschnittlich häufig vertreten (Kornher 2012: 11).18 Diese Ausführungen haben die gemeinsame Geschichte und die davon ausgehende unterschiedliche Entwicklung der beiden Berufe Chirurgie und Friseurhandwerk mit Blick auf die jeweiligen Geschlechterverhältnisse beleuchtet. Damit ist ein Bild des empirischen Feldes meiner Arbeit gezeichnet. Im Folgenden geht es nun darum, die theoretische Grundlage für die empirische Analyse zu entwickeln.
16 | Quelle: IAB, Berufe im Spiegel der Statistik. 17 | Vgl. http://www.friseurhandwerk.de/daten-fakten_betriebe,20_21.html; zuletzt abgerufen am 12.2.2014. 18 | Das Team von Lipperts Friseure am Lenbachplatz München besteht beispielsweise zu 55 % aus Männern; http://www.lipperts-friseure.com/team_salon_lenbachpa lais.html, letzter Abruf 11.2.2014.
Anerkennung – Arbeit – Geschlecht „Berufe im Schatten“ – so lautet der Titel einer Studie, die sich mit der geringen sozialen Wertschätzung von personenbezogenen Dienstleistungen wie Alten- und Krankenpflege sowie mit Beschäftigungsverhältnissen im Einzelhandel beschäftigt. Die Studie stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen geringer gesellschaftlicher Anerkennung des Berufs, hoher Unzufriedenheit der Mitarbeiter_innen im und geringer Motivation für den Beruf (Ciesinger u. a. 2011: 10 ff.). Nicht zufällig handelt es sich bei diesen Berufen um weiblich codierte Tätigkeitsfelder. Sowohl die geringere soziale Wertschätzung von weiblich codierten Tätigkeiten als auch die damit verbundenen ungleichheitsrelevanten Konsequenzen wurden in der Geschlechterforschung vielfach thematisiert.1 Hierarchien werden also nicht nur über ‚harte‘ Faktoren wie Einkommen oder Aufstiegsmöglichkeiten hergestellt. Auch die soziale Wertschätzung von beruflichen Tätigkeiten trägt zu deren hierarchischer Positionierung bei. Vergeschlechtlichungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Soziale Wertschätzung stellt dabei keine Struktur dar, sondern beschreibt einen fortdauernden Prozess. Doch was genau bedeutet soziale Wertschätzung? Wie werden über soziale Wertschätzung Unterschiede und Hierarchien vermittelt? Wie gehen Individuen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung um? Wie verorten sie sich selbst innerhalb dieser hierarchischen Strukturen und welche Rückwirkungen hat dies auf sie? Für die Bearbeitung der eben formulierten Fragen nehme ich eine mikrosoziologische Perspektive ein. Ich verstehe die über soziale Wertschätzung entstandenen Hierarchien wie beispielsweise unterschiedliches Ansehen von Berufen als Wissensbestand, auf den Individuen in ihrem Umgang mit sozialer Wertschätzung zurückgreifen. Mit der Entscheidung für die Chirurgie oder das Friseurhandwerk ist vor diesem Hintergrund sehr viel mehr verbunden, als ausschließlich die Wahl eines Berufes. Abhängig von der eigenen sozialen Herkunft kann die Wahl des Friseurberufs als nicht angemessen gewertet werden oder aber das Ziel, 1 | Vgl. hierzu z. B. Gottschall 2000; Teubner 2008; Wetterer 2002.
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Chirurg_in zu werden, als unerreichbar gelten. Mit der Berufsentscheidung sind Aushandlungen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten verbunden, die sich nicht allein auf das Berufsfeld beschränken lassen. Eine Berufswahl, die aus Gründen von beispielsweise Geschlecht oder sozialer Herkunft als nicht ‚passend‘ gewertet wird, wird rechtfertigungsbedürftig. Dies verweist auf die Vielschichtigkeit und Komplexität von Prozessen sozialer Wertschätzung. Um diese zu untersuchen, wird ein theoretischer Rahmen benötigt, der die Komplexität dieser Prozesse fassen und der als Grundlage für empirische Analysen dienen kann. Da ein derartiger Rahmen noch nicht vorliegt, wird dieser im Folgenden mit Bezug auf die Fragestellung entwickelt. Den Ausgangspunkt stellt dabei das Konzept der sozialen Wertschätzung dar, das Axel Honneth in seinem Buch „Kampf um Anerkennung“ (1994) beschreibt. Honneth hat mit diesen Analysen eine theoretische Grundlage zur Verfügung gestellt, auf die auch in anderen Arbeiten im Themenfeld Anerkennung Bezug genommen wird 2 und auf der sich in kritischer Erweiterung auf bauen lässt. Axel Honneth hat die Geschlechterperspektive in seine Überlegungen jedoch nicht einbezogen. Damit ist eine Leerstelle entstanden, die es zu füllen gilt. Ich gehe davon aus, dass Geschlechterverhältnisse als elementarer Bestandteil von Prozessen sozialer Wertschätzung gesehen werden müssen. Geschlechterdifferenzen verstehe ich dabei nicht als gegeben, sondern als Ergebnisse von Herstellungsprozessen. Mit Bezugnahme auf das Konzept des doing gender beschreibe ich in Abschnitt 3.2 die Herstellung von Geschlechterdifferenzierungen und gehe dabei auf Herstellungsprozesse in der beruflichen Arbeitsteilung ein. Mit diesen beiden theoretischen Ansätzen treffen zwei Denkrichtungen aufeinander, die sich zunächst nicht nahtlos aufeinander beziehen lassen. Axel Honneth entwirft ein moralphilosophisches und gesellschaftstheoretisches Modell von Anerkennung und sozialer Ungleichheit. Die theoretische Perspektive des doing gender hingegen deckt Konstruktionen und Herstellungsprozesse der binären Geschlechterdifferenzierung auf und ist auf interaktionstheoretischer Ebene angesiedelt. In Abschnitt 3.3 werde ich herausarbeiten, dass sich gerade das Zusammendenken dieser beiden theoretischen Konzepte anbietet, um Anerkennung als Anerkennungspraxis zu verstehen verstehen, die Geschlechterperspektive systematisch mitzudenken und Anerkennung empirisch fassbar zu machen. Diese Verknüpfung dient als Grundlage für eine Erweiterung und Neujustierung des theoretischen Ansatzes sozialer Wertschätzung, die ich in Kapitel 4 ausführe.
2 | Vgl. hierzu z. B. Fischer 2009; Holtgrewe 2000; Renn 2007; Ricœur 2006; Voswinkel 2001; Wagner 2004; Welskopp 2013; Wimbauer 2012.
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A nerkennung und soziale W ertschät zung In seinem Buch „Kampf um Anerkennung“ (1994) entwickelt Axel Honneth eine ausführliche Beschreibung von sozialer Wertschätzung. Mit Bezugnahme auf Hegels frühe Jenaer Schriften beschreibt er die drei Anerkennungsebenen Liebe, Recht und Soziale Wertschätzung und analysiert zum einen, welche Formen von Anerkennung auf diesen Ebenen entgegengebracht werden, und zum anderen, in welchem Verhältnis diese Ebenen vor allem im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen zueinander stehen (Honneth 1994: 148 ff.). Mit der Übernahme dieser drei Ebenen konzipiert Axel Honneth eine Vorstellung von Gesellschaft, die sich in die Sphären Familie oder Primärbeziehungen, Recht und bürgerliche Gesellschaft unterteilen lässt, die getrennt analysieren werden können. In Honneths Verständnis entwickeln sich über die drei Anerkennungsformen unterschiedliche Selbstbezüge, die er als aufeinander bezogen sieht. Er bezieht sich dabei auf Meads Konzept des interaktiv und in Bezug auf den konkreten und generalisierten Anderen hergestellte Selbst (vgl. Mead 1980c, 1980b, 1980a). Anerkennung durch Liebe führt zu Selbstvertrauen, rechtliche Anerkennung zu Selbstachtung und soziale Wertschätzung zu Selbstschätzung oder Selbstwertgefühl (Honneth 1994: 211). Für die hier aufgeworfene Frage ist die Ebene der sozialen Wertschätzung die relevante. Um deren Verortung in Axel Honneths Anerkennungskonzept nachvollziehen zu können, lege ich im Folgenden kurz die beiden Ebenen Liebe und Recht dar. Im Anschluss daran gehe ich ausführlicher auf die Ebene der sozialen Wertschätzung ein.
Liebe Auf der Ebene der Liebe fasst Axel Honneth Beziehungen zusammen, die „aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen“ (ebd.: 153). Die Anerkennung geht hier von konkreten Anderen mit „leibhaftiger Existenz“ (ebd.) aus. Aus den psychoanalytischen Theorien der Objektbeziehungen, hier vor allem aus den Analysen von Donald W. Winnicot, leitet Honneth ab, was die intersubjektive Beziehung der Liebe eigentlich bedeutet: Liebe funktioniert als Übertragung der Rückerinnerung an die frühkindliche Erfahrung der Symbiose mit der Mutter und beschreibt die Suche danach, mit einem anderen Menschen verschmelzen zu können. Dieses Bedürfnis wird jedoch erst dann zur Liebe, wenn die Personen sich jeweils als eigenständig und unabhängig anerkennen. Das Spannungsverhältnis zwischen „Entgrenzung und Abgrenzung“ (ebd.: 169), also zwischen dem Wunsch der Verschmelzung und dem gleichzeitigen Bezug auf sich selbst als eigenständige und unabhängige Person, stellen in dieser Sichtweise die wesentlichen Dynamiken der Liebe dar. Diese Gleichzeitigkeit von Sicherheit bezüglich emotionaler Zuwendung und wahrgenommener Autonomie führt zu einer „Selbstbeziehung (...), in der
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die Subjekte wechselseitig zu einem elementaren Vertrauen in sich selber gelangen“ (ebd.: 172). Das Anerkennungsverhältnis der Liebe hat also Selbstvertrauen zur Folge und stellt damit die „psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung“ (ebd.) dar. Durch die Anerkennungsform der Liebe entsteht in dieser Lesart zum einen ein Selbstbezug als individuell und besonders, zum anderen wird dem aus Liebe resultierenden Selbstvertrauen eine grundlegende Bedeutung für den Selbstbezug zugeschrieben, der als Voraussetzung für die beiden anderen Anerkennungsformen Recht und soziale Wertschätzung gilt.
Recht Während im Anerkennungsfeld der Liebe konkrete Andere am Prozess der Anerkennung beteiligt sind und es sich demnach um eine im engen Sinn intersubjektive Form der Anerkennung handelt, verweisen die beiden Ebenen Recht und soziale Wertschätzung auf Anerkennungsprozesse in gesellschaftlichem Kontext. Damit stellt nicht mehr der konkrete Andere den Orientierungsrahmen dar, sondern der generalisierte Andere, über den sich gesellschaftliche Normen und Werte vermitteln. Während in traditionellen Gesellschaften rechtliche Anerkennung und soziale Wertschätzung eng aneinander gekoppelt waren, sich also sozialer Status und rechtliche Ansprüche bedingten, zeichnen sich moderne Gesellschaften durch eine Trennung dieser beiden Anerkennungsformen aus (ebd.: 179). Aus dieser Trennung resultiert auf der Ebene der rechtlichen Anerkennung in Axel Honneths Ausführungen eine Gleichbehandlung aller Rechtspersonen unabhängig von ihrem sozialen Status. Als solche Rechtssubjekte werden diejenigen angesehen, die fähig sind, moralischen Gesetzmäßigkeiten zuzustimmen und über diese Zustimmung auch die Bereitschaft haben, den Gesetzmäßigkeiten Folge zu leisten (Honneth 1994: 184 ff.).3 Die Entwicklung des bürgerlichen Rechts wird verstanden als ein Prozess der ständigen Ausdehnung von Rechtsformen oder Gültigkeitsbereichen.4 Diese zunehmende Ausdehnung des Geltungsbereichs von Rechten auf immer größere Teile der Gesellschaft ist, so argumentiert Axel Honneth, das Ergebnis eines Kampfes um rechtliche 3 | Diese Sichtweise wurde aus feministischer Perspektive mit Verweis auf das Verhältnis von Gleichheit und Differenz kritisiert. Aus dem Verständnis von rechtlicher Gleichheit erwachse ein Normalisierungsdruck, sich an androzentrische Lebenswelten anzupassen. Ein Überblick über diese Diskussion mit Bezug auf die Anerkennungsebene des Rechts findet sich bei Wagner 2004: 100 ff.. 4 | Hier nimmt Honneth Bezug auf die Entwicklungen der Rechtsgeschichte und die Herausbildung von liberalen Freiheitsrechten im 18. Jahrhundert, die Einführung von politischen Teilnahmerechten im 19. Jahrhundert und die Etablierung von sozialen Wohlfahrtsrechten im 20. Jahrhundert (1994: 187 f.).
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Anerkennung.5 Somit sind Recht und rechtliche Anerkennung nicht statisch, sondern unterliegen Veränderungen. Wie bereits oben angedeutet, resultiert in Honneths Ausführungen aus rechtlicher Anerkennung Selbstachtung (ebd.: 194), indem sich Individuen als mit anderen gleichberechtigt ansehen und im Vertreten ihrer Interessen auf gültige Rechte verweisen können und nicht von der Gnade einer Autorität abhängen.
Soziale Wertschätzung Während Axel Honneths Ausführungen über die rechtliche Anerkennung die Gleichheit der Rechtssubjekte betonen, wird mit den Überlegungen zu sozialer Wertschätzung als dritter Anerkennungsebene eine hierarchische Dimension einbezogen. Gesellschaftliche Wertschätzung bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsmitglieder bezüglich ihrer Fähigkeiten und Leistungen. Grundlage dafür stellt der jeweilige Beitrag zu „kulturellen Standards“ der Gesellschaft dar (Honneth 1994: 209). Im Prozess der sozialen Wertschätzung werden also Bewertungen von Fähigkeiten und Leistungen vor dem Hintergrund dessen vorgenommen, was innerhalb einer Gesellschaft als anerkennenswert gilt. Axel Honneth beschreibt diese Vorstellung von Anerkennenswertem als Orientierungsrahmen, „in dem diejenigen ethischen Werte und Ziele formuliert sind, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft ausmacht“ (Honneth 1994: 197). Ähnlich wie bei der rechtlichen Anerkennung unterliegt auch dieser Orientierungsrahmen Veränderungen. Die jeweils geltenden Ziele sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen in bestimmten historischen Situationen. Leisten Individuen einen Beitrag zur Erlangung dieser ausgehandelten gesellschaftlichen Ziele, wird ihnen soziale Wertschätzung entgegengebracht und sie fühlen sich, in Honneths Worten, „von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als ‚wertvoll‘ anerkannt“ (Honneth 1994: 209). Aus sozialer Wertschätzung folgt Selbstschätzung oder ein positives Selbstwertgefühl. Gerade die Kopplung von Anerkennungsprozessen und Selbstwertgefühl stellt einen wichtigen Gedankengang für die Frage dar, wie Individuen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung umgehen und dies vor allem dann, wenn damit die Zuweisung in hierarchische Strukturen verbunden ist. Für eine solche Untersuchung muss auf theoretischer Ebene die Frage geklärt werden, wie sich soziale Wertschätzung in Handlungen, in wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten oder in wahrgenommene Handlungsbeschränkungen übersetzt. Dafür bieten Honneths Ausführungen zur Anerkennungsform 5 | Als Beispiele nennt Honneth die Ausdehnung der Grundrechte von der männlichen Bevölkerung auch auf Frauen (1994: 188) und den Kampf der schwarzen Bevölkerung in den USA um rechtliche Gleichstellung (ebd.: 196).
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der sozialen Wertschätzung Ansatzpunkte, die ich im Folgenden ausführen werde. In seiner Darstellung des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und positiven Selbstbezügen der Individuen argumentiert Axel Honneth zunächst historisch. Während sich soziale Wertschätzung in der Ständegesellschaft unabhängig von persönlichen Eigenschaften unmittelbar aus der Ständezugehörigkeit ableitete, wurde mit Beginn der Moderne, der Öffnung der Berufe und der zunehmenden Individualisierung soziale Wertschätzung direkt der jeweiligen Leistung zugeordnet und damit an die leistende Person gekoppelt. Anders als in der Ständegesellschaft war mit Beginn der Moderne nicht mehr von vornherein bestimmt, welche Anerkennung jeweils wofür entgegengebracht wird. Soziale Wertschätzung wurde zu einem Bestandteil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, in denen anerkennungswürdige „Leistung[en] gemäß kultureller Standards“ (Honneth 1994: 209) und „verschiedene[r] Formen von Selbstverwirklichung“ (Honneth 1994: 205) bestimmt werden. Die Wertigkeit von Berufen, Tätigkeiten, Leistungen wird in einem „kulturellen Dauerkonflikt“ (Honneth 1994: 205) ausgetragen. Damit ist die Wertigkeit von Leistungen nur aus dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext zu verstehen und an die Zielvorgaben gekoppelt, die sich die Gesellschaften in dem jeweiligen Kontext gegeben haben und über die innerhalb der Gesellschaften Konsens hergestellt wurde. Diese gesellschaftlichen Zielvorgaben stellen in Honneths Augen einen Orientierungsrahmen für Entscheidungen und soziales Handeln dar (Honneth 1994: 196). Die Prozesse sozialer Wertschätzung verlaufen nicht binär zwischen Anerkennen oder Nicht-Anerkennen. Prozesse der sozialen Wertschätzung beinhalten das unterschiedliche Bewerten von Leistungen auf der Basis eines Wertekontinuums, anhand dessen Beiträge zu gesellschaftlich angestrebten Zielen beurteilt werden. Soziale Wertschätzung basiert also auf sozialen Normen, als die die von Axel Honneth formulierten „kulturellen Standards“ (ebd.: 209) verstanden werden können. Zugleich generiert soziale Wertschätzung hierarchische Strukturen, indem sie Leistungen unterschiedliche Wertigkeiten zukommen lässt. Anerkennungsprozesse finden also in hierarchischen Strukturen statt. Darauf verweist auch Nancy Fraser in ihrer Replik auf Axel Honneths Konzeption eines Kampfes um Anerkennung als Motor zur Überwindung sozialer Ungleichheit. Nancy Fraser sieht den Kampf um Anerkennung – ähnlich wie Axel Honneth – durchaus als wichtigen Bestandteil für die Linderung von sozialer Ungleichheit der sozialen Gruppen, die gesellschaftlich keine oder wenig Anerkennung genießen. Anders als Honneth bezieht sie jedoch die Hierarchien, innerhalb derer diese Kämpfe stattfinden, mit in ihre Ausführungen ein. Sie verweist auf materielle Ungleichheit und auf die für einen Kampf um Anerkennung notwendigen ökonomischen Ressourcen. Ent-
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sprechend postulierte sie ökonomische Umverteilung als Voraussetzung für Kämpfe um Anerkennung (vgl. Fraser 2003a, 2003b). Doch Anerkennungsprozesse finden nicht nur in hierarchischen Strukturen statt, sondern Anerkennungsprozesse selbst stellen Hierarchien her. Denn über Anerkennungsprozesse hergestellte Hierarchien werden mit Bezug auf soziale Normen legitimiert und – zumindest für einen bestimmten historischen Kontext – als gesellschaftlich gewollt angesehen. Die Verknüpfung von Leistung und Leistungsträger_innen wird von Axel Honneth als zentrales Moment gesehen, um das Zusammenspiel von gesellschaftlicher Anerkennung und Selbstwertgefühl der Individuen zu verstehen. Über die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Leistung fühlen sich Individuen als wertvoller Teil der Gesellschaft, weil sie die Bestätigung bekommen, einen Beitrag für diese Gesellschaft geleistet zu haben. In diesem Zusammenhang werden Leistungsträger_innen allerdings nicht als an ihre Leistung geknüpft beschrieben, sondern es werden Persönlichkeitsmerkmale relevant gemacht, die für die Erbringung der Leistung als notwendig angesehen werden. Die gesellschaftlichen Ziele, die Honneth als grundlegend für die soziale Wertschätzung von Leistungen annimmt, stellen in seinen Augen auch das „Bezugssystem für die Bewertung von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften […] [dar], weil sich deren sozialer ‚Wert‘ an dem Grad bemißt, in dem sie dazu in der Lage erscheinen, zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen“ (Honneth 1994: 198). Bewertet und sozial wertgeschätzt werden also nicht nur Leistungen, sondern auch „Persönlichkeitseigenschaften“. Dieser Verknüpfung von „Leistungen“ und „Persönlichkeitseigenschaften“ liegt die Vorstellung zugrunde, nur Menschen mit bestimmten „Persönlichkeitseigenschaften“ könnten „Leistungen“ vollbringen, die zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele beitragen (ebd.). Anerkennung der Leistung und Anerkennung der Person, die die Leistung vollbringt, werden somit in engen Zusammenhang gebracht. Nur so lässt sich der Mechanismus nachvollziehen, wie sich soziale Wertschätzung in positiven Selbstbezug übersetzt. Mit dieser Kopplung der Anerkennung von Leistung an die Anerkennung der Person sind einige Implikationen verbunden, auf die Axel Honneth in seinen Ausführungen nicht explizit eingeht, die für meine Fragestellung jedoch relevant sind. Ich komme zurück auf die beiden Berufsgruppen, anhand derer ich Prozesse der sozialen Wertschätzung in dieser Arbeit genauer untersuche: das Friseurhandwerk und die Chirurgie. Die Leistungen der Chirurgie genießen mehr gesellschaftliche Anerkennung als die des Friseurhandwerks. Honneths Argumentation folgend wird damit den erbrachten Leistungen ein unterschiedlicher Beitrag zu gesellschaftlichen Zielen zugeschrieben. Gleichzeitig wird damit den „Persönlichkeitseigenschaften“ von Chirurg_innen mehr soziale Wertschätzung entgegengebracht als denen der Friseur_innen. Unklar bleibt dabei zunächst, welche „Persönlichkeitseigenschaften“ in die
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soziale Wertschätzung einfließen. Geht es um persönliche Voraussetzungen zum Erlernen des Berufs? Oder um die Fähigkeit, den in dem jeweiligen beruflichen Feld geltenden Habitus anzunehmen? Oder ihn bereits zu haben? In Honneths Text wird weder ausgeführt, welche „Persönlichkeitseigenschaften“ gemeint sind, noch, ob und wie sie erworben werden können. Es stellt sich die Frage, welche Rolle Geschlechterdifferenzierung hinsichtlich der „Persönlichkeitseigenschaften“ spielen. Frauen in ‚Männerberufen‘ genießen weniger soziale Wertschätzung als Männer in ‚Männerberufen‘, auch wenn die ausgeführte Leistung dieselbe ist.6 Somit geht die Konzeption der „Persönlichkeitsmerkmale“ über die konkret erbrachte „Leistung“ hinaus, beziehungsweise steht die Anerkennung von Leistungen in Abhängigkeit davon, wer sie erbringt. Das soeben erwähnte Beispiel der geringeren Anerkennung von Frauen in männlich codierten Berufen würde Axel Honneth als möglichen Auslöser für soziale Konflikte beschreiben (1994: 256 ff.). Deuten Frauen die geringere soziale Wertschätzung als Missachtung, könnte dies Auslöser für einen Kampf um Anerkennung sein. In Honneths Konzept bedeutet der Entzug von sozialer Wertschätzung eine Erfahrung der Wertlosigkeit (Honneth 1994: 217 ff.). Die Individuen stellen ihre Leistung und sich selbst als Personen in Frage. Die Zwischenschaltung dieser Auswirkungen von sozialer Missachtung oder nicht entgegengebrachter gesellschaftlicher Wertschätzung auf das Selbst erlaubt es Honneth, aus Missachtungserfahrungen einen Motor für Kämpfe um Anerkennung zu konzipieren. Den Ausgangspunkt für die sozialen Konflikte bildet damit nicht der Unmut über gesellschaftliche Verhältnisse, sondern das fehlende Selbstwertgefühl, das Honneth gleichsetzt mit dem Gefühl der „sozialen Scham“ (ebd.: 219). Auslöser sind individuelle Erfahrungen von Missachtung, die jedoch nicht als vereinzelte Erfahrung gedeutet werden, sondern als „Schlüsselerlebnisse einer ganzen Gruppe“ (ebd.: 260), so dass sie als „handlungsleitende Motive in die kollektive Forderung nach erweiterten Anerkennungsbeziehungen einfließen können“ (ebd.). In Honneths Perspektive lösen Erfahrungen der Missachtung somit einen produktiven Prozess aus, der zu gesellschaftlicher Veränderung führt. Der Kampf um Anerkennung beginnt als eine Art kollektiver Kampf um das Selbst. Wie oben ausgeführt, beschreibt soziale Wertschätzung kein binäres Konzept von Anerkennung versus Missachtung, sondern ein Kontinuum an unterschiedlich hoher sozialer Wertschätzung. Frauen in ‚Männerberufen‘, um dieses Beispiel noch einmal aufzugreifen, wird in diesen Berufen nicht die Anerkennung entzogen, sie erhalten weniger als ihre männlichen Kollegen oder müssen für dasselbe Maß an sozialer Wertschätzung mehr leisten. Daran 6 | Ich werde auf diesen Aspekt noch ausführlich in den Abschnitten 3.2 und 3.3 eingehen.
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schließt die Frage an, ob in den konzipierten Kämpfen die eigene Leistung als etwas Wertvolles, als etwas Wertvolleres oder als genauso wertvoll wie anerkannt werden soll. Unklar ist zudem, welche Rückwirkungen ein Kampf um Anerkennung der „Leistung“ auf die Wertschätzung von „Persönlichkeitseigenschaften“ hat. Axel Honneth geht darauf nicht ein, vermutlich weil er von einer Gleichzeitigkeit ausgeht. Doch ein Mehr an Anerkennung der Leistung muss nicht unbedingt mit einem Mehr an Anerkennung der „Persönlichkeitseigenschaften“ verbunden sein. Der Kampf um Anerkennung der Leistung von Frauen in Männerberufen ist oftmals verbunden mit einem Infragestellen von Weiblichkeiten, wodurch der Kampf um Anerkennung zu einem Konflikt von Selbstbezügen werden kann.7 Axel Honneths Konzept der sozialen Wertschätzung und dem damit verbundenen Selbstwertgefühl beschreibt also ein Denkmodell, mit dem das abstrakte Verständnis von sozialer Wertschätzung in die Interaktionsebene von Individuen übersetzt werden kann. Wesentlich dabei war, gesellschaftliche Anerkennung als Bewertung von Leistungen und deren Beitrag zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele zu verstehen und diese an persönliche Eigenschaften der Leistungsträger_innen zu koppeln. Über das Einbeziehen der Geschlechterperspektive wurden jedoch die Grenzen dieses Denkmodells deutlich. Die Synchronität von sozialer Wertschätzung, „Leistung“ und „Persönlichkeitseigenschaften“ lässt sich dann nicht mehr so einfach aufrechterhalten. „Leistung“ und „Persönlichkeitseigenschaften“ reagieren nicht unbedingt in gleicher Weise auf soziale Wertschätzung, wenn mit der Wertschätzung der Leistung ein Infragestellen von Weiblichkeiten oder Männlichkeiten verbunden ist. Prozesse sozialer Wertschätzung müssen somit nicht unbedingt positiven Selbstbezug zur Folge haben, wie Honneth das beschreibt. Sie können vielmehr bestätigende und abwertende Anerkennung gleichzeitig bedeuten – abhängig davon, welcher Aspekt der „Persönlichkeitseigenschaften“ angesprochen wird. Um soziale Wertschätzung in Verbindung mit Geschlechterverhältnissen denken zu können, ist somit eine geschlechtertheoretische Erweiterung notwendig. Dazu werde ich im folgenden Abschnitt den Ansatz des doing gender ausführlicher beschreiben und aufzeigen, dass Anerkennung auch in diesem Konzept relevant wird, aber noch nicht systematisch mitgedacht wurde. Ich fokussiere vor dem Hintergrund der Fragestellung auf doing gender while doing work, also auf die Herstellung von Geschlechterdifferenz in der beruflichen Arbeitsteilung.
7 | Darauf werde ich in Abschnitt 3.2 näher eingehen. Ähnliches gilt für Männer in ‚Frauenberufen‘ (vgl. z. B. Buschmeyer 2013).
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A nerk annte U nterscheidungen – D oing gender while doing work Die Untersuchungen zur geschlechterdifferenzierenden Segregation auf dem Arbeitsmarkt haben eine mittlerweile mehrere Jahrzehnte andauernde Geschichte8, in die im Laufe der Zeit unterschiedliche theoretische Konzepte eingeflossen sind. Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, die Einteilung der Berufe in Frauen- und Männerberufe folge auf Sozialisation beruhenden unterschiedlichen Fähigkeiten von Frauen und Männern. Das von Ilona Ostner und Elisabeth Beck-Gernsheim in den 1970er Jahren entwickelt Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ (vgl. Beck-Gernsheim und Ostner 1979; Ostner 1991) stellte dafür die Grundlage dar. Für meine Analysen gehe ich nicht von einem Unterschied zwischen Männern und Frauen aus, sondern folge Ansätzen, die nach dem Zustandekommen der Unterscheidung fragen. Hierfür lieferte der Ansatz des doing gender (vgl. West und Zimmermann 1987) den Impuls für ein analytisches Umdenken. Da dieser Ansatz für meine Arbeit wesentlich ist, werde ich ihn im Folgenden kurz darstellen. Der Aufsatz von Regine Gildermeister und Angelika Wetterer „Wie Geschlechter gemacht werden“ (1992) trug maßgeblich dazu bei, auch im deutschsprachigen Raum Geschlechterdifferenzen neu zu denken. Ausgehend von einer kritischen Diskussion der sex-gender-Unterscheidung machen die beiden Autorinnen deutlich, dass Geschlechterdifferenzen nicht naturgegeben sind, sondern erklärt werden müssen. Anhand von Wechseln der geschlechtlichen Zuordnung von Berufen oder beruflicher Tätigkeiten weisen sie die Herstellungsleistung von geschlechterdifferenzierender Arbeitsteilung nach. Sie zeigen, wie kontingent die Zuschreibungen ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ verwendet werden. Dieselben Attribute können je nach Kontext als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ gelten, wichtig wird vor allem der Moment der Unterscheidung. Gayle Rubin spricht in diesem Zusammenhang von einem „sameness taboo“ (Rubin 1975: 179) als Insitutionalisierung der Geschlechterdifferenzierung. Über diese Zuschreibungen werden Geschlechterdifferenzen hergestellt, es findet doing gender statt. In diesen Prozessen perpetuiert sich Differenzwissen, also Vorstellungen davon, was bezogen auf Arbeitsleistungen als ‚typisch männlich‘ beziehungsweise ‚typisch weiblich‘ angesehen wird. Über doing gender werden Differenzen hergestellt, verfestigt und naturalisiert. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer gehen dabei von einem kontinuierlichen Prozess der Differenzierung aus und von einer Gleichzeitigkeit bzw. Gleichursprünglichkeit von Differenz und Hierarchie (Gildemeister und Wetterer 1992: 229). Die 8 | Für einen Überblick siehe (Gottschall 2000: 137 ff; Heintz u. a. 1997; Teubner 2008; Wetterer 2002).
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Zuordnung von Berufen und beruflichen Tätigkeiten in das Raster ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ macht die Tätigkeiten unterscheidbar und ordnet sie gleichzeitig in die immer selbe Hierarchie ein: Als männlich codierte Berufe oder berufliche Tätigkeiten genießen mehr Ansehen. Sie haben einen höheren gesellschaftlichen Status als entsprechende Berufe mit weiblicher Codierung (ebd.: 223). Während die beiden Autorinnen in ihrem eben beschriebenen Text davon ausgehen, dass die Feminisierung von Tätigkeiten mit Statusverlust verbunden ist, beschreibt Angelika Wetterer später auch die umgekehrte Dynamik: Der Statusverlust eines Berufs führt zu Feminisierung, da – so ihre Argumentation – der Beruf für Männer weniger attraktiv und damit offen für Frauen wird (Wetterer 2002: 97 ff.). Berufen wird eine geschlechtliche Codierung zugeschrieben, die sie differenziert und hierarchisiert. Über das doing gender wird in den Herstellungsprozess der so genannten horizontalen Segregation eine hierarchische Ebene eingezogen. Die Unterscheidung in horizontale und und vertikale Segregation (geschlechterdifferenzierende Hierarchie in Unternehmen) erscheint damit irreführend. Die geschlechterdifferenzierende Einordnung der Berufe beschreibt keine horizontale Struktur, sondern über die Geschlechterhierarchie ebenfalls eine vertikale (Wetterer 2002: 83). Angelika Wetterer hat in ihren Forschungen neben der geschlechterdifferenzierenden Segregation zwischen Berufen zudem eine intraprofessionelle Arbeitsteilung herausgearbeitet. Es werden also nicht nur Berufe, sondern innerhalb der Berufe auch Tätigkeiten geschlechtlich codiert, differenziert und entsprechend hierarchisiert (Wetterer 2002: 373 ff.). Der Herstellungsprozess von Geschlechterdifferenzen in der beruflichen Arbeitsteilung erfolgt in Interaktionen, in die Wissen über Geschlechternormen sowie über Männlichkeiten und Weiblichkeiten einfließen. Soziale Akteur_innen präsentieren sich als männlich oder weiblich, indem sie implizites Wissen darüber aktivieren, was ihr Gegenüber jeweils als männlich oder weiblich interpretieren wird. Studien zu Transsexuellen – hierfür grundlegend die Agnes-Studie von Harold Garfinkel (vgl. Garfinkel 1967) – zeigen die Notwendigkeit, Geschlechterpräsentation erst zu lernen. Diese Analysen verdeutlichen die Herstellungsleistung dichotomer Geschlechterstrukturen, die lediglich die Ausprägungen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ zulassen. Dabei existiert gesellschaftlich kein feststehendes Wissen darüber, was als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ angesehen wird. Normierungen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind Teil gesellschaftlicher Aushandlungs- und Konstruktionsprozesse und unterliegen somit Deutungen und Wandlungen. Diese liegen als implizites Wissen den Interaktionsprozessen des doing gender zugrunde. In den Herstellungsprozess von Zweigeschlechtlichkeit fließen zwei zentrale Momente ein: Die Geschlechtsdarstellung, also die eigene Präsentation als vergeschlechtlichtes Individuum, und die Geschlechtsattribution, also die
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Zuweisung in die binäre Struktur der Geschlechterverhältnisse durch andere Personen (Villa 2006: 89 ff.). In der Interaktion funktioniert dies wechselseitig, da die jeweiligen Akteur_innen immer beides gleichzeitig tun. Sie stellen sich selbst dar, attribuieren die Darstellung des Gegenübers und werden von dort attribuiert. Der Prozess des doing gender beschreibt also ein Perpetuum mobile von Selbst- und Fremdeinordnung. Ein ‚gelungenes‘ doing gender, das als Ergebnis die intendierte Lesart hat, setzt einen geteilten normativen Rahmen voraus, auf den präreflexiv Bezug genommen wird. Die Akteur_innen müssen ähnliche Vorstellungen davon haben, was sie jeweils als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ verstehen und wie beispielsweise Kleidung, Körperhaltungen, Frisuren, Körperbehaarung, Sprache, Berufe etc. innerhalb des zweigeschlechtlichen Systems eingeordnet werden. Denn eine nicht klar einzuordnende Geschlechtsdarstellung hat Irritationen zur Folge und stellt sowohl die geschlechtliche Einordnung als auch das Geschlechterwissen der irritierenden Person in Frage (ebd.: 93). Der Prozess des doing gender beinhaltet somit die Konstruktion von Geschlechterdifferenzierungen und stellt gleichzeitig vergeschlechtlichte Selbstbezüge her. Konkreter: Stelle ich mich unter Rückgriff auf entsprechende Ressourcen wie eben Kleider, Frisur etc. als ‚weiblich‘ dar und werde von meinem Gegenüber entsprechend attribuiert, gelingt mir ein Selbstbezug als ‚weiblich‘ und ich reproduziere die geschlechtlich codierte Lesart meiner verwendeten Ressourcen. Passen Darstellung und Attribution nicht zusammen, müssen Vergeschlechtlichung und Selbstbezug neu verhandelt werden. Dies arbeitete Angelika Wetterer mit Bezug auf die Studie zu Soldatinnen der US-Marines und zu männlichen Krankenpflegern von Christine Williams heraus (Wetterer 2002: 134 ff.). Es handelt sich in beiden Fällen um Berufe, die einer relativ klaren geschlechtlichen Codierung unterliegen. Die Armee ist männlich codiert, Krankenpflege weiblich. Ergreifen nun Frauen den Männerberuf und umgekehrt, passt die geschlechtliche Codierung des Berufes nicht mit der Geschlechterdarstellung der Personen zusammen. Die Anerkennung der Weiblichkeit der Soldatinnen ist über deren Berufswahl ebenso bedroht wie die der Männlichkeit der Krankenpfleger. Im Ergebnis zeigen beide eine ähnliche Umgangsweise mit diesem Auseinanderfallen von Darstellung und Attribution: Die Soldatinnen unterstreichen in ihrer Darstellung ihre Weiblichkeit, die Krankenpfleger ihre Männlichkeit. Dies geschieht, um sich der jeweiligen Vergeschlechtlichung zu vergewissern und sich als anerkennbar zu präsentieren. Gleichzeitig wird mit dieser Praxis die binäre Geschlechterdifferenzierung reorganisiert, um, wie es Angelika Wetterer ausdrückt, „die Kongruenz von Geschlechtszugehörigkeit und Berufszugehörigkeit alltagspraktisch auch dann noch herzustellen, wenn das Geschlecht der Akteure zu dem ihres Berufs gerade nicht passt“ (Wetterer 2002: 135).
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Während Regine Gildemeister und Angelika Wetterer in ihren oben genannten Arbeiten zum doing gender while doing work vor allem auf die geschlechtliche Codierung von Berufen und beruflichen Tätigkeiten in das zweigeschlechtliche System eingegangen sind, stellt sich die Frage, welche Männlichkeiten und Weiblichkeiten mit diesen geschlechtlichen Codierungen jeweils verbunden sind. Das gesellschaftliche Bild einer Friseurin folgt sicherlich einem anderen Weiblichkeitsentwurf als das einer Chirurgin, Gleiches lässt sich für die entsprechenden Männlichkeitsentwürfe in diesen beiden Berufen sagen. Die binäre Unterscheidung in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ beschreibt bereits eine Hierarchisierung, diese wird noch weiter ausdifferenziert, wenn die Komplexität von Männlichkeiten und Weiblichkeiten Berücksichtigung findet. In den letzten Jahren nahm die Forschung zu Männlichkeiten, also zur Aushandlung und Differenzierung von Männlichkeiten innerhalb der Gender Studies zu.9 Einen Referenzpunkt für diese Forschungsrichtung stellt das von Raewyn Connell vorgelegte Konzept der hegemonialen Männlichkeit dar. Hegemoniale Männlichkeit beschreibt nicht eine aus statistischen Mehrheiten abgeleitete Normalität, sondern eine dominante Norm, an der sich Aushandlungen von Männlichkeit orientieren.10 Hegemoniale Männlichkeit stellt eine soziale Praxis dar, die Raewyn Connell als „momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats“ (Connell 1999: 98) bezeichnet. Der Herstellung von hegemonialer Männlichkeit liegt die Unterordnung anderer Männlichkeiten ebenso zugrunde wie das Stützen dieser Praxis durch andere Männlichkeiten. Raewyn Connell beschreibt diese Handlungsmuster als untergeordntete, komplizenhafte und marginalisierte Männlichkeiten. Diese beziehen sich auf soziale Positionen wie ‚Weißsein‘ und die Zugehörigkeit zur Mittelschicht (ebd.: 99 f.). Der Konstruktionscharakter der Geschlechterdifferenzierung, der im doing gender Ausdruck findet, lässt sich mit dieser Perspektive auf die Herstellung von Männlichkeiten, das doing masculinity, übertragen. Dabei spielen, so arbeitet Michael Meuser heraus, homosoziale Räume wie Fangruppen und Fußballmannschaften, aber auch männlich codierte Berufe ein wichtige Rolle für die Bestätigung von Männlichkeiten (vgl. Meuser 2001). In der Interaktion des doing masculinity ist also die Vergeschlechtlichung der beteiligten Personen von Bedeutung: Frauen bestätigen Männer als Männer mit unterschiedlichen Männlichkeiten, Männer bestätigen Männlichkeiten.
9 | Für einen Überblick über Männlichkeit in der Soziologie siehe Baur und Luedtke 2008; Bereswill u. a. 2007; Meuser 2006. 10 | Für die begriffliche Unterscheidung von Normalität und Normativität siehe Link 2006: 17 ff..
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Zur Herstellung von Weiblichkeiten, zum doing femininity, existiert bislang noch wenig Forschung. Innerhalb des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit ist eine entsprechende hegemoniale Weiblichkeit nicht denkbar, da dies dem zugrunde liegenden Verständnis von männlicher Hegemonie widerspräche (Meuser 2006: 103). Die Bestätigung der hegemonialen Männlichkeit durch Frauen beschreibt Raewyn Connell als ‚betonte‘ Weiblichkeit, womit „das Einverständnis mit der eigenen Unterordnung und die Orientierung an Interessen und Wünschen des Mannes“ (ebd.: 101) gemeint ist. Die ‚betonte‘ Weiblichkeit bezieht sich also zunächst auf die Unterordnung von Frauen unter Männer. Doch auch zwischen unterschiedlichen Weiblichkeitsentwürfen können Machtbeziehungen und Hierarchien bestehen. Wichtig ist dabei die doppelte Machtförmigkeit: zum einen im Verhältnis zu Männlichkeiten und zum anderen im Verhältnis zu anderen Weiblichkeiten.11 Es zeigt sich also, dass über doing gender nicht nur Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch unterschiedliche Männlichkeiten und Weiblichkeiten hergestellt werden. Wird Geschlecht nicht als gegebener Unterschied verstanden, sondern als Ergebnis sozialer Praxis, ergeben sich Anknüpfungspunkte an das in Abschnitt 3.1 dargestellte Konzept der sozialen Wertschätzung: Ebenso wie soziale Wertschätzung bezieht sich doing gender auf soziale Normen, genauer gesagt auf Geschlechternormen. Doing gender findet in Interaktionen statt und die Geschlechtsdarstellung bedarf, wie ich ausgeführt habe, der Bestätigung durch Andere. Es reicht nicht aus, mich als Frau oder Mann darzustellen, diese Darstellung muss von Anderen bestätigt werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erweist sich das Konzept des doing gender als geeignet, um die Ausführungen zu sozialer Wertschätzung um die geschlechtertheoretische Perspektive zu ergänzen. Dies werde ich im folgenden Abschnitt 3.3 ausführen.
A nerkennungspr ak tiken – D oing gendered recognition Soziale Wertschätzung beschreibt, wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, gesellschaftliche Anerkennung, die sich auf soziale Normen bezieht. An diesen sozialen Normen, verstanden als ausgehandelte gesellschaftliche Ziele, werden Leistungen hinsichtlich ihres Beitrags zum Erreichen dieser Ziele bewertet. Dieser Prozess hat Hierarchien zur Folge, denn er bezieht sich auf ein Kontinuum anerkennbarer Leistungen, die als mehr oder weniger wertvoll ausgehan11 | Für eine Diskussion von Ansätzen, die verschiedene Weiblichkeiten und die Machtverhältnisse zwischen ihnen konzipieren, siehe Charlebois 2011: 21 ff.; Messerschmidt 2012: 38 ff..
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delt werden. Über die Kopplung von erbrachter Leistung und Leistungsträger_ innen weisen Prozesse sozialer Wertschätzung den Leistungsträger_innen Positionen innerhalb der hergestellten Hierarchien zu. Gleichzeitig übersetzt sich soziale Wertschätzung über die Kopplung von Leistung und Leistungsträger_innen von einem zunächst abstrakten Verständnis in Selbstwertgefühl. Dieses Selbstwertgefühl stellt sich allerdings nicht nur über die soziale Wertschätzung der erbrachten Leistung her, es werden zudem Persönlichkeitseigenschaften wertgeschätzt, die an das Erbringen der Leistung gebunden sind. Mit Bezug auf Geschlechterverhältnisse habe ich diesen so konzipierten Prozess sozialer Wertschätzung kritisch diskutiert, indem ich die Synchronität von sozialer Wertschätzung von Leistungen, Leistungsträger_innen und Persönlichkeitseigenschaften hinterfragt habe. Am Beispiel von Frauen in ‚Männerberufen‘ habe ich gezeigt, dass ein Mehr an Anerkennung von Leistung mit einem Weniger an Anerkennung von Weiblichkeiten verbunden sein kann. Ergreifen Frauen einen männlich codierten Beruf, so hat dies Rückwirkungen auf die soziale Wertschätzung ihrer Weiblichkeit. Analoges gilt sowohl für Männer in einem weiblich codierten Berufsfeld als auch für Männer und Frauen, die den geschlechtlich ‚passenden‘ Beruf ergreifen. Dies lässt sich allein mit Honneths Ausführungen zu sozialer Wertschätzung nicht denken. Um dies theoretisch zu konzipieren, wird der doing gender-Ansatz relevant. Die Interaktionen des doing gender beziehen sich auf Geschlechternormen, die nicht losgelöst von sozialen Normen gedacht werden können. In die Aushandlungen „kultureller Standards“ (Honneth 1994: 209) fließen Geschlechternormen mit ein. Berufe und berufliche Tätigkeiten werden in das zweigeschlechtliche System eingeordnet und nicht zuletzt unterliegt die Trennung von Produktion und Reproduktion ebenfalls einer geschlechtlichen Zuordnung. Mit der sozialen Wertschätzung von Leistungen werden also nicht nur die jeweiligen Leistungen anerkannt, sondern auch deren geschlechtliche Codierung und damit verbunden die geschlechtliche Zuordnung der Leistungserbringer_innen. Mit dem Erbringen dieser Leistungen wiederum findet gleichzeitig eine geschlechtliche Darstellung statt, die entsprechend mit anerkannt wird oder eben nicht. Konkret: Ergreift eine Frau den Friseurberuf, wird ihr Geschlecht nicht thematisiert, ergreift sie hingegen den Beruf der Chirurgin, muss sie sich unter Umständen erklären. Oder: Wird eine berufstätige Frau Mutter und verlässt für einen längeren Zeitraum ihren Beruf, stellt sie eine bestimmte Form von Weiblichkeit und Mütterlichkeit dar, die je nach Kontext sozial wertgeschätzt wird oder nicht. Über Prozesse der sozialen Wertschätzung werden Geschlechterdifferenzierungen und -hierarchisierungen hergestellt, wenn Geschlechternormen als Bestandteil von sozialen Normen gesehen werden. Somit ist doing gender in Prozessen sozialer Wertschätzung enthalten. Umgekehrt ist auch soziale Anerkennung in Prozessen des doing gender verankert. Denn, wie bereits ausge-
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führt, Geschlechtsdarstellung bedarf der Bestätigung. Mit dem Einbeziehen von sozialer Wertschätzung in doing gender werden somit nicht nur die Herstellungsprozesse von Geschlechterdifferenz in den Blick genommen. Das Zusammendenken dieser beiden Ansätze verschiebt die Perspektive auf Herstellungsprozesse sozialer Wertschätzung. Über das Einbeziehen der Geschlechterperspektive beschreiben Prozesse sozialer Wertschätzung nicht nur ein gesellschaftliches Anerkannt-Werden beziehungsweise mehr oder weniger Anerkannt-Werden, sondern auch ein Anerkannt-Werden als. Das Konzept des doing schließt eine Wechselwirkung aus Anerkennen und Anerkannt-Werden ein und verweist auf die Gestaltungsmöglichkeit, möglicherweise sogar eine Gestaltungsnotwendigkeit der Individuen innerhalb von Anerkennungsprozessen. Denn, das machen die oben ausgeführten Beispiele deutlich, aus dem Bezug auf unterschiedliche soziale Normen ergeben sich Widersprüchlichkeiten, auf die Individuen reagieren. Aus dem systematischen Einbeziehen der geschlechtertheoretischen Perspektive lässt sich somit der Begriff des doing gendered recognition entwickeln. Auch soziale Wertschätzung als gesellschaftliche Dimension von Anerkennung lässt sich somit als soziale Interaktion verstehen, in die normatives Wissen und Hierarchiewissen einfließen und immer wieder reproduziert werden. Anerkennung findet somit immer statt. Zudem werden mit der anerkennungstheoretischen Perspektive über die Geschlechterhierarchie hinausgehende Machtverhältnisse in doing gender einbezogen und mitgedacht. Mit diesem Perspektivwechsel wird das Konzept sozialer Wertschätzung anwendbar für die nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in hierarchischen Strukturen. Axel Honneths Koppelung von sozialer Wertschätzung an positiven Selbstbezug, also Selbstwertgefühl (vg. Abschnitt 3.1), bleibt dafür zu abstrakt und zu eindimensional. Mit dem hier vorgestellten Zusammendenken von sozialer Wertschätzung und doing gender werden unterschiedliche Handlungsoptionen denkbar. Es lassen sich Bezüge zu sozialen Normen thematisieren und rekonstruieren. Und es lassen sich hierarchische Verhältnisse zwischen denen, die anerkennen, und denen, die anerkannt werden, bestimmen. Damit lässt sich das Mehr oder Weniger an sozialer Wertschätzung auch machttheoretisch analysieren. Aufgrund der bisherigen Überlegungen verstehe ich Anerkennung in dieser Arbeit als interaktive soziale Praxis. Anerkennung lässt sich als wissensbasiertes Handeln beschreiben, das immer stattfindet. In die Praxis der Anerkennnung fließt Wissen über Normen und Hierarchien ein, ebenso Wissen darüber, welche Formen von Anerkennen oder Nicht-Anerkennen erwartet werden können. Anerkennung lässt sich somit als Verhaltensroutine, als soziales Know-how (Reckwitz 2003: 289), verstehen, das sich je nach Kontext durchaus unterschiedlich gestalten kann. Wie sich zeigen wird, sind in diese Verhaltensroutinen Macht und eigenmächtige Aneignungen eingeschrieben.
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Im Folgenden wird Anerkennung somit als Anerkennungspraxis in Anlehnung an die Theorien sozialer Praxis (für einen Überblick vgl. Reckwitz 2003) verstanden. Mit dem eben beschriebenen Perspektivwechsel sind noch nicht alle theoretischen Fragen beantwortet. Im Gegenteil, es entstehen neue: Können alle Individuen immer Anerkennung entgegenbringen? Wer ermächtigt sie dazu, Anerkennung auszusprechen? Muss Anerkennung immer angenommen oder kann sie auch zurückgewiesen werden? Wovon hängt das ab? Werden Individuen nur dann anerkannt, wenn sie es einfordern? Wird Anerkennung erst dann produktiv, wenn sie sprachlich zum Ausdruck gebracht wird? Oder findet Anerkennung im Prinzip permanent statt, indem Individuen ihre Handlungen an Vorstellungen davon orientieren, was in einer Gesellschaft als anerkannt und anerkennungswürdig gilt? Damit wäre Anerkennung – neben der konkreten sozialen Interaktion – auch eine Form von Wissen, die Handlungsräume absteckt und damit eingrenzt. Somit würde Anerkennung unter Umständen auch ohne soziale Interaktion wirksam. Diese Fragen lassen sich in drei Fragenkomplexe zusammenfassen, mithilfe derer sich Anerkennungspraktiken analysieren lassen:
Was wird anerkannt? Was wird von den Individuen als „kultureller Standard“ gedeutet und wie wird dieser zum Orientierungsrahmen für Anerkennung? Wer erkennt an? Wie lassen sich Anerkennungspraktiken hinsichtlich sozialer Wertschätzung konkret beschreiben? Wer wird anerkannt? Was entsteht aus Anerkennung? Ein Selbstbezug? Unterschiedliche Selbstbezüge? Haben Individuen hierbei Möglichkeiten der Selbstermächtigung? Ich werde diese Fragen im folgenden Kapitel 4 zunächst theoretisch bearbeiten, um dann in Kapitel 5 auf die Übertragbarkeit der theoretischen Ergebnisse auf die empirische Analyse einzugehen.
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Anerkennung – Selbstbezüge – Subjektivierung „Ich hab mich da einfach ein bisschen drüber lustig gemacht, weil ich mich nicht als Rabenmutter fühle.“ (Dagmar Camer)
Für die Analyse von Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung und der Fragenkomplexe – Was wird anerkannt? Wer erkennt an? Wer wird anerkannt? – werde ich in diesem Kapitel die bisher ausgeführte theoretische Basis erweitern. Um diese Fragenkomplexe zu konkretisieren, greife ich der Empirie etwas vor, indem ich mich auf ein Zitat aus einem der Interviews beziehe. Dagmar Cramer, deren Fallanalyse ich in Abschnitt 6.1 ausführlich darstelle, ist Chirurgin und arbeitet als Stationsärztin in Vollzeit in der chirurgischen Abteilung einer Klinik. Sie hat drei Kinder, die Erziehungsaufgaben hat ihr Mann übernommen. Im Interview erzählt Dagmar Cramer, dass sie aufgrund ihrer Vollzeittätigkeit immer wieder als ‚Rabenmutter‘ bezeichnet wurde. Auf die Frage, wie sie mit dieser Bezeichnung umgegangen sei, sagt sie einfach: „Ich hab mich da einfach ein bisschen drüber lustig gemacht, weil ich mich nicht als Rabenmutter fühle.“ An dieser Stelle soll das Zitat nicht ausführlich analysiert und interpretiert werden.1 Hier soll es zunächst nur dazu dienen, die unterschiedlichen Dimensionen von Anerkennungspraktiken zu verdeutlichen. Dagmar Cramer hat als in Vollzeit erwerbstätige Mutter von drei Kindern einen Lebensentwurf gewählt, der offensichtlich nicht überall auf Anerkennung stößt. Aufgrund ihrer Entscheidung, trotz der Kinder weiter in Vollzeit tätig zu sein, wird ihr die Kompetenz als ‚gute Mutter‘ abgesprochen. Diejenigen, die sie als ‚Rabenmutter‘ bezeichnen, sehen das nicht nur selbst so, sondern fühlen sich dazu aufgerufen, ihr das zu vermitteln. Was ermächtigt sie dazu, Dagmar Cramer so anzusprechen? Worauf beziehen sie sich dabei? Dagmar Cramers Lebensentwurf stellt sich als rechtfertigungsbedürftig heraus, weil er sich offenbar von dem unterscheidet, was als gesellschaftlich an1 | Dies wird in der Fallbeschreibung im Zusammenhang mit der Anerkennung als Mutter in Abschnitt 6.1.6 geschehen.
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erkannt gilt. Als Reaktion macht sich Dagmar Cramer über diejenigen lustig, die sie als ‚Rabenmutter‘ ansprechen, und sagt, sie fühle sich nicht als solche. Vor welchem Hintergrund kann sie das tun? Auf welche Ressourcen kann sie dabei zurückgreifen? Dagmar Cramer wird zwar die Anerkennung als ‚gute Mutter‘ abgesprochen, gleichzeitig erfährt sie durchaus, wie sich aus ihrer Erzählung rekonstruieren lässt, Anerkennung über ihren Beruf.2 Kann sie sich lustig machen, weil sie als Chirurgin ein anerkannte Position bezieht? Können unterschiedliche soziale Wertschätzungen gegeneinander aufgewogen werden? Aus diesen Fragen wird deutlich, dass für die Analyse von Anerkennungspraktiken die gleichzeitige Betrachtung unterschiedlicher Lebensbereiche notwendig ist. Doch in welchem Verhältnis stehen diese Bereiche zueinander? Sind sie alle gleichwertig? Gibt es Hierarchien zwischen ihnen? Die Frage danach, was anerkannt wird, muss gerade vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen komplexer gedacht werden. Dies hat Rückwirkungen auf Anerkennungspraktiken. Diesen Zusammenhang werde ich in Abschnitt 4.1 ausführen. Daran anschließend stellt sich die Frage, wie Anerkennende in Anerkennnungspraktiken konzipiert werden können. In den Ausführungen zu sozialer Wertschätzung in Abschnitt 3.1 wurden Anerkennende mit Bezug auf Mead als konkrete und generalisierte Andere beschrieben. Im Zusammenhang mit sozialer Wertschätzung stellt sich die Frage, wen die Menschen repräsentieren, die Dagmar Cramer als ‚Rabenmutter‘ bezeichnen. Stellen sie konkrete Andere dar, weil sie ihre geringe soziale Wertschätzung in der direkten Interaktion zum Ausdruck bringen? Oder verkörpern sie verallgemeinerte Andere, weil sie als Repräsentant_innen eines bestimmten Verständnisses von Mütterlichkeit sprechen? Welche Möglichkeiten der Anerkennung beziehungsweise des Entgegenbringens geringer sozialer Wertschätzung schreibt Dagmar Cramer ihnen zu? Über wen hat sich bei Dagmar Cramer der Selbstbezug vermittelt, keine ‚Rabenmutter‘ zu sein? Diese Fragen zum Verhältnis von konkreten und verallgemeinerten Anderen bearbeite ich in Abschnitt 4.2. Dort werde ich zudem auf die Beziehungen zwischen Anerkennenden und denjenigen, denen Anerkennung entgegengebracht wird, eingehen. Auch in diese Beziehungen fließen, wie sich zeigen wird, Hierarchien ein, die für Anerkennungspraktiken relevant werden. Dagmar Cramer wird in diesem Zitat als Mutter und als Chirurgin unterschiedliche, sogar gegensätzliche soziale Wertschätzung entgegengebracht. Was bedeutet das für ihren Selbstbezug? In ihrem Fall müsste ein widersprüchlicher Selbstbezug vorliegen. In ihrem Beruf findet sie Anerkennung. Gleichzeitig wird ihr Muttersein abgewertet. Für beide Felder müssten zudem 2 | Darauf gehe ich in Abschnitt 6.1.3 ausführlich ein.
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unterschiedliche Anerkennungspraktiken vorliegen. Diese Ausführungen deuten bereits an, dass für die Analyse von Anerkennungspraktiken eine Pluralisierung von Selbstbezügen denkbar werden muss. Dagmar Cramer wird nicht als vollständige Person mehr oder weniger sozial wertgeschätzt, sondern in bestimmten Positionen, hier als Mutter oder als Chirurgin. Dies wird theoretisch konzeptionalisierbar, wenn Anerkennungspraktiken als Praktiken der Subjektivierung verstanden und damit verschiedene, sich auch widersprechende Subjektpostitionen gedacht werden können. Diese Überlegungen werde ich in Abschnitt 4.3 darstellen. Mit dem Subjektivierungsgedanken verabschiede ich mich von dem Verständnis eines einheitlichen Selbst, auf das in den Konzepten sozialer Wertschätzung Bezug genommen wird (Honneth 1994: 148 ff.) Vor dem Hintergrund der Ausführungen in den Abschnitten 4.1 bis 4.3 werde ich in Abschnitt 4.4 den Ansatz von Anerkennung als Adressierung (Ricken 2013: 92 ff.) darstellen. Diesem liegt ein subjektivierungstheoretisches Verständnis zugrunde und er bietet eine theoretische Grundlage für die empirische Analyse meiner Fragestellung an.
W as wird anerk annt ? – A nerkennung und P lur alisierung Die Frage dieses Abschnitts – Was wird anerkannt? – diskutiere ich, wie soeben angedeutet, vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen. Gabriele Wagner hat sich in ihrem Buch „Anerkennung und Individualisierung“ mit diesem Spannungsverhältnis beschäftigt. Ihre Überlegungen, auf die ich mich im Folgenden beziehe, setzen an einer Auseinandersetzung mit der Individualisierungsdebatte an (Wagner 2004: 26 ff.). In einer kritischen Diskussion der Individualisierungsthese von Ulrich Beck arbeitet sie heraus, dass Individualisierung nicht gleichbedeutend ist mit einem Wegfall oder einer Erosion von gesellschaftlichen Vorgaben. Im Gegenteil: Individualisierung stellt eine Form der Vergesellschaftung dar (Beck 1986: 205 ff., 1994: 12 ff.). Die Moderne ermögliche zwar eine Selbstentfaltung ohne feste Rahmung wie das Ständesystem oder traditionelle vorgefertigte Lebensverläufe, allerdings erfolgt auch diese Selbstentfaltung innerhalb gesellschaftlicher Institutionen, die den Möglichkeitsraum sozialen Handelns aufspannen und begrenzen. Gleichzeitig wird Scheitern, Erfolg und Verantwortung für die jeweilige Selbstentfaltung auf die Individuen übertragen (ebd.). Damit entstehen zwar Entscheidungsfreiheiten, aber auch die Notwendigkeit, die Wahl der jeweiligen Lebensentwürfe zu begründen. Gabriele Wagner sieht Anerkennung dabei als wichtiges Verbindungselement zwischen Struktur und Handlung, denn über Anerkennungsprozesse werden gesellschaftliche Verhältnisse und Handlungsmöglichkeiten sowohl gedeutet als auch normativ eingeordnet. Sie schreibt: „Die faktische Ausübung
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gewährter Handlungsfreiheiten bedarf neben der entsprechenden Rechte und der strukturell offenen sozialen Räume auch der normativen Stütze bejahender konkreter wie verallgemeinerter Anderer.“ (2004: 144) Diese „normative Stütze“ stellt einerseits eine normative Bewertung von Entscheidungen oder Lebensentwürfen dar, andererseits wirkt sie als Orientierungsrahmen im Entscheidungsprozess. Individuen beziehen die Erwartung der Bestätigung durch Anderere dabei mit ein. Dies setzt Vorstellungen davon voraus, was als anerkennungswürdig gilt. Vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen, die sich in reflexiv-modernisierten Gesellschaften feststellen lassen, bekommt also Anerkennung den Charakter einer „normativen Stütze“ für die Wahl des jeweiligen Selbstentwurfs. Über die Pluralisierung vervielfältigen sich somit Anerkennungsbezüge, die hier als Anerkennungsfelder bezeichnet werden. In diesen Feldern gelten unterschiedliche, sich teilweise widersprechende Normen. Um ein Beispiel zu nennen: Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten hinsichtlich der Gestaltung der Erwerbsbiographie oder der Wahl von partnerschaftlichen Lebensformen. Es wird unübersichtlicher, im Voraus eine Vorstellung davon zu entwickeln, wofür Anerkennung entgegengebracht wird und wofür nicht. Gerade deshalb gehört das mögliche Scheitern von Anerkennung als fester Bestandteil zum Anerkennungsprozess selbst. Die Vervielfältigung der Anerkennungsinhalte und die Möglichkeit des Scheiterns von Anerkennungsbeziehungen führen, wie Wagner beschreibt, zu einer „Generalisierung des Kampfes um Anerkennung“ (ebd.: 155). Die Suche nach Anerkennung wird also nicht nur für diejenigen relevant, denen Anerkennung fehlt, sondern für alle Individuen, weil sie für ihren jeweiligen Lebensentwurf die Bestätigung von Anderen brauchen und danach suchen. Gabriele Wagner schreibt der Suche nach Anerkennung damit eine existenzielle Bedeutung zu, weil Individuen „konstitutiv auf Anerkennung bezogen sind“ (ebd.: 11). Die Suche nach Anerkennung wird somit immer relevant, unabhängig davon, ob Missachtungserfahrungen oder Erfahrungen abwertender Anerkennung vorausgegangen sind. Denkt man die „Ubiquität“, wie Gabriele Wagner diese Omnirelevanz von Anerkennung bezeichnet (ebd.), weiter, führt der Blick weg von gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung hin zu Anerkennungspraktiken der Individuen. Aus soziologischer Perspektive wird es relevant zu wissen, wie es Individuen gelingt, jeweils Anerkennung für unterschiedliche Lebensentwürfe zu erhalten. Sie müssen Umgangsformen finden, um die vielfältigen Anforderungen, die sich aus der Pluralisierung von Lebensformen und damit auch aus der Pluralisierung von Anerkennungsfeldern ergeben, zu bewältigen. Sie müssen Prioritäten setzen, was ihnen wichtiger ist oder in welchen Bereichen sie vielleicht auf Anerkennung verzichten. In manchen Anerkennungsfeldern
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kann sich dies jedoch als unmöglich herausstellen, weil sich Anerkennung in diesen Bereichen als existenziell erweist. Über die Vielfalt von Anerkennungsfeldern vervielfältigen sich auch Anerkennungserfahrungen, die in diesen Feldern jeweils gemacht werden. Wie die kurze Sequenz aus Dagmar Cramers Erzählung, die ich zu Beginn dieses Kapitels dargestellt habe, zeigt, müssen diese Erfahrungen nicht ähnlich oder sich ergänzend sein, sondern können sich durchaus widersprechen oder überhaupt nicht miteinander in Einklang zu bringen sein. Dies kann den Umgang mit sozialer Wertschätzung in unterschiedlichen Feldern erschweren. Es entwickeln sich daraus jedoch auch Handlungsmöglichkeiten. Wagner stellt heraus, dass gerade die Vielfalt von Anerkennungsfeldern den Individuen die Möglichkeit gibt, Anerkennungserfahrungen praktisch zu verrechnen. Missachtung oder Abwertung in einem Anerkennungsfeld kann, so Wagner, durch Anerkennung in einem anderen Anerkennungsfeld kompensiert werden (ebd.: 156 f.). Damit schreibt sie der Ausdifferenzierung der „Sphären“ von Anerkennung eine „Ermöglichungsseite“ zu (ebd.). Diese Überlegungen verweisen auf Gestaltungsmöglichkeiten, die Individuen innerhalb der Komplexität von Anerkennungsprozessen in gewissem Rahmen besitzen. Sie zeigen zudem auf, dass Anerkennung zwar theoretisch als ubiquitär gefasst werden kann, dies jedoch nicht die Notwendigkeit einschließt, Anerkennung in allen Feldern bekommen zu müssen. Individuen können sich gegen die Suche nach Anerkennung in gewissen Feldern entscheiden, wenn sie dafür in anderen Feldern Anerkennung finden. Es wird deutlich, dass Kompensationen zwischen Anerkennungsfeldern als Handlungsmöglichkeiten für Individuen betrachtet werden können. Aus geschlechtertheoretischer Perspektive müssen Gabriele Wagners Überlegungen allerdings ergänzt werden, indem hierarchische Beziehungen zwischen diesen Feldern Berücksichtigung finden. Erwerbsarbeit und Reproduktion genießen unterschiedliche soziale Wertschätzung und sind geschlechtlich codiert (vgl. Becker-Schmidt 1993; Hausen 1978). Die Suche nach Anerkennung als Mutter als Kompensation für fehlende Anerkennung im Beruf hat somit Auswirkungen auf die soziale Position des – in diesem Fall weiblichen – Individuums. Die Kompensation würde zwar einen Selbstbezug für das Individuum ermöglichen, gleichzeitig würden aufgrund der Hierarchie der Felder bestehende gesellschaftliche Hierarchien genau über Anerkennung reproduziert, indem Frauen Anerkennung in dem sozial geringer wertgeschätzten Bereich der Reproduktion suchen (Frerichs 2000: 273). Gleichzeitig lässt sich die Frage stellen, ob Kompensation immer möglich ist. Dagmar Cramer behauptet von sich, sie fühle sich nicht als ‚Rabenmutter‘. Diese Selbstbeschreibung schließt ein, sie fühle sich durchaus als ‚gute Mutter‘. Die Alternative, auf die Anerkennung als Mutter, vielleicht sogar als ‚gute Mutter‘, zu verzichten, scheint für sie schwer vorstellbar. Es gibt offensichtlich Anerkennungsfelder, in denen
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Abwertung und Missachtung nicht einfach durch Anerkennung in anderen Feldern kompensiert werden können, weil Anerkennung genau in diesem Feld bedeutsam ist. Im Feld der ‚guten Mutter‘ werden Sorgebeziehungen und gesellschaftliche Vorstellungen von Weiblichkeit verhandelt (vgl. Schütze 1991; Thiessen und Villa 2009: 10 ff; Toppe 2009: 114 f.). Während manche Dagmar Cramer als ‚Rabenmutter‘ ansehen, tut sie dies selbst nicht. In einem anderen Abschnitt ihrer Erzählung will sie sich jedoch auch nicht als ‚Karrierefrau‘ verstanden wissen.3 Das Anerkennungsfeld der ‚guten Mutter‘ kann somit nicht nur bezogen auf die Anerkennung als ‚gute Mutter‘ gedacht werden. Es beinhaltet auch die Anerkennung von Weiblichkeit. Die Aushandlungen von Geschlechtertypisierungen fließen in alle Lebensbereiche und damit in alle Anerkennungsfelder ein.4 Die von Gabriele Wagner beschriebene Pluralisierung der Felder muss somit noch ergänzt werden um die Vorstellung von – bildlich ausgedrückt – sich überlagernden Anerkennungsfeldern. Im Umgang mit der Vielfalt und Komplexität von Anerkennungsfeldern und Anerkennungserfahrungen sind die Individuen herausgefordert, sich mit den jeweiligen normativen Erwartungen der jeweiligen Anerkennungsfelder auseinanderzusetzen. Gabriele Wagner schreibt: „Denn die Vielfalt von Anerkennungserfahrungen, die ihrerseits konstitutiv auf heterogene, nicht ineinander abbildbare Anerkennungsordnungen bezogen ist, bringt die Subjekte in eine kritisch reflektierte Distanz gegenüber partikularen Anerkennungszumutungen. Gerade aus dieser Distanz heraus kann und muss sich das Subjekt reflexiv kommentierend auf gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse beziehen und die unterschiedlichen Anerkennungsformen, -foren und -erfahrungen mit je eigenen Wertindizes versehen und entsprechend gewichten. Es muss entscheiden, ob, von wem, wozu und für was es überhaupt Anerkennung beansprucht und welche gewährte Anerkennung es möglicherweise als Beschämung oder Degradierung erlebt. Mithin erfahren sich Subjekte nicht nur als bewertete, sie bewerten ihrerseits Bewertungen und erst in dieser bewerteten Bewertung werden Anerkennungsverhältnisse für biographisches Handeln relevant.“ (Wagner 2004: 272)
Gabriele Wagner stellt in diesen Ausführungen den reflexiven Charakter von Anerkennungsverhältnissen heraus. Individuen streben also nicht nur nach Anerkennung innerhalb eines normativen Rahmens, sondern setzen sich zu diesem Rahmen in Beziehung, indem sie für sich deuten, was sie als anerkennungswürdig ansehen. Dies beruht nicht nur auf den verschiedenen normativen Rahmen, die Anerkennung zugrunde liegen, sondern auch auf 3 | Eine ausführliche Analyse findet sich in Abschnitt 6.1.6. 4 | Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 3.2.
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Erfahrungen von Anerkennung, Abwertung oder Missachtung, die die Individuen jeweils gemacht haben. Individuen nehmen aufgrund ihrer Erfahrungen diese normativen Rahmen nicht einfach an, sondern bewerten diese für sich und sprechen ihnen Bedeutung für die jeweiligen Anerkennungsprozesse zu. Voraussetzung für Anerkennungsprozesse ist somit die Anerkennung der jeweils zugrunde liegenden normativen Rahmen. Die Auseinandersetzung mit dem normativen Rahmen kann konformistisches Verhalten und damit ein Sich-Unterordnen in gesellschaftliche Hierarchien bedeuten (ebd.: 273). Soziale Ungleichheitsstrukturen fließen als Wissen in die Entscheidungen der Individuen ein, wodurch sich jeweils Vorstellungen davon vermitteln, was als erreichbar erscheint und was nicht. Dieses Hierarchiewissen kann zu einer Selbstrestriktion der Individuen führen, indem sie ihre Ziele beschränken (Neckel 1991: 212 ff.). Sie sehen für sich schlechte Aufstiegschancen, befürchten ein Scheitern des Anerkennungsprozesses und infolge davon soziale Missachtung. Die subjektive Deutung von „Anerkennungszumutungen“, wie Gabriele Wagner das ausdrückt, also von gesellschaftlichen Anerkennungsanforderungen, beinhaltet jedoch auch die Möglichkeit, sich von den normativen Rahmen zu distanzieren, diese als für sich nicht relevant oder zutreffend zu deuten. In diesem Fall wäre weder Anerkennung noch Missachtung für den Selbstbezug von Bedeutung. Wagner stellt heraus, dass so „unhinterfragt geltende und oft genug machtfundierte Anerkennungsverhältnisse in reflexiv herzustellende und eigensinnig zu bewirtschaftende Anerkennungsportfolios transformiert [werden]“ (Wagner 2004: 272). Der Begriff des „Anerkennungsportfolios“ verweist auf Aneignungsakte, die oben beschrieben wurden. In Wagners Argumentation entscheiden und bewerten Individuen, welche Anerkennungsbereiche für sie in welcher Form relevant sind. Diese Eigensinnigkeit führt zu einem „Wechselverhältnis zwischen der Abhängigkeit der Identität von der Anerkennung Anderer und der Forderung, für die eigensinnige Identitätsbehauptung anerkannt zu werden“ (ebd.: 273). Individuen suchen also nach Anerkennung durch Andere, entwickeln aber gleichzeitig innerhalb pluraler Anerkennungsfelder Vorstellungen davon, als wer oder was sie anerkannt werden wollen. Im Fall von Dagmar Cramer heißt das, sie erkennt den der Bezeichnung ‚Rabenmutter‘ zugrunde liegenden normativen Rahmen offenbar nicht als relevant für sich an, sondern bezieht sich auf eine andere Deutung der normativen Vorstellungen von der ‚guten Mutter‘. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Individuen Anerkennungspraktiken selbst mitgestalten. Sie tun dies, indem sie innerhalb der Pluralität von Anerkennungsfeldern ein „Anerkennungsportfolio“ (ebd.: 272) entwickeln oder soziale Wertschätzung zwischen Anerkennungsfeldern kompensieren. Sie tun dies aber auch, indem sie die den Anerkennungsprozessen
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zugrunde liegenden normativen Rahmen deuten und sich dazu in Beziehung setzen. Über diese Deutungsmöglichkeiten befinden sich normative Rahmen in Veränderung. Sie werden in Anerkennungsprozessen werden immer wieder aufgerufen. Deren Anerkennung, Bewertung und Deutung sowie die Distanzierung von ihnen durch die Akteur_innen stellen die Grundlage von Anerkennung dar und sind gleichzeitig Ergebnis davon. Auch dies zeigt sich an dem Zitat von Dagmar Cramer: Sie fühlt sich nicht als ‚Rabenmutter‘, sondern präsentiert sich als ‚gute Mutter‘. Diese Praxis fließt verändernd in die normativen Vorstellungen der ‚guten Mutter‘ sein. Anerkennung lässt sich damit als permanenter Herstellungsprozess verstehen. Anerkennungspraktiken können nicht isoliert untersucht werden, sondern sind eingebettet in einen Anerkennungsprozess, der bereits vor ihnen angefangen hat und in den die jeweiligen Praktiken verändernd einfließen. Diese permanenten Wechselwirkungen hat Ute Fischer (2009)5 folgendermaßen herausgearbeitet: „Anerkennung kann Folge des Handelns sein, nämlich wenn es gelungene Lösungen hervorbringt. Und sie ist zugleich Voraussetzung und Wirkung. Denn Handlungsentscheidungen gründen in Anerkennungsverhältnissen, setzten diese also voraus und bringen sie (transformierend oder reproduzierend) zugleich zum Ausdruck. Anerkennungsverhältnisse in ihrer konkreten Erscheinungsform sind der Niederschlag aus vorgängigen Handlungsentscheidungen und ihren retrospektiven Begründungen.“ (Fischer 2009: 45)
Damit sieht Ute Fischer Anerkennung als Prozess, dessen Anfang und Ende nicht bestimmbar ist. Handlungsentscheidungen werden bereits in einem Rahmen getroffen, in dem Wissen über anerkennenswerte Handlungen und Verhaltensweisen vorhanden ist. Anerkannte Handlungsentscheidungen sieht sie nicht als erreichtes Ziel, sondern als Ausgangspunkt für weitere Entscheidungen und als Beitrag zur Gestaltung der Anerkennungsverhältnisse. Dabei gewinnen in Fischers Augen nicht nur die eigenen Anerkennungserfahrungen an Relevanz, sondern auch die jeweiligen Begründungen für Entscheidungen. Denn diese Begründungen stellen nachträgliche Rationalisierungen von Entscheidungen dar. Über das Anführen einer im jeweiligen Kontext plausibilisierenden Begründung für eine Handlung oder Entscheidung kann eine bislang entzogene Anerkennung in Anerkennung verwandelt werden. Diese Begründungen fließen ebenso in die Gestaltung der Anerkennungsverhältnisse ein wie die Anerkennungsprozesse selbst. Auf die Notwendigkeit von 5 | Ute Fischer beschäftigt sich in ihrem Buch „Anerkennung. Integration. Geschlecht“ mit der Frage, was Subjekte als sinnstiftend in ihrem Leben ansehen. Auf den Zusammenhang von Anerkennung und Sinn gehe ich mit einer etwas anderen Perspektive in Abschnitt 4.3 ein.
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Begründungen habe ich im Zusammenhang mit Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen weiter oben bereits hingewiesen. Hier zeigt sich nun noch deutlicher, dass Begründungen als wichtiger Bestandteil von Anerkennungspraktiken verstanden werden können und zwar sowohl in den Praktiken selbst als auch in der Gestaltung der zugrunde liegenden normativen Grundlagen. Die eben durchgeführten Analysen lassen keine einfache Antwort auf die Frage „Was wird anerkannt?“ zu. Aufgrund der Pluralisierung von Lebensformen werden Entscheidungen für bestimmte Lebensformen begründungsbedürftig und suchen nach Bestätigung. Wofür Anerkennung gesucht wird, pluralisiert sich damit ebenso wie die Lebensformen. Wofür Anerkennung entgegengebracht wird, kann wiederum aufgrund dieser Pluralisierung nicht mehr von vornherein bestimmt werden, so dass das Scheitern von Anerkennung als Bestandteil von Anerkennungsprozessen gesehen werden kann. Das Streben nach Anerkennung lässt sich somit eher als Suche beschreiben, die auch erfolglos bleiben kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich, wie oben ausgeführt, die Suche nach Anerkennung als „ubiquitär“ (Wagner 2004: 11) verstehen. Infolge dieser Überlegungen kann sich eine Analyse von Anerkennungspraktiken nicht nur auf die Situationen konzentrieren, in denen Abwertung oder Missachtung formuliert wird, sondern muss danach fragen, wann und wie Anerkennung relevant gemacht wird. Individuen können Anerkennung und Abwertung zwischen unterschiedlichen Feldern kompensieren. Sie deuten anerkennungsrelevante Normen, sie sprechen bestimmten Anerkennungsfeldern mehr Bedeutung zu als anderen. Und sie können Anerkennung zurückweisen. Diese unterschiedlichen Rückwirkungen müssen in einer Analyse von Anerkennungspraktiken Berücksichtigung finden. Eine solche Analyse sollte zeigen, wie normative Rahmen gedeutet werden und in welchem Kontext diese Deutung stattfindet. Zudem sollte die Analyse die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Anerkennungspraktiken ebenso herausarbeiten wie die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der unterschiedlichen gesellschaftlichen Relevanz von Anerkennungsfeldern ergeben. Vor dem Hintergrund der eben herausgearbeiteten Pluralisierung von Anerkennungsbezügen stellt sich die Frage, wie dabei Anerkennungsbeziehungen gedacht werden können und damit „Wer erkennt an?“.
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W er erkennt an ? – A nerkennung , das S elbst und die A nderen Für die Analyse von Anerkennungspraktiken spielt die Ausgestaltung der Anerkennungsbeziehungen eine wichtige Rolle. Als Anerkennungsbeziehungen lassen sich die Beziehungen zwischen der Person, die anerkennt, und der Person, die anerkannt wird, beschreiben. Wie sich an dem Zitat von Dagmar Cramer zeigt, eröffnet sich auch in diesem Zusammenhang ein Handlungsspielraum. Dagmar Cramer lässt die Personen, die sie als ‚Rabenmutter‘ bezeichnen, für sich nicht als bestätigende Andere relevant werden. Es existieren offensichtlich nicht nur in Bezug auf Anerkennungsfelder, sondern auch hinsichtlich der Anerkennungsbeziehungen Gestaltungsmöglichkeiten. Für die Bearbeitung der Frage „Wer erkennt an?“ greife ich zunächst auf die Ausführungen zur intersubjektiven Herstellung des Selbst von George H. Mead (vgl. Mead 1980b, 1980c, 1980a) zurück, da sich mit diesem Konzept Anerkennungsbeziehungen gut beschreiben lassen und Axel Honneth dieses bereits auf Anerkennnungsprozesse übertragen hat (Honneth 1994: 114 ff.). Im Folgenden beschreibe ich kurz Meads Ansatz, um diesen im Anschluss in Bezug auf meine Fragestellung zu diskutieren. Mead zufolge wird das Selbst intersubjektiv hergestellt. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen konkretem und verallgemeinertem Anderen. Eigenem Handeln wird, so Mead, nur über die Reaktionen konkreter Anderer auf diese Handlung Bedeutung zugewiesen (vgl. Mead 1980a). Diese Reaktionen können sprachlich oder über Gesten erfolgen und werden als Erfahrungen verinnerlicht. In diesem Prozess findet eine Objektivierung statt (vgl. Mead 1980b). Dieses objektivierte Ich, das „Me“, beschreibt eine Art inneren Dialogpartner. Es entwickelt sich zu der inneren Instanz, auf die Vorstellungen darüber, was eigene Handlungen im Anderen auslösen können, übertragen werden. Das „Me“ wird so zu einem „Andere[n] für sich selbst“ (Mead 1980c: 245). Mead spricht in diesem Zusammenhang vom „generalisierten Anderen“ (Mead 1980d: 319). Der generalisierte Andere stellt also den inneren Verhandlungspartner dar. Er fungiert in dieser Lesart als erfahrungsgeleitete Projektionsfläche dafür, was als normativer Rahmen gesellschaftlich gilt. Während Mead den konkreten Anderen in die primäre Sozialisation in der Eltern-Kind-Beziehung verortet (Mead 1980c: 246), dient der generalisierte Andere als Orientierungsrahmen für gesellschaftliche Normvorstellungen. Entsprechend ordnet Axel Honneth die intersubjektive Anerkennung über den konkreten Anderen der Anerkennungsform der Liebe zu, da „dieses Anerkennungsverhältnis auch notwendigerweise an die leibhaftige Existenz konkreter Anderer gebunden [ist]“ (Honneth 1994: 153 f.). Der generalisierte Andere wird auf der Ebene der sozialen Wertschätzung relevant (Honneth 1994: 209).
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Mead beschreibt die Aushandlungen mit dem generalisierten Anderen fast bildlich als ein Gespräch mit sich selbst, in dem Individuen in die Rolle der imaginierten generalisierten Anderen schlüpfen. Er verweist dabei auf die Grenzen dieser ‚Kommunikation‘, indem er soziale Unterschiede relevant macht. Für den Bezug auf generalisierte Andere stellt er das Problem fest, „die räumlichen und zeitlichen Distanzen, die Barrieren der Sprache, der Konvention und des sozialen Status so zu überwinden, daß wir zu uns selbst in den Rollen derer sprechen können, die gemeinsam mit uns ihr Leben bewältigen“ (Mead 1980d: 327).
Der generalisierte Andere entsteht also in einem Kontext von Strukturen sozialer Ungleichheit und von Machtverhältnissen. Damit er als Orientierungsrahmen gelten kann, muss mit dem generalisierten Anderen kommuniziert werden können. Dafür ist ein gemeinsamer Bezugsrahmen notwendig. Dies wird, Mead folgend, aufgrund von Sprache, Konventionen und Statusunterschieden unter Umständen schwierig bis unmöglich. Die Selbstbeschränkung in Anerkennungsprozessen, auf die ich in Abschnitt 4.1 eingegangen bin, lässt sich mit diesen Überlegungen zu Anerkennungsbeziehungen ergänzen: Aus Angst vor Missachtungserfahrungen, so habe ich dort argumentiert, beschränken sich Individuen selbst und ordnen sich in hierarchische Strukturen ein oder ihnen unter. Hier wird von Mead eine weitere Form der Selbstbeschränkung entwickelt. Unter Berücksichtigung sozialer Unterschiede, die in den generalisierten Anderen einfließen, werden bestimmte Handlungen oder Lebensformen überhaupt nicht vorstellbar, weil dafür kein generalisierter Anderer entstanden ist, mit dem in Dialog zu treten wäre. Dies geschieht unabhängig davon, ob für diese Handlungen Anerkennung zu erwarten wäre oder nicht. Für Dagmar Cramer gibt es keinen generalisierten Anderen, der sie von der Anforderung an sie als ‚gute Mutter‘ freispricht. Mead stellt seine Beschreibung des generalisierten Anderen in einen Zusammenhang mit sozialer Kontrolle. Damit ordnet er den Selbstbezug mit Orientierung am generalisierten Anderen bereits als beschränkend ein. Eine wie auch immer geartete ‚freie Entfaltung‘ erscheint gerade wegen der Orientierung am generalisierten Anderen nicht möglich (Mead 1980d: 325 ff.). Auch aus feministischer Perspektive wurde der Anpassungsdruck, der in das Konzept des generalisierten Anderen eingelassen ist, aufgegriffen. Sowohl generalisiertem als auch konkretem Anderen wurde unterstellt, sich an männlichen Vorstellungen von Lebensformen und Gesellschaft zu orientieren und weiblich codierte Lebensformen nicht zu berücksichtigen.6 Der generalisierte Andere wird in dieser Kritik nicht als Orientierungsrahmen verstanden, sondern als Anforderung, sich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen 6 | Vgl. z. B. Benhabib 1989; Benjamin 2002; Frerichs 2000.
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oder – falls dies nicht gelingt – nicht anerkennbar zu sein. Jessica Benjamin schreibt: „Die Frage, ob sich ein Subjekt auf die Anderen beziehen kann, ohne sie durch Identifikation in das Selbst zu assimilieren, entspricht also der politischen Frage, ob eine Gemeinschaft den Anderen aufnehmen kann, ohne daß dieser ihr bereits gleich sein oder doch gleich werden muß.“ (Benjamin 2002: 120)
Jessica Benjamin bezieht sich hier auf das Spannungsfeld zwischen dem Bezug auf Andere und dem Sich-Identifizieren mit Anderen. Sie beschreibt auf psychoanalytischer Ebene die Gefahr des Selbstverlusts und überträgt dies auf den gesellschaftlichen Kontext. In ihrer politischen Schlussfolgerung zeigt sie auf, dass Individuen nur dann in die Gemeinschaft aufgenommen, also als Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt werden können, wenn diese bereits gleich sind oder gleich werden. Aus dieser Perspektive käme der generalisierte Andere damit einer verinnerlichten Macht gleich, über die sich Individuen an normative (männliche) Vorgaben der Gesellschaft anpassen. Sowohl Meads Ausführungen als auch die feministische Kritik am generalisierten Anderen verweisen somit auf die Machtförmigkeit, die diesem Orientierungsrahmen innewohnt. Mead geht in seinem Konzept von einem generalisierten Anderen aus, über den der Bezug zu einem Selbst hergestellt wird. Die in Abschnitt 4.1 ausgeführte Pluralisierung von Lebensformen, Anerkennungsfeldern und -erfahrungen hat unterschiedliche Positionen in diesen Feldern zur Folge. Dies führt zu der Frage, wie sich vor diesem Hintergrund ‚innere Dialoge‘ mit dem generalisierten Anderen beschreiben lassen. Die von Mead angeführten Barrieren zwischen dem Individuum und dem generalisierten Anderen, die er an Sprache, sozialem Status oder Konventionen festmacht, können in den unterschiedlichen Feldern variieren. Dagmar Cramer hat als Frau in der Chirurgie aufgrund der Geschlechterhierarchie im Berufsfeld eine schwächere Position, kann im Feld der Reproduktion jedoch auf ihren hohen beruflichen Status zurückgreifen. Die Pluralisierung von Anerkennungsfeldern führt also zu einer Vielzahl von Positionen, die sich hinsichtlich der oben genannten Barrieren in Bezug auf den generalisierten Anderen unterscheiden können. Zudem sind unterschiedliche Positionierungen auch innerhalb eines Felds möglich. Normative Erwartungen an Muttersein stehen nicht nur im Widerspruch zu den Anforderungen in der Erwerbssphäre, sie sind auch in sich widersprüchlich. Ein Verhalten, das als das einer ‚Rabenmutter‘ eingeordnet wird, scheint sich auch anders deuten zu lassen. Für die Analyse von Anerkennungspraktiken vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen und Anerkennungsfeldern erscheint also
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auch die Pluralisierung des generalisierten Anderen notwendig. Die Möglichkeit, Abwertung zurückzuweisen – wie sie sich im Zitat von Dagmar Cramer äußert – setzt eine Position voraus, die sie dazu ermächtigt. Die Deutung von sozialen Normen und die Relevanzsetzung von Anerkennungsfeldern lässt sich also nicht unabhängig von der Position der Individuen in dem jeweiligen Feld denken. Hier bietet die Denkfigur von pluralen generalisierten Anderen die Möglichkeit, den jeweiligen ‚internen Dialog‘ dazu feldgebunden zu analysieren und dabei die hierarchische Position zum Feld mitzuberücksichtigen. Bisher habe ich in der Auseinandersetzung mit Anerkennungsbeziehungen vor allem auf den generalisierten Anderen fokussiert. Dies erschien zunächst sinnvoll, da soziale Wertschätzung gesellschaftliche Anerkennung beschreibt und diese bislang als über den generalisierten Anderen vermittelt konzipiert war (Honneth 1994: 209). Aus dem Zitat von Dagmar Cramer wird jedoch offensichtlich, dass soziale Normen nicht nur im ‚inneren Dialog‘ mit dem generalisierten Anderen, sondern auch in Interaktionen mit konkreten Anderen vermittelt und damit anerkennungsrelevant werden. Gesellschaftliche Anerkennung drückt sich also auch intersubjektiv aus. Dafür ist es hilfreich, sich von der ‚Gesichtslosigkeit‘ des konkreten Anderen zu verabschieden und ihn als sozial verortet zu verstehen. Gabriele Wagner hat dies mit Bezug auf die Anerkennungsform der Liebe folgendermaßen beschrieben: „[D]ie fraglichen Anderen [sind] keine passiven Spiegel und erst recht sind sie nicht unbedingt wohlwollend-bejahende Andere. Gerade weil die konkreten Anderen Subjekte mit eigenen Interessen, Präferenzen und Bewertungsmaßstäben sind, kann sich das erblickte Subjekt der Fremdbewertung nie sicher sein.“ (Wagner 2004: 89)
Hier werden konkrete Andere als eigensinnig handelnde Subjekte konzipiert. Ihre „Interessen, Präferenzen und Bewertungsmaßstäbe“ sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen. Sie repräsentieren Geschlechts- und Milieuzugehörigkeiten oder sozialen Status und stellen damit nicht nur einen bejahenden oder verneinenden Part in der Interaktion dar, sondern verkörpern ihr soziales Gewordensein. Werden konkrete Andere als selbst Handelnde verstanden, so sind sie selbst Ergebnis von Anerkennungsprozessen. Sie sind verortet innerhalb hierarchisch zueinander stehender normativer Rahmen und repräsentieren gesellschaftliche Hierarchien und Machtstrukturen. Diese schreiben sich in intersubjektive Anerkennungsbeziehungen ein. Diese Überlegungen lassen sich auf die Ebene der sozialen Wertschätzung übertragen. Gerade wenn der Fokus der Analyse – wie in dieser Arbeit – auf Anerkennungspraktiken liegt, erscheint es gewinnbringend, konkrete Andere und verallgemeinerte Andere nicht als separate Konzepte zu denken. Wie oben dargestellt, beschreiben verallgemeinerte Andere verinnerlichte Erfahrungen sozialer Interaktionen und damit gelernte normative Rahmen. Sie dienen als
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Orientierungsrahmen für Handlungen und für die Herstellung des Selbst. Die Orientierungsfunktion lässt sich ebensogut auf den konkreten Anderen übertragen, wenn dieser als sozial verortet betrachtet wird. Ergebnisse sozialer Wertschätzung, wie Prestige oder Status, vermitteln sich verbal und nonverbal über den Habitus (Bourdieu 1979: 164 ff.) und fließen somit als inkorporierte Macht in Anerkennungsbeziehungen ein. Gesellschaftliche Normierungen stellen also nicht nur einen abstrakten Orientierungsrahmen dar, sondern drücken sich in der Selbstpräsentation des jeweiligen Anderen aus und werden entsprechend gelesen. Konkrete Andere repräsentieren gesellschaftliche Normen oder diese werden ihnen zugeschrieben. Sie verkörpern somit Teile dessen, was in Meads Konzept dem generalisierten Anderen zugeordnet wird. Daraus können sich unterschiedliche Anerkennungspraktiken entwickeln. Der konkrete Andere kann mit seinem Habitus einschüchtern und zu einer Selbstbeschränkung beitragen. Personen mit hohem Status haben möglicherweise mehr Macht, um niedriger positionierten Anderen die Anerkennungsrelevanz abzusprechen. Zudem muss Geschlecht in diesem Kontext mitgedacht werden. Wie in Abschnitt 3.2 im Zusammenhang mit doing gender, doing masculinity und doing femininity ausgeführt, ist für die Bestätigung von Männlichkeiten und Weiblichkeiten das Geschlecht der bestätigenden Person, hier gedacht als der konkrete Andere, durchaus von Relevanz. Die Dynamik des doing masculinity möchte ich hier mit Bezug auf Anerkennungspraktiken weiter ausführen, da sich darüber die bisherigen Überlegungen konkretisieren lassen. Raewyn Connell folgend habe ich verschiedene Dimensionen von Männlichkeiten ausgearbeitet, die sich an der dominanten, der hegemonialen Männlichkeit orientieren. Für die Herstellung von genau dieser hegemonialen Männlichkeit suchen Männer die Bestätigung anderer Männer, die bestimmte Männlichkeiten repräsentieren. Diese Bestätigung geschieht nicht explizit, sondern als Vergewisserung der eigenen Normalität (Meuser 2001: 14). Michael Meuser fundiert diese Vergewisserung von Männlichkeit in homosozialen Räumen mit Pierre Bourdieus Konzepten des Habitus und der symbolischen Gewalt (ebd.: 6 ff.). In Bourdieus Worten muss Männlichkeit „durch die anerkannte Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚wahren Männer‘ beglaubigt werden“ (Bourdieu 2005: 94). Damit wird bereits deutlich, dass nicht alle Männer ‚wahre‘ Männlichkeiten bestätigen können, sondern diese nur über die „Gruppe der ‚wahren Männer‘“ erfolgen kann. Die Suche nach sozialer Wertschätzung als ‚Mann wahrer Männlichkeit‘ setzt somit Wissen darüber voraus, wer die ‚wahren Männer‘ sind, die diese Bestätigung entgegenbringen können. Eingeordnet in die bisherigen Überlegungen stellen die zitierten ‚wahren Männer‘ vergeschlechtlichte Andere dar, die eine bestimmte Männlichkeit verkörpern. Diese Männlichkeit repräsentieren sie nicht nur, ihnen wird gleichzeitig die Macht zugeschrieben, andere Männer ebenfalls als ‚wahr‘ zu bewerten – oder eben nicht.
Anerkennung – Selbstbezüge – Subjektivierung
Im Kontext der Zuweisung von Ehre, die Pierre Bourdieu als symbolisches Kapital bezeichnet (Bourdieu 2005: 81) und die gesellschaftlicher Anerkennung und damit sozialer Wertschätzung entspricht, verweist er auf den schließenden Charakter von Anerkennung. Mit Bezug auf die ethnographischen Beobachtungen der kabylischen Gesellschaft sieht er Frauen von den Orten ausgeschlossen, in denen Ehre verhandelt wird: „Sie sind, wenn man so sagen kann, a priori im Namen des (stillschweigenden) Prinzips gleicher Ehre ausgeschlossen. Dieses Prinzip will, daß die Herausforderung, weil sie Ehre macht, nur zählt, wenn sie sich an einen Mann (im Gegensatz zu einer Frau) richtet, und zwar an einen Ehrenmann, der imstande ist, eine Erwiderung zu geben, die, insofern sie auch eine Form der Anerkennung einschließt, Ehre macht. Die vollkommene Zirkelhaftigkeit des Prozesses zeigt an, daß es sich um eine willkürliche Zuweisung handelt.“ (Bourdieu 2005: 90; Hervorhebung im Original)
Pierre Bourdieu beschreibt hier das ausschließende Moment von Anerkennung über die soziale Position und die Geschlechterzugehörigkeit der Anerkennenden. Bezogen auf Geschlechterdifferenz werden Frauen von der Zuteilung von Ehre ausgeschlossen, weil diesen nach dem „stillschweigenden Prinzip gleicher Ehre“ qua Geschlecht überhaupt keine Ehre zukommen kann. Die Entscheidung über Aus- und Einschlüsse fällen diejenigen, die sich als gleich wahrnehmen. Eine Begründung oder Legitimierung ist dafür nicht notwendig. Es wird jedoch auch deutlich, dass Mannsein beim Zuspruch von Ehre allein nicht ausreicht. Analog zu den Vorstellungen des „wahren Mannes“ wird in dieser Beschreibung zusätzlich die soziale Position relevant. Nur ein „Ehrenmann“, also ein Mann, der bereits gesellschaftliche Anerkennung auf sich gezogen hat, wird dazu ermächtigt, auch anderen Männern Ehre zuteilwerden zu lassen – oder eben nicht. Es geht dabei nicht um konkrete Fähigkeiten, die „Ehrenmännern“ zugeschrieben werden, sondern um deren gesellschaftliche Position, die sie habituell vermitteln und die von Anderen als legitim anerkannt wird. Die soziale Wertschätzung über Andere wird somit erst dann wirkmächtig, wenn diejenigen, die nach Bestätigung suchen, die Anerkennenden als „eine legitime Instanz sozialer Wertschätzung“ (Wagner 2004: 134) ansehen. Umgekehrt müssen sich die Anerkennenden, wie Wagner weiter ausführt, sicher sein, dass ihre wertschätzende Beurteilung überhaupt als solche akzeptiert wird. Wäre dies dauerhaft nicht der Fall, stünde die Position der Anerkennenden in Frage. Damit lässt sich Deutung, Relevanzsetzung und mögliche eigemächtige Kompensation nicht nur auf Anerkennungsfelder beziehen (vgl. Abschnitt 4.1), sondern auch auf Anerkennende. Die Anerkennung derer, die soziale Wertschätzung vermitteln, stellt eine Voraussetzung für gelungene Anerkennungsprozesse dar. Ich komme noch einmal zurück zu Dagmar Cramer. Wenn sie
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nach Anerkennung als ‚gute Mutter‘ sucht, wird sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an diejenigen wenden, die sie als ‚Rabenmutter‘ bezeichnen. Voraussetzung dafür ist zum einen eine Position, aus der sie Wahlmöglichkeiten entwickeln kann, und zum anderen ein Wissen, wer wofür Anerkennung entgegenbringt. Damit beinhaltet die Suche nach Anerkennung auch eine Suche nach Anerkennenden. Wird der konkrete Andere als sozial verortet verstanden, so stellt sich zudem die Frage, ob daraus unterschiedliche Bedeutungen von entgegengebrachter Anerkennung erwachsen. Möglicherweise bekommt die bestätigende oder abwertende Anerkennung, die vom Chefarzt ausgesprochen wird, für eine Chirurgin mehr Gewicht als die von Patient_innen. Für die Bearbeitung meiner Frage nach Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung wird also die Analyse der Hierarchie- und Machtverhältnisse in Anerkennungsbeziehungen bedeutsam. Die Analysen müssen zeigen, wer als anerkennungsrelevant gesehen wird und welche Bedeutung das Hierarchie- und Machtverhältnis innerhalb der Anerkennungsbeziehung für diese Relevanzsetzung hat. Zudem muss analysiert werden, ob Anerkennung in Abhängigkeit von der hierarchischen Position der anerkennenden Person unterschiedlich gewertet wird. Wäre dies der Fall, könnten die beiden bisher analysierten Fragen „Was wird anerkannt?“ und „Wer erkennt an?“ nicht getrennt voneinander gedacht werden. Vielmehr müsste gefragt werden, „Was wird von wem anerkannt?“, und daran gebunden wäre die Überlegung, was dies für die soziale Positionierung in Hierarchien bedeutet. Dies führt zur Frage des nächsten Abschnitts, nämlich was genau eigentlich in Anerkennungsprozessen hergestellt wird. Sowohl Honneth als auch Mead gehen bei ihren Überlegungen zur Herstellungsleistung des Selbst mit Bezug auf Andere von einem einzigen Selbst aus und schließen damit die Perspektive eines autonomen Subjekts ein (Honneth 1994: 209). Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen bezüglich der Pluralisierung von Anerkennungsfeldern, -erfahrungen und -beziehungen erscheint es nicht mehr naheliegend, von der Anerkennung eines einheitlichen Selbst zu sprechen. Vielmehr entstehen über Anerkennungspraktiken unterschiedliche Positionen innerhalb der jeweiligen Felder. Dies führt zu der Frage „Wer wird anerkannt?“ und damit zu einer theoretisch anders ausgerichteten Lesart von Anerkennungsprozessen: Anerkennung als eine Form der Subjektivierung.
W er wird anerk annt ? – A nerkennung und S ubjek tivierung Anerkennung als Subjektivierungsprozess zu verstehen, bedeutet eine Veränderung der theoretischen Perspektive. Während Anerkennungsprozesse
Anerkennung – Selbstbezüge – Subjektivierung
bisher in einem handlungstheoretischen Rahmen gedacht wurden, richtet Subjektivierung den Fokus auf Analysen der Macht. Das bedeutet nicht nur, nach Machtaspekten innerhalb von Anerkennungsprozessen zu suchen, wie dies in den Auseinandersetzungen mit dem konkreten und generalisierten Anderen in Abschnitt 4.2 geschehen ist, sondern Anerkennungsprozesse selbst als Machtverhältnisse zu verstehen. Dies widerspricht dem Ansatz der Bestätigung, als die Anerkennung bislang gedacht wurde. Judith Butler hat Macht, Anerkennung und Subjektivierung theoretisch zusammengedacht (vgl. Butler 2001, 2003). Mit Bezug auf die Herstellung des Subjekts durch Anrufung bei Louis Althusser und die Machtanalysen von Michel Foucault arbeitet sie die Ebene der Anerkennung in Subjektivierungsprozesse ein. Louis Althusser (1977) diskutiert Subjektivierung im Zusammenhang mit Ideologie. In seinen Ausführungen zur Anrufung des Subjekts durch die Ideologie bezieht er Anerkennung mit in seine Überlegungen ein (ebd.: 141 ff.) und verweist auf die Doppeldeutigkeit des Wortes reconnaître, das im Französischen die beiden Bedeutungen wiedererkennen und anerkennen annehmen kann.7 Am Beispiel der Begrüßung durch Händedruck beschreibt er den Aspekt des Wiedererkennens, über den der Einzelne sich aus der Menge heraushebt. Das Ritual des Händeschüttelns beschreibt nach Louis Althusser gleichzeitig eine Unterwerfung unter dieses wiederkehrende Ritual der Begrüßung durch Händeschütteln (ebd.: 141). Dieses Wiedererkanntwerden als Einzelner in einem normierten Kontext, dem sich dieser Einzelne unterwirft, beschreibt Althusser als Subjektivierung, für die Anerkennung ein relevantes Moment darstellt. Wiedererkennen, Anerkennung und Subjektivierung thematisiert Althusser im Zusammenhang mit Macht in seinem viel zitierten Beispiel des Polizisten, der jemanden mit „He, Sie da!“ anruft. Mit dem Sich-Umdrehen als Reaktion des Angerufenen auf diese Anrufung, erkennt der Angerufene sowohl den Rufenden als auch das Angerufenwerden an. Er erkennt an, dass er gemeint ist, und wird in Althussers Logik über diesen Anerkennungsakt zum diskursiv hergestellten Subjekt, das er als von und innerhalb der Ideologie konstituiert begreift (ebd.: 143). Judith Butler geht einen Schritt zurück und stellt an Althussers Szenario der subjektkonstituierenden Anrufung durch den Polizisten die Frage, warum sich der so Angerufene überhaupt umdreht und welche Auswirkungen dieses Umdrehen auf die Subjektwerdung hat (Butler 2001: 11). Butler denkt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Nicht-Anerkennung mit. Es ist 7 | Paul Ricœur zerlegt in seiner Herleitung der Bedeutungsgeschichte das Wort reconnaître in seine Bestandteile connaître und reconnaître. Daraus leitet er ab, dass nur das bereits Bekannte anerkennbar ist (Ricœur 2006: 23 ff.). Dies lässt sich auf das deutsche Wort anerkennen übertragen, also kennen, erkennen, anerkennen.
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möglich, die Anrufung mit dem eigenen Namen nicht zu verstehen, nicht zu hören, falsch zu verstehen oder die rufende Person nicht zu (er)kennen und damit die Anrufung nicht auf sich zu beziehen. Die Subjektivierung kann also scheitern, wenn die Anrufung keine Anerkennung erfährt (ebd.: 91 f.). Dies wird offensichtlich, wenn die Anrufung in Form einer sozialen Position erfolgt. Judith Butler schreibt: „Denken wir an die Kraft dieser Dynamik von Interpellation und Nichtanerkennung, wenn der Name kein Eigenname ist, sondern eine gesellschaftliche Kategorie und damit ein Signifikant, der sich auf verschiedene und widersprüchliche Weisen deuten läßt. Der Anruf als ‚Frau‘ oder ‚Jude‘ oder ‚Schwuler‘ oder ‚Schwarzer‘ oder ‚Chicana‘ läßt sich je nach Kontext als Bekräftigung oder als Beleidigung hören oder auffassen (wobei der Kontext die tatsächliche Geschichtlichkeit und Räumlichkeit des Zeichens ist). Wird dieser Name gerufen, dann wird überwiegend gezögert, ob man antworten soll oder wie, denn es geht hier darum, ob die durch den Namen performierte zeitweise Totalisierung politisch Kraft verleiht oder aber lähmt, ob der Ausschluß, ja die Gewalt der durch diesen bestimmten Anruf performierten totalisierenden Identitätsreduktion eine politische Strategie oder aber eine Regression ist, oder ob sie, falls lähmend und regressiv, auf andere Art vielleicht auch hilfreich ist.“ (Ebd.: 92)
Judith Butler differenziert die diskursive Subjektivierung durch Anrufung vor allem dann, wenn es sich um soziale Kategorien handelt. In ihren Augen gibt es keine Anrufung als ein vollständiges Subjekt. In der Anrufung entstehen Subjektpositionen innerhalb eines bestimmten Diskurses, die unterschiedlichen Deutungen unterliegen. Anrufungen wie die als „Frau“ oder „Schwuler“ sind niemals eindeutig. Die Inhalte der Anrufungen lassen sich je nach Kontext unterschiedlich interpretieren und haben entsprechend das Potenzial, sowohl beleidigend als auch bekräftigend zu sein. Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten implizieren Freiheiten für die Angerufenen. Basierend auf den unterschiedlichen Deutungen können sie innerhalb eines bestimmten Rahmens eigenmächtig entscheiden, auf die Anrufung zu reagieren oder nicht beziehungsweise in einer bestimmten Art und Weise zu antworten. Mit Bezug auf Michel Foucault denkt Judith Butler den Prozess der Subjektivierung somit als Zusammenspiel von Unterwerfung unter die das Subjekt konstituierende Macht und Handlungsmacht der durch eben diese Macht geschaffenen Subjekte (Butler 2003: 58). Für sie stellen das Wirken von Macht auf ein Subjekt und die Handlungsmacht in einem Subjekt also keine getrennt voneinander stattfindenden Prozesse dar, sondern mit der Unterwerfung unter die Macht entsteht das Subjekt und gleichzeitig wird diese Macht im Subjekt im Sinne von Handlungsmacht produktiv (ebd.). Die Anrufung und die Reaktion auf diese Anrufung sind also zwei gleichzeitig stattfindende Prozesse, die subjektivierend und handlungsmächtig zugleich sind.
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Judith Butler konzipiert Anerkennung somit als Form von Subjektivierung. Sie sieht Anerkennung als „Ort der Macht“ (Butler 2009a: 11). Da Anerkennung mit sozialen Normen in Verbindung steht, wird über Anerkennung verhandelt, „wer für das anerkennbar Menschliche überhaupt in Frage kommt“ (ebd.). Anerkennung wird also zum Prozess von Normalisierung oder zur normalisierenden Unterwerfung. Judith Butler bezieht sich mit ihren Ausführungen zu Macht vor allem auf Michel Foucault und sein Verständnis von sozialen Normen. Ihm folgend lassen sich Normen sowohl als Ergebnisse als auch als Techniken der Macht verstehen (Foucault 1976: 120 f.). Die Disziplinarmacht, die Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ entwickelt (Foucault 1994: 173 ff.), führt zu einer Disziplinierung der Körper. Diese Entwicklung, die Foucault zeitlich im 19. Jahrhundert verortet, stellt in Foucaults Ausführungen „die Vorgeschichte der Machtapparate dar, die als Sockel zum Erwerb von Gewohnheiten als sozialen Normen dienen“ (Foucault 1976: 121). Foucault stellt Normen also nicht in einen moralphilosophischen Rahmen als gesellschaftlich zu erreichende Ziele des ‚guten‘ Lebens, sondern sieht die Ausprägung von Gewohnheiten und sozialen Normen als Erklärung dafür, warum Individuen ohne Zwang an kapitalistischen Produktionsprozessen teilnehmen, sich Gesellschaft zugehörig fühlen und sich in sie einordnen oder ihr unterordnen. Damit schreibt Foucault auch der von Normen ausgehenden Macht eine produktive Wirkung zu, die „Lust schafft“ (Foucault 2005a: 238). Nur so könne man verstehen, warum Menschen der Macht gehorchen, auch wenn ihnen keine unmittelbare Strafe droht (ebd.). Michel Foucault sieht soziale Normen als Machttechnik im 19. Jahrhundert. Anders als noch im 18. Jahrhundert, wo der Souverän die Macht repräsentierte, wird Macht in modernen Gesellschaften „die Gewohnheit, die bestimmten Gruppen auferlegt wurde. Die Macht kann ihren Aufwand von früher aufgeben. Sie nimmt die hinterlistige, alltägliche Form der Norm an, so verbirgt sie sich als Macht und wird sich als Gesellschaft geben.“ (Foucault 1976: 123)
Vermittelt werden soziale Normen über Diskurse, in denen verhandelt wird, was als normal und anormal gilt (ebd.). Foucault versteht Macht damit nicht als Repression, sondern als „handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln“ (Foucault 2005b: 255). Andere werden also nicht zu einer bestimmten Handlung gezwungen, sondern über die eigenen Handlungen werden bei anderen bestimmte Handlungen ausgelöst. Dies muss nicht unmittelbar sein. Die „handelnde Einwirkung“ kann ihren Effekt auf das Handeln Anderer auch zu einem anderen Zeitpunkt zeigen – mit Bezug auf die Disziplinierung zum Beispiel im Krieg oder in der Produktion. Wesentliche Voraussetzungen für das Produktivwerden von Macht sind, so Foucault, zum einen das Anerkennen des Anderen als eigenständig handelndes Subjekt und zum anderen die Frei-
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heit im Sinne von Wahlmöglichkeiten hinsichtlich Handlungen, Reaktionen, Antworten. Ist diese Freiheit nicht gegeben, dann wird Macht zu Gewalt (ebd.). Michel Foucault konzipiert Macht damit nicht als einschränkendes Vorgehen einer Institution oder Personengruppe, an die diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, Rechte und Freiheiten abtreten. Er sieht Macht als Beziehungsgeflecht zwischen Macht und Freiheit. In seinen Augen wird Macht nur dann produktiv, wenn sie nicht mit Zwang, sondern mit der Freiheit verbunden ist, auch anders zu handeln (ebd.). Wann Individuen Macht ausüben oder über sie Macht ausgeübt wird, ist abhängig vom Kontext, von der jeweiligen Position in diesem Kontext und vom Wissen über beispielsweise Klassifikationen oder Normen. Auf die Frage einer Studentin nach dem Verhältnis von Macht und Wissen antwortet Foucault: „Die Machtbeziehungen sind überall. Die Arbeiterklasse erwidert Machtbeziehungen und übt ihrerseits Macht aus. Allein schon die Tatsache, dass Sie Studentin sind, versetzt Sie in eine bestimmte Machtposition. Andererseits bin ich als Professor gleichfalls in einer Machtposition. Ich bin in einer Machtposition, weil ich keine Frau bin, sondern ein Mann. Und als Frau sind Sie gleichfalls in einer Machtposition, nicht in derselben, aber wir beide sind gleichermaßen in einer Machtposition. Von jedem, der etwas weiß, können wir sagen, dass er Macht ausübt.“ (Foucault 2005a: 239)
Wenn Macht also alltäglich gedacht wird und alle in einer bestimmten Art Macht ausüben können, wenn Machtbeziehungen als gegenseitige Handlungen verstanden werden, in denen Macht ausgeübt und bestätigt wird, dann lässt sich dieses Verständnis von Macht auf die in Abschnitt 4.1 beschriebenen Überlegungen anwenden. Anerkennung bezieht sich, so habe ich dort ausgeführt, auf soziale Normen und bringt soziale Normen hervor. Über Anerkennung entstehen Hierarchien, die in Anerkennungspraktiken aufgerufen, verändert oder reproduziert werden. Somit können Anerkennungsprozesse als Foucaultsches Verständnis von Disziplinarmacht gelesen werden, da über sie nicht nur Individuen vergesellschaftet und damit subjektiviert, sondern Subjekten auch bestimmte Positionen innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien zugewiesen werden. Über Anerkennungsprozesse finden damit nicht nur Subjektivierungen statt, sondern die Zuweisung zu bestimmten Subjektpositionen innerhalb gesellschaftlicher Normalisierungsvorstellungen und Hierarchien. Oder, wie Judith Butler es ausdrückt: „Die Macht kann nur auf ein Subjekt einwirken, wenn sie der Existenz dieses Subjekts Normen der Anerkennbarkeit aufzwingt.“ (Butler 2003: 63) Mit dem Begriff der Anerkennbarkeit beschreibt Butler den Möglichkeitsraum dessen, was gesellschaftlich oder innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Kontexte als ‚normal‘ und anerkennbar angesehen wird. Damit schließt sie an Foucaults Vorstellungen der sozialen Norm an und beschreibt, wie über
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Anerkennung mit Bezug auf diese sozialen Normen eine Zuweisung von Subjekten als ‚normal‘ oder ‚anders‘ stattfindet. Butler spricht darüber im Zusammenhang von Subjektivität und „Selbstverhaftung“ (ebd.: 62). In ihren Augen wird das Subjekt nicht einfach durch Macht mechanisch konstituiert und ist fortan da, sondern es existiert ein Bedürfnis, „an seine eigene Subjektivität geheftet“ zu werden. Die Vermittlung von Subjektivierung und Verhaftetsein an die daraus hervorgebrachte Subjektivität findet über „Normen, die uns einen Sinn für das zurückgeben, was wir sind“ (ebd.) statt. Es zeigt sich also eine doppelte Lesart von sozialen Normen. Sie stellen sowohl eine Macht dar, über die Subjektivierungen und Normalisierungen stattfinden, als auch die Möglichkeit, dem eigenen Verhaftetsein an diese Subjektivität und damit an die Unterwerfung und die Positionierung in einer sozialen Ordnung einen subjektiven Sinn zuzuschreiben. Aus diesem Begehren nach Selbstverhaftung entwickelt Butler ein Begehren nach Anerkennung, das sie ebenso wie Honneth von Hegels Jenaer Schriften ableitet. Sie kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Butler sieht aufgrund ihrer Überlegungen zur Machtförmigkeit von sozialen Normen und Anerkennung eine Begrenzung der Selbstverhaftung. Sie schreibt: „Dieses Begehren nach Anerkennung führt dann zu einer ganz spezifischen Verletzlichkeit, wenn die Macht ein Gesetz der Wahrheit verhängt, das vom Subjekt anerkannt werden muß. Das bedeutet, daß unser grundlegendes Verhaftetsein mit uns selbst, ein Verhaftetsein, ohne das man gar nicht sein kann, von vornherein durch soziale Normen begrenzt ist und daß die Nichtbefolgung dieser Normen die Fähigkeit gefährdet, sich einen Sinn für den eigenen fortwährenden Status als Subjekt zu erhalten.“ (Ebd.: 63; Hervorhebung im Original)
Anerkennung wird hier also als Subjektivierung verstanden und stellt gleichzeitig die Begrenzung der Möglichkeiten der Subjektivierung dar, da nur als anerkennbar gilt, was bereits gesellschaftlich anerkannt ist. Judith Butler sieht selbst, dass sie mit einer solchen Beschreibung von Anerkennung eine Form der fast absoluten Macht entwickelt, die zunächst nur die Unterordnung unter soziale Normen vorsieht. Das Infragestellen der Normen oder das Einfordern neuer Normen könnte fehlende Anerkennung und damit das Zerstören des Verhaftetseins mit der eigenen Subjektivität zur Folge haben. Individuen wären dann nicht mehr an ihre Subjektivität gebunden, sie sähen keinen Sinn mehr in der Unterordnung. Anerkennung wird jedoch als wichtig für das Sein angesehen. Butler liest in der Normbefolgung „eine Befriedigung, die aus dem Glauben stammt, derjenige, den man durch die Norm eingerahmt sieht, sei mit dem identisch, der hier sieht“ (ebd.: 64). Subjekte erleben die Konformität also nicht unbedingt als Macht, sondern sehen sie als ein befriedigendes
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Ergebnis der Identifizierung mit sozialen Vorgaben. Dies bezeichnet Judith Butler als Illusion (ebd.: 64). In Übertragung auf die Befriedigung über Anerkennungsprozesse zieht Butler einen zeitlichen Rahmen ein. Normbefolgung könne nur „einen Augenblick lang die volle Anerkennbarkeit“ (ebd.) verleihen. In demselben Moment, in dem Subjekte innerhalb der sozialen Normen als solche anerkannt werden, werden sie sich gleichzeitig der damit verbundenen Beschränkung, also der Unterordnung unter soziale Normen, bewusst. Und genau an diesem Punkt sieht Butler die Möglichkeit, „das Versprechen dieser Normen“ (ebd.) in Frage zu stellen. Noch immer ist damit die Gefahr der Nicht-Anerkennbarkeit verbunden. Trotzdem existiert die Erkenntnis der Beschränkung gleichzeitig mit dem nach wie vor vorhandenen Begehren nach Anerkennung. In dieser Gleichzeitigkeit sieht Butler die Möglichkeit des Widerstands gegen soziale Normen und Anerkennung beziehungsweise den Ansatzpunkt für die Veränderung des Anerkennbaren. Sie entwirft die Vorstellung eines Lebens an den „Grenzen der Anerkennbarkeit“ (ebd.: 67), dem sie die „begrenzte Freiheit“ zuschreibt, „noch nicht falsch oder wahr zu sein und das eine entscheidende Distanz zu den Bedingungen eröffnet, die über unser Sein entscheidet“ (ebd.). Butler beschreibt mit diesen „Grenzen der Anerkennbarkeit“ einen Ort, der zwar im Verhältnis zur Anerkennbarkeit liegt, aber in Distanz dazu. In ihren Ausführungen wird nicht ganz klar, ob sie diese „Grenzen der Anerkennbarkeit“ als einen gesellschaftlichen Raum konzipiert, in dem Lebensformen möglich sind, die noch nicht verbalisierbar oder benennbar sind, die noch nicht in den Kanon von ‚normal‘ oder ‚anders‘ eingeordnet sind und damit noch nicht die Gestalt von sozialen Normen angenommen haben. Möglicherweise sieht sie die „Grenzen der Anerkennbarkeit“ aber auch in den Individuen selbst als „den Bereich unserer selbst, den wir ohne Anerkennung leben, in dem wir durch Verleugnung beharren, für den wir kein Vokabular haben, den wir ertragen ohne es wirklich zu wissen“ (ebd.: 63). Es scheint also Bereiche „unserer selbst“ zu geben, die nicht anerkennbar sind, auf die die Macht der Anerkennung und Anerkennbarkeit keinen Zugriff hat und die damit auch nicht subjektiviert werden (können). Diese Bereiche müssen in Butlers Darstellung deswegen verleugnet werden. Doch auch diese Bereiche sind – wenn auch unbewusst – da und ihnen schreibt Butler Ermöglichungsmomente zu. Über sie kann Distanz zu den Normen geschaffen werden, die der Anerkennbarkeit zugrunde liegen. Möglicherweise kann auch über sie ein Leben an den „Grenzen der Anerkennbarkeit“ entstehen. Die Ausführungen zum Zusammenhang von Macht, Subjektivierung und Anerkennung stellen eine wichtige theoretische Ergänzung für die Bearbeitung meiner Fragestellung nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung dar. Anerkennung als Subjektivierung impliziert die in Abschnitt 4.1 ausgeführte „Ubiquität“ (Wagner 2004: 11) von Anerkennung.
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Gabriele Wagner bezieht sich dabei auf die Bestätigung von Lebensformen durch Andere. Da sie die Möglichkeit des Scheiterns in Anerkennungsprozessen mitdenkt, spricht sie von einer „Generalisierung“ (ebd.: 155) der Suche nach Anerkennung. Hier wird die zitierte Ubiquität von Anerkennung anders konzipiert. Es geht nicht um die Bestätigung durch Andere, sondern Anerkennung wird als elementarer Bestandteil von Subjektivierungprozessen verstanden. Damit kommt Anerkennung keine normative Bestätigung zu, sondern sie stellt sowohl Unterwerfung als auch Sinnstiftung dar. Anerkennung wird damit als Machttechnologie verstanden, in der selbstermächtigende Momente enthalten sind. Wie ich in den Abschnitten 4.1 und 4.2 mit Bezug auf Pluralisierung bereits ausgeführt habe, finden Anerkennungsprozesse in unterschiedlichen Anerkennungsfeldern gleichzeitig statt und sind aufeinander bezogen. Dagmar Cramers Anerkennung als ‚Rabenmutter‘ ist nicht ohne ihre Anerkennung als berufstätige Frau zu denken. Gleichzeitig steht Zurückweisung der Anerkennung als ‚Rabenmutter‘ in Bezug zu ihrer Anerkennung als Chirurgin. Für meine Analyse ist es also hilfreich, Anerkennung nicht nur bezogen auf ein Feld zu analysieren. Es erscheint sinnvoller, Anerkennungsprozesse auch in ihrem Bezug aufeinander in den Blick zu nehmen und die darüber hergestellten Subjektpositionen innerhalb der Felder mitzuberücksichtigen. Die Perspektive der Subjektivierung ermöglicht zudem die Erweiterung des Verständnisses von Anerkennung. Als Anerkennung wird dann nicht nur Bestätigung verstanden, sondern die Einordnung in den Rahmen dessen, was Judith Butler als Anerkennbarkeit beschreibt. Die Suche nach Anerkennung stellt nicht mehr nur eine Suche nach mehr Anerkennung dar, sondern sie lässt sich als Suche nach Anerkennbarkeit beschreiben. Damit verbunden ist der Wunsch nach Einordnung in den normativen Rahmen. Mit dem hier vorgestellten Foucaultschen Verständnis von Normen ist dies gleichbedeutend mit einem Anpassen an soziale Normen. Damit lässt sich nicht nur Anerkennung als Machttechnologie beschreiben, sondern es sind bereits in die Suche nach Anerkennbarkeit Momente der Macht eingeschrieben. Auch dies lässt sich auf das Zitat von Dagmar Cramer anwenden. Ihr wird mit der Bezeichnung ‚Rabenmutter‘ die Anerkennbarkeit der ‚guten Mutter‘ zunächst abgesprochen. Ihr Umgang damit beschreibt eine Praxis, wie sie trotz der Bezeichnung ‚Rabenmutter‘ nach Anerkennbarkeit als ‚gute Mutter‘ sucht. Sie tut dies, indem sie an andere normative Vorstellungen von Muttersein anschließt. Macht und Ermächtigung als gleichzeitig zu konzipieren, beschreibt einen für meine Fragestellung wichtigen Gedanken. Das Verständnis von Anerkennung als Subjektivierung stellt also ein für die Analyse von Anerkennungspraktiken gewinnbringendes Denkmodell dar. Für die Bearbeitung meiner Fragestellung ist es notwendig, diesen Ansatz zu konkretisieren und für die empirische Analyse anwendbar zu machen. Darauf
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werde ich im folgenden Abschnitt 4.4 eingehen, in dem ich den Ansatz der Anerkennung, verstanden als Adressierung (vgl. Balzer und Ricken 2010; Ricken 2013) ausführe. Dieser nimmt eine subjektivierungstheoretische Perspektive ein, ohne dabei den interaktiven Aspekt von Anerkennung zu vernachlässigen.
F a zit : A nerkennung als A dressierung In den Ausführungen zu Anerkennung als Subjektivierung in Abschnitt 4.3 lag der Fokus auf machttheoretischen Überlegungen. Dieser Zwischenschritt war notwendig, um den Perspektivwechsel von Anerkennung als Bestätigung hin zu Anerkennung als Machttechnologie nachvollziehbar zu machen. Aus den Ausführungen zur Pluralisierung von Lebensformen, Anerkennungsfeldern, -beziehungen und -erfahrungen in den Abschnitten 4.1 und 4.2 wurden die Komplexität von Anerkennungsprozessen und die damit verbundenen Anforderungen an die Analyse von Anerkennungspraktiken deutlich. Zudem stellte sich heraus, dass Hierarchien auf unterschiedlichen Ebenen relevant werden. Es existieren hierarchische Beziehungen zwischen den Anerkennungsfeldern, in Anerkennungsbeziehungen und auch Anerkennungsinhalte können hierarchisch gedacht werden, je nachdem, wer sie ausspricht oder entgegenbringt. Zudem entstehen über Anerkennungsbeziehungen unterschiedliche Positionen in Anerkennungsfeldern, die sich hinsichtlich ihrer hierarchischen Einordnung je nach Feld unterscheiden können. Aus dieser vielschichtigen Pluralisierung entstehen Komplexität und Unsicherheit, es eröffnen sich aber auch, wie dargestellt, Gestaltungsmöglichkeiten. Mit dem Verständnis von Anerkennung als Subjektivierung lässt sich diese Komplexität fassen. Anerkennung wird als elementarer Bestandteil von Subjektivierung gedacht, damit sind Macht- und Ermächtigungsaspekte theorieimmanent. Aufgrund der Abkehr von einem einheitlichen, autonomen Subjekt hin zu einem Verständnis von kontextabhängigen Subjektpositionen wird die Pluralisierung einbezogen. Mit Bezug auf die Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Anerkennungsfeldern lässt sich die Positionierung zudem noch hierarchisch verstehen. Wenn in hierarchisch zueinander stehenden Anerkennungsfeldern Subjektpositionen über Anerkennung entstehen, so stehen auch diese in hierarchischem Bezug zueinander. Diese Positionen sind infolgedessen mit unterschiedlicher Macht ausgestattet 8, die in Anerkennungspraktiken zurückfließt.
8 | Hier beziehe ich mich auf Stuart Hall (2000: 57 ff.), der Diskursfelder nicht als gleichrangige und gleichwertige Bestandteile das Macht-Wissen-Komplexes betrachtet, sondern auch Machtbeziehungen zwischen Diskursfeldern sieht. Da in Anerken-
Anerkennung – Selbstbezüge – Subjektivierung
Wie lässt sich nun dieser theoretische Ansatz auf meine Frage nach Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung anwenden und für die empirische Analyse handhabbar machen? Hierfür ist es hilfreich, Subjektivierung praxeologisch zu lesen und damit als soziale Praxis zu verstehen. Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist (2013) verwenden dafür den Begriff der Selbst-Bildungen und beschreiben diesen folgendermaßen: „Mit dem Terminus Selbst-Bildungen legen wir explizit den Akzent auf diesen Eigenanteil der Individuen an der praktischen Aus- und Umgestaltung vorgefundener Subjektformen und damit an ihrer eigenen Subjektwerdung in verschiedenen Kontexten, ohne die Individuen als absolut agierende Subjekte misszuverstehen.“ (Alkemeyer u. a. 2013: 21; Hervorhebung im Original)
Dieser Ansatz beschreibt sowohl den machtförmigen Herstellungscharakter von Subjektpositionen als auch die eigenmächtige Beteiligung von Individuen an der Performativität und Veränderung von Subjektivierungsformen und damit den gestaltenden Anteil von Individuen bezüglich ihrer Subjektpositionen und ihrer Selbst-Bildungen. Mit dieser praxeologischen Perspektive ergeben sich Möglichkeiten, Subjektivierungen in spezifischen Kontexten anhand konkreter sozialer Praktiken zu untersuchen (Alkemeyer 2013: 61 ff.). In diesem Kontext wird auch Anerkennung relevant. Thomas Alkemeyer bezieht sich dabei auf den von Nicole Balzer und Norbert Ricken (2010: 72 ff.) ausgearbeiteten Ansatz von Anerkennung als Adressierung. In diesem Ansatz werden Anerkennung und Adressierung zusammengedacht. Nicole Balzer und Norbert Ricken meinen damit Folgendes: „[M]it Anerkennung ist die zentrale Frage berührt, als wer jemand von wem und vor wem wie angesprochen und adressiert wird und zu wem er/sie dadurch vor welchem (normativen) Horizont sprachlich bzw. materiell etablierter Geltungen gemacht wird; bezieht man dann auch mögliche Antworten mit ein, dann lassen sich diese analog dazu als Gegenadressierung verstehen, in denen ihrerseits andere wieder als jemand angesprochen und – qua Verschiebung bzw. Akzeptanz etablierter Normen – zu jemandem gemacht werden.“ (Ebd.: 73)
Nicole Balzer und Norbert Ricken beziehen sich mit ihrer praxeologischen Sicht auf Anerkennungsprozesse auf Judith Butlers Analysen des Komplexes Anerkennung, Macht und Subjektivierung, die ich in Abschnitt 4.3 ausgeführt habe. Unter Adressierung wird dabei nicht nur die sprachliche Anrede verstannungsfeldern diskursiv hergestellte soziale Normen gelten, lässt sich Halls Argumentation hier auf Anerkennungsfelder übertragen.
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den, sondern auch Gesten, körperliche Reaktionen, Blicke oder Positionierungen von Körpern, deren Einsatz jeweils nicht als feststehend verstanden wird, sondern sich in den Praktiken „ständig (re)signifiziert“ (Reh und Ricken 2012: 43). Mit der Verbindung von Anerkennung und Adressierung steht damit ein Ansatz zur Verfügung, mit dem analysiert werden kann, wie Anerkennung intersubjektiv zum Ausdruck gebracht wird. Vor dem Hintergrund der subjektivierungstheoretischen Perspektive fließen Machtanalysen in dieses zum Ausdruck Bringen mit ein. Norbert Ricken hält es daher für sinnvoll, den Ansatz von Anerkennung als Adressierung „als grundsätzliche Struktur in und von Kommunikation wie Interaktion insgesamt zu interpretieren“ (2013: 92). Um das Konzept der Anerkennung als Adressierung zu konkretisieren, werde ich im Folgenden die darin enthaltenen vier Dimensionen kurz darstellen (Ricken 2013: 94 ff.): Zunächst wird Anerkennung als Individuum, als Einzelner konzipiert: Mit der Adressierung werden bestimmte Angerufene ausgewählt. Dies bedeutet gleichzeitig, andere werden nicht angerufen. Darüber zeigt sich, wer als anrufbar gilt. Die Auswahl wird von den Angerufenen bestätigt. Als zweite Dimension findet mit der Anrufung eine „Normation“ (ebd.: 95) statt, denn in die Adressierung ist das, was als anerkennbar gilt, bereits eingelassen. Durch die Anrufung werden diese sozialen Normen aufgerufen, wiederholt und wieder gültig gemacht. Die Konzeption von Anerkennung als Adressierung denkt somit den reflexiven Prozess von Anerkennungsprozessen, auf den ich in Abschnitt 4.1 eingegangen bin, mit. Die dritte Dimension ist die der Positionierung. Über Adressierung und Re-Adressierung erfolgt eine Positionierung innerhalb des Subjektivierungsprozesses (ebd.). Die Adressierung erfolgt innerhalb des Anerkennbaren und weist, das haben auch die Ausführung zu Judith Butlers Überlegungen hinsichtlich Anerkennung und Subjektivierung in Abschnitt 4.3 gezeigt, soziale Positionierungen zu. Damit stellen sich Adressierende und Adressierte in Relation zueinander, so dass im Kontext der Adressierung Aushandlungen von hierarchierelevanten Subjektpositionen stattfinden (ebd.). Als vierte Dimension wird die „Valuation“ (ebd.: 96), also die Bewertung, eingeführt. Über Anerkennung und Adressierung finden also nicht nur Auswahl, Normation und Position statt, sondern die Subjektposition wird zudem einer Bewertung unterzogen. Diese bezieht sich nicht nur auf binäre Einordnungen wie positiv oder negativ, sondern schließt auch Veränderungsmöglichkeiten im Zeitverlauf oder eine bestimmte Entwicklung ein (ebd.). Diese Beschreibung von Anerkennung als Adressierung beinhaltet zentrale Elemente, die für diese Arbeit von Bedeutung sind: Anerkennung wird als soziale Praxis verstanden, in die die normativen Grundlagen von Anerkennung einfließen. Diese werden von den Individuen nicht unbedingt reflektiert oder intentional eingesetzt. Vielmehr lassen sie sich erst in der Analyse der Anerkennungspraktiken rekonstruieren. Das Konzept verweist auf den Herstellungscharakter der Subjektpositionen mit Bezug auf bestimmte Formen
Anerkennung – Selbstbezüge – Subjektivierung
von Anrufungen. Da diesen Praktiken ein subjektivierungstheoretisches Verständnis zugrunde liegt, lassen sich sowohl unterwerfende als auch sinnstiftende Momente von Anerkennung fassen. Über die Konzipierung der ReAdressierung wird zudem der eigenmächtige Anteil der Einzelnen in diesen Prozessen sowie die Gleichzeitigkeit von Anerkennen und Anerkannt-Werden mitberücksichtigt. Denn die Re-Adressierung stellt ihrerseits einen Anerkennungsprozess derer dar, die vorher adressiert haben. Anerkennung und Adressierung zusammenzudenken, ermöglicht zudem die Rekonstruktion von Deutungen, die den jeweiligen Adressierungen zugrunde liegen. Anerkennung als Adressierung zu verstehen, erlaubt somit, der angesprochenen Omnirelevanz von Anerkennung Rechnung zu tragen, Anerkennungsprozesse in pluralen Feldern zu analysieren, die Adressierenden als konkrete, vergesellschaftete Teilnehmende in Anerkennungsprozessen zu verstehen, die normativen Rahmen über die Adressierung zu rekonstruieren und den Eigensinn innerhalb dieser Prozesse mitzudenken. Für die hier aufgeworfenen Fragen nach Anerkennungspraktiken innerhalb der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung bietet das Konzept der Anerkennung als Adressierung somit eine geeignete theoretische Grundlage für die empirische Forschung. Thomas Alkemeyer folgend zeigt sich in der empirischen Umsetzung von Anerkennung als Adressierung, „erstens, wer oder was im Kontext der beobachteten Praktik überhaupt von wem an welcher Position als anerkenn- und damit adressierbar wahrgenommen wird, und zweitens, wie sich Individuen gegenseitig als Subjekte ‚anrufen‘, indem sie sich sprachlich und gestisch (durch eine flüchtige Berührung, ein Hochziehen der Augenbraue, ein leichtes Nicken) einander zuwenden, kommentieren und kritisieren. Adressierungen und Re-Adressierungen bilden ein öffentliches Geflecht kommunikativer Akte, in deren Vollzug ein ‚irgendjemand‘ vor Dritten zu ‚jemandem‘ gemacht wird und sich selbst dazu macht. In diesen Geflechten können bestehende Machtverhältnisse bestätigt aber auch in Frage gestellt werden.“ (Alkemeyer 2013: 64)
Damit führt Thomas Alkemeyer die zentralen Aspekte, die ich in den Abschnitten 4.1 bis 4.3 ausführlich diskutiert habe, in eine empirisch rekonstuierbare Ebene über: Was wird als anerkennbar wahrgenommen (und nicht: was ist anerkennbar), wer wird als anerkennbar wahrgenommen, wie wird in Anerkennungspraktiken Anerkennung vermittelt, wie wird darauf reagiert und wie lässt sich dieser „jemand“, der über Anerkennung und Adressierung hergestellt wird, innerhalb von sozialen Hierarchien beschreiben?9 9 | Thomas Alkemeyer spricht hier von „beobachtbaren Praktiken“. Ich werde in Abschnitt 5.1 ausführen, warum ich mich für meine Analyse gegen Beobachtungen und für Erzählungen entschieden habe.
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Gerade der Zusammenhang zwischen Anerkennung und Hierarchien, der für meine Arbeit von hoher Relevanz ist, erfordert vor dem Hintergrund der subjektivierungstheoretischen Perspektive noch eine begriffliche Klärung, die sowohl theoretisch als auch für das Verständnis der Falldarstellungen in Kapitel 6 von Bedeutung ist. Anerkennung wird hier als Notwendigkeit für die Subjektkonstitution verstanden. Analog dazu bedeutet Missachtung das NichtAnerkennen des Subjekts und somit dessen Zerstörung (vgl. Benjamin 2002; Butler 2009a: 215 ff.). In meiner Arbeit folge ich dieser begrifflichen Definition und verstehe Anerkennung zunächst ausschließlich als Anerkennung der jeweiligen Subjektposition und verwende den Begriff der Missachtung analog als Nicht-Anerkennung von Subjektpositionen. Missachtung verstehe ich damit im Gegensatz zum Alltagssprachgebrauch nicht als eine Abwertung oder eine negative Bewertung, sondern tatsächlich als ein Nicht-Anerkennen von Subjektpositionen. In der Konsequenz stellen damit negative Bewertungen wie Missbilligung oder Abwertungen hier nicht Missachtungen dar, sondern werden als Facetten von Anerkennung verstanden (Balzer und Ricken 2010: 73 ff.). Missbilligung und Abwertung beschreiben zwar negative Bewertungen, doch auch darin erkennen sie noch immer die Subjektposition als solche an. Diese begriffliche Klärung ist für die Frage nach Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung besonders bedeutsam, da somit nicht nur über das Anerkennungsfeld und die jeweiligen Adressierenden Zuweisungen innerhalb von Hierarchien stattfinden, sondern auch darüber, welche Form der Anerkennung beziehungsweise welche Form der Adressierung geäußert wird. Mit dem Ansatz von Anerkennung als Adressierung habe ich ein theoretisches Konzept vorgestellt, das die Grundlage meiner empirischen Analyse darstellt. Daraus ergeben sich für die empirische Analyse noch methodologische Fragen, die ich folgenden Kapitel 5 diskutiert werden.
Anerkennung – Erzählung – Rekonstruktion Anerkennungspraktiken empirisch analysieren zu wollen, wirft zunächst die grundsätzliche Frage danach auf, wie Anerkennung überhaupt gemessen und also als solche erkannt werden kann. In den Ausführungen in Kapitel 4 habe ich die Komplexität von Anerkennungsprozessen aufgefächert. Anerkennung findet demnach sowohl in Interaktionen als auch in Kommunikationen statt, sie vollzieht sich innerhalb von Hierarchien, umfasst aufgrund ihrer Omnirelevanz alle Lebensbereiche, hat Normen zur Grundlage, die mehr oder weniger reflektiert zur Anwendung kommen, sie stiftet Sinn und ist Machtverhältnis zugleich. Wie also kann ein solch komplexer Prozess empirisch gefasst werden? Um Anerkennung erkennen zu können, muss das für Anerkennungspraktiken zentrale Moment der Deutungen von Normen und Anerkennbarkeit (vgl. vor allem die Abschnitte 4.1 und 4.4) rekonstruierbar sein. Welche Anforderungen sich daraus an das empirische Material ergeben und warum ich mich für biographisch-narrative Interviews entschieden habe, werde ich in Abschnitt 5.1 ausführen. Da Anerkennungspraktiken in dieser Arbeit als Subjektivierungspraktiken verstanden werden, wird eine theoretische Verbindung von Biographieforschung und dem Verständnis eines aus pluralen, sich widersprechenden Subjektpositionen bestehenden Selbst notwendig. Dafür wird eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erfahrung relevant, da dieser sowohl in der Biographieforschung als auch für Anerkennungspraktiken eine wichtige Rolle spielt. Darauf werde ich in Abschnitt 5.2 eingehen. Ausgehend von diesen Überlegungen beschreibe ich in Abschnitt 5.3 meine Vorgehensweise für die Rekonstruktion von Anerkennungspraktiken, bei der ich mich an der Positionierungsanalyse (vgl. Bamberg 2003; Lucius-Hoene und Deppermann 2004) orientiere. In Abschnitt 5.4 beschreibe ich Sampling und Fallauswahl, bevor ich in Kapitel 6 die Ergebnisse der empirischen Analyse präsentiere.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
A nerkennungspr ak tiken erkennen – eine F r age der D eutung Die Frage, wie sich Anerkennung überhaupt in empirischen Analysen erkennen lässt, ist für die Bearbeitung meiner Frage nach Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung von zentraler Bedeutung. Da Deutungen ein zentrales Moment für Anerkennungspraktiken darstellen, arbeite ich im Folgenden die unterschiedlichen Ebenen des Deutens noch einmal heraus, um davon ausgehend die Wahl meiner Methode zu begründen. Mit Bezug auf Gabriele Wagner (2004) habe ich die Notwendigkeit der Anerkennung der normativen Rahmen herausgearbeitet, die den jeweiligen Anerkennungsfeldern zugrunde liegen (vgl. Abschnitt 4.1). Das heißt, Individuen deuten die jeweiligen normativen Grundlagen für Anerkennungsprozesse und entwickeln darin – wie dargestellt – einen gewissen Eigensinn, indem sie entscheiden, was sie für sich als relevant erachten und was nicht. Übertragen auf Anerkennung als Adressierung hieße das, Individuen entscheiden, welche Adressierung sie annehmen und welche nicht. Analoges gilt für die adressierenden Personen. Auch diese müssen als anerkennungsrelevant interpretiert werden (vgl. Abschnitt 4.2). Für die Anerkennung dessen, was als anerkennbar gilt und wer als anerkennungsrelevant angesehen wird, stellen die Deutungsund Bewertungsmomente eine wichtige Grundlage dar. Die Rekonstruktion von Deutungen wird also sowohl für die Frage relevant, was Individuen überhaupt als Anerkennung interpretieren, als auch für die Rekonstruierbarkeit des Eigensinns in Anerkennungspraktiken. Daran anschließend beziehen sich Anerkennungspraktiken nicht nur auf ein generelles Anerkanntwerden, sondern auf ein Anerkanntwerden als (vgl. Abschnitt 4.3). Mit dem Anerkanntwerden als sind Positionierungen innerhalb von Hierarchien verbunden. Die Analyse von Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung bezieht diesen Positionierungsaspekt ausdrücklich mit ein. Für mich ist daher nicht nur relevant, wie sich die Individuen zu den normativen Rahmen in Bezug stellen, wie sie diese für sich deuten und ob sie diese für ihre Anerkennungspraktiken relevant werden lassen. In meiner Analyse spielt die Selbstverortung innerhalb von Hierarchien in Verbindung mit Anerkennung eine zentrale Rolle. Dabei geht es darum, welche Bedeutung Anerkennung beigemessen wird, wenn die Zuweisung von hierarchischen Positionen in den Anerkennungspraktiken mitverhandelt wird. Dies empirisch zu fassen, bedeutet demnach nicht nur die Deutungen der normativen Rahmen zu erkennen, sondern auch die Deutung der Relation, in der die normativen Rahmen jeweils zueinander stehen. Wie interpretieren Individuen die Hierarchie zwischen Berufen? Oder die Hierarchie innerhalb von Berufen? Oder die Hierarchie zwischen der Erwerbs- und der Reproduktionssphäre? Wie fließen diese Zuweisungen in Anerkennungspraktiken ein?
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Deutungen müssen aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für Anerkennungspraktiken aus dem empirischen Material rekonstruierbar sein. Ein direktes Erfragen von Anerkennung schließe ich daher aus1, da nicht reflektierte Deutungen und Anerkennungspraktiken bei einer derartigen Befragung nicht ermittelbar wären. Gerade weil meine Analyse nicht auf Ergebnisse vorheriger Studien hinsichtlich Anerkennungspraktiken in geschlechterhierarchischer Arbeitsteilung zurückgreifen kann, bietet sich für die Erhebungsmethode ein möglichst offenes Verfahren an. Dies gibt den Befragten die Möglichkeit, frei und ohne thematische Vorgaben erzählen zu können.2 Ich habe mich für meine Arbeit für biographisch-narrative Interviews entschieden, wie sie beispielsweise Gabriele Rosenthal (2014) und Fritz Schütze (1983) beschreiben. Lebensgeschichtliche Erzählungen stellen verbalisierte Selbstentwürfe dar, aus denen subjektive Deutungen rekonstruiert werden können (Dausien 2012: 162 f.). Die wenig strukturierende Fragetechnik der biographisch-narrativen Interviews ermöglicht einen großen Freiraum für die Erzählung. Das biographisch-narrative Interview beginnt mit einem Erzählstimulus zu Beginn des Interviews. Die Befragten werden gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und dabei selbst zu entscheiden, was sie erzählen wollen und wie sie das tun (ebd.). Sie präsentieren in der Interviewsituation einen Selbstentwurf, ohne dass die Interviewer_in die Erzählung mit Nachfragen oder gezielten Fragen stört beziehungsweise steuert. In der Interaktion mit der Interviewer_in finden zunächst lediglich erzählbestärkende Stimuli statt. Inhaltliche Nachfragen oder Verständnisfragen werden – sofern diese noch nicht in der Erzählung thematisiert wurden – erst im Anschluss an die Erzählung gestellt. Die Entscheidung darüber, wann die Erzählung zu Ende ist, trifft die befragte Person selbst (vgl. Marotzki 2010; Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2010).
1 | Dieses Vorgehen hat die Studie „Berufe im Schatten“ gewählt. An der Alten- und Krankenpflege sowie dem Einzelhandel wurde exemplarisch untersucht, wie die geringe soziale Wertschätzung dieser Berufe mit der Selbstwahrnehmung der in diesen Berufen Tätigen kontrastiert (vgl. Ciesinger u. a. 2011). Mit Hilfe der Studie wurden praktische Handlungsanweisungen entwickelt, wie den Beschäftigten innerhalb der Berufe mehr Wertschätzung entgegengebracht werden kann und wie derartige Instrumente auf das gesellschaftliche Bild der jeweiligen Berufe zurückwirken könnten (vgl. ebd.). Die Erhebung erfolgte über das explizite Erfragen dessen, was jeweils als wertschätzungsrelevant innerhalb des jeweiligen Berufs angesehen wird (Klatt u. a. 2011: 33 ff.). 2 | Diese Begründung führt auch Christine Wimbauer an, die den Zusammenhang von Arbeit und Liebe mit dem Ansatz intersubjektiver Anerkennung untersucht hat (Wimbauer 2012: 165 ff.).
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Über lebensgeschichtliche Interviews bleiben Erzählungen nicht auf ein Anerkennungsfeld beschränkt, sondern es werden unterschiedliche Felder relevant gemacht. Da die Erzählung frei erfolgt, entscheiden die Interviewten selbst, welche Lebensbereiche, welche Ereignisse und welche anderen Personen sie zum Bestandteil ihrer Erzählung machen. Bereits diese Auswahl stellt eine interessante Information für die Analyse von Anerkennungspraktiken dar. Zudem wird in biographisch-narrativen Interviews die zeitliche Komponente mitberücksichtigt. Die Interviewten haben die Möglichkeit, sich für unterschiedliche Zeiträume unterschiedlich zu entwerfen. Darüber lassen sich veränderte Erzählungen von Anerkennungspraktiken im Zeitverlauf rekonstruieren. Da Anerkennungspraktiken in meiner Arbeit als Praktiken von „Selbst-Bildungen“ (Alkemeyer u. a. 2013: 20 und Abschnitt 4.4) verstanden werden, stellen die erzählten Lebensgeschichten bereits eine Form von Selbst-Bildungen dar. Gleichwohl liegt der Idee der Selbst-Bildungen, die sich aus unterschiedlichen Subjektpositionen speist (ebd.), eine etwas andere Vorstellung des Selbst zugrunde, als dies in der Biographieforschung zumindest lange Zeit der Fall war.3 Um die Analyse von Anerkennungspraktiken, verstanden als Subjektivierungspraktiken, auf der Basis von biographisch-narrativen Interviews theoretisch auf eine fundierte Basis zu stellen, bedarf es daher einer Auseinandersetzung damit, was die biographische Erzählung repräsentiert und was daraus folglich rekonstruiert werden kann.
A nerkennungspr ak tiken erz ählen – E rfahrungen in L ebensgeschichten Die Biographieforschung gehört seit den 1970er Jahren zu einem der wichtigen Bausteine feministischer soziologischer Forschung und ist dies trotz der theoretischen Umbrüche bis heute geblieben (Dausien 2012: 158 ff.). Dienten Biographien zunächst dazu, weibliche Lebensformen sichtbar zu machen, werden sie mittlerweile als empirische Möglichkeit der individuellen Verarbeitung von geschlechterdifferenzierenden Konstruktionen gesehen (ebd.). Biographien werden dabei selbst als Konstruktionen verstanden, da Individuen diese in einem Prozess der Biographisierung herstellen (vgl. Dausien 1996; Dausien u. a. 2009; Rosenthal 2014: 174 ff.). In diesen Prozess fließen verschiedene Ebenen der Konstruktion ein: Auf zeitlicher Ebene werden Biographien als aus Erlebnissen und Handlungen Gewordenes konstruiert. Sie werden als Sinnkonstruktionen von Lebensgeschichten verstanden und ihnen wird eine ver3 | Für einen Überblick über die theoretischen Grundlagen der Biographieforschung und deren historische Entwicklung vgl. Rosenthal 2014: 174 ff..
Anerkennung – Erzählung – Rekonstruktion
mittelnde Funktion zwischen Individuum und Gesellschaft zugeschrieben, da der subjektive und der soziale Sinn, der aus den Biographien ablesbar ist, als Wechselverhältnis gedacht wird (Dausien 2012: 162 f.). Aus Biographien lassen sich also Wechselwirkungen zwischen individuellem Selbstbezug und gesellschaftlichen Rahmungen herausarbeiten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zu Anerkennungspraktiken erscheint die Biographieforschung genau deshalb gewinnbringend für diese Arbeit, denn hier soll die Wechselwirkung aus Anerkennungspraktiken innerhalb des Rahmens von gesellschaftlich Anerkennbarem analysiert werden. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die subjektivierungstheoretische Perspektive mit biographisch-narrativen Interviews in Verbindung gebracht werden kann, in denen eine Lebensgeschichte zunächst als ein gesamtes Gewordenes verstanden wird, als das Erleben eines „mit sich selbst identischen Subjekts“ (Rosenthal 1995: 133). Verhandelt wird also die Frage nach dem Subjektverständnis, das der Biographieforschung zugrunde liegt, und die Möglichkeit, dieses anders zu denken. Hier schließe ich an Debatten an, die in der Biographieforschung gerade vor dem Hintergrund der kontroversen Diskussionen um die Existenz des Subjekts geführt werden (vgl. Völter u. a. 2009).4 Bettina Dausien (2012) sieht in der Biographieforschung eine Möglichkeit, die theoretische Debatte um die Existenz des Subjekts „in eine empirische Frage zu verwandeln, nämlich in die Frage, wie gesellschaftliche Individuen in bestimmten historisch-sozialen Kontexten Subjektivität ‚herstellen‘“ (162; Hervorhebung im Original). Mit der Fokussierung auf das Wie im Herstellungsprozess beschreibt sie eine Perspektive auf lebensgeschichtliche Erzählungen, die für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden kann. Da ich Anerkennungspraktiken als Subjektivierungspraktiken verstehe, bedeutet deren empirische Rekonstruktion genau die Analyse dieses Herstellungsprozesses, den ich in unterschiedlichen Anerkennungsfeldern verorte und über den unterschiedliche Subjektpositionen entstehen. Um die von Dausien geforderte „Verwandlung“ der Frage auch theoretisch fassbar zu machen, bietet sich für meine Fragestellung eine Auseinandersetzung mit dem in der Biographieforschung zentralen Begriff der Erfahrung an (vgl. z. B. Dausien 1996; Rosenthal 2014; Schütze 1983). Biographien werden als „individuelle Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und milieuspezifischer Erfahrung“ (Marotzki 2010: 176) verstanden. Die Biographieforschung sucht dabei nicht nach objektivierbaren Erfahrungen, sondern nach subjektiven Deutungen dieser Erfahrung und nach deren Umsetzung in biographische Selbstentwürfe (z. B. Dausien u. a. 2009: 7; oder Schütze 1983: 284 f.). Für die hier vorgesehene Rekonstruktion 4 | Für einen Überblick über unterschiedliche Diskussionsstränge und Ansätze siehe Reckwitz 2008.
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von Anerkennungspraktiken aus lebensgeschichtlichen Erzählungen werden Erfahrungen noch in besonderer Weise relevant, da – wie ich in Abschnitt 4.1 ausgeführt habe – Anerkennungserfahrungen einen wesentlichen Bestandteil von Anerkennungsprozessen und deren Reflexivität beschreiben. Anerkennungserfahrungen, so habe ich dort argumentiert, fließen wieder zurück in Anerkennungsprozesse und gestalten sie mit. Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Erfahrung stellt sich die Frage, was genau unter Erfahrung zu verstehen ist und wie Erfahrung in lebensgeschichtlichen Erzählungen auftaucht. Für meine Analyse ist zudem relevant, in welchem Verhältnis Erfahrung und Subjektivierungsprozesse stehen. Darauf werde ich im Folgenden mit einer Diskussion des Konzepts der Erfahrung5 eingehen. Im Moment des Interviews werden in biographischen Erzählungen Erinnerungen an Erlebtes dargestellt. Nicht alles wird erinnert und nicht alles Erinnerte fließt in die Erzählung ein. Gabriele Rosenthal (1995) verweist in ihren Ausführungen zu Erlebnis, Erinnerung und Erzählung auf den Doppelcharakter von Erfahrungen: „Erfahrungen kommen beim Wahrnehmen nicht zusätzlich ins Spiel, sondern mit der Erfahrung reorganisiert sich das Wahrgenommene. (…) Sehen wir etwas, das uns bisher verborgen war, oder ordnet sich etwas, das bisher unverständlich blieb, werden wir kaum hinter diese Wahrnehmung zurückfallen, sofern das jetzt Wahrgenommene nicht psychischen Widerständen unterliegt.“ (Ebd. 1995: 44)
Es zeigt sich hier also eine doppelte Lesart von Erfahrungen. Sie sind wahrgenommenes Erlebnis und strukturieren gleichzeitig die Wahrnehmung des Erlebten und damit sein Erinnern. Erfahrung kann demnach nicht nur als das subjektiv als wahr Gedeutete und damit als subjektiver Wissensvorrat gelesen werden. Über Erfahrungen wird das geprägt, was erinnert wird, denn Erfahrungen schreiben Erinnerungen Bedeutungen zu. Somit wird subjektives Wissen bereits durch Erfahrungen gestaltet. Während Gabriele Rosenthal ihre Ausführungen über Erfahrungen im Kontext der Biographieforschung verortet und damit aus Erfahrungen ein Gewordensein ableitet, nimmt die Historikerin Joan W. Scott (1994) eine andere Perspektive auf das Konzept der Erfahrung ein. Sie bezieht sich in ihrer auf historischen Studien zur Situation schwuler Männer in den USA während der 1950er und 1960er Jahre basierenden Analyse kritisch auf das Verständnis von Erfahrungen als subjektivem Wissen. Sie schreibt Erfahrung zwar zu, Le5 | Der Begriff Erfahrung ist Gegenstand einer philosophischen Debatte unter anderem bei Hegel, Adorno und Marx. Diese wird an dieser Stelle nicht nachgezeichnet. Für einen Überblick vgl. Kirchhoff 2004.
Anerkennung – Erzählung – Rekonstruktion
bensrealitäten und Machtmechanismen wie Diskriminierung beschreiben zu können, letztendlich müsse aber hinterfragt werden, wie Menschen überhaupt dazu kommen, von Erfahrungen berichten zu können (Scott 1994: 369). Es geht somit nicht nur darum, beispielsweise Diskriminierungserfahrungen als subjektives Wissen zu verstehen, sondern auch um die Frage, wer wie von diesen Erfahrungen berichtet. Scott sieht Erfahrung damit nicht als Wissensbestand von Individuen an, der ausschließlich auf Erlebnissen beruht. Sie begreift Erfahrung nicht als etwas, das Individuen machen oder mit dem sie umgehen oder das das Sein und Bewusstsein von Individuen bestimmt, sondern als einen Mechanismus von Subjektivierung (ebd.: 370 ff.). Über Erfahrung werden in ihrer Lesart Individuen erst zu den Subjekten, als die sie diese Erfahrung beschreiben können. Damit richtet sich der Fokus mehr auf die Entstehung von gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen bestimmte Erfahrungen möglich sind. In ihren Worten: „We need to attend to the historical processes that, through discourse, position subjects and produce their experiences. It is not the individuals who have experience, but subjects who are constituted through experience.“ (Ebd.: 369) Scott sieht also Erfahrungen bereits als Ausdruck von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, über die Individuen Subjektpositionen zugewiesen werden, aus denen heraus diese Erfahrungen geschildert werden. Damit werden allerdings keine unveränderbaren Subjektpositionen festgeschrieben. In „Der Mensch ist ein Erfahrungstier“ beschäftigt sich auch Michel Foucault (1996) mit dem Konzept von Erfahrung. Er ergänzt Scotts Perspektive auf Erfahrung mit Handlungsmacht, die gleichzeitig mit Subjektivierung entsteht. In der Auseinandersetzung mit Wissen haben Subjekte die Möglichkeit, „zu einer Erfahrung zu gelangen, die eine Veränderung erlaubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dort, wo wir bisher keine Probleme sahen (mit einem Wort, in unserem Verhältnis zu unserem Wissen)“ (Foucault 1996: 31). Erfahrungen schreiben also Subjektpositionen zu, über Erfahrungen sind aber gleichzeitig Veränderungen des Wissens und des Selbstbezugs möglich. Über die Perspektive, Erfahrungen als Momente von Subjektivierung zu verstehen, ergibt sich eine Anschlussmöglichkeit an den für meine Arbeit relevanten subjektivierungstheoretischen Ansatz von Anerkennung als Adressierung. Damit wird, wie ich im Folgenden zeigen werde, eine Brücke zwischen der subjektivierungstheoretschen Perspektive zur Biographieforschung herstellbar. Hier komme ich auf Judith Butlers Begriff der Anerkennbarkeit zurück (vgl. Abschnitt 4.3). Mit dem Begriff der Anerkennbarkeit beschreibt sie das, was gesellschaftlich als anerkennbar, als ‚normal‘ und ‚nicht anders‘ gilt (vgl. Abschnitt 4.3 und Butler 2003: 63). Erfahrungen, die in den Prozess der Biographisierung münden und dann Bestandteile von Selbstentwürfen werden, lassen sich mit diesen Überlegungen von Anerkennbarkeit verbinden. Was
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Menschen erleben, was sie als Erfahrungen deuten und wie sie dieses Erleben in die Herstellung eines Selbstbildes einarbeiten, durchläuft das Raster des Anerkennbaren. Diese Überlegung verweist auf die Ausführungen von Scott, die ich weiter oben dargestellt habe: Erfahrungen werden zu Bestandteilen von Selbst-Bildungen, wenn es sich um anerkannte Erfahrungen handelt. Dazu zählt auch abwertende Anerkennung.6 Die Diskriminierungserfahrung eines schwarzen Schwulen, die Joan W. Scott als Beispiel für ihre Ausführungen heranzieht (1994: 364 ff.), beschreibt die abwertende Anerkennung der Subjektposition ‚schwarz‘ und ‚schwul‘. Somit kann seine Erfahrung, die ihm diese Subjektposition zuweist, als anerkannte Erfahrung verstanden werden. Denn auch wenn dies auf Basis einer diskriminierenden Erfahrung geschieht, so findet genau darüber Subjektivierung statt. Die gesellschaftliche Dimension von Erfahrungen zeigt sich allerdings nicht nur in der von Scott beschriebenen Zuweisung von Subjektpositionen. Um als Erfahrungen in diesem Verständnis relevant werden zu können, müssen sie – wie oben ausgeführt – auf anerkannte soziale Normen zurückgreifen. Dies wiederum bedeutet, dass Subjektivierung über Erfahrungen in einem Rahmen stattfindet, in dem Erfahrungen teilbar werden. Auf diesen Aspekt weist Michel Foucault hin. Er schreibt: „Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz allein macht und dennoch nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der reinen Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung – ich will nicht sagen: exakt übernehmen, aber sie doch kennenlernen und nachvollziehen können.“ (Foucault 1996: 33)
Foucault beschreibt das Spannungsfeld von Erfahrungen als alleiniges Erlebnis eines Einzelnen, das mit anderen geteilt werden können muss. Um als Erfahrungen vermittelbar zu sein, müssen Andere in der Lage sein, diese Erfahrungen verstehen beziehungsweise nachvollziehen zu können. Ihnen muss also zumindest innerhalb eines Feldes Wissen zugrunde liegen, das von anderen geteilt und verstanden werden kann. Weitergedacht bedeutet das, nicht alle Erfahrungen werden überall als Erfahrungen in gleicher Weise vermittelbar. Auch wenn in Scotts Beispiel die Diskriminierungserfahrung als Zuweisung einer Subjektposition gelesen werden kann, kann dieselbe Erfahrung in einem anderen Kontext, beispielsweise in der schwarzen, schwulen Community, auf ein anderes Verständnis stoßen und eine andere Subjektposition ermöglichen. Auch hier zeigt sich ein Ermöglichungsmoment. Individuen können entscheiden, wann sie wie welche Erfahrungen artikulieren und darüber möglicherweise die Annahme von Subjektpositionen verweigern (Lorenz 2007: 205). 6 | Auf die begriffliche Unterscheidung von Anerkennung, Abwertung und Missachtung bin ich bereits in Abschnitt 4.4 eingegangen.
Anerkennung – Erzählung – Rekonstruktion
Was bedeuten diese Ausführungen nun für die Analyse von Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung anhand von biographischen Erzählungen? Wird die biographische Erzählung als Verbalisierung von Selbst-Bildungen verstanden, so lassen sich die darin berichteten Erfahrungen als Anerkennungserfahrungen verstehen. Über Anerkennungserfahrungen – zerlegt in die Wortbestandteile Anerkennung und Erfahrung und verstanden als Subjektivierungsmomente – lassen sich aus den Erzählungen Subjektpositionen rekonstruieren, die in den Lebensgeschichten erzählt und als Teil von Selbst-Bildungen beschrieben werden. Konkret bedeutet das: Die Erzählungen von Adressierungen in biographisch-narrativen Interviews lassen sich als Anerkennungserfahrungen verstehen, über die Subjektpositionen rekonstruiert werden können. Die Beschreibung der Adressierungen verweist auf die Handlungsmacht, die sich die Erzählenden in ihrer Selbstpräsentation zuschreiben und mit der sie sich ebenfalls positionieren. Da diese erzählten Adressierungserfahrungen in den Kontext einer Selbstpräsentation eingebunden sind, lassen sich zudem Deutungsverschiebungen rekonstruieren, die von der erzählenden Person aus heutiger Perspektive zwischen unterschiedlichen Anerkennungspraktiken und/oder zwischen unterschiedlichen Lebensphasen vorgenommen werden. Wie oben bereits angedeutet, sind gerade im Zusammenhang mit der Diskussion um ein mögliches Zusammendenken von Biographie- und Diskursforschung theoretische Überlegungen entstanden, die Analysen auf der Basis von lebensgeschichtlichen Erzählungen ermöglichen und dabei die Konzeption von Subjektpositionen einbeziehen (vgl. Schäfer und Völter 2009; Spies 2010: 109 ff.). Thomas Schäfer und Bettina Völter (2009) greifen die Foucaultsche Kritik an Biographieforschung auf, wonach das Subjekt durch das Geständnis, verstanden als die Selbsterzählung, überhaupt erst produziert wird (2009: 162). Im Anschluss an diese Kritik entwickeln sie eine Lesart der Selbsterzählung, die sie als „Selbstanrufung des Subjekts“ (ebd.: 169) bezeichnen. Damit lässt sich die Erzählung des Subjekts als bestehend aus Präsentationen verschiedener Subjektpositionen verstehen, die in der Erzählung produziert werden. Schäfer und Völter lesen die Erzählung also nicht als eine Lebensgeschichte, aus der sich „Authentizität und Wahrheit“ (ebd.) rekonstruieren lassen, sondern als eine Selbstdarstellung, über die sich die Biograph_innen „die sprachliche Objektivierung des Erinnerten in der Regel als ‚Wahrheit über sich selbst‘ aneignen“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Die Erzählung beinhaltet somit zwei Momente: die Präsentation an die Interviewer_in und die Vergewisserung des Selbst über die Erzählung. Genau das ist der Ansatzpunkt meiner Arbeit. Der Fokus der empirischen Analyse liegt hier auf Anerkennungspraktiken und damit auf Praktiken der Subjektivierung. Lebensgeschichtliche Selbstdarstellungen stellen dafür eine geeignete Grundlage dar. Die Interviewten beschreiben Anerkennungsprakti-
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ken, erzählen ihre Erfahrungen und stellen damit ein für sich und die Interviewer_in kohärentes Selbst her, das aus unterschiedlichen Positionen besteht. Für meine Fragestellung geht es nicht darum zu rekonstruieren, wie die Interviewten Anerkennungsprozesse tatsächlich erlebt haben. Ich möchte vielmehr herausarbeiten, wie sie sich innerhalb der Vielzahl von Anerkennungsadressierungen erzählen. Die Auswertung wird dabei von folgenden Fragen geleitet: Welche Adressierungen werden thematisiert? Auf welche Adressierungen wird reagiert? Wie wird reagiert? Welche Subjektposition wird entsprechend zugewiesen? Welche ermächtigenden und verändernden Momente lassen sich dabei herausarbeiten? Da ich hinsichtlich meiner Perspektive auf die biographisch-narrativen Interviews von derjenigen der ‚klassischen‘ Biographieforschung abweiche, muss ich die Analyse der Erzählungen entsprechend an die theoretischen Überlegungen anpassen.
A nerkennungspr ak tiken rekonstruieren – erz ählte P ositionierungen Werden Selbst-Bildungen als Herstellung eines Selbst aus unterschiedlichen Subjektpositionen verstanden, so stellen unterschiedlichen Positionierungen für die Rekonstruktion von Anerkennungspraktiken ein wichtiges Moment dar. Diese lassen sich aus lebensgeschichtlichen Erzählungen herausarbeiten. Im Folgenden werde ich meine Vorgehensweise hinsichtlich der Rekonstruktion von Anerkennungspraktiken mit Bezug auf Positionierungen in unterschiedlichen Feldern genauer ausführen. Wie im vorherigen Abschnitt 5.2 dargestellt, lege ich den Fokus meiner Analyse nicht auf die Rekonstruktion einer Lebensgeschichte, sondern will erkunden, wie Subjektivierungen als Anerkennungspraktiken erzählt werden. Da sich meine Fragestellung auf Anerkennungspraktiken innerhalb hierarchischer Strukturen bezieht, richte ich das Augenmerk nicht nur auf Positionierungen innerhalb sozialer Felder, sondern auch auf Positionierungen zwischen ihnen. Dabei werden Hierarchien zwischen diesen Felden berücksichtigt. Für die empirische Analyse, greife ich auf die Positionierungsanalyse (vgl. Bamberg 2003; Korobov 2001; Lucius-Hoene und Deppermann 2004) zurück. Diese hat ihren Ursprung in der Psychologie und will herausarbeiten, wie aus Inhalten von Erzählungen Rückschlüsse auf Subjektkonstruktionen gezogen werden können. Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann formulieren: „ Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und
Anerkennung – Erzählung – Rekonstruktion Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind.“ (2004: 168; Hervorhebung im Original)
Der Fokus liegt auf Interaktionen, lässt sich aber auf Erzählungen übertragen. Sowohl in der Aktion des Erzählens als auch in der Erzählung selbst lassen sich Positionierungen herausarbeiten. Es kann somit rekonstruiert werden, wie sich Individuen erzählen und in diesen Erzählungen zu anderen in Beziehung setzen. Positionierung wird dabei als etwas verstanden, das sich in Diskursen begründet. Subjekte positionieren sich also nicht autonom, sondern innerhalb von diskursiven Rahmungen, die vom Subjekt als Deutung oder Norm angenommen werden (Bamberg 2003: 1). Die Widersprüchlichkeit von Diskursen fordert Individuen dazu auf, sich für eine Position unter den möglichen zu entscheiden. Darin liegt ihre Handlungsmöglichkeit begründet. Wenn sie sich für eine Position entschieden haben, die sie vorübergehend einnehmen, sammeln sie innerhalb dieser Position Erfahrungen, auf die sie im weiteren Verlauf der Positionierung zurückgreifen können. Bamberg unterscheidet in „being positioned“ (also den Diskursen unterworfen) und „positioning oneself“ (als Handlung innerhalb gegebener diskursiver Rahmen) (ebd.: 2). Ausgehend von einem Diskursverständnis, wonach Diskurse Erzählungen strukturieren und Erzählungen selbst Diskurse produzieren, schlägt Bamberg verschiedene Analyseschritte vor, um die beiden Richtungen einzubeziehen: Zunächst wird analysiert, wie Personen innerhalb der Erzählung eingeführt und beschrieben werden; im nächsten Schritt wird beobachtet, welche Erzählungen angewendet werden, um die Geschichte schlüssig zu machen, und die dritte Ebene beschreibt die Interaktion zwischen dem Erzähler und dem Publikum, in diesem Fall der Interviewerin (ebd.: 3). Die Positionierungsanalyse geht also davon aus, dass in der Interviewsituation zum einen eine Selbstpositionierung stattfindet, indem die Erzählenden entscheiden, wie sie sich präsentieren und als wer sie gesehen werden wollen. Zum anderen rezipieren die Erzählenden die Adressierung der Interviewer_in und reagieren darauf (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 169). Es finden zudem in den Erzählungen selbst Positionierungen statt, da gerade in biographisch-narrativen Interviews der Fokus auf der eigenen Geschichte liegt. In dieser wird die eigene Position in Bezug auf andere Personen beschrieben. Über die Art und Weise, wie Personen über sich und andere sprechen, lassen sich sowohl die jeweiligen Selbstpositionierungen als auch die Positionierungen der anderen rekonstruieren (ebd.). Tina Spies hat in ihrer Arbeit „Migration und Männlichkeit“ Positionierungsanalysen anhand von biographisch-narrativen Interviews vorgenommen (2010: 143 ff.). An diesem Vorgehen orientiere ich mich in meiner Analyse. Da Tina Spies sich auf Diskurse bezieht, mein Fokus hingegen auf Anerken-
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nungspraktiken liegt, sind allerdings Modifikationen nötig, auf die ich im Folgenden eingehe. Tina Spies bezieht sich in ihren theoretischen Ausführungen auf Subjektivierung über Diskurse und verweist auf das Konzept der Artikulation von Stuart Hall (2000: 65 ff.). Hall versteht unter Artikulation Sprechen im Sinne von Artikulieren, verweist aber auch auf die zweite Bedeutung, die der Begriff im Englischen hat, nämlich den der Ver- oder Ankopplung beispielsweise des Anhängers an einen Lastwagen (ebd.: 65). Mit dieser Doppeldeutigkeit drückt Hall sein Verständnis der Verbindung von Subjektpositionen und Diskursen aus: Er versteht Sprachakte als Anschlussmechanismen an Diskurse, sieht diese Verbindung jedoch nicht unbedingt als dauerhaft, sondern als auch immer wieder lösbar. Er schreibt: „Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. Man muss sich fragen, unter welchen Bedingungen kann eine Verbindung hergestellt oder geschmiedet werden?“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) In dieser Konzeption denkt Hall Handlungsmacht und Möglichkeiten der Veränderung mit. Er entwickelt damit kein in sich geschlossenes Subjekt, sondern sieht in der diskursiven Herstellung des Selbst eine Möglichkeit „zu entdecken, dass das, was wir ‚das Selbst‘ nennen, aus und durch Differenz konstituiert ist und widersprüchlich bleibt, und dass auch kulturelle Formen niemals ganz, niemals völlig abgeschlossen, niemals vernäht sind“ (ebd.: 70 f.) Tina Spies nimmt Stuart Halls Ansatz der Artikulation als Möglichkeit, Subjektivierung über Diskurse empirisch aus biographisch-narrativen Interviews zu rekonstruieren. Sie analysiert, an welche Diskurse Erzählende in ihrer Selbstbeschreibung anschließen und wie sie das tun (Spies 2010: 144 ff.). Anders als Tina Spies werde ich in meiner Arbeit die Bezugnahme auf Diskurse nicht explizit analysieren. Die Untersuchung von Anerkennungspraktiken schließt die Frage ein, was die Interviewten als anerkennenswert deuten. Ich kann in meiner Analyse also nicht vorwegnehmen, worauf sich die Interviewten in ihren Anerkennungspraktiken beziehen, und damit entsprechende Diskurse in den Fokus setzen. Bezugsrahmen für Anerkennungspraktiken sind soziale Normen, die diskursiv hergestellt werden (vgl. Abschnitt 4.3). Für meine Arbeit steht die Frage, wie diese Normen über Diskurse hergestellt werden, nicht im Vordergrund. Ich rekonstruiere vielmehr, auf welche Normen sich in Anerkennungspraktiken wie bezogen wird und wie somit an Normen als diskursive Ereignisse angeschlossen wird. Mit der Positionierungsanalyse lässt sich das theoretische Konzept der Anerkennung als Adressierung methodisch fassen. Adressierungen, Re-Adressierungen, Deutungen von Normen und Bewertungen von Interaktionen lassen sich mit der hier vorgestellten Methodologie aus dem konkreten Text des biographisch-narrativen Interviews rekonstruieren. Die Erzählungen beinhalten Selbstpositionierungen. Das Herausarbeiten dessen, worauf sich diese
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Positionierungen beziehen, verweist auf normative Rahmen, die dieser Positionierung zugrunde liegen. Analoges gilt für Erzählungen, warum bestimmte Subjekt-Positionen zurückgewiesen wurden. Aus der Beschreibung anderer Personen lassen sich die Interaktionen rekonstruieren, die als Adressierungen verstanden werden. Die Art der Beschreibung verweist darauf, wie die Adressierung gedeutet und gewertet wird, wie die interviewte Person mit dieser Adressierung umgegangen ist und welche Auswirkungen dies auf die jeweilige Positionierung hatte beziehungsweise welche Positionierung bestimmte Anerkennungspraktiken vielleicht erst ermöglicht. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen modifiziere ich also die Auswertung der biographisch-narrativen Interviews, indem ich die Rekonstruktion der Lebensgeschichte nicht in den Vordergrund stelle, sondern mich auf erzählte Positionierungen konzentriere. In der Auswertung der Interviews bin ich, Tina Spies‘ Vorgehen weitgehend folgend (2010: 163 ff.), in folgenden Schritten vorgegangen:
Biographische Datenanalyse In einem ersten Schritt habe ich aus der Erzählung die Informationen chronologisch zusammengetragen, mit der sich die Präsentation des gelebten Lebens beschreiben lässt (Rosenthal 2014: 174 ff.; Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2010: 461 ff.). Dieser Analyseschritt der erzählten biographischen Ereignisse dient nicht dazu, einen ‚objektiven‘ Verlauf des Lebens zu beschreiben. Mir geht es also nicht darum, eine innere Fallstruktur herauszuarbeiten. Vielmehr liegt in der Analyse der erwähnten Daten bereits eine Möglichkeit, die Selbstpräsentation danach zu befragen, warum diese Ereignisse erzählt wurden und andere nicht. Dieser Analyseschritt stellt eine „verschmälerte biographische Datenanalyse“ (Spies 2010: 163) dar, die als Ausgangspunkt für die weiteren Analyseschritte dient. Da meine Analyse nicht zum Ziel hat, gelebtes Leben zu rekonstruieren, sondern Selbstbeschreibungen zu analysieren, lag der Fokus der Rekonstruktion auf dem erzählten Leben.7
Text- und thematische Feldanalyse In diesem Analyseschritt habe ich die Erzählung daraufhin analysiert, welche Themenfelder angesprochen werden, in welchem Kontext dies geschieht und welches Präsentationsinteresse damit verbunden sein kann. Bezogen auf mei7 | Gabriele Rosenthal unterscheidet zwischen erzähltem und erlebtem Leben. Unter erzähltem Leben fasst sie die Selbstpräsentation über die Erzählung, aus der sich in der Fallrekonstruktion auf das erlebte Leben schließen lässt. Beides wird in ihrem Verfahren in einem letzten Schritt aufeinander bezogen (Rosenthal 2014: 186 ff.). Für meine Analyse beschränke ich mich aufgrund der vorangegangenen theoretischen Überlegungen auf die Selbstpräsentation, also das erzählte Leben.
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ne Fragestellung verstehe ich diese in die Erzählung einfließenden Themenfelder als Anerkennungsfelder. Damit stellt deren Kontextualisierung in der Erzählung einen Hinweis darauf dar, wie die Interviewten unterschiedliche Anerkennungsfelder miteinander in Verbindung bringen.
Fein- und Positionierungsanalyse Ausgehend von den thematischen Feldern, die im zweiten Analyseschritt herausgearbeitet wurden, habe ich Feinanalysen von Interviewpassagen vorgenommen, in denen die Felder jeweils thematisiert werden und in denen sich die Erzählenden mit Anderen in Interaktion präsentiert haben. Dabei habe ich herausgearbeitet, wie diese erzählt werden, in welcher Lebensphase und in welchen Feldern sie vorkommen, welche Personen immer wieder herangezogen werden und welche Positionen ihnen von der erzählenden Person zugeschrieben werden. Neben der Analyse von Interaktionen mit Personen habe ich auch Positionierungen in Bezug auf Felder wie beispielsweise das jeweilige Berufsfeld oder Entwürfe von Weiblichkeiten oder Männlichkeiten einbezogen. Hier habe ich herausgearbeitet, wie sich die Interviewten zu und in diesen Feldern jeweils in Bezug setzen, und worauf sie sich dabei stützen. Dies ist für meine Fragestellung insofern relevant, als damit auch Umgangsweisen mit hierarchischen Strukturen analysiert werden können. Für die Interpretationen dieser Positionierungen bin ich hypothesengestützt vorgegangen, indem ich die Frage „Wie hätte die Person oder die Interaktion anders erzählt werden können“ an die Textpassagen gestellt habe und damit die Positionierung mit dem Präsentationsinteresse in Verbindung bringen konnte.
A nerkennung und Adressierung – A nerkennungspraktiken In einem letzten Schritt habe ich den Gedanken der Adressierung in die Analyse einbezogen. Dabei habe ich ausgehend von der erzählten Positionierung untersucht, wie sich diese aus der Perspektive von Anerkennung und Adressierung erklären lässt. Dazu habe ich herausgearbeitet, welche Adressierungen und Re-Adressierungen sich nachvollziehen lassen, worauf diese sich begründen und welche Umgangsweisen sich diesbezüglich rekonstruieren lassen. Bevor ich die Ergebnisse dieser Analyse in Kapitel 6 ausführlich darstelle, gehe ich im Folgenden noch auf die Auswahl der Fälle ein.
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S ampling und F all auswahl Das empirische Feld meiner Analyse stellen die beiden Berufsgruppen Chirurgie und Friseurhandwerk dar, die unterschiedliche soziale Wertschätzung erfahren und unterschiedlich geschlechtlich codiert sind. Während die Chirurgie männlich codiert ist, der Frauenanteil dort jedoch zunehmend steigt, ist der Friseurberuf weiblich codiert. Diesbezüglich, aber auch bezüglich ihrer Berufsspezifika wie Ausbildungsdauer, Formalisierungsgrad, betriebliche Struktur (Kliniken versus Salons) stellen diese Berufe für das Sampling bereits eine maximale Kontrastierung (Flick 2010: 165) dar. Für die empirische Analyse habe ich in den beiden Berufsgruppen biographisch-narrative Interviews (vgl. Rosenthal 2014; Schütze 1983) mit Männern und Frauen geführt. Ich habe insgesamt 14 Interviews geführt, sieben mit Chirurg_innen (zwei Männer und fünf Frauen) und sieben mit Friseur_innen (drei Männer und vier Frauen). Die Kontaktaufnahme verlief im Schneeballverfahren, indem mir Interviewpartner_innen jeweils neue Kontakte vermittelt haben. Die Kontaktaufnahme verlief zunächst per E-mail. Dabei habe ich immer das Thema meiner Arbeit genannt, die Geschlechterperspektive meiner Fragestellung war somit bekannt. Dies erscheint mir mit ursächlich dafür, dass sich – anders als erwartet – eine hohe Teilnahmebereitschaft bei Chirurginnen zeigte. Bei ihnen habe ich ein großes Bedürfnis erlebt, ihre Geschichten zu erzählen und auf die Situation von Frauen in der Chirurgie aufmerksam zu machen. Die Interviews fanden in unterschiedlichen Settings statt. Die Chirurg_innen habe ich bis auf einen Fall, bei dem das Interview in der Klinik stattfand, im außerberuflichen Kontext interviewt. Die anderen Interviews fanden bis auf eines jeweils bei den Interviewten zu Hause statt. Ein Gespräch erfolgte in einem Café. Die Friseur_innen habe ich eher im Salon getroffen, nur bei zwei Gesprächen fand das Interview im privaten Kontext statt, einmal zu Hause und einmal in einem Park. Die Interviews dauerten zwischen zwei und vier Stunden. Unmittelbar nach den Interviews habe ich Globalanalysen (Rosenthal 2014: 90 f.) erstellt, die später als Grundlage für die Auswahl derjenigen Fälle dienten, die detailliert ausgewertet wurden. Aus dem Sample der erhobenen Interviews habe ich aufgrund der aufwändigen Analysemethode insgesamt vier Fälle ausgewählt, aus jedem Berufsfeld jeweils einen Mann und eine Frau. Die Fallauswahl erfolgte innerhalb des jeweiligen Berufsfelds schrittweise auf der Basis des theoretischen Samplings (Flick 2010: 158). Da die Berufe selbst, wie soeben dargestellt, bereits eine maximale Kontrastierung darstellen, habe ich mich zugunsten einer besseren Vergleichbarkeit innerhalb der Berufe für minimale Konstrastierung entschieden. Die Fälle entsprechen sich hinsichtlich der beruflichen Position innerhalb des Feldes. Beide Chirurg_innen sind Fachärzt_innen, aber keine Oberärzt_innen. Beide Friseur_innen sind Inhaber_innen von eigenen Salons. Die Ähn-
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lichkeit hinsichtlich der beruflichen Position erschien mir sinnvoll, da ich im Feld der Berufstätigkeit von ähnlichen Anerkennungsanforderungen ausgehen kann. Dies erlaubt einen direkten Vergleich der jeweiligen Fälle im Feld. Die Interviews wurden für die Analyse vollständig transkiribiert und gemäß der in Abschnitt 5.3 ausgeführten Auswertungsschritte analysiert. Im folgenden Kapitel 6 werde ich die Ergebnisse der Analyse darstellen.
Erzählte Anerkennungspraktiken In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der empirischen Analyse dargestellt. Die Falldarstellung folgt einem einheitlichen Auf bau. Nach einer kurzen Darstellung der Fälle über ihre Lebensgeschichte werden Anerkennungspraktiken in unterschiedlichen Feldern beschrieben, die dann am Schluss des jeweiligen Falls verdichtet werden. Im anschließenden Kapitel 7 werden die Anerkennungspraktiken fallübergreifend und mit theoretischer Rückbindung diskutiert.
I mmer V oll zeit, immer C hirurgie – D agmar C r amer Lebensgeschichte Dagmar Cramer wird 1964 in einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 47 Jahre alt. Sie ist das erste Kind der Familie. Nach ihr kommen noch zwei Söhne zur Welt. Über den Altersunterschied zwischen den Geschwistern lässt sich aus dem Interview nichts herauslesen. Beide Eltern kommen aus großen Familien. Der Vater hat fünf Geschwister, die Mutter zehn. Dagmar Cramers Vater war Arbeiter in einer Fabrik, ihre Mutter war nicht erwerbstätig. Sie beschreibt ihre Familie als konservativ hinsichtlich der Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen. Ihre Eltern sehen für Dagmar Cramer einen ähnlichen Lebensweg vor wie den ihrer Mutter. Sie muss daher bei ihren Eltern für ihre schulische und berufliche Ausbildung kämpfen. Ihren Bildungsweg setzt sie gegen den Willen ihrer Eltern durch. Dagmar Cramer schließt ihre Schulausbildung mit dem Abitur ab. Da ihr Notendurchschnitt nicht ausreicht, um sofort einen Studienplatz in Medizin zu erhalten, beginnt sie eine Krankenpflegeausbildung und zieht dafür von zu Hause aus. Nach Abschluss ihrer Ausbildung arbeitet sie noch fünf Jahre als Krankenschwester und hadert währenddessen und immer wieder mit ihrem ursprünglichen Wunsch, Medizin zu studieren. Als sie dann doch einen Stu-
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dienplatz bekommt, schiebt sie ihre Zweifel beiseite und beginnt ihr Studium. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 26 Jahre alt. Da sie von ihren Eltern keine finanzielle Unterstützung bekommt, muss sie sich selbst finanzieren. Sie arbeitet neben dem Studium weiter als Krankenschwester. Zunächst überlegt sie, eine gynäkologische Facharztausbildung zu absolvieren, entscheidet sich dann aber für die Chirurgie. Während des Studiums heiratet Dagmar Cramer ihren jetzigen Mann Edgar. Edgar absolviert nach seinem Studium der Geschichte noch eine Ausbildung als Physiotherapeut. In dieser Zeit wird ihre gemeinsame Tochter geboren, relativ kurz hintereinander kommen noch zwei Söhne auf die Welt. Nach der Geburt ihres dritten Kindes bleibt Dagmar Cramer zwei Jahre zu Hause, damit ihr Mann eine Weiterbildung machen kann. Danach setzt sie ihre Facharztausbildung fort. Als Dagmar Cramer ihre Facharztausbildung abschließt, ist ihr jüngster Sohn sechs Jahre alt. Abgesehen von der zweijährigen Unterbrechung nach der Geburt ihres dritten Kindes übernimmt die Erziehungsaufgaben bis heute hauptsächlich ihr Mann Edgar. Bis auf wenige Ausnahmen arbeitet Dagmar Cramer immer Vollzeit und immer in der Chirurgie. Ihr Mann arbeitet Teilzeit als Physiotherapeut. Dagmar Cramer ist zum Zeitpunkt des Interviews als Stationsärztin in der Allgemeinen Chirurgie eines größeren Krankenhauses tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einer mittleren Großstadt in Süddeutschland. Die Kinder sind 13, 14 und 16 Jahre alt. Ihre Eltern leben weiterhin etwa 200 Kilometer entfernt in der kleinen Gemeinde, aus der Dagmar Cramer kommt. Aus Dagmar Cramers Erzählung lassen sich unterschiedliche Anerkennungsfelder herausarbeiten. Ein von ihr als wichtig angesprochenes Thema stellt ihre Herkunftsfamilie dar. Im Kampf um ihre Ausbildung, die sie gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzt, und nach ihrem Bildungsaufstieg wird sie mit unterschiedlichen Adressierungen konfrontiert, auf die ich in Abschnitt 6.1.2 eingehe. Dagmar Cramer arbeitet als Frau in einem männlich codierten Berufsfeld.1 Sie thematisiert im Interview, wie Geschlechteraushandlungen in Interaktionen mit Kolleg_innen und mit Patient_innen relevant gemacht werden. Dies geschieht in ihrer Wahrnehmung auf sehr unterschiedliche Art und Weise – abhängig davon, ob sie als Ärztin auf der fachlichen Ebene angesprochen wird oder geschlechtliche Zuschreibungen relevant gemacht werden. Diese unterschiedlichen Bezugnahmen arbeite ich in den Abschnitten 6.1.3 und 6.1.4 genauer heraus. Während Dagmar Cramer als Frau in einem männlich codierten Beruf tätig ist, arbeitet ihr Mann in einem weiblich codierten Berufsfeld. Im Interview 1 | Vgl. Abschnitt 2.1.
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spricht Dagmar Cramer davon, dass in ihrer Familienkonstellation „verkehrte Rollen“ (170) vorherrschen – sie als Frau arbeitet Vollzeit, ihr Mann arbeitet Teilzeit und kümmert sich zu Hause um die Kinder. Sie ist immer wieder mit der Adressierung als ‚Rabenmutter‘ konfrontiert. Wie sich Dagmar Cramer damit auseinandersetzt, analysiere ich in Abschnitt 6.1.6. In Abschnitt 6.1.7 fasse ich die herausgearbeiteten Anerkennungspraktiken in ihrer Verwobenheit zusammen.
„Du glaubst ja, dass du was Besseres bist“ – Anerkennung durch die Eltern Dagmar Cramers Schulzeit fällt in die 1970er und 1980er Jahre, also in eine Zeit, in der über Bildungsexpansion eine „egalitäre Aufstiegsmobilität“ (Wehler 2010: 193) ermöglicht werden sollte. Ungleiche Bildungschancen wurden vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von akademischer Ausbildung für das Erlangen von gesellschaftlichem Status als eine zentrale Ursache für soziale Ungleichheit gesehen. Bildungschancen von Nicht-AkademikerKindern zu erhöhen und dabei gezielt Mädchen zu fördern, stand im Fokus der Bildungspolitik (vgl. Geißler 2005). Dagmar Cramer entspricht genau der katholischen Arbeitertochter vom Land, die Ralf Dahrendorf als Formel für Mehrfachbenachteiligung im deutschen Bildungssystem der 1960er Jahre herausarbeitete (vgl. Dahrendorf 1966). Über gezielte politische Förderung erhält auch sie in dieser Zeit die Möglichkeit, sich eine gute Ausbildung zu erarbeiten und einen höheren Status zu erlangen. Dieser Weg entspricht allerdings nicht den Vorstellungen von Dagmar Cramers Eltern. Daraus ergeben sich Konflikte, in denen Dagmar Cramers Position als Tochter und ihre Berufstätigkeit als Frau ausgehandelt werden. Sie lernt, mit der fehlenden Bestätigung durch ihre Eltern umzugehen und sich der Richtigkeit ihrer Entscheidungen trotzdem zu vergewissern. Im weiteren Verlauf ihres Lebens erfährt sie, dass ihr trotz ihrer Leistung, sich ohne Unterstützung der Eltern den Bildungsaufstieg erkämpft zu haben, aufgrund ihrer sozialen Herkunft noch immer Voraussetzungen für eine Karriere in ihrem Berufsfeld fehlen. Dies scheint für Dagmar Cramers Positionierung in der aktuellen Lebensphase ein sehr wichtiges Thema zu sein, denn auf die Eingangsfrage, sie möge ihr Leben erzählen, kommt sie sofort auf ihre Herkunftsfamilie zu sprechen. „Also, ich hab irgendwann Abitur gemacht in einem kleinen Dorf und wollte immer Medizin studieren, aber hatte dann nicht den genügenden Notendurchschnitt. Ja, meine Eltern sind auch einfache Arbeiter. Also, die hatten auch nicht die finanziellen Möglichkeiten und den Background, um mir irgendwo im Ausland ein Studium zu finanzieren oder andere Möglichkeiten zu bieten.“ (27 – 31)
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Dagmar Cramer macht bereits mit dem Beginn ihrer Erzählung deutlich, dass ihre berufliche Karriere nicht geradlinig verlaufen ist. Sie hatte nicht den Notendurchschnitt, den sie für den unmittelbaren Beginn ihres Medizinstudiums gebraucht hätte. Der Verweis auf das „einfache“ Elternhaus kann als normative Beschreibung ihrer Eltern als nicht akademisch gebildet und finanziell schlechter situiert interpretiert werden. Daraus lassen sich verschiedene Implikationen für Dagmar Cramers Werdegang ableiten. Mit der Einordnung ihrer Eltern als „einfach“ verweist sie auf deren fehlende Möglichkeiten, sie in der Schule zu unterstützen. Mit dieser Unterstützung hätte sie möglicherweise ein ausreichend gutes Abitur machen und direkt mit dem Studium beginnen können. Eventuell spricht sie auch die Möglichkeit an, die Wartezeit auf einen Studienplatz an einer deutschen Universität mit einem Studienbeginn an Universitäten im Ausland zu überbrücken, wofür sie allerdings auf finanzielle Unterstützung durch die Eltern angewiesen gewesen wäre. Dagmar Cramer beschreibt mit der Thematisierung des „einfachen“ Elternhauses verschiedene Positionierungen: Sie nimmt vorweg, dass ihr aufgrund ihrer Herkunft viele Möglichkeiten fehlten, die für eine erfolgreiche Karriere als Medizinerin oder Chirurgin aus ihrer Sicht vielleicht auch rückblickend notwendig gewesen wären – wie beispielsweise Auslandsaufenthalte. Erst später im Interview thematisiert sie, dass sie zum einen zweimal versucht hat, eine Doktorarbeit zu schreiben, und dies nicht gelungen ist. Zum anderen ist sie nicht Oberärztin geworden, „wie es sonst eigentlich so üblich ist in der Chirurgie“ (1161). Es wirkt, als böte sie gleich zu Beginn des Interviews eine Erklärung dafür. Der Verweis auf die „einfachen“ Verhältnisse, aus denen sie kommt, unterstreicht aber auch ihre Leistungsorientierung, ihre Zielstrebigkeit und das, was sie erreicht hat. Ohne die finanzielle und ideelle Unterstützung ihrer Eltern ist es ihr gelungen, erfolgreich zu studieren und ihren Traum zu verwirklichen, Ärztin zu werden. Dagmar Cramer präsentiert sich in dieser ersten Sequenz als eingeschränkt in den Voraussetzungen hinsichtlich ihrer beruflichen Entwicklung, als trotzdem erfolgreich nach ihren Maßstäben und als reflektiert im Umgang mit ihrer Herkunft. Die Position, aus der heraus sie heute spricht, ist die einer Medizinerin, die den Bildungsaufstieg geschafft hat und die das „immer schon wollte“. Bereits hier verweist sie auf den Kampfgeist, den sie sich selbst zuschreibt und den sie für ihre aktuelle Situation als Frau in der Chirurgie später noch relevant macht (vgl. Abschnitt 6.1.5). Aus dieser Position der Stärke heraus erzählt sie von den Konflikten mit ihren Eltern. In der Grundschule schreibt Dagmar Cramer gute Noten und schafft den Übertritt aufs Gymnasium. Ihre Eltern sehen zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn darin, ihre Tochter aufs Gymnasium gehen zu lassen. Ihnen wäre es am liebsten gewesen, ihre Tochter „hätte in einem Bungalow im Dorf noch Kinder großgezogen und wäre in ihrer Nähe geblieben“ (1020 – 1021). Dagmars Leh-
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rerin besucht die Eltern und versucht, sie davon zu überzeugen, Dagmar aufs Gymnasium gehen zu lassen. Ihre Eltern willigen schließlich ein, was Dagmar Cramer unter anderem darauf zurückführt, dass in der Zwischenzeit in ihrem Wohnort ein Gymnasium gebaut wurde. Somit muss sie keine Fahrschülerin werden. In ihrer Einschätzung hätten ihre Eltern ihr das Fahren in die nächstgrößere Stadt weder erlaubt noch wären sie bereit oder in der Lage gewesen, das Fahrgeld dafür zu zahlen. Dagmar Cramer entwickelt in dieser Zeit Lebensentwürfe, mit denen sie sich von der Welt ihrer Eltern entfernt – wie den Wunsch, Ärztin zu werden. Was Dagmar Cramer sich für ihr Leben überlegt und was sie zunehmend für machbar ansieht, entspricht nicht den Vorstellungen ihrer Eltern für ihre Tochter. Als Dagmar Cramer ihr Abitur bestanden hat, verlässt sie ihr Elternhaus, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen. Sie beschreibt ihre Berufsausbildung und ihren Auszug von zu Hause für sich als einen Weg in die Unabhängigkeit, die sie vor allem über die finanzielle Eigenständigkeit erreicht. Von ihren Eltern erhält sie zu diesem Zeitpunkt dafür eine Wertschätzung, die sie nicht als solche akzeptieren kann, weil sie ihr damit als Frau weniger zutrauen und weniger zusprechen. „Meine Eltern sind auch so sehr konservativ, so nicht intolerant, aber vom Denken her, ich weiß, als ich mein erstes Gehalt hatte als Krankenschwester, als Schülerin, so von 400 Mark, mein Vater sagte dann, boa ist ja toll, so. Wo ich dachte, so, da kann ich nicht von leben und nichts, aber für ihn ist das für eine Frau ein tolles Gehalt so.“ (1021 – 1025)
Dagmar Cramers Vater verhält sich aus seiner Sicht wertschätzend, indem er das erste Gehalt seiner Tochter als „toll“ bezeichnet, auch wenn klar ist, dass sie davon nicht leben kann. Von dem eigenen Gehalt leben zu können und zu wollen, scheint für ihren Vater mit Bezug auf seine Tochter nicht relevant zu sein. Dagmar Cramer weist diese Wertschätzung zurück. Sie möchte nicht für etwas wertgeschätzt werden, das sie selbst nicht für wertschätzenswert hält. Sie positioniert sich als unabhängig, denn sie möchte soviel verdienen, dass sie eigenständig davon leben kann – auch als Frau. Dagmar Cramer ist es zunächst wichtig, sich von dem elterlichen Einfluss zu lösen und dafür finanziell unabhängig von ihren Eltern zu werden. Deswegen schreibt sie dem Geld, das sie in der Ausbildung verdient, einen vollkommen anderen Stellenwert zu als ihr Vater. Für Dagmar Cramer bedeutet das Gehalt als Krankenschwester Unabhängigkeit von den Eltern und die Freiheit, ohne deren Einfluss über ihr Leben entscheiden zu können. „Und ich hab dann halt ziemlich viel auch unabhängig von meinen Eltern auch gemacht. Mir eine Stelle besorgt und gesagt, so, ich zieh jetzt aus. Was natürlich mit viel Tränen
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Anerkennung – Macht – Hierarchie und Schreierei so ist. Und ich denke, das war natürlich für mich wichtig, erst Krankenpflege zu machen, weil da hatte ich während der Ausbildung schon soviel Geld, dass ich halt unabhängig von meinen Eltern war und sagen konnte, ich finanzier mich selber, ihr müsst nichts für mich tun, dafür mache ich auch alles selber, was ich will. Weil ich halt nicht von euch abhängig bin.“ (1027 – 1033)
Dagmar Cramer beschreibt, wie konfliktreich der Auszug aus dem Elternhaus verlaufen ist, gleichzeitig unterstreicht sie dessen Bedeutung für ihr eigenes Leben. Sie verknüpft finanzielle und ideelle Unabhängigkeit. Die Möglichkeit, das zu tun, was sie will, scheint ihr ohne finanzielle Unabhängigkeit nicht vorstellbar. Ohne es wirklich auszusprechen, vermittelt sie in dieser Sequenz die Vermutung, ihre Eltern hätten sie auch dann nicht bedingungslos finanziell unterstützt, wenn sie es gekonnt hätten. Dagmar Cramer nimmt an, sie hätten versucht, über die Drohung des Entzugs der finanziellen Unterstützung ihre Entscheidungen zu beeinflussen. Dies lässt Schlüsse darauf zu, wie stark und unangenehm Dagmar Cramer den Zugriff ihrer Eltern auf ihr Leben erlebt haben muss. Mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus möchte sie überhaupt nicht mehr von der Gunst ihrer Eltern abhängig sein. Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit von den Eltern, das Dagmar Cramer hier beschreibt, verweist auf die Unvereinbarkeit ihrer eigenen Vorstellungen von ihrem Leben mit denen ihrer Eltern. Die Anerkennung als Tochter im Sinne ihrer Eltern lehnt sie ab und entzieht sich zunehmend dem Einflussbereich des Wertesystems ihrer Eltern. In der Zeit, in der sie die Ausbildung macht und mit dem Studium beginnt, bricht sie den Kontakt zu ihren Eltern vollständig ab. Sie sagt, sie war „viele Jahre“ (1282) nicht bei ihren Eltern und hat sie im Anschluss ebenfalls höchstens zweimal im Jahr besucht. Selbst diese Besuche verkürzt sie meist, weil „das Ganze dann wieder eskalierte“ (1284 – 1285). Dagmar Cramer sucht also nicht nach Anerkennung durch ihre Eltern, sondern entzieht sich ihnen und macht sich weitgehend von ihnen unabhängig. Sie beginnt ein anderes Leben in einer anderen Stadt. Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass Dagmar Cramer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren ihre Eltern nicht mehr dazu ermächtigte, sie als Tochter im Elternsinne zu adressieren. Ihre Eltern haben andere Vorstellungen davon, wie sie ihr Leben gestalten soll, als sie. Auch wenn sie konfliktive Situationen und temporäre Brüche beschreibt, hat sie die Beziehung nicht ganz abgebrochen. Das Verhältnis zu ihren Eltern taucht in der Erzählung immer wieder auf. Auch wenn sie offen über die Konflikte mit ihnen spricht, erzählt sie keine Episoden, in denen sie wirklich wütend auf ihre Eltern war. Sie schmückt die Konflikte nicht aus, sondern versucht, das Verhalten ihrer Eltern aus ihrer heutigen Sicht heraus zu erklären. Die Art, wie sie über ihre Eltern spricht, verweist dabei auf den höheren gesellschaftlichen Status, den sie sich
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selbst erarbeitet hat. Aus dieser Position heraus entwickelt sie Verständnis, erkennt die Sorgen der Eltern an und grenzt sich gleichzeitig davon ab. „Und ähm, ja, ich glaube aber auch, dass das so die Ängste meiner Eltern sind, dass sie dachten, also, so zum Beispiel nicht Abitur machen zu dürfen. Ja, mein Vater ist Arbeiter in der Fabrik gewesen, meine Mutter Hausfrau und die können kein Englisch und die konnten mir nicht helfen in der Schule und die haben halt gedacht, wie schafft die das alles und so. Bei uns, also, das ist so eine ganz große Familie, meine Mutter hat zehn Geschwister, mein Vater fünf. Und in dieser ganzen Familie hatte noch nie jemand Abitur gemacht und das war einfach wirklich mit Ängsten so besetzt und natürlich haben sie auch gemerkt, dass ich mich dadurch von ihnen entfremde. Weil du kannst ja jetzt viel besser reden als wir. Und in Streitigkeiten konnte ich besser argumentieren. Und sie dachten, die Tochter entgleitet in eine Welt, die wir nicht verstehen und wo wir auch nur, die hatten auch ihre Vorurteile natürlich, auch gegen Ärzte Vorurteile, das sind sowieso nur alles Halsabschneider, Geldabzocker, ha, und du glaubst ja, dass du was Besseres bist. So diese ganzen Konflikte natürlich.“ (1038 – 1052)
Dagmar Cramer beschreibt sich in dieser Passage als die erste in ihrer großen Familie, die Abitur macht und studiert. Schulische Bildung wird von den Eltern und der Familie eher mit Misstrauen betrachtet. Die Familie sieht die Gefahr der Entfremdung, die mit der als Vorwurf formulierten Selbstabwertung „du glaubst ja, dass du was Besseres bist“ verbunden ist. Ihre schulische Bildung, das Abitur und später das Studium stärken ihre Position innerhalb der Familie und ihre Ressourcen in der Auseinandersetzung. Sie lernt zu argumentieren, kann sich in Konflikten schon allein sprachlich besser gegen ihre Eltern durchsetzen, ist ihnen dadurch überlegen. Auch hier verweist die Art, wie Dagmar Cramer ihre Entfremdung aus der Sicht ihrer Eltern beschreibt, auf ihre eigene mächtigere Position. Sie hat sich in der Zwischenzeit einen anerkannten beruflichen Status erarbeitet. Dieser erlaubt es ihr, aus heutiger Perspektive die damalige abwertende Sicht ihrer Eltern und ihrer Familie auf Ärzt_innen als „Halsabschneider“ und „Geldabzocker“ in dieser Form zu beschreiben. Sie zitiert die Vorurteile ihrer Eltern, ohne dieses Denken zu bewerten oder es auf sich zu beziehen. Gerade hinsichtlich ihrer beruflichen Stellung ist sie nicht mehr auf die Anerkennung ihrer Eltern oder ihrer Familie angewiesen. Sie kann sich von der abwertenden Beschreibung ihrer Profession durch ihre Familie abgrenzen, weil sie die Vorurteile in der Welt ihrer Herkunftsfamilie, der ‚Anderen‘, belässt, an die sie selbst nicht mehr anschließt. Diese Abgrenzung wäre wahrscheinlich schwieriger möglich, wenn sie einen Beruf gewählt hätte, der weniger gesellschaftliche Anerkennung genießt und für den sie sich nicht nur ihren Eltern gegenüber erklären müsste.
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Ihr gesellschaftlicher Status und die Tatsache, dass sie es in ihren eigenen Augen geschafft hat, sich aus ihrem von den Eltern vorbestimmten Lebensweg zu emanzipieren, erlauben es ihr, die Ängste der Eltern aus heutiger Sicht nicht zu verurteilen, sondern sie anzuerkennen. Diese Anerkennung erfolgt jedoch nicht im Rahmen ihres eigenen Wertesystems, sondern im Rahmen des Wertesystems ihrer Eltern, von dem sich Dagmar Cramer abgrenzt. Sie beschreibt die Ängste als verständlich aus der Sicht ihrer Eltern, jedoch nicht als gerechtfertigt oder nötig. Dies wird in der folgenden Sequenz noch deutlicher: „Ja meine Eltern sind ganz lieb. Aber so einfache Menschen, die natürlich auch Angst um ihre Tochter hatten.“ (1188 – 1189)
Dagmar Cramer beschreibt ihre Eltern trotz der Konflikte, die sie mit ihnen hatte, heute als „ganz lieb“. Mit der Verwendung dieses Ausdrucks verniedlicht sie ihre Eltern und damit deren Verhalten. Es wirkt, als blicke sie heute zwar wohlwollender auf sie, nähme sie aber nicht wirklich ernst. In dieser Sequenz stellt sie zwischen der sozialen Herkunft ihrer Eltern als „einfache Menschen“ und deren Angst um sie einen Zusammenhang her und drückt damit aus, die Angst ihrer Eltern beruhe lediglich auf Nicht-Wissen und Nicht-WissenKönnen. Sie vermittelt hier Verständnis und grenzt sich aber über die Art, wie sie das Verständnis formuliert, gleichzeitig von ihren Eltern ab. Die nachträgliche Anerkennung der Position ihrer Eltern als „einfache Menschen“, die Angst um ihre Tochter haben, kann als Abgrenzung über Anerkennung gelesen werden. Dagmar Cramer erkennt deren Ängste zwar an, verortet sie aus ihrer heutigen Position jedoch in einem Wertesystem, mit dem sie nichts mehr zu tun hat. Mittlerweile beschreibt Dagmar Cramer das Verhältnis zu ihren Eltern als entspannter. Sie führt dies unter anderem auf die Kinder zurück. Sie erzählt, dass ihre Kinder ihre Großeltern regelmäßig besuchen und die Großeltern sie in Krisensituationen, wenn beispielsweise die Kinder krank sind, unterstützen. In Dagmar Cramers schulischer und beruflicher Ausbildung sind verschiedene Dynamiken eingelagert: Sie weigert sich, den Weg zu gehen, den ihre Eltern für sie vorgesehen haben. Damit weist sie die Adressierung als aus deren Sicht ‚gute Tochter‘ zurück. Sie kämpft nicht um Anerkennung ihrer eigenen Vorstellungen von ihrem Leben, sondern entzieht sich dem Wertesystem ihrer Eltern, indem sie den Kontakt abbricht. Auch wenn sie die Konflikte in dieser Zeit als heftig beschreibt, formuliert sie heute Verständnis für ihre Eltern, indem sie ihnen Ängste zuschreibt, die sie in deren fehlender Bildung begründet sieht. Die nachträgliche Anerkennung des elterlichen Verhaltens wird aufgrund ihrer aktuellen Position der Überlegenheit hinsichtlich Bildung und Status zu einer Praxis der Abgrenzung.
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„Ich behandle die ganz normalen Leute von der Straße“ – Anerkennung im Klinikalltag Während ich im vorangegangenen Abschnitt die Auseinandersetzungen von Dagmar Cramer mit ihrem Elternhaus herausgearbeitet und dabei gezeigt habe, wie sie sich von ihrer sozialen Herkunft abgrenzt, spielt diese Herkunft bezüglich ihrer Positionierung im Klinikalltag durchaus eine wichtige Rolle. Bereits in der Beschreibung, warum Dagmar Cramer sich für die Chirurgie entschieden hat, scheinen ihre Herkunft und der Vorwurf ihrer Eltern „du glaubst ja, du bist etwas Besseres“ durch. Sie begründet ihre fachliche Spezialisierung folgendermaßen: „Ach, erstmal ist das so eine Basis, denk ich. Es ist ein großes Fach. Ich behandle Männer und Frauen und so die normalen Leute von der Straße. Das fand ich noch mal so für mich als Ärztin, ja, du kannst erstmal Erste Hilfe leisten. Du weißt, wie sieht ein gebrochener Arm aus oder du weißt, einer hat Bauchschmerzen, ist das nun was Echtes oder ist das was nichts Echtes. So, ich kann so eine Grundversorgung leisten.“ (1122 – 1127)
In dieser Passage präsentiert sich Dagmar Cramer als Helferin, als eine, die „Erste Hilfe leisten“ und eine „Grundversorgung“ gewähren kann. Der Kontakt mit den „normalen Leuten von der Straße“ erscheint ihr besonders erwähnenswert. Sie stellt positiv heraus, dass sie weiß, „wie ein gebrochener Arm aussieht“. Tatsächlich jedoch weiß sie, wie sie einen gebrochenen Arm operieren und damit heilen kann. Das Bild, das Dagmar Cramer hier von sich als Chirurgin entwirft, passt genauso gut für eine Rettungsassistentin oder für ihren vorherigen Beruf der Krankenschwester. Lediglich die Fähigkeit zu entscheiden, wann Bauchschmerzen „echt“ sind, deutet auf ein Selbstbewusstsein als Chirurgin hin. Möglicherweise ist dies ein Hinweis auf die Abgrenzung zur Inneren Medizin, die Dagmar Cramer an anderer Stelle vornimmt und die auch in den anderen Interviews mit Chirurg_innen aufgetaucht ist. Während Ärzt_innen in der Inneren Medizin eher im Nebel stochern, so die Argumentation, seien Chirurg_innen in der Lage, Schmerzen und ‚echte‘ Krankheiten zu erkennen und zu beheben. Das gesellschaftliche Ansehen ihres Berufes und ihre Stellung innerhalb der Klinikhierarchie thematisiert Dagmar Cramer in dieser Passage nicht. In ihrer Positionierung wendet sie das Ansehen ihres Berufs eher ins Gegenteil. Sie wählt keine Erzählung, die auch nur ansatzweise die Lesart zuließe, sie sei stolz auf das, was sie erreicht hat, oder sie sehe sich selbst als eine ‚Göttin in Weiß‘. Sie führt weder den gesellschaftlichen Aufstieg noch die guten Verdienstmöglichkeiten als Motivation für ihre Berufswahl an. Stattdessen verweist sie auf soziale Aspekte, wie ‚helfen können‘, ‚heilen können‘ und für „normale Leute von der Straße“ da zu sein.
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Dagmar Cramer macht sich die Anerkennung ihres Berufs in dieser Passage nicht zu eigen. Die Anerkennung existiert zwar als gesellschaftliches Prestige, findet aber in ihrer Positionierung hier keinen Niederschlag. Ihr Bildungsaufstieg hätte dazu führen können, dass sie sich ihren neuen gesellschaftlichen Status habituell aneignet und sich entsprechend positioniert. Sie entscheidet sich jedoch für eine Selbstbeschreibung, in der sie sich nicht als gesellschaftlich hoch angesehene Chirurgin positioniert. Sie unterläuft diese Positionierung sogar, indem sie sich als ‚eine wie du und ich‘ beschreibt. Diese Art der Positionierung verweist auf ein interessantes Verhältnis zwischen gesellschaftlich vorhandenem Ansehen und Selbstpositionierung. Die hohe soziale Wertschätzung des Berufes, den sie ausübt, findet sich in der Selbstbeschreibung nicht wieder, weil die Grundlage für das Prestige des Berufes nicht unbedingt dem eigenen Wertesystem entspricht. Sie präsentiert sich nicht als ‚etwas Besseres‘ und will vielleicht auch nicht in den Verdacht geraten, als solches gesehen werden zu wollen. Dagmar Cramers Umgang mit dem Prestige ihres Berufs und ihr Selbstverständnis als ‚helfende Ärztin‘ finden sich wieder in ihrer Beschreibung der wichtigsten Quellen für ihre Zufriedenheit im Beruf. Neben dem Wissen über den Körper und den Spaß am Operieren betont sie die Freude am Kontakt zu den Patient_innen. „Ah, das macht schon Spaß auch, zu operieren. Das hat auch eine irre Faszination. So ein Körper ist auch was ganz Besonderes. Wie das funktioniert. So diese Strukturen. Du lernst natürlich ganz viel Anatomie, du musst wissen, wo was ist. Das ist schon irre spannend. Und das Spannende finde ich auch, dort wirklich auch Menschen kennen zu lernen. Du kriegst da Einblicke in Lebenswelten, das ist wirklich sehr dicht. Sehr nah oft. Das finde ich schon toll. Was ich auch gerne mag, ist so, auch wenn man Leute auch für eine Operation aufklärt, auch wenn es eine große Krebsoperation ist, so, du kriegst sehr nah was von den Menschen mit und kannst sie da auch beraten. Also, sowas mach ich echt gerne.“ (1158 – 1167)
Dagmar Cramer beschreibt den Kontakt zu den Patient_innen, die Möglichkeit und offenbar auch ihre Fähigkeit, sich auf Menschen einzulassen, Einblicke in deren Lebenswelten zu erhalten, sie über den medizinischen Eingriff aufzuklären und ihnen damit eventuell die Angst davor zu nehmen, als „toll“. Sie positioniert sich implizit in Abgrenzung zu dem Bild der distanzierten und unmenschlichen Chirurg_innen, die zwar operieren können, aber wenig soziale Fähigkeiten haben. Sie beschreibt sich als nah an den „normalen Leuten von der Straße“, die sie in der obigen Passage erwähnt. Sie sieht sich in gutem Kontakt mit diesen Menschen und versorgt sie nicht nur chirurgisch, sondern berät sie auch in schwierigen Situationen wie einer Krebserkrankung. Ähnlich wie oben macht Dagmar Cramer auch hier den Aspekt des ‚Helfens‘ relevant.
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
Neben den Patient_innen könnte sie auch ihre Kolleg_innen oder ihren Chef im Zusammenhang mit Zufriedenheit im Beruf erwähnen. Lob oder Anerkennung von ihnen für eine gelungene Operation oder eine gut gestellte Diagnose könnten dafür ebenfalls relevant sein. Ihre Darstellung enthält diese Bezüge jedoch nicht. Der gute Kontakt zu den Patient_innen scheint auf der Interkationsebene im Klinikalltag das Einzige zu sein, was Dagmar Cramer als sinnstiftend für ihre Arbeit ansieht. Mit dieser Orientierung unterscheidet sich Dagmar Cramer von anderen Chirurg_innen, die ich interviewt habe. In deren Interviews wird die Anerkennung der Kolleg_innen und der Chef_innen in den jeweiligen Besprechungen der Operationen und Krankenverläufe als zentral für die Zufriedenheit oder auch Unzufriedenheit im Beruf angesehen.2 Dagmar Cramers Positionierung als patient_innennah und als ‚helfende Ärztin‘ fällt zusammen mit ihrer Abgrenzung von einer Karriere innerhalb der Klinikhierarchie. Denn dafür müsste sie sich mehr an den Chef_innen und Kolleg_innen orientieren. Dagmar Cramer arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews seit mehr als zehn Jahren als Stationsärztin in der Allgemeinchirurgie einer größeren Klinik. Auch wenn sie die Karriere und das berufliche Fortkommen in ihrer Präsentation nicht prioritär behandelt, kann sie sich den Vorstellungen vom in der Chirurgie üblichen Karriereweg nicht entziehen. „Ich denk, so ein normaler Verlauf in der Chirurgie ist halt irgendwie, dass du irgendwann halt Oberarztdienste machst, halt als Oberärztin dich anstellen lässt. Aber, ähm, gut, dann musst du diese nervigen Arbeiten, Stationsarbeiten wie Briefe schreiben und so nicht mehr machen, aber dafür sind die Hintergrunddienste auch nicht ohne. Da stehst du nämlich auch oft nachts und operierst dann. Ja, aber da merk ich, so will ich mich da eigentlich auch gar nicht reinhängen, das reicht mir so.“ (517 – 523)
Dagmar Cramer beschreibt in dieser Passage, was sie als den „normalen Verlauf“ in der Chirurgie ansieht, nämlich Oberarztdienste zu machen und dann auch Oberärzt_in zu werden. Ihre Beschreibung klingt, als könnten alle Ärzt_innen irgendwann für sich beschließen, Oberarztdienste zu übernehmen oder sich „als Oberärztin anstellen“ zu lassen. Im Klinikalltag ist diese berufliche Entwicklung jedoch von der Entscheidung der Chef- und Oberärzt_ innen abhängig. Diese bestimmen, wer von den Fachärzt_innen zu Oberarztdiensten zugelassen wird. Mittlerweile existieren tarifvertraglich vereinbarte Kriterien, die die Voraussetzungen festlegen, die für Oberarzt-Einstufungen notwendig sind. Dazu gehört neben fachlicher und sozialer Kompetenz auch ein ausgewiesenes wissenschaftliches Profil. Die letzte Entscheidung liegt jedoch noch immer bei den jeweiligen Arbeitgeber_innen (vgl. Fritsche 2007). 2 | Vgl. hierzu die Analyse des Falls von Carsten Clement in Abschnitt 6.3.2.
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Für den Aufstieg innerhalb der Klinikhierarchie ist also eine für die Vorgesetzten sichtbare Profilierung notwendig. Dagmar Cramer schreibt sich dieses Profil nicht zu. Sie hat zweimal begonnen, eine Doktorarbeit zu schreiben, brach aber jeweils wieder ab, weil sie neben ihrer Berufstätigkeit und den Verpflichtungen in der Familie nicht die Zeit und Kraft fand, um die Promotion zu Ende zu bringen. Dagmar Cramer beschreibt sich in einer schwankenden Position. Sie kennt durchaus die internen Regeln ihres Berufs. Sie weiß, was als das „Normale“ in der Chirurgie angesehen wird und kann sich dem nicht vollkommen entziehen. Gleichzeitig hat sie diese Anforderungen nicht erfüllt, was sie mit ihrer familiären Situation in Verbindung bringt – beispielsweise in der Begründung für das zweimalige Abbrechen ihrer Promotion. Auch wenn sie die Aufstiegsanforderungen nicht ganz ausblendet, beendet sie die Passage mit „das reicht mir so“. Damit nimmt sie die Position der ‚Zufriedenen in den unteren Reihen‘ an, als die sie sich selbst adressiert. An einer anderen Stelle im Interview bringt sie ihren fehlenden Aufstieg in der Klinikhierarchie mit ihrer sozialen Herkunft in Verbindung und stellt ihn damit in einen strukturellen Zusammenhang. „Ach, ich denk schon, das ist jetzt nicht wehmütig, aber ich denk schon, wenn ich einen anderen Hintergrund gehabt hätte, so, vielleicht hätte ich jetzt automatisch angefangen zu studieren oder hätte ich die Doktorarbeit, da hab zwar zweimal was angefangen und gut, dann kam immer noch ein Kind dazwischen und dann war es immer anders. Aber ich glaube, gut, ich hab auch jetzt keine Ambitionen, jetzt Oberärztin oder Chefärztin zu werden wie das sonst eigentlich in der Chirurgie. Ist schon so die Frage, bin ich mit 60 immer noch Assistenzärztin oder so. Ja? Da denk ich schon, wenn ich einen anderen Hintergrund hätte, wo es einfach selbstverständlich ist, bestimmte Sachen zu machen und nicht immer drum zu kämpfen, glaub ich, kommst du schon weiter. Was man so weiter auf der Karriereleiter sieht. Ob das nun zufrieden macht, das muss ja letztendlich jeder immer entscheiden. Und das möcht ich jetzt zurzeit so auch nicht. Aber ich glaube schon, dass man da auch sehr geprägt ist.“ (1349 – 1362)
In dieser Sequenz lässt Dagmar Cramer durchscheinen, ihre berufliche Entwicklung hätte anders verlaufen können, wenn sie einen anderen, milieuadäquaten familiären Hintergrund gehabt hätte. Die Wehmut, die sie zu Beginn der Sequenz abstreitet, schimmert in diesen Formulierungen doch auf. Wie in Abschnitt 6.1.2 deutlich wurde, erhielt sie auch deswegen weniger Unterstützung, weil von ihren Eltern für sie als Tochter ein anderer Lebensweg vorgesehen war. Diese sozialkritische Reflektion, aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ihrer familiären Konstellation den Aufstieg in der Klinikhierarchie nicht (mehr) leisten zu können, kann als ein Aufgeben hinsichtlich der Suche nach Anerkennung gelesen werden. Die Schwierigkeiten, mit denen Dagmar Cramer auf
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
dem Weg in die Chirurgie zu kämpfen hatte und die sie erfolgreich gemeistert hat, finden im beruflichen Alltag keine Würdigung. Auch wenn sie sich im Gegensatz zu anderen Kolleg_innen vieles erkämpfen musste, gelten für sie berufsintern dieselben Regeln wie für alle anderen. Und nur diese werden für Aufstieg und Karriere innerhalb des Feldes relevant gemacht. Aus Dagmar Cramers Erzählung lassen sich zwei Praktiken bezüglich des Umgangs mit ihren gescheiterten Karrierebestrebungen herausarbeiten. In der eben zitierten Passage unterstreicht sie ebenso wie in der vorherigen am Ende der Ausführungen, sie wolle nicht Chef- oder Oberärztin sein. Damit plausibilisiert sie ihren Weg vor sich selbst und vor anderen. Zudem sucht sie Anerkennung bei ihren Patient_innen. Die Orientierung an den Patient_innen lässt sich als Kompensation der fehlenden Karriere lesen. Sie kann aber auch als mitverursachend interpretiert werden. Dagmar Cramer orientiert sich weniger an Vorgesetzten und hat damit in der Entwicklung ihres ärztlichen Selbstbildes Prioritäten gesetzt, die für ihre Karriereentwicklung nicht förderlich sind. In ihrer Positionierung schreibt sie den Patient_innen als Anerkennenden eine größere Bedeutung zu als ihren Vorgesetzten und ihren Kolleg_innen. Den Patient_innen gegenüber positioniert sie sich als helfende, aber auch als wissende und mit medizinischer Autorität ausgestattete Person. In dem zwischen ihr und den Patient_innen herrschenden Hierarchieverhältnis positioniert sie sich für sich zufriedenstellend, wenn sie den Patient_innen eben genau nicht das Gefühl gibt, sie sei „was Besseres“. Ihre machtvolle Position als Ärtztin in der Klinik erlaubt es ihr, sich für oder gegen Anerkennende zu entscheiden. Mit den Patient_innen sucht sich Dagmar Cramer diejenigen Anerkennenden, die ihr eine für sie passende Positionierung ermöglichen. Gleichwohl haben die Patient_innen nicht die Macht, über ihren beruflichen Aufstieg zu entscheiden. Dazu sind nur diejenigen befugt, die in der Klinikhierarchie höher angesiedelt sind. Die Frage, wer anerkennt, ist also von Relevanz. Für gesellschaftlichen Aufstieg ist die Anerkennung von Angehörigen höhergestellter Gruppen erforderlich.3 Gleichzeitig erlaubt es eine gesellschaftlich mächtigere Position eher, sich Anerkennende auch statusniedriger zu wählen, ohne damit die eigene gesellschaftliche Position zu gefährden. Die Bedeutung der anerkennenden Akteur_innen wird in Dagmar Cramers Erzählungen auch bezüglich der Geschlechterverhältnisse im Klinikalltag deutlich. Hier lässt sich eine klare Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Patient_innen und dem Umgang mit Kolleg_innen aufzeigen.
3 | Darauf verweist Heinz Kluth in seinen theoretischen Ausführungen zu Prestige (Kluth 1957).
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„Wo ich einfach merke, dass viele Patienten einfach, ja, einen Mann als Chirurgen brauchen“ – Anerkennung als Chirurgin Mit ihrer Entscheidung für die Chirurgie wählt Dagmar Cramer einen männlich codierten Beruf (vgl. Abschnitt 2.1). In ihrer Erzählung präsentiert sie sich als reflektiert hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse, was bereits aus der Darstellung ihrer aus ihrer Sicht diskriminierenden Behandlung als Tochter hervorgeht. Geschlechterverhältnisse im Klinikalltag tauchen daher in Dagmar Cramers Erzählung immer wieder auf. Als sie zum ersten Mal darauf zu sprechen kommt, verortet sie Unterschiede im Umgang mit ihr als weiblicher Chirurgin auf die Patient_innenseite. „Ich hab dann auch in der normalen Zeit meine Weiterbildung gemacht, hab meine Operationen gekriegt, und da fand ich überhaupt keinen Unterschied, ob Mann oder Frau. Da zählst du als der- oder diejenige, die entweder was macht oder nicht macht. Da hatte ich überhaupt keine Probleme. Es gibt eher von Patientenseite her, dass die komisch gucken oder so und so denken, ‚ha das ist ja eine Frau, kann die das‘ oder da merkt man schon öfters, auch so im Gespräch, dass dann eher immer auch ein männlicher Kollege angesprochen wird. Genau. So, obwohl der vielleicht noch gar nicht soviel weiß. Aber das ist dann so per se dieses Männerbild dann, ne. Das ist schon so.“ (283 – 292)
Die Aus- und Weiterbildung verläuft in der Schilderung von Dagmar Cramer geschlechtsneutral. Sie betont, sie habe nicht länger gebraucht als vorgesehen und habe als Frau in der Chirurgie weder Vor- noch Nachteile gehabt. Das einzig wirklich relevante für das Chirurgin-Werden sei, dass man „was macht“. Es ist nicht klar, was genau „was machen“ heißt. Zum Beginn dieser Sequenz positioniert sich Dagmar Cramer als nicht vergeschlechtlichte kompetente Chirurgin. Differenzierungen, Differenzen oder Diskriminierungen beschreibt sie für ihr eigenes berufliches Umfeld nicht. Sie verlagert ungleiche Behandlung in dieser Sequenz in die Interaktion mit Patient_innen. Dagmar Cramer erzählt zunächst keine konkreten Situationen, sondern spricht von Blicken, denen sie diskriminierende Gedanken zuweist, Blicke, die ihre fachliche Kompetenz aufgrund ihrer Geschlechterzuordnung in Frage stellen. Sie spricht sich selbst die Fähigkeit zu, diese Blicke lesen zu können und genau zu wissen, was die Blickenden dazu denken. Diese Kompetenz ist gespeist von konkreten Erfahrungen in der Interaktion. Dagmar Cramer erzählt von Situationen, in denen sie als Schwester angesprochen wird oder von den Patient_innen übergangen wird, wenn sie gemeinsam mit einem männlichen Kollegen das Krankenzimmer betritt. Qua Geschlechtszuschreibung wird dem männlichen Kollegen von den Patient_innen mehr Vertrauen in die medizinische Kompetenz entgegengebracht. Etwas später im Interview beschreibt sie noch einmal eine Situation, in der sie mit einem jüngeren Kollegen, der frisch
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
von der Uni kam, Visite macht. Obwohl er deutlich weniger Erfahrung hat als Dagmar Cramer, wird er von den Patient_innen als kompetenter wahrgenommen, so dass sie ihre Fragen direkt an ihn richten. Sie stellt die von Patient_innen angenommene Kompetenz des Kollegen in Zusammenhang mit der körperlichen Erscheinung dieses Kollegen, denn er war „vielleicht noch zwei Köpfe größer als ich und macht natürlich äußerlich auch ordentlich was her (lacht)“ (947 – 949). In der Beschreibung der Geschlechterdifferenzierungen im Kontakt mit den Patient_innen bezieht sich Dagmar Cramer ausschließlich auf jüngere Männer, die vielleicht körperlich präsenter sind, ihr aber schon aufgrund mangelnder Erfahrung fachlich nicht das Wasser reichen können. Beschreibungen von Situationen mit Kollegen, die in etwa ihre Erfahrung haben und fachlich ebenso qualifiziert sind, finden sich in ihrer Erzählung nicht. Sie positioniert sich in diesen Situationen als im Vergleich zu diesen Kollegen kompetenter. Möglicherweise wählt sie diese Beispiele, um die Irrationalität der Diskriminierung durch die Patient_innen besonders deutlich zu machen und zu unterstreichen, dass sich die Patient_innen damit selbst schaden können. Sie schreibt den Patient_innen „dieses Männerbild“ „per se“ zu, von dem sie annimmt, sie müsse es gar nicht mehr erklären. Später sagt sie: „Wo ich einfach nur merke, dass, ähm, dass die Patienten oder viele Patienten einfach, ja, einen Mann als Chirurgen brauchen“ (959 – 960). Dagmar Cramer glaubt, die Vorstellungen ihrer Patient_innen gut zu kennen. Sie geht davon aus, dass viele ihrer Patient_innen „einen Mann als Chirurgen brauchen“. Mit dieser Feststellung positioniert sie sich als eine, die auch über das Medizinische hinausgehend weiß, was ihre Patient_innen brauchen. Dagmar Cramer beschreibt ihre Patient_innen als homogene Gruppe, als unreflektiert und undifferenziert, macht sich zum Teil über deren Sicht- und Verhaltensweisen lustig. Mit dieser Darstellung positioniert sie sich hierarchisch über den Patient_innen stehend und weist aus dieser Position heraus deren Missachtung ihr gegenüber als kompetente Chirurgin zurück. In Abschnitt 6.1.2 habe ich die Zurückweisung der Anerkennung ihrer Eltern als ‚gute Tochter‘ beschrieben. Die hier herausgearbeitete Zurückweisung lässt sich jedoch anders deuten. Dagmar Cramers Eltern hatten Vorstellungen von ihr als ‚guter Tochter‘, die sie nicht teilen konnte. Sie lehnte diese Anerkennung der für sie vorgesehenen Position der ‚guten Tochter‘ ab. Doch das Verhältnis bleibt ein Anerkennungsverhältnis, denn ihre Eltern stellen Dagmar Cramers Position der Tochter nicht grundsätzlich in Frage. Das Verhalten der Patient_innen beschreibt jedoch keine Anerkennung als etwas anderes, sondern stellt eine Missachtung dar, so dass es Dagmar Cramer in dieser Interaktion unmöglich gemacht wird, die Subjektposition der Chirurgin einzu-
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nehmen.4 Sie löst das, indem sie auf ihre Stellung als Chirurgin als Ressource zurückgreift, das damit verbundene Hierarchieverhältnis zwischen ihr und den Patient_innen relevant werden lässt und die Missachtung zurückweist. In dieser Analyse wird deutlich, dass Dagmar Cramer derselben Personengruppe hinsichtlich bestimmter Adressierungen unterschiedliche Bedeutungen zuweist. Sie macht die Patient_innen zur Quelle für ihre Zufriedenheit im Beruf und entzieht ihnen gleichzeitig die Macht, sie als kompetente Chirurgin in Frage stellen zu können. Dies wird noch deutlicher bei ihrer Beschreibung des Umgangs mit dem von ihr dargelegten missachtenden Verhalten der Patient_innen. Wenn sie den Eindruck hat, Patient_innen nehmen sie als Frau nicht ernst, schickt sie einen männlichen Kollegen zu ihnen. „Genau, dann sag ich, du geh da mal rein, sag mal dem das und das und das. (lacht) Ja, das wirkt ganz anders.“ (902 – 903)
Dagmar Cramer strebt gar nicht erst an, ihre Postion den Patient_innen gegenüber zu stärken, indem sie diese von ihrer Kompetenz zu überzeugen versucht, sondern lässt die für sich sprechen, die von den Patient_innen als kompetent adressiert werden: ihre männlichen Kollegen. Dagmar Cramer gibt den Patient_innen nicht die Macht, sie als Chirurgin zu missachten. Deswegen sieht sie es auch nicht als notwendig an, sich um deren Anerkennung zu bemühen. Dagmar Cramer spricht ihren Patient_innen die Macht der Missachtung und die Möglichkeit der Anerkennung ab. Ihre Praxis verweist zudem erneut auf die Bedeutung der Hierarchien, die in Interaktionen relevant werden. Dagmar Cramer nutzt die Interaktionserfahrungen mit ihren Patient_innen strategisch, indem sie sich auf deren Denken einstellt. Dieser strategische Umgang mit dem missachtenden Verhalten der Patient_innen manifestiert das Hierarchieverhältnis, das zwischen ihnen herrscht. Denn die Patient_innen bekommen von Dagmar Cramer nicht die Macht, ihre Position als kompetente Chirurgin in Frage zu stellen. Im weiteren Verlauf der Erzählung kommen die Patient_innen im Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen nicht mehr vor. Eine andere Bedeutung scheinen für sie die Geschlechterdynamiken zwischen ihr und den Kolleg_innen zu haben. Dort lässt sich zudem eine größere Ambivalenz feststellen.
4 | Zur begrifflichen Differenzierung von Anerkennung, Abwertung und Missachtung vgl. Abschnitt 4.4.
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
„Insgesamt finde ich es sehr angenehm, in der Chirurgie zu arbeiten, gerade weil da auch so viele Männer sind“ – Anerkennung als Kollegin Während Dagmar Cramer in Bezug auf Geschlechterverhältnisse in Interaktionen mit Patient_innen eine sehr klare Position bezieht, scheint ihre Positionierung im Kolleg_innenkontext weniger eindeutig. Dagmar Cramer klärt ihre Subjektposition, indem sie unterschiedliche Verhaltensweisen geschlechtlich codiert und sich dazu ins Verhältnis setzt. In der ersten Erwähnung des Geschlechterverhältnisses im Kolleg_innenkontext ruft sie das Bild von geschlossenen Männernetzwerken auf, zu denen sie als Frau keinen Zutritt hat. „Gut, was natürlich auch so ist, dieses soziale Netzwerk auf der Arbeit, das ist zum Teil auch so ein bisschen parallel. Ich denk mal, wir waren zwischendurch immer mal mehr, mal weniger Frauen, jetzt sind es gerade mal wieder ein bisschen weniger. Wir waren mal mehr, dann ist ja immer so die Frage, was hat man für ein Netzwerk auf der Arbeit zum Beispiel. Da gibt es schon so Sachen, wo ich merke, da sind die Männer unter sich, da werde ich auch nie reinkommen. Also, bestimmte Themen, die die da haben, oder bestimmte Sachen, zusammen so durch die Kneipen ziehen und sich besaufen, da hab ich auch keine Lust zu. Da merk ich, da laufen natürlich auch Kontakte und Absprachen, die krieg ich dann nicht mit. So, ne. Und gut, manchmal ist das dann auch so konkret, da läuft es so, die sprechen dann irgendwelche Dienstpläne ab und dann hab ich so eine andere Schicht. Das ist so, ma (3) man muss sich halt, oder ich sag mal, ich muss mich dann halt immer wieder einklinken oder auch sagen, hier, so, das und das sind meine Bedürfnisse, das ergibt sich nicht automatisch.“ (292 – 308)
Dagmar Cramer hält Netzwerke im Arbeitsleben für notwendig und in ihrer Wahrnehmung sind diese geschlechtlich getrennt organisiert. Ihre Möglichkeit der Vernetzung sieht sie davon abhängig, wie viele Frauen in ihrer Abteilung arbeiten, denn eine Vernetzung mit männlichen Kollegen erscheint ihr nicht vorstellbar, aber auch nicht erstrebenswert. Zum einen, weil sie diese Netzwerke außerhalb der Arbeitszeiten organisiert verortet, was für sie in ihrer familiären Konstellation nicht in Frage kommt und worauf sie auch „keine Lust“ hat. Zum anderen beschreibt sie dieses Netzwerk aufgrund der homosozialen Zusammensetzung als hermetisch abgeriegelt und für sie unzugänglich. Sie hat für sich klar: „Da komm ich nie rein.“ Dagmar Cramer nimmt an dieser Stelle eine stereotype Darstellung ihrer Kollegen vor, indem sie Forumlierungen benutzt wie „saufen und durch die Kneipen ziehen“. Mit dieser Wortwahl verortet sie männliche Netzwerke außerhalb des Berufsfelds und konstruiert so einen männlich codierten Raum, zu dem sie sich nicht zugehörig positioniert.
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Sie beschreibt das Verhalten ihrer Kollegen durchaus als ausgrenzend. Sie beziehen Personen, die bei Absprachen nicht dabei waren, nicht nachträglich in die Entscheidungsprozesse ein. Im Gegensatz zum Umgang mit der Missachtung der Patient_innen, die sie eher abtut, setzt sich Dagmar Cramer mit dem Verhalten ihrer Kollegen auseinander. Sie steht mit ihnen formal auf gleicher Stufe. Die Kollegen haben durchaus die Macht, Dagmar Cramers Stellung und ihr Ansehen und damit ihre Position als kompetente Chirurgin und angesehene Kollegin zu schwächen. Dabei macht Dagmar Cramer auch das geschlechterhierarchische Verhältnis relevant. Dagmar Cramer nimmt jedoch keine schwächere Position an, sondern präsentiert sich als Kollegin, die sich durch die von ihr als ausgrenzend beschriebenen und männlich codierten Netzwerke nicht ausgrenzen lässt. Die Beschreibung ihres Umgangs mit dem Verhalten ihrer Kollegen beginnt sie mit den Worten „man muss halt“. Dies lässt zunächst den Eindruck entstehen, sie wolle eine Regel aufstellen, wie „man“ damit umgehen „muss“. Sie nimmt diese Formulierung zurück und erzählt in der ersten Person weiter. Damit unterstreicht sie zum einen ihre eigene Position als eine, die in dem männlich codierten Berufsfeld bestehen kann. Zum anderen verharmlost sie das Verhalten der Kollegen nicht, indem sie ‚einfache Rezepte‘ anbietet, wie damit umzugehen wäre. Dagmar Cramer geht die Auseinandersetzung mit ihren Kollegen ein, um von ihnen als gleichwertig anerkannt zu werden und eine Gleichbehandlung zu erwirken. Diese Auseinandersetzung wird aufgrund der Geschlechterhierarchie innerhalb des Berufsfelds notwendig. Dies erwähnt Dagmar Cramer, positioniert sich jedoch hinsichtlich der Geschlechterhierarchie nicht so klar. „Und ich denk schon, dass ich da, vielleicht, ich weiß nicht, ob das als Frau ist, vielleicht mich da auch mehr durchboxen muss. Oder auch mehr einfordern muss, so.“ (322 – 324)
Dagmar Cramer hat zwar den Eindruck, sie muss sich „mehr durchboxen“. Sie möchte das jedoch nicht eindeutig auf ihre Subjektposition Frau zurückführen. Diese Sequenz ist bereits ein Hinweis darauf, dass Dagmar Cramer die Geschlechterhierarchie und damit die strukturelle Macht der Geschlechterverhältnisse nicht anerkennen will. Täte sie das, würde sie den Kollegen die Macht übertragen, ihr als Frau eine hierarchisch niedrigere Position zuzuweisen. Über das Ausblenden der Geschlechterhierarchie als strukturelle Ungleichheit schreibt sie sich selbst die Verantwortung zu, sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen, indem sie sich „durchboxt“. In diesem Zusammenhang erklärt sie die Erfahrungen, die sie in den Auseinandersetzungen mit ihren Eltern auf dem Weg in die Chirurgie gemacht hat, zu einer Ressource, die sie als geeignet und passfähig für die Auseinandersetzungen in der Chirurgie begreift.
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer „Das war schon, ich war dann schon so ein Einzelkämpfertyp, so, dass ich gesagt habe, das will ich jetzt und das mach ich jetzt und das mache ich dann auf eigene Faust. Gut, dann gibt es manchmal schon auch ein bisschen Stress. Auch mit Kollegen, wenn ich sage, das mach ich jetzt nicht so. Ja (2) und insgesamt finde ich es sehr angenehm, in der Chirurgie zu arbeiten, gerade weil da auch viele Männer sind. Weil ich glaub, nur mit Frauen zu arbeiten, das ist so ein Gezicke, das ist manchmal stressiger. Das ist so mit Männern einfach spaßiger. […] So der Ton ist ein bisschen ein anderer. Das ist so direkt. Vielleicht liegt das auch an der Chirurgie, ich weiß es nicht. Da wird dir auch mal auf den Kopf zugesagt, was hast du denn für eine Scheiße gebaut (lacht), ja, das wird manchmal auch sehr drastisch. Ja, und dann ist aber auch wieder vergessen, auch nicht so nachtragend. Wenn, dann kommt es dann auf den Tisch und nicht irgendwie so hintenrum oder so, ne. Und das finde ich sehr angenehm. Ich glaub, das liegt auch daran, dass da so viele Männer arbeiten.“ (326 – 352)
Dagmar Cramer nimmt in dieser Passage die Position der durchsetzungsfähigen und konfliktbereiten „Einzelkämpferin“ ein. Dies ist nicht nur ihr Weg, um sich gegen ihre männlichen Kollegen durchzusetzen. Darüber erklärt sie sich zudem geschlechtlich passfähig in ihrem Berufsfeld. Das Erzählen dieses Einzelkämpfertums lässt sie nach einer kurzen Pause zu dem Schluss kommen, in der Chirurgie sei es „sehr angenehm“ und dies vor allem „weil da so viele Männer sind“. Das Konfliktverhalten, mit dem sie innerhalb der Chirurgie konfrontiert ist, codiert Dagmar Cramer als männlich. Da sie dieses Verhalten auch beherrscht, ordnet sie sich den männlichen Kollegen zu. Sie grenzt sich von Frauen ab, indem sie das Bild des „Gezickes“ aufruft, es weiblich codiert und stark abwertend beschreibt. Ihre Kollegen stellt sie hier als Kumpels dar, mit denen es „einfach spaßiger“ ist und mit denen man Klartext reden kann. Dagmar Cramer nimmt hier eine stereotype Beschreibung von Verhalten vor, die geschlechtlich codiert ist. Grundlage dafür sind Geschlechterbilder, an die sie in ihrer Erzählung anschließt. Der männlichen Codierung von Klarheit, Durchsetzungsfähigkeit und Konfliktfähigkeit, die sie in der Passage hier positiv belegt, stellt sie die weibliche Codierung von Verhaltensweisen wie „Gezicke“ abwertend gegenüber. Diese führt sie mit Bezug auf ihre Erfahrungen aus der Krankenpflege weiter aus. „Das ist ja ein typischer Frauenberuf. Und dann wird da gekungelt, wer mit wem. Und keiner sagt ehrlich mal, hier, sondern immer hintenrum wird dann versucht, einem da was reinzuwürgen und so. Das finde ich unangenehm.“ (358 – 361)
Auch hier ruft sie Verhaltensweisen auf, die sie stereotyp weiblich beschreibt, um sich von ihnen abzugrenzen. Dagmar Cramer hätte die Beschreibungen auch anders vornehmen können. Sie hätte unehrliches und ausgren-
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Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
„Weil ich mich nicht als Rabenmutter fühle“ – Anerkennung als ‚gute Mutter‘ Dagmar Cramer thematisiert Geschlechterverhältnisse nicht nur im Kontext ihrer Interaktion mit Patient_innen oder Kolleg_innen, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Position als Mutter von drei Kindern, die bis auf wenige Ausnahmen immer Vollzeit gearbeitet hat. Dabei stellt sie deutlich heraus, dass sie eine ‚gute Mutter‘ ist. Sie tut dies nicht nur, um sich selbst als solche zu beschreiben, sondern auch, weil sie immer wieder als ‚Rabenmutter‘ adressiert wird. „Also, weil ich mir dann in der Arbeit auch manchmal so Sprüche anhören musste wie ‚Du hast drei kleine Kinder‘, so ‚Rabenmutter‘ und so. Und Edgar bei sich im Beruf eher so ‚Was bist du denn für einer, so Wäsche waschen und Kinder wickeln‘, so. Er hat dann irgendwann angefangen, eine Viertelstelle zu machen, um weiter im Beruf zu bleiben. Dann war er so die Teilzeitkraft. Also, wir hatten immer so verkehrte Rollen.“ (165 – 170)
Dagmar Cramer lokalisiert die Zuschreibungen der „Rabenmutter“ und des „Was bist du denn für einer“ in ein Außen, legt sie Arbeitskolleg_innen in den Mund. Aufgrund ihrer Schwerpunktsetzung auf die Berufstätigkeit wird Dagmar Cramer abgesprochen, eine ‚gute Mutter‘ zu sein. Ihrem Mann hingegen wird die Männlichkeit abgesprochen, weil er sich für Haushalt und Kindererziehung entschieden hat. Während Muttersein und Frausein als identisch gedacht werden, gilt dies für Vatersein und Mannsein offenbar nicht. Ihr Mann nimmt seine Berufstätigkeit wieder auf, als dies mit der Kindererziehung vereinbar wird. Er tut dies in Teilzeit, was Dagmar Cramer als „verkehrte Rollen“ beschreibt. Daraus wird deutlich, was sie gesellschaftlich als ‚richtig‘ wahrnimmt: Sie hätte eine Teilzeitstelle annehmen und sich um die Kinder kümmern müssen, während ihr Mann Vollzeit erwerbstätig ist. Über ihre Art des Erzählens in dieser Passage bringt Dagmar Cramer ihre Distanzierung zu diesen Adressierungen zum Ausdruck. Ähnlich wie in der in Abschnitt 6.1.2 beschriebenen Konfliktsituation mit ihren Eltern, als sie deren Adressierung als ‚gute Tochter‘ zurückweist, weist sie hier die Adressierung als ‚Rabenmutter‘ zurück. Besonders deutlich wird dies in ihrer Antwort auf die Frage, wie sie mit der Zuschreibung der ‚Rabenmutter‘ umgegangen sei. „Ähm, (4), ich hab mich da einfach ein bisschen drüber lustig gemacht, weil ich mich nicht als Rabenmutter fühle.“ (322 – 323)
Analog zu dem Umgang mit Geschlechterbildern im Kontakt mit den Patient_innen, den ich in Abschnitt 6.1.4 ausführlich beschrieben habe, stellt sie sich auch hier über die Menschen, die sie als ‚Rabenmutter‘ bezeichnen.
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Sie nimmt deren Wertvorstellungen nicht ernst und kann so deren Adressierung zurückweisen. Im Kontakt mit ihren Patient_innen gelingt ihr diese Zurückweisung aufgrund ihrer hierarchisch höher gestellten Position. Dies ist in dieser Konstellation nicht unbedingt der Fall. Sie beschreibt die Interaktionen hier nicht genauer, aber es dürften sehr heterogene Interaktionsverhältnisse sein, in denen diese Adressierung stattfindet. In dieser Beschreibung gibt ihr ihre Klarheit, sich nicht als ‚Rabenmutter‘ zu fühlen, die Macht, diesen Vorwurf zurückzuweisen. Sie positioniert sich als ‚gute Mutter‘ und weist aus dieser Position heraus diese Adressierung als nicht zutreffend für sich zurück. Sie erzählt sich im Kontakt mit ihren Kindern und positioniert sich darin als Mutter, die die gesellschaftlichen Anforderungen an diese Position erfüllt. Interessanterweise bezieht sie sich dabei auf ein eher traditionelles Familienbild, wie sich in der Analyse der folgenden Passagen zeigen wird. Unmittelbar im Anschluss an das Zurückweisen der Bezeichnung „Rabenmutter“ ruft sie den Aspekt auf, den sie als dieser abwertenden Bezeichnung zugrunde liegend ansieht: Die Unterstellung, aufgrund ihrer geringen Präsenz in der Familie könne sie keine einer Mutter adäquate Beziehung zu ihren Kindern auf bauen. „So, also ich denk, ich hab auch viel von den Kindern mitgekriegt, denk ich mal, auch so nach Feierabend. So, Edgar hat mir immer sehr viel auch erzählt, was so passiert. Auch wenn ich nicht unmittelbar immer so dabei war, hab ich halt doch wirklich auch ganz viel Alltag auch immer mitgekriegt, auch wenn ich immer viel auch weg war. Was schon ist, so, die Kinder fragen dann nicht, wann kommst du nach Hause, sondern kommst du heute nach Hause. Das ist schon was ganz anderes. Und ähm, ich denk, dass Edgar so noch mal ne intensivere Beziehung zu den Kindern auch teilweise hat, aber ich hab nicht das Gefühl, dass die Beziehung dadurch weniger ist, von mir aus zu den Kindern. Nee, ich hab eigentlich, ich hab auch nie ein schlechtes Gewissen gehabt oder so. Dass ich dachte so, hu, ich geh jetzt arbeiten. Sondern, ich, also, unsere Kinder sind gesund, das ist eher sowas, was ein Geschenk ist. Sonst wäre das alles auch so nicht gegangen. Und ja, es ging uns allen gut dabei.“ (323 – 334)
Trotz ihrer Berufstätigkeit in Vollzeit beschreibt Dagmar Cramer die Beziehung zu ihren Kindern als „dadurch nicht weniger“. An dieser Stelle fehlt der Vergleichsmaßstab. Es ist nicht klar, ob sie ihre Beziehung zu den Kindern als „nicht weniger“ als die ihres Mann einschätzt oder als „nicht weniger“ als das, was normativen Vorstellungen entspräche. Dagmar Cramer beschreibt in dieser Sequenz eine gewissermaßen paradoxe Situation: Obwohl sie relativ wenig zu Hause ist und deshalb zwangsläufig weniger Kontakt zu den Kindern haben kann als ihr Mann, beschreibt sie ihre Beziehung zu ihren Kindern als intakt. Ihr scheint es also wichtig zu sein, ihre Beziehung zu ihren Kindern nicht als
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
defizitär zu präsentieren. Sie vermittelt, dass sie eine solche Beziehung herstellen kann, ohne dabei immer anwesend sein zu müssen. Dagmar Cramer versichert, sie habe nie ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie arbeiten ging. Diese Betonung, sie habe nie ein schlechtes Gewissen gehabt, schließt ein, sie hätte eines haben können. Auch diese implizite Adressierung weist sie zurück, indem sie sich auf das in ihren Augen gute Ergebnis ihrer gemeinsamen Erziehungsarbeit bezieht. Die Gesundheit der Kinder und das Wohlergehen der gesamten Familie ist für Dagmar Cramer Ausdruck ihrer gelungenen familiären Arbeitsteilung. Sie präsentiert sich als Mutter, die das Wohl ihrer Kinder und der gesamten Familie im Blick hat, auch wenn sie sich nicht immer selbst darum kümmert. Auch damit positioniert sie sich als fürsorgende Mutter, der sie in ihrer Präsentation entspricht. Etwas später im Interview kommt sie noch einmal auf ihre Beziehung zu den Kindern zu sprechen. Sie beschreibt, dass sich ihre Kinder im Alltag selbstverständlicher auf den Vater beziehen als auf sie. „So typisch, also, wenn die Kinder nachts irgendwas wollten, haben die nie Mama gerufen, die haben immer Papa gerufen, das ist schon irgendwie. Aber das fand ich nicht schlimm, das fand ich eher gut (lacht). Da konnte ich nämlich schlafen (lacht). Nein, das hat mir echt nichts ausgemacht. Die sind auch gut versorgt bei meinem Mann, da hab ich auch echt kein schlechtes Gewissen oder ich hab auch nicht das Gefühl, ich verpass da was. Ich kann das auch ganz gut. Ich glaub, ich kann ganz gut abgeben.“ (711 – 718)
Dagmar Cramer bezeichnet eine in ihren Augen „typische“ Situation, in der sie von den Kindern nicht als Hauptbezugsperson angesehen wird. Sie vollendet den Satz „das ist schon irgendwie“ nicht. Er ließe sich mit ‚komisch‘ oder ‚anders‘ beenden. Sie spricht dies jedoch nicht aus, sondern macht sofort klar, wie wenig schlimm sie dies findet und welche guten Seiten sie dem abgewinnen kann. Wie bereits oben, benutzt sie auch hier die Formulierung, sie habe „kein schlechtes Gewissen“ gehabt. Wieder werden über diesen Ausdruck normative Erwartungen transportiert, sie hätte als Mutter da sein müssen, oder sie müsste die eigentliche Bezugsperson sein und wenn sie dies nicht ist, müsste sie zumindest ein schlechtes Gewissen haben. Auch hier weist Dagmar Cramer die impliziten oder vielleicht auch von ihr verinnerlichten Anforderungen zurück, indem sie eine andere normative Rahmung aufruft, nämlich die der Mutter, die auch gut abgeben kann. Sie schließt an die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Diskurses um die ‚gute Mutter‘5 an, um sich als solche darin zu positionieren. Hier lehnt sie die zu Hause präsente Mutter ab
5 | Zum Diskurs um die ‚gute Mutter‘ vgl. zum Beispiel (Schütze 1991; Thiessen und Villa 2009; Toppe 2009)
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und ruft die Mutter auf, die abgeben kann, indem sie dem Vater die Übernahme der Erziehungsaufgaben zutraut. Gleichzeitig unterstreicht sie im weiteren Verlauf der Erzählung ihre Bereitschaft, sofort ihre Arbeitssituation zu ändern, wenn es die Familie und das Aufrechterhalten der intakten Familie in ihrem Sinn erfordern würde. Sie beschreibt sich somit als Mutter, die gut abgeben kann, aber im Notfall einspringen würde. Sie hat dies auch getan. Als ihr Mann schwer krank ist, gibt ihr Chef ihr die Möglichkeit, weniger zu arbeiten und zu Hause zu sein, wenn sie gebraucht wird. Später in einer Phase, die Dagmar Cramer als „Umbruch“ bezeichnet, reduziert sie für ein Jahr ihre Arbeitszeit auf Teilzeit, um mehr zu Hause und mehr mit den Kindern sein zu können. Sie beschreibt diese Zeit als schwierig, vor allem bezüglich ihrer Arbeitssituation. Sie wird nicht mehr als vollwertige Kollegin anerkannt und hat Schwierigkeiten, die Arbeit zu ihrer eigenen Zufriedenheit zu gestalten. Zudem hat sie in ihren Augen weniger Möglichkeiten, Einfluss auf den Dienstplan zu nehmen, was sie als stressig empfindet, da ihr oft Dienste für Zeiten zugeteilt werden, in denen sie eigentlich zu Hause gebraucht wird. Rückblickend beschreibt sie das Arbeiten in Vollzeit als entspannter, da sie sich stärker eingebunden fühlt und ihre Interessen besser durchsetzen kann. Das Zurückgehen in die Vollzeitstelle war aus Dagmar Cramers Sicht nur möglich, weil sie dies mit ihrem Mann gemeinsam entschieden hat. In ihrer Erzählung wird das Spannungsfeld zwischen ihrer starken Erwerbsorientierung und dem Muttersein deutlich. „Das war uns auch mit den Kindern klar. Dass wir so sagten, wenn das so geht, ist es gut, ansonsten müssen wir was ändern. Und, also, ich denke, ich hätte auf jeden Fall auch meinen Beruf auch aufgegeben, oder auch diese Arbeitszeiten, wenn das nicht gegangen wäre. Also, wenn das mit der Beziehung in die Brüche gegangen wäre oder wenn die Kinder krank geworden wären, also, wenn irgendwas passiert wäre. Also, so häng ich nicht an dem Beruf. Ich möchte jetzt nicht, also, ich arbeite gerne, kann mir auch nicht vorstellen, zu Hause zu sein und um die Kinder rumzuglucken, so, (3) aber es ist jetzt nicht so, dass ich mich so über meinen Beruf definiere, dass ich da jetzt auch Karriere mache. Ich möchte auch nicht Oberärztin werden. Das (2) Ich will irgendwie auch arbeiten und es ist angenehm, so ein Leben zu haben, das irgendwie auch sehr leicht ist. Das muss man schon auch sagen. Ja. (3) Und so lange das so ist, ist es gut, sonst muss ich halt was ändern.“ (478 – 491)
In dieser Interviewsequenz trennt Dagmar Cramer zunächst zwischen Arbeiten und Arbeiten als Chirurgin. Für sie steht außer Frage, dass sie gerne arbeiten will und in jedem Fall versuchen würde zu arbeiten, wenn die Familiensituation es erlaubt. Es muss jedoch nicht die Chirurgie sein. Sie ruft zwei Mutterbilder auf: die ‚Glucke‘, die immer zu Hause ist, und die ‚Karrieremutter‘. Dagmar Cramer grenzt sich von beidem ab. Sie beschreibt sich selbst als
Immer Vollzeit, immer Chirurgie – Dagmar Cramer
nicht karriereorientiert und bemisst das daran, innerhalb der Klinikhierarchie nicht weiter aufsteigen zu wollen. In einem Beruf tätig zu sein, der gesellschaftlich ein sehr hohes Ansehen genießt, scheint für sie nicht der Ausdruck einer beruflichen Karriere, sondern eher selbstverständlich. Somit bezieht sie die Position der ‚Karrierefrau‘ nicht auf sich. Über die Abwertung ihrer Berufstätigkeit nimmt Dagmar Cramer die Subjektposition einer gesellschaftlich anerkannten, arbeitenden Mutter an, die jederzeit bereit wäre, den Bedürfnissen der Familie entgegenzukommen. Auch darüber positioniert sie sich als ‚gute Mutter‘. Zudem verweist Dagmar Cramer bereits in dieser Passage auf die Bedeutung, die sie den Aushandlungen zwischen ihr und ihrem Mann zuweist. Auch wenn sie diejenige ist, die die Familie finanziert, leitet sie daraus keine Ansprüche ab, die Bedürfnisse der restlichen Familienmitglieder müssten sich ihren unterordnen. Sie beschreibt die Beziehung zu ihrem Mann als moderne Partnerschaft, in der Entscheidungen gemeinsam und gleichberechtigt getroffen werden. Dieses Postulat der Gemeinsamkeit verweist einerseits auf moderne Partnerschaft, stellt für Dagmar Cramer jedoch gleichzeitig das Vehikel dar, mit dem sie ihre Familie als intakt und sich selbst als ‚gute Mutter‘ in dieser Familie präsentiert. „Also, wir haben uns schon auch ein drittes Kind gewünscht und ich hätte auch noch ein viertes gekriegt, aber es war auch immer klar, ich muss die nicht alleine groß ziehen. Ich kenn das von vielen Kolleginnen, die geben ihre Kinder morgens in die Krippe und die sind dann da den ganzen Tag. Das war irgendwie zwischen uns schon klar, wir machen das irgendwie gemeinsam.“ (155-169)
Dagmar Cramer thematisiert in dieser Sequenz zunächst, dass ihr Mann und sie sich bewusst für mehr als zwei Kinder entschieden haben.6 Sie fügt an, sie hätte sogar noch mehr Kinder gewollt, wissend, dass sie sich nicht alleine kümmern müsse. Das Wort „alleine“ kann sich hier sowohl auf die Situation als Alleinerziehende beziehen als auch auf eine Beziehungskonstellation, in der sich die Väter nicht an der Erziehung der Kinder beteiligen. Außerfamiliale Einrichtungen wie Krippen sind für Dagmar Cramer negativ besetzt. Sie macht deutlich, dass für sie die intakte Zwei-Eltern-Familie das bessere Modell für Kinder darstellt. Zudem grenzt sie sich von ihren Kolleginnen ab, die ihre Kinder in solche Einrichtungen geben. Über den Verweis auf ihre intakte Zwei-Eltern-Familie und die gemeinsame Erziehung zu Hause bezieht sie sich selbstverständlich in die Erziehungsverantwortung mit ein. Sie verweist nicht 6 | An anderer Stelle im Interview beschreibt sie ihren Stolz darauf, Chirurgin und Mutter von drei Kindern zu sein in Abgrenzung zu ihren Kollegen, die meist nur ein oder zwei Kinder haben und überwiegend bereits wieder geschieden sind.
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darauf, aufgrund ihres Berufs in Vollzeit nicht an der Kindererziehung teilhaben zu können. Stattdessen postuliert sie ein „gemeinsam“, über das sie ihre verantwortungsvolle Beteiligung als Mutter unterstreicht. Neben der intakten Zwei-Eltern-Familie thematisiert Dagmar Cramer zudem auf die finanziellen Ressourcen, die es ihren Kindern ermöglichen, sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen und damit sozial nicht ausgeschlossen zu sein. „Also, ich hab viele Freundinnen, die arbeiten auch, als Verkäuferinnen oder als Erzieherinnen. Das ist schon so, auch so viele sind auch alleinerziehend, das ist so, wir brauchen uns nicht so viele Sorgen um das Geld so zu machen, was weiß ich, wenn die Kinder irgendwelche Klassenfahrten machen oder sonstwas, das ist so irgendwie relativ unproblematisch. Find ich irgendwie, das ist absolut nicht selbstverständlich. Und ja zu zweit zu sein, zu zweit hier die Kinder großzuziehen, das ist auch nicht selbstverständlich. Sich auszutauschen, wenn man da alleine bei irgendwelchen Problemen davor steht.“ (496-504)
Dagmar Cramer erwähnt an dieser Stelle ihr gutes Einkommen, das die Grundlage für die finanzielle Situation ihrer Familie darstellt, nicht. Wie bereits in Abschnitt 6.1.2 dargestellt, möchte sie sich nicht als ‚etwas Besseres‘ darstellen. Indem sie sich zu ihren Freundinnen, die als Verkäuferinnen und Erzieherinnen arbeiten, in Beziehung setzt, unterstreicht sie, dass sie den Kontakt zu der gesellschaftlichen Schicht, aus der sie kommt, nicht verloren hat. Sie macht zudem deutlich, dass diese Freundinnen im Gegensatz zu ihr alleinerziehend sind, woraus sie nicht nur finanzielle Engpässe ableitet, sondern deren Familien als defizitär konstruiert. Als ursächlich für die Zufriedenheit ihrer Kinder und deren Teilhabe an sozialen Aktivitäten scheint Dagmar Cramer daher eher ihre partnerschaftliche Erziehung anzusehen als die finanziellen Ressourcen. Dagmar Cramer weist also die Adressierung als ‚Rabenmutter‘ zurück, indem sie sich als ‚gute Mutter‘ positioniert. Dies tut sie mit Verweis auf den Diskurs um gute Mutterschaft. Sie ruft das Bild der modernen, arbeitenden Mutter auf, die das Wohl ihrer Kinder und der Familie im Blick hat. Sie verweist in Abgrenzung zu ihren Kolleg_innen auf ihre intakte Zwei-Eltern-Familie. Diese stellt einerseits noch immer eine wirkmächtige Familiennorm dar. Andererseits kann sie sich darüber als zuständige Mutter positionieren. Die Aneignungen dieser gesellschaftlich anerkannten Vorstellungen von Muttersein, Elternschaft und Familienform ermächtigen sie dazu, die Anrufung als ‚Rabenmutter‘ zurückzuweisen. Anerkennungstheoretisch interessant ist dabei neben der Praxis der Aneignung von Normen auch das Verhältnis von Aneignung und Abwertung. Dagmar Cramer distanziert sich von der ‚Karrieremutter‘, indem sie ihre eigene
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Berufstätigkeit abwertet. Die Tätigkeit als Chirurgin an sich stellt für sie keine Karriere dar. Dies wäre in ihren Augen erst dann der Fall, wenn sie innerhalb der Klinikhierarchie aufstiege.
Anerkennungspraktiken Aus Dagmar Cramers Selbstpräsentation lassen sich aufgrund ihres Bildungsaufstiegs, ihrer Position als Frau in der Chirurgie und ihrer Position als Vollzeit erwerbstätige Mutter verschiedene Konstellationen herausarbeiten, in denen sie sich mit abwertenden oder sogar missachtenden Adressierungen konfrontiert sieht. Ihre Praktiken des Umgangs damit sind unterschiedlich. Aus ihrer Erzählung lassen sich an verschiedenen Stellen Zurückweisungen von Adressierungen herausarbeiten, gerade im Zusammenhang mit Abwertung oder Missachtung. Dies zeigt sich beispielsweise bei der ablehnenden Anerkennung als ‚gute Tochter‘ durch ihre Eltern oder bei der Missachtung als Chirurgin durch ihre Patient_innen. Voraussetzung dafür ist in diesen Fällen die Positionierung als hierarchisch über den ablehnenden oder missachtenden Personen stehend. Diese nimmt Dagmar Cramer ein, wenn sie sich auf die Position der Chirurgin oder Ärztin bezieht. Diese Position gibt ihr die Macht, den normativen Rahmen derer, die ablehnen oder missachten, jeweils selbst nicht anzuerkennen oder für sich nicht relevant zu machen. Damit erkennt sie auch die Personen, die abwerten oder missachten, nicht als anerkennungsrelevant an. Auch wenn sich Dagmar Cramer überhaupt nicht als Angehörige einer Berufsgruppe mit sehr hohem Prestige präsentiert, bezieht sie diese gesellschaftliche Stellung und die damit verbundene Macht trotzdem in ihre Positionierungen ein. Diese Dynamik ist anerkennungstheoretisch interessant. Die Analysen zeigen, dass gesellschaftliche Wertschätzung Positionierungen ermöglicht, aus denen heraus Ablehnung oder Missachtung zurückgewiesen werden kann. Aus sozialer Wertschätzung resultieren somit machtvolle Positionen, die in Interaktionen relevant gemacht werden können, zum Beispiel für die Bestätigung dieser Position. Denn Adressierungen, die diese Position in Frage stellen, können dann eher zurückgewiesen werden. Soziale Wertschätzung führt also zu einer Ausstattung mit mehr Macht, auf die in Interaktionen zum Erhalt der Position zurückgegriffen werden kann. Dies wird vor allem im Kontrast mit der Beschreibung der Geschlechterhierarchien im Kolleg_innenkreis deutlich. Auch in diesem Kontext bewegt sich Dagmar Cramer als Angehörige eines Berufs, der hohe gesellschaftliche Wertschätzung genießt. Daraus leitet sich jedoch kein hierarchisches Verhältnis ab, denn sie ist diesbezüglich mit ihren Kolleg_innen gleichgestellt. Geschlechterhierarchien werden in diesem Kontext jedoch ebenfalls relevant gemacht und hier wird Dagmar Cramer auf die gesellschaftlich weniger anerkannte weib-
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liche Position verwiesen. Aus dieser Position heraus wählt sie einen anderen Umgang mit ablehnendem und ausgrenzendem Verhalten ihrer männlichen Kollegen: Sie codiert in ihrem Kampf um Anerkennung als gleichwertige Kollegin ihr eigenes Verhalten des Kämpfens als männlich und versucht so, Geschlechterhierarchien nicht wirksam zu machen. In Anerkennungsprozessen führt soziale Wertschätzung von Berufen und beruflichen Tätigkeiten also nur dann zu Selbstermächtigung, wenn eine höhere hierarchische Position in Interaktionen eingenommen werden kann. In dem hier analysierten Fall ist dies innerhalb des Kolleg_innenkreises aufgrund von Geschlechterhierarchien schwerer möglich. Diese lassen sich – anders als die Beziehung zwischen Ärztin und Patient_innen – nicht einfach in formalhierarchische Beziehungen übersetzen. Im Fall der Geschlechterhierarchien scheint es aufgrund der stetigen Aushandlungsprozesse möglich, gerade über vergeschlechtlichte (Um-)Codierungen Geschlechterhierarchien zu verschleiern. Diese (Um-)Deutungen verhelfen dazu, die zugewiesene untergeordnete Position nicht einnehmen zu müssen. Wie eben ausgeführt, ermöglicht die mit sozialer Wertschätzung verbundene hierarchische Position einen Umgang mit missachtendem und ablehnendem Verhalten, das die jeweilige Subjektposition aufrecht erhält. Die hierarchische Position ermächtigt außerdem dazu, Akteur_innen Anerkennungsmacht zu entziehen oder zuzusprechen und damit bis zu einem gewissen Grad zu wählen, wer für die jeweilige Subjektposition anerkennungsrelevant ist. Wie oben dargestellt, entzieht Dagmar Cramer ihren Patient_innen die Macht, ihre Position als Frau in der Chirurgie zu missachten. Sie schreibt ihnen jedoch die Macht zu, sie als freundliche, kompetente und menschliche Ärztin anzuerkennen. Über diese Anerkennung der Patient_innen kann sie dem normativen Rahmen gerecht werden, mit dem sie sozialisiert wurde. Sie will nicht als ‚etwas Besseres‘ gesehen werden. Gleichzeitig kompensiert sie das Fehlen einer Karriere innerhalb der Klinikhierarchie durch das Zusprechen der Anerkennungsmacht an die Patient_innen. Damit wird jedoch ihre Position innerhalb der Klinikhierarchie nicht gestärkt. Sie definiert die Anerkennung der Patient_innen als ausschlaggebend für ihre Zufriedenheit im Beruf. Für eine Beförderung als Oberärztin ist sie jedoch von nachrangiger Bedeutung, wenn nicht sogar bedeutungslos. Anerkennungstheoretisch ist also zu unterscheiden, welchen gesellschaftlichen Status die Personen haben, die Anerkennung entgegenbringen. Ein Mehr an sozialer Wertschätzung entsteht über die Anerkennung von statushöheren Personen. Eine etwas andere Anerkennungspraxis lässt sich im Zusammenhang mit Dagmar Cramers Subjektposition der Mutter herausarbeiten. Zwar weist sie auch hier die Bezeichnung als ‚Rabenmutter‘ und damit das Aberkennen ihrer Position der ‚guten Mutter‘ zurück, indem sie sich über die lustig macht, die sie als solche bezeichnen. Die Dynamik der Zurückweisung von Anerkennung
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
erfolgt jedoch etwas anders als die eben beschriebene. Dagmar Cramer stellt hier eine selbstermächtigende Position her, indem sie sich im Diskurse um ‚gute Mutterschaft‘ als ‚gute Mutter‘ positioniert. Als solche anerkannt zu sein und sich als solche anerkannt zu wissen, ermöglicht es ihr, die Infragestellung dieser Subjektposition zurückzuweisen. Der Diskurs um die ‚gute Mutter‘ lässt verschiedene Deutungen und damit Aneignungsmöglichkeiten zu. Die Aneignungsprozesse beinhalten im Fall von Dagmar Cramer eine Abwertung der eigenen Berufstätigkeit. Kompensationsmöglichkeiten von bestätigender und abwertender Anerkennung zwischen verschiedenen Feldern7 funktionieren also auch in umgekehrter Richtung: Abwertung in einem Feld führt zu mehr Anerkennung in einem anderen Feld.
I ndividualistin , F riseurin , I ntellek tuelle – V ik toria F risch Lebensgeschichte Viktoria Frisch ist zum Zeitpunkt des Interviews 49 Jahre. Sie kommt aus einer kleinen Stadt im Südosten Deutschlands. Sie ist die älteste von drei Geschwistern. Ihr Vater ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt 38 Jahre alt, über das Alter der Mutter und die Berufe ihrer Eltern erzählt sie nichts. Viktoria Frisch wechselt nach der Grundschule auf das Gymnasium. Kurz vor dem Schulabschluss wird sie schwanger. Sie schreibt schwanger ihre Abschlussprüfungen, unmittelbar danach kommt ihre Tochter Laura zu Welt. Viktoria Frisch folgt dem Vater ihres Kindes in eine Großstadt, die Beziehung geht jedoch wenig später auseinander. Viktoria Frisch zieht mit ihrer Tochter in eine Wohngemeinschaft und beginnt ein Studium. Nach drei Semestern bricht sie ab und verdient ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen Jobs. Mit 25 erkrankt sie an einer Lungenentzündung und muss für vier Wochen ins Krankenhaus. In dieser Zeit entscheidet sie sich dafür, eine Berufsausbildung zu beginnen und sucht sich eine Lehrstelle als Friseurin. Sie beendet ihre Lehre mit einem guten Abschluss. Trotzdem möchte sie nicht in diesem Beruf weiterarbeiten. In den folgenden Jahren arbeitet sie in verschiedenen Jobs, unter anderem in der Weinhandlung einer Freundin. 1998, als Viktoria Frisch 36 Jahre alt ist, kommt ihre zweite Tochter Manuela zur Welt. Drei Jahre später trennen sich Viktoria Frisch und Manuelas Vater. Viktoria Frisch beschreibt diese Zeit als Orientierungsphase. Der Plan, ein Tagescafé zu eröffnen, scheitert an zu ho-
7 | Vgl. Abschnitt 4.1.
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hen Mietpreisen. Sie besinnt sich zurück auf ihren Lehrberuf und entscheidet, sich als Friseurin selbstständig zu machen. 2010 eröffnet sie ihren eigenen Salon, den sie zum Zeitpunkt des Interviews noch hat. Sie arbeitet alleine und will dort bis zur Rente weiter tätig sein. Viktoria Frisch lebt mit ihrer jüngsten Tochter, 14 Jahre, in einer Wohnung in der Nähe des Salons. Ihre erste Tochter ist zum Zeitpunkt des Interviews 29 Jahre alt, lebt in derselben Stadt. Die Anerkennungspraktiken, die sich aus Viktoria Frischs Erzählung herausarbeiten lassen, beziehen sich stark auf ihre Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Bild der ‚typischen‘ Friseurin, das im Widerspruch steht zu Viktoria Frischs Selbstentwurf. Den Umgang mit diesem Widerspruch führe ich im folgenden Abschnitt 6.2.2 aus. Im Gegensatz zur Chirurgie ist der Friseurberuf weiblich codiert. Viktoria Frisch hat also für ihren Beruf das ‚passende‘ Geschlecht. Das bedeutet jedoch nicht, dass Geschlechterdifferenzierungen für sie keine Relevanz haben, denn das Bild der ‚typischen‘ Friseurin setzt einen Weiblichkeitsentwurf voraus, dem sie nicht entsprechen will. Auf diese Anerkennungsdynamik werde ich in Abschnitt 6.2.3 ausführlicher eingehen. 20 Jahre nach dem Berufsabschluss entscheidet sich Viktoria Frisch dafür, sich als Friseurin selbstständig zu machen. Sie findet einen Weg, den Beruf, dessen gesellschaftliches Bild sie als unvereinbar mit ihrem Selbstentwurf darstellt, mit sich in Verbindung zu bringen. Diesen Prozess beschreibe ich in Abschnitt 6.2.4. Im beruflichen Alltag spielen Kund_innen als Anerkennende eine wichtige Rolle. Das Zusammenspiel von Kund_innen und deren Funktion für die Herstellung einer für Viktoria Frisch passenden Position der ‚Friseurin‘ wird in Abschnitt 6.2.5 analysiert. Neben der Erwerbssphäre macht Viktoria Frisch ihre Positionierung als Mutter relevant. Obwohl sie das gesellschaftliche Ideal der Kleinfamilie auch für sich geltend macht, lebt sie es nicht. Ihre Auseinandersetzung mit dem Muttersein arbeite ich in Abschnitt 6.2.6 heraus.
„Ich war ja völlig der E xot, ein Kind hatte ich schon, ein Abitur hatte ich“ – Zurückweisen der Anerkennung als ‚typische‘ Friseurin Viktoria Frisch präsentiert sich zu Beginn ihrer Erzählung als geeignete Interviewpartnerin, weil sie als Kind eigentlich Chirurgin werden wollte. Sie stellt damit einen Zusammenhang zwischen ihrer Lebensgeschichte und dem Thema meiner Dissertation her, das ich ihr bei der Kontaktaufnahme genannt habe.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch „Was ich witzig fand, weil Laura hatte mir nur kurz gesagt, dass, weil Laura hatte mir nur gesagt, es geht auch um den Vergleich so Friseure und Chirurgen /Ja./ Was ich lustig fand, dass ich so mit neun oder zehn, mein Berufswunsch damals war, Chirurgin zu werden /Nein!/, ich wollte das damals unbedingt, weil das fand ich einen der schönsten Berufe, weil ich das toll fand, so am Menschen wirklich zu sägen. Ich fand das so abgefahren für mich, die Vorstellung, so spritzen, betäuben und ich muss da jetzt ein Organ retten oder beziehungsweise raus- oder reinsetzen, beziehungsweise, wie auch immer, oder Venen zu kappen und andere zu verbinden /Mhm./, und fand dieses Grobschlächtige, was die Chirurgen so an sich haben, so als Ruf, das fand ich eher faszinierend, dass sie da die Scheu so verloren haben /Mhm./, der Rest an Medizin, also, der Rest heißt, so in Bezug als Fachärzte, hat mich nicht so interessiert. Aber der Beruf des Chirurgen /Das ist ja witzig!/, das fand ich so abgefahren, weil ich glaube, dass Laura das selber noch gar nicht so wusste, irgendwie. Weil dieser Gedanke war wirklich mit neun oder zehn und dann bin ich aufs Gymnasium gegangen, ähm, und ja, letztendlich hat es sich dann auch wieder verwischt, weil auf dem Gymnasium gab es einfach, ähm, (2), ähm, kamen halt auch andere Talente zum Vorschein die mich mehr gereizt haben in oder an mir so.“ (9 – 26)
Viktoria Frisch erzählt in plastischen Darstellungen, wie sie sich die Arbeit von Chirurg_innen als Kind vorgestellt hat. Sie erzählt von sich als einem Kind, das weiß, dass Ärzt_innen nicht nur die Brust abklopfen, die Lunge abhören und untersuchen, sondern, dass es verschiedene Fachärzt_innen, unter anderem auch Chirurg_innen gibt. Ihr Interesse an diesen Themen kam daher – das erwähnt sie etwas später – , dass sie als Kinder immer an „Tieren rumgetüddelt“ (27) und „Leichen angeguckt“ (28) hat. Letzteres stellt sie in Zusammenhang damit, dass sie neben dem Friedhof wohnte und die in der Aussegnungshalle aufgebahrten Leichen für sie einen Reiz ausübten. Dieses Interesse an der Chirurgie ist Viktoria Frischs einzige Schilderung aus ihrer Kindheit. Sie mündet sofort in ihre Zeit auf dem Gymnasium, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass sie das Gymnasium besucht. Sie stellt das Gymnasium als Ursache dafür dar, doch nicht in die Chirurgie gegangen zu sein, denn sie hat in dieser Zeit andere Talente „an und in sich“ entdeckt. Sie führt nicht weiter aus, welche Talente das waren. Sie stellt zudem nicht in Frage, dass sie sowohl die Ausbildung als Chirurgin hätte zu Ende bringen als auch diese Tätigkeit hätte ausüben können. In dieser ersten Passage ihrer Erzählung lässt sich Viktoria Frisch von mir nicht als Friseurin ansprechen. Im Gegensatz zu anderen Interviews mit Friseur_innen, in denen sich in der Anfangsphase der Bildungsunterschied zwischen ihnen und mir hemmend auswirkte, positioniert sich Viktoria Frisch als mir gleichwertig. Dazu greift sie auf das Themenfeld Bildung zurück. Sie erwähnt ihre schulische Bildung und stellt den Bezug zu ihrer Tochter her. Ihre eigene Bildung und die ihrer Tochter ermöglichen es ihr, in der Interaktion
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zwischen uns eine andere Subjektposition einzunehmen als die, die ihr über ihren beruflichen Status zugewiesen ist und als die ich sie angesprochen habe. Viktoria Frisch schreibt sich zu, durchaus andere Möglichkeiten gehabt zu haben. Der Friseurberuf ist daher angesichts der schlechten Verdienstmöglichkeiten, der Arbeitsbedingungen und des niedrigen gesellschaftlichen Ansehens (vgl. Abschnitt 2.2) nicht unbedingt naheliegend. Gerade vor diesem Hintergrund könnte es Viktoria Frisch ein Bedürfnis sein, ihre Erzählung mit einer Erklärung zu beginnen, warum sie trotz ihrer schulischen Ausbildung und der damit verbundenen Möglichkeiten heute als Friseurin arbeitet. Sie tut das nicht. Dies lässt darauf schließen, dass Viktoria Frisch ihre berufliche Entwicklung für schlüssig und damit nicht für rechtfertigungsbedürftig hält. Viktoria Frisch entscheidet sich für eine Ausbildung als Friseurin, als sie mit einer Lungenentzündung für längere Zeit im Krankenhaus liegen muss. Bei der Entscheidung für diesen Beruf ist ihr dessen geringe gesellschaftliche Wertschätzung durchaus bewusst. „Ich fand das nicht schwierig, mir das vorzustellen, das durchzuhalten, diese zweieinhalb Jahre, obwohl ich wusste, Friseurlehre ist eine der härtesten unten /Mhm./, da ist nicht viel mit lustig und Gleichberechtigung und überhaupt Meinungsbildung, diese, ähm, Dinge sind in der Friseurlehre, glaub ich, sehr ausgeschlossen, es gibt da einen Meister und der hat das Sagen. Aber diese Entscheidung, die war dann im Krankenhaus und dann dachte ich, okay, das mach ich und vielleicht geh ich dann auch weiter in die Maske und dann bin ich wieder im Theater oder bin wieder in dieser dieser, ähm, ja, in dieser Szene halt drin.“ (111 – 119)
In dieser Passage thematisiert Viktoria Frisch das erste und einzige Mal in ihrer Erzählung die niedrige Position ihres Berufs auf der Prestigeskala. Sie verortet die Ausbildung und damit den Beruf „als eine der härtesten unten“. Sie stellt einen Bezug zu dem geringen sozialen Ansehen des Friseurberufs her, hinterfragt diese Wertschätzung jedoch nicht. Sie hätte ihre Erzählung fortsetzen können mit Begründungen, warum sie sich für diesen Beruf und damit für ihre eigene Tätigkeit eine höhere soziale Wertschätzung wünscht. Sie hätte argumentieren können, dass oder warum sie das geringe Prestige nicht für gerechtfertigt hält. Viktoria Frisch tut dies nicht. Sie verbindet die Einordnung des Berufs „unten“ mit Strukturen innerhalb des Berufsfeldes, von denen sie sich abgrenzt. Sie thematisiert die Hierarchien in den Salons, die Unmöglichkeit, als Auszubildende oder angestellte Friseurin mitzubestimmen. Auf die eigentliche Tätigkeit, das Haareschneiden, geht sie nicht ein. Viktoria Frisch unterscheidet also zwischen der Tätigkeit, die in dem Beruf ausgeübt wird und den strukturellen Gegebenheiten in den Salons, mit denen sie sich nicht einverstanden erklärt.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
Über ihre kritische Darstellung der Salonstrukturen präsentiert sich Viktoria Frisch in ihrer Erzählung als reflektiert, aufgeklärt und demokratisch. Sie verweist damit auf Konzepte, die in bildungsbürgerlichen Kontexten hohe gesellschaftliche Anerkennung genießen, und die für ihr Selbstverständnis offenbar von Bedeutung sind. Über die Bezugnahme auf diese Konzepte unterstreicht Viktoria Frisch die Unvereinbarkeit ihres Selbstentwurfs mit den normativen Rahmungen im Friseurhandwerk. Gleichzeitig weist sie über das Aufrufen der bildungsbürgerlichen Normen die Adressierung als eine in ihren Augen ‚typische‘ Friseurin zurück. Im weiteren Verlauf der Passage beschreibt Viktoria Frisch ihre Ausbildung als Friseurin als eine Etappe auf einem Weg hin zu einem anderen Ziel. Sie äußert mehrmals im Interview ihre Begeisterung für das Theater und verortet sich selbst bereits während ihrer Ausbildung in den Künstler_innenkreisen ihrer Stadt. Mit der Möglichkeit, sich zur Maskenbildnerin 8 weiterzubilden, beschreibt sie die Ausbildung zur Friseurin als einen Schritt auf dem Weg ins Theater, in die „Szene“, und damit in ein Feld, zu dem sie sich ohnehin zugehörig sieht. Sie macht über diese Idee ihre Ausbildung anschlussfähig an das soziale Umfeld, in dem sie sich zu diesem Zeitpunkt verortet. Viktoria Frisch thematisiert die niedrige soziale Wertschätzung ihres Berufes zwar, bezieht sie aber nicht auf sich. Sie stellt eine Unvereinbarkeit zwischen ihrem Selbstentwurf und dem gesellschaftlichen Bild des Berufs her und positioniert sich als ‚Andere‘ im Friseurhandwerk. Viktoria Frisch bekommt die Position der ‚Anderen‘ aufgrund ihrer Vorgeschichte auch von ihren Vorgesetzten zugewiesen. Als Viktoria Frisch ihre Ausbildung als Friseurin beginnt, ist sie bereits 26 Jahre alt und damit älter als die meisten Auszubildenden. Ihre Vorgeschichte ist für Friseur_innen ungewöhnlich, was ihr von den Vorgesetzten gespiegelt wird. „Ich war ja völlig der Exot, ein Kind hatte ich schon, ein Abitur hatte ich und Studium hatte ich angefangen zumindest, nach dem Motto, was will sie denn mit dem Friseur.“ (153 – 155)
Diese Erzählung findet im Kontext der Beschreibung von Vorgesetzten statt. „Was will sie denn mit dem Friseur“, ist eine Formulierung, die Viktoria Frisch ihren Vorgesetzten in den Mund legt. Sie sprechen Viktoria Frisch die Passfähigkeit zum Friseurberuf aufgrund ihres für diesen Beruf unüblichen Alters und Lebenswegs ab. Wieder verweist Viktoria Frisch in dieser Passage 8 | Zu dieser Zeit wurde für die Ausbildung zur Maskenbildner_in eine abgeschlossene Friseurlehre vorausgesetzt. Dies wurde im Rahmen der Neuordnung des Berufsbilds Maskenbildner_in im Februar 2002 aufgehoben (vgl.http://www.bundesvereinigungmaskenbild.de/php/main.php5?p=412; letzter Abruf: 25.9.2013).
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auf ihr Abitur und das angefangene Studium. Auch wenn sie die Worte ihren Vorgesetzten in den Mund legt, präsentiert sie sich auch darüber als für diesen Beruf überqualifiziert und damit unpassend. Der Beruf erfordert in ihren Augen, so ließe sich schließen, sehr viel weniger intellektuelle Fähigkeiten, als sie mitbringt. Gleichzeitig wird sie auch von den ‚Insidern‘, also ihren Vorgesetzten, aufgrund ihrer Vorgeschichte als ‚anders‘ beschrieben. Zusätzlich zu handwerklichen Fähigkeiten scheinen für die Anerkennung als Friseurin innerhalb des Berufsfelds also noch andere Aspekte des Lebensentwurfs, vielleicht sogar des Lebenslaufs, von Bedeutung zu sein. Viktoria Frischs Lebensentwurf entspricht dem offenbar nicht. Sie deutet dieses Infragegestelltwerden als Friseurin jedoch nicht als ein Entziehen von Anerkennung durch ihre Vorgesetzten, sondern nimmt die ihr so zugewiesene Subjektposition der ‚Anderen‘ an. Dies unterstützt ihre Distanzierung von einem bestimmten Berufsbild, das sie weiter oben ausgeführt hat und über die Beschreibung ihrer Kolleg_innen konkretisiert. „Das letzte Jahr dann in der Friseurlehre, ich glaube, ich habe wirklich Zentimetermaß gehabt und abgeschnitten, ich war kurz davor, immer wieder aufzubrechen, äh, abzubrechen, weil ich hab das fast nicht ausgehalten, so dieses andere Reden und Denken unter diesen anderen Lehrlingen auch, und in der Berufsschule, ich bin, also, das war mir so zuwider, in den 80ern war mir das definitiv nicht so wie heute Friseurinnen, die ich so kenne, und die ich, wo ich selber hingehe und mir denke, wo haben die denn ihre Lehren gemacht, ja, mein Gott, die sind doch alle viel besser drauf und die sind witziger.“ (135 – 143)
In dieser Beschreibung der Endphase ihrer Ausbildung ruft Viktoria Frisch das Bild des Zentimetermaßes auf, das das ungeduldige Zählen der Tage bis zum Ende beschreibt. Damit assoziiert sie ihre Ausbildung als Zwangssituation, in der sie – wie in der obigen Passage schon erwähnt – „durchhalten“ muss. Dies unterstreicht ihr Versprecher, als ihr anstelle von „abbrechen“ zuerst das Wort „auf brechen“ in den Sinn kommt. Möglicherweise hat sie die Friseurlehre als statische Situation erlebt, die sie daran gehindert hat, zu ihrem eigentlichen Ziel „aufzubrechen“. Den Grund für die für sie schwer auszuhaltende Situation in der Ausbildung sieht Viktoria Frisch nicht in der Arbeit selbst, sondern in ihren Kolleg_innen, deren „anderes Reden und Denken“ sie als ihr richtiggehend „zuwider“ beschreibt. Auch wenn sie deren Reden und Denken nicht ausführt, wird klar, dass sie sich selbst als reflektierter und „besser drauf“ beschreibt, so dass gemeinsame Anknüpfungspunkte in ihren Augen überhaupt nicht denkbar wären. Ähnlich wie oben bezieht sich Viktoria Frisch auf ihren Bildungshintergrund und ihre Verortung in einem anderen Milieu, um sich von ihren Kolleg_innen zu distanzieren.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
Viktoria Frisch unterscheidet auch hier zwischen der Tätigkeit als Friseurin, die sie unerwähnt lässt, und den Kolleg_innen, denen sie sich überlegen fühlt. Sie nimmt damit eine soziale Differenzierung vor, über die sie eine Hierarchie herstellt. Sie unterscheidet zwischen denen, deren „Denken und Reden ihr zuwider ist“ und denen, die „witziger und besser drauf sind“. Somit weist sie die Adressierung als ‚eine bestimmte Art von Friseur_in‘ zurück, indem sie sich auf eine ‚andere Art von Friseurin‘ bezieht. Während ihrer Ausbildung hat sie diese zwar noch nicht kennengelernt, hat sie aktuell aber gefunden und kann an das Bild von ihnen anschließen. Dies unterstreicht die zeitliche Dimension, die Viktoria Frisch in die Erzählung einführt. Sie verortet die Friseur_innen, von denen sie sich distanziert, in die 1980er Jahre. Damit begründet sie, warum sie zu diesem Zeitpunkt nicht als Friseur_in weiterarbeiten konnte. Sie hätte in ihren Augen nicht dazu gepasst. Aktuell, also zu dem Zeitpunkt, als sie sich doch für die Berufstätigkeit als Friseurin entschieden hat, scheint sie Kolleg_innen gefunden zu haben, auf die sie sich beziehen kann und die für sie ein Berufsbild verkörpern, das sie als zu ihrem Selbstbild passfähig erkennt. Viktoria Frisch hat also einen Beruf gewählt, in dem ihr während ihrer Ausbildung aufgrund ihres Lebensentwurfs die Position der ‚Anderen‘ zugewiesen wurde. Sie nimmt diese an, um sich von dem Berufsbild zu distanzieren und zu begründen, warum sie nicht als Friseurin weiterarbeiten will. Dabei bezieht sie sich nicht auf die Tätigkeit, sondern auf Salonstrukturen und Kolleg_innen in ihrem beruflichen Umfeld. Sie verweist auf ihre Bildungsressourcen, um eine Unvereinbarkeit zwischen ihrem Selbstentwurf und dem Berufsbild herzustellen. Da sie nach einer langen Unterbrechung heute wieder in dem Beruf tätig ist, kann sie keine vollständige Ablehnung des Friseurberufs vornehmen, ohne sich dabei selbst in Frage zu stellen. Von der handwerklichen Tätigkeit distanziert sie sich nicht. Um an das negative Bild der ‚typischen Friseurin‘ heute anknüpfen zu können, nimmt sie eine berufsinterne Differenzierung vor und entwirft das Bild einer ‚anderen Friseur_in‘ mit intellektuellen Fähigkeiten, an das sie anschließen kann. Eine ähnliche Differenzierung und zeitliche Verlagerung lässt sich auch bei der Thematisierung von Geschlechterbeziehungen herausarbeiten.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
„Ich kannte da niemanden, der als Frau gut war“ – Anerkennung und Geschlechterbeziehungen Viktoria Frisch thematisiert die geschlechtliche Codierung ihres Berufs in ihrer Erzählung nicht explizit. Sie erwähnt nicht, dass es sich eher um einen ‚Frauenberuf‘ handelt, und sie stellt dies auch nicht in Zusammenhang mit der geringen gesellschaftlichen Wertschätzung. Dies wird in der folgenden Passage deutlich, wenn sie über die Gründe spricht, warum sie nicht weiter im Friseurberuf arbeiten wollte. Sie konstruiert dabei eine berufsinterne Differenzierung, die sie geschlechtlich codiert. „Friseure sind alles verrückte Menschen, definitiv, also, die, die ich spannend finde, die, die auch neue Sachen kreieren, das sind alles wirklich viele Schwule, also, nicht Schwule, aber so in diese Richtung sind das Leute, und ich finde das auch faszinierend, wenn auch Männer toll die Haare schneiden können, ich meine, also, die Frauen sind nachgerückt jetzt irgendwie, die mitkreieren, früher war es einfach so Schwule waren die non plus ultra Friseure in den 80ern, ich kannte da niemanden, der als Frau gut war, oder hab das nicht so mitgekriegt und Frauen haben eher so in den Klitschen gearbeitet, in den kleinen Schischilädchen so Waschen-Schneiden-Fönen-Läden.“ (868 – 877)
In dieser Passage markiert Viktoria Frisch zunächst ihren Bezugspunkt innerhalb des Friseurhandwerks. Sie möchte nicht einfach Haare schneiden, sondern sie möchte „neue Sachen mitkreieren“. Friseur_innen, die kreieren, sind in ihren Augen „verrückt“ und – vielleicht deswegen – „spannend“. In der Zeit, als sie ihre Ausbildung beendet hat, sieht sie für sich in diesem berufsinternen Segment der kreativen Friseur_innen keinen Platz. Sie schreibt dieses Segment Schwulen oder Männern „in diese Richtung“ zu, Frauen verortet sie eher in „Klitschen“ und „Schischilädchen“. Viktoria Frisch ruft damit das Bild der ‚verrückten kreativen Schwulen‘ auf, auf die sie sich zwar hinsichtlich ihres Könnens positiv bezieht, aber zu denen sie sich qua Geschlechtszuschreibung nicht zugehörig fühlt. Mit dem Zusatz „Männer in die Richtung“ nimmt sie die Bedeutung des Begehrens dieser Friseure zurück und fokussiert auf den Habitus, der Friseuren zugeschrieben wird. Sie beschreibt diese von ihr vorgenommene geschlechterdifferenzierende Segregation innerhalb des Friseurhandwerks als ‚wahre‘ Struktur, denn sie kannte in den 1980er Jahren „niemanden, der da als Frau gut war“. Viktoria Frisch schließt damit an den abwertenden Diskurs an, wonach weiblichen Friseurinnen weniger kreative Fähigkeiten zugetraut werden. Dabei blendet sie die Geschlechterhierarchien, die in der von ihr beschriebenen Segregation eingelagert sind, aus. Nicht strukturelle Ungleichheiten begründen die Tren-
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
nung, sondern aus ihrer Sicht sind Frauen zu diesem Zeitpunkt nicht gut gewesen.9 Viktoria Frisch begründet mit dieser geschlechtlich codierten Segregation, warum sie nicht als Friseurin weiterarbeiten kann. Da sie sich selbst in der Künstler_innenszene verortet, sieht sie sich zwar als kreativ und hat den Wunsch, das als Friseurin ausleben zu können. Dies erscheint ihr jedoch nicht möglich. Sie konstruiert eine an geschlechtliche Zuschreibungen gebundene Unvereinbarkeit zwischen dem ‚kreativen Segment‘, das sie als männlich beschreibt und sich selbst als Frau. Die Weiblichkeitszuschreibungen an Friseurinnen beschreibt sie ebenfalls als nicht passfähig mit ihren eigenen Vorstellungen von Weiblichkeit. Sie lehnt es ab, als „Schischi“-Friseurin adressiert zu werden und diese Subjektposition einzunehmen. Eine andere Subjektposition als Frau im Friseurhandwerk sieht sie für sich jedoch für diese Zeit nicht. Sie zieht daher die Konsequenz, nicht weiter als Friseurin zu arbeiten. In ihrer Erzählung reproduziert Viktoria Frisch also eine Geschlechterhierarchie in ihrem Berufsfeld, die Frauen abwertet. Da sie sich jedoch als ‚anders‘ konstruiert, bezieht sie die abwertende Anerkennung innerhalb der Geschlechterhierarchie nicht auf sich und nimmt somit die niedriger gestellte Position nicht ein. Sie beschreibt sich selbst als gut, indem sie selbstbewusst von sich sagt, „ich wusste, dass ich gut schneiden kann und Schluss“ (886 – 887). Gerade durch das Anhängen des Satzteils „und Schluss“ unterstreicht sie die Eindeutigkeit ihrer Aussage. Viktoria Frisch konstruiert eine Geschlechterhierarchie, ohne sich selbst darin einzuordnen. Sie adressiert andere Frauen in der Branche als ‚typische Friseurin‘, nimmt diese Subjektposition selbst jedoch in dieser Zeit nicht an. Viktoria Frisch bezieht sich auf einen anderen Weiblichkeitsentwurf, der für ihren beruflichen Kontext als ‚individuelle Künstlerin‘ beschrieben werden könnte und den sie erst später innerhalb des Friseurberufs als anschlussfähig sieht. Viktoria Frisch nennt als weiteren Grund für ihre Entscheidung gegen den Weg in das kreative Segment des Friseurhandwerks ihre fehlende Bereitschaft, sich um die Anerkennung von männlichen Vorgesetzten und Kollegen zu bemühen. „Da muss man sich auch einen Namen schon ein bisschen gemacht haben woanders, dass dann dieser Chef, der jetzt so mehrere SUPERkünstler hat, der auch einen teureren Haarschnitt jetzt verkauft, auch wenn es Udo Walz ist, muss man durch diese Schule da auch wieder durch.“ (879 – 883)
9 | Zu diesem Zeitpunkt war beispielsweise Marlies Möller bereits eine angesehene Friseur_in, die eigene, auch internationale Shows kreierte und mit Preisen ausgezeichnet wurde (Möller 2008).
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
In dieser Passage unterstreicht Viktoria Frisch, wie unattraktiv sie den Weg in den kreativen, hochpreisigen Bereich des Friseurhandwerks findet. Sie beschreibt einen Karriereweg, der aus dem wenig anerkannten Segment des Friseurberufs herausführt in den anerkannten Bereich, den künstlerischen Bereich, den Bereich, in dem auch Prominente zu den Kund_innen gehören. Dies legt der Verweis auf den Berliner Starfriseur Udo Walz nahe. Diesen Bereich kategorisiert sie als männlich. Viktoria Frisch lehnt es ab, sich um diese Art von Anerkennung zu bemühen. Dabei setzt sie einerseits das Argument aus Abschnitt 6.2.2 fort, wonach sie sich nicht Hierarchien unterordnen will, und macht andererseits die Dauer dieses Prozesses relevant. „Der Weg von nach der Lehre bis dahin, dass ich mir die Stellen aussuchen kann, der war mir zu lang. Ich glaube, das war eher das, das mach ich jetzt lieber alleine.“ (887 – 889)
Viktoria Frisch beschreibt den Weg hin zu einer ‚mitkreierenden Friseurin‘ als zu lang. Diese Passage legt die Lesart nahe, sie habe die Fähigkeiten gehabt, eine anerkannte, kreative Friseurin zu werden, entscheidet sich jedoch bewusst dagegen. Die Darstellung der Geschlechterverhältnisse, die sie selbst relevant gemacht hat, ist dabei hinsichtlich der Entscheidung gegen diesen Karriereweg sowohl mitverursachend als auch legitimierend. Viktoria Frisch verweist auf die Ambivalenz zwischen Nicht-Karriere-Machen-Können und Nicht-KarriereMachen-Wollen. ‚Karriere machen‘ hätte für sie ein Sich-Bewähren in einem männlich codierten Berufsbereich bedeutet, dem sie sich nicht ausgesetzt hat und von dem sie sagt, sie hätte das nicht gewollt. Hier wird die Bedeutung der Anerkennenden relevant. Um in den prestigeträchtigeren Bereich des Friseurhandwerks zu kommen, ist die Anerkennung durch diejenigen notwendig, die bereits dort etabliert sind. Der prestigeträchtige Bereich des Friseurhandwerks entsteht jedoch nicht über formale Hierarchiestrukturen wie unterschiedliche Stufen von Vorgesetzten. Das prestigeträchtige Segment im Friseurhandwerk ist vielmehr selbst Ergebnis von Anerkennungsprozessen. Prestige erhalten Friseur_innen dann, wenn sie Menschen frisieren, die reich und/oder prominent sind und die eine hohe gesellschaftliche Anerkennung genießen. Diese Friseur_innen erhalten ihre gesellschaftliche Anerkennung somit vermittelt über das soziale Ansehen der Kund_innen, die zu ihnen kommen. Viktoria Frisch bleiben nach ihrer Entscheidung gegen den Karriereweg wenig Kompensationsmöglichkeiten für Anerkennung innerhalb des Berufes. Wäre sie im Friseurhandwerk geblieben, wäre sie in ihrer Stellung weiterhin mit dem niedrigen gesellschaftlichen Ansehen dieses Berufes konfrontiert gewesen. Viktoria Frisch arbeitet nach der Ausbildung zunächst nicht als Friseurin weiter und absolviert auch keine Weiterbildung zur Maskenbildnerin. Sie kehrt wieder zu ihrem vorherigen Erwerbsmodell zurück und verdient ih-
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
ren Lebensunterhalt mit verschiedenen Jobs, die sie in ihrer Erzählung nicht weiter ausführt. Erst 20 Jahre später entscheidet sie sich dafür, sich doch als Friseur_in selbstständig zu machen. Anerkennungstheoretisch interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie sie das negative Bild, das sie selbst von dem Berufsbild und von Friseur_innen zeichnet, verändert, um sich selbst wieder in dem Beruf sehen zu können. Einen wichtigen Aspekt diesbezüglich habe ich bereits im vorangegangenen Abschnitt 6.2.2 behandelt: Die soziale Differenzierung, die sie innerhalb des Berufsfeldes vornimmt und für die sie eine Veränderung im Zeitverlauf andeutet, ermöglicht es ihr, sich heute auf Friseur_innen zu beziehen, die ihr entsprechen, weil sie „witzig und besser drauf“ sind. Ein weiterer Aspekt ist die nachträgliche Anerkennung des Berufsbildes über Individualisierung mit dem Verweis auf Selbstverwirklichung.
„Wie wichtig es ist, dass der Laden absolut zu einem passen muss“ – Anerkennung als frisierende Künstlerin Viktoria Frisch präsentiert sich als unangepasst und individualistisch. Sie schließt aus ihren Erfahrungen in der Ausbildung, sie müsse „das alleine machen“10, indem sie sich selbstständig macht. In ihrer Erzählung wirkt es, als hätte sie die Idee der Selbstständigkeit immer im Hinterkopf gehabt, so dass die Eröffnung des Salons wie die Erfüllung eines lang gehegten Traums erscheint. Mit dieser Präsentation gibt sie ihrem Erwerbsleben eine innere Struktur, die zu einem Ziel führt, an dem sie sich selbst verwirklicht hat. Trotzdem erscheint Viktoria Frischs Verhältnis zur Erwerbsarbeit ambivalent. „Ich lieg WAHNSINNIG gerne im Bett und kuck mir einen Film an, ja, (lacht) ich muss nicht irgendwo der Welt beweisen, wie toll ich bin, indem ich noch mehr arbeite, das ist nicht meins, das finde ich jetzt beruhigend, dass ich jetzt zehn, nein, nicht zehn, dass ich jetzt auf jeden Fall 15 Jahre lang total genau weiß was ich tue, /Mhm./, das hatte ich ja vorher nicht so, und das ist so zu einem tollen Zeitpunkt, wenn man älter wird und man weiß, das Ding steht, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du bist selbstständig, das Ding läuft.“ (413 – 420)
Mit der Beschreibung, sie liege gerne im Bett und schaue Filme, entwirft sie von sich das Bild einer Genießerin, die gerne faul ist. Damit grenzt sie sich von dem Verständnis von Erwerbsarbeit als Quelle von Anerkennung ab. Auch wenn sie sich zunächst von dem auf Erwerbsarbeit bezogenen Anerkennungsanforderungen abgrenzt, bezieht sie sich im zweiten Teil der Passage doch positiv darauf, indem sie beschreibt, sie habe etwas geschaffen und ge10 | Vgl. Abschnitt 6.2.3.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
schafft. Dies fällt zudem auf einen in ihren Worten „tollen Zeitpunkt“. Damit verweist sie auf ihr Alter und die Vorstellung, ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben müsse man sich etwas aufgebaut haben und beruflich angekommen sein. Sie hat dies geschafft und schreibt damit trotz ihrer Abgrenzung von Erwerbstätigkeit dieser doch Sinnstiftung zu und sieht sie als Quelle der Selbstverwirklichung. Was sie zufrieden macht und sich sicher fühlen lässt, nennt sie in dieser Passage „das Ding“. Es ist nicht wirklich klar, ob sie damit ihren Friseursalon meint oder die Selbstständigkeit an sich. Es wirkt, als hätte sie „das Ding“ auf eine Schiene gesetzt, und es führe jetzt eigenständig und ohne ihr Zutun. Aus dieser Passage wird die Ambivalenz deutlich, mit der sich Viktoria Frisch auf Erwerbsarbeit bezieht. Einerseits lehnt sie es ab, Erwerbsarbeit als Quelle von Anerkennung zu sehen. Andererseits erzählt sie eine Erfolgsgeschichte, die sie als Resultat ihrer Kreativität und Erwerbsarbeit beschreibt. Sie hat sich als selbstständige Friseurin eine Erwerbssituation geschaffen, die sie mit Sicherheit und Zufriedenheit verbindet. Damit ordnet sie ihren Schritt in die Selbstständigkeit, der gemeinhin mit Unsicherheit und Risiko verbunden wird, als Ankommen in einer beruflichen Stellung ein, in der sie sich „keine Sorgen mehr machen muss“. Sie stellt ihren Friseursalon in Kontrast zu ihrer vorherigen beruflichen Situation, die durch Prekarität und unklare berufliche Perspektiven gekennzeichnet war. Diese Konstruktion von Sicherheit und Ankommen schließt an gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen für Erwerbstätige in ihrem Alter an, indem sie beschreibt, sie habe sich etwas aufgebaut und „muss sich keine Sorgen mehr machen“. Viktoria Frischs Ambivalenz im Bezug auf Erwerbsarbeit lässt sich unterschiedlich deuten. Sie kann als Ursache für Viktoria Frischs Erwerbsbiographie gesehen werden. Fände sie Anerkennung über Erwerbsarbeit sehr bedeutend für sich, hätte sie möglicherweise einen anderen Beruf oder einen anderen Berufsweg gewählt. Die geringe Bedeutung, die Viktoria Frisch der Erwerbsarbeit zunächst beimisst, kann ebenso gut als Legitimierung dafür gelesen werden, dass sie nicht die berufliche Entwicklung genommen hat, die sie ursprünglich angedacht hatte (wie beispielsweise das Absolvieren eines Studiums oder den Weg ins Theater). Die Zuschreibung von mehr oder weniger Bedeutung zu – in diesem Fall – Erwerbsarbeit lässt sich als eine Form des Umgangs mit geringer sozialer Wertschätzung im Erwerbskontext interpretieren. Viktoria Frisch hat ihr Anerkennungsportfolio11 angepasst, indem sie dem Feld, in dem sie weniger Anerkennung bekommt, auch weniger Bedeutung beimisst. Offenbar hat sich die Bedeutung von Erwerbsarbeit in Viktoria Frischs Leben im Zeitverlauf verändert. Die Schilderung ihres Salons und ihrer Kun11 | Vgl. Abschnitt 4.1.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
d_innen nimmt in ihrer Erzählung einen breiten Raum ein, so dass sie aus der Sphäre der Erwerbsarbeit heute durchaus Anerkennung bezieht. Interessant ist hierbei, wie sie trotz der geringen gesellschaftlichen Anerkennung des Friseurberufs, die sie in ihrer Erzählung reproduziert hat, die Anerkennung als Friseurin letztendlich annimmt. Sie tut dies, indem sie für die Ausdeutung dieser Position auf den Selbstverwirklichungsdiskurs verweist. Viktoria Frisch schildert ihren Salon nicht als ihren Arbeitsplatz, sondern als einen Raum, der so wie sie ist und von dem sie bereits nach dem Ende ihrer Ausbildung wusste, wie er aussehen sollte. „Mmmh, also, der musste immer klein sein, der Laden, also, ich fand so einen kleinen, am liebsten hätte ich gerne, würde ich da so Opern hören, nicht dass ich, äh, aber ich finde, Opern passt irgendwie zum Friseur, aber das kann man nicht hören, das ist zu anstrengend […] Also, es muss ein Platz sein, wo die sich wohlfühlen, weil es MEIN Raum ist, dass sie sich bei MIR wohlfühlen, und dann muss dieses Interieur, muss nicht alles SO zusammenpassen aus verschiedenen Zeiten, weil ich LIEBE alte Sachen, aber es muss stimmig sein, es muss irgendwie zusammen passen von den Farben und Formen her so […] Und das Wichtigste und das ist wirklich der Bringer für ALLE Leute, der Laden wird so oft fotografiert […] ich hab immer Postkarten gesammelt, Schwarz-weiß-Postkarten oder andere Postkarten von Scheren, Kämmen und Bürsten und da hatte ich ne ganze Menge von und wusste, wenn ich einen Laden aufmache, EINE Wand komplett mit diesen Postkarten, in GANZ GROSS wollte da so Poster machen, so Schwarz-Weiß-Poster von machen, hab ich auch alles gemacht.“ (930 – 948)
Viktoria Frisch erzählt sich zu Beginn dieser Passage zunächst als exzentrische Friseurin, die in ihrem Salon gerne Opernarien hören würde. Sie ruft mit diesem Bild Assoziationen von auf sich selbst bezogenen Künstler_innen auf, die beim Klang von Opernmusik in ihren Ateliers Werke kreieren. Sie grenzt sich damit von dem Friseurberuf als Handwerk ab und entwirft sich selbst als Künstlerin. Sie räumt ein, dass diese Musik für ein Arbeiten mit Kund_innen zu anstrengend sei. Viktoria Frisch beschreibt ihren Salon als genau so gestaltet, wie sie es schon immer wollte. Die Postkarten, die sie „immer gesammelt“ hat, verweisen auf einen Salon, der ein schon lange gehegter und nun endlich verwirklichter Traum ist. Sie beschreibt einen Raum, den sie nach ihren eigenen Vorstellungen individuell gestaltet und für den sie das Mobiliar sorgfältig ausgewählt hat. Sie stellt diesen Raum sehr klar in Beziehung zu sich als Person, indem sie ihn als „mein Raum“ bezeichnet und dabei das Possesivpronomen besonders betont. Der Salon als Raum und sie als Person verschmelzen nahezu, denn sie möchte, dass sich ihre Kund_innen bei ihr wohlfühlen. Sie hat also nicht nur einen Ort geschaffen, an dem sich Menschen die Haare schneiden lassen,
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sondern einen Salon, in dem sie ein Wohlfühl-Angebot an ihre Kund_innen macht und dies eng an sich als Person knüpft. Viktoria Frisch verweist dabei nicht auf Spa- oder Wellness-Aspekte, die in vielen Salons oder höherpreisigen Salonketten angeboten werden, sondern inszeniert sich und ihren Salon als etwas ‚Besonderes‘, das von anderen offenbar auch als solches wahrgenommen wird. In ihrer Darstellung hat Viktoria Frisch also nicht nur einen Friseursalon, sondern auch ein kleines Kunstwerk erschaffen, das sie zufriedenstellt und das sie in der Zeit bis zu ihrer Rente nicht verändern möchte. „Und so wird es jetzt die nächsten 15 Jahre weitergehen, das ist sehr beruhigend für mich, so zu wissen irgendwie, AH, du bist fest, du hast deinen Laden, vielleicht nimmst von dem Weinladen nebenan mal ein Stückchen was und verkaufst Ölbilder, keine Ahnung, also was noch mit dazukommen kann, aber der Friseurladen wird nicht vergrößert, der bleibt so, wie er ist, also, der ist 25 Quadratmeter groß, ganz sweet /Mhm./, ganz klein, aber ganz schön, das haben mir viele Leute gesagt, die jetzt da gewesen sind, oder die einfach nur zum Gucken reingekommen sind, das hätte ich auch nicht gedacht, wie wichtig es ist, dass der Laden ABSOLUT zu einem passen muss“ (340 -349)
Diese Passage unterstreicht das Selbstverständnis von Viktoria Frisch. Sie hat sich einen in ihren Augen perfekten Friseursalon geschaffen, der so bleiben soll. Veränderungen und Erweiterungen sind für sie nur vorstellbar in Verbindung mit anderen Bereichen wie einer Kunsthandlung. Mit diesen beiden Bildern – Wein und Ölgemälde – verweist Viktoria Frisch wieder auf ihre Verortung in einem bildungsbürgerlichen und künstlerischen Milieu. Sie positioniert sich als Querdenkerin, die Frisuren mit Produkten verbindet, die zunächst nicht unbedingt auf der Hand liegen. Viktoria Frisch lässt an dieser Stelle offen, wie konkret sie diese Überlegungen schon weitergedacht hat, zieht am Ende der Passage jedoch klar den Schluss, wie wichtig es ist, dass der Friseursalon „absolut zu einem passen muss“. Mit dieser Betonung der Passfähigkeit stellt sie einen Zusammenhang zwischen dem Salon und sich als Person her. Sie formuliert diesen Zusammenhang als ein Muss und damit als eine absolute Regel für den Erfolg im Friseurberuf. In ihrer Erzählung thematisiert Viktoria Frisch Marktbedingungen, ökonomische Risiken, Entwicklungen im Friseurhandwerk oder das Eingebundensein in Verbandsstrukturen überhaupt nicht. Sie scheint ganz sie selbst, mit einem kleinen Laden, der ihre Insel ist, in dem sie wirken kann und der ihre Existenz sichert. Anders als in der Chirurgie sind im Friseurhandwerk weniger berufsbezogene Regelungen vorhanden (vgl. Abschnitt 2.2). Die Eröffnung eines Friseursalons ist an räumliche und arbeitsschutzrechtliche Vorgaben gebunden, die Gestaltung des Salons selbst liegt in der Hand der jeweiligen Friseur_innen.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
Diese vergleichsweise geringen gesetzlichen Vorgaben geben Friseur_innen die Freiheit, sich entweder in der Gestaltung ihres Salon selbst auszudrücken oder sich – im Fall einer Anstellung – einen Salon zu suchen, in dem sie sich als Person wiederfinden können. Viktoria Frisch beschreibt diese Freiheit als eine Möglichkeit, die Position Friseurin mit anderen, gesellschaftlich anerkannteren Positionen wie der Künstlerin, der Individualistin und der Unangepassten zu verschmelzen und somit eine für sie passende Subjektposition Friseurin zu kreieren. Über die Individualisierung ihres Selbstbildes als Friseurin macht sie sich in ihrer Darstellung unabhängig von dem gesellschaftlichen Bild des Friseurberufs. Diese Subjektposition wird durch Anerkennungsprozesse immer wieder hergestellt. Im Berufsalltag schreibt sie ihren Kund_innen dafür eine wichtige Bedeutung zu.
„Weil die Leute einfach auch was zu erzählen haben, gerade wenn man nicht so der günstige Friseur ist“ – Anerkennung durch Kund_innen Viktoria Frisch schildert den Kontakt mit ihren Kund_innen ausführlich und in schillernden Farben. Sie hat zu allen Kund_innen, die sie erwähnt, eine Geschichte zu erzählen. Damit zeichnet sie zum einen eine kontinuierliche Bindung an die Kund_innen und unterstreicht, dass diese immer wieder zu ihr kommen. Zum anderen stellt sie zwischen sich und ihren Kund_innen eine Beziehung her, die über das rein handwerkliche Verhältnis des Haareschneidens hinausgeht. „Was so toll ist, wieder mit Menschen umzugehen, und, ähm, den Leuten, ähm, also, ich find das schon super, weil ich, weil ich erzähl gerne was, aber ich hör auch gerne Geschichten, so, und dafür ist dieser Friseurberuf unheimlich toll, weil genau das passiert, natürlich nicht mit allen Leuten, die Chemie muss schon stimmen, aber wenn sie dann stimmt, ich hör da manchmal SACHEN, also, ich erzähl auch gerne Sachen, also, die Leute wissen von mir auch fast alles, ist jetzt nicht so, dass ich da jetzt sage, so mhmhm, also nenene, ich mach da so mein eigenes kleines Theater draus (lacht), aber ich finde es trotzdem, was ich nebenbei höre, ist total interessant manchmal, und ich überleg mir manchmal, das müsste man, diese Geschichten, wenn man die aufschreiben würde, also darüber könnte man WIRKLICH viele Bücher schreiben, weil die Leute einfach auch was zu erzählen haben, gerade wenn man nicht so nicht so der günstige Friseur ist.“ (531 – 543)
Viktoria Frisch beschreibt in dieser Passage den Kontakt zu ihren Kund_innen als etwas, das sie an ihrem Beruf „toll“ findet. Es gefällt ihr, die Geschichten der Kund_innen zu hören und sie gibt sich selbst dabei einen aktiven Part in der Kommunikation. Auch sie erzählt gerne, auch von sich, räumt
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aber ein („ist jetzt nicht so, dass ich sage, so mhmhmhm“), nicht viel von ihrem Innenleben preiszugeben. Mit dem Einschub, „ich mach da so mein eigenes kleines Theater draus“, verweist sie darauf, wie sie sich selbst im Salon und im Gespräch mit den Kund_innen inszeniert. Gleichzeitig ruft sie mit dem Bild des „Theaters“ den kulturellen Bereich auf, der in ihrem Leben offenbar immer eine Rolle gespielt hat. An einer anderen Stelle im Interview sagt sie: „Ein Traum wäre es gewesen, glaub ich, in die Schauspielerei reinzugehen, ich wäre gerne so Komödiantin geworden“ (92 – 93) und es wirkt, als hätte sie auch diesen Traum jetzt in ihrem Salon verwirklicht. Bereits in dieser Passage deutet Viktoria Frisch an, dass ein aus ihrer Sicht guter Kontakt nicht mit allen Kund_innen möglich ist. Die „Chemie muss stimmen“, die Kund_innen müssen also mit ihr in etwa auf einer Wellenlänge sein. Am Ende der Passage wird etwas klarer, was sie damit meint. Sie findet die Erzählungen ihrer Kund_innen so spannend und so besonders, dass sie in Büchern festgehalten werden könnten. Auch Menschen, die keinen persönlichen Kontakt zu den Kund_innen haben, könnten die Geschichten also interessant finden, denn sie „haben etwas zu erzählen“. Sie bringt dieses „etwas zu erzählen haben“ in direkten Zusammenhang mit dem Preisniveau ihres Salons, das „nicht ganz günstig“ ist. Viktoria Frisch ordnet ihren Salon nicht im teuren Marktsegment ein, bietet aber auch keine billigen Haarschnitte an. Sie stellt einen Zusammenhang her zwischen der Bereitschaft der Kund_innen, ihren Preis für Haarschnitte zu zahlen, und deren intellektuellem Niveau. Auch hier ruft sie eine bildungsbürgerliche Vorstellung auf, wonach Menschen mit höherem Einkommen interessanter seien. Indirekt spricht sie somit Menschen, die sich ihr Preisniveau nicht leisten können oder wollen, ab, interessante Lebensgeschichten erzählen zu können. Über die Beschreibung, zwischen ihren Kund_innen und ihr müsse „die Chemie stimmen“, positioniert sich Viktoria Frisch als mit ihren Kund_innen auf derselben Stufe stehend. Der gesellschaftliche Status, den Viktoria Frisch ihren Kund_innen zuschreibt, hat somit Rückwirkungen auf ihre eigene Position. Über die Anerkennung durch diese Kund_innen positioniert sich Viktoria Frisch als intellektuelle und kreative Friseurin, mit der sie sich von dem gesellschaftlichen Bild des Friseurberufs abgrenzt. Hier zeigt sich erneut, wie bereits in Abschnitt 6.2.3 beschrieben, die Relevanz des gesellschaftlichen Status der Personen, die Anerkennung entgegenbringen. Die Anerkennung durch ihre Kund_innen beschreibt Viktoria Frisch als wichtigen Bestandteil ihrer Selbstverwirklichung. Für sie hat die Beziehung zu ihren Kund_innen aber durchaus auch eine wichtige Funktion für handwerklichen und ökonomischen Erfolg. „Erst durch das Erzählen fällt mir dann dabei ein, nee, jetzt kannst du das aber nicht so machen, wenn die mir freie Hand lassen, dann merk ich dann manchmal, das kann gar
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch nicht so sein, wie ICH mir das schön vorstelle, die IST gar nicht so, /Ja./, also, so, und oder wenn sie mir sagt, sie mag den Pony so, was denkst du mit dem Pony, nicht ALLE haben so eine klare Vorstellung, der muss jetzt, darf nicht so kurz sein oder sowas, ich selber könnte höchstens sagen, der MUSS jetzt kurz sein, weil das passt so zu deinem Gesicht, aber da muss ich die auch überzeugen können […] Weil nur, wenn sie überzeugt ist im Nachhinein, und sie kommt wieder.“ (550 – 559)
Viktoria Frisch stellt in dieser Passage ihre handwerkliche Tätigkeit in engen Zusammenhang mit dem Kontakt, den sie zu den Kund_innen hat. Gerade wenn es um Frisurenberatung geht, kann sie in ihren Augen nicht einfach machen, was sie schön findet, sondern muss ein Gespür dafür entwickeln, was zu den Kund_innen passt und was sie tragen können. Dafür hält sie Gespräche mit den Kund_innen, „Erzählen“, wie sie es nennt, für besonders wichtig. Über diese Gespräche stellt sie eine gemeinsame Basis zwischen sich und ihren Kund_innen her. Diese ist neben dem konkreten Schneiden eine wichtige Voraussetzung für ihre Anerkennung als kompetente Friseur_in und für das Entstehen einer dauerhafteren Kund_innenbindung. Damit stellt sie über das Einführen der ökonomischen Bedeutung eine Form der Beziehungsarbeit in personenbezogenen Dienstleistungen dar, als die der Friseurberuf auch angesehen wird.12 Voraussetzung für diese in verschiedener Hinsicht erfolgreiche Interaktion ist für Viktoria Frisch die Passfähigkeit zwischen ihr und ihren Kund_innen. Bereits oben verwies sie auf die „Chemie“, die „stimmen muss“. Sie will dies jedoch nicht dem Zufall überlassen. „Ich merk auch langsam, welche Kunden zu mir passen, und dann denk ich schon manchmal, ah ja, wenn du jetzt den Blick noch hinkriegst, dass du DIE wirklich im Grunde genommen ansprichst, dann ist es super, es gibt von denen, die zu dir passen, ganz viele, du brauchst NUR DIE, die sind trotzdem alle verschieden, aber ich brauch keine (5), wie soll ich das, kann ich nicht so gut beschreiben, ich hab so ein GeFÜHL, also, äh, ich brauch ganz bestimmte Leute wirklich NICHT so (2), die sind wieder woanders besser aufgehoben und ich finde das auch schöner, wenn die mich dann gar nicht nerven und mich auch gar nicht ausprobieren wollen, /Ja./, und das klappt jetzt wirklich nach und nach jetzt schon sehr gut.“ (564 – 573)
Ebenso wie Viktoria Frisch es als notwendig ansieht, dass der Salon „absolut zu einem passt“13, müssen in ihren Augen auch die „Kunden zu mir passen“. Sie präsentiert sich also nicht als anpassungsfähig an die Kund_innen, sondern beschreibt eine wechselseitige Dynamik. Die Herstellung der Passfä12 | Vgl. Abschnitt 2.2. 13 | Vgl. Abschnitt 6.2.4.
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higkeit zwischen ihr und ihren Kund_innen postuliert sie genau wie die Passfähigkeit ihres Salons mit ihr als ein „Muss“, also als wichtige Voraussetzung für den Erfolg als Friseurin. Viktoria Frisch präsentiert sich als Gestalterin ihres Salons, indem sie nicht nur dessen Architektur als Ausdruck ihrer Individualität beschreibt, sondern auch die soziale Zusammensetzung der Menschen, die zu ihr in den Salon kommen. Die Suche nach den ‚passenden‘ Kund_innen stellt sie als aktiven Prozess dar, bei dem sie sich von ihrem Gefühl leiten lässt. Es fällt ihr schwer, die Kriterien für die ‚passenden‘ Kund_innen in Worte zu fassen, aber für sie ist klar, „bestimmte Leute brauch ich wirklich nicht“. Die Beschreibung dieser Leute kann oder will sie nicht vornehmen. Mit der Formulierung, diese Leute sollten „sie nicht ausprobieren“, unterstreicht Viktoria Frisch die Personalisierung, die sie mit ihrem Handwerk und ihrem Salon verbindet. Sie sagt nicht, diese Leute sollten nicht zu ihr zum Haareschneiden kommen. Über die Herstellung von Passfähigkeit zwischen sich und ihren Kund_innen als wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten schafft Viktoria Frisch einen Interaktionsraum, in dem sich symmetrische Anerkennungsprozesse herauslesen lassen. Sie erkennt ihre Kund_innen als passfähig für sich an. Die Anerkennung dieser Kund_innen erlaubt ihr wiederum eine für sie passende Positionierung als Friseurin. Über die Salongestaltung, die Kun d_innenauswahl und die Art der Kund_innenbindung eröffnen sich für Viktoria Frisch Handlungsspielräume, innerhalb derer die geringe gesellschaftliche Anerkennung des Friseurberufs relativiert werden kann.
„Dann wohnte ich mit Laura in einer Frauen-WG, also fünf Frauen, Laura, Hund und Katze“ – Anerkennung als ‚gute Mutter‘ Neben ihrem Erwerbsleben lässt sich in der Erzählung von Viktoria Frisch die Position der Mutter als zentrales Thema herausarbeiten. Viktoria Frisch hat zwei Kinder. Ihre erste Tochter Laura wird geboren, als Viktoria Frisch gerade Abitur macht. Da die Beziehung zum Vater schnell zu Ende geht, ist sie bereits mit 19 Jahren alleinerziehende Mutter. Ihre zweite Tochter Manuela wird geboren, als Viktoria Frisch 36 ist. Der Altersunterschied zwischen den beiden Geschwistern beträgt 16 Jahre. Auch die Beziehung mit Manuelas Vater geht auseinander, als Manuela noch klein ist. Viktoria Frisch war also die meiste Zeit alleinerziehend. Der Vater von Laura brachte sich nicht in die Erziehungsaufgaben ein, der Vater von Manuela übernahm jeweils die Hälfte der Woche. Aus der Erzählung der Trennung von Lauras Vater lassen sich Viktoria Frischs normative Vorstellungen von Muttersein und Elternschaft herausarbeiten. „Wir haben uns dann schon getrennt, als Laura vier Monate alt war oder fünf Monate, wir waren einfach zu jung und unsere Vorstellungen, wie man zu zweit dann (2) das Kind
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch großzieht oder wie man als Paar das macht, /Mhm./, das war uns zu viel, also, das haben wir irgendwie nicht geschafft, da gab es einige Schwierigkeiten und dann, ähm, hab ich mich getrennt und trotzdem war der Vater hier in der Stadt und das war auch wichtig, ähm, weil das ist ja eine andere Verantwortlichkeit, wenn man Vater ist oder wenn man einfach nur Freund oder Freundin ist, das ist einfach so, /Mhm./, GUT und dann wohnte ich mit Laura in einer Frauen-WG […] Also fünf Frauen, Laura, Hund und Katze […] Und wir hatten uns so einen Plan überlegt, wie ich dann eben studieren konnte oder eben hätte studieren können, und wie man auf das Kind aufpasst, denn sie war ja noch so klein und, ähm, ich wollte sie auf keinen Fall irgendwo hingeben oder weggeben und 82 war das noch gar nicht so gut geregelt, es gab zwar an der Uni so irgendwelche Kindergärten, aber das war ein AUFRISS, da die Kinder irgendwohin zu bringen, das, ähm, das war mir irgendwie zu viel, /Mhm./, und ich fand das mit den Frauen irgendwie viel besser, diese Lösung.“ (49 – 67)
In dieser Passage verweist Viktoria Frisch auf verschiedene Aspekte von Muttersein und Elternschaft. In ihrer Beschreibung der Trennung thematisiert sie zunächst ihr Alter und sagt klar, „wir waren einfach zu jung“. Sie stellt damit einen Zusammenhang her zwischen jungem Alter und der aus ihrer Sicht damit verbundenen Schwierigkeit, in diesem Alter als Paar Kinder zu erziehen. Die Trennung erfolgt offenbar auf ihre Initiative hin. Viktoria Frisch positioniert sich als Mutter, die genaue Vorstellungen von der Erziehung ihres Kindes in einer Paarkonstellation hat. Als dies so nicht funktioniert, zieht sie Konsequenzen und übernimmt die Hauptverantwortung selbst. Sie schreibt dem Vater und damit der Präsenz eines heterosexuellen Elternpaares weiterhin Bedeutung zu, indem sie den Vater nicht aus der Verantwortung entlässt. Sie hält es für relevant, dass der Vater in der Stadt wohnt und damit ein Kontakt zum Kind zumindest räumlich möglich wäre. Gleichzeitig spricht sie dem Vater – und damit implizit auch der Mutter – eine im Gegensatz zu Freund_innen andere Rolle im Verhältnis zum Kind zu, denn „das ist ja eine andere Verantwortlichkeit, wenn man Vater ist“. Diese Einschätzung stellt sie als unhinterfragbar dar, denn sie sagt „das ist einfach so“. Im Anschluss schildert sie, wie sie mit Laura in eine Frauen-WG gezogen ist. Ihre Beschreibung ruft Assoziationen an eine traute Familie auf, indem sie auch noch Hund und Katze erwähnt. Sie wählt zunächst einen Lebensentwurf, der die klassische Kleinfamilie verwirft und die Erziehung auf mehrere Schultern verteilt. Dieses Ausprobieren von unterschiedlichen kollektiven Wohnund Lebensformen ist für die Zeit der 1980er Jahre in bestimmten Milieus in größeren Städten nicht unüblich. Viktoria Frisch organisiert Lauras Betreuung gemeinsam mit ihren Mitbewohnerinnen. Auch wenn diese Erziehungsform nicht dem klassischen Familienmodell entspricht, verweist sie doch auf die Vorstellung, Kinder seien in privaten Beziehungen besser aufgehoben. Das
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unterstreicht Viktoria Frisch, indem sie sagt, „ich wollte sie auf keinen Fall irgendwo hingeben“. Auch wenn Viktoria Frisch die meiste Zeit, in der sie Erziehungsaufgaben für Laura übernehmen muss, alleinerziehend ist, stellt sie ihre Familienkonstellation nicht als defizitär dar. Sie positioniert sich als reflektierte, Mutter, die die Verantwortung alleine tragen kann, Väter aber nicht aus der Verantwortung entlässt. Damit verweist sie auf ihr Verständnis heterosexueller Zweielternschaft als Ideal. Diesen von ihr selbst so vermittelten Vorstellungen nicht zu entsprechen, stellt Viktoria Frisch als irrelevant für ihr Selbstbild als Mutter dar, denn sie hätte sich Muttersein und Familiehaben anders vorgestellt und es auch gerne gelebt. Das wird deutlich in der Erzählung der Entscheidung für das zweite Kind. „Dann lernte ich aber den Vater von Manuela kennen und der wollte unbedingt noch ein Kind, das war ziemlich schnell klar, und dann hab ich mir so gedacht, wart mal ab, wie sich das so entwickelt mit ihm oder wie das überhaupt alles so ist, ähm (1), weil (2), davon hängt das ja ab, ob du einen Laden aufmachst oder nicht, weil mit Baby selbstständig, das geht auch nicht, das ist genau wieder dieselbe Situation, die du schon hattest, nur anders verpackt und dann war es halt so, dass es klar ist, dass das Kind irgendwann kommen sollte, und damit war auch die Selbstständigkeit mit dem Laden wieder auf Eis gelegt.“ (210 – 217)
Viktoria Frisch stellt die Entscheidung für das zweite Kind in Zusammenhang mit ihrer Idee, einen eigenen Salon zu eröffnen. In dieser Zeit lernt sie den Vater von Manuela kennen, mit dem sie sich eine dauerhafte Beziehung vorstellen kann. In der Schilderung spricht sie sich selbst keinen Kinderwunsch zu, die Initiative geht eher von ihrem Partner aus. Viktoria Frisch beschreibt sich zunächst als zurückhaltend. Aus ihrer Erfahrung mit dem Vater von Laura will sie erst abwarten, wie sich die Beziehung mit dem neuen Partner entwickelt. Mit dieser Erzählung positioniert sie sich als verantwortungsvoll. Implizit wird aus ihrer Beschreibung deutlich, dass sie zum einen die Voraussetzungen prüfen will, eine aus ihrer Sicht ‚normale‘ Familie mit zwei heterosexuellen Eltern zu gründen. Zum anderen erachtet sie die Beteiligung des Vaters an den Erziehungsaufgaben als notwendig, wenn sie sich selbstständig machen möchte, denn mit „Baby selbstständig, das geht auch nicht“. Offenbar will sie nicht mehr alleine für die Erziehung und das Erwirtschaften des Lebensunterhaltes zuständig sein. Für sie wäre das „dieselbe Situation, die du schon hattest, nur anders verpackt“. Es ginge also durchaus, das hat sie selbst erlebt, aber sie möchte die Situation nicht wiederholen. Viktoria Frisch adressiert sich in diesen Überlegungen selbst als verantwortungsvolle Mutter, indem sie abwägt, unter welchen Umständen sie ein Kind haben möchte.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
Viktoria Frisch begründet die Entscheidung gegen einen eigenen Salon mit der Geburt ihrer zweiten Tochter. Die Idee des Salons „auf Eis zu legen“, erscheint in der Erzählung wie eine Selbstverständlichkeit. Gerade über diese Erzählung der selbstverständlichen Entscheidung gegen die Selbstständigkeit und für das Muttersein positioniert sich Viktoria Frisch als eine Mutter, die ihre eigenen Interessen zurückstellt, um für das Kind da zu sein. Diese Schilderung lässt jedoch noch eine andere Deutung zu. Möglicherweise stellen die Anforderungen, die Viktoria Frisch an sich als Mutter stellt, für sie eine Begründung dar, um den Schritt in die Selbstständigkeit nicht wagen zu müssen. Diese Lesart lässt sich auf eine weitere Erzählung von Viktoria Frisch anwenden. Nachdem sie ihre Ausbildung beendet hat, bekommt sie das Angebot, für ein Jahr in die USA zu gehen, um dort als Friseurin zu arbeiten. Letztendlich entscheidet sie sich dagegen. „Damals musste man noch die grüne Karte haben oder die Green Card haben, das hätte alles geklappt, aber wer nicht mitwollte, war Laura. Die hat sich mit HÄNDEN UND FÜSSEN, als sie zehn, war da war sie zu jung, um zu begreifen wie toll das ist, für ein Jahr hätte ich rübergehen können und das hätte ich total gerne gemacht, um einfach im Ausland einfach zu SEIN, das war so ein Traum von mir, auch damals mit Japan wär ich gerne gewesen […] Ich hab, glaub ich, Laura ein Vierteljahr bearbeitet und es hat nicht geklappt und da hab ich gesagt, okay, sie ist nun mal wichtiger und wenn sie nicht will, gut, dann kann ich nicht gehen. Als sie SECHZEHN war, hat sie gesagt, WARUM HAST DU DAS NICHT GETAN (lacht), jaja, klar, das ist dann genau anders, WIE KONNTEST DU MICH DA ERNST NEHMEN, DAS IST DOCH SCHWACHSINNIG, ja, aber genau mit zehn, da haben sie so Freundinnen, die so im Kinderladen und der Schule so intensiver sind, so bevor die aufs Gymnasium kommen, ähm, sind die sehr sehr wichtig und wenn hätte ich das Ganze nur nach der Lehre direkt machen können, naja, gut das war ja dann nicht.“ (181 – 196)
Viktoria Frisch beschreibt in dieser Passage, wie sie kurz vor der Realisierung ihres Traums steht, im Ausland zu arbeiten. Sie hat bereits die Formalitäten geregelt, hätte sowohl eine Aufenthalts- als auch eine Arbeitserlaubnis bekommen, kann dann jedoch ihre damals zehnjährige Tochter nicht dazu bringen, mitzukommen. Auch nach monatelanger Überzeugungsarbeit ist es ihr nicht gelungen, Lauras Zustimmung zu erhalten. Dies führt Viktoria Frisch als Grund dafür an, warum sie ihren Traum letztendlich nicht realisiert hat. Sie möchte ihre Tochter zu nichts zwingen und verweist auf die Wichtigkeit von Freund_innen für die Tochter gerade vor dem Schulwechsel aufs Gymnasium. Ebenso gut vorstellbar wäre eine Erzählung gewesen, die gerade den Übertritt ins Gymnasium, der ohnehin mit Veränderungen verbunden ist und bei dem Schulfreundschaften aus der Grundschule nicht mehr unbedingt weiter bestehen, als günstigen Zeitpunkt für einen einjährigen Aufenthalt im
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Ausland ansieht. Viktoria Frisch positioniert sich in ihrer Erzählung als Mutter, die ihre eigenen Interessen, sogar die Verwirklichung ihres „Traums“ zugunsten des Wohlergehens der Tochter zurückstellt, obwohl ihre Tochter diese Entscheidung heute überhaupt nicht nachvollziehen kann. Da Viktoria Frisch unterstreicht, sie hätte diesen Schritt nur unmittelbar nach der Lehre machen können, bedeutete ihre Entscheidung dagegen nicht nur das Zurückstellen eines Traums, sondern dessen Aufgeben. Gerade die Klarheit, mit der Viktoria Frisch betont, sie hätte nur unmittelbar nach der Lehre gehen können, öffnet den Raum für die oben angedeutete Lesart. Auch hier scheint es denkbar, dass die Selbstadressierung als ‚gute Mutter‘ für Viktoria Frisch eine sozial akzeptierte Begründung dafür darstellt, sich gegen eine – aus erwerbsnormativer Perspektive gedeutete – ‚Chance‘ zu entscheiden. Viktoria Frisch erzählt von Möglichkeiten, die sie auf einen im Vergleich zu ihrer damaligen Erwerbssituation gesellschaftlich anerkannten Berufsweg gebracht hätten – Arbeiten im Ausland oder Selbstständigkeit als Friseurin. Sie kann sich als Frau jedoch gesellschaftlich weitgehend akzeptiert auf die normative Rahmung der ‚guten Mutter‘ berufen, um die Fortsetzung ihrer prekären Beschäftigungssituation zu begründen. Es hätte vermutlich mehr Rechtfertigung bedurft, wenn sie erzählt hätte, sie sei beispielsweise aus Angst nicht in die USA gegangen. Entscheidungen gegen ein Vorankommen in der anerkennungsrelevanten Sphäre der Erwerbsarbeit mit der Position der ‚guten Mutter‘ überhaupt begründen zu können, unterstreicht die Wirkmacht dieser normativen Anforderung an erwerbstätige Mütter. Viktoria Frischs Erzählung von sich als Mutter ändert sich nach ihrer Schilderung der Trennung von Manuelas Vater. Während sie bis dahin – wie soeben ausgeführt – hegemoniale Vorstellungen einer ‚normalen‘ Kleinfamilie auch für sich in Anspruch nimmt, scheint dieses Modell mit der zweiten Trennung für sie gescheitert. „Dann, ähm (3), gab es die Trennung und […] ich hätte nie gedacht, dass mir das noch mal passiert, weil ich ja älter war, dass wir uns trennen, so früh schon, da war Manuela irgendwie drei und als sie vier war, zog ihr Vater irgendwie aus und ich behielt diese schöne Wohnung (lacht), äh, und (2) das war schon viel, viel Umbruch und ich wusste halt einfach nicht und ich konnte schon in diesen Modegeschäften immer weiter arbeiten, also so arbeiten, hab mein Geld verdient, hatte nicht so GANZ die Notwendigkeit, und irgendwie wusste ich einfach auch nicht, wohin der Weg so geht (1) […] Dann hatte ich auch bald die Idee ich mach hier ein Tagescafé auf.“ (232 – 246)
Viktoria Frisch beschreibt in dieser Passage die Trennung von Manuelas Vater als Umbruch, der ihr zunächst die Perspektive raubt. Sie ist davon ausgegangen, dass ihr „das nicht noch mal passiert“, und bezieht sich – ähnlich wie
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
oben – wieder auf das Alter. Während sie bei ihrem ersten Kind die Trennung auf das jugendliche Alter zurückführt, hätte sie nicht gedacht, dass ihr das Scheitern von gemeinsamer Elternschaft und Beziehung auch in reiferen Jahren „passiert“. Implizit lässt sich aus ihrer Erzählung der Wunsch nach einem Leben in Kleinfamilie herauslesen. Mit dem Scheitern dieses Projekts bricht ihre Welt erst einmal zusammen. Anders als in der Erzählung der Trennung von Lauras Vater, in der sie Laura und das Leben mit Laura sofort weiter thematisiert, taucht ihre Tochter Manuela in der Erzählung hier nicht weiter auf. Sie fokussiert auf ihr Erwerbsleben und beschreibt, wie sie auf Routinen aus ihrem bisherigen Leben zurückgreifen kann, indem sie frühere Jobs wieder aktiviert und somit sicherstellt, dass ihre Existenz und damit auch die Existenz ihrer jüngeren Tochter nicht gefährdet ist. In einer Erzählung der Krise positioniert sie sich als routinierte Mutter, die den Alltag in jedem Fall, also auch in einer persönlichen Krise, meistern kann. Doch taucht an dieser Stelle für sie die Frage auf, „wohin der Weg führt“. Wie in Abschnitt 6.2.4 ausgeführt, gewinnt Erwerbsarbeit für sie in dieser Zeit an Bedeutung. Sie entwickelt die Idee, ein Tagescafé zu eröffnen. Letztendlich setzt Viktoria Frisch diese Idee, für die sie einen Businessplan ausgearbeitet und verschiedene Objekte besichtigt hat, aus finanziellen Gründen nicht um. Sie beschreibt die Planungen jedoch als Startschuss für ihre Selbstständigkeit als Friseurin. Auch in diesem Prozess erwähnt sie immer wieder, wie sie Arbeitszeiten und Finanzen an die Bedürfnisse ihrer Tochter anpasst. Sie macht ihre Entscheidungen jedoch – anders als bei dem Ablehnen des Angebots, in den USA arbeiten zu können – nicht mehr von dem Kind abhängig. Viktoria Frisch positioniert sich als berufstätige Mutter, die in der Zwischenzeit ihrer beruflichen Entwicklung Bedeutung für ihre Selbstbeschreibung und Positionierung beimisst.
Anerkennungspraktiken Viktoria Frisch wählt den Beruf der Friseurin, obwohl sie aufgrund ihrer Bildungsvoraussetzungen andere Möglichkeiten gehabt hätte. Sie verortet sich in einem Künstler_innen- und Intellektuellenmilieu. Viktoria Frisch befindet sich also in einem Spannungsfeld: Sie will sich als eigene Chefin, als Kreative und Künstlerin in ihrem sozialen Umfeld positionieren und dies mit dem gesellschaftlich niedrigen Ansehen des Friseurberufs in Verbindung bringen. Viktoria Frisch bezieht sich dabei auf die gesellschaftlich anerkannte Ressource Bildung. Sie mobilisiert diese, um sich von den Friseur_innen, die sie als ungebildet und langweilig konstruiert, abzugrenzen und sich selbst als ‚anders‘ zu beschreiben. Sie weist die Adressierung als ‚typische‘ Friseurin zurück, indem sie zunächst das Bild der ‚typischen‘ Friseurin in abwertender
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Form aufruft und sich damit auf die geltende Prestigehierarchie bezieht. Sie reproduziert diese somit, bezieht sie jedoch nicht auf sich. In dieses Bild der ‚typischen‘ Friseurin sind geschlechtliche Codierungen eingewebt. Viktoria Frisch grenzt sich von den Weiblichkeitsvorstellungen ab, indem sie Frauen in dem Beruf für eine bestimmte Zeit per se abspricht, „mitkreieren zu können“ und „gut“ zu sein. Dies spricht sie schwulen Männern zu. Sie konstruiert eine hierarchische Struktur, lehnt es aber ab, sich in die schwächere Position einzuordnen. Sie bezieht die von ihr selbst so konstruierten Weiblichkeitskonzepte nicht auf sich, denn sie beschreibt sich selbst durchaus als „gut“. Die Konstruktion der Geschlechterhierarchien innerhalb des Berufsfelds stellen die Basis für ihre Abgrenzung dar. Mit Bezug auf diese Hierarchie weist Viktoria Frisch die Adressierung als ‚typische‘ Friseurin in dieser Zeit zurück. Als sich Viktoria Frisch dann doch dafür entscheidet, als Friseurin zu arbeiten, erkennt sie Anschlussmöglichkeiten für ihre Positionierung als Friseurin und Unternehmerin. Mit dem Verweis auf ihre kulturelle und soziale Verortung ermächtigt sie sich dazu, die sozial wenig wertgeschätzte Position der Friseurin gewissermaßen ‚anzureichern‘. Viktoria Frisch findet Bestätigung dieser Positionierung über die Anerkennung durch die ‚passenden‘ Kund_innen, denen sie ein intellektuelles Niveau zuschreibt, das ihr entspricht. Die wichtige Rolle, die Viktoria Frisch ihren Kund_innen zuschreibt, verweist auf die Relevanz der Position der Anerkennenden. Diese lässt sich in Viktoria Frischs Erzählung als Ergebnis von Konstruktionsprozessen lesen. Über die Bereitschaft, für den Haarschnitt einen gewissen Preis zu zahlen, schreibt sie ihren Kund_innen nicht nur ökonomisches Kapital zu, sondern verbindet dies mit kulturellem Kapital, was sie zur Ressource für ihre eigene Positionierung macht. Über die Mobilisierung der Ressource Bildung schafft Viktoria Frisch also einerseits eine Abgrenzung vom Friseurberuf und andererseits eine Re-Integration. Für Viktoria Frischs Selbstbeschreibung kommt der Positionierung als ‚gute Mutter‘ hohe Relevanz zu.14 Die meiste Zeit lebt sie als alleinerziehende Mutter. Da sie selbst an dem Ideal der Kleinfamilie festhält, deutet sie ihre Situation nicht als defizitär, sondern positioniert sich als verantwortungsvolle und ‚gute Mutter‘. Mit dieser Position legitimiert sie das Verwerfen von Plänen für ihr Erwerbsleben. Dass die Norm der ‚guten Mutter‘ als anerkannte Legitimierung dafür herangezogen werden kann, verweist auf die Macht dieser Norm. Wie die Erzählung von Viktoria Frisch zeigt, kann die (Selbst-)Adressierung als ‚gute Mutter‘ auch als Plausibilisierungspraxis für Entscheidungen für eine weniger anerkannte Position im Erwerbsleben dienen. Die Position 14 | Vgl. dazu auch den Fall Dagmar Cramer in Abschnitt 6.1.6.
Individualistin, Friseurin, Intellektuelle – Viktoria Frisch
der Mutter ist anschlussfähig an die geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit. In diesem Fall hat die Positionierung als ‚gute Mutter‘ als Legitimationsmoment eine Einordnung in gesellschaftliche Hierarchien zur Folge. Denn damit ist ein Bezug auf die Sphäre der Reproduktion ‚auf Kosten‘ der Positionierung in der Erwerbssphäre verbunden. Beide Anerkennungsfelder stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, die sich nicht ohne Geschlechterhierarchie zu denken lässt.
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C hirurg , M ann , K ollege – C arsten C lement Lebensgeschichte Carsten Clement hat während seines Interviews Alter oder Geburtsdatum nicht genannt. Aus seiner Erzählung lässt sich errechnen, dass er zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 40 ist. Carsten Clement kommt aus einer Großstadt in Norddeutschland, hat dort nach dem Abitur zunächst Zivildienst im Krankenhaus gemacht. In dieser Zeit entsteht der Wunsch, Medizin zu studieren. Er bekommt keinen Studienplatz in seiner Herkunftsstadt und beginnt das Studium in einer relativ weit entfernten Stadt in Süddeutschland. Nach einem Jahr bricht er ab und kehrt zurück in die Stadt, aus der er ursprünglich kommt. Dort absolviert er zunächst eine Ausbildung zum Krankenpfleger, bevor er 1991 das Medizinstudium an der Universität dieser Stadt fortsetzt. Während des Studiums arbeitet er in einer Anästhesiepraxis und schreibt zudem seine Doktorarbeit. 1997 schließt Carsten Clement seine universitäre Ausbildung ab. Er beginnt seine klinische Ausbildung als Arzt im Praktikum (AiP) in einer Klinik in der Nähe. Das AiP beendet er 1998. Im selben Jahr wird seine Tochter Cordula geboren. Carsten Clements Frau Corinna ist zu dieser Zeit im AiP in der Inneren Medizin. Damit sie ihre Ausbildung dort zügig zu Ende bringen kann, geht Carsten Clement für ein Jahr in Elternzeit. Er würde währenddessen gerne die erlaubte Arbeitszeit von 19 Wochenstunden in seiner Klinik arbeiten. Dies gesteht ihm sein Vorgesetzter jedoch nicht zu. Nach der Elternzeit kehrt Carsten Clement im Jahr 2000 in die Klinik zurück und setzt seine Facharztausbildung in der Allgemeinen Chirurgie fort, die er 2003 abschließt. Im Jahr 2002 wird seine zweite Tochter Charlie geboren. Diesmal nimmt er keine Elternzeit. Er spezialisiert sich auf Handchirurgie. Carsten Clement bleibt noch weitere zwei Jahre in dieser Klinik. In dieser Zeit reift der Gedanke, gemeinsam mit der Familie ins Ausland zu gehen. Carsten und Corinna Clement schauen sich verschiedene Kliniken in Europa an und entscheiden sich dafür, gemeinsam nach England zu gehen. Corinna Clement findet eine Stelle als Ärztin in der Inneren Medizin in der Klinik einer englischen Kleinstadt. Carsten Clement kann dort als Stationsarzt in der chirurgischen Abteilung arbeiten. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt der Umzug nach England zwei Jahre zurück. Carsten Clement ist gerade dabei, sich beruflich zu verändern und wieder nach Deutschland zurückzukommen. Er steht in Verhandlung mit einem privaten Krankenhaus einer größeren Stadt im Westen Deutschlands. Er plant, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, die Familie will jedoch in England bleiben.
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
Carsten Clement orientiert sich bereits während seiner klinischen Ausbildung unmittelbar nach dem Studium stark an den hierarchischen Strukturen in der Klinik. Vorgesetzte stellen für ihn hinsichtlich Fachlichkeit, Menschlichkeit und Männlichkeit Bezugspunkte dar. Seine Positionierung als Chirurg im formalhierarchischen Kontext der Klinik beschreibe ich in Abschnitt 6.3.2. Die Ausbildung im deutschen Kliniksystem führt zu einer – wie Carsten Clement es nennt – „Hierarchiegläubigkeit“ (560), die er in seinen neuen beruflichen Kontext in England mitnimmt. Dort werden Entscheidung von den verantwortlichen Ärzt_innen gefällt, Vorgesetzte nehmen lediglich beratende Funktion ein. Carsten Clement hat zunächst Schwierigkeiten mit dieser Art der Entscheidungsfindung, denn für ihn stellt die Bestätigung durch Vorgesetzte eine wichtige Voraussetzung für sein Selbstbild als kompetenter Chirurg dar. Auf den Umgang mit dieser kulturellen Veränderung gehe ich in Abschnitt 6.3.3 genauer ein. Unmittelbar nach seiner Zeit als Arzt im Praktikum geht Carsten Clement für ein Jahr in Elternzeit. Er triff diese Entscheidung, damit seine Partnerin ihre Ausbildung zu Ende machen kann, sieht jedoch seine eigene Karriere durchaus in Gefahr, denn er ist bis dahin der einzige Mann in der Klinik, der in Elternzeit geht. Seine Positionierung als Mann, Vater und Chirurg rekonstruiere ich in Abschnitt 6.3.4. In die Auseinandersetzung mit der Elternzeit sind Verhandlungen von Männlichkeiten eingelassen. Diese behandle ich gesondert in Abschnitt 6.3.5. Dabei geht es zum einen um Distinktionen gegenüber dem Chef, der die Elternzeit nur widerwillig zugesteht und zum anderen um Carsten Clements geschlechterdifferenzierende Erzählung der Reaktionen seiner Kolleg_innen.
„Wenn man sich mit dem Chef gut versteht, dann bleibt man da auch gleich viel lieber“ – Anerkennung durch Vorgesetzte Das Interview mit Carsten Clement findet in einem Café statt. Zu Beginn legt er ein Smartphone auf den Tisch, auf das er seinen Lebenslauf gespeichert hat. In der Vorphase des Interviewtermins habe ich ihn als Chirurgen angesprochen und als solcher präsentiert er sich zu Beginn des Gesprächs. In der Anfangssequenz kommt er sofort auf seine berufliche Lauf bahn zu sprechen. Er verbalisiert praktisch seinen Lebenslauf und gleicht die Jahreszahlen immer wieder mit dem CV auf seinem Telefon ab. „Ja, ähm, nach dem Abitur hab ich zuerst Zivildienst gemacht und in der Zeit eigentlich, ähm entdeckt, dass ich eigentlich gerne Medizin studieren möchte, so kam ich überhaupt erstmal zur Medizin, hab während des Studiums dann in einer Anästhesiepraxis gearbeitet und fand das eigentlich ganz interessant, bin aber dann, ähm, nach, ähm,
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Anerkennung – Macht – Hierarchie Abschluss des Studiums über einen Freund in die Unfallklinik gekommen zum AiP, das war eine Zeit, da muss ich schon das erste Mal jetzt nachschauen, ich glaube 97 war das, genau 97, da gab es sehr viele AiPs, da waren die Stellen dann auch eng gesät und da war es dann schon so, dass ich doch eher gerne ein chirurgisches Fach für mich ausgesucht hatte, ah, sicher unter der Vorstellung, dass man dann, äh, länger dazulernen kann als in der ANÄSthesie.“ (4 – 14)
Carsten Clement beschreibt seinen Berufsweg knapp, entlang von Statuspassagen, die er versucht, genau zu terminieren. In der ersten Passage der Eingangserzählung beschreibt er in wenigen Sätzen sachlich und fokussiert seinen Weg vom Abitur hin zu seiner Facharztausbildung in der unfallchirurgischen Klinik. Er präsentiert einen lückenlosen Lebenslauf, in dem eigene Motivationen und persönliche Erzählungen überhaupt nicht vorkommen. Die Entscheidung für ein Medizinstudium im Anschluss an den Zivildienst im Krankenhaus erscheint für ihn ebenso wenig erklärungsbedürftig wie die Arbeit in der Anästhesiepraxis während des Studiums. Es handelt sich hier aus der Sicht von Carsten Clement offenbar um Selbstverständlichkeiten. Lediglich die Entscheidung für die Spezialisierung auf die Chirurgie begründet er, indem er zum einen auf einen Freund verweist, über den er in die unfallchirurgische Klinik gekommen ist. Zum anderen vermutet er, er habe sich für die Chirurgie entschieden, weil man dort „länger dazulernen kann“. Er begründet seine Entscheidung für die Medizin oder die Chirurgie also nicht mit altruistischen Motiven wie ‚helfen wollen‘, sondern äußert ein klares eigenes Interesse am Lernen, das zunächst unabhängig von den Patient_innen und deren Bedürfnissen existiert. In dieser ersten Passage der Eingangserzählung präsentiert sich Carsten Clement als zielstrebiger, fachorientierter Chirurg, für den das eigene Vorankommen im Beruf einen wichtigen Stellenwert hat. Das hohe gesellschaftliche Ansehen seines Berufes scheint nicht ausschlaggebend für die Wahl der Spezialisierung gewesen zu sein, zumindest thematisiert er das nicht. Nach seinem Facharzt in der Allgemeinchirurgie spezialisiert sich Carsten Clement auf Handchirurgie. Seine Entscheidung für dieses chirurgische Spezialgebiet begründet er folgendermaßen: „Das, ähm (2), liegt sicher zum großen Teil an dem Chef oder dem Abteilungsleiter, den ich auf der handchirurgischen Abteilung hatte, ähm, der für mich damals schon, ähm, ne Vorbildfunktion hatte, ähm, ja, der hat toll operiert, fand ich, und der hat sinnvolle Diagnosen gestellt fürs Operieren und hatte ein enormes Fachwissen für meine Begriffe und, ähm, das hat einfach Spaß gemacht, dem zu assistieren beziehungsweise auch zu sehen, was der kann, und, ähm, der hat mich auch so ein bisschen mit hineingeführt quasi in die Operationstechniken.“ (137 – 143)
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
Carsten Clement beschreibt in dieser Passage die fachliche Professionalität seines Vorgesetzten, den er bewundert hat. Aus den Beschreibungen dessen, was Carsten Clement an seinem Chef vorbildlich findet, lassen sich die Kriterien ableiten, die er selbst an einen ‚guten Chirurgen‘ stellt: Fähigkeiten im Operieren, in der Diagnostik und spezifisches Fachwissen. Wie bereits in der vorherigen Passage drückt Carsten Clement auch hier den Wunsch aus zu lernen. Er hat diesem Chef gerne assistiert und er fand es toll, „zu sehen, was der kann“. Carsten Clement positioniert sich als wissensdurstiger Schüler, der genaue Vorstellungen davon hat, dass und was er gerne lernen möchte. Er beschreibt seinen Vorgesetzten mit Hochachtung. In dieser Form über Vorgesetzte zu sprechen, ist nicht unbedingt selbstverständlich. Carsten Clement bringt zum Ausdruck, dass er seinen Vorgesetzten auch als einen ‚guten Vorgesetzten‘ ansieht. Dessen Art zu arbeiten, so lässt sich die Erzählung deuten, entspricht seinen eigenen Vorstellungen. Damit schreibt Carsten Clement diesem Vorgesetzten die Autorität zu, ihm etwas beizubringen, und begibt sich damit in die Position des Lernenden. Carsten Clement hat offensichtlich auch von ihm gelernt. Denn „der wollte mich auch gleich behalten, das sind ja auch immer so Sachen, wenn man sich mit dem Chef gut versteht, dann bleibt man da auch gleich mal lieber.“ (150 – 152)
Carsten Clement hat sich bei seinem Vorgesetzten so bewährt, dass dieser ihn gerne „gleich behalten“ würde. Er ist seinem Chef also aufgefallen und dieser kann sich eine weitere Zusammenarbeit mit ihm vorstellen – und zwar nicht zukünftig, sondern „gleich“. Da Carsten Clement die Facharztausbildung noch nicht beendet hat, kann er dieses Angebot zunächst nicht annehmen, sondern muss noch weitere Fachabteilungen durchlaufen. In dieser Passage geht Carsten Clement in der Beschreibung der Beziehung zu seinem Vorgesetzten über die rein fachliche Ebene hinaus, indem er seine Zusammenarbeit auch an eine zwischenmenschliche Übereinstimmung knüpft. Er formuliert fast eine Regel, nach der „man“ lieber in einer Abteilung arbeitet, wenn „man sich mit dem Chef gut versteht“. Die fachlich-inhaltliche Seite – wie Interesse am Fachgebiet – oder andere Kolleg_innen thematisiert er an dieser Stelle nicht. Carsten Clement bringt mit dieser Beschreibung die Bedeutung zum Ausdruck, die er Vorgesetzten für einen beruflichen Weg zuschreibt. In dieser Passage führt er nicht weiter aus, was er mit „gut verstehen“ meint. Es geht aber offenbar um mehr als nur um übereinstimmende fachliche Vorstellungen. Direkt im Anschluss an das aus Carsten Clements Sicht positive Beispiel seines Vorgesetzten in der Handchirurgie beschreibt er als Kontrast sein eher schlechtes Verhältnis zu seinem Vorgesetzten in der Unfallchirurgie, bei dem er ebenfalls einen Teil seiner Facharztausbildung absolvieren muss.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie „Dann war es eben so, ich hab also, mit meinem Chef in der Unfallchirurgie hatte ich schon immer ein bisschen Probleme, also […], wir hatten eine sehr große Abteilung, also, man hat sehr wenig konkreten Kontakt zum Chef, aber wenn man Kontakt hat, dann, ähm, denkt man, sicher, man wechselt ein paar freundliche Worte oder sowas, aber das ging mit dem Chef nicht, also das war (2) eher so, der ist eher so ein zynischer Typ und das war eher unangenehm.“ (155 – 164)
Der Kontakt mit dem Chef der Unfallchirurgie verlief weniger wohlwollend. Anders als in der vorherigen Beschreibung verweist Carsten Clement hier überhaupt nicht auf fachliche Qualifikationen dieses Vorgesetzten oder dessen operative Fähigkeiten, sondern bezieht sich auf dessen, aus Carsten Clements Sicht, fehlende soziale Kompetenz. Carsten Clement hätte sich im Kontakt mit seinem Chef einen freundlichen Umgang gewünscht, beschreibt seinen Vorgesetzten jedoch als „zynisch“. Über Besprechungen zu wissenschaftlichen Studien, in die Carsten Clement während seiner AiP-Zeit involviert war, sagt er beispielsweise: „Jedes Gespräch, was wir hatten, war so, dass ich das Gefühl hatte, ich bin der Depp“ (900 – 901). Die negativen Beschreibungen des Unfallchirurgie-Chefs als Vorgesetzten stehen also in Zusammenhang mit Erfahrungen der Abwertung durch eben diesen Vorgesetzten voraus. Carsten Clement grenzt sich von diesem Vorgesetzten ab. Er verweist dabei, wie erwähnt, überhaupt nicht auf dessen fachliche Fähigkeiten, sondern fokussiert auf dessen soziale und menschliche (In-)Kompetenz. Carsten Clement positioniert sich über die negative Erzählung seines Vorgesetzten in der Unfallchirurgie selbst als ein Chirurg, dem soziale Kompetenz im Umgang mit Kolleg_innen und Vorgesetzten wichtig ist. Er verweist auf so genannte soft skills und damit auf einen weiblich codierten Bereich. Er grenzt sich von seinem Vorgesetzten ab, indem er diesem die Fähigkeit abspricht, menschlich ein ‚guter Vorgesetzter‘ zu sein. Mit dieser Beschreibung des Vorgesetzten als sozial inkompetent schwächt Carsten Clement die von diesem Vorgesetzten ausgelöste Abwertung und Kränkung ab. Aufgrund der schwierigen Beziehung zu seinem Chef in der Unfallchirurgie wechselt Carsten Clement den Fachbereich und geht nach Beendigung seiner Facharztausbildung zurück in die Handchirurgie. Carsten Clements anerkennende Sicht auf den Vorgesetzten dort kann neben der Distanzierung von seinem Vorgesetzten in der Unfallchirurgie als Teil einer Praxis gelesen werden, mit der Abwertung durch den unfallchirurgischen Vorgesetzten umzugehen. In seinem beruflichen Alltag hat Carsten Clement zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vorgesetzten gemacht. Aufgrund der Bedeutung, die er seinen Vorgesetzten beimisst, entscheidet er sich für den Fachbereich, in dem er von dem Vorgesetzten als kompetenter Chirurg adressiert wird und nicht als „Depp“.
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
Aus Carsten Clements Erzählung lässt sich eine Form der Kompensation von Anerkennung und Abwertung herausarbeiten. Diese ist nicht auf unterschiedliche Anerkennungsfelder bezogen15, vielmehr lässt sich eine Kompensation in Bezug auf anerkennende Akteur_innen erkennen. Carsten Clement wendet sich von dem abwertenden Vorgesetzten ab. Weil dieser ihn nicht als kompetenten Chirurgen adressiert, erkennt Carsten Clement diesen Vorgesetzten nicht als solchen an. Er spricht ihm soziale Kompetenz ab. Er wechselt in ein Fachgebiet, in dem er selbst mehr Anerkennung durch den Vorgesetzten bekommt und in dem er den Vorgesetzten im Gegenzug auch als solchen anerkennt.
„Hierarchiegläubigkeit, die haben wir mitgenommen“ – Anerkennung in neuem kulturellen Rahmen Carsten Clement stellt in seiner Erzählung heraus, welche Bedeutung er Vorgesetzten für sein berufliches Leben beimisst. Dies fällt ihm besonders auf, als er Deutschland verlässt, um in einer Klinik in England zu arbeiten. Neben anfänglichen sprachlichen Barrieren stellt er eine andere Arbeitsweise und eine andere Art der Entscheidungsfindung fest, mit der er sich zunächst schwer tut. „Interessant ist, dass in England das System ganz anders ist, sobald man eben Facharzt ist oder Fachärztin, ist man verantwortlich für das, was man tut, das bedeutet aber auch, dass man im Prinzip die Entscheidungen selbst trifft, die anderen Leute, die im Team quasi im Krankenhaus sitzen, haben mehr oder weniger BERATENDE Funktion […] Aber es ist, ähm, was mit dem Patienten passiert, da bin ich eigentlich verantwortlich für, und das übernehm ich auch in der weiteren Nachbehandlung, bis ICH oder Patient oder Patientin beschließt, jetzt ist die Behandlung abgeschlossen. Was das angeht in Deutschland ist das System komplett ANDERS, in Deutschland ist es so, dass die Problemindikation IN DER REGEL im Team besprochen werden, ABER der Chef das LETZTE WORT darüber hat, ob operiert wird oder nicht.“ (470 – 485)
Carsten Clement beschreibt hier aus seiner Sicht die Unterschiede in der Arbeitsteilung und den Verantwortlichkeiten zwischen England und Deutschland. Während in Deutschland die Krankengeschichten im Team besprochen werden und der Chef letztendlich entscheidet, handeln Fachärzt_innen in England selbstverantwortlich. Sowohl die anderen Kolleg_innen als auch die Vorgesetzten haben lediglich beratende Funktion. Carsten Clement erlebt also in England eine Form der Arbeitsteilung und der Entscheidungsfindung, die er nicht gelernt hat und die er nicht gewohnt ist. Diese eher flachen Hierarchien könnte er als Chance begreifen, mehr Verantwortung übernehmen und 15 | Vgl. Abschnitt 4.1.
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selbstständiger arbeiten zu können. Ihm jedoch fällt es schwer, sich auf diese neue Arbeitskultur einzustellen. „Und das ist ein ganz ganz erheblicher Unterschied, den ich da selbst gefühlt habe, weil womit ich am Anfang überhaupt NICHT umgehen konnte, davon auch abgesehen, weil ich immer darauf gewartet habe, dass meine Chefin, ich hatte ne Chefin, /Okay./, dass sie halt sagt, für meine Begriffe klare Operationsfälle zum Beispiel,das muss man doch operieren, und die hat das aber nicht gesagt und da hätte ich das sagen müssen, weil es ja meine Meinung war, und ich hab mich aber nicht getraut, weil die ganzen Alten natürlich da vorne saßen.“ (491 – 498)
Carsten Clement nimmt den Unterschied zwischen den Arbeitskulturen in England und Deutschland als „ganz ganz erheblich“ wahr. Er nimmt ihn nicht nur wahr, sondern „fühlt“ ihn. Er hat gelernt, in hierarchischen Strukturen zu arbeiten und sich darin zu verhalten. Er hat sie offenbar verinnerlicht. Wie in Abschnitt 6.3.2 ausgeführt, lagen die Orientierungspunkte seines Arbeitsalltags in Deutschland bei den Vorgesetzten. Zu diesen positioniert er sich innerhalb des formalhierarchischen Systems als kompetenter Chirurg und er beschreibt es für sich als wichtig, von diesen auch so adressiert zu werden. Den normativen Rahmen im Klinikalltag konstatiert er in England als anders und codiert diesen Unterschied kulturell. Mit dem Vorgehen in der englischen Klinik kann er zunächst „überhaupt nicht umgehen“. Er betont, dass er in England eine Chefin hatte, was er aus seiner bisherigen Erfahrung heraus bemerkenswert findet, und beschreibt, wie er in den Besprechungen vergeblich auf die Entscheidungen, auf das letzte Wort dieser Chefin wartet. Carsten Clement berichtet von einer Situation, in der seine Chefin die Operation in seinen Augen als notwendig hätte anordnen müssen, was diese jedoch nicht getan hat. Ihm ist bewusst, dass er an dieser Stelle selbst hätte aktiv werden müssen. Dies jedoch fällt ihm schwer, weil da „die ganzen Alten vorne saßen“. Es ist nicht klar, worauf sich Carsten Clement mit dieser Formulierung „die ganzen Alten“ genau bezieht. Es könnte sich um ältere Ärzt_innen handeln, die über ihr Alter für ihn eine Autorität besitzen. Es könnten aber auch Ärzt_innen sein, die noch nicht so alt, aber bereits deutlich länger als er in der Klinik beschäftigt sind. Carsten Clement erzählt hier nicht, ob seine fehlende Intervention Konsequenzen für den Krankheits- oder Genesungsverlauf der betroffenen Patient_ innen hatte. Er thematisiert diese Begebenheit im Zusammenhang mit seiner Positionierung als Chirurg in diesem Team. Die fehlende Entscheidungshoheit der Vorgesetzten stellt für ihn eine Leerstelle dar. Der normative Rahmen, in dem er gelernt hat, sich zu verhalten und den er als Wissensstruktur in seinen neuen Arbeitsalltag mitbringt, beinhaltet Hierarchien. Er selbst bezeich-
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
net das rückblickend als „Hierarchiegläubigkeit, die haben wir mitgenommen“ (560 – 561). Das „wir“ bezieht sich auf ihn und seine zwei deutschen Kollegen, die gemeinsam mit ihm in der Klinik in England arbeiten. Die Entscheidungshoheit des Chefs, die er aus Deutschland kennt, nimmt er als entlastend wahr, „weil es auch schön ist zu sagen, naja, das hat ja der Chef gesagt, da brauch ich nicht weiter drüber nachdenken“ (562 – 563). Für ihn fehlt der Chef als Bestätigung und Rückversicherung, um sich selbst als kompetent sehen zu können. Carsten Clement scheint für sein fachliches Selbstbewusstsein auf diese hierarchischen Anerkennungsstrukturen angewiesen zu sein. Carsten Clement weiß zunächst nicht, wie er in seiner neuen Arbeitssituation in England diese Leerstelle der Entscheidungshoheit füllen soll. Seine neue Arbeitssituation hätte zwar ebenso dazu geeignet sein können, einen gleichwertigen Austausch mit seinen Kolleg_innen zu suchen. Mit seinem Erfahrungshintergrund entsteht bei Carsten Clement jedoch Unsicherheit. Er weiß, er hätte seine Meinung sagen können und müssen, hat sich aber „nicht getraut“. Ohne Wissen um die Anerkennungsbeziehungen im Team ist es für Carsten Clement offenbar schwer, sich darin zu positionieren. Diese Unsicherheit überwindet er, indem er sich einen neuen hierarchischen Rahmen konstruiert. Er sucht sich die „Alten“ als Bezugspunkte, schreibt ihnen Autorität zu, die ihm Angst macht, und konstruiert so eine informelle Hierarchie. Er versucht, sich die Anerkennung dieser „Alten“, die er als Autoritäten sieht, zu erarbeiten und damit seine Unsicherheit zu überwinden. Eine Positionierung als gleichwertiger Chirurg im Team erscheint ihm dann, praktisch in vertrautem Rahmen, möglich. „Wo ich gemerkt habe, dass ich, ähm, dass ich tatsächlich in vielen Bereichen wesentlich mehr Kompetenz hatte als auch die Alten, was sicher daran liegt, dass ich in einem der größten deutschen Traumazentren ausgebildet wurde, und das hier ist ja quasi wie eine Kreisklitsche, dieses Krankenhaus.“ (518 – 522)
Carsten Clement beschreibt in dieser Passage, wie er sich seiner Kompetenz rückversichert. Dabei verweist er in der Erzählung nicht auf die Bestätigung von anderen, sondern sucht als Referenzpunkt innerhalb des Teams wieder die „Alten“. Ähnlich wie im Abschnitt 6.3.2 mit Bezug auf Vorgesetzte in Deutschland, zeigt sich auch hier ein klarer Fokus auf die Personengruppe im Team, der er die Autorität zuschreibt, ihn als kompetent zu adressieren, von denen aber auch die Gefahr ausgeht, genau dies nicht zu tun. Er beschreibt in dieser Passage keine Interaktion oder Kommunikation mit diesem Referenzpunkt, sondern stellt für sich im Verlauf seiner beruflichen Erfahrung in dieser Klinik in England fest, dass er „in vielen Bereichen wesentlich mehr Kompetenz hat“. Die Bestätigung seiner Position innerhalb des Feldes erfolgt also, so lässt sich aus dieser Passage schließen, weniger über eine Adressierung von
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Anderen, sondern über eine Selbstadressierung, die über den Vergleich mit dem für ihn als wichtig konstruierten Bezugspunkt der „Alten“ erfolgt. Was genau die Basis dafür darstellt, dass sich Carsten Clement im Alltag letztendlich mehr Kompetenz zuspricht, lässt sich aus dieser Passage nicht genau herausarbeiten. Hier macht er zunächst die Klinik relevant, in der er seine Ausbildung absolviert hat. Er beschreibt diese Klinik als „eines der größten deutschen Traumazentren“, auf deren Reputation in Deutschland er als Ressource auch in einem Kontext zurückgreift, in dem dieses Traumazentrum nicht unbedingt eine Referenz darstellen muss. Die Reputation, die seine Ausbildungsklinik in Deutschland genießt, bezieht Carsten Clement auf sich und seine Fähigkeiten als Chirurg, während er die englische Klinik als „Kreisklitsche“ bezeichnet und damit den Ärzt_innen dort allein über den Ruf der Klinik weniger Kompetenz zuspricht, ohne zu erwähnen, an welchen Kliniken diese ausgebildet wurden. Die Entwicklung seines fachlichen Selbstbewusstseins bzw. seiner eigenen Kompetenz beschreibt Carsten Clement als Ergebnis von Auseinandersetzungen mit „den Alten“, die für ihn angstbesetzt sind. Er erzählt davon, dass er Interventionen in Teambesprechungen gut vorbereitet, indem er Studien zu Rate zieht, mit denen er sich selbst absichern und auf mögliche kritische Rückfragen reagieren kann. Er schließt sich mit seinen deutschen Kollegen zusammen, um die Argumentation abzusprechen und weil diese „aus dem gleichen Ausbildungslager“ (548) kommen. Gemeint ist damit die deutsche Unfallchirurgie. Die Interventionen nennt er selbst „reinschlagen“ (504). Damit ruft er das Bild von harten, schlagkräftigen Auseinandersetzungen auf, in denen er sich wappnen und um seine Meinung kämpfen muss, in denen die als Gegner_innen definierte Seite aber auch verletzt und geschlagen werden kann. Aus einer Situation der Unsicherheit konstruiert Carsten Clement eine Situation des Vergleichs, des Wettbewerbs und, berücksichtigt man das benutzte Vokabular, eine Situation des Kampfes. Die Herausforderung zu diesen Auseinandersetzungen geht jedoch nicht von denen aus, die er als ‚Gegner_innen‘ konstruiert. Letztendlich kann er keine Situationen erzählen, in denen Kolleg_innen oder die „Alten“ seine Kompetenz in Frage gestellt hätten bzw. die Interventionen als ungerechtfertigt angesehen wurden. Auf die Nachfrage, was im Team nach den Interventionen passiert sei, antwortet er: „Nichts, dann wurde gesagt, ja, mach das, dann wurde es mir aufs OP-Programm gesetz,t also, es ist NIE passiert, dass jemand gesagt hat ,das stimmt nicht, oder so ,das ist kein einziges Mal passiert lustigerweise.“ (531 – 533)
Carsten Clement erinnert keine Gegebenheit, in der ihm seine Kompetenz von anderen abgesprochen oder er nicht als Chirurg und gleichwertiger Kollege anerkannt worden wäre. Wenn er seine fachlichen Zweifel äußert oder
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
anderer Meinung ist, bekommt er die Operation übertragen und soll diese in der Form durchführen, die er vorgeschlagen hat. Die Patient_innen in seine Hände zu geben und damit seiner Verantwortung zu übertragen, kann als Anerkennung seiner Kompetenz gedeutet werden. In der Erzählung wirkt es, als werde ihm erst beim Erzählen bewusst, dass seine Kompetenz nie in Frage gestellt wurde, und als wundere er sich darüber, denn er schließt die Erzählung mit der Bewertung „lustigerweise“. Die Konkurrenzsituation mit „den Alten“, die Carsten Clement in seiner Erzählung beschreibt und die ihn dazu bringt, von seinen fachlichen Interventionen in einer kämpferischen Sprache zu sprechen, stellt sich in seiner Erzählung als Konstruktion heraus. Offenbar ist diese für ihn notwendig, um die Leerstelle der Bestätigung durch Vorgesetzte mit einer Praxis füllen zu können, in der er eigenverantwortlich zu arbeiten lernt. Es ist für ihn nicht möglich, sich den neuen normativen Rahmen des kollegialen Verhandelns sofort anzueignen und sich darin zu verhalten. Er überträgt zunächst seine „Hierarchiegläubigkeit“ in den neuen Arbeitsalltag. Die Bestätigung von Autoritätspersonen scheint aufgrund seines erlernten normativen Rahmens in der Arbeitsteilung notwendig für die Wahrnehmung seiner eigenen Kompetenz. Da diese Autoritätspersonen in der Arbeitsorganisation der englischen Klinik fehlen, konstruiert Carsten Clement mit „den Alten“ eine Gruppe, der er Autorität zuschreibt. Sie stellen den Bezugsrahmen für seine Positionierung als kompetenter Chirurg innerhalb des Teams dar. Diese Positionierung schließt den Vergleich mit der als Autorität wahrgenommenen Gruppe der „Alten“ und deren Abwertung ein.
„Dass ich nach dem Jahr gesagt habe, sowas mache ich nie wieder“ – Anerkennung als Vater in Elternzeit Carsten Clement ist Vater von zwei Kindern. In seiner Erzählung taucht das Thema Vatersein vor allem im Zusammenhang mit der einjährigen Elternzeit auf, die er beim ersten Kind im Anschluss an sein AiP, also noch während der Facharztausbildung genommen hat. Carsten Clement beschreibt es als schwer, die Entscheidung für die Elternzeit zu fällen: „Dieses Jahr dann für mich einzufädeln, war nicht leicht.“ (799) Er fürchtet die Reaktionen seines Chefs und die seiner Kolleg_innen. Carsten Clement antizipiert die ablehnende Haltung seines Vorgesetzten bezüglich der Erziehungszeiten von Männern. Das Gespräch mit ihm über sein Vorhaben, in Elternzeit zu gehen, bereitet er daher vor, indem er im Vorfeld dessen Frau kontaktiert, die als Gleichstellungsbeauftragte in der Stadtverwaltung arbeitet. Er sucht sich die Ehefrau seines Vorgesetzten als Verbündete und holt sich ihren Rat ein, wie er seinem Vorgesetzten die Entscheidung für Elternzeit am besten nahebringen kann. Aus Sicht von Carsten Clement hat die Frau des Chefs den Vorgesetzten vor dem Gespräch entsprechend vorbereitet.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie „Und da war schon klar vorher, dass sie schon mal gesagt, dass er da genehm zu reagieren hat wobei er trotzdem, also, stinksauer war, tatsächlich, also, das ist etwas, da bin ich glaub ich jetzt auch noch der einzige in der Klinik, der das jemals gemacht hat als Mann, und das ist auch ungewöhnlich, ähm (3), das größte Problem war eigentlich, dass ich in der Zeit eigentlich gerne stundenweise weitergearbeitet hätte, im Erziehungsurlaub kann man ja bis zu 19 Stunden in der Woche arbeiten, und ich dann grade auf die Intensivstation gewechselt bin […] und da hatten wir schon damals einen Schichtdienst, das war zwar ein 24-Stunden-Dienst, aber das war quasi wie so eine Art Schichtdienst, das hätte wunderbar gepasst und das hat er abgelehnt, strikt, und hat gesagt, wenn ich Erziehungsurlaub mache, dann werde ich nicht beschäftigt solange.“ (88 – 103)
Carsten Clement hat zwar versucht, die zu erwartende negative Reaktion seines Chefs durch das strategische Einbeziehen von dessen Frau etwas zu mildern, dieser reagiert aber trotzdem sehr strikt. Carsten Clement beschreibt seinen Chef als „stinksauer“. Gerade vor dem Hintergrund der in Abschnitt 6.3.2 herausgearbeiteten Orientierung an Vorgesetzten wäre an dieser Stelle eine ausführlichere Beschreibung oder Erklärung des Konflikts mit dem Chef vorstellbar gewesen. Carsten Clement geht jedoch nicht weiter darauf ein, wie sein Vorgesetzter genau reagiert hat, was er gesagt hat und wie es ihm damit ging, sondern schwenkt den Blick auf sich als Ausnahme. Er ist der „einzige, der das in der Klinik gemacht hat“. Damit positioniert er sich als fortschrittlicher Mann, der als erster und bisher einziger Vater in dieser Klinik Elternzeit genommen hat. Er beschreibt seine Vorstellungen davon, wie er während der Elternzeit noch weiterarbeiten kann. Er weiß genau, wie viele Stunden er arbeiten darf und will das Maximum ausschöpfen. Und er hat sich bereits überlegt, wie sich sein Interesse, während der Elternzeit weiterzuarbeiten, gut in die Arbeitszeitgestaltung der Station, auf der er gerade tätig ist, einfügen kann, ohne die routinierten Abläufe dort zu stören. Die Entscheidung, in Elternzeit zu gehen, erzählt Carsten Clement also gleichzeitig mit einem klaren Vorhaben, während dieser Zeit so viel wie möglich weiter in der Klinik tätig zu sein. Er positioniert sich somit nicht als Vater, der gerne zu Hause bei seinen Kindern bleiben und so viel Zeit möglich mit ihnen verbringen will, sondern verweist auf seine Erwerbsorientierung und die Wichtigkeit, die der Beruf für ihn hat. Trotz all dieser Überlegungen, die Carsten Clement als rational und plausibel schildert, lehnt der Vorgesetzte seinen Wunsch ab. Carsten Clement beschreibt dieses Nein des Vorgesetzten wie eine Strafe und wertet dies für sich als „das größte Problem“. Mit der negativen Reaktion während des Gesprächs hätte er offenbar noch umgehen können, nicht jedoch mit dem Ausschluss aus dem Arbeitsalltag in der Klinik. Mit der Ablehnung, Carsten Clement während der Elternzeit in Teilzeit zu beschäftigen, adressiert der Vorgesetzte ihn ausschließlich als Vater. Die Adressierung als Chirurg wird ihm durch den Vor-
Chirurg, Mann, Kollege – Carsten Clement
gesetzten zumindest temporär entzogen. Auch wenn Carsten Clement das in seiner Erzählung nicht erwähnt, so lässt sich aus der Reaktion des Vorgesetzten herauslesen, dass dieser Vater- und Chirurgsein ebensowenig für vereinbar hält wie Chirurgsein und in Teilzeit zu arbeiten.16 Carsten Clement verstößt mit seinem Entschluss, in Elternzeit zu gehen, gegen berufsinterne Normen, wie beispielsweise als Mann in Vollzeit zu arbeiten. Damit verändern sich Adressierungen, die ihm von seinem Vorgesetzten entgegengebracht werden, aber auch von seinen Kolleg_innen. „Die Oberärzte, die in der Abteilung für Intensivmedizin gearbeitet haben, wo ich zu der Zeit war, die haben schon gefragt, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte (lacht), aber das waren auch Leute, wo ich jetzt auch nicht verlegen gewesen wäre, diese Entscheidung zu vertreten, also, nach außen vertreten habe und gesagt habe, dass meine Lebensgefährtin auch ihre Ausbildung fertig machen muss.“ (844 – 849)
In dieser Passage beschreibt Carsten Clement die Reaktion seiner Kollegen. Während er sonst im Interview sehr darauf bedacht ist, die männliche und die weibliche Form zu benutzen, verwendet er hier für die „Oberärzte“ nur die männliche Form. Offenbar bezieht er sich hier auf die Reaktion seiner männlichen Kollegen, die zudem als Oberärzte eine Hierarchiestufe über ihm stehen. Diese hätten ihn gefragt, ob er „nicht alle Tassen im Schrank“ hätte. Mit der Wahl dieser Formulierung beschreibt Carsten Clement, seine Kollegen hätten ihn für verrückt erklärt, weil er für ein Jahr in Elternzeit gehen wollte. In der Erzählung aus heutiger Perspektive lacht Carsten Clement über diese Reaktion und positioniert sich nicht als davon getroffen oder verunsichert. Auch wenn zwischen ihm und diesen Oberärzten ein formalhierarchisches Verhältnis existiert, „wäre“ er ihnen gegenüber „nicht verlegen gewesen“, seine Entscheidung „zu vertreten“. Carsten Clement drückt die Notwendigkeit der Rechtfertigung dieser Entscheidung aus, positioniert sich in der Interaktion mit seinen Kollegen trotz des formalhierarchischen Verhältnisses aber als gleichwertig. Aus der Verwendung des Konjunktivs in der Formulierung („verlegen gewesen wäre“) wird nicht ganz klar, inwieweit er seine Entscheidung tatsächlich begründet hat. In der Passage gibt er jedoch an, was er in diesem Fall als Begründung angegeben hätte: die Ausbildung seiner Partnerin als Ärztin. Carsten Clement äußerst nicht einen möglichen Wunsch, bei den Kindern zu sein oder seine Rolle als Vater zu erfüllen, sondern verweist auf die medizinische Ausbildung, die seine Lebensgefährtin noch zu Ende bringen muss. Sie ist zu diesem Zeitpunkt im AiP. Nach Einschätzung von Carsten Clement 16 | Auf die ‚Notwendigkeit‘, in der Chirurgie in Vollzeit zu arbeiten, verweist auch Dagmar Cramer in ihrer Erzählung (vgl. Abschnitt 6.1).
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„kannst du [das] nicht Teilzeit machen, das musst du mehr oder weniger Vollzeit machen, weil du lernst sonst nichts, und das geht Ewigkeiten mit Diensten und so weiter“ (784 – 786). Carsten Clement führt die ‚Notwendigkeit‘, in der AiP-Ausbildung in Vollzeit zu arbeiten, als Begründung dafür an, dass er seine eigene berufliche Entwicklung für ein Jahr aussetzt, um seiner Partnerin die Chance zu geben, ihre Ausbildung zügig zu Ende zu bringen. Er greift damit auf eine feldimmanente Argumentation zurück. Da Carsten Clements Lebensgefährtin ebenfalls Ärztin wird, ist dieser Ausbildungsweg sowohl ihm selbst als auch seinen Kollegen aus eigenen Erfahrungen bekannt und vertraut. Damit kann er mit Verständnis von seinen Kollegen rechnen. Carsten Clement positioniert sich mit dieser Begründung als kooperativer Partner, der die Ausbildung seiner Partnerin unterstützt, auch wenn dies für ihn selbst Einbußen für die eigene berufliche Entwicklung bedeuten könnte. Im Vorfeld des Interviews hat sich Carsten Clement mit seiner Partnerin über das bevorstehende Gespräch mit mir ausgetauscht und „da wurde mir also noch mal klar gemacht, dass ich, ähm, also, nach dem Jahr gesagt habe sowas mach ich nie wieder da kann ich mich nicht dran erinnern (lacht).“ (795 – 797)
Carsten Clement erzählt über das Jahr der Elternzeit nichts außer den Konflikten mit seinen Vorgesetzten, der Reaktion seiner Kolleg_innen und dem Versuch, während dieser Zeit weiterhin beruflich tätig zu sein. An einer anderen Stelle des Interviews erzählt er, dass er während der Elternzeit an der Universität Studierende betreut hat. Wie er mit den Anforderungen umgeht, sowohl den Erziehungsaufgaben als auch seinen eigenen beruflichen Zielen gerecht zu werden, beschreibt er nicht. Diese Erfahrung fließt vermittelt über seine Partnerin in seine Erzählung ein. Offenbar hat er nach der Elternzeit deutlich ausgedrückt, er mache „sowas“ nie wieder. Da er dieser Erinnerung seiner Partnerin nicht widerspricht, vermittelt er über diese Erzählung seine damalige Auswertung der Zeit, die so negativ ausfällt, dass er eine Wiederholung auf jeden Fall ausschließen will. Er selbst erinnert sich daran nicht. Über die Verwendung der Passivkonstruktion („da wurde mir also noch mal klar gemacht“) wirkt das Erinnern seiner Partnerin an seine Reaktion im Anschluss an die Elternzeit wie eine Maßregelung. Während sich Carsten Clement im beruflichen Kontext als fortschrittlicher Mann positioniert, wird dies in dieser Passage relativiert. Von seiner Partnerin wird er eher als Mann adressiert, der die Elternzeit zwar genommen, diese jedoch eher als unangenehme Pflicht und als Entgegenkommen an seine Partnerin wahrgenommen hat. Die Elternzeit hat für ihn selbst offenbar keine positiven Bezüge hinterlassen, denn er möchte das auf keinen Fall wiederholen und hat dies beim zweiten Kind vier Jahre später auch nicht getan. Carsten Clement erzählt das Gespräch mit sei-
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ner Partnerin vor dem Interview lachend. Die Tatsache, dass es zum Teil seiner Erzählung wird, verweist auf eine Offenheit für Kritik an seiner Positionierung als fortschrittlicher Mann. Gleichzeitig verweist die Erzählung auf die Selbstverständlichkeit der Wahlmöglichkeit für Väter, Elternzeit zu nehmen oder eben nicht. Carsten Clement sieht sich durch die Adressierung seiner Partnerin nicht in Frage gestellt. Auch wenn er ihre kritische Äußerung aus ihrer Sicht vielleicht berechtigt findet, so lässt sich seine fehlende Erinnerung an die negativen Äußerungen nach der Elternzeit im Zusammenhang mit der höheren gesellschaftlichen Anerkennung sehen, die ihm inzwischen für seine damalige Entscheidung entgegengebracht wird. „Und, ähm, damals war es sicher auch so, dass ich noch mehr gedacht habe, dass ich Karriere machen muss, und, äh, will und dass das ja ein erheblicher Gesichtsverlust ist und im Lebenslauf ganz schlecht kommt, und da muss ich jetzt sagen, im Nachhinein, in aller Regel wurde das mit Wohlwollen quittiert, wenn jemand überhaupt so einen Lebenslauf gelesen hat und sich bemüßigt gefühlt hat, da was zu sagen, wurde das eher mit, ähm, ja, quasi, ähm, mit Wohlwollen bemerkt als, ähm, mit Missfallen und dann muss ich aber auch sagen, dass ich glaube, dass sich in den letzten fünf bis zehn Jahren die Stimmung in Deutschland erheblich gewandelt hat, also, damals war das, ähm, noch ganz anders, also, ich finde schon, dass sich da auch GESELLSCHAFTLICH was verändert hat, nicht nur gesetzlich.“ (825 – 836)
Carsten Clement spricht in dieser Passage offen über die Ängste, die er hinsichtlich seiner Karriere zum Zeitpunkt der Entscheidung für die Elternzeit hatte. Er befürchtet einen „Gesichtsverlust“ als auch einen Makel im Lebenslauf. Aus heutiger Perspektive interpretiert er diese Befürchtung als unberechtigt. In seiner Erfahrung wurde das eine Jahr Elternzeit in weiteren Bewerbungsverfahren zumindest nicht offen negativ kommentiert. Seine Elternzeit wird in Bewerbungsverfahren entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen bzw. thematisiert oder, wenn doch, dann „mit Wohlwollen quittiert“. Carsten Clement führt das auf eine Veränderung in der gesellschaftlichen Verhandlung des Themas Elternzeit für Väter zurück. In seinen Augen hat sich nicht nur „gesetzlich“ etwas verändert, sondern auch „gesellschaftlich“. Diese Veränderung macht seine Entscheidung für ihn und für andere nicht nur akzeptierbar, sondern sie ist in der Zwischenzeit anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse. Eine Entscheidung, die für Carsten Clement zunächst mit Erfahrungen von Kritik und Abwertung verbunden war, entwickelt sich aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen somit zu einer Entscheidung, für die er heute Anerkennung bekommt. Dies ermöglicht es ihm, sich als fortschrittlicher Mann und Vorreiter einer gesellschaftlichen Entwicklung zu positionieren.
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Mit Bezug auf die Debatten um Väter in Elternzeit und die positive Sanktionierung dieser Entscheidungen kompensiert Carsten Clement die Abwertung und Ablehnung, die er selbst konkret erfahren hat. Dies heißt nicht unbedingt, dass er die Idee der erziehenden Väter für sich als anerkennungsrelevant erachtet. Darauf verweist seine oben beschriebene Reaktion am Ende der Elternzeit. Zudem hat sich die positive Sanktionierung von Vätern in Elternzeit noch nicht in allen Gesellschaftsbereichen durchgesetzt. In der Medizin und vor allem in der Chirurgie Väter in Elternzeit trotz veränderter gesetzlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen noch immer eine Seltenheit. Carsten Clement kann aber auf die veränderten gesellschaftlichen Verhandlungen von Vatersein zurückgreifen, um seine eigene Position innerhalb der Chirurgie zu stärken und seinen beruflichen Werdegang zu plausibilisieren. In der Auseinandersetzung um die Elternzeit von Carsten Clement sind Aushandlungen von Männlichkeiten eingelagert, die in diesem Abschnitt bereits angedeutet wurden. Diese werden im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit Vatersein, aber auch darüber hinaus, ausführlicher behandelt.
„Als Mann, als Arzt, als Kollege“ – Anerkennung und Männlichkeiten Carsten Clement präsentiert sich in der Interviewsituation als reflektierter und gendersensibler Gesprächspartner. Er verwendet in seiner Erzählung beispielsweise fast durchgehend die männliche und die weibliche Form der Substantive. Er arbeitet als Mann in einem männlich codierten Berufsfeld, thematisiert die geschlechtliche Codierung seines Berufes jedoch nicht. Gleichwohl lassen sich Aushandlungen von Männlichkeiten und Geschlechterdifferenzierungen aus seiner Erzählung herausarbeiten. Er schildert beispielsweise eine Situation, in der er seinen Vorgesetzten in der Unfallchirurgie stereotyp beschreibt. Mit diesem Vorgesetzten hat er, wie in Abschnitt 6.3.2 bereits ausführlicher dargestellt, kein besonders gutes Verhältnis. Dieser hat ihn hinsichtlich der Elternzeit überhaupt nicht unterstützt (vgl. Abschnitt 6.3.4). Wir saßen zum Beispiel bei zwei Kongressen, saßen wir mal nebeneinander abends beim Tisch, wir haben uns einfach nicht unterhalten können, weil er sich für Autos und Fußball interessiert und das sind nun ausgerechnet zwei Dinge, für die ich mich ÜBERHAUPT nicht interessiere, das war extrem schwierig.“ (164 – 168)
Carsten Clement bettet diese Erzählung situativ in einen Kontext außerhalb der Klinik ein. Er erzählt zwei offenbar identische Situationen auf Kongressen. Die Begebenheit findet beim Abendessen im Anschluss an das Tagungsprogramm statt, also in einem Rahmen, in dem Smalltalk erwartet wird. Carsten Clement findet jedoch mit seinem Chef keine gemeinsamen Themen. Den Ge-
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sprächsmöglichkeiten über „Autos und Fußball“ kann und will sich Carsten Clement nicht anschließen. Durch das Aufrufen dieser stereotyp männlichen Interessen schreibt Carsten Clement seinem Vorgesetzten eine Männlichkeitsvorstellung zu, von der er sich in seiner Erzählung abgrenzt. Auch stimmlich betont er, diese beiden Themen interessierten ihn „überhaupt nicht“. Mit der Erzählung dieser für ihn typischen Kongresssituation positioniert sich Carsten Clement zunächst als aufstrebender, ernst zu nehmender und wissenschaftlich interessierter Chirurg, der sich nicht nur in der Klinik und im Operationssaal verortet, sondern auch auf wissenschaftlichen Kongressen präsent ist. Hinsichtlich seiner beruflichen Orientierung stellt er sich mit seinem Chef auf eine Stufe. Ein persönliches Gespräch außerhalb des Fachdiskurses scheint mit diesem allerdings nicht möglich. Carsten Clement grenzt sich von seinem Chef ab, indem er unterschiedliche Männlichkeitsvorstellungen relevant macht. Er beschreibt die Interessen seines Vorgesetzten etwas abfällig, womit er seine Abgrenzung noch unterstreicht. Positionierungen im beruflichen Feld erfolgen also, das lässt sich aus der Erzählung von Carsten Clement ableiten, auch über die Verhandlung von konkurrierenden Männlichkeiten. Carsten Clement steht in einem formalhierarchischen Verhältnis zu seinem Vorgesetzten. Ähnlich wie bei der Begründung für die Spezialisierung auf Handchirurgie, bei der er die menschliche Inkompetenz genau dieses Vorgesetzten der Unfallchirurgie für sein Sich-Abwenden relevant macht17, erfolgt auch hier die Abgrenzung nicht über fachliche Auseinandersetzungen, sondern über das Infragestellen der Subjektposition Mann dieses Vorgesetzten. Über diese Abgrenzung konstruiert Carsten Clement seine eigene Männlichkeit als fortschrittlicher und weniger stereotyp.18 Im Zusammenhang mit der Entscheidung für die Elternzeit sind für Carsten Clement die Kolleg_innen relevant (vgl. dazu ausführlicher 6.3.4). Ihre Reaktionen beschreibt er geschlechterdifferenzierend. „Ich glaube, ein Großteil meiner Ängste war, wie sag ich es, meinen Kollegen, weil das war also, bei den Männern war das im Großen und Ganzen schon so, also, bei meinen männlichen Kollegen, dass das, also, schon mit einer hochgezogenen Augenbraue quasi angenommen wurde, Frauen waren durchweg begeistert, aber das war jetzt schon ein deutlicher Unterschied in der Aufnahme, /War das wichtig, dass die Männer das auch
17 | Vgl. Abschnitt 6.3.2. 18 | Für diese Positionierung dürfte die Interviewkonstellation von Bedeutung sein. Carsten Clement geht davon aus, dass diese Lesart seines Chefs und damit seine eigene Positionierung von mir als Inter‚viewerin geteilt wird. Einem männlichen Interviewer gegenüber, der möglicherweise ebenfalls an Fußball interessiert ist, hätte er sich eventuell anders positioniert.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie akzeptieren?/, Ich glaub schon, als Mann und als Arzt und als Kollege, ähm, ein ganz kleiner Teil war sicher, dass man verliert, was man schon kann.“ (803 – 811)
In dieser Passage beschreibt Carsten Clement wieder Ängste, diesmal aber anders gelagerte als die, auf die ich in Abschnitt 6.3.4 eingegangen bin. Während er dort auf die möglichen negativen Konsequenzen für seinen Lebenslauf fokussiert, beschreibt er hier die Angst vor der direkten Reaktion seiner Kolleg_innen. Er unterscheidet zwischen der Reaktion der Frauen, die „durchweg begeistert“ sind, und der Reaktion der Männer, die seine Entscheidung „mit hochgezogenen Augenbrauen“ kommentieren, also eine eher skeptische oder abschätzende Mimik ihm gegenüber zeigen. Aus der Erzählung entsteht der Eindruck, ihm sei die Bestätigung durch die männlichen Kollegen wichtiger als durch die weiblichen, was mich als Interviewer_in dazu gebracht hat, diesbezüglich noch einmal nachzufragen. Carsten Clement bejaht, dass die Bestätigung „als Mann, als Arzt und als Kollege“ von seinen männlichen Kollegen kommen sollte. Mit dieser Aneinanderreihung von Attributionen stellt er einen Zusammenhang zwischen Männlichkeit und der Positionierung als Arzt und Kollege her. Die hier beschriebene nonverbale Reaktion des Hochziehens der Augenbrauen wird von Carsten Clement so gedeutet, dass er von diesen Kollegen nicht mehr in der Kombination aus Mann, Arzt und Kollege adressiert wird. Die Begeisterung der Kolleginnen kompensiert das nicht, da sie mit ihrer Reaktion eine andere Männlichkeit adressieren als die männlichen Kollegen und eine andere als die, an die Carsten Clement anschließen möchte. Die geschlechtliche Zuordnung der anerkennenden und adressierenden Akteur_innen hat damit für die Herstellung von Carsten Clements Männlichkeit durchaus Relevanz. Kollegen und Kolleginnen adressieren hier unterschiedliche Männlichkeitszuschreibungen, auf die Carsten Clement entsprechend unterschiedlich reagiert. Er nimmt die Bestätigung seiner Kolleginnen zwar wahr und auch an, für seine Positionierung innerhalb des Feldes sucht er jedoch eher nach Bestätigung durch seine Kollegen, die für ihn anschlussfähige Männlichkeit repräsentieren.
Anerkennungspraktiken Carsten Clement fokussiert in seiner Erzählung vor allem auf seine berufliche Entwicklung. Dabei macht er vor allem Vorgesetzte hinsichtlich der fachlichen Positionierung relevant. Aus Carsten Clements Erzählung lässt sich somit die Bedeutung von Anerkennenden und deren hierarchischer Position herausarbeiten. Die Fokussierung auf die Anerkennung von Vorgesetzten wird bereits bei Carsten Clements Wahl der Spezialisierung deutlich. Während er in der Unfallchirurgie von seinem dortigen Vorgesetzten als inkompetenter Chirurg ad-
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ressiert wird, erlebt er von dem Chef der Handchirurgie Bestätigung und Wertschätzung seiner Arbeit. Er kompensiert also die Abwertung und Kränkung durch den Vorgesetzten in der Unfallchirurgie mit der Anerkennung durch den Vorgesetzten in der Handchirurgie. Diese Praxis verweist darauf, dass fehlende Anerkennung nicht nur zwischen Anerkennungsfeldern, sondern auch zwischen unterschiedlichen Anerkennenden kompensiert werden kann. Interessant und bemerkenswert ist in diesem Fall, dass die Kompensation zwischen Anerkennenden stattfindet, die sich auf derselben Hierarchiestufe befinden. Die Orientierung an Vorgesetzten erweist sich in dem Krankenhaus in England für Carsten Clement als problematisch. Anders als in Deutschland hat dort nicht der oder die Vorgesetzte das letzte Wort, sondern die Fachärzt_innen entscheiden eigenverantwortlich und nehmen die beratende Funktion von Kolleg_innen und Chef_innen an. Carsten Clement ist durch die Leerstelle, die für ihn durch die fehlende Entscheidungshoheit der Vorgesetzten entsteht, verunsichert. Dies verweist auf eine Inkorporiertheit von Anerkennungsbedürfnissen, die sich nicht einfach ablegen lässt. Die fehlende Bestätigung durch Vorgesetzte wird von Carsten Clement nicht nur als fehlende fachliche Absicherung wahrgenommen, sondern auch als fehlendes Moment der Bestätigung seiner Position als Arzt im Klinikgefüge. Um diese Verunsicherung zu bewältigen und eine Positionierung in diesem Team zu ermöglichen, konstruiert Carsten Clemen eine informelle hierarchische Struktur, innerhalb derer er erfahreneren Kolleg_innen mehr Macht zuschreibt und sie in die Position von Vorgesetzten erhebt. Damit stellt er einen ihm vertrauten normativen Rahmen her. Auch wenn diese erfahrenen Kolleg_innen seine Kompetenz nie in Zweifel gezogen haben, fühlt er sich in seiner chirurgischen Kompetenz erst dann wahrgenommen, als er sich von dieser Gruppe, der er mehr Macht zuschreibt, als kompetenter Chirurg adressiert sieht. Ein wichtiges Moment stellt in Carsten Clements Erzählung die Entscheidung für ein Jahr Elternzeit nach dem AiP dar. Innerhalb seines beruflichen Umfelds bedeutete diese Entscheidung einen Bruch mit gängigen Normen. Sowohl seine Position als kompetenter Chirurg als auch seine Position als Mann stehen in Frage. Auch hier wird die Bedeutung von Anerkennenden sichtbar. In Carsten Clements Wahrnehmung wird ihm die Anerkennung als kompetenter Chirurg schon allein deshalb entzogen, weil sein für ihn wichtiger Vorgesetzter ihm nicht gestattet, während der Elternzeit in Teilzeit weiterzuarbeiten. Hinsichtlich der Anerkennung als Mann, die durch seine Entscheidung für Erziehungsaufgaben in Verhandlung steht, sucht er Anerkennung vor allem bei den Kollegen, denen er eine Männlichkeit zuschreibt, an die er anschließen will. Die Begeisterung seiner Kolleginnen für die Entscheidung, in Elternzeit zu gehen, ist für Carsten Clement mit der Adressierung einer Männlichkeit verbunden, die für ihn zu diesem Zeitpunkt nicht stimmig ist. Diese Praxis verweist auf die Bedeutung der geschlechtlichen Zuordnung derjenigen, die
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anerkennen und adressieren, sowie der damit zusammenhängenden Adressierung von bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Mittlerweile positioniert sich Carsten Clement als fortschrittlicher Mann, der bereits zu einer Zeit in Elternzeit gegangen ist, als dies auch in anderen Berufsfeldern noch unüblich war. Dies verweist auf eine zeitliche Komponente von Anerkennungspraktiken. Während Carsten Clement für die Zeit der Entscheidung und Umsetzung durchaus Konflikte beschreibt, bezieht er in seine aktuelle Positionierung gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf die Bewertung von Vätern in Elternzeit mit ein. Er greift auf die positive gesellschaftliche Sanktionierung von Vätern, die in Elternzeit gehen, zurück und positioniert sich als fortschrittlicher Mann, auch wenn dies für sein Berufsfeld noch nicht unbedingt gilt. Er bezieht sich dabei auf Adressierungen, die ihn als Vorreiter dieser Entwicklung positionieren. Er selbst schildert seine Elternzeit nicht besonders positiv. Seine Position als Vater in Beziehung zu den Kindern taucht nicht auf. Eine Positionierung als Mann, der in Elternzeit gegangen ist, muss also nicht unbedingt eine Positionierung als sorgender Vater einschließen. Gleichwohl schließt Carsten Clement heute an die Anerkennung von Vätern in Elternzeit an und positioniert sich entsprechend. Anerkennung kann somit ungleichzeitig erfolgen und sich noch im Nachhinein angeeignet werden. Diese Anerkennungspraxis ließe sich als zeitliche Kompensation beschreiben. Erfahrungen der fehlenden Anerkennung während der Entscheidung, in Elternzeit zu gehen, werden ergänzt oder teilweise überschrieben von der Positionierung als Vorreiter einer gesellschaftlichen Entwicklung.
Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo
K ünstler , R ebell , V er änderer – L eo F arolo Lebensgeschichte Leo Farolo wird 1982 im ehemaligen Jugoslawien geboren. Als er zehn Jahre alt ist, beginnt dort der Krieg. Sein Vater arbeitet zu diesem Zeitpunkt in Deutschland und holt die Familie in eine Großstadt im Norden Deutschlands. Den Beruf seines Vaters erwähnt er ebenso wenig wie den seiner Mutter. Auch über Geschwister lässt sich aus der Erzählung nichts herauslesen. Leo Farolo geht in Deutschland weiter zur Schule, zunächst ein Jahr in eine Übergangsklasse, danach in die reguläre Hauptschule. 1997, kurz vor seinem Abschluss an der Hauptschule, absolviert Leo Farolo schulbegleitend zwei Berufspraktika. Er arbeitet jeweils eine Woche in einem Reisebüro und in einem Friseursalon. Die Arbeit im Friseursalon gefällt ihm so gut, dass er sich für diesen Ausbildungsberuf entscheidet. Er beginnt die Lehre unmittelbar nach der Schule und schließt sie nach drei Jahren erfolgreich ab. Direkt im Anschluss absolviert er die Meisterschule. Gemeinsam mit einem Freund übernimmt er noch 2001 den Salon von dessen Vater. Nach fünf Jahren, also 2006, trennen sich ihre Wege und Leo Farolo eröffnet ein eigenes Geschäft, das er zum Zeitpunkt des Interviews noch betreibt. Er lebt mit seiner Partnerin zusammen und spielt in einer Band, mit der er bereits eine Platte veröffentlicht hat. An der zweiten wird gerade gearbeitet. Zudem betätigt er sich künstlerisch als Bildhauer und Maler. Leo Farolo nimmt in seiner Erzählung gleich zu Beginn auf die Flucht vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien Bezug. Die Adressierung als ‚Jugoslawe‘ ist für ihn verbunden mit dem Bild einer Gesellschaft im Krieg, auf die er sich nicht beziehen will. Auf Leo Farolos Verhältnis zu seinem Herkunftsland gehe ich in Abschnitt 6.4.2 ein. Leo Farolo entscheidet sich für den Friseurberuf und damit für einen Beruf, der keine hohe gesellschaftliche Anerkennung genießt. Seine Positionierung in diesem Berufsfeld werde ich in Abschnitt 6.4.3 genauer analysieren. Seit sechs Jahren betreibt Leo Farolo einen eigenen Salon, in dem mehrere Mitarbeiter_innen tätig sind. Bis vor kurzem hat er zudem selbst ausgebildet. Damit ist eine Position als Vorgesetzter und Ausbilder verbunden. Auf dieses Themenfeld werde ich in Abschnitt 6.4.4 eingehen. Leo Farolo thematisiert in seiner Erzählung die Geschlechterverhältnisse, die er in seinem Beruf wahrnimmt. Er ist vor allem mit dem gesellschaftlichen Bild des homosexuellen Friseurs konfrontiert und wird häufiger als solcher adressiert. Wie er damit als heterosexueller Mann umgeht, analysiere ich in Abschnitt 6.4.5.
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„Ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten damit, aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kommen“ – Anerkennung und Krisenerfahrung Das Interview mit Leo Farolo findet in seinem Salon statt. Er sitzt auf einem Friseurstuhl und ich auf einem anderen. Nach dem Erzählstimulus für die Eingangserzählung tut sich Leo Farolo zunächst schwer, mit seiner Erzählung zu beginnen. Er weiß nicht, was er erzählen soll, fragt sich und mich, was spannend sein könnte. Er sagt, er erzähle nicht gerne von sich und positioniert sich damit zunächst als zurückhaltend. Nach einer weiteren Ermutigung beginnt er, direkt mit seiner Geburt. „Dann ging es, glaube ich, mit meinem Geburtstag los, ich bin am 5.6. geboren, wie mein Opa, und so habe ich mir selber den Namen gegeben, insofern, weil der auch Leo hieß, /Ach/, und schon verstorben war, bin ich sozusagen gleich in seine Fußstapfen getreten. Als Kind habe ich mich immer verpflichtet gefühlt, auch Polizist zu werden, weil der auch Polizist war bis, ich bin ja in in Jugoslawien geboren und aufgewachsen, bis der Krieg anfängt, /Mhm/, und nachdem der Krieg anfing, begann dann auch schon meine Pazifistenphase, von daher ging auch nichts mehr mit Polizisten.“ (20 – 27)
Leo Farolo beginnt seine Erzählung damit, am gleichen Datum geboren zu sein wie sein zu dem Zeitpunkt bereits verstorbener Großvater. Die Formulierung „so habe ich mir selber den Namen gegeben“ irritiert zunächst. Erst im Nachsatz stellt sich heraus, er hat sich nicht selbst nach seinem Großvater benannt, sondern den Namen bekommen, weil seine Geburt auf diesen Termin fiel. Über das Geburtsdatum und den Namen stellt Leo Farolo einen engen Bezug zu seinem Großvater her, den er selbst gar nicht gekannt hat. Auch wenn Leo Farolo seine Lebensgeschichte mit seiner Geburt beginnt, beginnt er damit keine Erzählung seiner Kindheit. Er schildert weder Kindheitserinnerungen, noch die Beziehung zu seinen Eltern, Geschwistern, Freund_innen, er erzählt auch nichts über die Schule oder sonstige Episoden, die ihm aus seiner Kindheit in Erinnerung geblieben sind. Über das Erwähnen seines Geburtstags stellt Leo Farolo vor allem einen Bezug zu seinem Herkunftsland her und deutet hier bereits die Bedeutung seiner Großeltern in diesem Zusammenhang an, auf die er später im Interview noch einmal zu sprechen kommt. Leo Farolo schreibt seinem Großvater in dieser Eingangspassage Vorbildfunktion zu. Offenbar wollte er sogar dessen Beruf ergreifen und Polizist werden. Die Abkehr von diesem Berufswunsch stellt er in Zusammenhang mit dem Beginn des bewaffneten Konfliktes in Jugoslawien, zu dem er sich sehr klar positioniert. Die Erfahrung des Krieges beschreibt Leo Farolo als Beginn seiner „Pazifistenphase“. Er stellt damit einen direkten Zusammenhang her zwischen seinem Erleben von bewaffneten Konflikten und der Entwicklung
Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo
einer politischen, pazifistischen Grundhaltung. Als eine Auswirkung dieser Politisierung beschreibt Leo Farolo für seine Kindheit die Abkehr von seinem bisherigen Berufswunsch, denn für ihn lässt sich Polizistsein nicht mit Pazifismus in Einklang bringen. Damit stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen politischer Haltung und eigenen, auch beruflichen Entscheidungen her. Mit seiner Positionierung als Pazifist deutet er zudem eine Ablehnung von mit Krieg und Kampf verbundenen Männlichkeitsvorstellungen an. Leo Farolo stellt in seiner Eingangserzählung unmittelbar einen Bezug zu seiner geographischen Herkunft her. Die Bezugnahme erfolgt über den Verweis auf den Großvater, der bereits bei seiner Geburt tot war. Mit seinen aktuellen sozialen Beziehungen bringt er seinen Herkunftsort somit nicht in Verbindung. In dieser Passage positioniert sich Leo Farolo über den Krieg in Jugoslawien als kritischer und politisch denkender Mensch. Er versucht weder, den Krieg zu erklären noch sich innerhalb des Konfliktes zu positionieren, sondern lehnt ihn schlichtweg ab. Er stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen politischen Grundsätzen und eigenem Handeln. Damit schreibt er sich selbst Handlungsmacht zu, mit den eigenen Entscheidungen gesellschaftliche Situationen beeinflussen zu können. Er positioniert sich nicht als Opfer des Bürgerkrieges, sondern als handlungsfähiger Mensch, der aus den Erfahrungen des Bürgerkrieges Konsequenzen zieht. Was er während des Krieges erlebt hat, was seinen Verwandten passiert ist oder ob Teile seiner Familie in den Konflikt involviert waren, erzählt Leo Farolo nicht. Unmittelbar nach Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen zieht er mit seiner Familie zum Vater, der zu diesem Zeitpunkt für drei Monate in Deutschland arbeitet. Die Familie bleibt. Als Zehnjähriger kommt Leo Farolo also nach Deutschland und damit in ein Land, dem er zunächst ablehnend gegenüber steht. „Im ehemaligen Jugoslawien hat man halt über das Dritte Reich viel gelernt, /Ach echt?/ über die Befreiung, ja, über die guten Kommunisten, über den bösen Faschismus und Nationalismus, meine Mutter hat es mir letztens noch erzählt, dass ich sie gefragt habe, können wir in irgendein anderes Land gehen außer nach Deutschland, weil ich dachte, wir kommen wahrscheinlich gleich auch irgendwie in, ich weiß nicht, das einzige Bild, was ich hatte, war, ich war vorher nie in Deutschland. /Ja/ […] Das war schön, der Prozess und ich glaube, deshalb bin ich total dankbar, mehr als die meisten anderen Menschen, weil das Land, vor dem ich Angst hatte, habe ich mehr angefangen zu lieben / Mhm./ als das Land, aus welchem ich kam /Mhm./, hatte sogar lange Zeit auch Schwierigkeiten damit, wirklich aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kommen, weil, /Mhm./, da Sachen auch vorgefallen sind, oder die man erlebt hat, die, ähm, ein gesunder menschlicher Verstand und gesunde Erziehung nicht nachvollziehen kann.“ (427 – 442)
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Leo Farolo beschreibt sein Bild von Deutschland, das ihm in der Grundschule im ehemaligen Jugoslawien vermittelt worden ist. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Zeit des Nationalsozialismus. Er überträgt das, was er darüber in der Schule gelernt hat, auf das zeitgenössische Deutschland, woraus eine mit Angst besetzte Vorstellung entsteht. Auch wenn er es nicht wirklich ausspricht, hat er als Kind offenbar die Befürchtung, in Deutschland sofort in ein Konzentrationslager zu kommen. Als es darum geht, Jugoslawien zu verlassen, will er daher seine Mutter davon überzeugen, lieber in ein anderes Land zu gehen. Er sieht für sich keine Möglichkeit, in Deutschland zu leben oder zu überleben. Leo Farolo beschreibt, wie sich seine Bilder von Deutschland und Jugoslawien im Laufe der Zeit und im Laufe des Lebens in Deutschland verändern. Mit Bezug auf Kriegserfahrungen, die er vage hält, beginnt er, sich von seinem Herkunftsland zu distanzieren. Er verweist auf „Sachen“, die „vorgefallen sind“ oder „die man erlebt hat“ und lässt damit offen, ob er davon aus Medien oder Erzählungen erfahren hat oder ob er selbst traumatisierende Erlebnisse hatte. Der Bezugsrahmen für die Beschreibung der Länder bleibt auf der politischen Ebene. Er bezieht sich nicht auf Menschen, Wetter, Sprache, Essen oder andere kulturelle Unterschiede, sondern stellt stets einen politischen Bezug her. Die Angst vor Deutschland ist in der Zeit des Nationalsozialismus begründet, die Abgrenzung zu Jugoslawien im dort herrschenden Krieg. Trotzdem wird er in Deutschland als ‚Jugoslawe‘ adressiert. Aufgrund seiner Herkunft wird ihm diese Subjektposition zugewiesen, er kann sich jedoch nicht mehr positiv auf das Land beziehen, aus dem er kommt. Leo Farolo könnte sein Bild von Jugoslawien so differenzieren, dass auch er eine anschlussfähige Position findet, indem er beispielsweise auf Opfer und Gegner_innen des Krieges verweist. Er tut dies nicht, sondern grenzt sich von dieser Gesellschaft komplett ab und erklärt sie als nicht „gesund“. Er findet in der jugoslawischen Gesellschaft während des Bürgerkrieges keinen normativen Rahmen mehr, an den er anschließen kann. In seiner Deutung ist Jugoslawien vor allem verbunden mit Krieg und Gewalt, so dass er „Schwierigkeiten“ hat, die Adressierung als ‚Jugoslawe‘ anzunehmen. Er kann diese Adressierung aber auch nicht vollständig zurückweisen, denn er selbst hat noch Bezüge dahin. Das wird bereits aus seiner Anfangserzählung deutlich, als er seinen Großvater thematisiert. In seinem Bezug zu Jugoslawien verweist er auch an anderer Stelle des Interviews auf die Zeit vor dem Krieg und spricht von politisch-moralischen Werten, die er in seiner Familie vor allem von seiner Großmutter gelernt hat und die für ihn gelten, unabhängig davon, wo er lebt. „Ich versuche immer, ähm, liberal und sozial zu denken, aber das ist ja auch nicht schwer, wenn man von ner kommunistischen Oma erzogen wurde aus dem ehemaligen Jugoslawien, damals, […] ich komme aus aus so einer Familie, sie ist Italienerin und ist
Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo ins ehemalige Jugoslawien gezogen. /Das ist die Frau von dem Opa, nach dem Du benannt wurdest?/ Genau, das ist die Frau an meinem Oberarm.“ (272 – 277)
In dieser Passage erweitert Leo Farolo seine Positionierung als politischer Mensch, indem er neben dem Pazifismus noch auf den Anspruch an sich verweist, „liberal und sozial zu denken“. Diese Haltung wurde ihm von seiner „kommunistischen Oma aus dem ehemaligen Jugoslawien“ vermittelt. Er ist bei ihr aufgewachsen oder sie hatte zumindest großen Einfluss auf seine Erziehung. Über die Beschreibung seiner Großmutter, die als Kommunistin aus politischen Gründen nach Jugoslawien gegangen ist, nimmt er hinsichtlich seiner Herkunft eine zeitliche Zäsur vor: Dem sozialistischen Jugoslawien, dem er seine Großmutter und einen Großteil seiner Kindheit in Jugoslawien zurechnet, schreibt er Werte wie „sozial und liberal sein“ zu, auf die er sich positiv bezieht. Auch hier macht Leo Farolo politische Aspekte relevant. Er erzählt keine gemeinsamen Erlebnisse mit seiner Großmutter, die für ihn in seiner Kindheit wichtig gewesen sind, sondern verweist auf die liberalen Werte, die er von ihr gelernt hat. Auch wenn er seine Großmutter in dieser Passage zweimal im „ehemaligen Jugoslawien“ verortet, so fokussiert er an dieser Stelle doch mehr auf seine Familie und deren politische Grundhaltung („so eine Familie“) als auf deren nationale Zugehörigkeit. In dem letzten Satz der Passage, „das ist die Frau an meinem Oberarm“, verweist Leo Farolo auf ein Tattoo des Porträts seiner Großmutter, das er sich auf seinen Oberarm hat stechen lassen. Über dieses Tattoo stellt er eine sehr enge Verbindung, fast eine Verschmelzung zwischen sich und seiner Großmutter her. Ihr Gesicht ist in seine Haut eingelassen, er hat die Erinnerung an sie in seinen Körper eingeschrieben. Er personalisiert damit einen wichtigen Bezugspunkt seiner Geschichte, macht ihn sichtbar und trägt ihn selbst weiter. Über die Verbindung, die er zwischen seinen politischen Wertvorstellungen und seiner kommunistischen Großmutter herstellt, konstruiert Leo Farolo einen individualisierten Beziehungsraum, der ihm einen positiven Bezug zu seiner Herkunft und gleichzeitig eine eigene Positionierung in Deutschland ermöglicht. Er bezeichnet sich selbst nicht als Kommunist. Über die Selbstbeschreibung als „liberal und sozial“ positioniert er sich als anschlussfähig an das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft. Gleichzeitig geht Leo Farolo über seinen positiven Bezug zu seiner Großmutter als Kommunistin kritisch in Distanz zur deutschen Gesellschaft, da Kommunismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher abgelehnt wird. Mit Beginn des Bürgerkrieges in Jugoslawien bricht die gesellschaftliche Ordnung, auf die sich Leo Farolo positiv beziehen will, zusammen. Er erzählt dies als Identitätsverlust, denn er möchte in der Folge nicht als ‚Jugoslawe‘ adressiert werden. Mögliche andere Positionen wie die des ‚Bürgerkriegsflüchtlings‘ oder des ‚Migranten‘ thematisiert er nicht. Gleichwohl sucht er nach
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einem positiven Bezug zu seiner Herkunft, den er über die Großmutter und deren politisch-moralische Wertvorstellungen herstellt. Leo Farolo kompensiert den Identitätsverlust mit der Konstruktion eines normativen Rahmens, den er familiär begründet und den er damit von gesellschaftlichen, in seinem Sinne vielleicht sogar nationalen, Rahmen löst. In seiner Erzählung positioniert er sich damit als kritisch sowohl der jugoslawischen als auch der deutschen Gesellschaft gegenüber.
„Das hat mich schon am meisten begeistert tatsächlich, die Veränderung“ – Anerkennung als Friseur Nachdem Leo Farolo die Hauptschule in der norddeutschen Stadt erfolgreich abgschlossen hat, beginnt er seine Ausbildung zum Friseur. Sein Interesse am Friseurberuf entwickelt sich – wie oben beschrieben – während eines schulbegleitenden Berufspraktikums. Diese eine Woche, die er in einem Salon mitgearbeitet hat, hat ihn „gekickt“ (512). „Komplett ne Typveränderung zu machen oder mitzuhelfen /An ner Puppe?/, an ner Puppe genau, und Modelle haben sie auch gemacht und du durftest dann auch mitmachen und du siehst einfach, was passiert. Im ersten Moment musst du es gar nicht selber machen, sondern musst gucken, das war, das hat mich schon am meisten begeistert, / Mhm./. Tatsächlich, die Veränderung, der Umgang, ähm, das warme Klima, das da auch erzeugt wurde.“ (523 – 535)
Während seines Praktikums beeindruckt Leo Farolo am meisten die Veränderung. Seine Erzählung hat einen fast philosophischen Anklang. Er beschreibt den Prozess des Haareschneidens als etwas Faszinierendes und Bestaunenswertes. Für ihn ist es während der Zeit des Praktikums zunächst sogar ausreichend, bei diesen Veränderungen nur zuzuschauen, um die Faszination zu spüren. In dieser Erzählung seines Schulpraktikums positioniert sich Leo Farolo bereits als angehender Friseur mit Leidenschaft. Er fokussiert weniger auf die Technik des Haareschneidens, sondern auf das Ergebnis, die Veränderung, die dadurch entsteht. Damit verweist er auf das Moment des Gestaltens, das er dem Friseurberuf zuschreibt. Er geht in der Erzählung aber noch über den Akt des Haareschneidens hinaus und thematisiert die Beziehung, die zwischen Friseur_innen und Kund_innen in dem Prozess entsteht. Die Bezeichnung des „warmen Klimas“, das „erzeugt“ wird, weckt Assoziationen an Wohlfühlen, Wohlwollen und Wohltat. Die ökonomische Komponente, mit der Erwerbsarbeit verbunden ist, thematisiert Leo Farolo in dieser Passage nicht. Für ihn scheint diese eher hintenanzustehen. Sie kommt vermittelt über seinen Vater zum Tragen.
Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo „Super Quali absolviert und dann, meine Lehrerin war voll dafür, dass ich eigentlich die Schule weitermach, /Mhm./, aber ich habe mit meinem Papa geredet und der meinte, im Krieg gings dem Friseur noch am besten, und wenn du das schon machen willst, dann ist es super.“ (500 – 503)
Leo Farolo beschreibt sich in dieser Passage als guten Schüler, der nach Einschätzung seiner Lehrerin durchaus eine weiterführende Schule hätte besuchen können. Er steht nach dem Ende der Hauptschule also vor der Entscheidung, ob er die Ausbildung zum Friseur beginnen oder weiter zur Schule gehen soll. In dieser Situation zieht er seinen Vater zurate, der den Weg der Friseurausbildung unterstützt. Die Entscheidung für den Friseurberuf und damit gegen die weiterführende Schule wird von Leo Farolos Vater plausibilisiert und legitimiert mit dem Verweis auf die Krisensicherheit dieses Berufs. Indem Leo Farolo diese Begründung erwähnt, demonstriert er ein eigenes Bedürfnis, die Entscheidung gegen die weiterführende Schule zu legitimieren. Er führt jedoch kein eigenes Argument an, sondern verweist auf das seines Vaters, wodurch er die Legitimierung sowohl personell als auch räumlich externalisiert. Das Aufrufen des Bürgerkrieges verweist auf einen Erfahrungshorizont, der in einem anderen Land und in einem anderen gesellschaftlichen Kontext verortet ist. Damit erhält die Begründung für einen Schritt, der in der deutschen, bildungsorientierten Gesellschaft als begründungsbedürftig gilt, einen anderen Stellenwert. Dieser Aspekt der Sicherheit und der Existenzsicherung spielt im weiteren Verlauf des Interviews keine Rolle mehr. Leo Farolo knüpft an die Erzählung seines Schulpraktikums an und beschreibt seine Entscheidung zum Beruf als Leidenschaft oder als Berufung. Leo Farolo nennt den Friseurberuf noch heute seinen „Traumberuf“ (40) und stellt ihn in einen künstlerischen Kontext. „Das Friseurding hat mich gleich gepackt, weil irgendwie, Kunst war ja auch mein Lieblingsfach, /Mhm./, und die Verbindung von Bildhauerei, Malerei und ein bisschen Psychologie dabei, /Mhm./ ja, und da habe ich dann schon recht früh gewusst, dass ichs machen will.“ (31 – 34)
Leo Farolo schließt mit dieser Beschreibung seines Friseurbildes an die fast philosophischen Ausführungen der Passage weiter oben an. Er entwirft hier eine Lesart der Friseurtätigkeit, die das Handwerk des Haareschneidens als künstlerischen Akt beschreibt, in den „Bildhauerei, Malerei und ein bisschen Psychologie“ einfließen. Über das Einbeziehen der Psychologie geht er wieder über die Tätigkeit des Haareschneidens hinaus und bezieht andere Dimensionen für die Ausübung der Tätigkeit mit ein. Das gesellschaftlich niedrige Ansehen des Berufs kommt in seinem beruflichen Selbstverständnis nicht vor. Er positioniert sich als Künstler. Er verweist auf Kunst als sein Lieblingsfach
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und erwähnt an einer anderen Stelle des Interviews, dass er gerne Kunst studiert hätte, aber sein „Vater war absolut dagegen“ (1104). Er beschreibt nicht, was genau die Gründe seines Vaters waren, Leo Farolo nicht Kunst studieren zu lassen. Angesichts der Haltung des Vaters zum Friseurberuf lässt sich vermuten, dass die mit Künstlerdasein verbundene unsichere Existenz eine Rolle gespielt haben kann. Leo Farolo trauert dieser verpassten Chance nicht nach, „denn man kann ja auch selber malen“ (1106). Er gibt seine Leidenschaft für Kunst nicht auf, sondern integriert seinen Beruf in seine Selbstpräsentation als Künstler. Er positioniert sich nicht eigentlich als Friseur, sondern konstruiert das Haareschneiden als eine Form von Kunst und reiht diese in seine anderen künstlerischen Aktivitäten ein. Leo Farolo malt und betätigt sich als Bildhauer und er spielt in einer Band. „Ich spiele in ner Band noch nebenbei. Das ist auch so eine Baustelle. Es macht auch voll Spaß, es ist auch komplett noch mal n ganz anderer, ne ganz andere Quelle, halt so mit mit mit Musik etwas zu schöpfen, weil das ist noch mal, Gehör und und Instrumente sind doch was was ganz anderes als die bildliche Kunst, also die Kunst, mit der ich jeden Tag beschäftigt bin.“ (72 – 76)
In dieser Passage beschreibt Leo Farolo die verschiedenen künstlerischen Felder, in denen er sich betätigt. Neben der Musik, also seinem Bandprojekt, stellt er seinen Beruf als „Kunst, mit der ich jeden Tag beschäftigt bin“ dar. Leo Farolo sieht also seine berufliche Tätigkeit als einen Bestandteil seiner Positionierung als Künstler. Die unterschiedlichen Bereiche, in denen er sich ausprobiert, befördern sich gegenseitig, denn sein Bandprojekt stellt für ihn beispielsweise eine „andere Quelle“ dar, etwas zu „schöpfen“. Er verweist damit auf das Bedürfnis nach unterschiedlichen Inspirationsquellen, in denen unterschiedliche Sinne angesprochen werden. Leo Farolo sieht diese verschiedenen „Baustellen“, wie die Band, als notwendig an, um als Friseur etwas schaffen und auch verändern zu können. Für ihn ist das „Schöpfen“ in anderen kreativen Bereichen wie Musik und Kunst wichtig, um „das Verständnis für die nächste Generation und die neue Mode aufzubringen“ (44 – 45). Leo Farolo präsentiert hier den Anspruch, sich nicht nur im Bereich Frisuren auszukennen, sondern Frisuren als Teil eines Gesamtentwurfs einer Generation zu sehen, für die er Verständnis auf bringen will, auch wenn er dieser Generation gar nicht unbedingt angehört. Um dies leisten zu können, fährt er einmal im Jahr für sechs bis acht Wochen am Stück weg, um den „Kopf wieder klar zu bekommen“ (126). Leo Farolo versteht Haareschneiden somit als Teil von etwas Größerem, als etwas, das Generationen prägt und deren Mode, deren „Pop“ (43), er mitgestaltet, für das er aber auch Verständnis auf bringen will. Er will es annehmen und künstlerisch transformieren. Leo Farolo präsentiert sich somit als Gestal-
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ter in doppelter Hinsicht: Er gestaltet künstlerisch, indem er Haare schneidet, Frisuren und vielleicht auch Typen verändert. Er schreibt dieser Gestaltung individueller Köpfe zudem einen Beitrag zur Mode und zum Aussehen einer Generation zu, an deren Gestaltung er teilhaben will. Die Faszination der Veränderung, die er während seines Schulpraktikums erlebt hat, bezieht er somit nicht nur auf die jeweiligen Frisuren, sondern auf die Mode einer Generation. Damit schreibt er sich und seiner Tätigkeit verändernde Wirkung auch auf gesellschaftlicher Ebene zu. Leo Farolos Positionierung als Friseur wirkt vollkommen losgelöst von dem gesellschaftlichen Bild des Friseurs. Das geringe Prestige seines Berufs thematisiert er nicht. Er positioniert sich nicht als weniger angesehen und bezieht die geringe Wertschätzung seines Berufes überhaupt nicht auf sich. Dies lässt darauf schließen, dass er die Prestigehierarchie nicht anerkennt und sich selbst darin nicht verortet. Seinen Bezugsrahmen sieht er in der Kunst. Das Friseursein reiht er als „Kunst“ in eine Reihe verschiedener Kunstprojekte ein, die er für sich und sein Leben als wichtig beschreibt und die sich gegenseitig befruchten. Anders als Künstler_innen arbeitet Leo Farolo täglich mit Kund_innen, auf deren Bedürfnisse und Anforderungen er eingehen und die er zufriedenstellen soll. Dies scheint zunächst im Widerspruch zur schöpferischen und künstlerischen Gestaltung zu stehen, doch Leo Farolo sieht seine Kund_innen ebenfalls als Quellen der Zufriedenheit. „Also, wichtig ist, dass die Frisur gut ist, dass es gut aussieht, dass es technisch gut ist, /Mhm./, und dass die Leute auch zufrieden sind, das ist auch verflucht wichtig, /Mhm./, aber es gibt auch immer wieder lustige Geschichten, /Mhm./, also, es sind halt tatsächlich Geschichten aus dem Alltag, die wirklich aufbauend sind, /Mhm./, also sind einfach die coolen Personen und das ist bei mir auch, die Preispolitik ist mir auch wichtig, dass es nicht zu teuer wird, /Mhm./, damit man einfach den Menschen von der Straße und aus dem Viertel auch hat und dass man nicht zum Schicki-Micki-Friseur wird.“ (113 – 120)
Anders als in den vorherigen Passagen verweist Leo Farolo hier im Zusammenhang mit der Zufriedenheit der Kund_innen durchaus auf die Bedeutung des handwerklichen Könnens. Die Schnitte müssen „technisch gut“ sein. Aus der Beschreibung seiner Beziehungen zu den Kund_innen lässt sich jedoch noch eine Dimension herausarbeiten, die über das Handwerk des Haareschneidens hinausgeht. Er konstruiert seine Kund_innen als wohltuende, weil „auf bauende“ Quellen für sein Leben. Sie erzählen ihm „Geschichten aus dem Alltag“, die er offenbar gerne hört und die ihm etwas geben. Leo Farolo beschreibt diese kommunikative Ebene mit seinen Kund_innen nicht als Notwendigkeit für eine gute Frisurenberatung oder als professionelle Strate-
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gie der Kund_innenbindung, sondern positioniert sich als Friseur, der echtes Interesse am Leben und den Erzählungen seiner Kund_innen hat. In seiner Erzählung bezieht er sich auf seine Kund_innen als „coole Personen“. Diese Beschreibung erinnert an seine Erzählung des Schulpraktikums, in der er von dem „warmen Klima“ gesprochen hat, das während des Haareschneidens entsteht. Offenbar versucht Leo Farolo, diesen Eindruck aus dem Praktikum in seinem Salon umzusetzen. Mit der Einordnung seiner Kund_innen als „Menschen von der Straße“ positioniert er sich und seinen Salon in Abgrenzung zu „Schicki-Micki-Friseur“. An dieser Stelle mischt sich die Positionierung als Künstler mit der des „liberal und sozial“ denkenden Kritikers aus Abschnitt 6.4.2. Leo Farolo changiert in seiner Selbstbeschreibung zwischen Künstler und Friseur der Basis. Trotz der Wichtigkeit, die er der Kunst zuschreibt, möchte er sich nicht in einem Milieu verortet wissen, das als abgehoben oder „schicki-micki“ gilt. Dieser Bezug zu den „Menschen von der Straße“, den Leo Farolo hier auch über sein empathisches Interesse an deren Geschichten starkmacht, verweist auf seine Herkunft. Er positioniert sich als Künstler mit Bezug zu ‚einfachen Menschen‘. Trotzdem orientiert sich Leo Farolo auch an den großen Namen seiner Branche. Seine Referenzpunkte sind dabei jedoch nicht aktuelle Starfriseure wie Udo Walz, den er abwertend als „einen der schlechtesten Friseure“ (1431) bezeichnet. Er bezieht sich ausschließlich und immer wieder positiv auf Vidal Sassoon.19 Das Moment der Veränderung und des Gestaltens einer ganzen Generation, das ich weiter oben herausgearbeitet habe, spiegelt sich somit in der Suche nach Vorbildern wider. Leo Farolo hat ebenfalls die Vision, etwas vollkommen anderes zu kreieren. Sein Ziel ist eine eigene Kollektion, die er auf Shows zeigen kann. „Eigene Shows will ich nicht machen, weil, das bringt nichts. Ich habe keinen Namen, da würden nicht so viele Leute kommen. Ich würde es wenn dann für eine Firma, die nicht von den Mascolo-Brüdern gehalten wird […]. Das halt wieder mal so toll zu machen wie zu Sassoons Zeiten […]. Der Grundgedanke vom Stage war tatsächlich wieder, es so ein bisschen mehr ins Umdenken und nicht zu sehr vom Konsum abhängig sein, /Mhm./, nicht zu sehr vom vom Produktfirmen, also, da drum geht es ja beim Friseur […], dass man jetzt Sachen verkaufen will und das über die Friseure, also, es ist ganz groß, der Konsum dahinter /Mhm./ ist eigentlich riesig und ich fände es halt einfach schön, wenn wenns mehr (6) Haute Couture als als als als, ähm, einfach dieser Verkauf von Farben, Dauerwellen, wenns einfach noch mal im Chaos einfach nur nen Umbruch gibt, wo jeder 19 | Vidal Sasson kam aus armen Verhältnissen und hat sich mit seiner zunächst als eigenwillig verstandenen Haarmode durchgesetzt. Ihm wird eine revolutionäre Rolle im Haardesign des 20. Jahrhunderts zugeschrieben (vgl. Rourke 2012).
Künstler, Rebell, Veränderer – Leo Farolo anfängt, selber nachzudenken und sich selber Gedanken am Stuhl macht für seinen Kunden, /Mhm./, das ist definitiv nicht so, also, ich habe eine Riesenarbeit bei meinen Angestellten, äh, den Denkprozess zu bewegen.“ (1476 – 1505)
In dieser Passage positioniert sich Leo Farolo als Kenner des Marktes und gleichzeitig als kritisch hinsichtlich der von ihm beobachteten Marktmacht. Leo Farolo schätzt sich so ein, dass er keine eigenen Shows ausrichten kann, entwirft aber eine Kollektion, die er auf Shows zeigen würde. Das ist für ihn an die Bedingung geknüpft, dass die Show unabhängig von solchen Firmen organisiert ist, die in seinen Augen den Markt beherrschen, wie die MascoloBrüder.20 Mit ihnen verbindet er Konsum, was aus seiner Sicht die Vision des Frisurenschaffens zerstört. Leo Farolo möchte unabhängig von dieser Marktmacht agieren. Er verwendet und verkauft in seinem Salon keine Haarpflegeprodukte, die von den Mascolo-Brüdern oder anderen großen Konzernen vertrieben werden, sondern setzt auf alternative Produkte kleinerer Marken. Auch hier positioniert sich Leo Farolo als Künstler mit gesellschaftskritischem Hintergrund. Er bringt seine künstlerischen Aktivitäten im Feld mit seinen politischen Maximen in Einklang und erklärt so, warum er bei den großen, medial wahrgenommenen Shows nicht teilnehmen will. Die Frage, ob er mit seiner Kollektion dort den Raum bekommen würde, thematisiert er nicht. Leo Farolo beschreibt die Vision seiner Kollektion, als könne er mit den Frisuren philosophische und gesellschaftliche Werte vermitteln. Auch damit scheint er sich auf sein Vorbild Vidal Sassoon zu beziehen, von dem die Kuratoren des Museum of Modern Art in New York 1993 sagten „he brought modernism to the medium of hair“. Mit Haarschnitten die Gesellschaft zu verändern, das schwebt auch Leo Farolo vor. Er möchte Haute Couture in den Friseursalon bringen und sowohl bei den Friseur_innen als auch den Kund_innen Denkprozesse anstoßen, unabhängig von vorgegebenen Moden oder Konsumorientierungen. Den Anspruch, nicht einfach nachzumachen, was andere tun, sondern „sich selber Gedanken am Stuhl“ zu machen, stellt er an sich und an seine Mitarbeiter_innen. Leo Farolo reiht sich in dieser Passage ein in die Riege der ‚großen‘ Friseure. Wenn er von seiner Branche spricht, redet er weniger über die Arbeitsbedingungen, das gesellschaftliche Ansehen oder Debatten innerhalb des Handwerks. Er präsentiert sich als Kenner der internationalen, innovativen 20 | Bei diesen handelt es sich um Friseure in London, die unter anderem die prestigeträchtige Salonkette Toni & Guy gegründet und zu einem weltweit agierenden Unternehmen ausgebaut haben. Mit einem Netz von sogenannten Toni & Guy-Academies nehmen sie großen Einfluss auf die Aus- und vor allem Weiterbildung von Friseur_innen und setzen Trends. Vgl. http://toniandguy.com/pages/category/about-us/our-story [letzter Abruf: 12.12.2013]
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Friseurszene und schließt an diese an. Er verweist hier nicht auf das Alltagsgeschäft des Haareschneidens, sondern bezieht sich vor allem auf das schöpferische Potenzial, das er seinem Beruf zuschreibt. Er positioniert sich als Friseur, der zwar „keinen Namen hat“, aber sich durchaus in der Lage sieht, in diesem Bereich mitzuspielen. Sein Weg ist es dabei nicht, sich im hegemonialen Bereich der kommerziellen Friseurszene zu positionieren. Die normativen Rahmen dort lehnt er ab. Über das Anschließen an Kunst und Kritik positioniert er sich als ‚künstlerischer innovativer Rebell‘ und präsentiert ein Selbstbild, das im Feld durchaus anschlussfähig ist und über das andere – wie Vidal Sassoon – zu epochalen Stars geworden sind. Für Leo Farolo beinhaltet somit genau der Widerstand gegen die geltende Anerkennungsordnung in seinem professionellen Kontext Potenzial für die Positionierung als innovativer, kreierender Friseur.
„Ich bin nicht nur Friseur, sondern auch der Kapitän auf einem Schiffchen“ – Anerkennung als Salonbesitzer Leo Farolo macht sich nach dem Ende seiner Ausbildung und dem Absolvieren der Meisterschule zunächst mit einem Freund selbstständig. Nach einigen Jahren des gemeinsamen Arbeitens eröffnet Leo Farolo sein eigenes Geschäft, das seit mittlerweile über sechs Jahren besteht. Er hat ein Team von fünf Mitarbeiter_innen und hat bis vor kurzem selbst ausgebildet. Seine Salonphilosophie beschreibt er folgendermaßen: „Mein Vorhaben und auch grundsätzlich von der Selbstständigkeit war einfach eine Wohlfühloase zu schaffen, /Mhm./, dass es einfach der beste Arbeitsplatz für jeden Mitarbeiter ist. Das ist schwierig umzusetzen, aber ich bin dabei. Vor allem mit nem größeren Team […] wird es zur Lebensaufgabe, /Mhm./, und da ist halt, da ist für mich nicht nur das, das Friseurding, sondern es ist wirklich auch, ja, sozial auch wesentlich mehr Arbeit.“ (377 – 382)
Leo Farolo möchte mit seinem Salon „eine Wohfühloase schaffen“. Damit meint er jedoch keine „Wohlfühloase“ für Kund_innen, sondern er bezieht dieses Konzept auf seine Mitarbeiter_innen. Er möchte in seinem Salon nicht nur gute Arbeitsbedingungen anbieten, sondern den „besten Arbeitsplatz für jeden Mitarbeiter“ schaffen. Dies ist angesichts der Arbeitsbedingungen in der Branche ein hoher Anspruch.21 In der Erzählung geht Leo Farolo jedoch nicht auf die Bezahlung ein, sondern vor allem auf das Arbeitsklima. Er ist sich dessen bewusst, dass er zu seinem guten Arbeitsklima selbst beitragen muss. Ebenso wie in Abschnitt 6.4.3, wo er sich als Gestalter von Frisuren und Mode be21 | Vgl. Abschnitt 2.2.
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schreibt, präsentiert er sich in dieser Passage als Gestalter der Beziehungen in seinem Salon. Diesen Bestandteil seines Alltags beschreibt er, anders als seine Leidenschaft für den Friseurberuf, tatsächlich als Arbeit, als soziale Arbeit. Diese Arbeit scheint ihn anzustrengen. Leo Farolo positioniert sich als Chef und Geschäftsführer, der ein Interesse daran hat, dass es seinen Mitarbeiter_innen in seinem Salon gut geht und der sich dafür engagiert. Er sieht seinen Salon als einen Ort, der sich von anderen in der Branche unterscheidet. „Ja, also, es fehlt grundsätzlich an Menschlichkeit, /Mhm./, das kann man ja auch einfach so sagen, vor allem bei Friseuren, wenn ich mir angucke, wenn du Interviews mit meinen Mitarbeitern führst und die Läden, wo die davor waren […], wie es teilweise mit so viel, immer noch mit Unmenschlichkeit und mit ner harten Peitsche gearbeitet, wo ich mir denke, hey, wir sind im 21. Jahrhundert und die 68er Revolution ist schon längst vorbei, aber die Welt ist eher rückwirkend.“ (641 – 647)
Ähnlich wie er sich als Friseur als Gestalter und Veränderer von Gesellschaft versteht (vgl. Abschnitt 6.4.3), verortet Leo Farolo auch sein Selbstverständis als Chef und Salonbesitzer in einen gesellschaftspolitischen Kontext. Er stellt zunächst grundsätzlich ein Fehlen von Menschlichkeit fest und bezieht das dann noch einmal explizit auf die Friseurbranche. Um dies zu belegen, verweist er auf Erfahrungen seiner Mitarbeiter_innen, die sie von den jeweiligen vorherigen Arbeitsplätzen berichtet haben. Leo Farolo gibt einen hierarchischen, autoritären und fast repressiven Führungsstil wieder, den er ablehnt und für nicht mehr zeitgemäß hält. In seiner Argumentation bezieht er sich allerdings nicht auf Wissen über moderne Führungsstile, sondern auf eine gesellschaftliche Situation nach der „68er Revolution“. Die von dieser „Revolution“ ausgegangenen gesellschaftlichen Veränderungen müssten sich in seinen Augen auch im Führungsstil und im Umgang in den Friseursalons niederschlagen. Leo Farolo integriert seinen Führungsstil und seine Salonkultur in seine grundsätzlich gesellschafts- und hierarchiekritische Haltung. Es wirkt, als wolle er mit seiner Positionierung als menschlicher Chef einen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft leisten und zu mehr Menschlichkeit beitragen. Leo Farolo versteht sich als „der Kapitän auf dem Schiffchen“ (148) und möchte „das kleine Boot so führen, wie ich will und das soll einfach so sozial, so gerecht wie möglich sein“ (694 – 695). Mit dem Bild des „Schiffchens“ oder des „Bootes“ ruft er Assoziationen von stürmischen und ruhigen Gewässern auf, durch die er das „Schiffchen“ sicher lenken muss. Dafür braucht er Kenntnisse über Wind und Wetter und muss – um bei dem Bild zu bleiben – sowohl das Boot als auch die Crew gut kennen. Leo Farolo präsentiert sich jedoch nicht als rauer Kapitän, der in jeder Situation genau weiß, was zu tun ist. Er erzählt
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von „schlaflosen Nächten“ (816) und „Psychologenbesuchen“ (817) zu Beginn der Selbstständigkeit. Damit unterstreicht er die Ernsthaftigkeit, mit der er die Verantwortung als Chef übernehmen will und beschreibt Besuche bei Psycholog_innen nicht als Eingeständnis von Schwäche, sondern als Unterstützung. Damit grenzt sich Leo Farolo in seiner Positionierung von dem männlich codierten Bild des Machers und Chefs ab, ohne dabei seine Entscheidungshoheit und seine Führungsaufgabe in Frage zu stellen oder zu teilen. Leo Farolo illustriert diese Position nicht mit Schilderungen konkreter Arbeitsbedingungen oder Rückmeldungen von Mitarbeiter_innen, die ihn in dieser Position bestätigen. Er beschreibt sich selbst als antiautoritär, kritisch und links. Gleichzeitig hat er klare Anforderungen an seine Mitarbeiter_innen, die sich anhand seiner Entscheidung, nicht mehr weiter auszubilden, herausarbeiten lassen. „Ich bilde nicht mehr aus, jetzt habe ich es beendet sozusagen, /Mhm./, meine Aktivität als Ausbilder, /Mhm./, mich schon in den Ruhestand gesetzt, weil das ist nicht 100-prozentig meins. Da bin ich zu emotional für und zu wenig autoritär, und ich habe auch keine Lust, jemanden in den Arsch zu treten, also, /Mhm./, obwohl die meisten im jungen Alter das noch brauchen, und deshalb fühl ich mich selber als ungeeignet dafür, /Mhm./ die anderen machen es nicht besser, aber ich mach dann lieber Erwachsenenbildung, /Mhm./, da wissen sie zumindest, was sie wollen, oder ob sie wirklich Friseure sein wollen. Das Problem gibt es in unserem Berufsbild absolut, also, 90 Prozent der Mädels und Jungs, die anfangen, und, vor allem bei den Mädchen ist es tatsächlich so, dass, wenn sie nicht wissen, was sie wollen, dass sie tatsächlich von den Schulen die Empfehlungen bekommen, ach, werde doch Friseurin […] Das ist absolut kein Beruf, den jeder machen kann oder machen sollte, /Mhm./, also, da ist das Angebot von guten Fachkräften auch nicht wirklich vorhanden, aufgrund auch des Berufsbildes, /Mhm./, es wird einfach nicht ernst genommen, aber man man man geht da rein und das ist tatsächlich ein Beruf, den man mit Leib und Seele machen muss.“ (168 – 185)
Leo Farolo entscheidet sich dagegen, in seinem Salon weiterhin die Möglichkeit anzubieten, einen Beruf zu erlernen. Er könnte es als Teil seines sozialen Selbstverständnisses verstehen, jungen Menschen diese Chance zu geben, er stellt aber für sich fest „das ist nicht meins“. Er beschreibt sich als nicht geeignet dafür, zu erziehen und „jemanden in den Arsch zu treten“, was die jungen Leute in seinen Augen jedoch „brauchen“. Er spricht sich nicht grundsätzlich die Fähigkeit ab, hält sich jedoch für psychisch dazu nicht in der Lage und für „zu wenig autoritär“. Leo Farolos Selbsteinschätzung zufolge hat er keine schlechtere Ausbildung gemacht als andere Friseur_innen, er liest sein Aufhören somit nicht als Scheitern. Vielmehr schreibt er die Verantwortung eher den Auszubildenden zu, die nicht seinen Vorstellungen entsprechen und oftmals „nicht wissen, was sie wollen“. Dies scheint für Leo Farolo allerdings
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eine wesentliche Voraussetzung für sein Engagement als Aus- und Weiterbilder zu sein. Er verschließt sich nicht grundsätzlich der Vorstellung, anderen etwas beizubringen, sieht seine Aufgabe jedoch eher in der „Erwachsenenbildung“, womit er sich auf die Weiterbildung seiner Mitarbeiter_innen bezieht. Er möchte nicht erziehen, sondern mit Menschen zusammenarbeiten, die eine ähnliche Berufsauffassung haben wie er. Leo Farolo stellt seine Erfahrung mit Auszubildenden und deren fehlender Motivation in Zusammenhang mit dem gesellschaftlich vorhandenen Berufsbild des Friseurs. In seinen Augen wird der Friseurberuf „nicht ernst genommen“. Auch in der Berufsberatung wird er als Alternative vor allem Mädchen angeboten, wenn diese keine Idee hinsichtlich ihrer beruflichen Entwicklung haben. Dieses Bild des Friseurberufs entspricht nicht Leo Farolos Verständnis davon. Aus seiner Sicht muss man den Friseurberuf „mit Leib und Seele“ ausüben. In diesem Kontexte entwickelt Leo Farolo aus der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Berufsbild und Selbstbild keinen eigenen Antrieb für Veränderungen. Während er sein eigenes Handeln in den bisherigen Beschreibungen immer wieder in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt und sich die Handlungsmacht zugeschrieben hat, etwas verändern zu können, kommt dieser Aspekt in seiner Beschreibung hier nicht vor. Leo Farolo könnte über die Handwerkskammer oder andere politische Kanäle dieses gesellschaftlich vorhandene Berufsbild kritisieren und auf politischem Weg eine Veränderung versuchen. Dies würde jedoch bedeuten, sich in die formale Struktur des Friseurhandwerks hineinzubegeben und damit als ‚herkömmlicher‘ Friseur adressiert zu werden. Leo Farolo geht diese Wege nicht, sondern beschließt, seine Aktivität als Ausbilder zu beenden. Aus seiner Wahrnehmung der Auszubildenden heraus entsteht bei ihm offenbar der Einruck, als Chef mit Erziehungsaufgaben adressiert zu werden. Diese Adressierung weist er zurück und positioniert sich als antiautoritärer Chef und damit als unvereinbar mit den Anforderungen, die an ihn als Ausbilder gerichtet werden. So plausibilisiert er seine Entscheidung und stellt sich nicht in seinem Sozial- und Liberalsein in Frage. Gleichzeitig lässt sich aus dieser Positionierung der normative Rahmen ableiten, den er für seinen Salon geltend macht. Die Leidenschaft, die er selbst zu dem Beruf entwickelt hat, erwartet er – das macht die eben zitierte Passage deutlich – sowohl von seinen Auszubildenden als auch von seinen Mitarbeiter_innen. Die Formulierung, diese Tätigkeit müsse „mit Leib und Seele“ ausgeübt werden, verweist auf eine Vorstellung von Ganzheitlichkeit, die Leo Farolo an den Beruf heranträgt. Sein Verständnis von Arbeit bezieht sich nicht nur auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt damit zu verdienen. Er erwartet von seinen Mitarbeiter_innen hohes Engagement und hohe Leistungsbereitschaft.
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Als Chef und Unternehmer überträgt Leo Farolo diese Anforderungen, die er zunächst nur an sich richtet, auch auf seine Mitarbeiter_innen und setzt damit praktisch den normativen Rahmen seines Salons. Die dafür notwendige Autorität und Definitionsmacht, die Leo Farolo als Salonbesitzer innehat, bleibt verschleiert hinter der Positionierung als Künstler und antiautoritärer Chef. Er möchte nicht als autoritärer Chef adressiert werden, schließt aber an Diskurse um Entgrenzung und Individualisierung von Erwerbsarbeit an, um die Leistungsbereitschaft seiner Mitarbeiter_innen zu erhöhen. Er appelliert an das, was sie „wollen“ und mit „Leib und Seele“, also sehr gerne, tun. Auch wenn er es selbst nicht so benennt, so positioniert er sich als ‚sozialer Chef‘ seinen Mitarbeiter_innen gegenüber und trotzdem als Gestalter von Machtbeziehungen innerhalb seines Salons.
„Weil man mit 15 in eine komplett hocherotische Welt hineingeschmissen wird“ – Anerkennung und stereotype ‚schwule‘ Männlichkeit Leo Farolo arbeitet als Mann in einem weiblich codierten Berufsfeld. Die geschlechtliche Codierung dieses Berufes thematisiert er in seiner Erzählung nicht. Wie in Abschnitt 6.4.4 gerade ausgeführt, bezieht er sich auf die fehlende Wertschätzung, die seinem Beruf entgegengebracht wird und macht dies daran fest, dass Mädchen, die keine beruflichen Perspektiven haben, zu einer Friseurlehre geraten wird. „Also, es gibt Mädels, die einen total überraschen und, und und im Friseurhandwerk ganz groß sind, /Mhm./, eigentlich ist die Anerkennung der Frauen im Friseurhandwerk so wie bei den Köchen, es sind hauptsächlich die großen Männer, /Mhm./, immer noch, und die, die, die Frauen werden immer noch ein bisschen, /Mhm./, oder es gibt wenig bekannte Frauen, viele bekannte Männer auch in der Politik, im Friseurwesen sieht es auch nicht viel besser aus […], bei Mann und Frau gibt es bei mir keinen Unterschied, /Mhm./, nur in der Hinsicht, dass vielen Mädchen gesagt wird, werde Friseurin was zu den Jungens zum Beispiel werdet, keine Ahnung, was sagt man denn heutzutage, Automechaniker.“ (845 – 855)
Die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen beginnt Leo Farolo mit der Beschreibung einer vertikalen Segregation in seinem Berufsfeld. Auch wenn ihn manchmal „Mädchen“ überraschen, sie also mehr können als er zunächst dachte, sieht er die Anerkennung innerhalb des Berufes zwischen Männern und Frauen ungleich verteilt: Berühmte Friseure, die „mit Namen“, sind oft Männer und selten Frauen. Als Analogie wählt er den Kochberuf, wo er auch Männern mehr Berühmtheit zuspricht. Er lässt allerdings offen, ob er Frauen in diesem Bereich auch als professionelle Köchinnen im Erwerbsfeld
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verortet oder ihnen diese Aufgabe im Reproduktionsbereich zuschreibt. Mit dem Verweis, auch in der Politik sei die Verteilung ähnlich, stellt Leo Farolo die vertikale Segregation in seinem Berufsfeld als gesamtgesellschaftliches Strukturproblem dar. Ähnlich wie bei der Beschreibung des schlechten Ansehens des Berufes in Abschnitt 6.4.4 bleibt Leo Farolo auch hier bei der Feststellung der Ungleichheit. Einen Wunsch, dies zu verändern, formuliert er an dieser Stelle nicht. Er selbst grenzt sich davon ab, indem er postuliert, „bei Mann und Frau gibt es bei mir keinen Unterschied“. Unmittelbar an diese Beschreibung schließt er seine Kritik an der geschlechterdifferenzierenden Praxis der Berufsberatung an. Er sieht also durchaus strukturelle Ursachen für geschlechtliche Zuordnungen, positioniert sich jedoch von diesen scheinbar unabhängig. Wie schon in Abschnitt 6.4.4 ausgeführt, stellt er die Anforderung an Auszubildende und Mitarbeiter_innen, den Beruf mit Leidenschaft auszuüben. Aufgrund der Berufsberatungspraxis sieht er dies bei Mädchen oft nicht gegeben, bei Jungs hingegen schon. „Somit war es eine Entscheidung zum Friseur, wenn man Friseur werden will, als Mann, /Mhm./, war es absolut als Lebensaufgabe oder wirklich […], wenn du dann Friseur werden wolltest, dann war es einfach absolut klar, also Statement, ich will Friseur werden.“ (880 – 884)
In dieser Passage schreibt Leo Farolo der Entscheidung von Männern und Frauen für den Friseurberuf eine unterschiedliche Bedeutung zu. Anders als bei den oben beschriebenen „Mädchen“, die aus Mangel an Alternativen häufig in den Friseurberuf geschickt werden, entscheiden sich in Leo Farolos Augen Männer dann für den Beruf, wenn sie ihn als „Lebensaufgabe“ verstehen. Mit der Berufsentscheidung ist ein „Statement“ verbunden, das die Leidenschaft für den Beruf vermittelt. Auch wenn Leo Farolo es hier nicht explizit ausdrückt, so stellt er einen Zusammenhang zwischen der Überzeugung, die er Männern hinsichtlich der Berufsentscheidung zuschreibt, und der weiblichen Codierung des Berufes her. Der zeitliche Bezug dieser Passage irritiert. Leo Farolo wechselt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Möglicherweise hat er bei der Formulierung dieser als allgemeingültig zu lesenden Einschätzung seine eigene Situation und Motivation vor Augen, die er in diesem Kontext generalisiert. Mit dieser Erzählung bringt Leo Farolo seine Positionierung als leidenschaftlicher Friseur, die ich bereits in den Abschnitten 6.4.3 und 6.4.4 herausgearbeitet habe, in Zusammenhang mit seiner Position als Mann. Gerade weil er sich als Mann für einen weiblich codierten Beruf entschieden hat, müssen seine Überzeugung und seine Leidenschaft für den Beruf, so lässt sich die obige Passage lesen, hoch sein. Leo Farolos Analyse impliziert eine geschlechtliche Codierung von Leidenschaft für den Friseurberuf. Während diese bei
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Frauen zu hinterfragen oder zu verifizieren wäre, scheint sie bei Männern allein aufgrund ihres Geschlechts bereits gegeben. Er konstruiert ein Mehr an Leidenschaft bei Männern im Friseurberuf und rationalisiert damit Ungleichheit zwischen Männern und Frauen im Feld. Wie oben ausgeführt, postuliert Leo Farolo gleichzeitig, bei ihm gebe es keinen Unterschied zwischen Frau und Mann. Aus der privilegierten Position des Mannes im Friseurberuf heraus wird es für ihn möglich, „Unterschiede zwischen Mann und Frau“ und damit geschlechterdifferenzierende Ungleichheiten für nicht existent zu erklären, ohne die eigene Position hinterfragen zu müssen. Mit Verweis auf die mitzubringende Leidenschaft für den Beruf, die er auch von seinen Mitarbeiter_innen einfordert, individualisiert Leo Farolo strukturelle Ungleichheiten und kann seine Position als „sozial und liberal“22 aufrechterhalten. Leo Farolo thematisiert nicht nur seine Position als Mann in einem ‚Frauenberuf‘, sondern auch seine Position als heterosexueller Mann in einem Beruf, der mit homosexuellen Männnlichkeiten verbunden wird. „Als heterosexueller Friseur wirst du tatsächlich komplett in die Ecke gestellt, also ob es jetzt im Betrieb ist, also von überwiegend schwulen Arbeitskollegen ist, ‚ach ein bisschen bi schadet nie‘ oder solche Sachen fallen dann ja immer […]. Also ich finde es gut, das, grundsätzlich, dadurch kann man viel früher und viel schneller mit mehreren Klischees einfach aufräumen und abbauen bei sich selbst, weil man ganz früh irgendwie mit 15 Jahren in eine komplett, äh, hocherotische Welt hineingeschmissen wird.“ (864 – 878)
Leo Farolo thematisiert Begehren in seiner Erzählung in einem rein männlichen Kontext. Er verweist auf seine „schwulen Kollegen“, Kolleginnen kommen in dieser Erzählung nicht vor. Als heterosexueller junger Mann fühlt er sich von seinen Kollegen „in die Ecke gestellt“. Es ist nicht wirklich klar, was er mit diesem räumlichen Bild ausdrücken will. Es entstehen Assoziationen von ‚den anderen ausgesetzt sein‘, ‚auffallen‘ und ‚den anderen nicht entkommen‘. Er erzählt von Erfahrungen mit schwulen Arbeitskollegen, die ihn auf seine Heterosexualität angesprechen und ihn zumindest zur Bisexualität animieren wollen. Leo Farolo erzählt dies, ohne das Gefühl zu vermitteln, diese Erfahrungen seien ihm heute unangenehm oder damals unangenehm gewesen. Er beschreibt seine Lehre und seine Position als heterosexueller Mann im Friseurberuf eher als eine Möglichkeit zu lernen und bei sich „mit Klischees“ aufzuräumen, die er offenbar selbst hatte. Zur Begründung für diesen Lerneffekt bezieht er sich jedoch auf ein eher gängiges Klischee, indem er den schwulen Kollegen zuschreibt, eine „hocherotische Welt“ hergestellt zu haben. Leo Farolo knüpft an die Zuschreibung von Sexualisierung an männliche Homosexu22 | Vgl. Abschnitt 6.4.4.
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alität an, um seine aus seiner Sicht frühe Auseinandersetzung mit Sexualität und Begehren zu unterstreichen. Trotz der Offenheit, die er in seiner Erzählung zu vermitteln versucht, scheint eine heteronorme Perspektive durch. In seiner Erzählung bezieht er sich nur auf seine männlichen Kollegen und dabei vor allem auf diejenigen, die sich als schwul präsentieren. Sehr wahrscheinlich haben in dem Salon auch heterosexuelle Frauen und Männer gearbeitet, so dass es dort auch einen heterosexuellen Kontext gegeben haben muss. Diesen jedoch thematisiert Leo Farolo weder explizit noch schreibt er diesem eine erotische Komponente zu. Damit positioniert er sich in seiner Heterosexualität als selbstverständlich und konstruiert Homosexualität als das ‚Besondere‘. Leo Farolo verortet seine Position als heterosexueller Mann im Friseurberuf zeitlich in die Mitte der 1990er Jahre und beschreibt sich als Ausnahme. Aus dieser Minderheitenposition innerhalb seines beruflichen Umfeldes heraus wäre die Suche nach Anerkennung seines Begehrens im Feld durchaus vorstellbar. Eine solche Erzählung taucht im Interview jedoch nicht auf. Im Gegenteil. Seine Subjektposition des heterosexuellen Mannes dient ihm als Ressource, um seine schwulen Kollegen als Teil einer ‚anderen Welt‘ zu konstruieren, ohne dabei die eigene Position in Frage stellen zu müssen. Leo Farolo wertet seine schwulen Kollegen in seiner Erzählung nicht ab. Er stellt deren ‚andere Welt‘ als Möglichkeit dar, selbst zu lernen und mögliche Vorurteile abzubauen. Dies unterstreicht er mit Erzählungen außerhalb des beruflichen Feldes, wo er sich vor allem in heterosexuellen Kontexten bewegt. „Wenn du sagst, abends, ‚was machst du‘, ‚ich bin Friseur‘, ‚oh bist du schwul‘, war immer die erste Frage, /Und wie war das für dich?/, Ich habe es gut ausgekostet, meist habe ich gesagt, ja, schon, aber ich will es auch mal mit Frauen austesten (lacht), also ich habe alles, aber ich bin ja auch ein, ein, ein keine Ahnung, nach dem zehnten Mal reagierst du einfach, die ersten Male denkst du, nein, bin ich nicht, und sagst, ‚nee‘, ich hab schon alles gebracht. (936 – 941)
Leo Farolo erzählt hier eine in seiner Erfahrung prototypische Situation, in der als Reaktion auf seinen Beruf sofort das gesellschaftliche Bild männlicher Friseure aufgerufen und er als homosexuell adressiert wird. Während er diese Adressierung zunächst zurückweist und das Schwulsein verneint, beginnt er zunehmend, sich daraus einen Spaß zu machen und sich als bisexuell zu positionieren. In diesem Zusammenhang heißt das, „ich will es auch mal mit Frauen probieren“. Anders als in der eben beschriebenen Passage, in der er über die Auseinandersetzung mit Homosexualität in seinem beruflichen Alltag erzählt, erscheint es ihm in einem heterosexuellen Kontext ein Leichtes, sich als bisexuell zu inszenieren.
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Leo Farolo erzählt hier von einer Adressierung, die für ihn nicht zutrifft. Die Gleichung ‚männlicher Friseur = schwuler Mann‘ wird zwar an ihn herangetragen, er erzählt diese Adressierung jedoch nicht als Nicht-Anerkennen seiner Subjektposition des heterosexuellen Mannes. Er präsentiert sich als offen, sich auch als homosexuell adressieren zu lassen und damit mit unterschiedlichen Männlichkeiten zu ‚spielen‘. Das Spielen mit dieser Adressierung wird für ihn zum Ausdruck seiner eigenen Männlichkeit, die er, wie bereits in den Abschnitten 6.4.2 und 6.4.4 der ausgeführt, in Abgrenzung zu den Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit präsentiert.
Anerkennungspraktiken Leo Farolo präsentiert sich als kritisch, politisch und will verändern und gestalten. Diesen Selbstentwurf stellt er in Zusammenhang mit der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Jugoslawien. Leo Farolo ist zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt. Diesen Bruch und die Positionierung als aus dem ehemaligen Jugoslawien kommend und in Deutschland lebend beschreibt er als schwierig. Die Adressierung als ‚aus Jugoslawien kommend‘ lehnt er ab, weil er aufgrund des Bürgerkrieges keinen positiven Bezug mehr zu diesem Land finden kann. Er kann diese Adressierung jedoch auch nicht vollständig zurückweisen, weil er trotz alledem die ersten zehn Jahre seines Lebens dort verbracht hat. Für die Herstellung eines für ihn positiven Bezugs zum ehemaligen Jugoslawien deutet er sein Verständnis von ‚aus Jugoslawien kommend‘ um. Er verweist auf seine kommunistische Großmutter, der er eine wichtige Bedeutung für seine Erziehung und seine Politisierung zuschreibt. Er hat von ihr Werte wie Liberalität und Sozialsein vermittelt bekommen. Der familiale Rahmen wird damit zum Bezugspunkt für die Erzählung seiner Herkunft. Damit überschreibt Leo Farolo den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung des Landes, aus dem kommt. Über die Beziehung zu seiner Großmutter konstruiert Leo Farolo einen familialen Beziehungsraum, den er entnationalisiert und entkulturalisiert. Mit den Werten, auf die er Bezug nimmt, positioniert er sich als anschlussfähig in Deutschland. Über die positive Beschreibung der kommunistischen Großmutter geht er gleichzeitig in kritische Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, in der Kommunismus abgelehnt wird. In seiner Präsentation als Friseur thematisiert Leo Farolo die geringe soziale Wertschätzung seines Berufes überhaupt nicht, sondern positioniert sich im Kontext von Kunst und Kritik. Er beschreibt sich als Künstler und konstruiert den Friseurberuf als einen Bestandteil seiner künstlerischen Identität. Für ihn gehören alle seine Aktivitäten wie Musik, Bildhauerei und Haareschneiden zu seinem Selbstentwurf als Künstler. Der Beruf ist eine Leidenschaft, er ist fasziniert von den Möglichkeiten des Veränderns, denen er gesellschaftliche Dimensionen zuschreibt. Leo Farolo stellt Frisuren in den Rahmen der Mode
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einer Generation, die er verstehen will und an deren Gestaltung er teilhaben möchte. Leo Farolos Positionierung als Friseur erfolgt nahezu ohne Bezug zur Branche. Er nimmt praktisch eine Umdeutung seiner Tätigkeit vor, indem er sie als Kunst versteht. Diese Verschmelzung von Kunst und Beruf führt zu einem beruflichen Selbstverständnis, das an Diskurse um individualisiertes und entgrenztes Arbeiten anschließt. Auch wenn Leo Farolo für die Mitarbeiter_innen in seinem Salon die besten Arbeitsbedingungen schaffen will und sich als antiautoritärer Chef versteht, erwartet er von seinen Mitarbeiter_innen Leidenschaft für den Beruf. Ein Verständnis von Arbeit zum Verdienen des Lebensunterhaltes erscheint ihm fern. Er appelliert an die Motivation der Mitarbeiter_innen und möchte auch nur mit solchen zusammenarbeiten, die seine Leidenschaft für den Beruf teilen. Leo Farolo hat als Mann einen weiblich codierten Beruf gewählt. In seiner Erzählung beschreibt er die im Friseurberuf vorherrschende vertikale Segregation, positioniert sich selbst aber als fortschrittlich, indem er angibt, keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen. Im Zusammenhang mit der Entscheidung für den Beruf sieht er jedoch Unterschiede. Aufgrund der weiblichen Codierung seines Berufes schreibt er Männern eine höhere Überzeugung zu, denn in seinen Augen entscheiden sich Männer nur dann für den Friseurberuf, wenn sie diesen wirklich ausüben wollen. Damit konstruiert Leo Farolo einen Zusammenhang zwischen der Leidenschaft für den Beruf und Geschlecht. Während Frauen diese Leidenschaft erst unter Beweis stellen müssen, unterstellt er diese Männern von vorneherein. Mit Rückgriff auf diesen Begründungszusammenhang legitimiert Leo Farolo die vertikale Segregation, die er beschreibt. Seine privilegierte Position als Mann im Friseurberuf ermöglicht es ihm, Geschlechterdifferenzen und daraus resultierende Ungleichheiten für nicht existent zu erklären, ohne die eigene Position hinterfragen zu müssen. Mit Verweis auf die mitzubringende Leidenschaft für den Beruf, die er auch von seinen Mitarbeiter_innen einfordert, individualisiert Leo Farolo strukturelle Ungleichheiten. Dies ermöglicht ihm, seine Position als „sozial und liberal“ aufrechtzuerhalten und seine Beteiligung an der Herstellung der Geschlechterhierarchie auszublenden. Leo Farolo ist über seinen Beruf mit der Adressierung als ‚homosexuell‘ konfrontiert. In seiner Beschreibung seines Umgangs damit nimmt er im Kontext des Salons nur Bezug auf seine ‚schwulen‘ Kollegen, denen er zuschreibt, ihn zum Ausprobieren von gleichgeschlechtlicher Sexualität zu bewegen. Auch wenn er sich innerhalb des Salons in einer Minderheitenposition beschreibt, erzählt er seine Subjektposition als heterosexueller Mann als nicht in Frage gestellt. Sie dient ihm als Ressource, um seine schwulen Kollegen als Teil einer ‚anderen Welt‘ zu konstruieren. Leo Farolo wertet seine schwulen Kollegen in seiner Erzählung nicht ab, sondern beschreibt deren ‚Welt‘ als Möglichkeit
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für ihn, eigene Vorurteile abzubauen. Über die Selbstbeschreibung als offen, tolerant und bereit für selbstkritische Auseinandersetzungen schreibt sich Leo Farolo einen Männlichkeitsentwurf zu, in den für ihn Heterosexualität zwar nicht in Frage steht, eine klare Abgrenzung von Homosexualität jedoch auch nicht notwendig ist. Die Subjektposition als heterosexueller weißer Mann bleibt trotzdem bestehen und bedarf keiner Anerkennungsanstrengungen. Außerhalb seines beruflichen Alltags bewegt sich Leo Farolo eher in heterosexuellen Kontexten, in denen er nach Bekanntwerden seines Berufs oft ebenfalls als homosexuell adressiert wird. Er klärt sein Gegenüber nicht immer auf, sondern gibt sich teilweise als ‚schwul‘ aus. Das Spielen mit dieser Adressierung wird für ihn zum Ausdruck seiner eigenen Männlichkeit. Leo Farolo grenzt sich in anderen Feldern immer wieder von Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit ab. Er beschreibt sich als Pazifist, als sozialer und liberaler Vorgesetzter, als emotional oder als antiautoritär. Die Möglichkeit des ‚Spielens‘ mit der Adressierung als homosexuell unterstreicht diese Position. Gleichzeitig wird deutlich, dass er dies aus der machtvollen Position des heterosexuellen Mannes heraus tut. Die Adressierung als ‚schwul‘ diskriminiert ihn nicht, weil er aufgrund der Hierarchie zwischen beiden Positionen auf die anerkannte Position des heterosexuellen Mannes zurückgreifen kann.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen Die eben ausgeführten Fallbeschreibungen haben differenzierte Anerkennungspraktiken aufgewiesen. Dies verweist auf die Vielschichtigkeit und Komplexität von Anerkennungspraktiken, die sich bereits in den theoretischen Auseinandersetzungen angedeutet haben. Zudem haben die Positionierungsanalysen der Erzählungen eigenmächtige Praktiken im Kontext von Anerkennung, Hierarchie, Macht und Geschlecht sichtbar werden lassen, die sich allerdings je nach Kontext und Position unterscheiden. In diesem Kapitel werden nun die zentralen Ergebnisse fallübergreifend zusammengetragen und auf die theoretischen Überlegungen bezogen. Zunächst gehe ich in Abschnitt 7.2 auf Anerkennungspraktiken innerhalb hierarchischer Strukturen ein. Konkret beziehe ich mich dabei auf Umgangsweisen mit der geringen sozialen Wertschätzung des Friseurberufs und der Einordnung in niedrige Positionen der Geschlechterhierarchie. Hierarchien zeigen sich nicht nur strukturell, sondern lassen sich auch in Anerkennungsbeziehungen herausarbeiten. Die Frage, wie sich sozialer Status, formalhierarchische Positionen und Geschlechterzugehörigkeiten der Anerkennenden in die jeweiligen Praktiken einschreiben und welche Möglichkeiten eigensinniger Anerkennungspraktiken sich dabei beobachten lassen, führe ich in Abschnitt 7.3 aus. In der Analyse meiner Fragestellung nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung haben sich die beiden Anerkennungssphären Produktion und Reproduktion als wichtige Felder für Positionierungen herausgestellt. Auf das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Sphären fokussiere ich in Abschnitt 7.4 und thematisiere dabei die unterschiedlichen Anerkennungspraktiken, die sich bei Müttern und Vätern zeigen lassen. Auch dabei werde ich auf eigenmächtige Praktiken eingehen. Doch zunächst lässt sich eine zentrale Anerkennungspraxis beschreiben: Anerkennung wird dann nicht thematisiert, wenn die Positionen nicht in Frage stehen.
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S elbst verständlichkeit anerk annter P ositionen In der fallübergreifenden Zusammenschau der Analysen wird offensichtlich, was nicht gesagt wurde und somit nicht Bestandteil der Erzählungen ist. In Bezug auf Anerkennung innerhalb hierarchischer Strukturen lässt sich als ein zentrales Ergebnis festhalten: Gesellschaftliche Anerkennung wird dann nicht erwähnt, wenn sie vorhanden ist. Anerkannte Positionen werden nicht erzählt, sondern wie selbstverständlich vorausgesetzt. Die beiden Chirurg_innen Dagmar Cramer und Carsten Clement thematisieren die soziale Wertschätzung ihres Berufs nicht.1 Berufsbezogene Positionierungen lassen sich aus ihren Erzählungen nur mit Bezug auf berufsinterne Normen und hierarchische Strukturen innerhalb des Feldes herausarbeiten. Carsten Clement erwähnt seine Position als Mann innerhalb des männlichen Berufsfeldes der Chirurgie nicht explizit. Er tut dies erst dann, als seine Männlichkeit in Frage steht. Thematisierungen von Heterosexualität finden in den Selbstpräsentationen ebenfalls nicht statt. Lediglich der Friseur Leo Farolo beschreibt sich explizit als heterosexuell, um sich von dem Bild des ‚schwulen Friseurs‘ abzugrenzen. Dabei steht seine Position als heterosexueller Mann jedoch nicht in Frage. Er erzählt seine Heterosexualität eher als Richtigstellung denn als eine Suche nach Anerkennung. In den anderen drei Fällen lässt sich Heterosexualität zwar aus den Erzählungen der familiären Zusammenhänge schließen, zu einem so benannten Teil der Selbstbeschreibung wird sie jedoch nicht. Gesellschaftliche Anerkennung schafft somit privilegierte Positionen, die den jeweiligen Inhaber_innen als nicht mehr erwähnenswert erscheinen und in den Erzählungen nicht auftauchen. Es werden stattdessen die Positionen Bestandteil der Selbstbeschreibung, die sich als nicht privilegiert bezeichnen lassen.
A nerkennung in H ier archien Vor dem Hintergrund der Selbstverständlichkeit anerkannter Positionen, die ich eben ausgeführt habe, beziehen sich erzählte Anerkennungspraktiken in hierarchischen Strukturen auf den Umgang mit der Zuweisung in weniger privilegierte, hierarchisch niedriger gestellte Positionen. Dies gilt für Friseur_ innen, die in einem Beruf mit geringer sozialer Wertschätzung tätig sind, und 1 | Auch in anderen Interviews mit Chirurg_innen wurde das Prestige des Berufs nicht explizit erwähnt. Es gab durchaus Fälle, die das Streben nach genau diesem Prestige als Motivation für ihre Berufswahl angegeben haben; dieses dann erreicht zu haben, ist jedoch nicht mehr Teil der Erzählungen.
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dies gilt in bestimmten Kontexten für Weiblichkeiten. Auch wenn sich in den jeweiligen Anerkennungspraktiken Unterschiede feststellen lassen, so wird doch eine Gemeinsamkeit offenbar: In den Anerkennungspraktiken wird die Einordnung in hierarchisch niedrige Positionen auf unterschiedliche Weise abgelehnt.
Als Friseur_innen ‚anders‘ – Auf wertende Selbstadressierungen Die beiden Friseur_innen Viktoria Frisch und Leo Farolo beziehen sich in ihren Erzählungen auf das niedrige Prestige ihres Berufes. Dabei taucht weder der Wunsch nach mehr Anerkennung ihres Berufes auf noch beschreiben sie die geringe gesellschaftliche Wertschätzung als illegitim. Im Gegenteil: Beide rufen in ihren Erzählungen selbst ein negatives Bild des Friseurberufs auf, reproduzieren es und grenzen sich davon ab. Viktoria Frisch bezieht sich dabei auf ihre Bildung – sie hat Abitur und ein abgebrochenes Studium – und ihre Verortung in der Künstler_innenszene ihrer Stadt. Sie schreibt ihren Kolleg_innen ein niedriges intellektuelles Niveau zu und ruft einen abwertenden Weiblichkeitsentwurf für diesen Beruf auf, indem sie Frauen für die Zeit der 1980er Jahre, also die Zeit ihrer Ausbildung, handwerkliches Können generell abspricht.2 Sie selbst präsentiert sich als ‚anders‘, als fortschrittlicher und begründet so, warum sie zunächst nicht in dem Beruf weiterarbeiten konnte. Leo Farolo zeichnet das Bild von Salons, in denen patriarchale Führungsstile vorherrschen und distanziert sich von diesen. Mit Bezug auf seine Kindheit im ehemaligen Jugoslawien, der Flucht vor dem Bürgerkrieg und der Sozialisation durch seine kommunistische Großmutter entwirft er sich als politisch und gesellschaftskritisch.3 Zudem präsentiert er sich als Künstler und bezeichnet seine Friseurtätigkeit als eine der ‚Künste‘, die er neben Malerei, Bilderhauerei und Musik betreibt.4 Vor diesem Hintergrund beschreibt er die Friseurbranche in Deutschland als wenig innovativ und experimentierfreudig. Er selbst präsentiert sich als das genaue Gegenteil davon. Er will schöpfen, sich an der Gestaltung der Mode einer Generation beteiligen und dabei nicht nur auf Mainstream und Konsum setzen. Beide Friseur_innen weisen also die Zuordnung in das Bild von ‚typischen‘ Friseur_innen zurück. Dabei finden sich in ihren Erzählungen jeweils keine Beschreibungen, aus denen sich entsprechende Adressierungen konkreter Personen oder Personengruppen zuordnen lassen. Die Adressierung erfolgt über das negative Bild des Friseurberufs, das die beiden zunächst an sich selbst 2 | Vgl. Abschnitt 6.2.3. 3 | Vgl. Abschnitt 6.4.2. 4 | Vgl. Abschnitt 6.4.3.
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als Personen, die diesen Beruf ausüben, richten. Sie adressieren sich mit bestimmten Aspekten, die sie diesem negativen Bild zuordnen, und konstruieren ihren beruflichen Selbstentwurf in Abgrenzung dazu. Leo Farolo und Viktoria Frisch beziehen sich in ihrer Abgrenzung auf Attributionen, die mehr gesellschaftliche Anerkennung genießen – Bildung und Kunst – und ‚reichern‘ ihr berufliches Selbstbild damit ‚an‘. Damit eignen sie sich ein Berufsbild an, das ihnen Möglichkeiten der Distinktion und des Anschließens bietet. Viktoria Frisch sieht dann, als sie sich doch für den Friseurberuf entscheidet, andere Friseur_innen, die ihren Vorstellungen entsprechen und an denen sie sich orientieren kann. Leo Farolo bezieht sich auf Idole wie Vidal Sassoon oder Friseure in England. Die Heterogenität der Position ‚Friseur_in‘ ermöglicht multiple Deutungen und eröffnet damit Anschlussstellen für eigenmächtige Anerkennungspraktiken. Hier besteht ein Zusammenhang mit der im Vergleich zur Chirurgie geringen formalen Standardisierung des Friseurberufs. Das Berufsfeld der Chirurgie lässt sich als in hohem Maß professionalisiert beschreiben. Es gib eine Aus- und Weiterbildungsordnung, die eine mehrere Jahre dauernde akademische und praktische Ausbildung vorschreibt.5 Die Arbeit in den Kliniken ist stark formalisiert und hierarchisch organisiert. Daraus ergibt sich ein enger normativer Rahmen, innerhalb dessen Chirurg_innen agieren und innerhalb dessen Anerkennungspraktiken stattfinden. Dies trifft für die Friseurbranche nicht zu. Es existieren, abgesehen von der Berufsausbildung und der freiwilligen Meister-Weiterbildung, relativ wenig formale Vorgaben. Die Arbeitsorganisation liegt in der Hand der Salonbetreiber_innen.6 Aus dieser vergleichsweise geringen Strukturierung des Berufsfeldes Friseurhandwerk und der daraus resultierenden Gestaltungsfreiheit, ergeben sich die eben beschriebenen aufwertenden Anerkennungspraktiken. Auch wenn darüber ein im Vergleich zum gesellschaftlichen Bild des Friseurberuf positiverer Selbstbezug ermöglicht wird, so wird die sozialstrukturell niedrige Position gleichzeitig verschleiert. Weder Viktoria Frisch noch Leo Farolo beziehen den niedrigen sozialen Status, den sie gesellschaftlich zugewiesen bekommen, auf sich. Die hierarchische Struktur besteht jedoch weiter. Leo Farolo und Viktoria Frisch stellen mit ihren Anerkennungspraktiken, die sich im Umgang mit der geringen sozialen Wertschätzung ihres Berufes herausarbeiten lassen, diese ungleichheitsrelevante Struktur nicht in Frage. Täten sie dies, müssten sie sowohl die hierarchische Struktur selbst als auch ihre niedrige Position darin anerkennen. Dies nicht zu tun, sondern die niedrige soziale Wertschätzung nicht auf sich zu beziehen, beschreibt eine Anerkennungspraxis, die sich auch
5 | Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 2.1. 6 | Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 2.2.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
im Zusammenhang mit Geschlechterhierarchien im Umgang mit Weiblichkeiten zeigen lässt.
Weiblichkeiten gegen Weiblichkeiten – Auf wertende Umdeutungen Dagmar Cramer befindet sich in ihrer Erzählung als Frau in der Chirurgie auf einer Gratwanderung zwischen der Selbstbeschreibung als ‚Frau‘ und ‚anders als Männer‘ sowie als ‚gar nicht anders als Männer‘ trotz ihrer Position als ‚Frau‘.7 Der Bezugsrahmen dafür ist ambivalent. Einerseits wünscht sie sich mehr Netzwerke von Frauen und erlebt das Verhalten ihrer männlichen Kollegen als ausschließend. Andererseits konstruiert sie sich als geeignet für diesen Beruf, indem sie sich von weiblichen Verhaltensweisen, die sie stereotyp abwertend beschreibt, abgrenzt. Sie ruft das Bild des ‚Gezickes‘ auf und verweist auf Erfahrungen aus ihrem früheren Beruf der Krankenschwester, in dem sie fast ausschließlich mit Frauen gearbeitet hat. Für ihre Positionierung konstruiert sie somit Weiblichkeiten, von denen sie sich abgrenzt. Dies verweist auf die Ambivalenz in der Bezugnahme auf Weiblichkeiten. In der Herstellung von Weiblichkeit orientieren sich Frauen an bestimmten Weiblichkeiten und grenzen sich von anderen, die sie als ablehnenswert erachten, ab (vgl. BeckerSchmidt 1995). Hier werden negativ besetzte Weiblichkeiten als Abgrenzungsfolie aufgerufen, um sich selbst als ‚anders weiblich‘ zu positionieren. Dagmar Cramer beschreibt zwar Verhaltensweisen ihrer Kollegen als männlich und deswegen ausschließend, sie selbst sieht sich jedoch nicht qua Geschlechterzuschreibung ausgeschlossen. Mit Bezug auf ihre Geschichte und die Tatsache, dass sie sich gegen den Willen ihrer Eltern ihr Studium erkämpfen musste, erzählt sie sich als ‚Einzelkämpferin‘ und damit als geübt darin, sich für ihre Belange und Interessen einzusetzen. Dieses ‚Kämpfenmüssen‘ beschreibt Dagmar Cramer nicht als eine Notwendigkeit, die sich aus dem ausschließenden Verhalten ihrer männlichen Kollegen ergibt. Sie codiert dieses Kämpfen als ‚männlich‘ und beschreibt sich damit als geeignete Frau für das Arbeiten in einem männlich codierten Beruf. Dagmar Cramer lehnt die Einnahme der Position einer Frau, die sich ihre Interessen innerhalb von Geschlechterhierarchien erstreiten muss, ab. Damit übernimmt sie keine Token-Position (vgl. Kanter 1977; Williams 1991), sondern konstruiert sich als ebenbürtig zu ihren männlichen Kollegen. Dagmar Cramers Anerkennungspraxis beschreibt eine Form des doing gender. Die geschlechtliche Codierung von Verhaltensweisen dient hier dazu, Unterschiede zu minimieren, um sich selbst als gleichwertig zu positionieren. Damit lässet sich doing gender als Anerkennungspraxis rekonstruieren. Das Umdeuten des ‚Kämpfenmüssens‘ als Verhaltensweise, die nicht aus einer Benachteiligung heraus resultiert, son7 | Vgl. Abschnitt 6.1.5.
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dern als selbstverständlich für alle im Feld gilt, wirkt zudem verändernd auf die Vorstellungen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten im Feld zurück. Anders als Dagmar Cramer arbeitet Viktoria Frisch in einem weiblich codierten Beruf. Ihre Aushandlungen von Weiblichkeit finden vor allem in Abgrenzung zu dem weiblich codierten und negativ angesehen Bild der Friseurin statt.8 Dabei nimmt sie eine zeitliche Differenzierung vor. Für die Zeit der 1980er Jahre, als sie ihre Ausbildung in diesem Berufsfeld absolviert hat, grenzt sie sich von ihrer Deutung des mit dem Friseurberuf damals verbundenen Weiblichkeitsentwurfs ab. Diesen verhandelt sie auf zwei Ebenen: Sie spricht Frauen in dieser Zeit handwerkliche Fähigkeiten ab, indem sie feststellt, es hätte keine guten Friseurinnen gegeben. Gleichzeitig schreibt sie ihnen persönliche Schwächen zu, denn es gab in ihrer Wahrnehmungen keine Frauen, die ihr entsprochen hätten. Von beidem grenzt sie sich ab und positioniert sich mit Bezug auf die gesellschaftlich höher geschätzten Bereiche Bildung und Kunst9 als ‚anders‘. In Abgrenzung zu negativ besetzten Weiblichkeitsentwürfen weist Viktoria Frisch die Zuordnung in diese doppelt gering geschätzte Position als ‚diese Art von Friseurin‘ zurück. Damit lehnt auch sie es ab, eine unterlegene Position in der Geschlechterhierarchie einzunehmen. Da sich Viktoria Frisch nicht außerhalb des Feldes positioniert, wirkt ihre selbstaufwertende Beschreibung verändernd auf das Bild der Friseurin ein. Zum Zeitpunkt des Interviews beschreibt sie sich als Friseurin aus Leidenschaft. Sie hat einen Weg gefunden, trotz des negativen Bildes von Friseurinnen in dem Beruf arbeiten zu können. Sie verweist diesbezüglich auf Kolleginnen, die wie sie ebenfalls ‚anders‘ sind. Aus der in Abschnitt 7.2.1 herausgearbeiteten Heterogenität von Deutungen der Position Friseur_in lässt sich hier eine Heterogenität von Deutungen der Position Friseurin ableiten. Viktoria Frisch findet andere Friseurinnen, an die sie anschließen und über die sie sich im Friseurhandwerk positionieren kann.
Selbstaufwertung und Ausblenden hierarchischer Strukturen Die beiden eben beschriebenen Anerkennungspraktiken finden zwar in unterschiedlichen hierarchischen Kontexten statt, beschreiben aber eine Gemeinsamkeit, die für die theoretische Diskussion von Anerkennung relevant ist. Sowohl die Umgangsweise mit der geringen sozialen Wertschätzung des Friseurberufs als auch der Umgang mit hierarchisch niedrigeren Positionierungen in der Geschlechterhierarchie zeigt: In beiden Kontexten werden hierarchisch niedrige Position zurückgewiesen. In beiden Kontexten finden sich Anerkennungspraktiken, über die ein ‚anders als‘ in Abgrenzung zu geringge8 | Vgl. Abschnitt 6.2.3. 9 | Vgl. Abschnitt 7.2.1.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
schätzten Positionen oder ein ‚genauso wie‘ in Bezug auf anerkannte Positionen konstruiert wird. Es zeigen sich also Selbstbeschreibungen, die sich nicht auf eine hierarchisch niedrige Position der Schwäche beziehen, sondern über eigensinnige Selbstaufwertungen Stärke generieren. Gleichzeitig werden Geschlechterhierarchien und Prestigehierarchien als ungleichheitsrelevante Strukturen ausgeblendet. Würden diese anerkannt, müsste die Zuweisung in hierarchisch schlechter gestellte Positionen ebenfalls anerkannt werden. Anerkennungspraktiken setzen also nicht unbedingt die Anerkennung des zugrunde liegenden normativen Rahmens voraus, wie Gabriele Wagner (2004) das in ihrer theoretischen Analyse von Anerkennungsprozessen formuliert.10 Im Gegenteil: Die jeweilige hierarchische Struktur wird als solche ausgeblendet und als nicht relevant für Anerkennungspraktiken angesehen. Genau darüber wird ermöglicht, sich aufwertend zu positionieren. Beide Frauen bestätigen Geschlechterhierarchien, indem sie sich in Abgrenzung darauf beziehen. Analog bestätigen beide Friseur_innen das negative Berufsbild, von dem sie sich distanzieren. Über diese Anerkennungspraktiken finden gleichzeitig Veränderungen innerhalb dieser Hierarchien statt, denn die für die Abgrenzung notwendigen Umdeutungen fließen in die Aushandlungen der Geschlechterbeziehungen und des Berufsbildes zurück. Somit lässt sich von einer performativen Reproduktion der Hierarchien sprechen. Hierarchien werden mit diesen Anerkennungspraktiken nicht überwunden, also nicht transformiert, sondern verändernd bestätigt. Die Hierarchien bleiben als ungleichheitsrelevante Struktur bestehen.
A nerkennungsbeziehungen – sozial verorte te A nerkennende Für die Analyse von Anerkennungspraktiken in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung spielen Anerkennende eine wichtige Rolle. Die Frage, wie sich soziale Wertschätzung vermittelt, wer sie vermittelt und welche Bedeutung dabei Hierarchien in Anerkennungsbeziehungen zukommt, habe ich für die theoretische Konzeption von Anerkennungspraktiken als bedeutsam herausgearbeitet.11 Wie die Analysen gezeigt haben, werden über deren sozialen Status, deren Geschlecht und deren formalhierarchische Stellung Macht- und Hierarchiebeziehungen in Anerkennungspraktiken strukturiert. Gleichzeitig sind mit der entgegengebrachten Anerkennung von unterschiedlich positionierten Anerkennenden unterschiedliche Subjektpositionen verbunden. 10 | Vgl. ausführlich Abschnitt 4.1. 11 | Vgl. ausführlich Abschnitt 4.2.
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Vorgesetzte oder Patient _innen – Kompensation von Anerkennenden Für die beiden Fälle der Chirurgie lassen sich aus den Erzählungen Vorgesetzte, Kolleg_innen und Patient_innen als Adressierende herausarbeiten. Carsten Clement präsentiert sich als kompetenter Chirurg. Für diese Positionierung im Feld bezieht er sich vor allem auf seine Vorgesetzten, die für ihn medizinische Kompetenz repräsentieren und denen er so die Möglichkeit zuspricht, auch ihn als kompetent zu adressieren. Im Gegensatz dazu macht Dagmar Cramer Vorgesetzte für ihre Positionierung als Chirurgin nicht relevant. In ihrer Erzählung tauchen sie so gut wie nicht auf. Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang ausschließlich auf ihre Patient_innen. Der Bezug auf die Patient_innen ist verbunden und passend mit ihrem Selbstbild als Ärztin, das sich aus ihrer sozialen Herkunft ableiten lässt. Patient_innen repräsentieren das Hilfesuchen und adressieren Dagmar Cramer somit als das, was ihrem Selbstbild im Beruf entspricht. Sie konstruiert ihre Patient_innen als „normale Leute von der Straße“12 und stellt damit heraus, sich nicht als ‚was Besseres‘13 zu verstehen. Sie fokussiert ihr berufliches Selbstverständnis auf ‚Helfen‘ und ‚Heilen‘ und nennt Aufstiegsinteressen nicht als Motivation für das Ergreifen eines Berufs. Dies entspricht der Erzählung von Töchtern aus Arbeiterfamilien in der Medizin (vgl. Rohleder 1992). Dieser Fallvergleich zeigt die Reflexivität von Positionierung und Anerkennenden. Dieses Ergebnis ergänzt die Ausführungen von Gabriele Wagner (2004) und Ute Fischer (2009), die beide auf die Reflexivität von Anerkennungsprozessen hinweisen.14 Dabei beziehen sie sich allerdings auf die Reflexivität von Anerkennung und den der Anerkennung zugrunde liegenden Normen und argumentieren, über Anerkennung würden diese Normen reproduziert und verändert. Hier zeigt sich Reflexivität auch in Bezug auf Anerkennende. Beide Chirurg_innen beziehen sich auf die Anerkennenden, von denen sie entsprechend ihres beruflichen Selbstbildes adressiert werden und die für sie den entsprechenden normativen Rahmen repräsentieren. Dieses Selbstbild wird von den Anerkennenden jeweils bestätigt.15 Mit den Adressierungen sind unterschiedliche Formen von Anerkennung verbunden. Dies zeigt sich im Fall Dagmar Cramer. Sie beschreibt sich hinsichtlich der Karriereorientierung widersprüchlich. Sie weiß, mit ihrer Erfah12 | Vgl. Abschnitt 6.1.3. 13 | Dagmar Cramer wird von ihren Eltern mit dem latenten Vorwurf adressiert, „Du glaubst ja, Du bist was Besseres“ (vgl. Abschnitt 6.1.2). 14 | Vgl. ausführlicher Abschnitt 4.1. 15 | Dies wird noch einmal bei der Konstruktion von Anderen deutlich, die ich in Abschnitt 7.3.3 ausführen werde.
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rung müsste sie bereits Oberärztin sein. Ihr fehlen dafür jedoch die Voraussetzungen. Sie begründet mit ihrer sozialen Herkunft, in der Chirurgie übliche Wege nicht gegangen zu sein. Zudem macht sie in diesem Zusammenhang habituelle Grenzen relevant. Sie ist sich auch nicht sicher, ob sie in der Hierarchie tatsächlich weiter nach oben kommen möchte.16 Vorgesetzte repräsentieren für Dagmar Cramer das, was sie nicht erreicht hat und von dem sie nicht sicher ist, ob sie es erreichen möchte. Würde sie sich ebenso wie Carsten Clement auf diese beziehen, käme sie stärker unter Druck, sich entsprechend der berufsinternen Karrierenormen zu verhalten. Gleichzeitig ist die Anerkennung von Patient_innen für ein Aufsteigen innerhalb der Klinikhierarchie nicht bedeutsam. Dafür sind die Vorgesetzten ausschlaggebend. Dagmar Cramers Hinwendung zur Anerkennung durch die Patient_innen kann als Kompensation einer erwarteten Abwertung durch ihre Vorgesetzten verstanden werden. Die Entscheidung für Anerkennende bekommt somit hierarchierelevanten Charakter. Die Anerkennung der Vorgesetzten hat aufgrund ihrer formalhierarchischen Position im Feld und der damit verbundenen Macht eine größere Bedeutung für Aufstieg in der Hierarchie als die von Patient_innen. Die Entscheidung, auf welche Adressierende Bezug genommen wird, beinhaltet einen eigenmächtigen Anteil. Dagmar Cramer entscheidet sich für die Fokussierung auf Patient_innen. Damit positioniert sie sich zwar nicht mehr als aufstrebende Chirurgin, aber weiterhin als Chirurgin. Gerade weil diese Fokussierung auf Patient_innen für sie verbindbar ist mit ihrer sozialen Herkunft und mit der weiblichen Codierung von ‚Helfen‘ und ‚Heilen‘, schreibt Dagmar Cramer dieser subjektiven Sinn zu. Damit lässt sich zeigen, dass erwartete Abwertung mit der Anerkennung durch andere kompensiert werden kann. Gleiches gilt für erlebte Abwertungserfahrungen. Carsten Clement erzählt von einer massiven Infragestellung seitens eines Vorgesetzten im Zusammenhang mit seiner Entscheidung, in Elternzeit gehen zu wollen. Er kompensiert die Abwertung dieses Vorgesetzten mit der Anerkennung eines anderen Vorgesetzten. Diesem schreibt er gleichzeitig mehr Führungskompetenz zu. Carsten Clements Anerkennungspraxis unterscheidet sich von Dagmar Cramers. Dagmar Cramer bezieht sich auf zwei unterschiedliche Gruppen von Akteur_innen, die innerhalb der Klinikhierarchie nicht dieselbe Stellung haben. Carsten Clement wechselt Vorgesetzte
16 | Mit der Unsicherheit, ob sie Oberärztin werden will, schließt sie an das gängige Argument an, Frauen seien weniger in Führungspositionen vertreten, weil sie es selbst nicht wollten. In dieser Argumentation werden strukturelle Gründe, die Karrierechancen von Frauen verschlechtern, ausgeblendet und die Verantwortung dafür individualisiert an die Frauen übertragen (vgl. Allmendinger 2011; Dressel und Wanger 2008; Villa und Hark 2011).
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und bleibt auf derselben Hierarchiestufe. Diese Anerkennungspraxis hat keine Konsequenzen für seine Positionierung innerhalb der Klinikhierarchie. Die eigensinnige Möglichkeit, Abwertung in einem Feld mit Anerkennung in einem anderen Feld zu kompensieren, wie sie von Gabriele Wagner (2004) formuliert wurde17, lässt sich somit ergänzen: Auch innerhalb desselben Feldes lassen sich kompensierende Anerkennungspraktiken feststellen und zwar zwischen unterschiedlichen Anerkennenden beziehungsweise unterschiedlichen Gruppen von Anerkennenden. Dabei werden Hierarchien relevant. Ebenso wie Anerkennungsfelder in hierarchischem Verhältnis zueinander stehen und somit kompensatorische Anerkennungsprozesse Hierarchien generieren, lässt sich dies auch für Anerkennende diskutieren. Anerkennende repräsentieren unterschiedliche Status, im Feld der Chirurgie auch unterschiedliche formalhierarchische Positionen. Die Kompensation von Anerkennenden hat somit ebenfalls hierarchische Zuordnungen zur Folge. Anerkennungen haben unterschiedliches Gewicht, weil mit formalen Positionen Macht verbunden ist. Während Patient_innen Ärzt_innen als ‚Helfende‘ und ‚Heilende‘ adressieren und sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, besitzen Vorgesetzte Entscheidungsmacht über das berufliche Fortkommen ihrer Mitarbeiter_innen, so dass deren Adressierung mehr Gewicht besitzt.
Patient _innen und Patient _innen – dieselben Anderen, andere Anerkennung Auch wenn in dem gerade beschriebenen Abschnitt die Art der Adressierung durch die jeweiligen Anerkennenden als eindeutig dargestellt wurde, bedeutet dies nicht, dass diesen Personengruppen nur diese eine Anerkennungsmöglichkeit zukommt. Während Dagmar Cramer ihre Patient_innen für ihre Positionierung als Ärztin und Chirurgin relevant macht, stellt sich ihre Beziehung zu ihnen im Kontext mit Geschlechteraushandlungen vollkommen anders dar. Dagmar Cramer berichtet von Missachtungen durch Patient_innen. Sie wird von ihnen überhaupt nicht als Chirurgin angesprochen, sondern als Krankenschwester oder wird neben ihren männlichen Kollegen nicht einmal wahrgenommen.18 Die Patient_innen sprechen ihr als Frau somit die Position der behandelnen Chirurgin ab. Dagmar Cramer deutet dies jedoch weder als ein Infragestellen ihrer Weiblichkeit noch ihrer fachlichen Kompetenz. Sie gibt diesen Patient_innen nicht die Macht, ihr die Position Chirurgin abzusprechen. Unabhängig vom Geschlecht oder sozialen Status ihrer Patient_innen konstruiert sie diese als homogene Gruppe, denen sie zuschreibt, sie bräuchten einen Mann als Chirurgen. 17 | Vgl. ausführlich Abschnitt 4.1. 18 | Vgl. Abschnitt 6.1.4.
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Das Zurückweisen der Missachtung gelingt Dagmar Cramer, weil sie sich auf genau die Position bezieht, die ihr von den Patient_innen abgesprochen wird. Als Chirurgin und behandelnde Ärztin nimmt sie über das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die Patient_innen zu ihr befinden, eine hierarchisch höhergestellte Position ein, aus der heraus sie die Missachtung als Frau in der Chirurgie zurückweist. Hier zeigt sich, dass Weiblichkeit verbunden mit anderen sozialen Merkmalen zu einer größeren Vielschichtigkeit von Machtverhältnissen in Geschlechteraushandlungen führt (Messerschmidt 2012: 38 ff.). Diese Machtverhältnisse werden relevant für Anerkennungspraktiken, denn Dagmar Cramer weist die Missachtung der Patient_innen unabhängig von deren Geschlecht oder sozialem Status zurück. Gleichzeitig weist dieses Ergebnis auf die unterschiedliche Bedeutung hin, die Patient_innen innerhalb eines Feldes für Anerkennungspraktiken zukommt. Während Dagmar Cramer sich positiv auf Patient_innen bezieht, um sich als helfende Ärztin zu positionieren, schreibt sie ihnen für ihre Anerkennung als Frau in der Chirurgie keine Bedeutung zu. Dieselben Anerkennenden innerhalb eines Feldes können also verschiedene Adressierungen äußern und damit unterschiedliche Anerkennung und Anerkennungspraktiken generieren.
Suche nach Anerkennung als Friseur_in – Konstruktion von Anerkennenden In der Chirurgie haben sich Akteur_innen in Anerkennungsbeziehungen und deren jeweilige Position innerhalb der formalhierarchischen Organisation der Klinik klar benennen lassen. Diese Struktur findet sich im Friseurhandwerk nicht. Für die in Abschnitt 7.2.1 herausgearbeitete Selbstaufwertung von Friseur_innen spielen Kund_innen eine wichtige Rolle. Auch bei ihnen wird ihre soziale Verortung relevant. Im Friseurhandwerk zeigt sich eine reflexive Beziehung zwischen Friseur_innen und Kund_innen, denn die Kund_innen werden als bestimmte Kund_innen unter Marktbedingungen adressiert. Dafür stellt der Salon eine Art Medium dar. Friseur_innen bringen mit der Salongestaltung ihr berufliches Selbstbild zum Ausdruck und adressieren damit eine bestimmte Gruppe von Kund_innen. Über die Gestaltung des Salons wird das berufliche Selbstverständnis ebenso vermittelt wie über die Abläufe innerhalb des Salons.19 Damit findet über die Salongestaltung eine Form der Identitätsarbeit für Friseur_innen statt (Braun 2010: 143; Holtgrewe 2004: 75). Dies bestätigen Kund_innen über ihr Kommen. Sie beziehen sich damit nicht nur auf die handwerklichen Fähig19 | Dies geschieht beispielsweise darüber, ob es fahrbare Waschbecken gibt, die Haarwäsche eine Kopfmassage enthält oder ob Kund_innen Kaffee bekommen.
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keiten der jeweiligen Friseur_innen und die Qualität der verkauften Leistung, sondern auch auf die jeweilige Selbstdarstellung der Friseur_innen. Über diese Gleichzeitigkeit von Salongestaltung und Selbstpräsentation der Friseur_innen werden Kund_innen zu wichtigen Akteur_innen der Anerkennung über die ökonomische Perspektive hinaus. Da Friseur_innen „sich selbst im Spiegel durch die Sicht Anderer erfahren und verstehen“ (Braun 2010: 144), werden Anerkennungspraktiken in Bezug auf Kund_innen zum Bestandteil des Arbeitsalltags. In den Erzählungen von Leo Farolo und Viktoria Frisch werden die Anstrengungen und Konstruktionsleistungen deutlich, mit denen sich beide ihrer beruflichen Selbstentwürfe vergewissern. Sowohl Leo Farolo als auch Viktoria Frisch erzählen die Gestaltung ihres Salons als Ausdruck ihrer selbst. Beide verweisen auf den Selbstverwirklichungsdiskurs und auf die Leidenschaft, die sie in den Beruf einbringen und der sich in ihrem Salon wiederfindet. Viktoria Frischs berufliches Selbstbild ist das einer gebildeten, intellektuellen Künstlerin. Für dessen Bestätigung sucht sie Anerkennung beziehungsweise sucht sie Anerkennende, die sie entsprechend adressieren. Viktoria Frisch konstruiert ihre Kund_innen als interessant und gebildet. Eine ähnliche Dynamik zeigt Leo Farolos Erzählung. Anders als Viktoria Frisch schreibt er seinen Kund_innen keine sozialen Attributionen zu, die ihn selbst aufwerten. Er möchte verändern, revolutionieren und nicht den Regeln der Branche folgen. Entsprechend konstruiert er seine Kund_innen als normal und nennt sie, hier eine Analogie zu Dagmar Cramer, „einfache Leute von der Straße“20. Er schreibt seinen Kund_innen dieses Attribut zu und präsentiert sich über deren Adressierung als revolutionärer Künstler mit Basisbezug. Sowohl Leo Farolo als auch Viktoria Frisch konstruieren ihre Kund_innen als homogene Gruppe, deren Anerkennung sie in ihrem beruflichen Selbstbildes bestätigt. Sie stellen zwischen ihrem Selbstentwurf und den Kund_innen eine Gemeinsamkeit und eine Gleichrangigkeit her. Auf diesen Aspekt der Kund_innenbeziehung von Friseur_innen hat auch Ursula Holtgrewe hingewiesen (2004: 78). Über das Anschließen an gesellschaftlich höher angesehene Bereiche in den Konstruktionen – in den hier analysierten Fällen sind das Bildung und Kunst – wird eine Distinktion zum gesellschaftlichen Bild des Friseurberufs und eine Aufwertung der eigenen Subjektposition ‚Friseur_in‘ möglich. Diese wird über die entsprechenden Zuschreibungen an Kund_innen bestätigt. Dies verweist erneut auf die Reflexivität zwischen den Anerkennenden und der jeweiligen Positionierung, auf die ich schon in Abschnitt 7.3.1 eingegangen bin.
20 | Vgl. Abschnitt 6.4.3.
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Suche nach Anerkennung von Männlichkeiten – der vergeschlechtlichte Andere Neben sozialem Status oder formalhierarchischer Position zeigt sich in den Ergebnissen der empirischen Analyse zudem die Bedeutung der geschlechtlichen Zugehörigkeit der Adressierenden. Carsten Clement sieht mit der Entscheidung, in Elternzeit zu gehen, nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Männlichkeit gefährdet.21 In diesem Zusammenhang wird relevant, mit welchen Männlichkeitszuschreibungen er von wem adressiert wird. Er bezieht sich auf männliche Kollegen, die für ihn die Männlichkeit repräsentieren, in der er trotz der Entscheidung, in der Elternzeit zu gehen, bestätigt werden will. Die Begeisterung seiner Kolleginnen, weil er in Elternzeit gegangen ist, spielt für Carsten Clement keine große Rolle. Dies verweist auf die Ausführungen hinsichtlich der Relevanz der Bestätigung von Männlichkeit in homosozialen Räumen (vgl. Bourdieu 2005; Meuser 2001, 2006).22 Diese Überlegungen lassen sich auf die rekonstruierten Anerkennungspraktiken anwenden. Sowohl Carsten Clements Kollegen als auch seine Kolleginnen adressieren ihn als Mann, jedoch mit unterschiedlichen Männlichkeiten. Er entscheidet eigensinnig, der Adressierung der männlichen Kollegen mehr Bedeutung beizumessen. Auch Leo Farolo bezieht sich hinsichtlich der Herstellung seiner Männlichkeit auf andere Männlichkeiten. Leo Farolo arbeitet in einem weiblich codierten Beruf und könnte seine Position als Mann mit dem Ergreifen des weiblich codierten Berufes durchaus in Frage gestellt sehen. Leo Farolo thematisiert dies jedoch nicht, sondern konstruiert für Männer, die diesen Ωweiblich codierten und sozial wenig wertgeschätzten Beruf ergreifen, eine höhere Überzeugung für und mehr Engagement im Beruf, gerade weil dieser weiblich codiert ist.23 Anders als Carsten Clement, der in einem männlich codierten Berufsfeld Normen vorfindet, an die er für die Herstellung von Männlichkeit anschließen kann und zum Teil muss, konstruiert Leo Farolo ein Männlichkeitsbild für seinen Beruf, mit dem er sich selbst adressiert und über das er sich qua Geschlecht als besser, überzeugter und engagierter als Frauen im Feld positioniert. Damit schließt er an das Muster der hegemonialen Männlichkeit an, für das die Fokussierung auf Erwerbsarbeit eine zentrale Bedeutung hat (vgl. z. B. Scholz 2007). Auch wenn er für sich selbst in Anspruch nimmt, keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen, stellt er über diese Anerkennungspraxis eine geschlechterhierarchische Differenzierung her und
21 | Vgl. Abschnitt 6.3.5. 22 | Vgl. ausführlicher Abschnitt 4.2. 23 | Vgl. Abschnitt 6.4.5.
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orientiert sich an der von ihm vorgenommenen Konstruktion von Männlichkeit innerhalb des Friseurberufs. In der Erzählung präsentiert sich Leo Farolo als heterosexueller Mann. In diesem Zusammenhang macht er die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Bild des ‚schwulen Friseurs‘ relevant. Auch dabei stellen seine Bezugspunkte andere Männer und eine Auseinandersetzung mit anderen Männlichkeiten dar. Im Kontext seines beruflichen Alltags bezieht Leo Farolo seine Erzählung in diesem Zusammenhang ausschließlich auf seine homosexuellen Kollegen. Er grenzt sich von ihnen ab, indem er ihnen eine eigene Welt zuschreibt und sie damit zu ‚Anderen‘ macht. Deren Adressierungen an ihn als ‚wenigstens bi‘ interpretiert er nicht als Aberkennen seiner Subjektposition ‚heterosexueller Mann‘, sondern als Möglichkeit, selbst zu lernen und eigene Stereotype abzubauen. Außerhalb des Salons bewegt sich Leo Farolo in einem heteronormen Umfeld. Auch dort wird er als ‚schwuler Friseur‘ adressiert, was er ebenfalls nicht als Infragestellung deutet. Er behauptet zum Teil sogar, diesem Stereotyp zu entsprechen. Die Position als heterosexueller Mann gibt ihm die Möglichkeit, mit abweichenden Männlichkeiten zu spielen, ohne Abwertungen befürchten zu müssen. Werden Männlichkeiten wie in Raewyn Connels Ansatz der hegemonialen Männlichkeit als relational zueinander verstanden (Connell 1999: 99f.), befindet sich Leo Farolo innerhalb der Männlichkeitshierarchien als heterosexueller Mann in einer höheren Position als seine homosexuellen Kollegen: Er erkennt seine Kollegen zwar an, schreibt ihnen aber nicht die Macht zu, seine Position in Frage zu stellen. Das Spielen mit der Adressierung ‚schwul‘ im heteronormen Kontext wird für ihn zum Ausdruck seiner eigenen Männlichkeit, die er als von der hegemonialen Männlichkeit verschieden präsentiert. Er entwirft sich als Künstler und Pazifist und beschreibt sich als emotional. Damit nimmt er eine Männlichkeit ein, die sich im Anschluss an die Arbeit von Anna Buschmeyer zu Männern im Erzieherberuf als Alternative Männlichkeit bezeichnen lässt (Buschmeyer 2013: 123 ff.). Dieses Männlichkeit generierende Handlungsmuster im Sinne Raewyn Connels (Connell 1999: 99 f.) bezieht sich ebenfalls auf hegemoniale Männlichkeit, lehnt diese jedoch ab und will sie verändern. In diesen Anerkennungsbeziehungen wird trotz des Ablehnens hegemonialer Männlichkeit die machtvolle Position des anerkannten heterosexuellen Mannes deutlich, auf die Leo Farolo zurückgreift. Er spielt mit der Adressierung als ‚schwul‘. Diese diskriminiert ihn nicht, weil er aufgrund der Hierarchie zwischen beiden Männlichkeitspositionen die anerkannte Position des heterosexuellen Mannes bereits innehat. Die Rekonstruktionen der beiden Erzählungen verweisen auf das in Anerkennungspraktiken enthaltene doing masculinity. Dabei wird die Bedeutung vergeschlechtlichter Adressierender in Anerkennungsbeziehungen offenbar. Diese verkörpern unterschiedliche geschlechtliche Zugehörigkeiten und ad-
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ressieren unterschiedliche Männlichkeiten. Welche jeweils von den Adressaten anerkannt und anerkennungsrelevant gedeutet werden, wird zum Bestandteil eigensinniger Anerkennungspraktiken.
P roduk tion und R eproduk tion – K onkurrenz der (B e -)D eutung Aus meiner Fragestellung nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung haben sich die beiden Anerkennungssphären Produktion und Reproduktion als besonders relevant herauskristallisiert. Deswegen stelle ich die Bezugnahme auf diese beiden Sphären in Anerkennungspraktiken hier gesondert dar. Es zeigen sich erwartungsgemäß unterschiedliche Praktiken bei Müttern und Vätern. Während in den Erzählungen von Dagmar Cramer und Viktoria Frisch, die beide Mütter sind, die Selbstbeschreibung als ‚gute Mutter‘ Bedeutung für die Positionierung hat, erzählt sich Carsten Clement als Vater vor allem in Verbindung mit einer Positionierung als fortschrittlicher Mann und Partner.
Aneignungen der ‚guten Mutter‘ – Umdeutungen der Norm Die Anerkennungspraktiken, die sich aus den Erzählungen von Viktoria Frisch und Dagmar Cramer rekonstruieren lassen, weisen Ähnlichkeiten auf: Beide positionieren sich als ‚gute Mutter‘ innerhalb des Diskurs um die ‚gute Mutter‘ und in Orientierung an der Norm der Kleinfamilie mit heterosexuellem Elternpaar. Was sie jeweils unter ‚gute Mutter‘ verstehen, unterscheidet sich allerdings. Der Diskurs um ‚Mutterliebe‘ und die ‚gute Mutter‘ gestaltet sich in Deutschland sehr normativ und deutlich normativer als der über das Vatersein.24 Die Heterogenität dieses Diskurses und das Nebeneinander unterschiedlicher, teilweise widersprüchlicher Anforderungen an Mütter, ermöglicht es den beiden Frauen, subjektive Deutungen dieser Normen zu entwickeln, mit denen sie den Anforderungen innerhalb dieses Diskurses entsprechen. Dagmar Cramer wird aufgrund ihrer Vollzeittätigkeit als ‚Rabenmutter‘ adressiert und weist diese Zuschreibung zurück. Dies tut sie nicht mit Bezug auf einen anderen normativen Rahmen. Im Gegenteil: Sie bezieht sich auf die gesellschaftlich hegemonialen Vorstellungen von Muttersein und nimmt für sich in Anspruch, diese zu erfüllen. Sie verweist nicht auf die wenigen Ressourcen, 24 | Der Diskurs der ‚guten Mutter‘ ist Thema historischer sowie familien- und geschlechtersoziologischer Forschung. Vgl. dazu zum Beispiel (Badinter 1992, 2010; Correll 2010; Mauerer 2002; Schütze 1991; Thiessen und Villa 2009; Toppe 2009).
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die ihr aufgrund ihrer Erwerbsarbeit für die Familie noch bleiben. Sie erzählt sich als Mutter, die für ihre Kinder da ist, die im Notfall ihre Berufstätigkeit aufgeben würde, die ihre Kinder beim Vater in sicheren Händen weiß. Sie ruft andere Mutterbilder auf, etwa das der ‚Glucke‘ und der ‚Karrieremutter‘, und grenzt sich von beiden ab. Ihre Positionierung als berufstätige Mutter erfolgt innerhalb dieser beiden Pole. Damit wertet Dagmar Cramer ihre berufliche Position ab, indem sie ihre berufliche Lauf bahn hin zur Chirurgin nicht als Karriere deutet, sondern als eine Form von Berufstätigkeit. Diese Anerkennungspraxis stellt eine Kompensation zwischen den Feldern Produktion und Reproduktion dar, die der umgekehrten Richtung folgt wie die von Gabriele Wagner (2004) formulierte. Während Gabriele Wagner davon spricht, Abwertung in einem Feld könnte mit Anerkennung in einem anderen Feld kompensiert werden25, zeigt Dagmar Cramers Praxis eine Selbstabwertung in der Erwerbssphäre, um sich in der Reproduktionssphäre als ‚gute Mutter‘ anerkannt zu positionieren. Dies verweist auf die Macht der Norm der ‚guten Mutter‘ für die Positionierung von erwerbstätigen Frauen und Müttern. Dagmar Cramer beschreibt sich zudem als ‚gute Mutter‘, indem sie auf ihre vollständige Kleinfamilie mit heterosexuellen Eltern verweist. Sie grenzt sich von Alleinerziehenden ebenso ab wie von Familien, die finanziell nicht so gut ausgestattet sind wie ihre. Ihre Berufstätigkeit sieht sie als Beitrag zum Wohlergehen ihrer Kinder. Das Zurückweisen der Adressierung als ‚Rabenmutter‘ erfolgt also in Anschluss an genau den Diskurs, der dieser abwertenden Adressierung zugrunde liegt. Dagmar Cramer adressiert sich selbst als ‚gute Mutter‘, die den damit verbundenen normativen Anforderungen gerecht wird. Aus dieser Positionierung heraus weist sie es zurück, als ‚Rabenmutter‘ subjektiviert zu werden. Viktoria Frisch ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Alleinerziehenden wird oft abgesprochen, Erziehungsaufgaben angemessen erfüllen zu können (vgl. z. B. Toppe 2009). Anders als Dagmar Cramer erzählt Viktoria Frisch keine Begebenheiten, in denen ihr das ‚gute Muttersein‘ abgesprochen worden wäre. Sie beschreibt die Beziehung zu ihren Kindern nicht als defizitär und positioniert sich so als ‚gute Mutter‘. Anders als Dagmar Cramer unterstreicht Viktoria Frisch dabei nicht, welche Anforderungen an Muttersein sie erfüllt, sondern verweist auf das Modell der vollständigen Kleinfamilie mit zwei heterosexuellen Eltern als ihre eigene Idealvorstellung. Bei beiden Kindern hätte sie dieses Ideal gerne gelebt, aus unterschiedlichen Gründen war dies nicht möglich. Dies interpretiert Viktoria Frisch nicht als persönliches Scheitern. Über das Festhalten an dem Modell der Kleinfamilie als ihrem Ideal steht für sie ihre Position als ‚gute Mutter‘ nicht in Frage, auch wenn sie mit ihren Kindern nicht in diesem Kleinfamilienkontext lebt. Ähnlich wie bei 25 | Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 4.1.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
Dagmar Cramer zeigt sich hier eine Anerkennungspraxis, mit der mögliche Abwertungen, die sich aus gesellschaftlichen Normen von Muttersein und Familie ableiten, als nicht zutreffend gedeutet werden. Viktoria Frisch bezieht in berufliche Entscheidungen immer wieder die Perspektive ihrer Kinder ein. Sie erzählt zwei Situationen, in denen sie ihre berufliche Entwicklung zugunsten ihrer Kinder zurückstellt.26 Wie sich gezeigt hat, kann die (Selbst-)Adressierung als ‚gute Mutter‘ Entscheidungen gegen eine anerkannte Position im Erwerbsleben plausibilisieren. Dass dies möglich ist, verweist erneut auf die Macht dieser Norm, über die Frauen immer wieder selbstverständlich die Zuständigkeit für den Reproduktionsbereich zugeschrieben wird beziehungsweise über die sie sich diese selbst zuschreiben. In beiden Fällen wird die von der Norm der ‚guten Mutter‘ ausgehende Macht evident, denn für beide ist die Positionierung als solche bedeutsam. Die Vielschichtigkeit des Diskurses um die ‚gute Mutter‘ beinhaltet gleichzeitig Ermächtigungsmomente. In ihren Anerkennungspraktiken nehmen beide Mütter unterschiedliche Deutungen vor, um sich innerhalb des Diskurses als ‚gute Mutter‘ zu positionieren.
Vatersein und Muttersein – die Macht vergeschlechtlichter Arbeitszeit Die Positionierung als Vater erfolgt, wie sich aus dem empirischen Material schließen lässt, ausschließlich in Bezugnahme auf die Produktionssphäre. Carsten Clement thematisiert das Vatersein im Erwerbskontext und zwar im Zusammenhang mit seiner Entscheidung, nach der Geburt seines ersten Kindes für ein Jahr in Elternzeit zu gehen.27 Im Vergleich der Erzählungen der beiden Chirurg_innen Dagmar Cramer und Carsten Clement zeigt sich die Relevanz von Arbeitszeitregelungen für die Positionierung als Mann und Vater beziehungsweise Frau und Mutter im Feld. Dagmar Cramer wird als ‚Rabenmutter‘ adressiert, weil sie Kinder hat und Vollzeit arbeitet. Carsten Clement wiederum stößt mit dem Wunsch, während seiner Elternzeit in Teilzeit weiterzuarbeiten, bei seinem Vorgesetzten auf Wi-
26 | Vgl. Abschnitt 6.2.6. 27 | Die Herstellung eines männlichen Selbstentwurfs, die sich überwiegend aus Erzählungen der Erwerbssphäre speist, schließt an Forschungen zu erzählten Männlichkeiten an (vgl. Scholz 2004). Dies trifft auch auf die Selbstpräsentation von Leo Farolo zu. Da hier Anerkennungspraktiken im Kontext von Produktion und Reproduktion analysiert werden, wird sein Fall nicht relevant, da er keine Familie oder andere Sorgeaufgaben thematisiert hat.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
derstand. Für ihn sieht die berufsinterne Norm vor, entweder Vollzeit in der Klinik zu arbeiten oder gar nicht.28 Die Norm der Vollzeitarbeit in der Chirurgie kann damit nicht geschlechtsneutral gelesen werden. Sie stellt für die Herstellung von Männlichkeit im Berufsfeld der Chirurgie ein wichtiges Moment dar. Über den Wunsch, als Vater Teilzeit zu arbeiten, dringt die weiblich codierte Reproduktionssphäre in die Produktionssphäre ein. Diesem Wunsch von Vorgesetztenseite aus nachzugeben, hieße, Männern und Vätern eine Arbeitszeitform zuzugestehen, die in diesem Feld weiblich codiert ist. Das unterstreicht Dagmar Cramers Erfahrung. Nachdem sie zwei Jahre in Teilzeit gearbeitet hat, die ihr aufgrund ihrer Familiensituation problemlos zugestanden wurde, entscheidet sie, dies nie wieder zu tun. Dagmar Cramer beschreibt diese Zeit als anstrengender als das Arbeiten in Vollzeit, weil zu der Koordinierung von Familie und Beruf noch die Unzufriedenheit im Beruf hinzukommt. Sie geht zurück in die Vollzeitarbeit und erfüllt damit die berufsinterne Norm. Sie tut das jedoch als Frau und Mutter. Entsprechend wird sie von ihren Kolleg_innen als ‚Rabenmutter‘ adressiert. Diese Adressierung stellt nicht nur ihre Subjektposition der ‚guten Mutter‘ in Frage, sondern auch ihre Position als Chirurgin. Dabei werden zwar die beiden Anerkennungsfelder Produktion und Reproduktion relevant. Diese werden jedoch nicht von Dagmar Cramer als Konflikt in die Anerkennungspraxis eingebracht, sondern von ihren Kolleg_innen. Diese verhandeln über Dagmar Cramers Entscheidung für Vollzeittätigkeit gleichzeitig ihre Position als Mutter. Damit werden Grenzen der Anerkennbarkeit (Butler 2003: 63 und Abschnitt 4.3.) relevant gemacht, indem Dagmar Cramer über die Adressierung als ‚Rabenmutter‘ vermittelt wird, dass sie als Frau und Mutter die Position der Vollzeit tätigen Chirurgin nicht ohne Infragestellung anderer Subjektpositionen einnehmen kann. Da Dagmar Cramer diese Adressierung zurückweist und ihre Arbeitszeit nicht verändert, wird die eigenmächtige Anerkennungspraxis, die ich im Kontext der ‚guten Mutter‘ beschrieben habe (vgl. Abschnitt 7.4.1) auch im Anerkennungsfeld der Erwerbssphäre relevant. Die Arbeit in Vollzeit stellt in der Chirurgie eine männlich codierte Norm und damit eine Grundlage für die Herstellung von Geschlechterdifferenzen innerhalb des Klinikalltags dar. Während von Vätern erwartet wird, Vollzeit zu arbeiten, wird dies bei Frauen und Müttern legitmierungsbedürftig. Dies ergänzt die Befunde, wonach Erwerbsarbeit und Berufsorientierung als zentral für die Herstellung männlicher Identitäten gelten (vgl. Scholz 2007, 2008): In einem männlich codierten Berufsfeld wie der Chirurgie, in dem Tätigkeit 28 | Der Satz „Chirurgie muss man Vollzeit machen, das geht gar nicht anders“, tauchte sinngemäß in allen Interviews auf.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
in Vollzeit als Norm gilt, stellt nicht nur die Erwerbsarbeit allein, sondern die Erwerbsarbeit in Vollzeit ein Moment der Herstellung männlicher Identität dar29, unabhängig von der Existenz von Kindern. Dieses Ergebnis erscheint für die Diskussion um die Anerkennung von Frauen in ‚Männerberufen‘ bedeutsam. Verhandelt wird nicht nur, wofür Männer oder Frauen angeblich besser geeignet sind. Mit der hier eingenommenen anerkennungstheoretischen Perspektive zeigt sich, dass über die Arbeitszeit und ihre vermittelnde Funktion zwischen den beiden Sphären Produktion und Reproduktion auch Männlichkeiten und Weiblichkeiten verhandelt werden.
A nerkennung und Z eitlichkeit – N achtr ägliche A neignungen Aus den empirischen Analysen lässt sich eine zeitliche Komponente von Anerkennung herausarbeiten. Sowohl Carsten Clement als auch Viktoria Frisch verweisen auf Veränderungen gesellschaftlicher Vorstellungen, die sie für ihre Positionierung relevant machen. Im Fall von Carsten Clement handelt es sich um gesellschaftliche Sicht auf erziehende Väter und bei Viktoria Frisch um veränderte Weiblichkeitsvorstellungen, die sie in ihren Beruf, das Friseurhandwerk, überträgt. Carsten Clement hat sich zu einer Zeit für Elternzeit entschieden, in der das für Väter noch die Ausnahme darstellte. Vor diesem Hintergrund wird seine Entscheidung legitimierungsbedürftig. Er verortet die Begründung in der Erwerbssphäre und beschreibt sie als Entgegenkommen an seine Lebensgefährtin, die zu diesem Zeitpunkt noch in der medizinischen Ausbildung stand und ihr AiP zu Ende machen wollte. Carsten Clement führt an, dies könne nicht in Teilzeit geschehen und bekommt dafür die Bestätigung von seinen Kollegen, die das aus eigener Erfahrung kennen. Carsten Clement verweist damit auf die im Feld der Chirurgie bekannte und anerkannte Situation der Ausbildung im AiP, die seine Partnerin absolviert. Damit positioniert er sich weiterhin in der Chirurgie und damit in der Erwerbssphäre und nicht im weiblich codierten und hierarchisch untergeordneten Feld der Reproduktionsarbeit. An dieser Stelle wird die Relevanz von Begründungen in Anerkennungspraktiken deutlich. Mit Bezug auf die Karriere der Mutter wird Elternzeit für Väter in Carsten Clements Kontext eher legitimierbar als mit Bezug auf den Wunsch, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Gleichzeitig übernimmt Carsten Clement damit nicht die Position des Vaters, sondern die des Partners, der die berufliche Karriere seiner Lebensgefährtin unterstützt. Über diese Be29 | Zur Konstruktion von Männlichkeit bei Teilzeit arbeitenden Vätern vgl. auch Buschmeyer 2008.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
gründung präsentiert er eine Männlichkeit, die innerhalb seiner Profession bei seinen männlichen Kollegen eher Anerkennung findet als die Position des sorgenden Vaters. Die gesellschaftlichen Verhandlungen von Vaterschaft haben in den letzten Jahren einen Wandel erlebt.30 Das Mehr an Anerkennung von Väterbeteiligung in der Erziehungsarbeit entwickelte sich nicht aus Abwertungserfahrungen der Väter heraus, die um soziale Anerkennung ihrer Beteiligung an der Kindererziehung kämpften. Die im Vergleich zu früher höhere gesellschaftliche Anerkennung von Vätern lässt sich somit weniger als das Ergebnis eines Kampfes der Väter um Anerkennung im Sinne Axel Honneths (Honneth 1994: 256 ff. und Abschnitt 3.1) verstehen. Es haben vielmehr Prozesse der Umverteilung von Zuständigkeiten in der Familienarbeit stattgefunden. Für die Verbesserung der Möglichkeiten für Frauen, trotz Kindern im Beruf bleiben zu können, wird die Forderung an Väter gerichtet, sich mehr an der Kindererziehung zu beteiligen. Der Begriff der Umverteilung meint damit hier nicht nur eine Umverteilung ökonomischer Ressourcen, sondern die Reorganisation gesellschaftlich notwendiger und geschlechtlich codierter Aufgaben. Mit dieser Umverteilung von Aufgaben gehen Veränderungen normativer Verständnisse von Vatersein und Muttersein sowie Männlichkeiten und Weiblichkeiten einher. Diese werden relevant für die jeweils geltenden normativen Grundlagen von Anerkennungspraktiken, da sich mit der Veränderung des normativen Rahmens andere Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Carsten Clement schließt an diese Veränderungen an und positioniert sich als fortschrittlicher Mann. Auch wenn in der Chirurgie Elternzeit von Männern noch immer eine Seltenheit darstellt, bezieht er sich auf die Veränderung der gesellschaftlichen Vorstellungen von Vatersein und positioniert sich nachträglich als ‚guter Vater‘ und fortschrittlicher Mann. Die Veränderung des normativen Rahmens bietet Carsten Clement die Möglichkeit, sich die Anerkennung heute nachträglich anzueignen und damit die Abwertung aus der Zeit, in der er sich für die Elternzeit entschieden hat, zu kompensieren. Auch in Viktoria Frischs Erzählung wird eine zeitliche Komponente relevant. Sie hat sich nach ihrer Ausbildung zur Friseurin zunächst gegen die weitere Ausübung ihres Lehrberufs entschieden, weil sie sich dort mit Weiblichkeitsentwürfen konfrontiert sah, an die sie nicht anschließen konnte. Sie sah sich zu diesem Zeitpunkt als reflektierter, kreativer und individueller als die Frauen, die sie damals als Friseur_innen kannte. Als sie sich rund 20 Jahre später doch entschließt, in den Beruf zurückzukehren und sich als Friseurin selbstständig zu machen, bezieht sie sich auf veränderte Weiblichkeitsent30 | Für eine Übersicht der Diskussion um Vaterschaften im Wandel vgl. zum Beispiel Bereswill u. a. 2006; Ehnis 2009; Hofmeister u. a. 2009; Kassner 2008; Matzner 2007; Thiessen und Villa 2009.
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
würfe, an die sie anschließen kann. Sie kennt mittlerweile Frauen, die sie als ihr ähnlich wahrnimmt, die sie als kreative Friseur_innen sieht und an deren Weiblichkeitspräsentationen sie anschließen kann. Anders als bei Carsten Clement lässt sich hier allerdings nicht von einer Veränderung oder Aufwertung hinsichtlich der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Friseurinnen sprechen. Die Aufwertung wird von Viktoria Frisch selbst hergestellt und beschreibt als Konstruktionsprozess einen wichtigen Bestandteil ihrer Anerkennungpraxis. Relevant dafür ist die Pluralisierung von Weiblichkeiten. Viktoria Frisch schließt daran an und überträgt sie in ihr Berufsfeld. Während sie unmittelbar nach der Lehre hinsichtlich Frauen im Friseurhandwerk keine Anschlussmöglichkeiten wahrgenommen hat, sieht sie jetzt eine Diversifizierung. Die gesellschafltiche Anerkennung der Pluralisierung von Weiblichkeiten ermöglicht ihr, auch in ihrem Beruf Weiblichkeiten wahrzunehmen, an die sie anschließen und über die sie sich in ihrem Beruf positionieren kann. Der Verweis auf Veränderungen in Bezug auf Weiblichkeitsentwürfe ermöglicht es Viktoria Frisch, sich ihren vor langer Zeit erlernten Beruf wieder anzueignen und sich als Friseurin zu positionieren.
A nerkennung in A rbeit Die empirischen Analysen haben die Komplexität von Anerkennungspraktiken aufgeschlüsselt. Der Kampf um Anerkennung, wie er von Axel Honneth (1994) formuliert wurde oder die Notwendigkeit der Bestätigung von Lebensentwürfen durch Andere, wie sie Gabriele Wagner (2004) herausgearbeitet hat, unterschätzen die Vielschichtigkeit von Anerkennungspraktiken und den eigensinnigen Charakter, der ihnen innewohnt. Die Frage nach Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung, die den Ausgangspunkt meiner Arbeit bildete, lenkt den Blick auf Positionen, denen weniger gesellschaftliche Anerkennung zukommt als anderen – Positionen also, die hierarchisch niedrig eingeordnet sind. Den ‚klassischen‘ Anerkennungstheorien folgend, müsste damit ein Gefühl von „Entwürdigung“ (Honneth 1994: 217) oder ein „beschädigtes Selbstwertgefühl“ (Wagner 2004: 286) verbunden sein. In den Selbstbeschreibungen der Chirurg_innen und Friseur_innen lässt sich dies jedoch so nicht finden. Im Gegenteil: Die Einordnung in hierarchisch niedrige Positionen wird über Selbstaufwertungen, denen Konstruktionsleistungen auf verschiedenen Ebenen zugrunde liegen, abgelehnt. Dieses Ergebnis unterstreicht, wie über Anerkennungspraktiken ein Verharren genau in diesen Positionen denkbar ist, ohne dass gleichzeitig von einem Gefühl von Schwäche oder Unterlegensein ausgegangen werden muss. Anerkennung dient also dazu, Selbst-Gestaltungen zu vollbringen, die ein
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Infragestellen der eigenen Position innerhalb von Hierarchien nicht erforderlich macht. Diese selbstaufwertenden Positionierungen erfolgen unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Bereiche, die mehr Anerkennung genießen oder über Umdeutungen von Normen, die der Zuweisung in die hierarchische Struktur zugrunde liegen. Das verweist auf den Herstellungscharakter von Anerkennung. Anerkennung stellt keine soziale Größe dar, auf die sich in Anerkennungspraktiken bezogen werden kann oder muss, sondern sie kann in den Praktiken selbst konstruiert werden. Anerkennung muss nicht von Anderen entgegengebracht werden, sondern sie kann über Konstruktionen, die auf Selbst-Adressierungen beruhen, hergestellt werden. Diese Herstellung aufgewerteter Positionen verschleiert zugleich Hierarchien, denn die strukturelle Ungleichheit, die ihnen zugrunde liegt, wird über diese Praktiken der Selbstaufwertung weder thematisiert noch anerkannt noch hinterfragt. Dies verweist auf eine Gleichzeitigkeit im Herstellungsprozess: Das Ablehnen der hierarchisch niedrigen Position führt aufgrund des Ausblendens dieser Hierarchien zu deren Verfestigung. Die Analysen weisen zudem auf die Bedeutung von Anerkennungsbeziehungen für Selbstadressierungen einerseits und die Zuweisung in hierarchische Positionen andererseits hin. Über die Suche nach Anerkennenden wird das Anerkannt-Werden-als zum Anerkannt-Werden-Wollen-als. Die Reflexivität zwischen den Anerkennenden und der Position, die anerkannt werden soll, beruht auf Zuschreibungen an die Anerkennenden hinsichtlich sozialer Kategorien wie Geschlecht, Status oder Milieu. Mit diesen Zuschreibungen werden Anerkennende so konstruiert, dass sie die Form von Anerkennung entgegenbringen, die gesucht wird. Dies liest sich wie intentionale und strategische Praktiken. Wie die Analysen zeigen, erfolgen diese Konstruktionsprozesse nicht reflektiert und als bewusste Entscheidungen, sondern mit dem impliziten Wissen darüber, was als anerkennbar gilt und mit Vorstellungen davon, wer welche Form von Anerkennung entgegenbringen kann. Über sozial verortete Andere fließen Hierarchien in Anerkennungsbeziehungen ein. Entgegengebrachte Anerkennung kann, wie die Analysen gezeigt haben, in Abhängigkeit von den anerkennenden Personen unterschiedliches bedeuten. Sie kann, wenn sie von statushöheren Personen entgegengebracht wird, zu einem sozialen Aufstieg oder einem Aufstieg innerhalb formalhierarchischer Strukturen führen. Sie kann aber genauso gut eine niedrige Position zuweisen, wenn Anerkennung von statusniedrigeren Anderen entgegengebracht wird. Und sie kann eine Position bestätigen, wenn Personen auf gleicher Stufe stehen oder genau die gesuchte Form der Anerkennung entgegenbringen. Anerkennung kann also in Abhängigkeit von der sozialen Verortung der Anerkennenden unterschiedliche Positionen zuweisen. Anerkennung wird nicht nur gesucht oder begehrt, sondern Anerkennung wird auch hergestellt und gestaltet. Anerkennung beschreibt eine Anforderung
Anerkennungspraktiken und Positionierungen
an Individuen, sich innerhalb der Grenzen des Anerkennbaren zu bewegen. Gleichzeitig beschreiben die Deutung des Anerkennbaren und die Akzeptanz seiner Grenzen eigenmächtige Praktiken. Diese Praktiken finden innerhalb von Hierarchien statt. Über Anerkennungspraktiken werden diese Hierarchien verändert, aber auch reproduziert.
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Zum Schluss: Anerkennung – Subjektivierung – Hierarchien
„Mit allem, was wir tun und sagen, begehren wir – nicht zuletzt – soziale Anerkennung.“ (Welskopp 2013: 41)
Mit diesem Satz fasst Thomas Welskopp, der Anerkennungsprozesse im Übergang von der Vormoderne zur Moderne historisch untersucht, im Prinzip die Bedeutung von Anerkennung für soziale Praktiken zusammen. Diese Omnirelevanz von Anerkennung (Wagner 2004: 11) lässt sich zwar plausibel feststellen, dahinter verbirgt sich jedoch eine Vielzahl von unterschiedlichen Anerkennungspraktiken. Das hat die Bearbeitung meiner Fragestellung nach den Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung gezeigt. Über das Einbeziehen der Geschlechterperspektive in Konzepte der sozialen Wertschätzung habe ich mit meiner Arbeit eine theoretische Lücke geschlossen. Zudem habe ich die Umgangsweisen mit sozialer Wertschätzung mit der Analyse erzählter Anerkennungspraktiken empirisch fundiert. Dazu bin den Weg von der moralphilosophischen Anerkennungstheorie hin zur machtkritischen Subjektivierungstheorie gegangen und habe dabei geschlechtertheoretische Ansätze systematisch einbezogen. Ich habe so ein Verständnis von sozialer Wertschätzung als Anerkennungspraxis entwickelt. Dieser theoretische Perspektivwechsel erlaubt es, die Komplexität von Anerkennung zu fassen und sie nicht nur als etwas Fehlendes zu verstehen, wonach gesucht oder wofür gekämpft wird. Zudem lassen sich so Macht und Hierarchien in Anerkennungspraktiken explizit benennen und es werden eigensinnige Praktiken sichtbar. Bevor ich die Anerkennungspraktiken in Bezug auf Subjektivierung und Hierarchien zusammenfassend darstelle, zeichne ich meine theoretische Argumentation noch einmal nach.
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
A nerkennung als Subjektivierungspra xis Bereits der hier verwendete Begriff der Anerkennungspraktiken verweist auf die Verschiebung der Perspektive weg vom Anerkannt-Werden hin zu einem Verständnis von Anerkennung als sozialer Praxis, die ich in meiner Arbeit vorgenommen habe. Damit lässt sich Anerkennung nicht nur als etwas verstehen, das entgegengebracht wird, das begehrt wird, das erkämpft wird. Ein Verständnis von Anerkennung als sozialer Praxis richtet den Blick auch auf die Gestaltung von Anerkennungsbeziehungen und auf das Wechselspiel zwischen Anerkennen (der zugrunde liegenden Normen, der Anerkennenden) und Anerkannt-Werden mit dem Fokus auf Anerkannt-Werden als. Dieses Wechselspiel erhält Relevanz für das Moment der Selbstermächtigung, das für die Einordnung meiner empirischen Ergebnisse bedeutend ist. Meine Untersuchung setzt an der unterschiedlichen sozialen Wertschätzung von Berufen und deren jeweiligen geschlechtlichen Codierungen an. Am Beispiel des Friseurhandwerks und der Chirurgie habe ich Umgangsweisen mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung in der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung analysiert. Um die gerade ausgeführten Überlegungen für meine Frage und mein Untersuchungsfeld anwendbar zu machen, habe ich ausgehend von der Verbindung des Konzepts der sozialen Wertschätzung von Axel Honneth (1994) mit dem Ansatz des doing gender (vgl. Gildemeister und Wetterer 1992; West und Zimmermann 1987) den oben angesprochenen Perspektivwechsel vom Anerkannt-Werden zu Anerkennungspraktiken mit geschlechtertheoretischer Fundierung vorgenommen. Der im doing gender explizite Herstellungsgedanke führt zu einem veränderten Verständnis von Anerkennung: Anerkennung existiert nicht bereits und kann entsprechend begehrt werden. Vielmehr wird soziale Wertschätzung und die ihr zugrunde liegenden Normen in sozialen Praktiken reflexiv hergestellt. Anerkennungspraktiken produzieren damit gleichzeitig Anerkennung und die Grundlage für Anerkennung (vgl. Fischer 2009; Wagner 2004). Gleichzeitig lässt sich doing gender ohne Anerkennung der jeweiligen Geschlechterattributionen und Geschlechterdarstellungen nicht denken, so dass Anerkennungspraktiken als doing gendered recognition verstanden werden können. Über das Zusammendenken von anerkennungs- und geschlechtertheoretischen Ansätzen werden die Bezüge für Anerkennungspraktiken komplexer. Die Herstellung von Geschlechterdifferenz, das doing gender, erfolgt kontinuierlich, so dass in Anerkennungspraktiken Überlagerungen verschiedener sozialer Dimensionen wie Erwerbsarbeit und Weiblichkeiten, Weiblichkeiten und Männlichkeiten, Heteronorm und Erwerbsnorm etc. stattfinden. Daraus ergeben sich komplexe, teilweise widersprüchliche Anforderungen an Individuen. Dies gilt umso mehr, wenn Aushandlungsprozesse innerhalb von Männlichkeiten, doing masculinity (vgl. Connell 1999), und inner-
Zum Schluss: Anerkennung – Subjektivierung – Hierarchien
halb von Weiblichkeiten, doing feminity (vgl. Charlebois 2011), mitgedacht werden. Gleichzeitig finden Anerkennungspraktiken innerhalb von Hierarchien statt und haben selbst wiederum Hierarchien zur Folge. Hierarchien fließen zudem in Anerkennungsbeziehungen ein, denn gesellschaftliche Positionen wie Status, Geschlecht oder formalhierarchische Stellung im Berufsfeld werden von den in Anerkennungspraktiken Beteiligten repräsentiert und strukturieren damit das Verhältnis zwischen ihnen. Hierarchische Bezüge werden in Anerkennungspraktiken somit auf unterschiedlichen Ebenen relevant. Hierarchische Verhältnisse können sich innerhalb von Anerkennungsbeziehungen je nach Kontext durchaus unterschiedlich gestalten. Vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen, die sich in reflexiv-modernisierten Gesellschaften feststellen lässt, sind Individuen in unterschiedlichen Feldern unterschiedlich positioniert. Anerkennung bezieht sich damit nicht auf die Personen als ganze, sondern auf ihre Position in dem jeweiligen Kontext. Sie ist damit „ubiquitär“ (Wagner 2004: 11) und „partikular“ (Welskopp 2013: 41) gleichzeitig. In den jeweiligen Feldern gelten zudem unterschiedliche für Anerkennung relevante Normen. Die Normengebundenheit von Anerkennung und ihre „Partikularität“ legen den Gedanken nahe, Anerkennung nicht als Bestätigung zu sehen, sondern als Moment von Subjektivierung (vgl. Butler 2003). Damit ist eine weitere Perspektivverschiebung verbunden. Anerkennung als Subjektivierung zu verstehen, bedeutet, nicht mehr über Machtverhältnisse innerhalb von Anerkennungspraktiken zu sprechen, sondern Anerkennung selbst als Machttechnologie zu verstehen. Über Anerkennung entstehen Subjektpositionen, die im Rahmen des „Anerkennbaren“ (Butler 2003: 63) in gesellschaftliche Hierarchien eingeordnet werden. Anerkennungspraktiken beschreiben somit Praktiken der Subjektivierung. Um die mit Subjektivierung verbundene unterordnende Macht und eigensinnige Selbstermächtigung empirisch rekonstruierbar zu machen, habe ich mich für meine Arbeit auf den Ansatz der Anerkennung als Adressierung bezogen (vgl. Balzer und Ricken 2010; Ricken 2013). In der Adressierung wird vermittelt, als wer die jeweilige Person angesprochen wird und welche normativen Grundlagen dafür geltend gemacht werden. Die Art der Re-Adressierung verweist darauf, ob die adressierte Person sowohl Adressierung als auch adressierende Person als solche anerkennt. Zudem zeigt die Form der Re-Adressierung, ob die Adressierung angenommen oder zurückgewiesen und wie sie angenommen oder zurückgewiesen wird. Damit lässt sich die Komplexität von Anerkennungspraktiken aus subjektivierungstheoretischer Perspektive analysieren.
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A nerkennungserfahrungen als erzählte Subjektivierungen Wie Friseur_innen und Chirurg_innen innerhalb der jeweiligen Felder mit unterschiedlicher sozialer Wertschätzung umgehen, habe ich auf der Basis biographisch-narrativer Interviews erhoben. Aus diesen Erzählungen habe ich mit der Positionierungsanalyse (vgl. Bamberg 2003; Lucius-Hoene und Deppermann 2004) Positionierungen herausgearbeitet, indem ich analysiert habe, wie sich die Interviewten in Bezug auf andere Personen und soziale Kontexte erzählen. Das Zustandekommen der unterschiedlichen erzählten Positionen lässt sich über den Ansatz der Anerkennung als Adressierung erklären. Eine Verbindung zwischen subjektivierungstheoretischer Perspektive und biographisch-narrativen Interviews habe ich über den Begriff der Erfahrung hergestellt. In meiner Arbeit verstehe ich Erfahrung nicht als etwas, das man gemacht hat, sondern ebenfalls als Form der Subjektivierung. Erfahrungen beziehen sich auf gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Personen über Erfahrungen zu Subjekten gemacht werden (vgl. Scott 1994). Da erzählte Erfahrungen ebenfalls das Raster der Anerkennbarkeit (Butler 2003: 63) durchlaufen, lassen sich in Lebensgeschichten erzählte Erfahrungen als Anerkennungserfahrungen interpretieren.
A nerkennung und Formalisierung – Ermächtigung durch Freiraum Der Vergleich der Anerkennungspraktiken zwischen den beiden Berufsfeldern Chirurgie und Friseurhandwerk zeigt einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Formalisierung des Berufs und der Möglichkeiten eigensinniger Anerkennungspraktiken. Das Berufsfeld der Chirurgie ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Professionalisierung. Die Ausbildungswege sind lang und streng geregelt, die Arbeitsorganisation in den Kliniken stark formalisiert und hierarchisiert. Daraus ergibt sich ein enger normativer Rahmen, innerhalb dessen Chirurg_innen agieren und innerhalb dessen Anerkennungspraktiken stattfinden. Im Friseurberuf hingegen finden sich wenig formale Vorgaben. Das Feld lässt sich als heterogen beschreiben. Friseursalons sind sehr unterschiedlich gestaltet, die Organisation der Arbeitsverhältnisse liegt in der Hand der jeweiligen Salonbesitzer_innen, es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Gestaltung des Salons und dem beruflichen Selbstbild der jeweiligen Besitzer_innen. Aus diesen Unterschieden bezüglich des Formalisierungsgrades lassen sich Unterschiede in den Anerkennungspraktiken ableiten. Während sich die beiden Chirurg_innen sehr stark an den berufsinternen Normen orientieren und Deutungen und Praktiken entwickeln, um diesen zu entsprechen, lässt sich bei den beiden Friseur_innen eine größere Freiheit feststellen, ihre Subjektpositionen zu gestalten. In ihrer Positionierung als ‚Friseur_in‘ beziehen
Zum Schluss: Anerkennung – Subjektivierung – Hierarchien
sie sich überwiegend auf außerberufliche Bereiche wie Bildung oder Kunst, um sich von dem gesellschaftlichen Bild des Friseurberufs abzugrenzen. Damit kommt zum Aspekt der sozialen Schließung, der im Zusammenhang mit Professionalisierung und sozialer Ungleichheit genannt wird (vgl. Kreckel 1992; Wetterer 2002: 271 ff.) ein subjektivierungstheoretisches Moment hinzu. In stark formalisierten beruflichen Kontexten erweisen sich die dort geltenden berufsinternen Normen als ausschlaggebend für die Herstellung der jeweiligen Subjektpositionen in diesen Berufen. Das Mehr an Formalisierung führt damit zu einer machtförmigen Adressierung an diejenigen, die diesen Beruf ausüben, sich diesen Normen zu fügen. Damit verbunden ist die Ausprägung eines beruflichen Habitus1, der sich wiederum in Anerkennungsbeziehungen einschreibt.
A nerkennung und Hierarchien – auf wertende Selbst-Adressierungen Aus den Erzählungen lässt sich in Bezug auf Hierarchien eine zentrale Anerkennungspraxis herausstellen: Positionen, die gesellschaftliche Anerkennung genießen, werden nicht explizit erzählt. Mit gesellschaftlicher Anerkennung werden somit privilegierte Positionen hergestellt, die als selbstverständlich wahrgenommen und somit nicht mehr extra erwähnt werden. Erzählte Anerkennungspraktiken innerhalb von Hierarchien lassen sich vor dem Hintergrund dieser Feststellung dann rekonstruieren, wenn es sich um Einordnungen in weniger anerkannte Hierarchiestufen handelt. Dabei zeigt sich ein gemeinsames Muster: Niedrige hierarchische Positionen werden als solche nicht angenommen, sondern in der Selbstbeschreibung abgelehnt. Das lässt sich aus dem Umgang mit der geringen Wertschätzung des Friseurberufs ebenso herausarbeiten wie aus dem Umgang mit Weiblichkeiten in der Geschlechterhierarchie. Diese Ablehnung der Einordnung in hierarchisch niedrige Positionen erfolgt über eine Konstruktion als ‚anders als‘ in Bezug auf geringgeschätzte Positionen oder als ein ‚genauso wie‘ in Bezug auf anerkannte Positionen. Aus den Anerkennungspraktiken lassen sich Selbstaufwertungen herausarbeiten, die jeweils soziale Felder in die Positionierung einbeziehen, denen mehr gesellschaftliche Anerkennung entgegengebracht wird und mit denen geringgeschätzte Positionen sozusagen ‚angereichert‘ werden. Der Umgang mit hierarchisch niedrigen Positionen erfolgt also über aufwertende Selbst-Adressierungen. Hierarchien vermitteln sich, das zeigen die Analysen, auch ohne Abwertungen von Anderen. Das Wissen über hierarchische Strukturen fließt in Anerkennungspraktiken ein. Die Annahme der Positionierung innerhalb dieser 1 | Bourdieu beschreibt diesen Prozess der Habitusvermittlung in „Einen Beruf vermitteln“ (Bourdieu und Wacquant 2006: 251 ff.).
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hierarchischen Strukturen kann abgelehnt und über Selbst-Adressierungen kann eine andere Position konstruiert werden. Diese Konstruktionen stellen eine Voraussetzung dafür dar, nicht aus einer Position der Abwertung und relativen Schwäche heraus agieren zu müssen. Gleichzeitig bedeuten diese Anerkennungspraktiken ein Ausblenden ungleichheitsgenerierender Strukturen. Diese werden für die eigene Positionierung nicht als solche anerkannt. Ein Anerkennen dieser Hierarchien würde bedeuten, die eigene Position darin ebenfalls anerkennen zu müssen. Dieses Ergebnis zeigt zum einen, dass der der Anerkennung zugrunde liegende normative Rahmen nicht anerkannt werden muss, wie das Gabriele Wagner formuliert (vgl. Wagner 2004). Für die Positionierung innerhalb eines hierarchischen Feldes erfolgen die hier herausgearbeiteten Praktiken genau über die Ablehnung dieses normativen Rahmens. Nur so gelingt es, sich selbstaufwertend zu positionieren. Die dafür mobilisierten Umdeutungen und Umcodierungen erfolgen innerhalb dieser Hierarchien und verändern sie. Selbstaufwertende Positionierungen lassen sich somit als Praktiken verstehen, über die eine performative Reproduktion von Hierarchien stattfindet. Hierarchien werden nicht überwunden, sondern bleiben, wenn auch verändert, doch als ungleichheitsrelevante Struktur bestehen.
A nerkennung und Hierarchien – der Bezug zu den ‚A nderen‘ Für die Analyse von Anerkennungspraktiken stellen Anerkennungsbeziehungen und die darin eingelassenen hierarchischen Strukturen ein wichtiges Moment dar. Die empirischen Rekonstruktionen unterstreichen die Bedeutung der sozialen Verortung und der damit verbundenen Machtausstattung der Anerkennenden. In der Chirurgie lassen sich mit Kolleg_innen, Vorgesetzten, Pfleger_innen und Patient_innen verschiedene Anerkennende nennen, die jeweils unterschiedliche Positionen repräsentieren und deren Anerkennung unterschiedlich gedeutet wird. Für das Weiterkommen im Beruf, das haben die empirischen Analysen gezeigt, hat die Anerkennung durch Vorgesetzte und Kolleg_innen mehr Bedeutung als die durch Patient_innen. Nicht nur formalhierarchische Positionen werden relevant. Adressierende Andere repräsentieren sozialen Status, Männlichkeiten oder Weiblichkeiten und damit Hierarchien und Machtverhältnisse. Stehen anerkannte Positionen in Frage – beispielsweise indem Männlichkeiten über das Vaterwerden neu verhandelt werden – lässt sich eine Suche nach bestimmten Anerkennenden herausarbeiten. Für die Positionierung innerhalb des Gefüges unterschiedlicher Männlichkeiten, die relational und hierarchisch zueinander in Beziehung stehen (vgl. Connell 1999), ist die Adressierung männlicher Anderer von Bedeutung, die die ‚gesuchte‘ Männlichkeit repräsentieren. Dies verweist auf die Herstellung von Männlichkeit in homosozialen Räumen (vgl.
Zum Schluss: Anerkennung – Subjektivierung – Hierarchien
Meuser 2001) und die Notwendigkeit der Anerkennung bestimmter Männlichkeiten durch Männer, die ebendiese Männlichkeiten verkörpern (vgl. Bourdieu 2005). Die soziale Verortung von Anerkennenden wird zudem relevant im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Selbstaufwertung. Gerade im Friseurberuf zeigt sich die Suche nach Bestätigung des beruflichen Selbstbildes durch Kund_innen. Diese werden über Zuschreibungen hinsichtlich Bildung oder sozialem Status als homogene Gruppe mit bestimmter sozialer Verortung konstruiert. Ihr Kommen wird als Adressierung entsprechend des beruflichen Selbstbildes gedeutet. Dabei zeigt sich ein reflexives Verhältnis zwischen der Positionierung als Friseur_in und den anerkennenden Anderen. Die Reflexivität von Anerkennungsprozessen bezieht sich somit nicht nur auf die Dynamik von Anerkennung und den ihr zugrunde liegenden Normen (vgl. Fischer 2009; Wagner 2004), sondern auch auf die Dynamik von anerkannter Position und anerkennenden Anderen. In der Analyse von Anerkennungsbeziehungen wird das eigensinnige Moment deutlich, indem die Suche nach Anerkennung zu einer Suche nach Anerkennenden werden kann. Innerhalb des Rahmens der Anerkennbarkeit existieren Spielräume, in denen nach Adressierungen und Anerkennungen für bestimmte Positionen gesucht wird. Das Anerkannt-Werden-Wollen als stellt so eine eigenmächtige Anerkennungspraxis dar, in die, wie soeben ausgeführt, Konstruktionsleistungen einfließen.
A nerkennungsbeziehungen – dieselben ‚A nderen‘ mit unterschiedlichen Positionen Zudem hat sich gezeigt, dass derselben Personengruppe von Anderen unterschiedliche Bedeutung in Anerkennungspraktiken zugeschrieben werden kann. In Abhängigkeit davon, welche Positionen verhandelt werden, kann sie über ihre Adressierungen bestimmte Subjektpositionen hervorrufen oder eben nicht. Patient_innen können eine Chirurgin als Ärztin oder als Frau adressieren. Die Umgangsweise mit den jeweiligen Adressierungen kann dabei unterschiedlich sein. Dies hängt von dem beruflichen Selbstbild der Ärztin ab und von ihrer eigenen Position im Kontext von Weiblichkeit in der Chirurgie. Auch hier lässt sich eigensinniges Handeln feststellen, indem es einen Spielraum gibt, innerhalb dessen Anerkennenden die Möglichkeit des Anerkennens gegeben oder entzogen werden kann. Dies ist abhängig von dem jeweiligen Machtverhältnis, in dem Adressierende und Adressierte zueinander stehen.
A nerkennung und Normen – A neignung durch Umdeutung Die Macht von Normen als Vermittlerinnen des Anerkennbaren zeigte sich in der empirischen Analyse unter anderem in der Positionierung als ‚gute
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
Mutter‘. Für beide Frauen scheint es eine Notwendigkeit zu sein, sich selbst als ‚gute Mutter‘ zu beschreiben. Dies verweist auf die Macht dieser Norm. Gleichzeitig erlaubt die Heterogenität des Diskurses um die ‚gute Mutter‘ (vgl. z. B. Schütze 1991; Thiessen und Villa 2009; Toppe 2009) plurale Deutungen. Diese ermöglichen unterschiedliche Selbstbeschreibungen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Norm der ‚guten Mutter‘ zu erfüllen. Während Anerkennungspraktiken für die Positionierung als Mutter die beiden gesellschaftlichen Sphären Produktion und Reproduktion relevant machen, wird Vatersein ausschließlich auf die Produktionssphäre bezogen verhandelt. In diesem Kontext findet vor allem eine Suche nach Anerkennung von Männlichkeit statt, deren Bestätigung sich im Kontext der Chirurgie eher im Berufsfeld findet. Dies verweist auf die Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Herstellung von Männlichkeit (vgl. Scholz 2004, 2008), vor allem dann, wenn Männlichkeit in diesem Berufsfeld über die Entscheidung für eine einjährige Elternzeit des Vaters in Frage gestellt wird. Die Positionierung erfolgt, darauf habe ich oben bereits hingewiesen, über die Anerkennung anderer Männer, die die entsprechende Männlichkeit verkörpern. Damit findet keine Positionierung als ‚guter Vater‘ in Analogie zur ‚guten Mutter‘ statt, sondern eine Positionierung als Mann, der in Elternzeit gegangen ist. Gerade die Anerkennung von Elternzeit für Väter hat sich in den letzten Jahren stark verändert (vgl. Ehnis 2009). Auch wenn die gleichberechtigte Beteiligung von Vätern an den Erziehungsaufgaben in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch nicht zur Norm gehört, genießen Väter in Elternzeit heute mehr Anerkennung als noch vor einigen Jahren. Dies hat Rückwirkungen auch auf Anerkennungspraktiken von Vätern, die nicht heute, sondern in der Zeit in Elternzeit gegangen sind, als dafür noch ein höherer Rechtfertigungsbedarf bestand. Die Veränderung der sozialen Wertschätzung von aktiver Vaterschaft ermöglicht es diesen Vätern, sich nachträglich Anerkennung anzueignen und sich als Vorreiter einer gesellschaftlichen Entwicklung zu positionieren. Damit enthalten Anerkennungspraktiken eine zeitliche Komponente. Die Zusammenführung der empirischen Ergebnisse meiner Arbeit zeigt ein komplexes Bild von Prozessen sozialer Wertschätzung. Diese lassen sich als Geflecht von unterschiedlichen, aufeinander bezogenen und widersprüchlichen Praktiken beschreiben, in denen Deutungen, Zuschreibungen und Aneignungen relevant gemacht werden. Anerkennung stellt somit eine Vermittlungsinstanz von gesellschaftlichen Diskursen und Subjektivierungspraktiken dar. Dabei werden in Anerkennungspraktiken Konstruktionsleistungen relevant, die sich sowohl bezogen auf die Adressierenden als auch bezogen auf die eigenen Positionierungen im Feld oder in Anerkennungsbeziehungen zeigen. Dies unterstreicht: Anerkennung ist nicht, sondern Anerkennung wird in komplexen Praktiken und mit darin enthaltenen Konstruktionsleistungen machtvoll und eigenmächtig hergestellt. Die Analysen weisen auf eine
Zum Schluss: Anerkennung – Subjektivierung – Hierarchien
Gleichzeitigkeit hin: Über Anerkennungspraktiken werden Zuordnungen in Hierarchien (und damit sind explizit auch Geschlechterhierarchien gemeint) hergestellt. Gleichzeitig finden gerade in hierarchisch niedrigen Positionen aufwertende Selbstadressierungen statt, die eigenmächtiges Handeln innerhalb der Hierarchien trotz geringer sozialer Anerkennung ermöglichen. Damit werden über Anerkennungspraktiken Hierarchien hergestellt und verändernd reproduziert. Anerkennungspraktiken stellen somit nicht nur Praktiken des Begehrens nach Anerkennung dar, sondern auch Praktiken der Selbst-Bildungen und der Selbst-Gestaltungen (vgl. Alkemeyer u. a. 2013). Darin sind Abgrenzungen und Umdeutungen enthalten. Gerade der eigenmächtige Anteil, der sich in den empirischen Analysen herausarbeiten ließ, verweist auf das Moment der Kritik, das in diese Praktiken eingelassen ist. Anerkennungspraktiken beschreiben nicht nur Anpassung an Normen, sondern auch verändernde Interpretationen und Distanzierungen davon, die überwiegend über eigenmächtige Deutungen und Selbst-Adressierungen stattfinden. Anerkennungspraktiken sind damit nicht nur als Anpassung an gesellschaftliche Zuordnungen zu verstehen, sondern ihnen wohnen Praktiken der Kritik inne, wie sie Judith Butler mit Bezug auf Michel Foucaults Auseinandersetzungen mit Verbot, moralischer Erfahrung, Macht und „Selbst-Transformationen“ (Butler 2009b: 228) entwickelt. Sie schreibt: „Die kritische Praxis entspringt nicht aus der angeborenen Freiheit der Seele, sondern wird vielmehr im Schmelztiegel eines bestimmten Austauschs zwischen einer Reihe (schon vorhandener) Regeln oder Vorschriften und einer Stilisierung von Akten geformt, die diese schon vorhandenen Regeln und Vorschriften erweitert und reformuliert. Diese Stilisierung des Selbst in Beziehung zu den Regeln gilt als eine Praxis.“ (Ebd.: 234)
Diese Überlegungen lassen sich auf meine Ausführungen zu Macht und Eigenmacht in Anerkennungspraktiken anwenden. Anerkennungspraktiken basieren auf Normen, die aufeinander bezogen und widersprüchlich sind. Über diese Normen finden Zuweisungen zu Subjektpositionen statt, die im Rahmen des Anerkennbaren in Selbstbildungen einfließen. Wie die hier vorgelegten empirischen Analysen zeigen, sind darin eigenmächtige Praktiken enthalten. Diese beinhalten Möglichkeiten, durch Umdeutungen, Aneignungen und selbstaufwertende Positionierungen den Rahmen des Anerkennbaren zu verändern und zu erweitern. In diesem Sinne lassen sich Anerkennungspraktiken als kritische Praktiken verstehen, wenn durch ein Leben „an den Grenzen der Anerkennbarkeit“ diese Grenzen verschoben werden oder wenn das Verständnis dessen, was als anerkennbar angesehen wird, sich über diese Praktiken verändert. Dass Anerkennungspraktiken dieses Potenzial enthalten, hat sich aus den Rekonstruktionen in meiner Arbeit gezeigt.
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Dank! „Warum wollen Sie sich ausgerechnet mit Anerkennung beschäftigen?“ Mit diesem Ausdruck vollkommenen Unverständnisses, in dessen Subtext fundamentale Kritik verpackt war, konfrontierte mich eine Professorin bei der Diskussion meiner Fragestellung. Sie lehnte es letztendlich ab, meine Arbeit zu betreuen. Warum Anerkennung? Diese Frage, verbunden mit dem dazu gehörigen Gesichtsausdruck, brannte sich so in mein Gedächtnis ein, dass ich noch im Forschungsprozess immer wieder daran zweifelte, ob die Theorien der Anerkennung wirklich geeignet sind, sich mit Fragen der Geschlechterhierarchisierung in der beruflichen Arbeitsteilung zu beschäftigen. Rückblickend betrachtet, beschreibt diese Situation genau das, womit ich mich in meiner Arbeit beschäftige: Mit der Infragestellung meines Themas hat diese Professorin meine wissenschaftliche Kompetenz hinterfragt. Um eine Dissertation in Soziologie zu verfassen, reichen Qualifikation und Motivation nicht aus. Es bedarf der Anerkennung der Relevanz der Fragestellung durch die Betreuerin und damit die Anerkennung der wissenschaftlichen Kompetenz der Person, die diese Arbeit schreiben will. Auch wenn diese Situation der Ablehnung für mich wahrscheinlich die größte Infragestellung von mir und meiner Arbeit im gesamten Prozess darstellt, bin ich im Nachhinein dankbar dafür. Diese Frage hat mit dazu beigetragen, meine forschungsleitende Frage immer wieder zu hinterfragen und mit dieser Erfahrung im Gedächtnis zu schärfen. Ich habe mit Prof. Dr. Paula-Irene Villa eine Betreuerin gefunden, die mich in meinem Vorhaben unterstützt und mich sowohl in meiner inhaltliche Auseinandersezung als auch in unterschiedlichen Arbeitsphasen und -krisen bestärkt hat. Ebenso hat meine Zweitgutachterin, Prof. Dr. Mechthild Bereswill, mich in meinem Forschungsprozess mit Wohlwollen und konstruktiver Kritik begleitet. Beide Betreuerinnen haben mir Anerkennung und Zutrauen in
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Anerkennung – Macht – Hierarchie
meine wissenschaftliche Arbeit entgegengebracht. Dafür danke ich an dieser Stelle sehr. Auch ihre Bereitschaft für die Betreuung lässt sich in meine Fragestellung integrieren. Denn was in einem Kontext abgelehnt wird, kann durchaus in einem anderen Zusammenhang wertschätzend anerkannt werden. Dass ich diese Arbeit zu Ende gebracht habe, verdanke ich vielen Menschen, die mich immer wieder bestärkt haben in Situationen des Strauchelns, die mit mir inhaltliche Knoten zerschlagen haben, die meine Texte immer wieder gelesen und mir hilfreiche Inputs gegeben haben. All diese Menschen haben mich und mein Forschungsinteresse ernst genommen und dafür gebührt ihnen mein Dank: Zuerst sind dies vor allem: Die Interviewpartner_innen, die mir viel Zeit und Vertrauen entgegengebracht haben, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen; die Kolleg_innen im Forschungskolloquium am Lehrstuhl von Paula-Irene Villa, die Kolleg_innen des Forschungskolloquiums am Lehrstuhl von Mechthild Bereswill, natürlich die beiden Professorinnen selbst; die ‚Kellerstraßengruppe‘ (Anna Buschmeyer, Caroline Küppers, Eva Tolasch, Tina Denninger), die Denkfabrik und Krisenbewältigung in einem war; Imke Schmincke, die immer ein offenes Ohr, ein kritisches Auge und bestärkende Worte hatte; Sophie Hellgardt für das geduldige Korrekturlesen, Helga Hof bauer und Wolfgang Ecker für das undramatische Layouten. Und das Unterstüzter_innenumfeld, ohne das ich alltagspraktisch verloren gewesen wäre: Lisa Abbenhardt, Jana Balenthin, Susanne Becker, Barbara Brandt, Kaja Haelbich, Tina Maschmann, Katharina Ruhland, Johanna Sigl, Jana Türk, Marianne Walther, Anne Weiß, Ute Zillig, Philip Zölls und das Büro (Helga Ballauf, Cornelia Fiedler, Simon Goeke und Maren Ulbrich). Nicht zuletzt danke ich der Hans-Böckler-Stiftung, ohne deren Stipendium und Förderung ich diese Arbeit wahrscheinlich nie geschrieben hätte.
Gesellschaft der Unterschiede Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5
Reimer Gronemeyer, Gabriele Kreutzner, Verena Rothe Im Leben bleiben Unterwegs zu demenzfreundlichen Kommunen September 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5
Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1
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Gesellschaft der Unterschiede Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben 2013, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2193-8
Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? Januar 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6
Leiv Eirik Voigtländer Armut und Engagement Zur zivilgesellschaftlichen Partizipation von Menschen in prekären Lebenslagen August 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3135-7
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Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie 2014, 184 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2386-4
Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen 2013, 538 Seiten, kart., 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2242-3
Carina Großer-Kaya Biographien der Arbeit – Arbeit an Biographien Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer in Deutschland November 2015, ca. 330 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3239-2
Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger, Jonas Rugenstein, Franz Walter Wer organisiert die »Entbehrlichen«? Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren 2014, 290 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2731-2
Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2233-1
Hannes Krämer Die Praxis der Kreativität Eine Ethnografie kreativer Arbeit 2014, 422 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2696-4
Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kulturund Kreativwirtschaft Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang (unter Mitarbeit von Angela Berger, Theresa Silberstein und Julian Wenz) September 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2088-7
Katharina Scherke (Hg.) Spannungsfeld »Gesellschaftliche Vielfalt« Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis Juli 2015, 236 Seiten, kart., farb. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2964-4
Kathrin Schrader Drogenprostitution Eine intersektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen 2013, 452 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2352-9
Anne Schreiter Deutsch-Chinesische Arbeitswelten Einblicke in den interkulturellen Unternehmensalltag in Deutschland und China Februar 2015, 304 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2942-2
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