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German Pages 314 Year 2014
Beate Ochsner, Anna Grebe (Hg.) Andere Bilder
DISABILITY STUDIES • KÖRPER – MACHT – DIFFERENZ • BAND 8
Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, HumboldtUniversität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg), Prof. Dr. Anja Tervooren (Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen) und Heike Zirden (Berlin).
Beate Ochsner, Anna Grebe (Hg.)
Andere Bilder Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur
DISABILITY STUDIES
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Beate Ochsner, Anna Grebe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2059-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Zwischen alten Bildern und neuen Perspektiven. Geistige Behinderung als Herausforderung für die Ethik
Markus Dederich | 13 Der Blinde als der Andere. Moderne Praktiken epistemischer Politik
Michael Schillmeier _ 31 Biopolitisch: Andere Blicke
Vittoria Borsò | 51 Fetale Anomalie. Über das böse Erwachen der guten Hoffnung
Daniel Hornuff | 77 Bildliche Darstellungen des (nicht)behinderten Bettlers im Martinswunder aus der Perspektive mittelalterlicher Mentalitäten
Irina Metzler | 93 Behinderung in der Karikatur. Zum Verhältnis von Hässlichkeit, Komik und Behinderung in der Geschichte der Karikatur
Claudia Gottwald | 117 »Lärmender Frohsinn«. Fotografien körperbehinderter Kinder (1900-1920)
Philipp Osten | 133 Die nackte Wahrheit. Bildnisse mit Behinderungen
Christian Mürner | 161
Erzählen, wie man in andere Zustände kommt: Mentale Denormalisierung in der Literatur (mit einem Blick auf Zola und Musil)
Jürgen Link | 179 Menschentrümmer oder eine neue Anthropologie? Zur Fotografie der hässlichen Krankheiten im 19. Jahrhundert
Gunnar Schmidt | 195 Fotografien-wider-Willen: Psychiatrische Bilder und Vor-Bilder vom Anderen im 20. Jahrhundert
Susanne Regener _ 211 Wenn der Fotograf kommt: Eine Porträtserie aus dem Fotoarchiv der Stiftung Liebenau
Anna Grebe | 227 Behinderung ausstellen. Un-/Möglichkeiten der Re-/Präsentation
Cornelia Renggli _ 249 »Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen« (Fini Straubinger). Zum Widerstand der Bilder in L AND DES S CHWEIGENS UND DER D UNKELHEIT
Beate Ochsner | 261 Verletzbare Augenhöhe. Disability, Bilder und Anerkennbarkeit
Ulrike Bergermann | 281 Autorinnen und Autoren | 307
Vorwort B EATE O CHSNER , A NNA G REBE
Konzentrieren sich neuere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungen im Bereich der interdisziplinären Disability Studies vorwiegend auf die Analyse diskursiver Praktiken, so wies Anne Waldschmidt schon 2007 auf die Relevanz theoretischer Konzepte hin, die »die Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von ›Behinderung‹ über den Stellenwert von Visibilität und Wahrnehmbarkeit von Merkmalen verhandeln.« 1 Diese Beobachtung aufgreifend, situieren die Herausgeber den vorliegenden Band als interdisziplinären Beitrag zur Forschung an der Schnittstelle zwischen Disability Studies, Medienwissenschaft, Visual Studies und soziologischen Ansätzen. Dabei besteht das Ziel der versammelten Beiträge nicht darin, dem medizinischen, sozialen und kulturellen Modell von Behinderung ein weiteres zur Seite zu stellen, das die bisherigen Ansätze obsolet macht; ebenso wenig sollen ›die Behinderten‹ als artifiziell homogenisierte Gruppe auf das bloße Objekt einer neuen Forschungsrichtung reduziert werden. Vielmehr liegt es im Interesse der Herausgeber und der beteiligten Forscher, diejenigen medialen Praktiken aufzuzeigen, die ›Behinderung‹ bzw. die soziale und kulturelle Differenz zwischen (Bildern von) Behinderung und NichtBehinderung herstellen. So geht es um die Analyse eines in bestimmter Weise kodierten, praktizierten und tradierten Sehens, das im kulturellen Modell selbst zu verorten ist. Liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung visueller Darstellungen, so geht der vorliegende Sammelband über bild- oder kunstwissenschaftliche Analysen
1
Waldschmidt, Anne: »Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies«, in: Dies.; Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies. Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: transcript 2007, S. 55-79, S. 64.
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insofern hinaus, als das Bild als Bestandteil eines vielgestaltigen diskursiven und medialen Netzes betrachtet wird, das die komplexen Relationen raumzeitlicher, visueller und soziokultureller Ordnungen ebenso berücksichtigt, wie es die Produktions- oder Rezeptionsbedingungen des kulturellen Sehens – und in gleichem Maße des Nicht-, Weg- oder Anders-Sehens – analysiert. 2 Dabei zielen die im Folgenden kurz skizzierten Beiträge weder auf die Etablierung einer ›anderen‹ Bilderpolitik noch auf eine spezifische Ästhetik oder ein besonderes Narrativ von Behinderung, vielmehr soll erkundet werden, welche soziomedialen Praktiken ›Behinderung‹ zum »erklärungsbedürftigen Phänomen« 3 geraten lassen. Vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Beschäftigung mit den Disability Studies beleuchtet der Heilpädagoge Markus DEDERICH die Praktiken der Herstellung geistiger Behinderung. Ziel ist es dabei zum einen, die Funktionsweise gesellschaftlicher und kultureller Modelle oder Theorien, Sinn- und Wissensproduktionen zu beschreiben, die unser szientifisches wie auch unser Alltagswissen form(ier)en, und zum anderen die Analyse, auf welche Art und Weise diese Prozesse hervorgebracht, (re-)produziert, sozial implementiert und tradiert werden. Aus differenzlogischer Perspektive – d.h. Behinderung ist immer relational zur Nichtbehinderung zu denken – gelingt es ihm so aufzuzeigen, wie z.B. die Eröffnung des Blickes gleichzeitig dessen Eingrenzung bedeutet und insofern stets als doppelsinniger Effekt zu begreifen ist. In einer biopolitisch ausgerichteten Studie präsentiert die Kulturwissenschaftlerin Vittoria BORSÒ ihre Analysen ausgewählter Texte Giorgio Agambens und Gilles Deleuzes und weist minutiös nach, wie beide eine Figur der Potentialität beschreiben, die auf das vor allen Differenzierungspraktiken »offene, ungeformte Werden des Lebens, das gewiss selbst nicht zu einem Bild des Lebens werden kann« (S.55) zielt. Dabei macht der andere oder transversale Blick den Ort des Ausgeschlossenen als einen der Ordnung internen Ort aus, der in der vom skopischen Regime produzierten Ordnung als Lücke sichtbar, jedoch zugleich verdeckt wird. In einer ähnlichen theoretischen Argumentationslinie situiert der Soziologe Michael SCHILLMEIER seinen Beitrag zur Figur des Blinden als Gegenstand bzw. Versuchsanordnung
2
Vgl. hierzu verschiedene Ansätze aus den Visual Studies, z.B. Silverman, Kaja: »Dem Blickregime begegnen«, in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41-64 oder Holert, Tom: »Regimewechsel. Visual Studies, Politik, Kritik«, in: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildtheorien: anthropologische Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 328-353, u.a.
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Länger, Carolin: Im Spiegel von Blindheit. Zur Kultursoziologie des Sehsinns. Stuttgart: Lucius 2002, S. 6.
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moderner Epistemologie, wobei er aufzeigen kann, wie eine bestimmte epistemische Politik oder Kultur der Behinderung Blindheit marginalisiert oder gar ausschließt, anstatt sie zu inkludieren. Ebenfalls mit In- und Exklusionsbewegungen beschäftigt sich der Literatur- und Kulturwissenschaftler Jürgen LINK, wenn er die Denormalisierungsgeschichte(n) der Autoren Emile Zola und Robert Musil erzählt. Für die Konzeption und Narrativierung ihrer literarischen Figuren rekurrieren beide auf verschiedene Störungsbilder, die heute in das Feld der Behinderung eingeordnet werden. So sind die Texte weniger als Illustrationen, denn als biopolitische Transformationsprozesse zu verstehen, die die Emergenz eines normalistischen Feldes von Behinderung indizieren. Auch der Historiker Daniel HORNUFF beschäftigt sich mit Normalisierungs- oder Idealisierungsstrategien und arbeitet anhand der Visualisierungspraxis des Pränatalen präzise nach, in welcher Weise die Bilder sich in die Tradition eines personalisierenden Suggestionseffekts einschreiben, um eine Bindung zwischen äußerer und innerer Makellosigkeit zu suggerieren. Ihr Erfolg – so der Verfasser – liege demzufolge primär in der Ausblendung von Behinderung. Damit jedoch erzeugen sie freilich die Voraussetzung zur Konstruktion von Andersartigkeit. Mit einer Untersuchung verschiedener karikaturaler Bilder und Figuren von der Antike bis heute macht Claudia GOTTWALD in ihrem Beitrag auf die zum Teil feinen, nichtsdestotrotz grundlegenden Unterschiede zwischen Sozialkritik und gesellschaftlichen Ausgrenzungsbewegungen aufmerksam. Dabei versteht sie (das Bild von) Behinderung als Reaktion auf eine Normabweichung, die als Karikatur die gewünschte Wirkung potenzieren könne. Den Gründen für die ikonographische Wende in der Darstellung des nichtbehinderten Bettlers im Martinswunder geht die Kunsthistorikerin Irina METZLER nach. Sie stellt vor allem diejenigen sozialen oder kulturellen Bewegungen und Tendenzen zur Diskussion, die ungefähr ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zur Wandlung der Darstellung des Bettlers als eines Menschen mit den körperlichen Merkmalen einer orthopädischen Behinderung führen. Auch der Medizinhistoriker Philip OSTEN beschäftigt sich mit der Darstellung von ›Krüppeln‹. Dies allerdings primär aus der Perspektive von Marketingpraktiken, wie sie die fotografische Ins-Bild-Setzung körperbehinderter Kinder zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt haben. So offenbart sich, in welcher Weise die Aufnahmen in politische, ökonomische oder weltanschauliche Konzeptionen der jeweiligen Institutionen eingeschrieben werden bzw. diese ins Bild übersetzen. In seinem Versuch, der Ambivalenz zwischen dem Zeigen und Verbergen von Behinderung auf die Spur zu kommen, fordert der Behindertenpädagoge Christian MÜRNER eine Art kultureller Bildforschung zu Behinderung bzw. die weitere Ausformu-
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lierung einer »Ästhetik der Existenz« (Foucault) im Zusammenhang mit anderen Vorbildern. Als Ästhetik zwischen Kunst und Erkenntnis verortet der Medienwissenschaftler Gunnar SCHMIDT Fotografien hässlicher Krankheiten. Die potentiell mehrdeutige Oberfläche der Fotografie lasse die Aufnahmen nachträglich als Ausdruck einer strukturierenden Blickobsession erscheinen und fordere zur Ergänzung durch ein »Mehr-Sehen« und ein »Mehr-Sagen« auf der Basis unendlicher vieler Vor-Bilder auf, deren Überzeitlichkeit in den Mutationen einer pathologischen Hässlichkeit zum Verschwinden gebracht wird. Die Fotografieexpertin Susanne REGENER beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Bildpraktiken aus einem spezifisch wissenschaftlichen und narrativen Umfeld von Fotoamateuren, die zu Fremd-Darstellungen von Menschen aus der Psychiatrie führen. Regener geht davon aus, dass die einzelnen Fotografien nicht nur im Zusammenhang der Präsentation im Album zu sehen und zu verstehen sind, sondern in dieser Serialisierung bereits vorgedacht respektive vorgebildet wurden. So stehen die Produktions- und Rezeptionspraktiken dieser »Fotografien-wider-Willen« (S. 216) in engem Bezug zu den kulturellen Visualisierungsstrategien, wie sie auch in den Beiträgen von Vittoria Borsò, Gunnar Schmidt, Beate Ochsner oder Anna GREBE beleuchtet werden. Anhand einer Porträtserie junger Männer mit geistiger Behinderung aus den frühen 1950er Jahren geht sie der Frage nach, mit Hilfe welcher fotografischer Strategien geistige Behinderung trotz fehlender äußerer Zeichen dar- bzw. hergestellt wird. Ziel des Beitrages ist es, aufzuzeigen, wie ein bestimmtes kulturelles Bild von geistiger Behinderung performiert wird, das sich letztlich als Vor-Bild einer ganzen Serie auf das kulturelle Sehen auswirkt bzw. dieses herstellt. Am Beispiel der gescheiterten Ausstellung »Paradrom« stellt Cornelia RENGGLI die grundsätzliche Frage nach der Ausstellbarkeit von Behinderung. Wie auch andere Autoren in diesem Band gelangt sie zu dem Schluss, dass Behinderung deshalb nicht aus-stellbar sei, weil sie in sozialen Interaktionen erst produziert werde. Mithin müsse ›Behinderung‹ nicht als der Sprache, der Bilder oder der Inszenierung Vorgängiges, sondern als deren Produkt begriffen werden. Wenn bild-, film- oder fernsehwissenschaftliche Untersuchungen sich mit der Darstellung von Menschen mit Behinderungen beschäftigen, so zeigen sie diese häufig als handlungsunfähige, passive Opfer, die sich den medialen Zwängen unterwerden müssen. In ihrem Beitrag über Werner Herzogs Film LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT (D, 1970/71) versucht Beate OCHSNER zu zeigen, auf welche Art und Weise Herzogs Film ein um das andere Mal der Produktion solcher Handlungsasymmetrien entgeht und statt dessen die Unbestimmtheit der Bilder hervorhebt, die in der Sichtbarmachung von Wechselwir-
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kungen zwischen Diskursen, Kamera, Raumschaffung und Handlungsfähigkeiten hergestellt wird. Um die Verbindungen zwischen Disability und Media Studies besser verstehen zu können, unterzieht Ulrike BERGERMANN verschiedene theoretische Ansätze einem close reading bzw. seeing. Am Beispiel einer von Melody Davis durchgeführten Analyse des Male Nude in Contemporary Photography (speziell Georges Dureau und Robert Mapplethorpe) kann sie überzeugend nachweisen, in welcher Weise die Medialität des Bildes verfehlt wird, invers benannt oder aber für erotisierende Verschmelzungsphantasien des heterosexuellen Mainstreamblickes einer weißen Autorin ge/benutzt wird. So zielten die Disability Studies im Wesentlichen auf Nicht-Behinderte, die „frische Blicke“ (S. 289) auf die eigene Kulturgeschichte werfen wollen. Zu lernen hieße hier – so die Verfasserin – den »abled body zu provinzialisieren« (Dipesh Chakrabarty). Eine gelegentlich festzustellende Disparatheit der Texte erscheint den Herausgebern weniger als Makel, denn als Möglichkeit, Ansätze aus den unterschiedlichen Teildisziplinen für die Analyse audiovisueller Produktionen von Behinderung fruchtbar und auf diese Weise auch eigene disziplinäre Praktiken sichtbar zu machen. So geht es gerade nicht darum, Bilder als bloße Belegstellen für die Un-/Sichtbarmachung von Behinderung heranzuziehen, das gemeinsame Ziel ist stattdessen, die kulturelle Verfasstheit von Behinderung zu markieren, die sich in der Wechselwirkung von Blick und Bild vollzieht und fernab von einer speziellen ›Behindertenästhetik‹ Zuschreibungen von Behinderung und Nicht-Behinderung im Wandel der Zeit und des Mediums deskriptierbar werden lässt. Freilich werden diese Überlegungen nicht in jedem Beitrag gleichermaßen vollzogen, und es wird ein mehr oder weniger ausdifferenzierter Bildbegriff verwendet, gleichwohl verweisen die Artikel thematisch wie auch historisch aufeinander und zugleich auf die Komplexität der Dichotomisierungen Kontinuität versus Diskontinuität, Identität versus Alterität, Normalität versus Anormalität, Nicht-Behinderung versus Behinderung in ihrem Wechselspiel mit (audio-) visuellen bzw. medialen Praktiken. Dieser Band ist aus einer im Juni 2011 durchgeführten Tagung an der Universität Konstanz unter dem Titel »Andere Bilder. Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung« heraus entstanden; die Drucklegung erfolgte mit der freundlichen Unterstützung der Stiftung Liebenau, bei der wir uns an dieser Stelle recht herzlich bedanken möchten. Ebenso gilt unser Dank Carola Schneider und Sandra Heger, die maßgeblich Lektorat und Layout übernommen haben.
Zwischen alten Bildern und neuen Perspektiven Geistige Behinderung als Herausforderung für die Ethik M ARKUS D EDERICH
E INLEITUNG Untersucht man historische und aktuelle philosophische Texte im Allgemeinen und Beiträge zu Fragen der angewandten Ethik im Besonderen auf die Präsenz und Relevanz des Themas ›Behinderung‹, so ergibt sich ein uneinheitliches und (in Bezug auf die Thematisierungsweisen) sehr zwiespältiges Bild. Mit Blick auf ›geistige Behinderung‹ hingegen kann festgestellt werden, dass eine ernsthafte, das Thema nicht ausbeutende Auseinandersetzung noch ganz am Anfang steht. Nachfolgend werde ich mich auf eine Suche nach Spuren der Repräsentation von ›geistiger Behinderung‹ im philosophisch-ethischen Schrifttum begeben und der Frage nachgehen, wie, in welchen Kontexten und mit welchen Zielen ›geistige Behinderung‹ thematisiert wird. Ausgehend von der These, dass ›geistige Behinderung‹ eine historisch-diskursive Konstruktion ist, werde ich zeigen, dass Repräsentationen untrennbar mit Prozessen sozialer und ethischer Inklusion und Exklusion verknüpft und biopolitisch folgenreich sind. Dies soll anhand von zwei Deutungsmustern aufgezeigt werden, die die philosophischen Diskurse seit dem 18. Jh. bestimmt haben und die auch in zahlreichen aktuellen Beiträgen zu Fragen der angewandten Ethik eine zentrale theoriestrategische Rolle spielen: Die Behauptung der Tierähnlichkeit von Menschen mit (schweren) geistigen Behinderungen und die Verknüpfung von Behinderung und Leiden. In einem Ausblick sollen Hinweise darauf formuliert werden, wie solche stereotypen und einen höchst prekären Sonderstatus produzierenden Repräsentatio-
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nen verändert werden können und welche Konsequenzen dies für die Ethik haben könnte.
M ETHODOLOGISCHE V ORBEMERKUNG Meinen nachfolgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass ›geistige Behinderung‹ nicht als naturgegebene und damit deutungsunabhängige Tatsache zu verstehen ist, sondern als im Rahmen historischer, sozialer und epistemischer Kontexte modelliertes Objekt wissenschaftlichen und praktischen Wissens. Die Hervorbringung ›geistiger Behinderung‹ als wissenschaftliches Objekt ist im Gravitationsfeld disziplinärer Paradigmen und Diskurse zu sehen, die ihrerseits festlegen, was überhaupt als gesichertes Wissen gelten kann und wie dieses Wissen methodisch zu erlangen ist. Auf der anderen Seite spielen aber auch institutionelle Arrangements gesellschaftlicher Funktionen von Institutionen, diagnostische Prozeduren, praktisches Handlungswissen und anderes mehr eine bedeutende Rolle bei der historischen Hervorbringung von ›geistiger Behinderung‹. ›Geistige Behinderung‹ als Gegenstand sowohl wissenschaftlicher Theorien als auch institutionell eingebetteten praktischen Handlungswissens ist eine epistemische und pragmatische ›Optik‹ mit einem doppelsinnigen Effekt: Während die mit diesem ›Gegenstand‹ verbundenen Vorstellungen einen bestimmten pragmatisch wirksamen Blick auf die als ›geistig behindert‹ bezeichneten Menschen eröffnen, grenzen sie diesen Blick zugleich systematisch ein. Mit anderen Worten: Die Mechanismen der Theorie- und Wissensproduktion sowie das institutionell eingebettete Handlungswissen bringen einerseits ›geistige Behinderung‹ als historisches und kulturelles Phänomen hervor, andererseits bringen sie die Pluralität möglicher Erscheinungsweisen, der möglichen Weisen des Sichtbarwerdens dessen, was wir ›geistige Behinderung‹ nennen, zum Verschwinden. Hierfür ist vor allem der Machtaspekt von Wissen verantwortlich. Durch ihn werden bestimmte Erkenntnisse als ›objektiv‹ durchgesetzt und in der Folge naturalisiert und ontologisiert. Hinzu kommt das Nicht-Hören oder Nicht-Zulassen alternativer Stimmen. So hatten die als ›geistig behindert‹ Klassifizierten nie eine Chance, an der Generierung und Durchsetzung von theoretischem und praktischem Wissen über sie mitzuwirken – eben weil die Klassifikation ›geistige Behinderung‹ eine solche Mitwirkung mangels der dazu erforderlichen intellektuellen Kompetenzen per definitionem ausschließt. Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ wurde immer schon das abgesprochen, was Carlson »epistemic
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authority« 1 nennt. In methodologischer Hinsicht schärft die Untersuchung von Mechanismen der Entstehung und Funktionsweisen von epistemischer Autorität den Blick für ausschließende und unterdrückende Praktiken gegenüber Individuen, denen diese Autorität nicht zugestanden werden. Der doppelsinnige Effekt von Wissen – spezifische Optiken auf die Welt zu ermöglichen bei gleichzeitigem Ausschluss anderer Sichtweisen oder ›Wahrheiten‹ – rückt ein Schlüsselproblem der Humanwissenschaften überhaupt in den Blick: Wie repräsentieren sie ihre Gegenstände – im hier diskutierten Fall also unvertraute, erwartungswidrige, Irritationen auslösende, aus dem Rahmen des Normalen herausfallende Formen des Wahrnehmens, Erlebens, Denkens, Lernens, der körperlichen Gestalt usw.? Wie und mit welchen Folgen für die von dieser Bezeichnung betroffenen Menschen wird ›geistige Behinderung‹ durch spezifische Wissensformen hervorgebracht?
ALTE B ILDER : R EPRÄSENTATIONEN VON GEISTIGER B EHINDERUNG SEIT DEM 18. J AHRHUNDERT In der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften ist ›geistige Behinderung‹ bis heute nur selten und gleichsam en passant Gegenstand ernsthaften Nachdenkens gewesen. Eine typische Erklärung für das Desinteresse der Philosophie findet sich bei Montaigne, der folgendes dazu schrieb: »Lahme taugen nicht zu den Übungen des Körpers, und zu den Übungen des Geistes keine lahmen Seelen: die niederen und gemeinen sind der Philosophie unwürdig« 2. Eine wichtige Zäsur in der Geschichte ›geistiger Behinderung‹ ist das Zeitalter der Aufklärung, in dem sowohl auf Seiten von Medizinern und Naturwissenschaftlern als auch von Pädagogen ein gewisses wissenschaftliches Interesse an dem Thema aufkam. Infolgedessen veränderte sich der Blick auf Abweichungen und Anomalien des Menschen und führte zu bis heute wirksamen klassifikatorischen und taxonomischen Differenzierungen. Hierbei spielten einerseits das vernunftbasierte Bildungsideal der Aufklärung, andererseits die medizinischpsychiatrischen Modelle des Oligophrenie- bzw. Schwachsinnskonzepts (Debilität, Imbezillität, Idiotie) eine wichtige Rolle. Allerdings hat das pädagogische und medizinisch-naturwissenschaftliche Interesse die Marginalisierung ›geistiger
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Carlson, Licia: The Faces of Intellectual Disability. Philosophical Reflections. Bloom-
2
Mürner, Christian: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Sensations-
ington/Indianapolis: Indiana University Press 2010, S. 105ff. lust und Selbstbestimmung. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz 2003, S. 39.
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Behinderung‹ als unwürdiges Thema für die Philosophie nicht aufgehoben, sondern eher dazu geführt, diese ›Unwürdigkeit‹ ›geistiger Behinderung‹ – nicht nur für die Philosophie – theoretisch neu zu unterfüttern und zu begründen. Dies lässt sich, wie ich nachfolgend kurz skizzieren möchte, historisch relativ einfach belegen. Mit der modernen Medizin entstand im Zeitalter der Aufklärung auch die Psychiatrie, die sich wissenschaftlich mit dem »Anderen der Vernunft« auseinandersetzte. ›Irrsinn‹ und ›Verrücktheit‹ wurden von den meisten Psychiatern als organisch bedingte ›Geisteskrankheiten‹ gedeutet. Aufgrund ›irrender‹ und ›verrückter‹ Wahrnehmungen, Gedanken und Verhaltensweisen aus dem Reich der Vernunft herausfallende Menschen galten nun als krank und verschwanden in den neu entstehenden Asylen. Parallel hierzu entwickelte sich ein Interesse an den Menschen, die heute als ›lernschwach‹ und ›geistig behindert‹ bezeichnet werden, den ›Schwachsinnigen‹ und ›Idioten‹. Ein zentrales Problem bei der Diskussion um diese Gruppen war zum einen die Frage nach ihrer Bildungsfähigkeit, zum anderen die nach ihrer sozialen Brauchbarkeit. Dieses Problem trug zu wichtigen und folgenreichen Differenzierungen in der Mitte des 19. Jh. bei. Es entstand eine Trennungslinie zwischen der Klientel der Mitte des Jahrhunderts etablierten Schulen für ›schwachbefähigte‹ Kinder und den ›Idioten‹. Erstere wurden in einer Hierarchie des sozialen Wertes zwischen den höher bildbaren und den ›blödsinnigen‹ Kindern platziert. Im Gegensatz zu den ›Idioten‹ wurde ihnen die Fähigkeit zugeschrieben denken, wollen und empfinden zu können. Ebenso wie die ›Krüppel‹ galten sie als zumindest soweit erziehbar, dass in Zukunft eine soziale oder ökonomische Nützlichkeit von ihnen zu erwarten war. Demgegenüber setzte sich im Laufe des 19. Jh. vor allem bei Psychiatern die Ansicht durch, die ›Idioten‹ seien kaum zu sozialer Brauchbarkeit zu erziehen. Auch aus diesem Grund war ihr sozialer und moralischer Status der prekärste innerhalb der Gruppe intellektuell beeinträchtigter Menschen. Wie die ›Idiotie‹ in den Anfängen der Psychiatrie repräsentiert wurde, lässt sich exemplarisch an Pinel (1745-1826) und Esquirol (1772-1840) nachvollziehen. Pinel, der Lehrer Esquirols, erweist sich als zwiespältige Figur. Einerseits schuf er die Grundlagen einer modernen psychiatrischen Diagnostik, nahm den in seiner Obhut befindlichen Menschen die Ketten ab und erkannte, dass das Verhalten seiner Patienten durch die Art ihrer Unterbringung mit bedingt wurde. Andererseits schuf er ein Modell ›geistiger Behinderung‹, dem zufolge das Soziale »auf das Psychische (im Sinne einer naturhaft inneren Wesenhaftigkeit) und das Medizinisch-Psychiatrische (das Defekte und Abweichende) auf das Biolo-
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gische reduziert« 3 werden könne. Dieses enge und reduktionistische Wissen über ›geistige Behinderung‹ erfasste ausschließlich Defekte und Defizite. Andererseits wurden aus diesem Wissen Konsequenzen für den praktisch-institutionellen Umgang mit dem epistemisch derart zugeschnittenen Personenkreis abgeleitet. In einem Text aus dem Jahr 1801 beschreibt Pinel die ›Blödsinnigen‹ wie folgt: »Sie sprechen gar nicht, oder sie schränken sich bloss darauf ein, einige unarticulierte Töne herumzumurmeln; ihre Gestalt ist ohne Leben, ihre Sinne sind stumpf, ihre Bewegungen automatisch; ein habitueller Zustand von Stumpfheit, eine unüberwindliche Trägheit machen ihren Charakter aus.« 4
Ihr Leben ist eine »Art Pflanzenleben« (ebd., S. 187), das durch »Nullität« (ebd., S. 184), gekennzeichnet ist. Die klassifikatorische Einordnung ›geistiger Behinderung‹ in ein hierarchisch aufgebautes Modell des Lebendigen findet sich auch bei Esquirol. Er greift auf ein Motiv zurück, das uns nachfolgend noch beschäftigen wird. Esquirol zufolge stehen die meisten ›Stumpfsinnigen‹ »noch unter dem Tier (…), da sie nicht einmal über genügend Instinkte verfügen, um den notwendigen Bedürfnissen zur eigenen Lebenserhaltung nachzukommen«. Er hält sie »für krank ohne die Möglichkeit der Heilung, da die Seelenkräfte dieser unglücklichen Geschöpfe nicht sowohl nur gestört als vielmehr nie zu ihrer gehörigen Entwicklung kommen«. Diese Menschen sind »Mißbildungen, die dem ihnen bestimmt zu sein scheinenden frühen Tod nicht entgehen würden, schützte nicht Elternliebe und das öffentliche Mitleid ihr erbärmliches Bestehen« 5. Der These vom subhumanen Status der ›Idioten‹ setzten andere Wissenschaftler die Überzeugung entgegen, es handele sich trotz der extremen Abweichung um Menschen – allerdings Menschen mit einem überaus prekären moralischen Status. Feuser zitiert das Enzyklopädische Handbuch der Heilpädagogik von 1934, in dem die ›Idiotie‹ unter Bezugnahme auf Griesinger (1881-1952) als Ausdruck ›psychischer Nullität‹ charakterisiert wird: »Der (Voll-)Idiot lebt in
3
Feuser, Georg: »Naturalistische Dogmen: Unerziehbarkeit, Unverständlichkeit, Bildungsunfähigkeit«, in: Dederich, Markus; Jantzen, Wolfgang (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Behinderung, Bildung, Partizipation – Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 235.
4
Pinel, Philippe: Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverwirrung oder Manie. Wien: Carl Schumburg 1801, S. 179.
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Esquirol, Jean Etienne Dominique: Esquirol’s Allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Leipzig: C.H.F. Hartmann 1827, S. k.A.
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einer Welt bloßer Triebbefriedigungsmittel, ist also psychologisch weder das Subjekt von Wahrnehmungen noch von Handlungen, ethisch gesehen keine Persönlichkeit. Aber biologisch gesehen ist er kein Tier, sondern ein sehr kranker Mensch« 6. Diese Debatte über den humanen Status ›geistig Behinderter‹ (und anderer schwer behinderter Menschen) wurde nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aufblühenden Teratologie, der wissenschaftlichen Lehre von den Missbildungen, geführt. Während manche Forscher von einem humanen Status ausgingen, gingen andere (unter anderem auf evolutionsbiologische Thesen zurückgreifend) davon aus, bestimmte Missbildungen seien keine pathologischen Varianten, also Fehlformen des Menschen, sondern Vorformen, die folglich aus dem Bereich des eigentlich Menschlichen herausfallen. Ungeachtet unterschiedlicher Erklärungsmodelle und deutlich voneinander abweichender Bewertungen wird zumindest schwere ›geistige Behinderung‹ in beiden Positionen als Grenzphänomen bestimmt, das eine tief empfundene ›Krise des Menschen‹ heraufbeschwört: Einerseits als Grenzphänomene zwischen Mensch und Monstrosität, andererseits zwischen Mensch und Tier. 7 Die Bestimmung als ›Grenzphänomene‹ des Humanen trug dazu bei, ›geistig Behinderten‹ und körperlich schwer missgebildeten Menschen als bedrohlich und unheimlich wahrzunehmen. Diese Qualität wurde auch von manchen Idiotenanstalten für legitimatorische Zwecke genutzt, etwa wenn hervorgehoben wurde, die Anstalten seien aufgrund der kriminellen Energie oder moralischen Verwahrlosung der Insassen für den »Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« 8 unverzichtbar. Den in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts rasanten Anstieg der Anstaltsinsassen begründete ein Anstaltsleiter damit, die Bevölkerung habe »weniger Lust (…), solche Zerrbilder der Menschheit im Hause und auf den Gassen zu dulden«. (Ebd., S. 148) Die Anstalten beanspruchten daher für sich die wichtige ›sozialhygienische‹ Funktion, den öffentlichen Raum von ordnungswidrigen Elementen zu befreien und sauber zu halten. Nach diesen eher allgemein gehaltenen Hinweisen möchte ich auf zwei historisch besonders wichtige Elemente der Repräsentation ›geistiger Behinderung‹
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Feuser: Naturalistische Dogmen, S. 235. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007, S. 99ff.
8
Fandrey, Walter: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart: Silberburg-Verlag 1990, S. 146.
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hinweisen: die Zuschreibung eines subhumanen Status und die Identifikation von Behinderung und Leiden. a) Der subhumane Status der ›Idioten‹: Tierähnlichkeit In ihrer philosophischen und wissenschaftshistorischen Studie rekonstruiert Carlson verschiedene historische Deutungsmuster von ›geistiger Behinderung‹. 9 Hierbei lassen sich idealtypisch verschiedene konzeptionelle Paare unterscheiden, die jeweils aus entgegengesetzten Positionen bestehen. Dazu gehören statische vs. dynamische Erklärungsmodelle, von organischen vs. nichtorganischen Ursachen ausgehende Theorien sowie Modelle, die die Differenz zwischen Menschen mit ›geistigen Behinderungen‹ und Nichtbehinderten quantitativ vs. qualitativ deuten. Auf das letztgenannte konzeptionelle Paar werde ich nachfolgend kurz eingehen. Quantitative Modelle gehen davon aus, dass ›geistige Behinderungen‹ graduelle Abweichungen von normalen kognitiven oder intellektuellen Funktionen sind. Die quantitativ-gradualistische Sichtweise ordnet ›geistige Behinderung‹ als defizitäre Variante in ein Spektrum von Ausprägungsformen des Menschlichen ein. Das plastische Bild für dieses Modell ist die Deutung von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ als Kinder. Als solche verkörpern sie die früheste oder rudimentärste Form der Entwicklung des menschlichen Potentials. Quantitative Modelle fassen Differenz also bezüglich des Grades oder der Intensität. Diese Modelle sind bis in die Gegenwart hinein überaus einflussreich und finden sich in verschiedenen Varianten auch im wissenschaftlichen Diskurs über ›geistige Behinderung‹ wieder. (Vgl. ebd.) Demgegenüber deuten qualitative Modelle ›geistige Behinderung‹ als ›andersartig‹: je schwerer die Behinderung, umso radikaler und unüberbrückbarer die Differenz zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. Diese Differenz ist nicht egalitär, sondern hierarchisch: je schwerer die Behinderung, umso weiter unten in der Hierarchie ist das betroffene Individuum anzusiedeln. Diese Hierarchisierung beschränkt sich aber nicht auf die Gattung Mensch, sondern das Lebendige Überhaupt. Besonders wichtig sind Mensch-Tier-Vergleiche, aber auch der Vergleich von Mensch und Pflanze ist gängig. Entsprechend findet sich bis in die Gegenwart hinein der Topos, ›geistige Behinderung‹ als tierähnlich oder sub-human zu deuten, also nicht mehr als zum Kontinuum des Menschlichen gehörend.
9
Carlson: The Faces of intellectual Disability, S. 28ff.
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Wie Carlson zeigt, war insbesondere diese Denkrichtung anfällig für rassistisches Gedankengut. 10 Ein Beispiel hierfür ist die Deutung der Trisomie 21 als ›Mongolismus‹, also deren Gleichsetzung mit einer als minderwertig angesehenen Rasse. Die Interpretation ›geistiger Behinderung‹ als subhuman hat im rassenhygienischen Diskurs der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und ihrer Vordenker als wichtige Denkfigur für die moralische Legitimation der Zwangssterilisation und Euthanasie gedient. Aufgrund ›geistiger‹ und ›moralischer‹ Defektivität und fehlender sozialer Brauchbarkeit sahen etwa Binding und Hoche (1920) den subhumanen Status ›geistig Behinderter‹ als erwiesen an. Die Beseitigung der ›leeren Menschenhülsen‹, ›geistig völlig Toten‹ und ›Ballastexistenzen‹ stellte aus ihrer Sicht »kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung« dar, »sondern einen erlaubten nützlichen Akt« (ebd., S. 57). Sie seien nicht zu produktiven Leistungen fähig, es fehle ihnen an klaren Vorstellungen, Gefühlen und Selbstbewusstsein. »Die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wieder finden, und auch die Gefühlsregungen erheben sich nicht über die Linie elementarster, an das animalische Leben gebundener Vorgänge« (ebd., S. 57f). Daraus folgte für Binding und Hoche zwingend, dass sie auch keinen »subjektiven Anspruch auf Leben« (ebd., S. 58) hätten. Nun hat es nicht nur eine lange historische Tradition, ›geistig Behinderte‹ mit Tieren zu vergleichen. Solche Vergleiche finden sich auch als immer wiederkehrendes Motiv in aktuellen bioethischen Debatten, vor allem in der Tierethik und der Diskussion über den moralischen Status verschiedener Lebewesen. Es ist frappierend zu sehen, dass im Kontrast zur sonstigen weitgehenden Abwesenheit von ›geistiger Behinderung‹ im philosophischen Diskurs dieses Thema im Rahmen der Tierethik eine geradezu zentrale Bedeutung hat. Allerdings muss diese Bedeutung vor allem im Sinne einer Ausbeutung für argumentations- bzw. theoriestrategische Zwecke gesehen werden. Dies lässt sich an den bekannten einschlägigen Arbeiten Peter Singers (1994) und Jeff McMahans (1996) zeigen. Eine der zentralen Argumentationsfiguren sowohl in Singers Arbeiten zum Tierschutz als auch bei seiner Begründung der moralischen Legitimität aktiver Sterbehilfe ist der Vorwurf des Speziezismus 11. Kern dieses Vorwurfs ist, dass der menschlichen Spezies in Bezug auf den moralischen Status ein willkürliches und ungerechtfertigtes Privileg eingeräumt wird mit der Folge, Tieren die ihnen zustehenden Rechte vorzuenthalten. Der Vorwurf des Speziezismus wird sehr häufig an Menschen mit schweren ›geistigen
10 Carlson: The Faces of intellectual Disability, S.28ff. 11 Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik. Neuausgabe. Stuttgart: Reclam 1994, S. 82ff.
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Behinderungen‹ festgemacht. Da Singer, McMahan und andere glauben, bestimmte nichtmenschliche Tiere hätten höhere kognitive Fähigkeiten als Menschen mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen, müssen moralische Grenzziehungen und die damit verbundene Verteilung von Rechten und Pflichten neu konzipiert werden. Maßstabbildend sind kognitive Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein und Rationalität, die bloße Menschen von Personen unterscheiden. Bekanntlich sagt Singer, es gebe Menschen im Sinne der Zugehörigkeit zur Gattung und Personen. Die Pointe ist, dass auch nichtmenschliche Tiere Personen sein können, während nicht alle Menschen Personen sind. 12 Dies hat zur Folge, dass menschliche Nichtpersonen Tieren qualitativ ähnlicher sind als menschlichen Personen. Ihr moralischer Status entspricht demjenigen von Tieren oder liegt sogar noch darunter. Berühmt ist etwa folgendes Zitat: »So scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann«. 13 Zum Schluss dieses Abschnittes muss noch vermerkt werden, dass die Konstruktion von hierarchisch angelegter qualitativer Differenz sich nicht mit der Tieranalogie begnügt. Wie bereits bei Pinel (1801) angeklungen, gibt es nach Ansicht vieler Forscher menschliches Leben, das als noch unter der Tierwelt stehend eingeordnet wird und eher pflanzlicher Art ist. Pflanzenanalogien haben bis in die Gegenwart hinein überlebt und finden sich beispielsweise im Diskurs über bestimmte Formen von ›Bewusstlosigkeit‹, etwa das apallische Syndrom, klassifikatorische Bezeichnungen wie ›permanent‹ oder ›persistent vegetative state‹. 14 b) Die Unerträglichkeit des Lebens: Behinderung und Leiden Die Geschichte der Wissenschaften liefert zahllose Belege für die zumindest in westlichen Kulturen der Neuzeit dominierende Überzeugung, dass Krankheit und Behinderung von Grund auf weitestgehend negativ wahrgenommen und bewertet werden. Vor allem mit Blick auf schwere körperliche und geistige Behinderungen ist diese Deutung im Laufe der Jahrhunderte immer wieder dahingehend zugespitzt worden, Behinderung mit Leiden zu identifizieren und daher als qualitativ signifikante Minderung des Lebenswerts zu deuten. Diese Deutung ist
12 Vgl. Singer: Praktische Ethik, S. 120. 13 Vgl. ebd., S. 156. Vgl. auch Carlson: The Faces of Intellectual Disability, S. 144. 14 Jörg, Johannes: Stichwort »Koma, irreversibles/irreversibel Komatöse«, in: Lexikon der Bioethik. Herausgegeben von Wilhelm Korff, Lutwin Beck und Paul Mikat. Gütersloh: Güterloher Verlagshaus 2000, S. 407-409.
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aber nicht nur in historischen Diskursen über geistige Behinderung virulent; sie wird auch in der gegenwärtigen Diskussion über medizin- und behindertenethische Fragen immer wieder aufgegriffen. Die Identifizierung von Behinderung und Leiden bildet sich in vielen alltagssprachlichen Formulierungen ab, etwa »er leidet an einer Behinderung«. Da nun Behinderungen im Gegensatz zu Krankheiten (ausgenommen chronische Erkrankungen) nicht heilbar sind, gehört auch das Leiden als Dauerzustand wesenhaft zum Zustand des Behindertseins. Damit wird keineswegs abgestritten, dass behinderte Menschen auch an bzw. unter bestimmten Folgen ihrer Behinderung leiden können – die Formel ›Behinderung = leiden‹ jedoch ist als Projektion Nichtbehinderter zurückzuweisen. 15 Historisch gesehen war es im europäischen Kulturraum vor allem die christliche Tradition, die das Mitleid als moralisch adäquate Antwort auf wahrgenommenes Leiden zu einer Kardinaltugend erhoben hat. Dabei erweisen sich die Verknüpfung von Behinderung und Leiden und die Postulierung des Mitleids als moralisch adäquater Antwort auf dieses Leiden als zwiespältig. Auf der einen Seite spielten christlich-karitative Motive bei der Herausbildung der ›Idiotenanstalten‹ im 19. Jh. und bei der Begründung für pädagogisches Handeln eine wichtige Rolle, und noch im 20. Jh. gründeten Hanselmann und Moor ihre Heilpädagogik auf christlicher Nächstenliebe und tätigem Mitleid. 16 Auf der anderen Seite wurde schon früh bemängelt und kritisiert, dass Mitleid eine als problematisch wahrgenommene Asymmetrie, nämlich ein Verhältnis von Über- und Unterordnung, in helfende Beziehungen einbaut. Daher wurde Mitleid zunehmend als entwürdigend, verächtlich oder die Identität behinderter Menschen angreifender herrschaftlicher Übergriff empfunden. Tatsächlich spielt die scheinbar unauflösbare Verkoppelung von Behinderung und Leiden bei der Modellierung und Repräsentation von ›geistiger Behinderung‹ vor allem in Hinblick auf Prozesse sozialer und moralischer Exklusion eine maßgebliche Rolle. Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist die Mitleidstötung, die das vorgeblich moralisch inspirierte Ziel verfolgt, schwer behinderte Menschen durch eine als Akt der Gnade bezeichnete Tötungshandlung von ihrem Leiden zu befreien. Klaus Dörner (1988) hat diese Begründung der ›Euthanasie‹, die sich im Kontext des Sozialdarwinismus und der Rassenhygiene im späten 19. und frühen 20. Jh. herausgebildet hat, treffend als »tödliches Mitleid«
15 Vgl. Linton, Simi: Claiming Disability. Knowledge and Identity. New York/London: NYU Press 1998, S. 26. 16 Vgl. Moor, Paul: Heilpädagogik. Bern/Stuttgart/Wien: Huber 1974; Hanselmann, Heinrich: Einführung in die Heilpädagogik. Zürich/Stuttgart: Rotapfel 1976.
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bezeichnet. Nach Dörner ist das tödliche Mitleid eine Folge der Medizinisierung der sozialen Frage und zugleich ein moralisch-psychologisches Instrument, die Lösung dieser Frage mit den Mitteln der Eugenik und der Euthanasie zu legitimieren. Vor allem diejenigen Menschen wurden zum Gegenstand des Mitleids, die ihre soziale Brauchbarkeit nicht mehr nachweisen konnten und an gesellschaftlichen Minimalanforderungen etwa bezüglich ihrer Produktivität scheiterten. Koffler spricht von einer »unheiligen Allianz«, 17 zwischen Sozialdarwinismus und Mitleidsethik, die aus einer ›Pflicht zum Mitleiden‹ eine ›Pflicht zum Sterben‹ (vgl. ebd., S. 47ff) gemacht hatte. Auch heute noch ist diese Wahrnehmungs- und Denkfigur virulent. Ein Beispiel für ihre Aktualität liefert die im Mai 2011 entbrannte Diskussion über die Verleihung eines Preises an Peter Singer für seine Verdienste um die Förderung von Tierrechten durch die Giordano-Bruno-Stiftung. In einer die Preisverleihung legitimierenden Stellungnahme der Stiftung heißt es: »Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht verdrängen, dass es mitunter schwerwiegende Behinderungen oder Krankheiten gibt, die so schreckliche Qualen erzeugen, dass es sehr wohl vernünftig erscheinen kann, den Tod dem Leben vorzuziehen. Ich denke da etwa an Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium oder an besonders schwere Fälle von Spina bifida«. 18
N EUE B ILDER In einer zusammenfassenden Passage ihrer Studie schreibt Carlson: »Persons with intellectual disabilities in much of philosophical discourse are both marginalized and conceptually exploited, and often only appear on the philosophical stage to serve as a backdrop for concerns about justice for other groups. Though these two modes of oppression are conceptual, they may be as potentially harmful as concrete forms of oppression. At the very least they uncritically sanction the continual pairing of the mentally retarded and nonhuman animals, perpetuate stereotypes and prototypes, and deflect attention from the problem of justice for persons with intellectual disabilities«. 19
17 Koffler, Joachim: Mit-Leid. Geschichte und Problematik eines ethischen Grundwortes. Würzburg: Echter 2001, S. 47. 18 Giordano-Bruno-Stiftung: Signal für Tierrechte und aufgeklärte Streitkultur: http://www.bioethik-diskurs.de/documents/wissensdatenbank/Gutachten/BiomedizinDisability.html, letzter Zugriff am 17.08.2005. 19 Carlson: The Faces of Intellectual Disability, S. 200.
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Nun haben bekanntlich Positionen wie diejenigen Peter Singers und anderer immer wieder heftige Kritik auf sich gezogen. So sehr auch die alten Modellierungen und Repräsentationen heute noch in zeitgenössisch eingekleideter Fassung virulent sind und viele Anhänger haben, so deutlich zeichnen sich in Hinblick auf die vorab diskutierten zwei Beispiele auch andere Sichtweisen und Zugänge ab, auf die ich nachfolgend kurz eingehen möchte. c) Zur Speziezismusdebatte und der Analogisierung von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ und Tieren In Bezug auf die behauptete Tierähnlichkeit von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ stellen sich mindestens zwei Fragen: Muss die Begründung der Kritik am Speziezismus überhaupt zwingend auf Menschen mit schweren ›geistigen Behinderungen‹ zurückgreifen? Und: Sind die Zurückweisung der Angleichung des moralischen Status von nichtmenschlichen Tieren und Menschen mit schweren geistigen Behinderungen sowie das Festhalten an deren Humanität überhaupt eine Form des Speziezismus? In Bezug auf die erste Frage ist zu sagen, dass der Einsatz für die Rechte von Tieren nicht zwingend auf Vergleiche mit schwer ›geistig Behinderten‹ zurückgreifen muss. Man kann sich für eine verbesserte Schutzwürdigkeit von Tieren einsetzen, ohne dies auf Kosten bestimmter Menschen zu tun. Der Rückgriff auf diese Menschen hat letztlich strategische Funktionen und beutet, sie für argumentative Zwecke auszubeuten. Bezüglich des Speziezismusproblems fragt Carlson (2010), ob die Infragestellung der Behauptung der Tierähnlichkeit ›geistig behinderter‹ Menschen und die Forderung nach der Anerkennung ihrer Menschlichkeit tatsächlich ein Beleg für eine speziezistische Argumentation ist. »For to say that the severely intellectually disabled are not profoundly other, that they should not be placed at the margins of our moral boundaries alongside nonhuman animals, or that we should recognize some shared humanity with them seems to imply that there is something distinctive and morally relevant about being human. So can one make these claims without being speciesist?«20
Ein Argument gegen den Speziezismus ist die auf Gefühlen beruhende Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Carlson spricht eine Dimension an, die in vielen Argumentationen völlig untergeht. Die Menschlichkeit von Menschen
20 Carlson: The Faces of Intellectual Disability, S. 148.
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mit schweren ›geistigen Behinderungen‹ zu sehen hat eine wichtige Gefühlskomponente: Sie ist eine affektiv getönte Antwort auf die Anwesenheit von Mitmenschen. Diese Affinität ist von anderer affektiver Qualität als das, was wir Tieren gegenüber empfinden. Es zeigt sich beispielsweise in der Empörung, die wir empfinden, wenn Menschen – wer immer sie sonst seien – unmenschlich behandelt werden. Ohne Zweifel gibt es eine solche Empörung auch, wenn Tiere schlecht behandelt werden – aber es ist eben keine Empörung über eine unmenschliche Behandlung. In dieser Anerkennung der (Mit-)Menschlichkeit des Anderen artikuliert sich eine ganz andere Art von Verbundenheit oder Verwandtschaft als in der Bezeichnung ›Angehöriger der Gattung‹. Dabei ist von Bedeutung, dass der Terminus Mensch hier ein emphatischer ist, er also mehr meint als eine biologisch-systematische Zuordnung. Wenn wir das Konzept biologisch definierter Gattungszugehörigkeit hinter uns lassen und ein Konzept der Mitmenschlichkeit des Anderen entwickeln, dürfte es keine Schwierigkeit mehr bereiten, auch moralisch gewichtige Unterschiede zwischen nichtmenschlichen Tieren und geistig Schwerstbehinderten zu erkennen, ohne deshalb zugleich unsere naturgeschichtliche Verwandtschaft mit Tieren zu verleugnen und sie in der Folge ungerechtfertigt zu benachteiligen. Einen Begründungsweg für einen solchen Blickwechsel liefert Alasdaire MacIntyre (1991). Nach seiner Konzeption sind wir ›menschliche Tiere‹, deren Leben aufgrund ihrer leiblichen Verfasstheit immer auch durch Abhängigkeit, Verletzbarkeit und Endlichkeit gekennzeichnet ist. Dies ist etwas, das alle Menschen, unabhängig von ihren unterschiedlichen intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten, teilen. Im Rahmen einer solchen Anthropologie verlieren die historisch wirkungsmächtigen scharfen Trennungen zwischen gesunden und kranken, behinderten und nichtbehinderten Menschen ihre scheinbare normative Eindeutigkeit. Diese Anthropologie erinnert daran, dass Verletzungen, Traumatisierungen, die Einbuße kognitiver, körperlicher oder sozialer Funktionen, Schmerzen usw. zum Spektrum menschlicher Erfahrungen gehören und geradezu konstitutiv für das Humanum sind. Den Menschen als ›abhängiges rationales Tier‹ (MacIntyre) zu begreifen, erhebt darüber hinaus aber den Menschen nicht unangemessen über die Tiere, sondern erinnert an über die Gattungsgrenzen hinausreichende Verwandtschaften. Die Grundthese lautet also: Es gibt ethisch relevante Unterschiede zwischen einer inklusiven Philosophie der Animalität des Menschen, die die Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ bewahrt und solchen Ansätzen der praktischen Ethik, die bestimmte behinderte Menschen auf der Basis der Tieranalogie aus der moralischen Gemeinschaft der Menschen ausschließen.
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d) Zur Gleichsetzung von Behinderung und Leiden Ohne Zweifel gibt es schwere Krankheiten und Behinderungen, die für die Betroffenen und ihre Angehörigen mit erheblichen Einschränkungen, Belastungen und Leiden, etwa in Folge von Schmerzen, einhergehen. Wegen der reduktionistischen Gleichsetzung von Behinderung und Leiden in den Wissenschaften und der nichtbehinderten Umwelt lässt die Behindertenbewegung in einer Absetzbewegung gelegentlich die Tendenz erkennen, dies zu leugnen. So schreibt Köbsell: »In der Behindertenbewegung war es lange Zeit geradezu verpönt, über das eigene ›Leiden‹, also die Probleme, Schmerzen etc., die Folgen der Schädigung sein können, zu sprechen, denn das hätte das Bild, das Nichtbehinderte von Behinderten haben, bestätigt. Inzwischen kann man darüber sprechen. Allein, es bleibt das Unbehagen, damit wieder denjenigen den Ball zuzuspielen, die schon immer zu wissen glaubten, dass Behinderung vor allem Leid bedeutet und deshalb auf jeden Fall verhindert werden muss – und sei es durch Verhinderung der Leidenden, zum Beispiel durch Pränataldiagnostik und selektive Abtreibung.« 21
Bezieht man sich jedoch auf eine Anthropologie, die die Leiblichkeit des Menschen, seine Verwundbarkeit, Verletzbarkeit und Animalität mit einbezieht, werden die historisch wirkungsmächtigen Trennungen zwischen gesunden und kranken, behinderten und nichtbehinderten Menschen hinfällig. »Wenn das Leiden in all seinen Formen mit unserem Leben verquickt ist, wenn Leiden und Tun sich ergänzen wie Ein- und Ausatmen und wenn die eminente Verletzlichkeit unseres Daseins die Kehrseite unserer Empfänglichkeit ist – dann hat die schlichte Verneinung oder Herabsetzung des Leidens eine ebenso schlichte Verneinung und Herabsetzung des Lebens zur Folge.« (Ebd., Hervorhebung im Original)
Hieraus ist, folgt man Waldenfels, die Schlussfolgerung zu setzen, »dass man die Gewichte des Lebens anders setzt und auf eine Meisterung des Lebens samt seiner Leiden hinarbeitet« 22. Zu entwickeln wäre also eine Perspektive, die die Thematisierung des Schmerzes und des Leidens auch im Kontext von Behinde-
21 Köbsell, Swantje: Die aktuelle Biomedizin aus Sicht der Disability Studies. Gutachten für die AG Bioethik und Wissenschaftskommunikation am Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin (MDC). Berlin 2003, S. 15f. 22 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 129.
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rung ermöglicht, ohne Behinderung einfach damit gleichzusetzen – und in der Folge behindertenfeindliche exkludierende ›Erlösungspraktiken‹ zu legitimieren. Der Legitimation der Euthanasie als Mitleidstötung lag jedoch, wie Saal betont, eine eigentümliche projektive Verschiebung zugrunde. Ihr eigentliches Ziel war nicht die Erlösung des Anderen, sondern die Erlösung vom Anderen, »der mich in seiner von mir geschiedenen Lebensform beunruhigt« 23 und deshalb zum Verschwinden gezwungen werden soll. Tatsächlich, so Saal, gibt es aus der Außenperspektive kein ›lebensunwertes‹ Leben: »Diese Bestimmung ist nämlich ausschließlich an mein eigenes Erleben gebunden, das niemand anders in seiner ganzen Fülle nachvollziehen kann« (ebd., S. 106). Die Behauptung, behinderte Menschen müssten mehr leiden als andere, ist »ein Urteil des Wegsehens, nicht des Hinsehens« (ebd., S. 107).
S CHLUSSBEMERKUNG Neue Perspektiven ergeben sich zumindest indirekt aus den historischen Studien. Zeigen diese die diskursive, wissenschaftshistorische Konstruktion von geistiger Behinderung in Wechselspiel mit sozial- und institutionengeschichtlichen Kräften auf, machen sie zugleich auch deutlich, dass die analytische Freilegung und ›Dekonstruktion‹ dazu zwingt, die Phänomene nochmals und neu zu betrachten. Nach dem hier zugrunde gelegten Zugang ist die Konstitution ›geistiger Behinderung‹ als Gegenstand wissenschaftlichen und philosophischen Wissens sowie institutionalisierter Praktiken ein machtgestützter Prozess, der aus einer Beobachterperspektive bzw. einer Perspektive der dritten Person erfolgt. Wie die Überlegungen der beiden vorangehenden Abschnitte gezeigt haben, ist diese Perspektive einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. Einerseits muss sie, so etwa Kittay (2010), durch eine relationale Sicht des Menschen ersetzt werden. Hiernach ist jeder Mensch ein situiertes, in ein Netzwerk von Beziehungen eingebettetes Subjekt, dessen Lebenswirklichkeit sich in verschiedenen Hinsichten nicht erschließt, wenn er nur als Objekt angesehen wird. An die Stelle der Perspektive der dritten Person setzt Kittay die Perspektive der zweiten Person. Aus dieser relationalen Sicht sind die Versuche Singers (1994) und McMahans (1996), den moralischen Status von Menschen mit einer Liste kogni-
23 Saal, Fredi: Notwendige Ergänzungen von Fredi Saal, in: Dörner, Klaus: Tödliches Mitleid. Zur Frage der Unerträglichkeit des Lebens oder: die Soziale Frage: Entstehung, Medizinisierung, NS-Endlösung, heute, morgen. Gütersloh: Jakob van Hoddis im Förderkreis Wohnen, Arbeit, Freizeit 1988, S. 104.
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tiver, psychologischer oder anderer Fähigkeiten zu begründen, zurückzuweisen: »Because what it is to be human is not a bundle of capacities. It’s a way that you are, a way you are in the world, a way you are with another« 24. Zugleich zeigt die mit einer Ich-Du-Beziehung einhergehende Perspektive der zweiten Person, dass unser Wissen vom anderen Menschen stets begrenzt ist. Diese Begrenztheit aber entgeht häufig denjenigen, die ›geistige Behinderungen‹ aus der Perspektive der dritten Person betrachten, sich im Besitz rational fundierten Wissens wähnen und glauben, die kognitiven Fähigkeiten ›geistig Behinderter‹ zu kennen. Tatsächlich aber, so Kittay in einer scharfen Formulierung, wissen Autoren wie Singer und McMahan buchstäblich gar nichts. Nicht einmal ihr Nichtwissen geht ihnen auf, weil sie annehmen, dass die wenigen ihnen bekannten groben Fakten das kognitive und emotionale Leben ›geistig behinderter‹ Menschen hinreichend aufklären und daher für ihre moralischen Urteile ausreichend sind. (Vgl. ebd., S. 405) Bezugnehmend auf Erfahrungen mit ihrer schwer ›geistig behinderten‹ Tochter Sesha schreibt sie: »Now what cognitive capacities Sesha possesses I do not know, nor do others. And it is hubris to presume to know. I am often surprised to find out that Sesha has understood something or is capable of something I did not expect. These surprises can only keep coming when she and her friends are treated in a manner based based not on the limitations we know they have but on our understanding that our knowledge is limited.« (Ebd., S. 405, 408)
Was die Philosophie und die Humanwissenschaften also von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ lernen könnten, wäre auf neue Weise die eigenen Grenzen des Verstehenkönnens zu reflektieren und zu erkennen, dass vermeintlich ›objektive‹ Beschreibungen häufig Zuschreibungen sind, durch die die eigenen epistemischen Begrenztheiten in Eigenschaften des Anderen (etwa ›Unzugänglichkeit‹, ›Unverstehbarkeit‹ oder ›Unfähigkeit zur Kommunikation mit der Umwelt‹) verwandelt werden. In Beziehung zu treten statt einfach nur über Menschen zu reden bedeutet nicht nur, eine Haltung epistemischer Bescheidenheit einzunehmen, sondern auch die Perspektive der zweiten Person gegenüber derjenigen der dritten Person stark zu machen.
24 Kittay, Eva Feder: »The Personal Is Philosophical Is Political. A Philosopher and Mother of a Cognitively Disabled Person Sends Notes from the Battlefield«, in: Kittay, Eva Feder; Carlson, Licia (Hg.): Cognitive Disability and its Challenge to Moral Philosophy. Chichester: Wiley-Blackwell 2010, S. 408.
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Eine weitere wichtige Strategie ist die Stärkung der Perspektive der ersten Person. Nach dieser Perspektive gilt es, Betroffene so weit wie möglich selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Relevanz und das Veränderungspotential dieser Perspektive für die Bioethik hat vor allem Scully (2008) herausgearbeitet. Durch ihre Stärkung und Berücksichtigung in bioethischen Diskursen und biopolitischen Entscheidungsprozessen könnte die Dominanz von verallgemeinerten und abstrakten ›diagnostischen‹ Kriterien bzw. Kriterienkatalogen gebrochen und der persönlichen Erfahrung ein stärkeres Gewicht gegeben werden. Natürlich bedeutet die Anerkennung der Subjektivität behinderter Menschen nicht zwingend, dass diesen nun eine letzte Autorität zukommen soll, und wir ihren Wahrnehmungen und Urteilen zwingend zu folgen haben. Jedoch kann das anerkennende Hinsehen und Hinhören dazu führen, dass unserem Wissen über ›Behinderung‹ neue Facetten hinzugefügt werden, sich unser Bild verändert und wir u.U. zu anderen Urteilen kommen als zuvor. »But whatever the effect on individual judgements, the decision to give serious attention to the embodied experiences of impairment is an ethical act in itself«. 25 Scully nennt dies eine Haltung epistemischer Offenheit gegenüber den empirischen und subjektiven Fakten, die behinderte Menschen aus ihrem Leben zu berichten haben. Den Unterschied zwischen der Strategie, moralische Urteile über behinderte Menschen anhand vorab existierender Kriterienkataloge und der alternativen Strategie, individuelle Sichtweisen und Erfahrungen zu achten und zu berücksichtigen, bringt Scully prägnant wie folgt zum Ausdruck. Operiert die erste und historisch fest etablierte Strategie an der Leitfrage »how do you measure up against my standard?«, stellt die alternative Strategie die Frage »tell me the truth of your experience« (ebd., S. 175). Ohne Frage stößt diese Strategie bei Menschen mit sehr schweren intellektuellen Beeinträchtigungen, die über keine Verbalsprache verfügen und die ihre Erfahrungen und Wünsche nur begrenzt oder auf wenig eindeutige und unmissverständliche Weise artikulieren können, an ihre Grenzen. Ungeachtet dessen würde die Stärkung der Perspektiven der zweiten und der ersten Person eine folgenreiche Neuausrichtung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ›geistiger Behinderung‹ mit sich bringen. Diese Auseinandersetzung sollte aus den vorab angedeuteten Gründen immer dessen eingedenk sein, was Waldenfels »repräsentative Differenz« 26 nennt. Da-
25 Scully, Jackie L.: Disability Bioethics. Moral Bodies, Moral Difference. Lanham: Rowman & Littlefield 2008, S. 174. 26 Waldenfels, Bernhard: »Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung«, in: Därmann, Iris; Jamme, Christoph (Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 34.
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mit ist ein in der Sache selbst liegender Überschuss gemeint, aufgrund dessen das Repräsentierte durch die Modi seiner Repräsentation nicht ausgeschöpft werden kann und so auch vor dem Zugriff eines totalisierenden Wissens geschützt ist. Dieser Blick auf die Grenzen der Repräsentation kann unsere Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass die skizzierten historischen Bilder von ›geistiger Behinderung‹ den Gegenstand nicht erschöpfen können, auch wenn sie das Bild dominieren. Jenseits der Festlegung des Lebens behinderter Menschen auf ein belastendes und belastetes Leben würde sich ein Raum dafür öffnen, sie in ihrer Menschlichkeit wahrzunehmen, ohne sie in ein bestimmtes neues Bild zu zwängen.
Der Blinde als der Andere Moderne Praktiken epistemischer Politik 1 M ICHAEL S CHILLMEIER
Seit dem 17. Jahrhundert ist der ›Blinde, der wieder sehen kann‹ zu einer wichtigen erkenntnistheoretischen Figur geworden. Der Figur des Blinden wird seither in der Philosophie, Wissenschaft, Medizin und Pädagogik entsprechende Aufmerksamkeit zugesprochen. Der folgende Beitrag bezieht sich auf einen der Schlüsseltexte der Moderne, »An Essay Concerning Human Understanding« von John Locke aus dem Jahre 1690/91 und analysiert die historische Fassung von Blindheit im Rahmen moderner erkenntnistheoretischer Interessen, deren soziale und politische Auswirkungen sich bis zum heutigen Tage finden lassen. Blindheit wird hierbei als (1) eine bloße (Dys-)Funktion des Sehens, (2) eine individuelle Schädigung, und/oder (3) als ein Zustand erkenntnistheoretischen Nichtwissens, beschrieben. Darüber hinaus führt Lockes Essay in die ›Bifurkation der Natur‹ 2 in primäre und sekundäre Qualitäten ein, eine Trennung, die für die zeitgenössischen Disability Studies immer noch eine entscheidende Rolle spielt, wenn es darum geht, individuelle/medizinische Modelle der Schädigung sozialen Modellen der Behinderung kritisch gegenüber zu stellen. Abschließend wird eine Perspektive vorgeschlagen, die die Praxis der Blindheit einschließt, anstatt sie durch eine epistemische Politik zu marginalisieren oder gar auszugrenzen.
1
Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal im Jahre 2006 auf Englisch in Disability & Society, Volume 21, No. 5 unter dem Titel »Othering Blindness – On Modern Epistemological Politics«; diese Übersetzung ins Deutsche stammt von Anna Grebe und wurde von Michael Schillmeier lektoriert.
2
Whitehead, Alfred North: Concept of Nature. Cambridge: Cambridge UP 2000.
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»Wenn der Mensch an die Kindheit anzuknüpfend die immerwährende Geburt der Wahrheit zu wiederholen vermag, dann verdankt er dies der klaren, distanzierten und offenen Naivität des Blicks. Darum waren der fremde Beschauer in einem unbekannten Land und der Blindgeborene, dem das Augenlicht geschenkt wird, die beiden großen mythischen Erfahrungen, in welchen die Philosophie des 18. Jahrhunderts ihr Fundament sah.« 3
E INLEITUNG Man stelle sich einen Menschen vor, der blind geboren ist und später im Leben sein Augenlicht wieder erlangt. Würde dieser Mensch automatisch sehen können? Würde er zunächst das Sehen erlernen müssen? Und was könnte dies uns über das Sehen, Denken und Lernen lehren? Diese hypothetischen Fragen wurden von dem Iren William Molyneux im Jahre 1688 gestellt und werden als ›Molyneux-Problem‹ die Geschichte der Blindheit mitbestimmen. Molyneuxs Fragestellung wurde bekannt durch John Lockes »An Essay Concerning Human Understanding« (1706/1991) 4 und löste eine lebhafte Diskussion aus, in welcher sich auf eindrucksvolle Weise optische, philosophische, politische und pädagogische Interessen vereinten. Die erkenntnistheoretischen Belange gewannen wiederum mit dem Aufkommen der Möglichkeit, Blindheit durch die Operation des Grauen Star zu heilen, an Bedeutung. 5 Die wundersame Heilung des Tobit im Alten Testament war, wenn auch nicht aufgrund der Erscheinung eines Engels Realität geworden, so doch durch eine erfolgreich von der Medizin eingesetzte technische Erfindung. In der Folge waren es Ärzte, Optiker, Philosophen und Erzieher für die die Figur des Blinden interessant wurde. Im vorliegenden Beitrag bezeichnet der Begriff ›moderne epistemische Politik‹ all jene Praktiken
3
Foucault, Michel: The birth of the clinic. An archaeology of medical perception
4
Der Essay wurde zum ersten Mal im Jahre 1690 veröffentlicht, ab der zweiten Ausga-
[1963]. London: Routledge, S. 79ff. be wird das Molyneux-Problem beschrieben. Hier wird die fünfte Ausgabe aus dem Jahre 1706 zitiert. 5
Diese von Augen-Chirurgen durchgeführten Operationen verliefen unter Verwendung einer Nadel, mit der die opake Linse auf die Seite geschoben wurde, sodass sie nicht mehr im Blickfeld war (vgl. Degenaar, Marjolein: Molyneux’s problem. Three centuries of discussion on the perception of forms. Dordrecht/London/Boston: Kluwer 1996, S. 58).
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und Haltungen, welche sich zum Thema Blindheit und einer mögliche Heilung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts angesammelt haben. Moderne epistemische Politik kündet von einer einschneidenden Veränderung der Geschichte der Blindheit. Die rätselhafte und zugleich plagende Unfähigkeit der Sehenden, die Natur der Blindheit zu ergründen, eine die Menschheit und das menschliche Denken seit der Antike begleitende Grenzerfahrung, könnte nunmehr überwunden werden. 6 Im alten Griechenland und dessen ›Kultur des Lichts‹ erscheint der Blinde als die Figur, welche die ambivalente Grenze der eigenen sozialen und kulturellen Praxis benennt; der Blinde wird wegen seines unüberwindbaren Leids und Unglücks bemitleidet und zugleich aber für seinen sechsten Sinn geschätzt. 7 Für die alten Griechen lebt der blinde Mensch in einem unergründlichen Bereich der ›Dunkelheit‹, welcher zugleich menschlich wie unmenschlich ist. 8 Mit der Möglichkeit der medizinischen Heilung von Blindheit im 17. Jahrhundert wird jedoch der Schritt in das klare und eindeutige Reich des Sehens, des Lichtes und damit des Menschen markiert. Das ›Menschwerden‹ wird dem Blinden auch durch die Einführung von ›Blindheit‹ in den Diskurs menschlicher Erkenntnis zu teil. In der Folge verliert die Figur des Blinden ihren ambivalenten Charakter, der sie im alten Griechenland geprägt hat. Stattdessen wird der Blinde als beliebte Figur fungieren, die Grenzen menschlichen Daseins, Verstehens und Wissens aufzuzeigen. Der geheilte, vormals blinde Mensch wird vom epistemologischen Blick aufs Genaueste durchleuchtet, um einen Neuanfang zu propagieren. Mit der Heilung des Blinden wird die Geburt einer anderen Welt verheißen, die den Weg in die Moderne eröffnet und den sicheren Weg zur Ergründung menschlicher Wahrnehmung, Erkenntnis und Lernfähigkeit aufweist. Aufgrund ihrer Beeinträchtigung wird die Figur des Blinden zum Zeuge menschlicher Natur und der damit einhergehenden ›Arbeit‹ des Denkens und Sehens. Die Transformation von Blindheit in einen Gegenstand moderner Erkenntnis soll nun genauer beleuchtet werden. Im Rahmen der epistemischen Politik des 17. und 18. Jahrhunderts, so das Argument, wird der Figur des Blinden die Un-
6
Vgl. Buxton, Richard G. A.: Blindness and limits: Sophocles and the logic of myth, in: The Journal of Hellenic Studies, Vol. 100/1980, S. 22-37; Barasch, Moshe: Blindness. The history of a mental image in Western thought. New York/London: Routledge 2001.
7
Vgl. Bernidaki-Aldous, Eleftheria A.: Blindness in a culture of light. Especially the
8
Vgl. Schillmeier, Michael: Rethinking Disability. Bodies, Senses and Things.
case of Oedipus at Colonus of Sophocles. New York: Lang 1990. London/New York: Routledge 2010.
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fähigkeit zugeschrieben, die Idee von Licht erfassen zu können. 9 Die hat zur Folge, dass Blindheit als eine individuelle Schädigung bestimmt wird, als negatives Beziehungsgeflecht von Sehen und Licht, das nur durch die funktionale Stille blinder Praxis selbst aufrechterhalten werden konnte. Die folgende Analyse wird zeigen, dass im epistemischen Diskurs der Moderne ›Blindheit‹ entweder als Gegenteil von Erkenntnis konstruiert wird oder aber als Abwesenheit von Erkenntnis oder gar als offensichtliche Unwissenheit. Um zum anderen der Erkenntnis zu werden, das zugleich auf das Fehlen von Sehvermögen verweist, muss Blindheit als eine defizitäre Art von Wahrnehmung beschrieben werden. Diesen Gegensatz gilt es nicht nur zu verstehen, sondern zu überwinden, um der modernen Welt des Menschen gerecht zu werden. Im Rahmen moderner epistemischer Politik erlernt die Figur des Blinden das Sehen, um daraufhin als Blinder zu verschwinden.
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In diesem Zusammenhang ist Lockes Essay von zentraler Bedeutung, da darin zum Einen die Figur des Blinden und zum Anderen die ›Arbeit menschlicher Erkenntnis‹, d.h. die Anstrengungen menschlichen Denkens, thematisiert werden. In seinem Versuch zu verstehen, wie wir Erkenntnis gewinnen, behauptet Locke nun, dass das menschliche Denken auf sinnlicher Erfahrung beruht und wendet sich so gegen die scholastische Vorstellung, dass wir über angeborene, abstrakte und zugleich universelle Ideen verfügen, die in unserem Geist bereits vor der Geburt angelegt sind. ›Ideen‹ sind Locke zufolge vielmehr das Ergebnis von Lernprozessen und können nicht als unabhängig von Denkprozessen oder Sinneseindrücken gedacht werden. Ideen verweisen folglich auf eine Art stilles [tacit] und stummes Wissen, das weder direkt kommuniziert, noch ohne Einbezug sensorischer Praxis verstanden werden kann. An Aristoteles anknüpfend unterscheidet Locke zwischen Ideen, die man durch einen Sinn und Ideen, die man mit mehreren Sinnen erfahren kann. Farben werden vom Sehsinn und Töne mit dem Hörsinn erfasst. Form und Ausdehnung hingegen sind durch mehr als einen Sinn wahrnehmbar. Da Sinneserfahrungen sich qualitativ voneinander unterscheiden, können sie unterschiedliche Ideen und
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Vgl. De Man, Paul: Aesthetic ideology. Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 39.
10 Übersetzt nach: Locke, John: An essay concerning human understanding. An abridgement [1706], selected by John W. Yolton. London: Dent & Sons 1991, S. 67.
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Beziehungen hervorbringen, während die Abwesenheit von Sinneseindrücken zu einer Abwesenheit von Ideen führen sollte. Am Beispiel der Figur des Blinden führt nun Locke diesen Zusammenhang näher aus: Das Fehlen des Sehsinns (und damit die durch Licht entstehenden Sinneseindrücke) bedeutet zugleich das Fehlen der Idee von Farben und von Licht. Wenn die Idee von Farbe uns angeboren wäre, so Locke, müssten auch blinde Menschen darüber verfügen, was seines Erachtens aber gerade nicht der Fall sei. Um seine These zu stützen, rekapituliert Locke ein Gespräch mit einer erblindeten Person: »Denn was sich gegenwärtig weder im Blickfeld noch im Gedächtnis befindet, ist überhaupt nicht im Geist vorhanden, und es verhält sich ebenso, als wäre es dort nie vorhanden gewesen. Angenommen, ein Kind sei im Besitz der Sehkraft gewesen, bis es die Farben gekannt und unterschieden habe; dann aber verschließt ihm der Star diese Fenster, es lebt vierzig bis fünfzig Jahre in vollkommener Finsternis und verliert inzwischen vollkommen jede Erinnerung an die Ideen der Farben, die es gehabt hat. Das war bei einem Blinden der Fall, den ich einmal sprach; er büßte als Kind [...] das Augenlicht ein und hatte von den Farben ebenso wenig einen Begriff wie ein Blindgeborener. Nun frage ich, ob jemand behaupten kann, dieser Mann habe damals noch Ideen von Farben in seinem Geiste gehabt – mehr als ein Blindgeborener?« 11
Lockes ›Gesprächspartner‹ wurde sehend geboren und verlor aus einem unbekannten Grund sein Augenlicht. Nachdem Locke mit ihm gesprochen hatte, kam er zum Schluss, dass die Person auch jegliche Vorstellung von Farben verloren habe und deshalb mit einem Menschen verglichen werden könne, der noch nie eine Vorstellung von Farben besessen habe. Dies dient Locke als Beweis dafür, dass Ideen durch die sinnliche Wahrnehmung entstehen: Schwinden diese, so schwinden auch die Ideen. Ideen können folglich nicht angeboren sein, sonst hätte jeder Mensch eine klare Idee von Farben, selbst wenn er blind wäre – eine Behauptung, die dadurch noch unterstrichen werden kann, dass der Verlust sinnlicher Fähigkeiten mit dem Verlust von Vorstellungsvermögen einhergeht. Einige Jahre später erhält Locke einen Brief von William Molyneux 12, einem irischen Politiker und Befürworter des ›Neuen Lernens‹ 13, der sich wie viele
11 Übersetzt nach: Locke, John: An essay concerning human understanding. An abridgement [1706], selected by John W. Yolton. London: Dent & Sons 1991, S. 97ff. 12 Molyneux veröffentlichte seine Schrift »Dioptica Nova« im Jahre 1692. 13 Zemplén, Gábor: Lang diskutierte Probleme der Wahrnehmung II: Das Molyneux Problem [Long-debated problems of perception II: Molyneux’s problem], in: Pakesch,
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Denker seiner Zeit mit Fragen der Optik beschäftigte. Für Molyneux hatte letzteres aber auch einen privaten Grund, denn seine Frau war nach einem Schlaganfall erblindet. Molyneux hatte Lockes Abhandlung gelesen und stellte ihm daraufhin die folgende Frage: Was passiert, wenn ein blinder Mensch sein Augenlicht wieder erhält? Würde er nun mit den Augen Objekte wiedererkennen können, welche er als Blinder kennen gelernt hatte? Locke führte diese Frage als Gedankenexperiment in der zweiten Ausgabe seines Essays aus. Mit dem Aufkommen neuer operativer Möglichkeiten zu Heilung des Grauen Stars sorgt die gleiche Fragestellung für größere Aufmerksamkeit und wird zusehends zu einer regelmäßigen Referenz für philosophische Diskussionen und Wahrnehmungstheorien. Hier nun Lockes Antwort auf die Frage von Molyneux: »Man stelle sich nämlich einen blind geborenen Mann vor, der erwachsen ist und durch sein Gefühl einen Würfel und eine Kugel von demselben Metall und ungefähr derselben Größe zu unterscheiden gelernt hat, so dass er angeben kann, ob er die Kugel oder den Würfel fühle. Nun nehme man an, beide würden auf einen Tisch gelegt und der Blinde erhalte sein Augenlicht; hier ist nun zu fragen, ob er, ehe er die Kugeln befühlt, sagen kann, welches der Würfel und welches die Kugel sei? Der scharfsinnige Fragensteller sagt: Nein. Der Mann wisse zwar aus Erfahrung, wie sich eine Kugel und wie ein Würfel anfühle, allein er wisse noch nicht aus Erfahrung, ob das, was sein Gefühl so oder so errege, auch sein Auge so oder so erregen müsse und dass eine vorstehende Ecke in dem Würfel, die seine Hand ungleich drückte, seinem Auge so erscheinen müsse, wie es bei einem Würfel geschehe.« 14
Lockes Antwort auf die Problemstellung von Molyneux lautete also, dass ein erblindeter und nun wieder sehender Mensch nicht dazu in der Lage wäre, geometrische Figuren zu identifizieren und zu benennen, dies wohl aber nach dem Ertasten des Würfels und der Kugel könne. 15 Da ein Blinder nicht über die Vorstel-
Peter; Bucher, Katrin (Hg.): Einbildung: Das Wahrnehmen in der Kunst. Köln: König 2003. 14 Vgl. Locke: An essay concerning human understanding, S. 67, Hervorhebung im Original. 15 Vgl. Von Senden, Marius: Space and sight, the perception of space and shape in the congenitally blind before and after Operation [1932]. London: Methuen 1960; Morgan, Michael J.: Molyneux’s question. Vision, touch and the philosophy of perception. Cambridge: Cambridge University Press 1977; Paulson, William R.: Enlightenment,
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lung von Farben verfüge, könne er diese nicht dazu verwenden, visuelle Objekte zu erkennen. Dennoch besitze der Blinde eine Vorstellung von Form, da Blindheit nicht an der Berührung von Gegenständen hindere; demzufolge würde er Unterschiede zwischen einem Würfel und einer Kugel anhand des Ertastens ihrer Form und Beschaffenheit erkennen können, selbst wenn er sie zum ersten Mal sähe. Das visuelle Erkennen allerdings müsste warten, bis er sich an das Licht gewöhnt und neue Ideen durch visuelles Erfassen gewonnen hätte. Infolgedessen, so Locke, beinhalte das Sehen und Wissen eine Denkleistung und deren Transformation – was, mit Platons Höhlengleichnis gesprochen – dem Verlassen der Höhle als Ort der Dunkelheit und der flackernden Schatten gleichkommen würde. Licht zu sehen und sich selbst von unendlicher Unsicherheit frei zu machen, erfordert großen Einsatz – für blinde Menschen wie auch für Philosophen. In diesem Sinne wurde Locke durch das Gedankenexperiment nur in seiner Überzeugung bestärkt, dass es keine angeborenen Ideen geben könne – und das Benennen von visuell erfassten Gegenständen erst erlernt werden müsse.
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Führt man nun diese Ausführungen zusammen, so wird deutlich, dass in Lockes »Essay« metaphorisch wie wörtlich ›Sehen‹ mit Erkenntnis gleichgesetzt wird: Der noble Sehsinn übermittelt Ideen an den Verstand. Für Locke ist die Unvollkommenheit der Erkenntnis allgegenwärtig – ebenso wie die Unvollkommenheit von Wahrnehmung und die Kommunikation von Wörtern, Tönen, Gerüchen und Geschmack. Die Scharfsichtigkeit jeglicher Repräsentation ist unscharf und das tatsächliche Wissen darüber ungenau. Nichtsdestotrotz erscheint der Sehsinn als der am wenigsten mangelhafte – er vollzieht menschliche Vollkommenheit innerhalb der allgemeinen Unvollkommenheit von Erkenntnis. Der Sehsinn benötigt Licht, um Ideen zum Verstand zu übermitteln, wo sie dank der Erinnerung selbst in Abwesenheit von Licht erhalten bleiben; deshalb kann ein Sehender auch nachts oder wenn er blinzelt seine Vorstellung von Licht und Farben abrufen und sich vergegenwärtigen. Lockes Interesse daran erwächst aus der Feststellung, dass
romanticism, and the blind in France. Princeton: Princeton University Press 1987; M. Degenaar: Molyneux’s problem.
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»[…] der umfassendste aller unserer Sinne, unserem Geist nicht nur die Ideen des Lichts und der Farben zu[führt], die ihm allein eigentümlich sind, sondern auch die ganz anders gearteten Ideen von Raum, Gestalt und Bewegung, deren verschiedene Formen die Erscheinung des ihm eigentümlichen Objekts, nämlich des Lichts und der Farben verändern. So gewöhnen wir uns daran, die einen nach den anderen zu beurteilen […].« 16
Der Sehsinn wird hier als deutlichster, am besten entwickelter und schärfster der menschlichen Sinne verhandelt, da er es ermöglicht, die Kontinuität der Ideen miteinander zu verknüpfen – die Idee des Lichts produziert das ›Licht‹ der Idee in uns. 17 Der Sehsinn befähigt die unmittelbare Übersetzung von Licht als Sinneswahrnehmung in Licht als Idee. Sehen, Licht und Ideen befinden sich in perfektem Einklang und ihre Beziehung zueinander und untereinander bringt makellose Erkenntnis in einem geschmeidigen, mühelosen und unkörperlichen Prozess hervor, als ob es keine Lücke gäbe zwischen jenen Dingen, die man wahrnimmt und jenen, die man versteht. Man sieht etwas, erkennt es sofort (wieder) und erhält so einen Einblick in die Natur der Dinge. Vollkommene Erkenntnis bedeutet, dass man etwas so sieht, ›als ob‹ man denkt und so denkt, ›als ob‹ man sieht. Sehen, Wahrnehmen und Erkennen werden zu einem harmonischen Dreiklang. Darüber hinaus ist der Prozess der Genese von Ideen entkörperlicht, immateriell und leicht – insbesondere, wenn man ihn mit anderen menschlichen Sinnesaktivitäten vergleicht. Diese entkörperlichte Form des Sehens maximiert die Verdichtung von Zeit und Raum, um wiederum die Darstellung in einem kleinstmöglichen Zeitraum maximieren zu können – und damit auch das Gleichgewicht von Sehen und Erkenntnis und die scheinbare Unmittelbarkeit von Wahrnehmung. Das Sehen schärft und aktiviert den Geist, welcher sich Routinen, Bräuchen und Angewohnheiten annimmt, die sonst abhanden kämen – was für eine perfekte immaterielle Symbiose zwischen mühelosem Sehen und der Leistungsfähigkeit des Geistes sorgt.
S EHVERLUST ... W ISSENSVERLUST Es ist nicht schwer zu erraten, was mit der Figur des Blinden passiert, wenn Erkenntnis mit Sehen bzw. Licht gleichgesetzt wird: Im Bestreben, das menschliche Denken zu erfassen, bleibt Blindheit als eigenständige Praxis unberücksichtigt. Im Zuge der von Molyneux und Locke eingeleiteten epistemischen Politik
16 Locke: An essay concerning human understanding, S. 163. 17 Vgl. Locke: An essay concerning human understanding, S. 222.
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wurde der Blinde zu einem quasi-natürlichen Relikt, welchem es an sinnlichen Fähigkeiten und somit an der Möglichkeit umfassenden Verständnisses mangelt. Der Blinde ist wie ein Kind, das nicht im Stande ist zu lernen. Er benennt eine Figur des Nicht-Wissens, die die Idee von Licht nicht versteht, da sie nicht sehen und folglich nicht erkennen kann. So wird der Blinde mit dem ernsthaften Problem seiner natürlichen Unvollkommenheit konfrontiert. Im Allgemeinen, so Locke, verringert jede Art von Fehlen, Verlust oder Mangel an Sinnen die Qualität der Wahrnehmung und mithin diejenige von Erkenntnis. 18 Folgt man der Bedeutsamkeit, die Locke dem Sehen zuspricht, so leiden blinde Menschen an einer besonders schweren Schädigung und sind folglich abhängig von anderen Formen des Verstehens und Wissens/Erkennens. Der Blinde muss sich deshalb mit dem Aneignen von Wissen durch das Verwenden von Sprache zufriedengeben, da er unfähig ist die Erhabenheit des Sehens oder Lichtes genießen zu können. Dazu bemerkt Locke: »[W]enn wir jedoch darüber hinaus versuchen, sie [die Sprache] durch Worte im Geist klarer zu machen, so wird uns das ebensowenig gelingen, wie wenn wir es unternehmen, die im Geist eines Blinden herrschende Dunkelheit durch Sprechen zu erhellen und ihm die Ideen des Lichtes und der Farben einzureden.« (Ebd., S. 137)
Demzufolge bleibt das diskursive Wissen weit entfernt davon perfekt zu sein, da es offensichtlich für den Hörer andere Ideen hervorbringt als für den Sprecher. Der blinde Mensch begegnet permanent der Produktion einer doppelter Kontingenz von Ideen zwischen einem Sprecher und einem Zuhörer. Es sei noch einmal bemerkt, dass Locke die Bildung menschlichen Wissens vorrangig an einem funktionierenden Sehsinn im Zusammenspiel mit Ideen und nicht an der Übermittlung von Worten festmacht: »Die Laute stehen mit unseren Ideen in keinem natürlichen Zusammenhang; vielmehr verdanken sie ihre Bedeutungen einer willkürlichen Festsetzung des Menschen; so beruht die Zweifelhaftigkeit und die Unsicherheit ihrer Bedeutung, die Unvollkommenheit auszumachen, von der wir hier reden, mehr auf den Ideen, denen sie entsprechen, als darauf, daß der eine Laut weniger geeignet wäre, eine Idee zu bezeichnen, als der andere. Denn in dieser Hinsicht sind sie alle gleich vollkommen.« (Ebd., S. 101ff)
Wenn Worte in Sprache übersetzt und ausgesprochen werden, so bringen sie Geräusche hervor – und Geräusche sind, ebenso wie Farben, Gerüche und Ge-
18 Locke: An essay concerning human understanding, S. 68ff.
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schmäcker, sekundäre Qualitäten. »Primäre Qualitäten«, wie z.B Festigkeit, Ausdehnung, Gestalt und Beweglichkeit, sind intrinsische Eigenschaften von Dingen, welche sie charakterisieren und sie voneinander unterscheiden lässt und in uns Vorstellungen erwecken wie eben Festigkeit, Ausdehnung, Gestalt, Textur, Bewegung oder Stillstand und Anzahl. »Sekundäre Qualitäten«, die abhängig von den primären Qualitäten sind, vermögen Sinnesempfindungen in uns zu wecken, sind den Dingen jedoch selbst nicht inhärent. Vielmehr sind sie von unseren Sinnen abhängig und bestimmen für uns die Gestalt von Gegenständen. Als direkt wahrnehmbare Qualitäten bezeichnen sie Kräfte, da »[...] die Körper imstande sind, entweder unmittelbar auf unsere Körper einzuwirken und so eine Reihe verschiedener Ideen in uns zu erzeugen oder durch Einwirkung auf andere Körper deren primäre Qualitäten so zu verändern, daß sie fähig werden, in uns andere Ideen als zuvor zu erzeugen.« 19 Für Locke sind Worte weder natürliche noch reale primäre Objekte, sondern Geräusche, denen wir Bedeutung zukommen lassen. Worte bringen keine teilbare Menge an unteilbaren Qualitäten hervor, wie es primäre Qualitäten tun, sondern produzieren stattdessen eine Unordnung, die sich zwischen Menschen und Gegenständen verteilt. Das Verwenden von Worten vervielfältigt und verbreitet Ideen. Worte, so wie alle anderen sekundären Qualitäten, trüben die Klarheit und Eindeutigkeit von Gegenständen. Sie sind Quellen von Unsicherheit, ein hochgradig unbefriedigendes Mittel der Kommunikation. Die nicht hintergehbare Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis wird demzufolge noch unvollkommener, wenn diese anfängt, mit Worten und Tönen zu spielen. Dies belässt den Blinden auf der höchsten Stufe der Unvollkommenheit und des Wissensdefizits: Unfähig, Farbe und Licht zu sehen, kann der Blinde auch nicht die Idee von Licht verstehen. Da der Blinde an der quasi-natürlichen Gemeinschaft des Sehens, des Lichtes und der Ideen nicht teilnehmen kann, kann er nichts anderes anbieten als Worte, chaotisches Erkennen und höchst mangelhaftes Wissen, das dem effektiven, klaren und eindeutigen Wissen der Sehenden gegenüber steht. Dies geht sogar so weit, dass der Blinde sich gar nicht der Unvollkommenheit menschlicher Natur bewusst werden kann, da es ihm an jener grundlegenden sensorischen Fähigkeit mangelt, die ihm diesbezügliches Wissen überhaupt ermöglichen würde. Wie wir gesehen haben, begann Locke seine philosophische Beweisführung mit der Geschichte eines Mannes, der sehend geboren wurde, dann erblindete und nun seit vierzig oder fünfzig Jahren in Dunkelheit lebte. Locke zufolge war es der Blinde selbst, der ihm diese Geschichte erzählte. Diese Information ist be-
19 Locke: An essay concerning human understanding, S. 158.
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sonders wichtig für Locke, da es ihn dazu befähige, den Erblindeten (der seine Idee von Farben verloren hat) mit einem von Geburt an blinden Menschen (welcher nie eine Vorstellung davon hatte) zu vergleichen und im Verlauf eine Gegenüberstellung eines Blinden und eines Sehenden zu wagen. An dieser Stelle erscheint es fragwürdig, wie gültig diese Folgerungen überhaupt für den Empiriker Locke sein können, wenn sie auf dem unsicheren Boden einer mündlichen Überlieferung anstelle eigener Erfahrung stehen. Wenn man wie Locke den Worten kein besonderes Vertrauen entgegenbringt, da sie die wahre Sicht auf die Dinge trüben – wie kommt es dann dazu, dass er der mündlichen Überlieferung eines Blinden vertraut? Auch darf dabei nicht vergessen werden, dass für Locke der Blinde eine Laune der Natur ist, die über keinerlei epistemische Kompetenz verfügt; demzufolge wäre es also reine Spekulation auf unsicherer Basis, wenn man den Worten eines blinden Mannes Glauben schenken würde? Locke jedenfalls umgeht dieses Problem dadurch, dass sein Informant zwei Personen in einer darstellt: Er war sehend und nun ist er blind. Folglich vergleicht Locke hier nicht in erster Linie ›Sehen‹ mit ›Blindheit‹, sondern ›Sehen‹ und ›Nicht-Sehen‹ – also Ideen und ihre Abwesenheit, Erkenntnis und ihre Abwesenheit, ein Vergleich, der auf die Differenz zwischen Erkenntnis und ihren Verlust zielt. Blindheit wird so auf das ›Fehlen‹ des Sehsinns reduziert; die Vielfältigkeit der unterschiedlichen sinnlichen Praktiken von Blindheit als Quellen spezifischer und komplexer Formen von Wissen wird dabei gänzlich außer Acht gelassen. Innerhalb Lockes Diskurs gibt es keinen Ort für die blinden, sensorischen Praktiken, da für ihn letztere nicht vergleichbar sind mit jenen aus dem Bereich des Sehens, der Ideen und der Erkenntnis. Sie werden sogar ausgeschlossen und klar von angemessenem Wissen unterschieden. Das Erbe des Molyneuxschen Problems, wie es zum ersten Mal von Locke überliefert und analysiert wurde, wiederholt die erkenntnistheoretische Dominanz von Sehen und Licht und reformuliert im modernen Gewand Platons Höhlengleichnis, das ebenfalls von diesem Unterschied erzählt. 20 Eine epistemologische Grenze wird gezogen, um sie sogleich zu übertreten: eine Grenze zwischen Licht und Dunkelheit, Wissen und Unwissenheit, Sehen und Blindheit, epistemische Rigorosität und Beeinträchtigung. Durch die erkenntnistheoretische Politik der Moderne wird der vormals blinde Mann zu einem Zeugen seiner ursprünglichen Unwissenheit und ermöglicht dadurch anderen, an ihm die Hypothese von der sinnlichen und empirischen Natur der Ideen zu verifizieren und zugleich die Rede von den angeborenen Ideen zu hinterfragen. Die Figur des
20 Siehe auch Platos »Republica«. Plato: The republic. Übersetzt von Raymond Larson. Arlington Heights: AHM Pub. corp 1979, Bücher 6 und 7.
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Blinden wird für den Beweis instrumentalisiert, dass Ideen nicht angeboren sind – jedoch erst dann, wenn der Blinde wieder sehen kann; würde er blind bleiben, könnte er nichts zu erkenntnistheoretischen Interessen beitragen. Nur nachdem er geheilt wurde, kann der Blinde seinen jungfräulichen Blick auf Entdeckungsreise schicken, nur dann ermächtigt ihn seine erkenntnistheoretische Unschuld und Unwissenheit, die Wahrheit über die menschliche Natur auf den ersten Blick zu erzählen.
E PISTEMISCHE P OLITIK In gleichem Maße, wie der Blinde in Fragen der Erkenntnistheorie und der Philosophie nicht als gleichwertig behandelt wurde, macht auch die Politik Unterschiede. Für Locke und andere Vertreter der Moderne beinhaltete die Kritik an der Idee der angeborenen Natur des menschlichen Wissens auch den Widerstand gegen die Autorität unbestrittener und traditioneller Regime – insbesondere die autoritären und hermetisch geschlossenen Wissenssysteme der Scholastik. 21 Infolgedessen stellte Locke seine politische Theorie der unkritischen Akzeptanz von traditionellen Formen politischen Wissens im Sinne universeller und angeborener Prinzipien gegenüber. Wenn Wissen also nicht angeboren, sondern ein Resultat menschlicher Erfahrung ist, dann gilt dies auch für traditionelle Systeme des Denkens und somit können Menschen diese Systeme auch ändern. Dies bedeutet keinesfalls, dass Locke Prinzipien nicht geachtet hätte. Ganz im Gegenteil, Locke zeigt sich gerade an den grundsätzlichen Wahrheiten (Ideen) von Erkenntnis interessiert. Aber Ideen können nicht angeboren sein, weil sie der Erfahrung entspringen: Die Entdeckung göttlicher Regeln, Prinzipien und angeborener Ideen erfordert menschliche ›Arbeit‹(sleistung), und deshalb sollte auch mit den vagen Spekulationen ein Ende sein, Ideen als fixe Gegebenheiten aufzufassen. Lockes Kampf gegen die angeborenen Ideen ist in gleichem Maße Widerstand gegenüber dem ›blinden Vertrauen‹ in Autorität. Und es sind gerade die Blinden, die – da sie im doppelten Sinne nicht sehen können – in höchstem Maße anderen ›blind vertrauen‹ müssen. Blindheit ist somit nicht nur ein epistemologisches Hindernis, sondern auch ein politisches. Moderne erkenntnistheoretische Politik schließt den Blinden mit ein, jedoch als epistemisch ignorant und politisch passiv! Wie ich gezeigt habe, beschreibt Lockes erkenntnistheoretische Politik den Prozess des Erkennens und Wissens als einen menschlichen Lernprozess, der durch den menschlichen Sehsinn perfekt unterstützt wird. Durch die
21 Morgan: Molyneux’s question.
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Fähigkeit zu sehen, kann man lernen, auch intellektuell und politisch besser zu ›sehen‹: man kommt näher an die Dinge heran, um sie erfassen und auch ändern zu können. Der Blinde ist lediglich erkenntnistheoretisches Werkzeug, ein Intermediator, um dies zu beweisen, aber zu keiner Zeit ein ausgewiesener Akteur des Wissens oder der Politik. Wie ein Kind erst lernen muss, wie man ›richtig‹ sieht, indem es zwischen der Repräsentation eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst zu unterscheiden lernt, so muss auch der Blinde, der vom Grauen Star geheilt wird und aufgrund moderner medizinischer Praktiken nun wieder sehen kann, das Sehen auch erst wieder von Grund auf erlernen. Folgt man dieser Argumentation, wäre es falsch, moderne erkenntnistheoretische Rigorosität als einen »epistemologischen strictu sensu« 22 zu beschreiben, der sich von sozialer und politischer Praxis – clare et distincte – unterscheidet. Vielmehr ist auch die moderne Erkenntnistheorie verstrickt in sozio-politische Angelegenheiten. Sie konstruiert und positioniert aktiv die soziale Welt und ihre Akteure, indem sie sie mihilfe ihrer ›Beweisführung‹ in normale und behinderte, erkenntnisfähige und unwissende, aktive und passive Subjekte einteilt. Locke jedenfalls muss sich trotz der wackeligen Evidenz der Aussagen seines blinden Gesprächspartners ziemlich glücklich geschätzt haben, als er die Anfrage Molyneux’ im Jahre 1688 erhielt. Lockes Situation verbesserte sich dadurch, dass er mit Molyneux’ Gedankenexperiment nun die Informationen nicht mehr von einem Blinden bezog, sondern von einer vormals blinden Person, die nun seine (Lockes) erkenntnistheoretischen Anmerkungen bezeugen kann. Tatsächlich erscheint ein Gedankenexperiment seitens des sehenden Molyneux glaubwürdiger als die Geschichte eines erblindeten Mannes, der, weil er nicht sehen kann, seine Ideen durch das Dickicht der Sprache ausdrücken muss. Die Unordnung der Worte in Molyneux’ Gedankenexperiment scheint Locke weniger problematisch zu sein als die wahre Geschichte eines Blinden! Einige Jahre später ändern sich die Umstände noch einmal – und wieder zugunsten von Lockes Erkenntnistheorie: Bischof George Berkeley wird in der Lage sein, seinen »Essay Towards a New Theory of Vision«23 auf den Bericht eines Chirurgen namens Cheselden 24 gründen zu können, welcher erfolgreiche Kataraktoperatio-
22 Latour, Bruno: The politics of nature. How to bring the sciences into democracy. Cambridge: Harvard University Press 2004. 23 Berkeley, George: An essay towards a new theory of vision [1709]. (online verfügbar unter http://www.gutenberg.org/files/4722/4722-h/4722-h.htm, letzter Zugriff am 26.07.2012. 24 Cheselden veröffentlichte seine Entdeckungen, ohne das Molyneux-Problem zu kennen. Cheselden, William: An account of some observations made by a young
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nen beschreibt. 25 Diese neue Situation wird es der modernen Erkenntnistheorie ermöglichen, sich in wissenschaftliche und medizinische Praktiken einzuschreiben, um letzten Endes ›beweisen‹ zu können, worüber zuvor aufgrund der Unzuverlässigkeit der Aussage eines Blinden nur spekuliert werden konnte. Trotz allem scheinen die Probleme, die mit Molyneux‘ Experiment verbunden sind, nicht endgültig gelöst. Jene moderne epistemische Politik, welche die Sinnespraktiken von Blindheit selbst neutralisiert, wird sich der Grenzen und Fragwürdigkeit ihres eigenen Vorgehens dort gewahr, wo man versucht, Erkenntnistheorie in medizinische und psychologische Praxis zu übersetzen. So zeigen Krankenakten, dass die erfolgreich operierten, wieder sehenden Blinden keine kohärente Alltagspraxis aufweisen und somit keine einheitliche Antwort auf die von Locke und Molyneux konstruierte erkenntnistheoretische Fragestellung geben konnten. 26 Demzufolge ist es genau jene Künstlichkeit klinischer Versuchsanordnungen in der Tradition der Molyneuxschen Frage, welche die Grenzen des wissenschaftlichen und medizinischen Blicks evident machen, da sie nicht dazu in der Lage sind, die volle Komplexität der Praktiken blinder Menschen zu erfassen. Zahlreiche Ergebnisse von Wahrnehmungsstudien, die sich als Varianten von Molyneux’ Experiment erweisen, beruhen auf dem höchst fragwürdigen Versuchsobjekt einer sehenden Person mit verbundenen Augen. In diesen Experimenten wurden die Reaktionen eines sehenden Menschen mit jenen eines sehenden Menschen mit verbundenen Augen verglichen. Vielleicht liegt es daran, dass derartige Versuche zugegebenermaßen bis heute »grundsätzlich unbefriedigend« 27 geblieben sind. Vergleicht man diese ›künstlich Erblindeten‹ mit den Sehenden, so verdinglicht sich Blindheit in der Tat als Mangel an Sehsinn, als ob Blindheit aus nichts anderem bestünde als aus der Karenz eines Sinnes, was wiederum die komplexen Sinnesbeziehungen blinder Menschen völlig unterschätzt. Demzufolge klassifizieren und verkürzen Wahrnehmungstheo-
gentleman, who was born blind, or lost his sight so early, that he had no remembrance of ever having seen, and was couch’d between 13 and 14 years of age (in: Philosophical Transactions, Vol. 35/1729, S. 447-450). 25 Die Operation des Grauen Star bzw. das Wiedererlangen des Augenlichtes ist auch Thema in Diderot, Denis: Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient [1749]. Geneva: Droz 1970. Vgl. auch Paulson, William R.: Enlightenment, romanticism, and the blind in France. Princeton: Princeton University Press 1987. 26 Vgl. Von Senden: Space and sight; Warren, David H.: The perception by the blind, in: Carterette, Edward C.; Friedman, Morton P. (Hg.): Handbook of perception, Vol. 10. New York: Academic Press, S. 84ff. 27 Vgl. Warren: The perception by the blind.
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rien, die sich immer noch auf irgendeine Art und Weise mit dem MolyneuxProblem beschäftigen, Blindheit in erster Linie als ein Ergebnis des NichtSehens. Überdies individualisiert die Logik moderner epistemischer Politik die Aneignung von Wissen als eine Frage menschlicher Wahrnehmung, wodurch Blindheit zum Problem nicht-sehender Menschen gerät. Folgt man dem Wissenschaftsphilosophen Michel Serres, so ist das Molyneuxsche Problem vielmehr eine Frage der Geometrie als eine Frage für die Erkenntnistheorie. 28 Dies bedeutet, dass, obwohl das ›Molyneux-Problem‹ als ein erkenntnistheoretisches erscheint, es vielmehr ein begrenztes und spezifisches Problem ist, welches Fragen der Optik, der medizinischen Praxis, und der menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen Wissens miteinander in Beziehung setzt. Zudem richtet es sich an die Geometrie der Sehenden, da es klar und deutlich versucht, den erkenntnistheoretischen Bereich der Sehenden von den nicht-erkenntnistheoretischen Praktiken der Blinden zu trennen. In der Tat bringt das Erbe des Molyneux-Problems eine eindeutige Bifurkation zwischen sehenden und blinden Menschen hervor. Diese Unterscheidung wird vollzogen durch Abstraktion und Exklusion, welche bereits in die Anordnung jener wissenschaftlichen und medizinischen Experimente eingeschrieben sind, die einen eindeutig ›visuellen‹ Referenzrahmen bilden. Der Blinde dient als Testperson für höchst abstrakte, geometrische Versuchsanordnungen des Erkennens, welche die ›Natur des Sehens‹ und die ›Natur der menschlichen Erkenntnis‹ und nicht die Eigenheiten und die Vielfalt der alltäglichen Praktiken blinder Menschen thematisieren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Blinde als Experten der Geometrie bezeichnet werden, sind sie doch durch die Versuchsanordnungen geometrisch ›konfiguriert‹. 29 Nur dadurch können sie überhaupt in das Schema von Molyneux’ Problem passen. Die Objekte, welche der blinde Mensch in Molyneux’ Anordnung erfühlen muss, sind perfekte Würfel und Kugeln – geometrische Objekte, welche wir abseits der Abstraktion von Sprache in der Realwelt nur sehr selten finden, aber in der medizinischen und philosophischen Praxis zum Einsatz kommen. Der Blinde muss mit den glatten, polierten Objekten und Formen zurechtkommen, um so die Geometrie der Sehenden zu verifizieren. Es handelt sich dabei um Objekte, die von der Komplexität der Alltagswelt blinder Menschen abweichen, von den Beziehungen zu anderen Sinnen und den Eigenheiten verschiedener soziokultureller
28 Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemische und Gemenge [The five senses][1985]. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1998. 29 Boullier, zitiert nach Degenaar: Molyneux’s problem, S. 47.
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Kontexte einmal ganz abgesehen. 30 Die Geometrie der Sehenden abstrahiert notwendigerweise von den Alltagspraktiken blinder Menschen, ebenso wie geometrische Körper notwendigerweise von den komplexen Realitäten lebendiger Körper oder medizinische von sozialen Praktiken absehen. In »Die Geburt der Klinik« hat Foucault gezeigt, wie das Lockesche erkenntnistheoretische Ideal des Sehens und des Wissens absorbiert wurde in eine institutionalisierte ›Art zu Lernen und zu Sehen‹ der medizinischen Praxis übersetzt. 31 Foucault zeigt, wie die Verknüpfung von Sehen, Licht und Idee die Positivität des medizinischen Blicks bestimmt. Ein Blick, welcher das linguistische Impedimentum (das komplexe Verhältnis zwischen Sehen und Sagen, mit dem sich Locke beschäftigt hatte) in eine neue Verbindung zwischen Worten und Dingen transformiert: »Die moderne Medizin … identifiziert […] den Ursprung ihrer Positivität mit einer Rückkehr von der Theorie zur wirksamen Bescheidenheit des Wahrgenommenen. Tatsächlich beruht dieser angebliche Empirismus nicht auf einer Wiederentdeckung der absoluten Werte des Sichtbaren, nicht auf einer entschlossenen Abkehr von den Systemen und ihren Chimären, sondern auf einer Reorganisation jenes sichtbaren und unsichtbaren Raumes, der sich aufgetan hatte, als vor Jahrtausenden ein Blick beim Leiden der Menschen haltmachte. […] Das lag vielmehr daran, dass die Beziehung des Sichtbaren zum Unsichtbaren, die für jedes konkrete Wissen notwendig ist, ihre Struktur geändert hat und unter dem Blick und in der Sprache etwas hat erscheinen lassen, was diesseits und jenseits ihres Bereiches lag. Zwischen den Wörtern und den Dingen knüpfte sich ein neues Bündnis, welches das Sehen und das Sagen ermöglichte […].« 32
Es erscheint dabei wenig überraschend, dass seit dem 18. Jahrhundert der medizinische Blick den Blindheitsdiskurs dominiert. Dies ist nun jedoch auch der Moment, an dem die Geschichte der Blindheit und Politik, Philosophie und medizinische Innovation sich treffen, um daraus neu hervorzugehen. Mit dem jungfräulichen Blick des vormals Blinden öffnet sich Blindheit zum ersten Mal seiner eigenen Wahrheit; mit dem aufgeklärten Blick (mag er politisch, medizinisch oder philosophisch sein) wird Blindheit befreit von seinem quasi-natürlichen Status der Unwissenheit mithilfe des »Hüter[s] und Quelle der Wahrheit« 33, welche durch das Auge und den noblen Blick eröffnet wird.
30 Vgl. Schillmeier: Rethinking Disability. 31 Foucault, Michel: The birth of the clinic, S. 64. 32 Foucault: The birth of the clinic, S. 9 ff. 33 Foucault: The birth of the clinic, S. 11.
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In der Folge dominieren medizinische, psychologische und pädagogische Studien den Blindheitsdiskurs, indem sie Blindheit als Mangel an Sehsinn oder grundsätzlich als Problem einer Sinnesschädigung behandeln. Blindheit wird im Körper als funktionelle Störung der Normalität menschlichen Sehens verortet. 34 Solche Annahmen umschreiben das medizinische, d.h. individuelle Modell von Blindheit, wie Oliver 35 argumentierte, ein Modell, das Blindheit als persönliches Merkmal einer Schädigung definiert, d.h. einem Mangel oder Verlust individueller Sehkraft (WHO 2001). Dieses Modell unterscheidet zwischen einem physiologischen Zustand auf der einen Seite und dem sozialen Kontext auf der anderen. Obwohl soziale und kulturelle Faktoren die Erfahrung von Blindheit mit beeinflussen, muss Blindheit primär als ein physischer Zustand verstanden werden. Blindheit lässt sich im menschlichen Subjekt verorten und artikuliert einen direkten und kausalen Effekt körperlicher, mentaler oder psychischer Zusammenhänge des Individuums. In der Tat wird Blindheit im Sinne einer Sehschädigung als eine persönliche Tragödie verhandelt, welche mit der Intervention am Individuum behandelt werden muss. Wie die bisherige Analyse gezeigt hat, unterliegt ein solches Modell von Blindheit einem höchst spezifischen Prozess, der von der Macht moderner epistemischer Politik strukturiert wird. Darüber hinaus ist Sehbehinderung das Ergebnis der Klassifizierung, Messung, Diagnose und Behandlung verschiedenster ›Perspektiven‹ bezüglich einer individuellen Schädigung. Dies ist ein weiteres Kennzeichen moderner epistemischer Politik: Blindheit als individuelles Fehlen an Sehkraft wird durch jeweils funktional differenzierte Perspektiven (sozusagen ›Di-Visionen‹) medizinischer und fachkundiger Pflege, des Wissens und der Expertise in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik als soziales Problem sichtbar, stabilisiert und institutionalisiert. Zusammenfassend: Die moderne epistemische Politik betont, dass »[...] [d]er Diskurs der Welt […] seinen Weg über offene Augen, die in jedem Augenblick so offen sind, wie beim ersten Mal [...]« 36 nimmt. Für unseren modernen Blick wird die Geschichte der Blindheit eine Geschichte menschlicher Erkenntnis und
34 Vgl. Sardegna, Jill; Paul, T. Otis: The encyclopedia of blindness and vision impairment. New York/Oxford: Facts on File 1991; Dodds, Allan: Rehabilitating blind and visually impaired people. A psychological approach. London: Chapman & Hall 1993; Zasloff, Tela: Restoring vision. An ethical perspective on doctors curing blindness around the world. Lanham/New York/London: University Press of America 1996. 35 Vgl. Oliver, Michael: Understanding disability. From theory to practice. Houndmills: Macmillan Press 1996. 36 Foucault: The birth of the clinic, S. 80.
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menschlichen Verstehens, welche die epistemische Überlegenheit von Licht und Sehen markiert. Dabei wird ebenso deutlich, dass trotz aller Bemühungen und Ansprüche, Blindheit zu überwinden, die epistemische Politik der Moderne nicht ohne die Figur des Blinden auskommt. Der Preis für den Blinden erscheint dabei jedoch allzu hoch: Im Rahmen der epistemischen Politik der Moderne gerät der Blinde als ein »hypothetisch blinder Mensch« 37, dem die vielfältigen verkörperten Praktiken und Lebenserfahrungen des Blindseins selbst entzogen werden, um als Blinder für die ›Visionen ‹der Moderne funktional zu sein.
F AZIT Was hat uns die Geschichte der Blindheit gezeigt und was können wir daraus lernen? Im Zuge der Analyse des Molyneux’schen Problems und dessen Folgewirkungen wurde deutlich, dass der Wille zur Erkenntnis immer auch schon Politik ist. Lockes Essay und nachfolgende Theorien, die menschliche Erkenntnis mit Theorien des Sehens und der Wahrnehmung verknüpfen, setzen ein epistemologisches Projekt fort, welches von den Komplexitäten des Blindseins abstrahiert und die Praxis der Blindheit weitgehend ausschließt. Die große Stärke der sog. Disability Studies ist es, Alternativen vorzuschlagen, welche die reduktionistische(n) Perspektive(n) epistemischer Politik herausfordern. Die Disability Studies haben, indem sie sich gegen das Konzept von Behinderung als Effekt individueller Schädigung gestellt haben, die zentrale Bedeutung von sozialen Prozessen und Strukturen, kultureller Wahrnehmung und kollektiver Erfahrung in der Konstitution von Behinderung betont. 38 Doch die Unterscheidung zwischen medizinischem resp. individualistischem Modell von Schädigung auf der einen Seite und einem sozialen Modell von Behinderung auf der anderen Seite schreibt die Bifurkation weiter, welche die moderne epistemische Politik so erfolgreich seit Lockes’ Diskurs instauriert hat: Die Unterscheidung zwischen primären Qualitäten (physischen und physiologischen Eigen-
37 Kleege, Georgina: Blindness and visual culture: an eyewitness account, in: Journal of Visual Culture, Vol. 4, No. 2/2005, S. 179-190. 38 Z.B. Swain, John; Finkelstein, Vic; French, Sally; Oliver, Mike (Hg.): Disabling barriers – enabling environments. London: Sage 2004; Barton, Len: Disability and society: emerging issues and insights. London: Longman 1996; Mitchell, David T.; Snyder, Sharon L. (Hg.): The body and physical difference. Ann Arbor: University of Michigan Press 1997; Corker, Mairian; Shakespeare, Tom (Hg.): Disability/postmodernity. London: Continuum 2002.
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schaften eines Körpers) und sekundären Qualitäten (Kräfte, die Sinneseindrücke hervorrufen, dem Körper aber nicht selbst innewohnen). Die Disability Studies verstehen sich als eine politische Unternehmung, die gegen die oppressiven Auswirkungen moderner epistemischer Politik und ihre Betonung primärer Qualitäten protestierte. Im Versuch der Unverhältnismäßigkeit zu widerstehen, betonten sie die primäre Bedeutung sekundärer Qualitäten, welche die soziale Bestimmung von Behinderung/Blindheit unterstreicht. Diese Umkehrung der Bifurkation ermöglichte zwar durchaus fruchtbare Einsichten in die Bedeutung der sozialen Konstruktion von Behinderung und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Doch die Umwandlung sekundärer in primäre Qualitäten scheint das Problem nur umzudrehen und läuft Gefahr, das alte Buch epistemischer Politik mit neuem Blick, jedoch mit alten modernen Mitteln zu lesen. Eine Möglichkeit, Blindheit neu zu denken, könnte dazu anregen, im Phänomen der Blindheit mehr als eine negative Beziehung zu Licht und Sicht zu sehen, mehr als das, was moderne epistemische Politik von Blindheit zu erkennen vermag. 39 Dies bedeutet nicht, dass wir zur antiken Figur des Blinden mit einem siebten Sinn zurückkehren sollten, vielmehr sollten wir uns der Alltagspraxis blinder Menschen zuwenden. 40 Diesbezügliche Arbeiten zeigen, dass Blindheit der bloßen Repräsentation von und Definition als Sehbehinderung widersteht. Vielmehr rücken die Unterschiede und die Diversität sensorischer Praxen und blinder Erfahrung in den Vordergrund, wie diese sich innerhalb einer gesellschaftlichen Infrastruktur artikulieren, die vom Sehsinn dominiert wären. 41 Deutlich wird hierbei aber auch, wie es der epistemischen Politik der Moderne immer
39 Vgl. Schillmeier, Michael: Dis/abling spaces of calculation – blindness and money in everyday life, in: Environment and Planning D: Society & Space. Vol. 25, No. 4/2007a, S. 594-609; Schillmeier, Michael: Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis [Towards the Politics of Becoming-Disabled. Dis/ability as Experience and Event]. Bielefeld: transcript, 2007b, S. 79-99. 40 Vgl. French, Sally: The wind gets in my way, in: Corker, Mairian; French, Sally (Hg.): Disability discourse. Buckingham/Philadelphia: Open University Press 1999 Hull, John M.: Touching the rock. An experience with blindness. London: Arrow 1991; Magee, Brian; Milligan, Martin: On blindness. Oxford: Oxford University Press 1995; Kleege, Georgina: Sight unseen. New Haven/London: Yale University Press 1999; Michalko, Rod: The two-in-one. Walking with Smokie, walking with blindness. Philadelphia: Temple University Press 1999; Saerberg, Siegfried: Geradeaus ist einfach immer geradeaus. Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumerfahrung. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2006. 41 Vgl. Schillmeier: Rethinking Disability.
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wieder gelingt, den Blinden zum ›Anderen des Sehens‹ zu machen, wie problematisch und bestürzend solche Versuche sind und waren. Blinde Praxis verweist auf die Widerständigkeit von ›Einspruchsminderheiten‹ 42, die sich nicht einfach dem machtvollen Bereich epistemischer Politik und visueller Praxis zuschreiben lässt, sondern Alternativen dazu aufzeigt. Dadurch werden Kontraste geschaffen, die es ermöglichen, Blindheit als mehr als den bloßen Mangel an Sicht zu verstehen. Vielmehr zeigt sich ein eigenständiger, blinder Praxis-Raum, der sich der eindeutigen ›Di-vision‹, d.h. der klaren Trennung zwischen Sehenden und Blinden entzieht und den Mangel von Perspektiven deutlich macht, die Blindheit auf ein visuelles Defizit reduzieren. Wollen wir Blindheit von den Reinigungsversuchen moderner epistemischer Politik entlasten, 43 so erscheint es wichtig, dem Modus ratio-visueller ›entweder-oder‹–Unterscheidungen eine blinde Alternative anzubieten, die einen Kontrast zur mise en equivalence 44 darstellt, die Sehen/Nicht-Sehen mit Wissen/Nicht-Wissen mit Sehen/Blindheit gleichsetzt. D.h. aber auch, die Dichotomien Natur/Kultur, individuell vs. medizinisch/sozial, Schädigung/Behinderung zu hinterfragen, vor deren Hintergrund sich die unterschiedlichen Perspektiven von Blindheit definieren. 45 Vielleicht können wir, wenn wir die Logik solcher Oppositionen verlassen, den Reichtum der Geschichte der Blindheit und die Praktiken blinder Menschen anerkennen, die auf die Vermittlung von visueller und blinder Praxis und nicht auf deren gegenseitigen Ausschließung verweist. Bereits die etymologische Herkunft erinnert daran, dass ›Blindheit‹ sich mit Prozessen des Verbindens und nicht des Trennens verknüpft. Wenn es uns gelingt, blinde Praxis ernst zu nehmen, können wir damit anfangen, eine Geschichte der Blindheit und der Behinderung zu schreiben, die ein Feld eröffnet, das sich weniger den abstrakten, universalen und so machtvoll von moderner epistemischer Politik eingesetzten Unterscheidungen widmet, und uns den Prozessen kontrastreicher Praxis zuzuwenden, die unsere Welt so interessant und zugleich diversifiziert erscheinen lässt. Dies könnte uns dazu befähigen, Blindheit und Behinderung nicht als Exklusion, sondern als Form der Inklusion zu denken und zu leben.
42 Stengers, Isabell: Spekulativer Konstruktivismus. Berlin: Merve 2010. 43 Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp 1995. 44 Stengers: Spekulativer Konstruktivismus. 45 Vgl. Swain, John; French, Sally: Towards an affirmation model of disability, in: Disability & Society, Vol. 15, No. 39/2000, S. 569-582.
Biopolitisch: Andere Blicke V ITTORIA B ORSÒ
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Mit Giorgio Agambens »Homo sacer« 1, dem zentralen Buch seiner Trilogie, ist die Interpretation der Biopolitik in extreme Bahnen geraten, was aber auf umgekehrte Weise zum Teil auch für die sozialwissenschaftlichen Studien zur Gouvernementalität zutrifft. Zu Beginn von »Homo sacer« wird Foucault von Agamben als scharfsinniger Beobachter jener Zäsur ausgewiesen, die die Entscheidung zwischen bloßem Leben und politisch-juristisch qualitativem Leben in den menschlichen Körper verlegt. Diese Zäsur, die bewirkt, dass sich fortan die Politik durch die Verwaltung des Lebens legitimiert, macht Foucault anhand einer Wandlung der für die Vormoderne gültigen, auf Aristoteles zurückgehenden Definition des Menschen klar. So nennt Aristoteles den Menschen »ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist« und dies wird im 18. Jahrhundert biopolitisch umgedeutet: »Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht«, so Foucaults Definition des Gesetzes der Biopolitik. 2 Agamben interpretiert diese Zäsur auf der Basis
1
Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
2
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, hier S. 171.
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von Walter Benjamins »Kritik der Gewalt« 3 und legt damit den Akzent auf die Gewalt von Exklusionen. Die Matrix von Exklusionen definiert von diesem Zeitpunkt an, was wertvolles Leben heißt. Dies wird im 20. Jahrhundert nicht nur in die Shoah münden, sondern mit dem Zuwachs an biogenetischen Technologien zu dem führen, was Agamben in »Ausnahmezustand« 4, den nómos der Moderne nennt. Hier gehen Souveränität und Demokratie Hand in Hand. Jeder könnte nämlich im Umfeld des eigenen technologischen Know-Hows heute souverän entscheiden, was bloßes Leben (zoë) und lebenswertes Leben (bíos) sei. Die biopolitische Entscheidungsmaschine umfasst Teilungs- und Kontrollmechanismen, die bis zu den einzelnen Organen, Zellen und Genen gehen. Je mehr die Entscheidungsgewalt wächst, desto mehr steigert sich auch die Unbestimmtheitszone, die einen latenten Ausnahmezustand produziert. Agambens Biopolitik schließt hier an das Projekt von Walter Benjamin und Hannah Arendt an, nämlich die Demaskierung der Verknüpfung von Rechtsstaat und Gewalt, die Agamben auf spätmoderne Demokratien bezieht. Die Radikalisierung des Bilds der Biomacht im Band »Ausnahmezustand«, in dem die Auslöschung des Lebens zum nómos der Moderne wird, scheint zwar von den atopischen Konfigurationen des Raums wie Asylen oder Container-Dörfern bestätigt zu werden, in welchen Asylanten oder Migranten das Recht auf den Ort versagt wird. Doch findet sich letztendlich in Agambens Œuvre keine Mediation zwischen der Kritik an der spätmodernen Demokratien inhärenten Gewalt gegen das Leben und der offenen Potenz des Lebens, vor deren Hintergrund die Kritik an Teilungspraktiken der Biomacht geschieht. Beide stehen sich polarisierend gegenüber: Erstere als apokalyptischer Zustand des Politischen, Letztere als utopischer Raum der Ästhetik. Die einzige Verbindung der Potentialität des Lebens zum Politischen ist die Verweigerungsgeste, denn die Potenz manifestiert sich lediglich als Negation, so Agamben mit Bezug auf den berühmten Satz von Herman Melvilles Bartleby: »I would prefer not to«. 5 Im Raum des Ästhetischen und an-
3
Der Sinn der »rechterhaltenden« Institutionen sei nicht, so Benjamin, den Rechtsbruch zu strafen, sondern das Recht zu statuieren: »Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem anderen Rechtsvollzug das Recht sich selbst.« (Benjamin, Walter: »Zur Kritik der Gewalt« (1921), in: Ders.: Gesammelte Schriften II/1, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 179-203, hier S. 188).
4 5
Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Ich verweise auf Deleuzes und Agambens Überlegung zur Potenz des Sagens anhand von Melvilles Bartleby und von Beckett (Agamben, Giorgio; Deleuze, Gilles: Bartleby, la formula della creazione. Macerata: Quodlibet 1993; Agamben, Giorgio: Bart-
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hand von Überlegungen zum Möglichkeitsraum der Sprache impliziert gewiss diese Verweigerungsgeste eine Kraft, welche die Matrix aufs Spiel setzen kann, mit der die Biomacht das Leben gefangen hält und Subjekte sowohl unterordnet als auch zur Subversion autorisiert. Dies betrifft insbesondere den Immanenzbegriff, den der italienische Philosoph mit und anhand von Deleuze entwickelt. Deleuzes »Tier-Werden«, bei dem mit der Entleerung humanistischer Grundlagen auch eine Öffnung zur Potentialität der Gegenwart des Subjektes postuliert wird, ist sicher weiterführend. 6 Es bleibt jedoch ungeklärt, inwieweit dieser von Agamben als »kommende Philosophie« gesehener, offene Raum in politisches Denken umgesetzt werden kann. In der so genannten »Homo sacer«-Trilogie treibt also Giorgio Agamben gewissermaßen der Biopolitik das Leben aus, wohingegen Foucault Leben als Spur, als einen dem Artikulationsprozess der Macht immanenten und unbezwingbaren Widerstand versteht, wie sich dieser bei seiner Lektüre der Archive der »infamen Menschen« manifestiert 7 – darauf greift auch Agamben in »Profanierungen« durchaus zurück. 8 Was wir indes festhalten wollen, ist die Fragekonfiguration, die Agamben aus einem offenen Konzept des Lebens gewinnt, nämlich das den Teilungspraktiken vorausgehende offene, ungeformte Werden des Lebens, das gewiss selbst nicht zu einem Bild des Lebens werden kann. Eine solche Figur der Potentialität fragt nach einem Konzept des Lebens jenseits von dessen Gefangenschaft in Lebensformen oder auch nach dem Konzept einer Subjektivität jenseits von deren Unterordnung unter der Macht. Die Suche nach einer Fragekonfiguration, die nicht der Biomacht entstammt, sondern dieser vor-
leby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin: Merve 1998). Ich nehme Bezug auf meine Analyse von »Stanze« in: Borsò, Vittoria: »Benjamin Agamben - Biopolitik und Gesten des Lebens«, in: Dies. et al. (Hg.): Benjamin Agamben. Politics, Messianism and Kabbalah. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 35-48. 6
Agamben, Giorgio: »Absolute Immanence«, in: Ders.: Potentialities. Collected Essays in Philosophy. Herausgegeben und übersetzt von Daniel Heller-Roazer. Stanford: UP 1999, S. 220-239, hier S. 238. Vgl. Moreiras, Alberto: »Leben als ›Vertigo‹. Espositos ›Terza Persona‹«, in: Borsò, Vittoria (Hg.): Biopolitik II. Wissen um Leben – Wissen für das Leben. Bielefeld: transcript 2012 (im Druck).
7
Foucault, Michel: »La vie des hommes infâmes«. In: Ders., Dits et écrits 1954-1988, T. III, (1976-1979). Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Paris: Gallimard 1994, S. 237-253.
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Agamben, Giorgio: »Der Autor als Geste«, in: Ders., Profanierungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 57-69.
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gängig ist, stellt auch die Frage dar, die Roberto Espositos »affirmative« biopolitische Philosophie seit »Categorie dell’Impolitico« bewegt. 9 Auf diese Fragekonfiguration werden wir später zurückkommen. Das Besondere in Foucaults »Naissance de la biopolitique«, den Vorlesungen am Collège de France (1977/78), 10 war die Öffnung des Artikulationsraums zwischen den politischen und epistemologischen Techniken der Unterwerfung einerseits und den sich seit dem Liberalismus als »Unternehmer ihrer selbst« 11 autorisierenden Subjekten andererseits. Genau diese Historisierung der Biomacht, die Giorgio Agamben nicht bedenkt, 12 wird von den sozialwissenschaftlichen Gouvernementalitätsstudien teilweise radikalisiert, die seit dem Jahr 2000 das Thema der Biopolitik aufgenommen und eine nicht hoch genug einzuschätzende Rezeptionsarbeit der letzten Schriften Foucaults befördert haben. 13 Denn der Verhandlungsraum zwischen der institutionellen Macht und den Subjektivierungspraktiken, deren Analyse kritisches wie auch produktives Potential enthält, 14 zeigt hin und wieder utopische Tendenzen. Ich greife das Beispiel des sich
9
Esposito, Roberto: Categorie dell’Impolitico [1988]. Bologna: Il Mulino 1999. Zur Bedeutung dieses ersten Werkes für die affirmative Biopolitik von Esposito verweise ich auf die Aufsätze von Dario Gentili und Enrica Lisciani Petrini in Borsò: Biopolitik II.
10 Foucault, Michel: Naissance de la Biopolitique. Cours au Collège de France. 19781979. Paris: Gallimard/Seuil 2004. 11 Richard Sennet analysiert das unternehmerische Selbst »als flexiblen Mensch des Kapitalismus« in einer selbst-unternehmerischen Verantwortung, sieht aber darin hegemoniale Formen von Subjektivierung als Folge des globalen Kapitalismus (Sennet, Richard: Der flexible Mensch [1998]. Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2002). 12 Im Rahmen seiner Trilogie zum »homo sacer« spricht Agamben von ökonomischer Theologie (Agamben, Giorgio: Il regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo. Homo sacer, II, 2. Vicenza: Neri Pozza Editore 2007). 13 In Deutschland waren für dieses Paradigma u.a. maßgeblich: Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg: Argument 1997; Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; Pieper, Marianne; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault. Frankfurt a.M.: Campus 2003. 14 Das kritische Potential einer Analyse der Ökonomie aus Sicht der Subjektivierung führt Laura Bazzicalupo mit Bezug auf Lacans Psychoanalyse aus in: Borsò, Vittoria
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abzeichnenden Paradigmas der Biosozialität heraus. In einem Sammelband zu biós und zoë wird von Nicolas Rose die wichtige Frage nach den Orten, Praktiken und Personen gestellt, in deren Zusammenhang das Lebendigsein (vitality) des Lebens zum Problem wird. 15 Es geht ihm dabei um die »Wiederbelebung« des Lebens nach dessen Informatisierung und Mathematisierung durch die Molekularbiologie, wobei vitality nun als materiell-biologische Kategorie zu verstehen ist. Eine solche Fragenkonfiguration soll die Lücke aufnehmen und bearbeiten, die Rose – als Biologe und Sozialwissenschaftler – in der Molekularbiologie selbst feststellt, weil diese u.a. im Zusammenhang mit der Epigenetik, nämlich der Veränderung der genetischen Information im Laufe des Lebens, die genetischen und krankhaften Mutationen nicht gänzlich in den Griff bekommt. 16 Das Lösungsdesign von Nicolas Rose – im gleichen Artikel, aber auch in seinen Büchern 17 – basiert auf der sozialwissenschaftlichen Deutung der Biopolitik, als Ersatz der souveränen Biomacht durch die Dialektik zwischen Regieren und Selbstregieren. Diesen Ansatz hat Rose schon 1996 auch auf die Frage der zwischenmenschlichen Interaktion bezogen und einen Wandel von Gesellschaft zur community festgestellt, nämlich einer sozialen Anordnung, die vom Subjekt her verantwortet wird. Das Subjekt sei heute Unternehmer von Gemeinschaften, deren Organisationsformen vom Habitus, von der Ethnie, von ökonomischen oder virtuellen Räumen, bis hin zu transgender- oder sonstigen Gruppeninteressen abhingen. Die individuelle Abwägung des Risikoschutzes hänge nicht mehr vom moralischen Rahmen eines contrat social ab. 18 Vielmehr werde die Sicherheit
(Hg): Biopolitik I – Die Kunst, das Leben zu bewirtschaften. Bielefeld: transcript 2012 (im Druck). 15 Rose, Nikolas: »Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung«, in: Weiß, Martin G. (Hg.): Biós und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 152-178, hier S. 171. 16 So Rose: »[…] an diesem Beispiel wird deutlich, dass der molekulare Ansatz in der Biologie, der immer mehr um sich greift, es erforderlich macht, produktiv mit Unbestimmbarkeiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen und einzusehen, dass Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genomik Unsicherheiten gerade nicht verringern, sondern steigern.« (Rose: Was ist Leben?, S. 162). 17 z.B. Rose, Nikolas: Powers of Freedom. Reframing Political Thought. Cambridge: UP 1999. 18 Rose, Nikolas/Miller, Peter: Governing the Present. Administering Economic, Social and Personal Life. Cambridge: John Wiley & Sons 2008; Rose, Nikolas: »Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens«, in: Bröckling, Ulrich;
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durch die von Subjekten betriebenen Netzwerke garantiert, welche auch die Bildung von Gemeinschaften steuerten. Doch Rose selbst räumt in diesem Artikel ein, dass sich neue Arten von Marginalisierung bilden, nämlich für diejenigen, die über die Technologien des Selbst nicht verfügen. Ähnliche Feststellungen gelten im Zusammenhang mit dem Gesundheitssektor, wo virtuelle Netzwerke von Patienten regelrechte biocommunities bilden sollen, welche als Regulatoren eigener Gesundheitspolitiken ein Gegengewicht zur institutionellen Gesundheitsverwaltung darstellen. 19 Indes sind im biosozialen Paradigma interessante Perspektiven in Bezug auf die »molekulare« Anthropologie der Gegenwart enthalten. Mit einer Analyse der biologischen Ausrüstung beschreibt Paul Rabinow Prozesse der Biosozialität auf der Grundlage biologischer und molekularer Modelle, welche alte Dichotomien, etwa zwischen Natur und Kultur, entgrenzen. 20 Die Waage, die sich auf der einen Seite zu apokalyptischen Visionen von Biomacht und auf der anderen Seite zur Verheißung der Kraft von Subjekten und ihren Netzwerken zu neigen scheint, riskiert es, den Artikulationsraum der Macht selbst aus den Augen zu verlieren, in dem Michel Foucault hingegen das produktive Moment seines letzten, unvollendeten Projekts sah. Ich meine das Beziehungsverhältnis zwischen Subjekten, nämlich denjenigen, welche die Macht ausüben, und denjenigen, gegen die Macht ausgeübt wird, und die dennoch widerstehen können. In diesem Artikulationsraum interessiert uns weniger die – für historische Prozesse nicht zu vernachlässigende – postmarxistische Subversivität des Randes. Vielmehr scheint mir die Absicht Foucaults weiterführend zu sein, die Macht vom Ort der transversalen Kämpfe aus zu analysieren 21 und zwar als sich im Beziehungsverhältnis ereignende bidirektionale Kraft, die einen unterwirft und »zu jemandes Subjekt macht«. 22 Dieses Denken, das die Souveränität totalisierender Konzepte der Moderne (Subjekt, Identität) in die Grenzen weist, ist gewiss der Psychoanalyse verpflichtet, die die verkennende
Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, S. 72-109, hier S.77. 19 Rose, Nikolas: The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and Subjectivity in the Twenty-First Century. Princeton: UP 2006. 20 Rabinow, Paul: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Herausgeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 21 Foucault, Michel: »Das Subjekt und die Macht«, in: Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 243-261, hier S. 245. 22 Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht, S. 246, 247.
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Struktur des Subjektes gezeigt hatte, ein Subjekt, das von dem Ort aus spricht und in dem Ort gesehen wird, wo es nicht ist. Weniger als die intensiv rezipierte, dekonstruktive Geste interessiert hier die noch nicht voll erschöpfte produktive Verschiebung des Denkens, die in der Figur des Beziehungsverhältnisses impliziert ist.
E INE P OLITIK FÜR DAS L EBEN : ZUM B EZIEHUNGSVERHÄLTNIS VON W ISSEN › UND ‹ L EBEN Verstanden als Geflecht von Außen und Innen hat das Beziehungsverhältnis zu einem radikal anderen Denken geführt, einem »Denken des Außen«, das Foucault mit Deleuze verbindet und andere Blicke auf Grenzziehungen impliziert. Wie Deleuze und Guattari im »Antiödipus« den Ort der schizophrenen Entdifferenzierung als optisches Dispositiv für einen anderen Blick auf die Teilungspraktiken ausgemacht hatten, richtet auch Foucault diesen Blick auf die biopolitische Macht, also die Macht über das Leben. Der transversale, andere Blick macht dabei den Ort des Ausgeschlossenen und Ausgelöschten als einen der Ordnung internen Ort aus. Er wird dabei als Lücke sichtbar, die vom skopischen Regime der Ordnung produziert und zugleich verdeckt, unsichtbar gemacht wird. Mehr als die Dekonstruktion der Ordnung ist es die sinnliche Energie der Lücke, die Foucault regelrecht beeindruckt, nämlich als Spur des Kontaktes (mit dem Ausgelöschten, mit dem Abjekten). Darin finden wir auch den Ort, von dem aus eine Politik für das Leben betrieben werden kann. Diese weniger beachtete Dimension des Denkens Foucaults nähert sich dem Problem des Lebens, obgleich dies nicht ausdrücklich formuliert wird. Das Potential dieser Dimension zeigt sich deutlich in den Arbeiten zu den Ausgelöschten im Archiv der »Infamen Menschen«. »La vie des hommes infames« ist eine »anthologie d’existence«, 23 die zeigt, dass das »grondement de la bataille«, das Grollen des Kampfes zwischen der Macht und den Subjekten, auf welche die Macht ausgeübt wird, eine Bedingung des Lebens selbst ist: Denn im Text dieses Archivs wird klar, dass Begegnungen mit der Macht nicht nur Überwachung, Bestrafung oder Vernichtung, sondern auch die Produktion von Spuren bedeuten, die sinnlich erfahren werden und zur Agentialität, zu Handlungen und Äußerungen anre-
23 Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen [1971]. Herausgegeben und übersetzt von Walter Seitter. Berlin: Merve 2001, S. 7.
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gen können. 24 Dieser transversale, andere Blick, den Foucault auf die Spuren des Archivs wirft, befähigt dazu, in diesen Spuren die Energieladung des Lebens durchaus im biologischen Sinne zu erfahren. Sowohl in Bezug auf die »Infamen Menschen«, als auch auf die »Anormalen«, mit deren Genealogie Foucault sich mehr als 20 Jahre beschäftigte, 25 sind es immer wieder bestimmte Intensitäten, die ihn bei der Sichtung des Materials, also Textpassagen aus Berichten von Internierung oder Strafpsychiatrie und aus Gerichtsgutachten, physisch berühren. 26 Affirmative Anspielungen von Foucault auf das Leben erfolgen nur im Zusammenhang mit derartigen Intensitäten; die Frage nach einer Epistemologie des Lebens wird nicht explizit angesprochen. Die Geburt der Biopolitik fällt aber ineins mit der Sorge um das Leben, dessen Schutz fortan das Leben biopolitisch gefangen hält und zugleich die Entwicklung von Technologien in der Politik und in der Medizin sowie deren Kollaboration erfordert. Darauf geht insbesondere Roberto Esposito ein. 27 Mit dem Einsetzen einer auf das Leben von Individuen als Mitgliedern einer Gesellschaft bezogenen Politik wird das Leben eingefangen in die Techniken von Erkenntnis, Schutz und Sicherheit des Lebens. Den Implikationen von Grenzziehung und Normsetzung für die Wissenschaft des Lebens geht Georges Canguilhem, Mentor Michel Foucaults und vieler Zeitgenossen, 28 anhand der Medizin nach. Die Methodologie der Erkenntnis des Lebens setzt nämlich seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Grenze zwischen Normalität und Pathologie, zwischen Vernunft und Wahnsinn, Ordnung und Monster: »Au XIXième siècle, le fou est dans l’asile où il sert à enseigner la raison, et le monstre est dans le bocal de l’embryologiste où il sert à enseigner la norme.« 29 Die Szenografie des sich im 19. Jahrhundert voll etablierenden Naturwissens ist
24 »Was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht für immer bleiben sollen, das ist die Begegnung mit der Macht: ohne diesen Zusammenstoß wäre gewiss kein Wort mehr da.« (Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 16). 25 Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 26 Bei einem Internierungsregister des 18. Jahrhunderts weist Foucault auf zwei Eintragungen hin, die »mehr Fasern in [ihm] aufgerüttelt haben als das, was man gewöhnlich Literatur nennt.« (Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, S. 9). 27 Esposito, Roberto: Immunitas. Protezione e negazione della vita. Milano: Einaudi 2002, S. 189. 28 Canguilhem war Referent bei der 1961 eingereichten Doktorarbeit von Foucault, zugleich sein erstes großes Werk: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris: Librairie Plon 1961. 29 Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique. Paris: Galien, 1966, S. 178.
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also die Fähigkeit der Episteme, das Leben zum Objekt der Erkenntnis zu machen. Dies geschieht durch Festlegung einer Norm, indem diese vom Anderen, »Abnormen«, differenziert wird. 30 Die Sichtbarkeit des Abnormen folgt ähnlichen Regeln. Als Gegenstand der Norm ist das Abnorme das, was vom skopischen Regime der Ordnung exkludiert wird. So wird das Leben technologisch eingefangen und das Überschüssige, Unbestimmte oder Informe als Monster definiert. Eine beeindruckende Repräsentation der Szenografie des Wissens am Ende des 18. Jahrhunderts ist »An Experiment on a Bird in the Air Pump«, das Gemälde des englischen Malers Joseph Wright of Derby (1767/1768), das die Durchführung eines Experiments mit der von Robert Boyle 1659 konstruierten Vakuumpumpe darstellt. Hundert Jahre nach der Entstehung der Vakuumpumpe, mit der Boyle anhand von Experimenten an Tieren die Bedeutung der Luft für Atmung und Lunge zeigen wollte, wurde das Experiment auch zu einer öffentlichen Zurschaustellung des Naturwissenschaftlers selbst, 31 wie die theatralische Inszenierung in Wright of Derbys Gemälde zeigt (Abb. 1). Vom Publikum umgeben, führt der Wissenschaftler das Einwirken der Vakuumpumpe auf das eingefangene Lebewesen vor, eine Lärche im Kampf zwischen Leben und Tod. Das Licht (der Erkenntnis) fällt auf den Wissenschaftler sowie seine direkte Umgebung und zentriert den Gegenstand, der selbst, an der Grenze des Lebens, dunkel und von unbestimmter Form ist. Derartige Szenografien zeigen die Geburt einer evidenzbasierten Wissenschaft, die sich durch die Bildmedien, später zunehmend durch technische Medien, von der Fotografie bis hin zu den heutigen Bildgebungsverfahren, legitimiert. Die breite Anwendung des fotografischen Dispositivs bei rassischen Typologisierungen, insbesondere in Bezug auf »andere« Völker durch die europäische Ethnologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ist ein beeindruckendes Beispiel. Diese typologischen Praktiken sind selbst in den Studien über die ethnische Gruppe der Dogon sichtbar, die der französische Anthropologe Marcel Griaule im Zusammenhang mit der Dakar-Djibouti Expedition (19311933) anfertigte (Abb. 2). 32
30 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Auflage. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. 31 Vgl. Elliott, Paul: The Birth of Public Science in the English Provinces: Natural Philosophy in Derby, c. 1690-1760, in: Annals of Science Vol. 57, No. 1,1/2000, S. 61100. 32 Dieses Dokument ist untypisch, ist doch Marcel Griaule, wie auch der ihm in seiner Expedition folgende Leiris von der ›surrealistisch‹ anmutenden, materiellen Imagination in Riten und Masken der Dogon fasziniert. Diesen widmete er verschiedene Stu-
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Abb. 1: Joseph Wright of Derby: »An Experiment on a Bird in the Air Pump« (1767/1768) Öl auf Leinwand, 183 cm × 244 cm, National Gallery (London) Quelle: National Gallery www.nationalgallery.org.uk/paintings/joseph-wright-of.
Typologien regulieren die Lebensformen der »Anderen«, aber sie erhalten erst durch mediengestützte Evidenz wissenschaftliche Gültigkeit. Die Anderen werden dabei als defizitäres Objekt registriert und zugleich naturalisiert. 33 Nach derartigen Strategien der Sichtbarmachung der Evidenz rassischer Mängel geht etwa auch die »evidence based« Medizin vor, wie Beate Ochsner in Bezug auf Rudolf Virchows Behandlung der Mikrozephalen, nämlich des Aztekenpaares Barthola und Maximo, gezeigt hat. 34 Die diskursive Erzeugung eines Objektes des Wis-
dien, etwa: Les masques Dogons. Paris: Institut d’Ethnologie, Musée de l’Homme 1938. In dem nach dieser Expedition verfassten L’Afrique fantôme (1934) beschreibt Leiris europäische Rituale als eine Form von Magie, die der Vernunft innewohnt (Leiris, Michel: »L’Afrique fantôme«, in: Ders.: Miroir de l’Afrique [1934]. Paris: Gallimard 1996, S. 61-869). Zur Reformulierung der Moderne in dieser Richtung vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus in Religion und Ethnographie. Magie und Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 234f. 33 Macho, Thomas: »Freaks in den Zeiten von Baywatch. Der imperfekte Mensch: Über die moderne Vorstellung von Behinderungen«, in: Frankfurter Rundschau vom 6.7.2001, zitiert nach Beate Ochsner: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film. Heidelberg: Synchron 2010, S. 195. 34 Ochsner: DeMONSTRAtion, S. 198f.
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sens geht einher mit einer Rahmung von dessen Sichtbarkeit, auch wenn – oder gerade weil – die Bilder keine ikonischen Zeichen sind, d.h. keine motivierte Ähnlichkeit mit den Befunden haben. Vielmehr bestätigen sie vermittels der Fotografie die etwaige Wahrheit des medikalen Objekts indexikalisch. (Vgl. ebd., S. 107)
Abb. 2: Marcel Griaule: »Il berretto gogon« Quelle:
http://isolafelice.forumcommunity.net/?t=42813339,
letzter
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30.05.2012.
Doch sind Repräsentationen nur in ihrer Verweisfunktion, also als Repräsentanz von Dingen evident, nicht in ihrer Materialität, d.h. in den ästhetischen Verfahren des Bildraums oder der sprachlichen Anordnung von Texten. Dies lässt sich schon an dem eben erwähnten Gemälde von Wright of Derby zeigen. Durch die Dramaturgie von Licht und Farbe sehen wir die Szenografie des Wissens als spannungsreiche Frontstellung von gefangenem Objekt und kolonialistischem Auge des Wissenschaftlers. Denn das lebendige Ding ist in der Vakuumpumpe zwar buchstäblich eingefangen, lebt aber und leistet als lebendiges Wesen Widerstand. So ist die Sichtbarmachung oder Bildgebung (imaging) ambivalent: Mitten im aufklärerischen Licht der Technik bleibt das Lebendige des Lebens unbestimmt, kann nicht in sichtbare Rahmungen eingefasst werden, wie der gegen Atemnot kämpfende Vogel in der Vakuumpumpe. Ein Beziehungsverhältnis zu diesem entsteht auch in den Blickbewegungen, die die Unruhe der Frauen und die Trauer des Mädchens angesichts des Experiments mit dem lebendigen ›Ding‹
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erfassen. Zusammenfassend zeigt sich in der Materialität des Bildes zweierlei: Durch die Frontstellung von Wissenschaftler und »Ding« wird im materiellen Bildraum auch das kolonialisierende Auge sichtbar, das das Leben zum Objekt reduziert. Zugleich sind es aber gerade die materiellen Spannungen der Repräsentation – Licht, Farbe, Gesten, Körper –, die das Ding beleben. Hier findet das ›Ding‹ einen Raum, um die Ansprüche des Lebendigen äußern zu können. Ähnliches kann man in Bezug auf die Materialität der Typologie der Dogon feststellen (Abb. 2). Die manieristische Ornamentik der Mützen, die körperliche Intensität der Profile sind Spuren des Lebendigen. Das Lebendige ist überschüssig im Verhältnis zu Typologien oder kognitiven Strukturierungen. In der Materialität der Repräsentation sind in Bilder Handlungen eingeschrieben,35 die den Betrachter zu anderen Blicken anregen und zu einer Verschiebung des Denkens über das Beziehungsverhältnis von Wissenschaft und ›Ding‹ führen können. Eine solche Verschiebung wurde zu Beginn der 50er Jahre von Georges Canguilhem reflektiert, als er die transzendentale Voraussetzung der Norm dekonstruierte. Er kehrt nämlich die angenommene Vorgängigkeit der Norm gegenüber dem Abnormalen um: Anders als das politische Gesetz ist die biologische Norm keine Vorschrift. In der Biomaterialität ist sie vielmehr der Materie eingeschrieben, an der sie sich ausübt: »Die Norm des Lebens eines Organismus ist vom Organismus selbst gegeben, sie ist in seiner Existenz enthalten«. 36 Canguilhem kehrt also das Verhältnis von Vorgängigkeit und Nachfolge um. Das Abnorme bestimmt die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit der Norm. Es besteht vor der Normierung, die dagegen in der Ordnung moderner Gesellschaften das Abnorme vereinnahmt; es widersteht der Norm, dringt in ihr Inneres ein und modifiziert sie. Die Norm lebendiger Organismen ist die Tendenz zur permanenten Selbstdekonstruktion, oder anders gesagt: Der normalste Organismus ist derjenige, der am häufigsten seine Normen übertreten und transformieren kann. Die Norm des Lebendigen ist also die Transformationsfähigkeit, nämlich die Fähigkeit, die eigenen Normen zu verändern. Das »Außen im Inneren« ist die Bedingung der Lebenskraft der Existenz. Dies bedeutet, dass das Leben – anders als das Gesetz – die Norm, auf die es sich bezieht, nicht im Grenzbereich der Trennung, sondern am Berührungspunkt zwischen Lebendem und Leben ansiedelt, wo Varianz lebenserhaltend sein kann, so auch die Schlussfolgerung von Roberto Esposito, der auf dieser Basis zu einem
35 Bredekamp, Horst: Theorie des Bildaktes. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010. 36 Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, zitiert nach Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Zürich/Berlin: Diaphanes 2004, S. 200.
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anderen Begriff von Immunität kommen wird. 37 Wir sind nicht mehr im Bereich der Biomacht, die mit der Übernahme von Benjamins Analyse der rechtseinsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt den Schutz des Lebens als Aufopferung des Lebendigen beschrieben und das Leben dem Gesetz der politischen und juristischen Ordnung unterstellt hatte. In seiner ersten Studie zur Epistemologie des Lebens postuliert Canguilhem folgerichtig eine unauflösbare Spannung zwischen dem »permanenten Anspruch des Lebens im Lebenden« und der Strukturierung des Lebens durch wissenschaftliche Dispositive, 38 weshalb auch heute seine Arbeiten über das Verhältnis von Philosophie und Biologie Beachtung finden, wie die 1992 als Taschenbuchausgabe der Librairie Philosophique J. Vrin erfolgte neue Edition seiner 1952 entstandenen ersten Studie »La connaissance de la vie« (1952) belegt, die erkenntnistheoretische Grundlagen einer neuen Art über Erkenntnis und Leben zu reflektieren, liefert. Canguilhem beschäftigt sich hier mit den Bedingungen der biologischen Erkenntnis und sucht nach Methoden eines rationalisme raisonnable, nämlich eines (lebens-)vernünftigen Rationalismus. Dieser soll nicht nur fähig sein, die Grenzen und Bedingungen der eigenen Praktiken im Umgang mit dem Leben zu erkennen, sondern auch Rechenschaft über die Autonomie des Lebens gegenüber den Technologien des Wissens abzulegen. Zwar ist ›Leben‹ nicht durch die Technologien einholbar, doch muss das »Denken des Lebendigen« nach Methoden jenseits einer Konstellation des Wissens suchen, in der das Lebendige zum Objekt reduziert und gegen das Leben aufgerechnet wird. 39 Damit sind andere Artikulationen des Beziehungsverhältnisses von Le-
37 Ich beziehe mich auf das letzte Kapitel von »Immunitas« (»Implantat«). Zu dessen Bedeutung für eine affirmative Biopolitik vgl. Borsò, Vittoria: »Mit der Biopolitik darüber hinaus: Philosophische und ästhetische Umwege zu einer Ontologie des Lebens im 21. Jahrhunderts: Roberto Esposito«, in: Dies. (Hg.): Wissen und Leben: Wissen für das Leben. Bielefeld: transcript 2012 (im Druck). 38 So Canguilhem in den Vorträgen am Collège Philosophique aus den Jahren 1946-47 (»Aspects du Vitalisme, Machine et Organisme, Le Vivant et son Milieu«): »Si le vitalisme traduit une exigence permanente de la vie dans le vivant, le mécanisme traduit une attitude permanente du vivant humain devant la vie. L’homme c’est le vivant séparé de la vie par la science et s’essayant à rejoindre la vie à travers la science. Si le vitalisme est vague et informulé comme une exigence, le mécanisme est strict et impérieux comme une methode.« (Canguilhem, Georges: La connaissance de la vie [1952, 1965]. Paris: J. Vrin 1992, S. 86. (dt. Die Erkenntnis des Lebens. Übersetzt von Till Bardoux. Köln: Buchhandlung König 2009)). 39 Canguilhem: La connaissance de la vie, S. 12-13.
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ben und Wissen gemeint, nämlich solche, die die Erfordernisse des Lebens in die Konfiguration des Wissens einschreiben, damit sie als Spur des Anspruchs des Lebendigen erfahren werden, das durch das Wissen gefährdet ist. Es geht also um Methoden, die in der Repräsentation von Wissen sowohl Strukturierungsprozesse der vorgegebenen Biomaterialität als auch den Widerstand dieser ›Materialität‹ erfahren lassen, nämlich jene Widerstände des Lebendigen, die nicht restlos in kognitiven Formen erfasst werden können und auf dem Weg der experimentellen Praxis missachtet werden und liegen bleiben. Dass Technologien Spuren des Lebendigen in sich tragen können, ist eine von Heidegger formulierte Einsicht, 40 die in der Embodiment-These der kognitiven Biowissenschaften im Sinne der Verflechtung zwischen Denken, basalen Körperfunktionen wie Bewegung, Wahrnehmung, Affekt und technologischem Kontext eine Weiterentwicklung findet. Deshalb kommt auch Donna Haraway bei der Überwindung der Trennung zwischen Norm und Abnormalem in »The promises of monster« zu einer anderen Definition von Natur, nämlich als Interaktion von mehreren Agenten, die nicht alle menschliche Organismen sein müssen: »If the word exists for us as ›nature‹, this designates a kind of relationship, an achievement among many actors, not all of them human, not all of them organic, not all of them technological. In its scientific embodiments as well as in other forms, nature is made, but not entirely by humans; it is a co-construction among humans and non-humans. 41«
40 »Die Kunst entspricht der ijȪıȚȢ und ist gleichwohl kein Nach- und Abbild des schon Anwesenden. ijȪıȚȢ XQG IJȑȤȞȘ JHK|UHQ DXI HLQH JHKHLPQLVYROOH :HLVH ]XVDPPHQ Aber das Element, worin ijȪıȚȢ XQG IJȑȤȞȘ ]XVDPPHQJHK|UHQ XQd der Bereich, auf den sich die Kunst einlassen muß, um als Kunst das zu werden, was sie ist, bleiben verborgen«. Heidegger, Martin: Denkerfahrungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 139. :HJHQGHV=XVDPPHQKDQJV]ZLVFKHQLKQHQEHGHXWHWGDV*HJHQEHUYRQIJȑȤȞȘ und ijȪıȚȢ für Heidegger nicht den Verlust der ijȪıȚȢ in ihrer überwältigenden Kraft (vgl. Borsò, Vittoria: »Zur ›Ontologie der Literatur‹: Präsenz von Lebens-Zeichen in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Gewalt«, in: Fielitz, Sonja (Hg.): Präsenz Interdisziplinär: Kritik und Entfaltung einer Intuition. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012 (im Druck)). 41 Haraway, Donna: »The Promises of Monsters: A Regenerative Politics for Inappropriate/d Others«, in: Grossberg, Lawrence; Nelson, Cary; Treichler Paula A. (Hg.): Cultural Studies. New York: Routledge 1992, S. 295-337, hier S. 297.
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Wiederum erkennt Donna Haraway in »The Promises of Monsters«, u.a. mit Bezug auf Bruno Latour, im Raum der Repräsentation eine Beziehungsartikulation und nicht allein die spekuläre Repräsentanz des Objektes. Zwar erzeuge die Reproduktion virtuellen Lebens unter Laborbedingungen Laborprodukte als Objekte des Wissens – etwa das virtuelle weiße Kaninchen. Die Labor-Reproduktion ist indes nicht ein spekulärer Prozess, sondern ein Prozess der Übersetzung. »The white rabbit will be translated, her potencies and competences relocated radically. The guts of the computer produce another kind of visual product than distorted, selfbirthing reflection. The simulated bunny peers out at us face first. It is she who locks her/its gaze with us [...] This rabbit insists that the truly rational actors will replicate themselves in a virtual world where the best players will not be Man, through he may linger like interface.« 42
Wie schreiben sich diese Übersetzungsprozesse in die Repräsentation des Lebens ein? Welche Methoden befähigen uns, in der Sprache bzw. der Schrift und in Bildern Spuren des Lebendigen jenseits der Transformation des Lebens in Gegenstände unseres Blickens und Erkennens zu finden? Welche Friktionen bewirken, dass unsere eigenen Weisen der Kognition und des Sehens des Anderen zum Gegenstand unserer eigenen Reflexion werden? Auf bild- und literaturwissenschaftlicher Basis wissen wir, dass jene Konstellation des Blickes, der Gewalt über das Leben ausübt, nach folgenden Prinzipien funktioniert: Es exkludiert und macht alles unsichtbar, was der Norm und ihrem skopischen Regime nicht entspricht; es etabliert ein spekuläres Beziehungsverhältnis von Subjekt und Objekt, Wissen und Leben. In der modernen Ästhetik wurde diese Konstellation mimetischer Repräsentation krisenhaft. Die Krise der Sprache oder die Krise des Bildes 43 setzte die spekuläre Beziehung des Blickes gegenüber dem ›Ding‹ aufs Spiel und öffnete dieses Beziehungsverhältnis. Die Lücke des Ausgeschlossenen als gespürte Abwesenheit des Anderen wird dabei erfahrbar. Ein anderes Blicken und Denken, ein anderes Sehen kann sich ereignen.
42 Haraway: The Promises of Monsters, S. 301-302. 43 Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen, blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes. München: Fink 1999, S. 162.
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W IE L EBEN R EPRÄSENTIEREN ? – ›ANDERE B LICKE ‹ AUF DIE R EPRÄSENTATION ODER V ISUALITÄT JENSEITS DER H OMOLOGIE MIT DEM S AGBAREN In »Raster des Krieges« (2010) betont Judith Butler, dass die Kritik der Gewalt mit der Frage der Darstellbarkeit des Lebens selbst zu beginnen habe. 44 Die Raster des Krieges sind auch die Rahmungen des Blickes, so Butler. Nur wenn die dominanten Medien infrage gestellt werden, können bestimmte Arten von Leben in ihrer Gefährdung sichtbar werden. 45 Um die Rahmungen zu verschieben, benötigen wir, so könnte man mit Didi-Huberman postulieren, »Bilder in der Krise« 46, also Bilder, die die Art und Weise kritisieren, sie zu sehen. Unser Blick ändert sich, wenn das Bild uns anblickt. Nur dann werden wir bewegt, das Bild zu ›sehen‹. Für das Bild ist also das bidirektionale Interaktionsfeld zwischen Blick und Ding eminent wichtig. Aber welche sind die Bedingungen für die Wahrnehmung der Blick-Aktivität des ›Dings‹? Indem die Rahmungen des Blickes entgrenzt, denaturalisiert werden, wodurch Dinge ihre Abhängigkeit von ihrer scheinbar natürlichen Ordnung verlieren. Denn die Rahmung des Sichtbaren erfolgt über das Sagbare. Deshalb setzt die Krise des Bildes die verborgene Verknüpfung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit aufs Spiel, wie es Foucault in seiner Studie über Magrittes Bild »Ceci n’est pas une pipe« demonstriert. 47 Darauf geht Gilles Deleuze bei seinem Buch über Foucault im Kapitel »Topologie oder anders Denken« über Magritte ein. Die Krise des Bildes zeigt, dass Sichtbares und Sagbares sich wechselseitig äußerlich 48 sind, also im Verhältnis der NichtIsomorphie zueinander stehen und nur diskursiv eine Relation der Ähnlichkeit eingehen. Die Nicht-Isomorphie wird von der modernen Ästhetik zum Ereignis gemacht, wie Foucault in seiner Analyse von Magrittes »Ceci n’est pas une pipe« gezeigt hat. Das Gemälde ist eine provokative Betonung des Rahmens, der Bild und Referenz trennt, die stillschweigende Annahme der Ähnlichkeitsbeziehung durchstreicht und die Nicht-Beziehung oder die Heterogenität dessen be-
44 Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an, S. 55. 45 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2010, S. 55. 46 Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an, S. 55. 47 Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife. München: Hanser 1974, S. 43f. Foucault übernimmt den Ausdruck »Nicht-Beziehung« von Maurice Blanchot (S. 31). Ich verweise auf die Besprechung durch Deleuze, Gilles: »Topologie: Anders Denken«, in: Ders.: Foucault. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 69-172, hier S. 89. 48 Deleuze: Topologie, S. 85.
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tont, was in der realillusionistischen spekulären Ökonomie der Diskurse durch das Sagbare verähnlicht wurde. Magritte entzieht der platonischen (moralischen) Lektüre, die die Wahrheit des Bildes an einen externen Referenten delegiert, und dem spekulärem Verhältnis von Bild und Ding den Boden. Bild und Referenz können hier nicht mehr verwechselt werden; die platonische Topografie über die Wahrheit wird umgekehrt. Dieses Bild behauptet, dass sich die ›Wahrheit‹ des Bildes nicht jenseits des Rahmens befindet, in einem externen Inhalt, dessen symbolische Bedeutung in einer Tiefenschicht des Bildes liegt, sondern auf der Oberfläche, in der Materialität des Bildraums selbst, wo das Bildgeschehen, d.h. Visualität, zum Ereignis kommt. 49 Die Sichtbarmachung des Rahmens befreit uns also von den Ketten der platonischen Höhle. Wir bewegen unseren Blick weg vom Abbild und entdecken die Wahrheit des Bildes in der Materialität des Bildraums. Dies impliziert auch eine grundsätzliche Wende hin zur Immanenz des Bildes und der Sprache. Hier finden die Operationen der Visualität und der Textualität eine Stätte, und die Heterogenität von Sagbarkeit und Sichtbarkeit sowie die sie verbindenden Regeln werden in Szene gesetzt. In der ästhetischen Repräsentation ist deshalb die Sprachbildlichkeit nicht versöhnlich. An ihrer Grenze oder auch Kontaktzone, die das eine mit dem anderen in Beziehung setzt, ist eine ganze Serie von »Überkreuzungen oder wechselseitigen Attacken« möglich. 50 Und genau diese Dissonanzen, die zum Prinzip des experimentellen Kinos jenseits des Aktionsfilms werden, denaturalisieren die stillschweigende Szenografie des spekulären Blickes, der die Sichtbarkeit dem Sagbaren unterwirft. Dagegen zielt Godard auf die Veränderung des Sagens durch eine andere Art des Sehens ab. 51
49 Ich unterscheide zwischen Visualität und Visibilität oder Sichtbarkeit: Entsprechend der lateinischen Etymologie sind ›visibilia‹ die sichtbaren Dinge nach naturalistischen Ordnungsregeln. Die ›Visibilität‹ (Sichtbarkeit) bezeichnet das Regime der Sichtbarkeit, d.h. die spekuläre Ordnung der Repräsentation und eine (kartesianische) Opposition von Subjekt und Ding. ›Visualität‹ geht dagegen etymologisch auf ›visus‹ zurück und drückt die Potentialität des Sehens aus, die entsteht, wenn das Material dem naturalistischen Blick Grenzen entgegenbringt. So unterscheidet auch Georges DidiHuberman zwischen »vision« (Visibilität) und »le visuel« (Visualität) (vgl. DidiHuberman, Georges: Devant l’image, question posée aux fins d’une histoire de l’art. Paris: Minuit 1990, insbesondere S. 9-64). 50 So Foucault in »Die Ordnung der Dinge« [»Les mots et les choses«], zitiert nach Deleuze: Topologie, S. 94. 51 Godard, Jean Luc: Das Gesagte kommt vom Gesehenen. Drei Gespräche. Übersetzt von Jessica Beer und Thomas Kramer. Zürich: Gachnang & Springer 2000/01.
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Die Unterwerfung der Sichtbarkeit unter die Sagbarkeit arretiert diese Bewegungen und impliziert diskursive Selektionsmechanismen, die Materielles abtragen und die Wahrnehmung organisieren, was heute von neurokognitiven Befunden empirisch nachgewiesen wurde. Materialitäts-Ereignisse visueller Art kommen auf das Subjekt zu, sie verlangen – wie Klangobjekte im experimentellen Theater – das Nachdenken über eine Neukonfigurierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, wie dies Roland Barthes für die Körnigkeit der Stimme und das Punktum der Fotografie vorgeschlagen hat, oder Michel Foucault im Zusammenhang mit dem Kino und am Beispiel von Antonionis BLOW UP postulierte. Foucault sah die spezifische Leistung des Tonfilms im Ereignis der Stimme, deren Materialität, Geste und Akzente die Potenz haben, ein BLOW UP , d.h. ein »phénomène d’éclatement«, ein starkes akustisches und visuelles Ereignis in alltäglichen Dingen zu produzieren, eine Art »Rematerialisierung des Inkorporellen,« 52 deren akustische Sinnlichkeit die Ordnung der Sichtbarkeit unterbricht, ja zersplittert. Aus all diesen Verfahren ereignen sich ›andere Blicke‹. Betrachten wir die Materialität der Bilder, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anderen kolonialisieren, so sind in der materiellen Repräsentation auch Spuren dieser anderen Blicke zu sehen. Dies hatten wir im Manierismus der Typologie von Griaule bereits festgestellt. Das 1930 während einer Afrika-Expedition durch ihren Mann Martin Johnson entstandene Foto zeigt Osa Johnson in einem Fahrzeug, umgeben von Mbuti-Pygmäen des Kongos (heute Kongolesische Demokratische Republik). Das Dokument (Abb. 3) ist eine der zahlreichen Selbstinszenierungen, die das Image der beiden amerikanischen Abenteurer, Fotografen und Filmemacher zu Beginn des Jahrhunderts aufgebaut haben. Geschützt in ihrem Fahrzeug, beherrscht die im Zentrum des Bildes stehende »Anthropologin« die Masse der Pygmäen, die auf dem Dach und um das Fahrzeug eng versammelt sind. Die tierähnliche Ansammlung zeigt einerseits Menschen, die wie Dinge kolonialistisch beherrscht werden. Gerade dieses Exponiertsein wie Dinge vor der Kamera macht die kolonialistische Szenografie sichtbar, während andererseits der Exzess der Körper, die teils verstörten Blicke, die regungslosen, grimmigen Gesichtsausdrücke die Spur von Leben verspüren lassen, die sich bei der Begegnung mit der Macht nicht vereinnahmen lassen.
52 Foucault, Michel: L’Ordre du discours. Paris: Gallimard 1971, S. 60. Das Ereignis des »éclatement« impliziert sowohl das gewaltsame, geräuschvolle Sich-Lösen eines Fragments als auch einen starken, plötzlichen Lichteffekt.
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Abb. 3: Martin Jonson: »Mbuti-Pygmäen mit Osa Johnson« (1930) Quelle: The Martin and Osa Johnson Safari Museum, http://www.safarimuseum.com, letzter Zugriff am 30.05.2012.
Derartige Blicke, die in der Ethnologie des frühen 20. Jahrhunderts – etwa bei Griaule und Leiris – die »avantgardistische« Krise des Bildes als epistemologische Krise eingeleitet haben, gehören programmatisch zur Bildästhetik anthropologischer Projekte des 20. Jahrhunderts. Eines dieser Projekte, das von der mexikanischen Fotografin Graciela Iturbide, die 2008 den Preis der Hasselblad Foundation erhielt, ist beeindruckend. Während eines längeren Aufenthalts bei den zapotekischen Juchitán-Indigenas in der Nähe von Oaxaca in Mexiko entstanden ihre Fotoarbeiten »Señora de Las Iguanas« über Kultur und Alltagsleben dieser ethnischen Gruppe, mit der sie einige Monate zusammenlebte. Eines der zentralen Themen der Fotografien ist die matriarchalische Struktur dieser Gemeinschaft. 53 Graciela Iturbide, deren Mentor Manuel Álvarez Bravo war, zeigt in ihren Arbeiten ›andere Blicke der Anthropologie‹. Es sind verstörende Blicke. Sie zeigen keine Objekte des Wissens, die etwa fotografisch authentifiziert würden.
53 Iturbide, Graciela: Katalog der Ausstellung der Fundación Mapfre in Madrid (16. Juni - 6. September 2009). Madrid: Fundación Mapfre 2009, mit Texten von Marta Dahó, Juan Villoro und Carlos Martín García.Vgl. außerdem Poniatowska, Elena: Luz, luna, las lunitas. Mexiko: Era 2007, mit Fotos von Graciela Iturbide und Iturbide, Graciela: Juchitán de las mujeres (1979-1989). Oaxaca: Editorial Calamus 2009, mit Texten von Mario Bellatín und Elena Poniatowska.
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Die Visualität dieser Bilder macht die Anderen nicht wertlos. So sind in Abb. 4 die Abnormitäten der Körper – etwa flache Stirn oder gebogene Glieder – nicht Zeichen wertlosen Lebens. Kultur und Natur sind hier keine separaten, evolutionistisch deutbaren Bereiche. Sie fließen vielmehr ineinander. Ihre Unbestimmtheit produziert auch ikonografisch eine Krise des Bildes, die uns zwingt, unsere Sehweise der Anderen in Frage zu stellen. Zentrales Moment sind die manieristisch gebogenen Glieder des Kindes, dessen Gesicht wie verschleiert und unzugänglich ist, ein Manierismus, der hier nahtlos mit der manieristischen Natur korreliert. Ja, das ›Naturding‹ wird über die von Aby Warburg beschriebene Pathosformeln der Renaissance zu einer Ansprache fähig. Wir sind aufgefordert, eine Geste des Anderen zu sehen, die unsere Rahmungen von Kunst, Kultur, Natur krisenhaft werden lässt. In »Curación« 54 (Abb. 5) entzieht sich die kleine Frau von Juchitán, die so klein ist wie das Kind, das sie therapiert, stolz unseren Blicken. Die Körperlichkeit (Kopfhaltung und -bewegung, Blick und die Materialität der Gesichtsfalten) widersteht den Versuchen des Betrachters, die Körperproportionen mit dem Abnormen zu vermessen. Es ist indes wichtig zu betonen, dass zwar die Krise des mimetischen Bildes in der Moderne programmatisch wird, jedoch analoge Verfahren auch ausgesprochene Momente vormoderner Kunst sind. Besonders der Barock hat generell, wie der Cineast und Filmtheoretiker Pascal Bonitzer gezeigt hat, das Bild durch den Einbruch der Zeitlichkeit in den Bildraum entrahmt. Wie später der Film, wurde damit die Lücke des Unsichtbaren aus dem »Off« in das Bild eingeschrieben. 55 Dies gilt auch für den Raum bei Velázquez’ »Las Meninas«.
54 Iturbide: Juchitán, S. 222. 55 Zeitlichkeit, damit auch die Öffnung zum ›Off‹ (décadrage), wird etwa durch schräg einfallendes Licht figuriert. So Bonitzer am Beispiel von »Der heilige Hieronymus im Gehäus«, dem Kupferstich von Albrecht Dürer (1514) in Kontrast zu Panofskys Analyse der Symbolik der Perspektive (Bonitzer, Pascal: Peinture et cinéma. Décadrages. Paris: Editions de l’Etoile/Seuil 1995, S. 53-54).
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Abb. 4: »Curación« (Plate 24) Quelle: Iturbide, Graciela: Juchitán de las mujeres (1979-1989). Oaxaca: Editorial Calamus 2009.
Trotz der zahlreichen Widerlegungen der Analyse von Foucault von kunsthistorischer Seite 56 bleibt die Beobachtung von Foucault hinsichtlich der »anderen Räume« gültig, die sich im Bildraum durch die Entgrenzung der Trennung zwischen Bild und Zuschauer öffnen. Die Blicke durchkreuzen sich; ihre Bewegung im Bildraum läuft ins Leere; die Darstellung ist lückenhaft. 57 Aber ich möchte diese Reflexionen mit einem anderen Velázquez schließen, dem Velázquez der »Bodegones«, den die spanischen Kritiker gerne als Realisten sehen wollen. Das Porträt »El Niño de Vallecas« (Abb. 6) 58 ist ebenfalls verstörend. Es soll der Typologisierung von Anormalen entsprechen – dies ist die übliche Kontextualisierung des Bildes, das als Abbild einer ›Geistesbehinderung‹ interpretiert wird: das auf die Seite geneigte Haupt, die halboffenen Augen, die unterschiedlich gerichteten Blicke, der offene Mund, die auseinander gespreizten, wie unkontrolliert
56 Vgl. Harlizius-Klück, Ellen: Der Platz des Königs. Las Meninas als Tableau des klassischen Wissens bei Michel Foucault. Wien: Passagen Verlag 1995, hier 21-30. 57 Foucault, Michel: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1966, S. 26, 31. 58 Velázquez, Diego: Öl auf Leinwand, (1643-1645) 106 cm × 83 cm. Museo del Prado, Madrid. Es ist unklar, ob es sich um Francisco Lezcano handelt, dem später das Portrait zugeordnet wurde. Jedenfalls entspricht das Portrait keinem der »Narren« am Hof von Felipe IV.
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hängenden Unterschenkel. Doch erschöpft sich die wie eine Fotografie anmutende sichtbare Evidenz eines deformierten Körpers nicht im Abbild. Vielmehr wirft uns das Porträt unsere Alteritätsbilder zurück und wir merken, dass die Deformation ein Zugriff auf den gezeigten Körper durch die normierende Biomacht unserer Rahmungen ist. Dieser andere Blick reagiert auf die Energie im Leiden dieses Subjektes, das uns trotz oder gerade wegen der Isolation in einer Höhle umso intensiver anspricht. Es ist die Materialität von Farbe, Stoff, Licht und Körper – etwa die Blässe des Gesichtes –, die mit dem Betrachter wie auch mit dem im Bild dargestellten Weltausschnitt eine Beziehung eingeht. Die soziale Beziehung mit der Umwelt (dem Weltausschnitt auf der rechten Seite des Bildes) ist die Distanz der Fremdheit. Spätestens hier merken wir, dass unser eigenes Auge im Bild eingelassen ist. Es rahmt diesen Anderen mit der Dramaturgie der bedrohlichen Fremdheit ein, die im skopischen Regime der Ordnung ausgeschlossen wird, hier aber auf uns zurückschaut, uns anspricht und affiziert.
Abb. 5: »Curación« (1998) Quelle: Katalog der Ausstellung der Fundación Mapfre in Madrid (16. Juni - 6. September 2009. Madrid: Fundación Mapfre 2009.
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Abb. 6: Diego Velázquez, Francisco Lezcano, genannt El Niño de Vallecas, Öl auf Leinwand, (1643-1645) 106 cm × 83 cm. Museo del Prado, Madrid Quelle: en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Francisco_Lezcano.
W IE L EBEN S CHREIBEN ? – K RISE DER S AGBARKEIT SINNLICHE I NTENSITÄTEN AN DEN G RENZEN DER S PRACHE
UND
In »Raster des Krieges« sieht Judith Butler zu Recht in der Syntax jene Dimension, die zu einer politischen Waffe gegen die Macht der Rahmungen und der Diskurse werden kann. Tatsächlich hatte Foucault die beunruhigende Kraft der Heterotopien in der Tatsache gesehen, dass sie »brisent les noms communs ou les enchevêtrent, parce que’elles ruinent d’avance la ›syntaxe‹, et pas seulement celle qui construit les phrases, – celle moins manifeste qui fait ›tenir ensemble‹ (à côté et en face les uns des autres) les mots e les choses.« 59
Die literarische Sprache, die die Syntax aufs Spiel setzt, markiert – so auch Gilles Deleuze mit Bezug auf Marcel Proust – einen Grenzbereich, in dem sich ein Fremdwerden der Sprache ereignet. Die Sprache wird zur Schrift, die eine 59 Foucault: Les mots et les choses, S. 9.
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Beziehung zu ihrem »inneren Außen«, zu ihrer eigenen auditiven und visuellen Körperlichkeit unterhält. Hier ereignen sich »neue grammatikalische und syntaktische« Kräfte. 60 So bewegt sich die Schrift zu einer »asyntaktischen« Grenze hin, oder zu den Grenzen der syntaktischen Logik. Es sind anarchistische Bewegungen, die das Homologie-Gesetz der Muttersprache brechen, eine »communauté mineure« 61 fundieren und die »Krankheit der Ordnung« 62 ans Licht tragen. So befreit sich die Sprache von den spekulären Konfigurationen der Evidenz, die das Leben zum Objekt machen und gleichsam naturalisieren. Hier sind Überlegungen zum dissonanten Verhältnis von Sichtbarkeit und Sagbarkeit im sprachbildlichen Material der Schrift weiterführend. 63 Der Krise der Sichtbarkeit entspricht eine Krise der Sagbarkeit in der Anordnung der Sprache (etwa durch Unbestimmtheiten, Paradoxien oder Metaphern). Sie macht erfahrbar, dass an den Grenzen der Äußerung das Ausgeschlossene, das Nicht-Gesagte (und in der Ordnung Nicht-Sagbare) latent ist. Foucault und Deleuze entsprechend ergeben sich auch für Agamben linguistische und visuelle Ereignisse an den Grenzen der Sprache oder des Bildes, wenn sich in der Materialität der Repräsentation Lücken der Ordnung zeigen und sich Schwellen eröffnen, in denen die Existenz
60 »Le problème d’écrire: L’écrivain, comme dit Proust, invente dans la langue une nouvelle langue, une langue étrangère en quelque sorte. Il met à jour de nouvelles puissances grammaticales ou syntaxiques. Il entraîne la langue hors de ses sillons coutumiers, il la fait délirer. […], c’est le langage tout entier qui tend vers une limite ›asyntaxique‹, ›agrammaticale‹, ou qui communique avec son propre dehors. La limite n’est pas en dehors du langage, elle en est le dehors: […] C’est le délire qui les invente, comme processus entraînant les mots d’un bout à l’autre de l’univers. Ce sont des événements à la frontière du langage […]. La littérature est une santé« (Deleuze, Gilles: Critique et clinique. Paris: Minuit 1993, S. 9). 61 In Anlehnung an Gilles Deleuze, »Philosophie et minorité«, Critique, n° 369, février 1978, p. 154-155 (»C’est pourquoi nous devons distinguer le majoritaire comme système homogène et constant, les minorités comme sous-systèmes, et le minoritaire comme devenir potential et créé, créatif«).
62 Ich beziehe mich auf die Grundthese von Critique et Clinique. Paris: Minuit, 1993. 63 Zu dieser Frage sind verschiedene eigene Publikationen des Graduiertenkollegs »Materialität und Produktion« in Vorbereitung sowie von mir betreute Dissertationen und Habilitationen an der Heinrich-Heine-Universität entstanden (vgl. z.B. Borsò, Vittoria: »Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren: zur Ethik der Materialität«. In: Donat, Sebastian; Lüdeke, Roger et al. (Hg.): Poetische Gerechtigkeit, Düsseldorf: DUP 2012, S. 163-188).
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des Nicht-Sagbaren oder Nicht-Zeigbaren aufscheint. 64 Das Nicht-Sagbare bedeutet hier nicht mehr das transzendentale »je ne sais quoi«, das nur poetisch evoziert werden kann, sondern etwas, das gesagt werden kann, jedoch von der Ordnung der Dinge oder von politischer Gewalt exkludiert wird oder vernichtet wurde und sich doch in der Sprache ereignet, wenn auch durch die Lücken in den Rahmungen des Blickes. 65 Die aktuelle Literatur, die sich etwa in Lateinamerika mit Gewalt beschäftigt, stellt materielle Zeichen brutaler Gewalt in konkreten Beschreibungen »geschundener« Körper aus; zugleich lässt die Schrift aber auch die Spuren der Energie des Lebens erfahren, das in Gefahr steht oder ausgelöscht wurde. Es sind Spuren von Subjekten, ihren Wünschen, ihrer Imagination und ihres situierten Verhältnisses zur materiellen Welt. Die Objektivierung der toten Körper – und damit die Vernichtung des Lebens – gelingt nicht ganz. 66 Die Präsenz des Lebens erfahren wir in den minimalistischen Zeichen, die sich im Raum versammeln, diesen bewohnen und mit ihrer Intensität dem kolonialistischen oder fernen anatomischen Blick widerstehen. Man wird beim Lesen von diesem sinnlich erfahrenen Lebenszeichen affiziert. Dieses Leben, das unter Einwirkung von Gewalt zerstört wurde, siedelt sich an der Grenze des Bedeutens an: Das Leben, das für die Henker nichts bedeutet, ist bedeutsam als affizierende Präsenz. 67
64 Agamben, Giorgio: Il tempo che resta. Torino: Bollati Boringhieri 2000. 65 Hier folge ich Agambens These, die Paradoxie von Ungesagtem und Gesagtem sei ein relevantes Moment des Archivs als ein »System der Relationen zwischen Ungesagtem und Gesagtem«, ein System, das die Macht und ihre Lücken sichtbar macht; in Letztere könne sich das Subjekt einschreiben (Agamben, Giorgio: »Das Archiv und das Zeugnis«, in: Ders.: Was von Auschwitz bleibt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 119-150, hier S. 126). 66 Ich verweise auf meine Analyse des Kapitels zur Ciudad Santa Teresa in Bolaños Roman »2666«, in dem Gewaltzeichen in Frauenleichen auf den Seziertischen der gerichtsmedizinischen Anstalten an der Nordgrenze Mexikos mit anatomischem Blick beschrieben werden (vgl. Borsò: Zur ›Ontologie der Literatur‹). 67 Ich nehme Bezug auf Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 und auf meine Diskussion des Präsenz-Begriffs in: Borsò: Zur ›Ontologie der Literatur‹.
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E PILOG In der Differenz zwischen Leben und Forschungsmethodologien oder, mit Canguilhem gesagt, zwischen den Erfordernissen des Lebens und dem menschlichapparativen Umgang mit diesen, bestehen Lücken, nämlich Fluchtlinien für die Persistenz, die Resistenz des Lebendigen. ›Andere Blicke‹, die wir anhand der Ästhetik von Bildern oder Schrift besprochen haben, könnten anregen, Modelle für die methodische Offenheit des Labors hinsichtlich von Präsenzeffekten der Biomaterialität zu entwickeln. Gemeint sind Modelle, welche für die in Laborergebnissen nicht zu erfassenden Spuren des Lebendigen sensibel sind. In diesem Sinne schlägt auch Hans-Jörg Rheinberger vor, die Komplexität und eigene Dynamik der Experimentalanordnung als »Bewegung des Supplementierens« im Sinne des »écriture«-Begriffes von Jacques Derrida anzusehen, und bezieht sich dabei auf »das Verschiebende, die treibende Materialität der Spur, welche die Bedeutung des Verschobenen umstößt« (ebd., S. 244). Die Schrift ist eine »Versuchsanordnung”, die durch die Dynamik der Spur durchdrungen ist und deshalb Erinnern und Repräsentieren aufeinander bezieht, eine Dynamik, die in biowissenschaftlichen Transkriptionsprozessen eher unberücksichtigt bleibt. In einem weiteren Artikel mit dem Titel »Man weiß nicht genau was man nicht weiß. Über die Kunst der Erforschung des Unbekannten« 68 macht Rheinberger auf das Potential von Kunst und Literatur aufmerksam. Kunst sei – so auch Heidegger – ein spezieller Fall der techné, weil sich in der Materialität des Kunstwerks sowohl die Organisation des Wissens als auch die Spur des »Anderen« des Wissens kreuzen. Genau der ›andere Blick‹ auf dieses Andere ist die eigentliche Chance eines Wissens für das Leben, das mit dem Bedenken des Nicht-Wissens den Erfordernissen des Lebens in all seinen Lebensformen gerecht werden könnte.
68 Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung (5. Mai 2007).
Fetale Anomalie Über das böse Erwachen der guten Hoffnung D ANIEL H ORNUFF
E INLEITUNG Es soll werdende Eltern geben, die ihre Portemonnaies mit sonografischen Aufnahmen bestücken. So möchte man in Folge pränataldiagnostischer Untersuchungen seinem ›Kind‹ noch vor seiner Geburt ein Gesicht verleihen. Mit dem Portrait des eigentlich Unsichtbaren soll Zeugnis über das Gezeugte abgelegt werden. Man glaubt der visuellen Spur aus dem Uterus nahezu vorbehaltlos und koppelt an sie die unbedingte Hoffnung auf gesundes Leben. Kaum einer anderen Bildform werden ähnlich übergreifende Potentiale zugeschrieben. Sonogramme sind in ihrer vermeintlich präsenzbildenden Authentifizierungskraft wohl nur mit Fotografien verstorbener Angehöriger, Darstellungen körperlichen Leids oder pornografischem Material vergleichbar. In allen Fällen geht es darum, von einer Tatsächlichkeit des Dargestellten auszugehen und seine Verankerung im ›Leben‹ nicht in Zweifel zu ziehen. Andernfalls verlöre das Bild Überzeugungskraft und büße seine Auslöserfunktion ein. Doch niemals hat ein Bild allein aus sich heraus Überzeugung gestiftet. Das »Glaubenerweckende« 1 eines Bildes ist zu wesentlichen Teilen stets das Resultat seines Kontextes und damit Folge seiner Einbettung in ein kulturelles, soziales und situatives Gefüge. Im Fall eines Sonogramms kommt dem klinischen Kontext entscheidende Bedeutung zu. Gerade in Frühstadien der Schwangerschaft fungiert der Pränatalmediziner als eine Art Kryptologe des Bildes. Er entschlüsselt das scheinbar Unentwirrbare, zertifiziert das graumassige, Schlieren ziehen1
Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, bibliographiert und mit einem Nachwort versehen von Franz G. Sieveke. München: Wilhelm Fink 1995, 1355b.
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de Flimmern der Darstellung als werdendes Leben und verleiht somit dem Bild Autorität. Medizindiagnostische Erkenntnisse werden dabei aus zweidimensionalisierten Aufnahmen abgeleitet. Auch 3D- und 4D-Aufnahmen gehören zu den gängigen Visualisierungsformen, obwohl ihnen keinerlei diagnostische Relevanz zukommt. Mit ihrem Angebot wird auf das gestiegene Bedürfnis werdender Eltern reagiert, das eigentlich Unsichtbare als personales Gegenüber begreifen zu können. Frauenarztpraxen, die sich auf pränataldiagnostische Vorsorgeuntersuchungen spezialisiert haben, gleichen schon heute multimedialen Totaltheatern: Über gleich mehrere Monitore wird die Erstbegegnung mit dem Ungeborenen wirkungsvoll in Szene gesetzt, und das Hochschalten von der zwei- auf die dreidimensionale Darstellung wird als visuelles Spektakel veranschlagt. Unterfüttert durch bunte und wild bewegte Farbfelder sowie einem tiefen Wummern des Pulsschlags bildet sich ein wirkungsästhetisches Gesamtgefüge, das die werdenden Eltern an die Anwesenheit einer von innen nach außen drängenden personalen Entität glauben lässt. »Der Mensch entsteht im Bild«, hält die Wissenschaftshistorikerin Barbara Orland prägnant fest. 2 Sie geht davon aus, dass die modernen bildgebenden Verfahren – Formen »bildliche[r] Evidenzen« (ebd.) – dazu beitragen, die Phase der Schwangerschaft als Autonomisierungsbewegung des Ungeborenen zu erfahren: »Durch den breiten Einsatz neuerer Visualisierungstechniken wird das Ungeborene nicht nur ›sichtbar‹ gemacht, sondern auch jedes Stadium dieses weitgehend als selbsttätig gedachten Prozesses lückenlos dokumentiert«. Folglich komme es über einen massiven Bildeinsatz zu einem Aufweichen der Grenze zwischen »prae- und postnataler Phase«, ja letztlich würde durch die Bildverfahren ein »nahtloser Anschluss zwischen« beiden hergestellt. »Foeten« werde »ein Eigenleben zugestanden«, und die Vorstellung, bei der Geburt handle es sich um einen »›Eintritt in das Leben‹« oder um ein erstmaliges »›Zur Welt kommen‹« sei durch die »räumlich-zeitliche Verschmelzung verschiedener Entwicklungsstadien« weitestgehend aufgehoben. (Ebd.) Orland argumentiert in der Nachfolge feministischer Positionen – und greift insbesondere die Überlegungen Barbara Dudens auf. Tatsächlich spricht auch Duden mit Blick auf die Visualisierungspraktiken der Pränataldiagnose von einer »technogene[n] ›Realitäts‹-Vermittlung«, geht also davon aus, dass die »erlebte Wirklichkeit« der Schwangerschaft durch »die Vorspiegelung innerer Sichtbarkeit« abgelöst werde: »Das Erlebnis der eigenen Körperlichkeit wird für viele
2
Orland, Barbara: »Der Mensch entsteht im Bild. Postmoderne Visualisierungstechniken und Geburten«, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 1,1/2003. »Bilder in Prozessen«. S.21-32, hier S. 21f.
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Menschen seit fünfzig Jahren technogen vermittelt. Ohne die Einbettung des Bewusstseins in einer gläsernen Welt, in der zunehmend auf Befehl gesehen wird, ließen sich die professionell geprägten Bedürfnisse der modernen Frau nicht erklären«. Vor diesem Hintergrund deutet Duden die ›Hospitalisierung der Schwangerschaft‹ als Verlustgeschichte körperlicher Direkterfahrungen: Was sich innerlich ausforme und ausbilde, stehe in einer »Abhängigkeit von Messungen« und begünstige damit eine Entfremdungsentwicklung. Zwischen der ›guten Hoffnung‹, einem Schwangergehen als intimen Eigenerleben und dem medizinischen Objektivierungsinteresse – jenem »technologischen Imperativ« – klaffe ein Bruch, der sich auf Kosten von Selbstbestimmungsrechten auswirke: »Aus dem prinzipiell Unsichtbaren ist – auch für die Frau – ein Fötus geworden.« Und damit ein personenhaftes Subjekt, dessen Autorität durch Paragraph 218 und seinem Recht auf Leben gestützt werde. 3 Man mag die feministische Verteufelung der technisierten Körpererfahrung für eine Variante kulturkritischer Niedergangsdiagnosen halten – und ihr Plädoyer, den Körper den Fängen einer dominanten Hospitalisierungskultur zu entreißen, für das Parteiprogramm einer Interessenvereinigung halten. Und doch kann nicht übergangen werden, dass sich mit dem Einsatz bildgebender Verfahren das Bild der Schwangerschaft – und im besonderen, weil buchstäblichen Maß: das Bild des Ungeborenen – grundlegend gewandelt hat. Der Wunsch nach Einsichtnahme in das eigentlich Uneinsehbare ist nicht nur an die Idee einer visuellen Erstbegegnung und damit auf ein interphysiognomisches Erleben einer scheinbaren Kontaktaufnahme gerichtet. Zugleich koppelt sich an die Bilderwelt des Ungeborenen die Hoffnung auf den visuellen Nachweis einer Normvollendung. Und unter Normvollendung wird nichts anderes als der Beleg ganzheitlicher Gesundheit – ex negativo: das Ausbleiben einer Behinderung – verstanden. Etwa achtzig Prozent aller Schwangeren werden heute als Risiko-Schwangere eingestuft, wobei das vermeintliche Gefährdungspotential nicht auf die Schwangere, sondern auf das Ungeborene gerichtet wird. Folglich dienen Vorsorgeuntersuchungen der Widerlegung, sollen sie doch entgegen der Annahme die Normerfüllung des Schwangerschaftsverlaufs beurkunden. Im Laienbewusstsein richtet sich somit die Vorstellung ein, dass die latente Gefährdung des Ungeborenen durch eine medizindiagnostische Begleitung aufzufangen sei. Daher fungiert insbesondere das angebliche Abbild des Fötus als visuelles Zertifikat seiner Risikoüberwin-
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Duden, Barbara: Die Gene im Kopf – der Fötus im Bauch. Historisches zum Frauenkörper. Hannover: Offizien-Verlag 2002, S. 84-91.
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dung. Als artikuliere sich im physiognomischen Erscheinen die Instandsetzung einer Normerfüllung. »Instrumente der Pränataldiagnostik werden, so lautet ihre gängige Legitimation, zur Abklärung von Risiken bereitgestellt«, beobachtet Markus Dederich. Durch ihren Einsatz bilde sich die Vorstellung einer »Handhabbarmachung von Risiken«, und weiter: »Die Risiken, die hier in den Blick kommen, sind gesellschaftliche Konstruktionen, die mit der Medizinisierung der Sexualität, der Zeugung, der pränatalen Ontogenese und der Geburt verwoben sind.« Pränataldiagnostische Instrumente würden dabei mit einer »kulturelle[n] Einwurzelung eines bestimmten Bildes von menschlicher Gesundheit« koaliert, das auf einer antithetischen Struktur aufbaue und sich gegen »Krankheit, Verfall, Siechtum, Leiden und Tod« abgrenze. Folglich trägt der ›Risiko-Diskurs‹ dazu bei, die Pränatalphase in ›gesund‹ und ›behindert‹ zu spalten. Er stiftet die Vorstellung einer vorgeburtlichen Normerfüllung und prägt zugleich die Herstellung einer vorgeburtlichen Andersartigkeit. 4 In den nachfolgenden Überlegungen geht es um die Frage, welche Rolle die Bilderwelt des Ungeborenen bei der Konstruktion eines antithetischen Bewertungsmusters spielt. Als These sei gesetzt, dass sowohl die – hier auf zwei exemplarische Fälle gekürzte – ikonografische Tradition als auch die technisch erzeugte Sichtbarkeit des Ungeborenen auf dem ästhetischen Prinzip einer klassizistischen Harmonieform aufbauen. Es gilt das Gestaltungsideal, wonach das formal Schöne und das innerlich Gute durch ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis ineinander verwoben seien. Entsprechend wird ästhetisch Abweichendes als Verfallsform gesetzt und folglich implizit das Bild einer sichtbaren Behinderung verfestigt. Sowohl die Bildgeschichte des Ungeborenen als auch die aktuelle Spektakelpraxis der medizindiagnostischen Untersuchung etablierten und etablieren eine visuelle Norm, die zur Instandsetzung von Andersartigkeit einlädt – und damit Behinderung als Schwundstufe eines Idealzustands interpretiert. Das böse Erwachen einer guten Hoffnung ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Inszenierungstradition, die bereitwillig der guten Hoffnung das gute Bild des idealen Körpers geliefert hat.
4
Dederich, Markus: »Der ungeborene Mensch mit Behinderung im Lichte der ›Bioethik‹ – Kritische Anmerkungen zur Diskussion um sein Lebensrecht«, in: Weiß, Hans; Stinkes, Ursula; Fries, Alfred (Hg.): Prüfstand der Gesellschaft. Behinderung und Benachteiligung als soziale Herausforderung. Rimpar: Edition Friesleben 2010, S. 147-166, hier S. 158ff.
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D IE S CHÖNGESUNDEN Niemand hat entschiedener die Vision eines idealen Fetalkörpers verfolgt als der deutsche Anatom Samuel Thomas Soemmerring. »Icones embryonum humanorum« nannte Soemmerring sein Bild- und Textwerk aus dem Jahr 1799, aus dem man »nahezu mühelos […] Wachstum und Entwicklung des menschlichen Körpers von der dritten Woche nach der Zeugung bis zum fünften oder sechsten Monat erkennen kann«. 5 Die Medizinhistorikerin Ulrike Enke weist in ihrer grundlegenden Studie zum Thema auf den speziellen Umstand hin, dass es Soemmerring ausdrücklich um ein metamorphosisches Entwicklungsmodell ging (»ut facili negotio ex illis incrementum et metamorphosis« (ebd., S. 170ff)). So sei anzunehmen, dass mit dem Verweis auf den Prozess der Gestaltänderung eine Distanz sowohl zu präformistischen als auch zu epigenetischen Theorien hergestellt werden sollte. Ganz offenbar wollte sich Soemmerring in der Diskussion um die entwickelnde Kraft des Ungeborenen nicht festlegen. Ihm war vorrangig an der Beschreibung, Datierung und – vor allem – spektakulären Visualisierung der einzelnen Stufen der Umbildung gelegen, so dass er seine ganze Konzentration auf die Inszenierung der »Icones« richtete. Soemmerring hatte eine stolze Sammlung »in Weingeist konservierter Leibesfrüchte« 6 vorzuweisen, die er aus verschiedenen internationalen Instituten, mehrheitlich aus dem anatomischen Theater in Kassel über Jahre hinweg zusammengetragen hatte. So stellten Totgeburten das Material, aus dem er die ersten Schritte des Lebens geformt werden sollten. Vorwiegend die Produktionsweisen seines Tafelwerkes geben Aufschluss über das ästhetische Ideal, mit dem die Ungeborenen durchwoben werden sollten. Schließlich erforderte die Vielzahl der vorliegenden Exemplare einen differenzierten Selektionsmechanismus, den Soemmerring entlang seiner ästhetischen Ambitionen ausrichtete. In einem ersten Schritt wurden ihm von bekannten
5
Soemmerring, Samuel Thomas: »Icones embryonum humanorum. [Frankfurt 1799]«, in: Ders.: Schriften zur Embryologie und Teratologie. Bearbeitet und herausgegeben von Ulrike Enke. Basel: Schwabe Verlag 2000, S. 171ff.
6
Enke, Ulrike: Von der Schönheit der Embryonen. Samuel Thomas Soemmerrings Werk Icones embryonum humanorum [1799], in: Duden, Barbara; Schlumbohm, Jürgen; Veit, Patrice (Hg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17-20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 205-236, hier S. 209. Vgl. ausführlicher dazu auch: Enke, Ulrike: Soemmerrings Werk Icones embryonum humanorum, in: Soemmerring: Icones embryonum humanorum, insbesondere S. 81-110.
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Zeichnern gesammelte Leibesfrüchte aus unterschiedlichsten Wachstumsstadien vorgelegt. »Dann wählte ich aus der Zahl jener Bilder nur diejenigen aus, deren Vorlage nicht nur ohne jede schwere Entstellung waren, sondern sich auch durch rechte Harmonie der Glieder und, unter Berücksichtigung des Alters, durch Schönheit auszeichneten und bei der Behandlung keinerlei Schaden genommen hatten.« 7
Abb. 1 Quelle: Soemmerring, Samuel Thomas: »Icones embryonum humanorum. [Frankfurt 1799]«, in: Ders.: Schriften zur Embryologie und Teratologie. Bearbeitet und herausgegeben von Ulrike Enke. Basel: Schwabe Verlag 2000.
Bei »jenem Vergleich« sei ihm aufgefallen, »daß besonders die Bilder des berühmten Koeck so sehr herausragen, daß sie an naturgetreuer Darstellung und an Kunstfertigkeit der Werke« alle bisherigen Embryonaldarstellungen übertroffen hätten. (Ebd.) Damit war die Leitformel der gewünschten Popularisierung ausgegeben: Die unabdingbare körperliche Makellosigkeit der Exemplare musste mit einem klassizistischen Schönheitsideal verbunden sein. Und waren erst einmal die wohlgestalteten »besten Stücke« (»optima quaeuqe specimina«) ausgewählt, ließ sich in einem zweiten Durchgang ihr bildnerisches Potential ermitteln. Erst wenn alle
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Soemmerring: Icones embryonum humanorum, S. 173.
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Kriterien – einwandfreie Formgebung, stilistische Ausgewogenheit und eine Art Grafigenität – erfüllt waren, konnte die eigentliche Arbeit am Bild beginnen. Mit seinen Gestaltungsregeln ließ Soemmerring alle individuellen – abweichende wie andersartige – Merkmale durch ein vermeintlich objektives Stilprinzip überzeichnen. Die ungeborenen ›Fleischstücke‹ bildeten fortan ein Körperlager, das nach besonders gelungenen Bauteilen abgesucht wurde. Und das bedeutete: Anatom und Zeichner hatten »blos das zu sehen, was eigentlich ausgedruckt werden soll, und Kleinigkeiten, die nicht zur Sache gehören, oder wohl gar bloße Zufälligkeiten wegzulassen«. Die aus anatomischen Highlights zusammengefügten Puzzle-Bilder sollten »die Aufmerksamkeit der Leser […] anspornen« und eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf das Laienpublikum ausüben, ja zu Generatoren der Wahrnehmungsbündelung aufsteigen. (Ebd., S. 173ff) Mit ihrer Auswahl- und Ästhetisierungslogik leiteten Soemmerring und Koeck die Bildkarriere der modernen Spektakelfeten ein. Strukturiert durch die Seriendarstellung wurden diese in hoch designte Idealtypen hineinprojiziert und in ein visuelles Ordnungsgefüge gebracht. Die beiden kreierten fetale Superexemplare, die niemals lebten und niemals leben werden. Barbara Duden deutete das Bildverfahren prägnant und fasste ihre Überlegungen zu diesem Tafelwerk in einer knappen Formel: »Soemmerring will ein Simulakrum des Objekts und nicht ein Faksimile des Augenscheines«. 8 Die nachkonstruierte Wirklichkeit sollte wirklicher wirken als eine bloße originalgetreue Kopie der Wirklichkeit. Es ist daher nicht vermessen, Soemmerring und Koeck als die ersten Simulationisten der Pränatalkultur zu bezeichnen, denen es um ein allgemeingültiges, vorrangig über Bilder generiertes Absolutes, um eine körperästhetische Normierungsleistung ging – und damit um den definitiven Ausschluss einer sichtbaren pränatalen Andersartigkeit. 9 Soemmerrings Tafeln überdauerten. Ihre Bekanntheit schwand erst im 20. Jahrhundert, doch bis dahin kam ihnen hohe Anerkennung und breiter Zuspruch zu. Die anatomischen Leistungen mochten zwar rasch in den Hintergrund getreten sein – doch lag darin der Grund, warum umso sensibler der inszenatorische Zugewinn gewürdigt wurde. Zu Soemmerrings Lebzeiten lobte man in geradezu chorischer Einigkeit die vitale embryonale Ästhetik und bewunderte deren au-
8
Duden: Die Gene im Kopf, S. 81f.
9
Vgl. dazu: Hildebrand, Reinhard: »Der menschliche Körper als stilisiertes Objekt – anatomische Präparate, Modelle und Abbildungen im 18. Jahrhundert«, in: Schultka, Rüdiger; Neumann, Josef N. (Hg.): Anatomie und anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert. Anlässlich des 250. Geburtstages von Philipp Friedrich Theodor Meckel (1755-1803). Berlin: LIT 2007, S. 197-222.
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ßergewöhnliche Kunsthaftigkeit. Unnachahmlich habe Soemmerring »die Theile so abbilden lassen, wie sie lebend sich im Körper verhalten, nicht wie sie im Tode und durch die Behandlung des Anatomen sich darstellen«, notierte fünfzig Jahre nach Erscheinen der »Icones« der Medizinhistoriker Johann Ludwig Choulant, um geradezu jubilierend zu schließen: Soemmerring habe »vollendeten Sinn für die künstlerische Darstellung mit der genausten Auffassung der Einzelheiten« in eins gesetzt – einen Unterton der Erleichterung konnte er dabei nicht verhehlen. 10 Denn Choulant war gänzlich anderes gewohnt: In seinen theoretischhistorischen Forschungen musste er immer wieder mitansehen, wie Embryonen »im Tode und durch die Behandlung des Anatomen« 11 in ihrer kreatürlichen Rückständigkeit allzu schonungslos ausgestellt wurden. Offenbar kümmerte es die frühen Zergliederer wenig, wie sich die Bildberichte ihrer Pränatalsektionen auf medizinisch vergleichsweise unbedarfte Betrachter auswirkten. Ausgerechnet Soemmerrings großes Fachidol, der schottische Anatom William Hunter, trat gerne als anatomischer Haudegen in Erscheinung. Für Hunter schien es keine Tabus zu geben, war er doch mit spärlichem Sinn für sensible Gemüter ausgestattet: Bei Betrachtung seines Bildbandes über 34 schwangere Unterleiber, 12 den er 25 Jahre vor Soemmerrings »Icones« veröffentlicht hatte, dürften wohl nicht nur einigen Zeitgenossen der Appetit auf gravide Bildhäppchen vergangenen sein. Hunter liebte es deftig, und anatomische Eindeutigkeiten waren ihm willkommener als die Konstruktion eines normativen Fetalbildes. Er sah sich als Erbe einer Sektionskultur, wie sie in der Renaissance zum Publikumsrenner avanciert war. Folglich gründete er in London ein anatomisches Theater, das in Konstruktion, Aufbau und Funktion an die berühmten Schau- und Lehreinrichtungen in Padua und Bologna erinnerte. Nichts anderes als günstige Gelegenheiten und glückliche Umstände – »favourable opportunities« und »fortunate circumstances« 13 – sollen es gewesen sein, die ihn mit einer ungewöhnlich hohen Zahl toter Schwangerer versorgt hatten. Selbst noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mussten sich seine
10 Choulant, Ludwig: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst [Leipzig 1882], Nachdruck Niederwalluf 1971, S. 131, zitiert nach Enke: Vom Präparat zur Bilderfolge. S. 251. 11 Enke: Von der Schönheit der Embryonen, S. 234. 12 Vgl. dazu: Hunter, William: Anatomia uteri humani gravidi tabulis illustrate. Birmingham 1774. 13 Hunter: Anatomia uteri humani gravidi tabulis illustrate, Praefatio.
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Fachkollegen glücklich schätzen, wenn sie während ihres Berufslebens auch nur einmal einen schwangeren Körper unter ihr Messer legen durften. Wer ansonsten immer nur an trächtigen Tieren präparierte, weil sich gestorbene Schwangere für gemeinhin so rar machten, dürfte mit einer gehörigen Portion Misstrauen auf den in London praktizierenden Schotten geschielt haben. Lange umrankte den Konkurrenten, der sich auch als Geburtshelfer verdient gemacht hatte, die Aura einer unerklärlichen Materialfülle. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es das Jahr 1751, in dem sich Hunter zum ersten Mal eine solche ›Gelegenheit‹ bot, als eine Frau im Endstadium ihrer Schwangerschaft und noch vor Einsetzen des Verwesungsprozesses auf seinem Sektionstisch gelandet war: »A women died suddenly, when very near her end of her pregnacy; the body was procured before any sensible putrefactio had begun.« (Ebd.) Spektakulärer hätte seine Pränatalkarriere kaum beginnen können.
Abb. 2 Quelle: Hunter, William: Anatomia uteri humani gravidi tabulis illustrate. Birmingham 1774.
Denn so natürlich seine Lage auch sein mochte: Wie ein hässliches Gedärm 14 scheint der Embryo zwischen Abdomen und Oberschenkel in die Gewebe und Wandungen seiner toten Mutter gestopft. Die Ästhetik des Grotesken war an keiner anderen Stelle auch nur annähernd so fesselnd zu inszenieren wie an die-
14 Vgl. Enke: Von der Schönheit der Embryonen, S. 235.
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sem geöffneten Schwangerenkörper, dessen fette Leibesfrucht alles auseinanderzureißen drohte. Es war die zu jener Zeit in England florierende Kunst der Kupferstecher – hier angewandt durch den Künstler Robert Strange –, die eine dokumentarische Unmittelbarkeit mit tiefenräumlich-plastischen, schattenartig modulierten und damit suggestiven Wirkungen anzureichern verstand. Verfeinert mit glatten Schnitten durch die Oberschenkel und dramatisiert durch die Freilegung einzelner Blutgefäße konnte die Schaulust am Schaurigen zielsicher angestachelt werden. Hunter zerhackte jede Hoffnung auf ganzheitliches neues Leben zur bizarren Partialskulptur des schwangeren Körpers. Entscheidend für den Bilderfolg war, dass er parallel zum Sektionsprozess die grafische Vorlage erstellen ließ. Folglich wurde der Ablauf nicht nur mit-, sondern im besten Sinne aufgezeichnet. Wäre die Fotografie nicht erst rund 80 Jahre später erfunden worden, hätte Hunter mit Sicherheit eine Kamera über dem Sektionstisch angebracht, um die einzelnen Stadien in Lichtspuren zu fixieren. So aber öffnete er in Anwesenheit des Illustrators und Künstlers Jan van Riemsdyk die graviden Rümpfe. Ähnlich wie später Soemmerring hatte bereits Hunter einen klar ausgerichteten ästhetischen Kompass vor Augen: »The object is represented exactly as it was seen«, gab er zu Protokoll, und mit der Forderung nach Abbildgenauigkeit sollten reine Phantasiegebilde – »conceived in the imagination« – ausgeschlossen werden. Hunter sprach natürlichen Dingen einen ästhetisch alles überragenden Wert zu, sei doch nur das künstlerisch Unbearbeitete von »elegance and harmony« durchzogen. »The beauty of the depiction«, die Schönheit der Darstellung vollziehe sich daher nur in einem »simple portrait«, das sich im Idealfall als Abdruck der Wahrheit (»mark of truth«) verstehen ließe und mit den Überzeugungskräften des Ursprungsobjekt annähernd zusammenfalle (»and becomes almost as infallible as the object itself«). 15 Die Proklamation einer vermeintlich realistisch abbildenden Dokumentationsarbeit entspricht den Gepflogenheiten des Anatomienaturalismus, wie er zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien vorherrschend gewesen war. Die Konturschärfe des sezierten Körpers und seine physiologische Detailpräzision waren das Ergebnis eines Ästhetisierungsverfahrens, das – auch hier im Vorgriff auf Soemmerring – bereits vor Erstellung der Zeichnung zur Anwendung gebracht wurde: Hunter artifizialisierte den Fleischbrocken massiv, indem er ihn mit Wachs füllte, Gefäße durch Farbstoffinjektionen weitete und hervorkehrte, Schnittkanten nachbearbeitete, auf maximale Reinlichkeit achtete und so tatsächlich ein organisches Skulpturengebilde schuf. Was man heute vorschnell als manipulativen, wirkungsästhetisch aufputschenden Eingriff werten
15 Hunter: Anatomia uteri humani gravidi tabulis illustrate, Praefatio.
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könnte – schließlich sollte eine Erhöhung der Effektstärke das Überzeugungspotenial des Bildes intensivieren –, war für Hunter genuines Mittel zur Erlangung der veranschlagten wissenschaftlichen Genauigkeit. Zugrunde lag ein Realismusverständnis, das auf keinem Oppositionsverhältnis zu ausgreifenden Vorund Nachbearbeitungen fußte. Naturalistisch vergegenwärtigen bedeutete, die vorgefundene Realität in ihren wesentlichen Charakterzügen zu verstärken, um durch Strategien der Profilierung ihre konstitutiven Wesensmerkmale in vortrefflicher Weise herausstellen zu können. 16 Es ging Hunter dabei nicht um die profilierende Darstellung eines Fetus. Vielmehr war dieser in Kombination mit Teilen seiner Trägermasse willkommenes Mittel, um im Rückgriff auf die Renaissanceanatomie die buchstäbliche Kunstfertigkeit des Anatomen unter Beweis zu stellen. Ob sich dabei tatsächlich, wie oft behauptet, sexualisierte männliche Machtphantasien oder gar eine doppelte Vergewaltigung des weiblichen Körpers – zunächst zerhackt und dann triumphal auf einer Schlachtbank präsentiert – ausgeprägt haben soll, bleibt Spekulation. 17 Stattdessen steht außer Zweifel, dass sich Hunter und Riemsdyk stückweise von außen nach innen gearbeitet, besonders prägnante und eindeutig darstellende Zwischenstufen abgebildet und damit einen Atlas geschaffen haben, der ein immer tieferes Eindringen in den Schwangerenkörper nachvollziehen lässt. Der Betrachter wurde wohl weniger in die Rolle des Frauenschänders als vielmehr in die Position des nachträglichen Anatomen versetzt, ja er sollte der sensationellen Öffnung, Freilegung, Enthäutung und Entblätterung eines stilistisch außergewöhnlichen Körpers möglichst unmittelbar beiwohnen. Für viele war die Ausschlachtung tragender Leiber und die Freischneidung heranreifender Früchte zu viel des Guten – auch wenn der hohe Veredelungsgrad dem anatomischen Gewerbe wertvolle Abstraktionsgewinne eingebracht hatte. Hunters auf tafelgerechtes Format kleingehauene Fleischberge verfassten wohl
16 Vgl. Daston, Lorraine; Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations, 40/1992, Special Issue: Seeing Sience, S. 81-128, insbesondere S. 91-93. Vgl. dazu weiterhin: Hildebrand, Reinhard: »Der menschliche Körper als stilisiertes Objekt – anatomische Präparate, Modelle und Abbildungen im 18.Jahrhundert«, in: Schultka, R.; Neumann, Josef N. (Hg.): Anatomie und anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert, S. 197-222, insbesondere S. 197ff. 17 Vgl. Schnalke, Thomas: »Der expandierte Mensch – Zur Konstitution von Körperbildern in anatomischen Sammlungen des 18. Jahrhunderts«, in: Stahnisch, Frank; Steger, Florian (Hg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen. München: Franz Steiner 2005, S. 63-82, insbesondere S. 75ff.
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dennoch ein Kapitel aus der unendlichen Geschichte über die Attraktivität des Grauens. Wie lieblich erschienen dem Gelehrten Choulant hingegen Soemmerrings Idealexemplare. Wo Hunter den Betrachter in den körperlichen Untiefen des Todes wühlen ließ, polierte Soemmerring ungleich gefälliger die pränatalen Oberflächen auf Hochglanz. Der Medizinhistoriker formulierte es pointiert und herzhaft erfreut: Soemmerrings Feten »haben das Widerliche, Geschmacklose, Unnatürliche, das oft in den früheren anatomischen Darstellungen herrschte, verdrängt und ein ungleich Besseres an dessen Stelle gesetzt« 18.
Abb. 3 Quelle: Soemmerring, Samuel Thomas: »Icones embryonum humanorum. [Frankfurt 1799]«, in: Ders., Schriften zur Embryologie und Teratologie. Bearbeitet und herausgegeben von Ulrike Enke. Basel: Schwabe Verlag 2000.
Bei Soemmerring skandalisieren weder Gedärm noch Gekröse die Gesamtästhetik der Tafeln, auch wollte er kein sukzessives Enthäuten demonstrieren, ganz im Gegenteil, war ihm doch ausschließlich an Wachstum und Wandlung jener ›ungleich Besseren‹ gelegen. Und so musste überraschen, wie vorbehaltlos er sich in die Hunter’sche Tradition nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich einzugliedern gedachte:
18 Zitiert nach Enke: Vom Präparat zur Bilderfolge, S. 251.
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»Da aber in William Hunters ganz ausgezeichnetem Werk eine fast vollständige und vorzügliche Folge von Embryonen vom vierten Monat bis fast zu fölligen Reife abgebildet wird, werden meine zwei Tafeln ganz nach Art eines Supplements diesen Tafeln hinzugefügt werden können« 19.
Die beiden Anatomen standen sich in ihrem arbeitsprozessualem Selbstverständnis und ihrem Fokus auf wissenschaftliche Popularisierung wahlweise gravider oder ungeborener Körper nahe. Doch Soemmerrings Deutung des siebzehnten Exemplars der ersten Tafel – dem letzten dieser Serie – kehrt den entscheidenden Dissens hervor: »Ich entsinne mich nicht«, hob Soemmerring an, »bisher einen Embryo gesehen zu haben, der sich durch die Anmut des sehr lieblichen Gesichts, die Schönheit des recht vollen Rumpfes und das Ebenmaß der vortrefflichen Glieder mehr empfehlen würde.« (Ebd., S. 185) Wo Hunter zerhackte, ließ sich Soemmerring verführen, und wo der eine den naturalistischen Auftrag umsetzen wollte, verfing sich der andere im klassizistischen Schwärmen. In diesem letzten Spektakelfetus, einem Idealgeschönten sondergleichen, schien sich zu verdichten, wonach Soemmerring gesucht hatte: Ein in jeder Hinsicht durchgestalteter Körper, dessen ausgewogene, ebenmäßige, ja »reizende« Form auf Lieblichkeit und Anmut ausgerichtet war. Sein vollkommenes Fetusbild bedeutete ihm die Sichtbarwerdung eines ausbalancierten, ganzheitlich normvollendeten Menschenbildes. Sein inszenatorisches Feingespür überführte dabei nicht nur die pränatale Anatomiepraxis nach Leonardo, Vesalius und vielen anderen zurück in die herrschende Kunstpraxis, sondern bewahrte ihn zugleich vor dem Tritt in die Geschlechterfalle: Die finale Figur der Tafel zeigt mit höchster Wahrscheinlichkeit den ersten weiblichen Fetus in der Bildgeschichte der Ungeborenen. Mit geneigtem »sehr zierlichen Kopf«, geschlossenen Augen und dem Anflug eines Lächelns scheint sie in einen Zufriedenheitsschlaf gesunken; als widersetze sie sich den auf Tafelformat zurechtgeschlachteten Vorbildern aus Hunters Schule, als wolle Soemmerring ein pränatales Lebenssignal durch den Aufweis einer Schöngesunden setzen.
19 Soemmerring: Icones embryonum humanorum, S. 173.
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S CHLUSS Die aktuelle Visualisierungspraxis scheint in ästhetischer Hinsicht nahtlos an die Soemmerring-Tradition anzuknüpfen. Längst ist der Fetus zu einer Ikone der Populärkultur aufgestiegen, findet sich als Sympathieträger in Werbeanzeigen, illustriert Schwangerschaftsratgeber sowie entsprechende Pflegeprodukte – ja jeder scheint zu wissen, wie ein Ungeborenes auszusehen hat, obwohl doch kaum jemand jemals auch nur einen Ungeborenenkörper leibhaftig zu Gesicht bekommt. Treffend beschreibt Verena Kriegers den Popularisierungsprozess des Ungeborenen in der westlichen Kultur, der bei Lennart Nilsson seinen Anfang nahm: »Ein Fötus tritt […] ans Licht der Welt. Denn die Welt hat ein Licht auf ihn geworfen, noch bevor er als Mensch zur ebensolchen kommen wird. In seinem Dunkel mochte er ein noch gesichtsloses Wesen ohne Konturen sein, ein Werden. Im Rampenlicht seiner öffentlichen Zurschaustellung gewinnt er Profil, es wird ihm ein Gesicht verliehen. Der Fötus wird zum ästhetischen Objekt, zum Gegenstand von Ästhetisierung«. 20
Bereits Soemmerring zielte auf jenen Moment der Gesichtswerdung, verlieh seinen Exemplaren eine physiognomische Qualität und idealisierte sie damit zu anthropologischen Entitäten, an deren – schöngesunden – Lebensstatus kein Zweifel herrschen sollte. Die Entwicklung der mehrdimensionalen technischen Visualisierung greift – wohl eher unbewusst – diesen personalisierenden Suggestionseffekt auf und impliziert damit eine Bindung zwischen äußerlicher und innerer Makellosigkeit. Nur so war möglich, Sonogramme als Brand-Signals der Lebensschutz-Bewegung einzusetzen, ging es doch um ein »picturing the baby« in Sinne eines »make[…] the baby more real« 21. Sowohl Soemmerring als auch der aktuelle Visualisierungskult um das Ungeborene zielen auf die ästhetische Untermauerung einer Wirklichkeit des Dargestellten. In beiden Fällen wird die vermeintliche Tatsächlichkeit des Gezeigten mit einem körpernormativen Ideal kurzgeschlossen. Der Triumph der Bilder liegt in ihrer Ausblendung von Andersartigkeit und damit in ihrer scheinbareren Beweisführung, dass Behinderung
20 Krieger, Verena: Der Kosmos-Fötus. Neue Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau, in: Feministische Studien, Weinheim, 2/1995, S. 8-24, hier S. 8f. 21 Petchesky, Rosalind Pollack: »Foetal Images: the Power of Visual Culture in the Politics of Reproduction«, in: Stanworth, Michelle (Hg.): Reproductive technologies. Feminist perspectives. Minneapolis: University of Minnesota Press 1987. S. 57-80, hier S. 71f.
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ausgeblieben ist. Doch damit bilden sie umso stärker die Voraussetzung zur Konstruktion von Andersartigkeit. Was das äußere Bild ausschließen soll, setzt sich als Vorstellungsbild in den Köpfen der Menschen fest. Das böse Erwachen der guten Hoffnung im Moment einer positiven Befunderhebung – dem Nachweis einer fetalen Anomalie – ist nicht zuletzt Folge eines Images, das die Bilderwelt des Ungeborenen aufgebaut hat.
Bildliche Darstellungen des (nicht)behinderten Bettlers im Martinswunder aus der Perspektive mittelalterlicher Mentalitäten I RINA M ETZLER
Eine der vielen Darstellungsweisen von Heiligen in der mittelalterlichen Kunst zeigt den Hl. Martin in dem Moment, als er den Mantel teilt, um eine Hälfte davon dem Bettler zu überreichen. Martin ist dabei zumeist hoch zu Ross dargestellt; er ist vornehm und erkennbar hochrangig gekleidet, mit einem Schwert in der einen und einem Zipfel seines Mantels in der anderen Hand. Der Bettler steht, kniet oder kauert vor ihm und streckt den Arm nach der Gabe aus. In der Legende des Heiligen 1 wird die Begegnung des zukünftigen Heiligen mit dem Bettler so geschildert: Mitte des vierten Jahrhunderts trifft Martin als junger römischer Soldat vor den Toren der Stadt Amiens auf einen frierenden Bettler, mit dem er seinen Mantel teilt. In der darauffolgenden Nacht erscheint ihm Christus im Traum und er trägt dasselbe Mantelstück, das Martin dem Bettler schenkte. Die Erkenntnis, dass Güte, Barmherzigkeit und Nächstenliebe als christliche Urtugenden gelten konnten, ließen die Mantelteilung zum Schlüsselerlebnis für Martin werden. Er ließ sich taufen und stieg bis zum Amt des Bischofs von Tours auf. 2 Die Mantelspende wurde zum Sinnbild der Caritas und Martins Amtsausübung zum Muster bischöflichen Verhaltens.
1
Zuerst verfasst von Sulpicius Severus im 4. Jahrhundert, dann im 6. Jahrhundert durch Gregor von Tours aufgegriffen, weiterverbreitet im 13. Jahrhundert mit der äußerst populären Legenda aurea des Jakobus von Voragine.
2
Geboren wurde er um 316/17, die Bischofsweihe erhielt er 372 und starb 397.
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Diese ursprünglich nur als schriftliche Erzählung verbreitete Geschichte findet seit dem Hochmittelalter Eingang in die bildende Kunst, wobei das Motiv vor allem nördlich der Alpen und vorzugsweise in Deutschland immer populärer wurde. Während sich soziale und religiöse Vorstellungen änderten und sich auf die künstlerische Gestaltung auswirkten, blieben die vier Grundelemente der bildlichen Darstellung Martin, Pferd, Schwert, Mantel und Bettler gleich. Die älteste bekannte Darstellung der Mantelspende stammt vom Ende des 10. Jahrhunderts aus dem so genannten Fuldaer Sakramentar, also aus einer für Benediktinermönche angefertigten Handschrift. 3 Hier und allgemein in der älteren ikonografischen Tradition ist der Bettler, der neben dem Heiligen dargestellt wird, körperlich unversehrt, manchmal sogar robust und stark. Häufig werden die Figuren des Heiligen und des Bettlers sogar gleich groß gezeichnet, wobei die Größenverhältnisse eine signifikante Konvention im hierarchischen mittelalterlichen Kunstverständnis proklamieren. In einigen Abbildungen wird die Symbolik der Mantelspende als Tat direkt von Gott bzw. Christus anerkannte Tat hervorgehoben, indem in dieser älteren Ikonografie zusätzlich Martins Traum dargestellt wird. Chronologisch aufgeführt hier einige exemplarische Beispiele für diese ältere Tradition: • Aus dem 11/12. Jahrhundert stammt eine englische Spielfigur aus Walrosszahn (in Oxford, Ashmolean Museum, Acc. No. 588-589), auf der der Bettler nackt am Rande steht. • Um 1100 illustriert eine französische Buchmalerei die Geschichte in zwei Registern, im unteren Teil hilft Martin dem Bettler, woraufhin er oben Christus im Himmel sieht (Tours, Bibliothèque municipale, MS 1018 fol. 9v). • Aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammt eine englische Buchmalerei, im sogenannten Albani Psalter (jetzt in St. Godehard, Hildesheim), in der die Mantelspende und der darauffolgende Traum des Mantels in den Händen Christi ebenfalls in zwei Registern abgebildet werden (vgl. Abb. 1). • Um 1235 entstand eine Skulptur über dem Eingang zum Portikus der Kirche San Martino, Lucca, also einem monumentalen Kunstwerk, das einer breiten Öffentlichkeit zugänglich war. • Um 1260-70 eine Abbildung wiederum in einer englischen Buchmalerei (London, British Library, MS Royal 1 D.i fol. 4v).
3
Sacramentario Fuldense, Ende 10. Jhd., Udine, Archivio Capitolare, cod. 1, fol. 70r.
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• Etwa um 1290 ist eine ähnliche Szene in einer französischen Buchmalerei (Paris, Bibliothèque nationale, MS Nouv. Acq. fr. 16521) erhalten hier und in der englischen Version ist der Bettler mit zerlumpten Hosen bekleidet, aber wie in allen übrigen Darstellungen körperlich unversehrt.
Abb. 1: Mantelspende Martins Quelle: Albani Psalter (jetzt in St. Godehard, Hildesheim), Mitte des 12. Jhd..
• Um 1315 malt Simone Martini ein Fresko in der Cappella di San Martino in der Oberkirche San Francesco zu Assisi, worin Bettler und Martin gleich groß dargestellt sind und der Bettler mit einem zwar zerschlissenen, aber sittsam körperbedeckenden Gewand bekleidet ist. Ähnliche Abbildungen finden sich auch in der Anjou-Bibel, fol. 123r, die in Neapel um 1340 hergestellt wurde, sowie in einem Freskenzyklus des aus Siena stammenden Künstlers Gino da Siena, 1334, für eine kleine Kapelle in den Gärten des Castel Nuovo, Neapel. Beide Werke wurden von Robert von Anjou in Auftrag gegeben. • Im 14. Jahrhundert erscheint die Szene in der Kleinkunst auf einem niederländischen Siegel des Kapitels zu St Martin, Utrecht (jetzt New York, Metropolitan Museum of Art). • Und um 1340-50 in ähnlicher Form wie in den oben schon erwähnten Miniaturen in einer französischen Handschrift der Vita S Martini des Sulpicius Severus, (Tours, Bibliothèque municipale, MS 1023, fol. 1r).
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Im 12. und 13. Jahrhundert beginnt der Topos der Mantelspende sich zu wandeln. Man kann hier von transitionellen Bettlerdarstellungen sprechen. Der Bettler ist zwar noch nicht als körperlich Behinderter dargestellt, aber er wird mit karikierten, verzerrten oder hässlichen Gesichtszügen geschildert. Als Beispiele kann man folgende Abbildungen zitieren: Aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts stammt eine Handschrift der Vita S Martini, hergestellt in Echternach oder Trier (jetzt Stadtbibliothek Trier, Cod. 1378/103, fol. 132v), wo der körperliche Kontrast zwischen dem adligen jungen Ritter Martin und dem hässlichen Bettler hervorgehoben wird. Noch ist auch dieser Bettler körperlich unversehrt, nicht-behindert, aber physisch schon gekennzeichnet vom Hunger (man beachte seinen ausgemergelten Leib, den die Armut mit sich bringt). Darüber hinaus ist er eher karikatural überzeichnet. Im oberen Register ist der Traum des Heiligen dargestellt, Christus persönlich hält den Mantel demonstrativ hervorgestreckt. In einer englischen Miniatur des 13. Jahrhundert (Cambridge, Fitzwilliam Museum) ist ein ähnlicher Kontrast zwischen adlig-schönem Martin und grobschlächtig-hässlichem Bettler dargestellt (vgl. Abb. 2). In der Monumentalkunst stellt das Relief des sogenannten »Bassenheimer Reiters«, um 1240 möglicherweise ursprünglich für den Mainzer Dom geschaffen (jetzt in St Martin, Bassenheim bei Koblenz), exemplarisch die transitionelle Phase dar. Der Bettler ist zwar ausgemergelt, in zerlumpter Kleidung und mit ›gierigen‹ Gesichtszügen dargestellt, aber kein Krüppel. Den verkrüppelten Bettler finden wir schließlich hauptsächlich in der spätmittelalterlichen Ikonografie des Heiligen und seiner Mantelspende, mit einer gewissen Übergangsperiode im 14. Jahrhundert, in der sowohl nicht-behinderte wie behinderte Bettler dargestellt wurden. Exemplarisch stelle ich nun folgende Beispiele vor, ausgewählt vor allem, um die vielfältigen Medien und Materialien der künstlerischen Darstellungsweise hervorzuheben:
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Abb. 2: Mantelspende Martins, Cambridge Quelle: Fitzwilliam Museum, 13. Jhd..
• Ein Wandteppich um 1300 (Brüssel, Musée cinquantenaire) zeigt den frühesten mir bekannten behinderten Bettler, der einbeinig und mit Krücke ausgestattet die Mantelspende entgegennimmt. • Um 1380-90 entstand eine Statue für den Bamberger Dom (jetzt Diözesanmuseum). Sie stellt den Bettler mit verkrüppelten Beinen, verkleinert auf Kindergröße und unter dem Bauch des Pferdes kauernd, dar. • Auf einem Relief von 1441 am Rathaus Fritzlar wird zentral der Heilige dargestellt, links kniend der Stifter Johannes Katzmann und rechts, sich auf Handschemeln heranziehend, der behinderte Bettler. • Mit einer Bronzestatuette (dinanderie) aus dem 15. Jahrhundert (Brüssel, Musée cinquantenaire) wird erneut der Kontrast zwischen adligem Martin in hochmodischem, vornehmen Gewand und dem armen, verkrüppelten Bettler, klein und am Boden kauernd, hervorgehoben. • Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt ein französisches Manuskript (Psalter und Breviar, Universität Leeds, Brotherton Collection, MS 2 fol. 245v), das den Bettler gehbehindert und mit Krücke darstellt, in Bezug auf Größe und Kleidung jedoch kaum Unterschiede zu Martin aufweist. • Auf einem Tafelbild, das 1462 für die Kirche St Martin angefertigt (jetzt Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum) wurde, ist ein extrem kleiner fußamputierter Bettler mit Beinstütze und Krücke zu sehen, der dem Heiligen gerade eben über das Knie reicht.
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• Eine polychrome Statue aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Hochalter der Kirche St. Nikolaus, Rostock, jetzt Marienkirche) stellt den bisher am stärksten beeinträchtigten Behinderten dar, nämlich einen Mann, dem beide Beine fehlen und der sich als Fortbewegungsmittel eine hölzerne Schüssel um den Unterleib geschnallt hat, die mit kreuzweise über seinen Oberkörper verlaufenden Lederriemen befestigt ist. Im Vergleich zum Heiligen, der ein Bischofsgewand trägt, ist er deutlich kleiner. • Schließlich das um 1500 entstandene Chorgestühl der Pfarrkirche St Martin, Landshut, das den Heiligen konventionell zu Pferde und den fußamputierten Bettler mit Handschemeln darstellt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Bettler im Laufe der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zunehmend als Körperbehinderter dargestellt wird, was sich als ikonografische Routine so verwurzelt, dass er mit dem 15. Jahrhundert in der nordeuropäischen Kunst ausschließlich so abgebildet wird und somit der Bettler sowohl zum ›Krüppel‹ als auch zum Symbol geworden ist. Der absolute Höhepunkt der Symbolik des Krüppels im Zusammenhang mit dem heiligen Martin ist in einem Gemälde ganz am Ende des Mittelalters zu finden: Gerard Davids »Kanonikus Bernardijn Salviati umgeben von den Hll. Martin, Bernardino und Donatian« (London, National Gallery, NG 1045). In diesem 1501 entstandenen Bild ist im Hintergrund ein echter und perspektivisch verkleinerter, jedoch nur symbolisch als lebendes Attribut des Heiligen zu verstehender Krüppel dargestellt, so wie die anderen zwei Heiligen ein Buch (für Bernardino) bzw. ein Rad mit fünf Kerzen (für Donatian) halten. In Erweiterung dieser Symbolik wird der Bettler noch einmal auf der goldbestickten Borte des Mantels den Martin trägt, dargestellt, wo er klein, gedrungen neben dem Heiligen, quasi von dessen Mantel geschützt, zu sehen ist. Und nur mit der Lupe zu erkennen ist die dritte Darstellung des Bettlers auf der reichlich verzierten Schnalle, der so genannten Morse, die den Umhang des Heiligen zusammenhält, diesmal ergänzt durch den Akt der Mantelspende. St. Martins behinderter Bettler ist zwar dreifach abgebildet, gleichzeitig jedoch zum bloßen Emblem reduziert. Nach dieser kurzen Übersicht zur kunsthistorischen Entwicklung der Bettlerdarstellung wird sich mein Beitrag nun darauf konzentrieren, folgende Fragen zu beantworten: Warum fand dieser Wandel in der Ikonografie statt? Beeinflussen oder reflektieren Veränderungen und Entwicklungen in der allgemeinen mittelalterlichen Gesellschaft die Ikonografie, oder anders ausgedrückt: Welcher Wechselwirkung unterliegen Bild und Gesellschaft? Die Darstellungsweise des Hl. Martin ist nicht nur zeitspezifisch, sondern auch geografisch gebunden. Während im 15. Jahrhundert im Nordwesten Euro-
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pas, also im heutigen Deutschland, England und Frankreich, der Bettler beim Empfang des Mantels durchweg als Krüppel dargestellt wird, zeichnet sich italienische Kunst derselben Epoche durch andere Darstellungsform aus. Dort werden der Bettler des Martinswunders und Bettler im Allgemeinen körperlich unversehrt abgebildet. So steht zum Beispiel auf der Predella eines Altarbildes von Lorenzo di Bicci um 1380-85 für Orsanmichele, Florenz (jetzt Galleria dell’Academia) geschaffen, ein athletischer Bettler, dessen Gestalt kunsthistorisch mit dem antiken »Speerträger« des Polyklet verwandt sein mag, der aber, verglichen mit seinen transalpinen Pendants, außer an seiner nur aus einem Lendenschurz bestehenden Bekleidung (welche aber in ihrer muskelbetonenden Spärlichkeit auch eher antikisierend wirkt), kaum als bedürftiger Bettler zu erkennen ist. Die Kunsthistorikerin Philine Helas hat jüngst zwei spezifische Gründe für diesen spatial-temporalen Unterschied genannt: Erstens ist es »die Problematik des ›Decorum‹, die eine dem Ort angemessene Darstellungsweise verlangte, sodass ein hässlicher Körper an einem wertvollen Reliquienaltar also nicht zulässig war«. 4 Zweitens »wirkt die Vorstellung, dass sich in dem Bettler Christus selbst verberge, dessen Schönheit der Betrachter durch seine ›Verkleidung‹ hindurch erkennen sollte.« (Ebd.) Mir erscheinen diese Erklärungsansätze zwar plausibel, aber unzureichend. Philine Helas erwähnt zwar, dass »möglicherweise die humanistische Idee von der Würde des Menschen und ein kunstimmanenter Diskurs« (ebd.) ineinander greifen, aber mir geht es vielmehr darum, die Zusammenhänge zwischen sozial-religiöser Einstellung und Kunst stärker hervorzuheben. Unterschiedliche Ideen von Kunst und Sujet sind hier ausschlaggebend. Im Italien der Frührenaissance und des Humanismus rücken wieder ein Bild und eine Vorstellung des Menschen bzw. dessen Körpers in den Vordergrund, die so zuletzt in der Antike existierte: Der klassische Körper wird wiederentdeckt. Der vielgepriesene Humanismus ist eigentlich alles andere als ›human‹, wenn es um behinderte Menschen geht: Der behinderte Körper wird ausgeschlossen, darf nicht dargestellt werden, ist als unästhetisch aufs künstlerische Abstellgleis geraten. Wo ›der‹ Mensch das angebliche Maß aller Dinge ist, ist nur Platz für ›einen‹ Körper, den normalisierten, perfektionierten, nicht-behinderten Körper. Dass der behinderte, verkrüppelte und allgemein deformierte Körper unästhetisch ist, hatte in der Mitte des 15. Jahrhunderts schon der humanistische
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Helas, Philine: »Martins Mantel und der Bettler. Ein Heiligenbild im Horizont sozialer Praktiken«, in: Uerlings, Herbert; Trauth, Nina; Clemens, Lukas (Hg.): Armut Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011, S. 164.
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Kunstliebhaber und -kritiker Leon Battista Alberti bemerkt. Er dachte wahrscheinlich an die abstoßende Erscheinung Behinderter, wenn er behauptete, eine wichtige Rolle der Spitäler sei es, die öffentliche Sichtbarkeit solcher Menschen zu verhindern: »Die Armen und Kranken sollen weder die ehrbaren Bürger durch ihr Betteln unnütz stören, noch die Anspruchsvollen durch ihren widerlichen Anblick.« 5 Zudem befürwortete Alberti die Politik gewisser »italienischer Fürsten, die in ihren Städten die Anwesenheit von Krüppeln nicht tolerieren, da solche mit zerlumpter Kleidung von Tür zu Tür wandernd Almosen erheischen gehen«. (Ebd., S. 405) In Vorwegnahme von Foucaults grande incarceration 6 sollten Bettler aus den Städten vertrieben werden, damit ihre entstellten und unästhethischen Körper nicht die Empfindsamkeit der guten Bürger stören konnten. Solche Aussagen tragen vielleicht zur Klärung bei, warum genau zu der Zeit, zu der die nordeuropäische Kunst den Bettler ›nur noch‹ als Krüppel darstellt, die südeuropäische (also italienische Kunst) das genaue Gegenteil tut, und ›gar keine‹ Krüppel mehr abbildet. Klassische Körper können nicht behindert sein. 7 Die italienische Kunst bildet im 15. Jahrhundert kaum noch Krüppel ab, selten trifft man auf den einen oder anderen beinahe schamhaft an den Rand gerückten Behinderten, wie z. B. in Masaccios »Heilung durch den Schatten des Petrus« in der Brancacci-Kapelle in Florenz. Ausnahmen wie das Bild des Hl. Lorenz 8 auf einem Fresko von Fra Angelico in der Capella Niccolina im Vatikan (1447-1449), auf welchem Arme und Behinderte nahezu human und würdevoll,
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Alberti, Leon Battista: L’Architettura (De Re Aedificatoria). Herausgegeben von Giovanni Orlandi und Paolo Portoghesi. Milan 1966, i. 367, zitiert nach John Henderson: Piety and Charity in Late Medieval Florence. Chicago/London: University of Chicago Press 1994, S. 400.
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Dieser Ausdruck stammt von Michel Foucault, insbesondere in Anspielung auf sein berühmtes Werk über die Disziplinierung, Surveiller et punir. Naissance de la prison, zuerst 1975 bei Gallimard in Paris erschienen.
7 Das Ideal des klassischen Körpers beeinflusste auch die Rhetorik, die die Wiederherstellung der versehrten und verstümmelten Körper des Ersten Weltkriegs umgab, siehe hierzu Carden-Coyne, Ana: Reconstructing the Body. Classicism, Modernism, and the First World War. Oxford: Oxford University Press 2009. 8
Lorenz verdankt seinen Status als Heiliger hauptsächlich der Tatsache, dass er korrekterweise diskriminierende Caritas ausübte, indem er dem römischen Kaiser den Kirchenschatz verweigerte und stattdessen das Geld an die wahrhaft bedürftigen Armen verteilte das Motiv des Freskos hier. In der mittelenglischen Literatur charakterisiert Lorenz/St. Lawrence die Caritas, und damit die Kirche an sich, z. B. in William Langlands um 1370 entstandenen, moralischen Gedicht Piers Plowman (Passus XVII.65).
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aber ebenso realistisch dargestellt wurden, bestätigen die Regel, dass in der Ästhetik des Humanismus kein Platz mehr ist für behinderte, verstümmelte und entstellte Menschen. Wenngleich sie in der Kunst keinen Platz mehr fanden, so waren Behinderte und Bedürftige in der Gesellschaft des Mittelalters nahezu omnipräsent. Das Geben von Almosen wurde von der Kirche quasi institutionalisiert, wie eine unter einen Text eingefügte Illustration einer Almosenspende zeigt, in der zwei Körperbehinderte (erkennbar als ein Fußamputierter mit Handschemel sowie ein Mann mit zwei Krücken) sich auf einen mit einem Tuch behängten altarähnlichen Tisch zubewegen, um von dem dahinter stehenden Kleriker vor einem Kirchengebäude Spenden zu empfangen. 9 Die dazugehörige Textstelle beschreibt, dass behinderte, hörige oder leibeigene Bauern die Unterstützung der Kirche ersuchen. Das ganze Mittelalter hindurch wurde diese karitative christliche Pflicht befolgt, sowohl privat als auch institutionell. Viele Mönchsorden, angefangen mit den Benediktinern im 6. Jahrhundert, schrieben die Pflege und Unterstützung Armer und Reisender (pauperes et peregrini) vor. 10 »Der Arme, der auf die Unterstützung seiner Mitmenschen angewiesen war, stand im frühen und hohen Mittelalter durchaus nicht außerhalb oder auch nur am Rande der Gesellschaft, sondern war vielmehr integratives Glied derselben.« 11
Diese Situation dauerte bis ins 12. Jahrhundert an, wobei das Überleben der körperlich Behinderten, der Alten, Kranken und anderweitig Bedürftigen durch die Wohltätigkeit des Pfarrbezirks und der Klöster gewährleistet wurde. 12 Als arm bzw. als bedürftig klassifiziert zu sein, gab einem in der Tat das Recht Almosen zu erhalten. Dabei hatten die Reichen Almosen zu geben, während dagegen die Armen für die Seelen der Spender beten sollten. Bereits im frühen 6. Jahrhundert bemerkte Caesarius, Bischof von Arles (502-542): »Wenn niemand arm wäre, könnte niemand Almosen geben und niemand könne Erlass seiner Sünden erhal-
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In England um 1330-1340 hergestelltes Manuskript der Dekretalen Papst Gregor IX, London: British Library, MS Royal 10.E.iv fol. 197.
10 Meier, Frank: Gaukler, Dirnen, Rattenfänger. Außenseiter im Mittelalter. Ostfildern: Thorbecke 2005, S. 32. 11 Irsigler, Franz; Lassotta, Arnold: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt. Köln 1300-1600. München: dtv 1989, S. 18-20. 12 Coleman, Janet: »Property and Poverty«, in: Burns, James Henderson (Hg.): The Cambridge History of Medieval Political Thought, c.350- c.1450. Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 629.
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ten.« 13 Die vertragliche Natur dieses gegenseitigen Arrangements war eines der Fundamente, auf dem das Almosengeben aufbaute. Die Darstellung kranker, armer und verkrüppelter Menschen, die zum Festmahl des wohlhabenden Mannes geladen werden, 14 in reichhaltig illuminierten und kostbaren Büchern wie dem Codex Epternacensis des 11. Jahrhunderts, 15 bezeugt die selbst auferlegte Erfüllung dieser Pflicht durch die Klostergemeinschaft, die dieses Werk in Auftrag gegeben hatte. Die gleiche Szene wird 300 Jahre später im Holkham Bible Picture Book dargestellt, in der biblischen Parabel des Königs, der die Armen, Kranken und Behinderten zum Festessen einlädt, nur nicht den Narr, der stattdessen unanständig bekleidet in den Kerker abgeführt wird. 16 In den so genannten »Werken der Barmherzigkeit« tauchen immer wieder Menschen mit Behinderung sowohl in Texten als auch auf Bildern auf. Drei der theologisch geforderten sieben Werke sind in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts dargestellt 17: Den Hungrigen wird zu Essen gegeben, den Durstigen zu Trinken und den Obdachlosen wird Unterkunft gewährt. Bemerkenswert ist dabei, dass innerhalb dieser Gruppen immer ein körperbehinderter Mensch abgebildet ist. Diese Handschrift stellt symbolische Formen der Mildtätigkeit und Nächstenliebe dar und gibt als solches ein gutes Beispiel des bildlichen Ausdrucks mittelalterlicher Normen. Es ist nicht unbedingt eine direkte Abbildung der gesellschaftlichen Praktiken im Umgang mit Behinderung, Armut und Almosen, sondern mehr eine theoretische Wiedergabe religiöser Argumente, Anleitungen und Aufforderungen, die aber dennoch in die Mentalität des Mittelalters hineinsickerten. So müsste man auch eine Miniatur aus der berühmten ManesseHandschrift 18 interpretieren: Hier wird eine Gruppe von pauperes am Wohnsitz
13 »Sancti Caesarii Arelatensis sermones«. Herausgegeben von Germain Morin. Turnhout: Brepols 1953, Band I, S. 112 (ep. 25), zitiert nach Anne Scott: Piers Plowman and the Poor. Dublin: Four Courts Press 2004, S. 39. 14 Lukasevangelium 14:16-24. 15 Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, Codex aureus epternacensis, fol. 77v, entstanden in Echternach um 1030. 16 London: British Library, MS Add. 47682 fol. 27r, (um 1330-1340). 17 London, British Library, MS Breviari d’Amor, in der katalanischen Version des 14. Jhd. eines ursprünglich provençalischen Gedichtes von 1280. 18 Heidelberg: Universitätsbibliothek, Codex Manesse, fol. 113v, erstes Viertel des 14. Jhd.; Hesse von Reinach befand sich zwar in niederen geistlichen Würden, die Bedeutung für mein Argument liegt darin, dass das Manuskript als Ganzes, die berühmtesten Minnesänger abbildend, für einen weltlichen Patron (Rüdiger II Manesse, um 12521304) gedacht war.
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des Herrn Hesse von Reinach empfangen. Zu dieser gehören ein kahlgeschorener Mann mit einer Krücke, der vom Hausherrn selbst geführt wird, gefolgt von einer blinden jungen Frau mit einem Stock, einem Mann auf Handschemeln, einem halbnackten Mann mit einem Paar Krücken und vier weiteren Leuten im Hintergrund, deren Behinderung nicht derart offensichtlich ist. Die Welt der Bilder stellt also immer wieder den Bettler dar, oftmals in die sakrale Handlung integriert, bei der einer Person Wohltätigkeit Caritas erwiesen wird. Diese ikonografische Tradition wurde noch weiter ausgebaut, so dass im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert insbesondere der körperbehinderte Mensch den bedürftigen Menschen an sich symbolisierte. »Es war zu dieser Zeit, daß die am meisten verbreitete Darstellung eines Bettlers jene eines Krüppels wurde, der seinen Körper auf kleinen hölzernen Krücken durch die Straßen schleppte, um Caritas von seinen Wohltätern zu erfragen.« 19 Ich möchte an dieser Stelle zu einem kleinen linguistischen Exkurs einladen, um den Zusammenhang der Begriffe krank, krumm und Krüppel deutlich zu machen: Etymologisch sind alle drei Worte verwandt und gehen auf die gemeinsame linguistische Wurzel krumm oder kringel zurück. Daher bezieht sich die ursprüngliche Bedeutung von krank auf etwas Krummes oder Gebogenes, während die ältere Bezeichnung für jemanden, den wir heute ›krank‹ nennen würden, siech war. Im Englischen ist noch heute diese ältere Bedeutung von krank erhalten, z. B. im Wort crank shaft, was ein Gewinde, eine Kurbel, meint, aber das Englische sick, Pendant zu siech, meint unser modernes ›krank‹. Im Laufe des Mittelalters bildet sich nun aber heraus, dass der Begriff krank im modernen Sinn für einen anormalen, pathologischen Zustand benutzt wird. Daraus mag man dieses Fazit ziehen: Die spezifische Bezeichnung für eine einzige, spezifische Pathologie, nämlich für jemanden, der krumm ist (also ein Krüppel), wird im Laufe der Zeit verallgemeinert übertragen auf ›alle‹ Pathologien, sprich: Krankheiten. Man könnte also sagen, der Krüppel ist der Kranke an sich. 20
19 Pestilli, Livio: »Disabled Bodies: The (Mis)Representation of the Lame in Antiquity and their Reappearance in Early Christian and Medieval Art«, in: Hopkins, Andrew; Wyke, Maria (Hg.): Roman Bodies: Antiquity to the Eighteenth Century. London: The British School at Rome 2005, S. 85-97, hier S. 90-91. Zwei Zeichnungen, Hieronymus Bosch wie auch Pieter Breughel d. Ä. zugeschrieben, eine in der Albertina in Wien, die andere in Brüssel, Bibliothèque Royale Albert I, Cabinet des Estampes, skizzieren die verschiedensten Körperbehinderten mit allen damals üblichen Fortbewegungsmitteln. 20 Zu diesen linguistischen Überlegungen vgl. das Stichwort kranc im mittelhochdeutschen Handwörterbuch bei http://www.mhdwb-online.de/; ebenso Stichwort KRANK
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Im späten Mittelalter waren Bettler im Alltag präsent: Man konnte sie überall finden, auf Landstraßen, in den Städten, vor Kirchen, auf dem Markt. Die traditionellen Pauperes, nämlich Witwen, Waisen und Behinderte, 21 waren in eine Vielfalt von neuen Armen sublimiert worden. 22 So waren nun viele Leute vom Abstieg in die Armut bedroht also jene Menschen, die entweder zuunterst in der sozialen Hierarchie standen, die wirtschaftlich benachteiligt waren oder die keine Verwandte oder Freunde hatten, die sie unterstützen konnten. 23 Aber die Bereitschaft ihrer Zeitgenossen, karitative Taten auszuüben, war verglichen mit der vorangegangenen Epoche stark gemindert. Steigende Armut und größere Mengen an Bettlern veränderten die Einstellung der spätmittelalterlichen Gesellschaft drastisch. Während im Früh- und Hochmittelalter die Vorstellungen von Armut diese als Zwang zur Arbeit kennzeichneten, als die unvermeidbare Notwendigkeit, arbeiten zu müssen, definierten spätmittelalterliche und frühmoderne Vorstellungen Armut als das Übel, im Zustand des Nicht-Arbeitens zu sein und erklärten Arbeit als das Mittel, Armut zu bekämpfen. Ironischerweise verdrängten die ersten Ansätze, eine Art von institutioneller Sozialversicherung zu entwickeln, zunehmend individuelles Mitleid und persönliches Mitgefühl. Das späte Mittelalter war deshalb eine Periode des Übergangs. Was Menschen dieser spätmittelalterlichen Epoche am meisten beunruhigte, war der ›falsche‹ Körper, der Körper der so tut, ein Ding zu sein aber in der Tat etwas ganz anderes ist: 24 In diesem Fall die theatralischen Inszenierungen des
im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (http://woerterbuchnetz. de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mainmode=): »mhd. kranc, doch noch nicht in der heutigen bed., diese war vertreten durch siech, ahd. siuh, goth. siuks, ags. seóc, altn. sjûkr, dän. syg. mnl. mnd. cranc wie mhd., nnl. nnd. krank wie nhd.; ebenso schwed. norw. (nicht dän.) krank, isl. kránkur, auch franz. normann. cranche. endlich engl. crank, aber in der bed. frisch, munter, keck, ebenso cranky, aber diesz auch krank, wie schott. crank.« (letzter Zugriff am 20.02.2012). 21 Noch so spät wie im Jahr 1510 wird im letzten Testament des Hermann Wyndegge und seiner Ehefrau Peterse aus Köln spezifisch erwähnt, dass die »armen mynschen up der straissen ligen, as mit den pocken, kropelen, lammen ind blynden«, zitiert nach Irsigler; Lassotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, S. 45. 22 Robert Jütte: Poverty and Deviance in Early Modern Europe. Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 2. 23 Meier: Gaukler, Dirnen, Rattenfänger, S. 18. 24 Hermaphroditen werden deswegen als Eigentümer besorgniserweckender Körper betrachtet, da sie eine Position außerhalb des etablierten Konzepts Mann/Frau einnehmen und sich herausstellen kann, dass ein männlicher Körper weibliche Charakteristi-
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vom betrügerischen Bettler künstlich behinderten Körpers. Von der modernen Forschung hauptsächlich als ein Phänomen des Spätmittelalters betrachtet, hat die Befürchtung, es mit betrügerischen Bettlern zu tun zu haben, in der Tat Vorläufer. Schon um das Jahr 820 befahl Ludwig der Fromme, »daß über Bettler und Arme Aufseher eingesetzt werden [...], damit sich keine Simulanten zwischen ihnen verstecken können.« 25 Im 13. Jahrhundert hatte Peter Cantor jene Bettler verurteilt, »die sich zitternd machen, und, die verschiedenen Formen der Krankheit annehmend, ihre Gesichter wie Proteus wandeln.« 26 Eine Generation später erwähnte Thomas von Chobham solche Bettler, die hauptsächlich in die Kirche gingen, »um Geld durch falsche Tränen und Täuschungen und viele Simulationen zu erpressen«, 27 und andere, »die oftmals die Erscheinung der Armseligen annehmen, so daß sie bedürftiger erscheinen, als sie sind, und so andere täuschen, um mehr zu erhalten.«28 Die spätmittelalterliche Gesellschaft unterstellte
ka besitzt, wie es auch den umgekehrten Fall geben mag; vgl. Metzler, Irina: »Hermaphroditism in the western Middle Ages: Physicians, Lawyers and the Intersexed Person«, in: Crawford, Sally; Lee, Christina (Hg.): Bodies of Knowledge: Cultural Interpretations of Illness and Medicine in Medieval Europe (= Studies in Early Medicine, Band 1), Oxford: Archaeopress 2010, S. 27-39. 25 Zitiert nach der Forschungsprojektbeschreibung des SFB 600 (Universität Trier) zur Geschichte der Armut: http://www.sfb600.uni-trier.de/filebase/Z/sfb_brosch_2009_ web, hier S. 22 (letzter Zugriff am 18.2.2012). 26 »Sunt alii omni tempore calamitosi et inimici trivialiter se inflantes, tremulosi, et varias figuras aegrotantium induentes, vultum sicut protea mutantes.« Petrus Cantor: Verbum abbreviatum, cap. 48, Patrologia Latina, Hg. Migne, Band 205, Spalte 152, zitiert nach Sharon Farmer: »The Beggar’s Body. Intersections of Gender and Social Status in High Medieval Paris«, in: Farmer, Sharon; Rosenwein, Barbara H. (Hg.): Monks and Nuns, Saints and Outcasts. Religion in Medieval Society. Essays in Honor of Lester K. Little. Ithaca/London: Cornell University Press 2000, S. 160. 27 »[Mendici] numquam enim veniunt ad ecclesia causa orandi uel causa missis audiendi, sed causa extorquendi argentum per falsas lacrimas et per dolos et simulationes multas,« Thomas de Chobham: Summa de arte praedicandi, c. 3. Herausgegeben von Franco Morenzoni. Turnhout: Brepols 1988, S. 88, zitiert nach Farmer: »The Beggar’s Body«, S. 160. 28 »Sepe transfigurant se in habitu miserabili, ut videantur magis egeni quam sunt, et ita decipiunt alios ut plus accipiant,« Thomas de Chobham: Summa confessorum, Art. 5, dist. 4, quaest. 6. Herausgegeben von Francis Broomfield. Louvain: Nauwelaerts 1968, S. 297, zitiert nach Sharon Farmer: »The Beggar’s Body«, S. 160f. Anderswo
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den Armen Betrug, Duplizität und Fälschung, indem sie annahm, dass sie bettelten, obwohl sie eigentlich nicht bedürftig waren. Betteln musste durch Bedürftigkeit legitimiert werden und Körperbehinderung konnte als eine solche Legitimation betrachtet werden. Auch wenn die Bettelliteratur, wie hier z. B. das Augsburger Achtbuch von 1343, 29 Menschen des Fälschens von Behinderungen und Krankheiten beschuldigt, demonstrieren diese Texte gerade, dass solche Zustände als rechtmäßiges Bedürfnis empfunden wurden und gerade deshalb möglicherweise simuliert wurden. »Die Notwendigkeit, unter den Armen zu unterscheiden und die Arbeitsfähigen vom Anspruch auf Almosen auszuschließen, wurde sowohl von den Kirchenvätern als auch von vielen mittelalterlichen Theologen und Kanonisten betont.« 30 Im 4. Jahrhundert war Johannes Chrysostomos noch der Ansicht, »daß es des Christen Pflicht war, unterschiedslos karitative Dienste zu leisten« 31, aber schon der Kirchenvater Ambrosius von Mailand hatte Abstufungen der Bedürftigkeit unterschieden, nämlich nach Alter, sozialem Stand und körperlicher Gebrechlichkeit: »Selbst in der Verteilung von Freigebigkeit sind Alter und Gebrechen zu berücksichtigen, manchmal auch die Sittsamkeit, welche von freier Geburt stammt, so dass man großzügiger den Alten stiftet, die nicht mehr durch ihre eigene Arbeit ihre Nahrung erwerben kön-
erwähnt Farmer auch Azo, einen Juristen aus Bologna, der zwischen 1208 und 1210 eine Summa zum Corpus juris civilis verfasste, in der er die körperlich fähigen Bettler kritisierte, »die körperliche Infirmität simulieren, in dem sie Kräuter oder Salben auf ihre Körper schmieren, um geschwollen Wunden zu erzeugen«; sie konnten auch ihre Leiber, Arme und Beine krumm und verschrumpft erscheinen lassen; vgl. Farmer, Sharon: Surviving Poverty in Medieval Paris. Gender, Ideology, and the Daily Lives of the Poor. Ithaca/London: Cornell University Press 2002, S. 66. 29 In diesem Text werden neun Klassen von ›falschen‹ Bettlern aufgeführt: Grantner simulieren Epilepsie, sinweger tun angeblich Buße für den Mord an einem Blutsverwandten, spanvelder simulieren eine Krankheit, kappsierer verkleiden sich in geistlichen Roben, clamyerer verkleiden sich als Rompilger, mümser geben vor, kranke Mönche zu sein, scherpierer kleiden sich als Pilger, fopperinnen sind Bettlerinnen, die eine Geisteskrankheit simulieren, und hurlentzer sagen, sie seien getaufte Juden. 30 Geremek, Bronislaw: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. Übersetzt von Friedrich Griese. München/Zürich: Artemis Verlag 1988, S. 27. 31 McCall, Andrew: The Medieval Underworld. New York: Dorset Press 1979, S. 146.
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nen. Der Fall ist ähnlich bei körperlicher Gebrechlichkeit, und für solche Dinge sollte Unterstützung äußerst prompt sein.« 32
Im Hochmittelalter begann man dann, die Auffassung unterschiedsloser Caritas weiter zu verfeinern. In der kanonischen Theorie wurde versucht, ethisch zu differenzieren: Nur die ›gerechten‹, die ›ehrlichen‹ und die ›schamhaften‹ Armen sollten unterstützt werden. Teutonicus, ein Beiträger zu den Glossa, den kanonischen Rechtstexten, behauptete, dass »die Kirche nicht sorgen muß für solche, die arbeiten können. Man muß körperliche Unversehrtheit (integritas membrorum) und Kraft des Körperbaus (robur membrorum) berücksichtigen, wenn Almosen verteilt werden.« 33 Das Kategorisieren von Personen nach ihrer Arbeitsfähigkeit (dann war das Betteln verboten) oder -unfähigkeit (dann war das Betteln erlaubt) bildete demnach einen paradigmatischen Diskursunterbau zu Auffassungen der würdigen und unwürdigen Armen. 34 »In dem Maße, wie der Wert der Arbeit stieg, sank das Ansehen der Bettler.« 35 Während in einigen Fällen die Wahrhaftigkeit bezüglich eines legitimen oder illegitimen Bettlerstatus durch die Suche nach ›sichtbaren‹ Anzeichen der Behinderung ergründet wurde, geschah im Deutschland des frühen 15. Jahrhunderts das genaue Gegenteil. Dort verboten einige Bettelordnungen allen körperlich fähigen und gesunden Leuten zu betteln, aber sie erforderten auch, dass die legitimen, also die kranken oder behinderten Bettler sich bedeckten 36 denn ähnlich
32 Ambrosius von Milan: De officiis, I. xxx. 158, in: Les Devoirs. Lateinische Edition und französische Übersetzung bei Maurice Testard, Collection des Universités de France, 2 Bände, Paris 1984, 1992, Band 1, S. 172, zitiert nach Abigail Firey: »For I was hungry and you fed me«: Social Justice and Economic Thought in the Latin Patristic and Medieval Christian Traditions«, in: Lowry, Stanley Todd; Gordon, Barry (Hg.): Ancient and Medieval Economic Ideas and Concepts of Social Justice. Leiden/New York/Köln 1998, S. 339. 33 Zitiert nach Miri Rubin: Charity and Community in Medieval Cambridge. Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 69. »Et qui potest laborare, non debet ecclesia providere. Integritas membrorum enim et robur membrorum in conferenda elemosyna est attenda«, Glossa ordinaria ad D.82 ante C.1. 34 Zu Armut und des höheren Wertes, mit dem Arbeit belegt wurde, vgl. Bosl, Karl: »Armut, Arbeit, Emanzipation«, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig. Köln/Wien 1976, S. 128ff. 35 Meier: Gaukler, Dirnen, Rattenfänger, S. 39. 36 Ebd., S. 37. Die Bettelordnungen Kölns um 1435 besagten: »alle, die mit Krankheiten behaftet vor den Kirchen sitzen oder auf der Straße ihre widerlichen Wunden und Ge-
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wie die humanistische Ästhetik eines Leon Battista Alberti schien auch das Empfinden mittelalterlicher deutscher Stadtbürger durch den Anblick behinderter Menschen gestört zu werden. 37 Also waren körperlicher Makel oder Behinderung einerseits die Berechtigung für legitimes Betteln, während sie andererseits etwas geworden war, das versteckt werden musste oder für das man sich schämte. In Bezug auf seine Erscheinung wurde der Bettler daher in den Quellen bisweilen als abiectus beschrieben. 38 Die Bedeutung der körperlichen Behinderung für erfolgreiches Betteln kann auch in literarischen Texten untersucht werden, in denen das Thema des Lahmen, der gegen seinen Willen wundersam geheilt wird, ein wiederkehrendes Motiv darstellt. Im Früh- und Hochmittelalter tauchen Behinderte dann am häufigsten in der Kunst auf, wenn sie das Objekt eines Wunders darstellen. Solche Wunderheilungen werden zuallererst von Christus selbst vollzogen und folglich stellen die frühen Abbildungen Behinderter hauptsächlich die Heilung des Lahmen oder des Blinden aus den Evangelien dar. So sind zum Beispiel in St. Georg in Oberzell auf der Insel Reichenau eine Serie Fresken aus ottonischer Zeit zu finden, die um das Jahr 1000 gemalt wurden. Dargestellt werden die Heilung des blindgeborenen Mannes und des Mannes mit Wassersucht, sowie die des Besessenen von Gerasa und die des Leprosen. 39
brechen zeigen, sollen diese verdecken, damit die wohlgesetzten Bürger (gude lude) durch den Geruch und Anblick nicht belästigt werden.« Zitiert nach Irsigler/Lassotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, S. 26. 37 Auch die Stadt Nürnberg konstatierte in einer Neufassung ihrer Bettelordnungen von 1478, dass Bettler ihre körperlichen Leiden verdeckt halten mussten, etwas, was auch in Regensburg verkündet wurde, wo Bettlern mit ansteckenden Krankheiten, schweren körperlichen Leiden oder Behinderungen befohlen wurde, sich von schwangeren Frauen fernzuhalten; vgl. Dirmeier, Artur: »Armenfürsorge, Totengedenken und Machtpolitik im mittelalterlichen Regensburg. Vom hospitale pauperum zum Almosenamt«, in: Angerer, Martin; Wanderwitz, Heinrich (Hg.): Regensburg im Mittelalter. Beiträge zur Stadtgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Regensburg: Universitätsverlag Regensburg 1995, S. 231. 38 Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. Übersetzt von Ursula Irsigler. München: Beck 1987, S. 11. 39 Im Laufe des Mittelalters kommen immer mehr Heilige als Wundertäter hinzu, die alle möglichen Krankheiten, Gebrechen und Behinderungen heilen; siehe Trüb, Paul: Heilige und Krankheit. Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien Band 19. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978.
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Behinderte Menschen findet man so im religiösen Kontext in der mittelalterlichen Kunst, wie beispielsweise in den Szenen aus dem Leben von San Lorenzo auf einem Tafelgemälde von Ambrogio di Baldese, um 1380 für den päpstlichen Palast in Avignon geschaffen (heute im Musée du Petit Palais). San Lorenzo, im Gefängnis eingesperrt, tauft seinen Wächter, während davor schon die Behinderten anstehen und zu ihrer Heilung drängen. Dieses Bild zeigt ein Beispiel mittelalterlicher Kunst, in der Behinderte im Mittelpunkt der bildlichen Handlung stehen können statt am Rande, im Hintergrund oder in die Ecke gedrängt wie im eher konventionellen Altarbild für St. Wolfgang am Abersee, Tirol, 1771-81 von Michael Pacher geschaffen, auf dem St. Wolfgang eine besessene Frau heilt, während zwei Krüppel ihre Wunderheilung erwarten. Und so kehren wir wieder zurück zu Martin von Tours: In den Viten des Heiligen findet man Erzählungen im Zusammenhang der Übertragung seiner Reliquien von Auxerre nach Tours. 40 Dabei werden zwei behinderte Männer von dem Gedanken an die ihnen bevorstehende Heilung durch das immanente Wunder verängstigt; einer sagt zu dem anderen: »Bisher lebten wir in ruhiger Muße. Niemand stört uns, alle haben Erbarmen mit uns. Wir brauchen nur das zu tun, was uns gefällt. Kurz, wir verbringen unsere Tage im Wohlstand. Würden wir durch ein Wunder wieder gesund, dann müssten wir uns mit körperlicher Arbeit befassen, an die wir nicht gewöhnt sind. Wir könnten nicht mehr von Almosen leben.« 41
40 Die früheste Version dieser Erzählungen, die des so genannten Pseudo-Odon, datiert zur Wende 11./12. Jahrhundert. Die lahmen Bettler werden unterschiedlich als paralitici im lateinischen Text, kontret in der Reim-vita des 12. Jahrhunderts und als contrefaictz in der Version des 15. Jahrhunderts bezeichnet. 41 Zitiert nach Geremek: Geschichte, S. 64. Zum literarischen Topos des Blinden und seines jungen Blindenführers, der ihn betrügt, bzw. dem verwandten Topos des Blinden und seines lahmen Kompagnons, siehe die Übersicht bei Wheatley, Edward: Stumbling Blocks Before the Blind. Medieval Constructions of a Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press 2010, Kapitel 4 und S. 171, der sich besonders auf die vorangegangene Arbeit von Dufournet, Jean: Le garçon et l’aveugle: Jeu du XIIIe siècle. Paris: Champion 1989, verlässt; einige Diskussion dieses Themas auch bei Geremek, Bronislaw: The Margins of Society in Late Medieval Paris. Übersetzt von Jean Birrell. Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 196; Farmer: »The Beggar’s Body«, S. 159 datiert den oben zitierten Text, De reversione beati Martini a burgundia tractatus, als zwischen 1137 und 1156 geschrieben. Der lateinische Text wird von Farmer nach André Salmon: Supplément aux chroniques de Touraine.
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Weil ein von Almosen unterhaltenes Leben so bequem ist, entschließen sich die beiden lahmen Männer zu fliehen, ehe das angedrohte Wunder geschehen kann. In ihrer Hast ergreifen sie ihre Krücken, mit deren Hilfe sie gebettelt hatten, werfen sie über ihre Schultern und laufen weg: Auf diese Art findet das Wunder trotzdem statt. In anderen Versionen findet man eine ähnliche Schilderung, außer dass es sich um einen Blinden und einen Lahmen handelt, die nicht geheilt werden wollen, aber alle übrigen Elemente dieses Topos kommen weiterhin vor. 42 In solchen Erzählungen werden Bettler besonders der Habgier beschuldigt. 43 In der Pèlerinage de la vie humaine, einem populären Text, ursprünglich vom Zisterzienser Guillaume de Deguileville 1330 auf Latein verfasst und bald ins Englische wie in andere Volksprachen übersetzt, wird die Sünde der Avaritia (Habgier) behandelt. Zu jener Zeit war es besonders gebräuchlich, vor allem diese Sünde zu kritisieren. Habgier wird hier als eine allegorische Figur beschrieben, umgeben von Bildern der Falschheit, z.B. Verrat und Täuschung, die von ihr geschaffen wurden. Nachdem die Habgier die echten, alten Bilder in den Kirchen fälschlich manipuliert hat, besucht sie alle betrügerischen Bettler im Land
Tours: Guilland-Verger 1856, S. 52, zitiert: »Ecce frater, sub molli otio vivimus […] hoc autem totum nobis vindicat infirmitas haec qua jacemus; quae si curata fuerit, quod absit, necessario nobis incumbet labor manuum insolitus«. 42 Jacobus de Voragine: The Golden Legend. Readings on the Saints, Band 2, Kapitel 166. Übersetzt von William. G. Ryan. Princeton: Princeton University Press 1993 S. 300. Siehe auch die Exemplarsammlung des Jakobus von Vitry. 43 Sharon Farmer hat dies das Thema des habgierigen (avaricious) Bettlers genannt, der öffentlich bettelt aber privat eine Masse an Reichtümern hortet; vgl. Farmer, Sharon: Surviving Poverty, S. 62f. Ein Beispiel bildet der blinde Mann im satirischen Stück Le garçon et l’aveugle, der dem Jungen, den er als Blindenführer anheuert, verspricht, dass er ihn durch seinen ›Beruf‹ die Kunst des schnellen Reichwerdens lehren wird; Thomas de Chobham erwähnt in seiner Predigtsammlung des frühen 13. Jahrhunderts Bettler, die »häufig in großer Menge Almosen sammeln, und sie benutzen dieses gesammelte Geld nicht, sondern reservieren es bis zu ihrem Tode, mit großer Habgier«: Thomas de Chobham: Summa de arte praedicandi, Kapitel 3. Morenzoni Franco. Turnhout: Brepols 1988, S. 88, zitiert nach Farmer: Surviving Poverty, S. 63; sowie die Erzählung eines blinden Bettlers, der von seinem Almosen so reich wurde, dass er ein professioneller Geldverleiher wurde, erwähnt bei dem Dominikanerprediger Stefan von Bourbon (»Tractatus de diversis materiis praedicabilibus«. A. Lecoy de la Marche (Hg.): Anecdotes historiques, légendes et apologues tirés du recueil inédit d’Etienne de Bourbon Dominicain du XIIIe siècle. Paris 1877, No. 414, S. 361, zitiert nach Farmer: Surviving Poverty, S. 63).
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und hält sie dazu an, so zu tun, als ob sie verkrüppelt oder versehrt seien oder taub und stumm. 44 Diese falschen Krüppel treten dann vor eines der Idole, selbst ein falsches, von der Habgier geschaffenes Bild und rufen aus, dass sie wieder geheilt werden wollen die dritte Falschheit dieser Reihe ist damit auch noch ein falsches Wunder. Eine Abbildung dieser Szene kann in einem französischen Manuskript des 14. Jahrhunderts betrachtet werden (vgl. Abb. 3). Der Kunsthistoriker Michael Camille kommentierte diese Illustration eines Buckligen und eines Krüppels, die vor dem falschen Idol knien: »Die zwei Krüppel sind also Figuren, die nicht Sympathie sondern Tadel hervorrufen sollen, da sie ›Profis‹ sind, wie jene in den Exempla der zwei faulen Bettler.« (ebd., S. 271)
Abb. 3: Falsche Bettler vor Avaritia Quelle: Paris, Bibliothèque Nationale, MS fr. 829. De Deguilevilles, Guillaume: »Pèlerinage de la vie humaine«, zweite Redaktion, fol. 92v, 14. Jhd..
Verdächtige Bettler oder ›falsche‹ Behinderte müssen daher zwangsläufig mit in Betracht gezogen werden, wenn man spätmittelalterliche Bildquellen auf körper-
44 The Pilgremage of the Lyfe of the Manhode. Translated Anonymously into Prose from the First Recension of Guillaume de Deguileville’s »Le Pèlerinage de la Vie humaine«, in: Avril, Henry (Hg.): Early English Text Society, Oxford 1985, S. 128, zitiert nach Michael Camille: The Gothic Idol. Ideology and Image-Making in Medieval Art. Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 270.
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lich beeinträchtigte oder versehrte Menschen hin unter die Lupe nimmt. In einer Detailansicht des rechten Außenflügels eines Gemäldes um 1485-1500, das »Jüngste Gericht« von Hieronymus Bosch (Wien, Akademie der Bildenden Künste), steht im Mittelpunkt St. Bavo, zu seiner Linken eine Gruppe Kinder mit einer Frau (die ›typischen‹ Witwen und Waisen versinnbildlichend), denen er sich zuwendet, seine Hand schon im Geldbeutel versenkend, während hinter seiner Rechten ein bettelnder Krüppel vor einer Hauswand sitzt, der auf einem vor ihm ausgebreiteten Tuch seinen amputierten und mumifizierten Fuß zur Schau stellt. Eventuell ist jener im Hintergrund kauernde Krüppel genauso mit Misstrauen zu betrachten wie die zwei eben erwähnten ›Profis‹ aus der Martinslegende. Seine Präsenz auf diesem Gemälde erweckt einige Fragen: Wie ist ihm sein Fuß abhandengekommen? ›Ehrlich‹ durch Unfall oder Krankheit oder ›unehrlich‹ abgehackt worden durch Verhängen einer Körperstrafe? Oder ist das überhaupt sein eigener Fuß, denn er könnte ja seine vermeintliche Behinderung simulieren und einen Leichenfuß zur Schau stellen? Als Betrachter vermeinen wir, seinen körperlichen Zustand durchschauen zu können, wobei wir über seinen moralischen Zustand zweifeln. Somit haben die Darstellungsformen und -typen der Gestalt nicht/behinderter Menschen einen Wandel vom früheren zum späteren Mittelalter erfahren, für die die variable Symbolik des Bettlers im Martinswunder exemplarisch stellvertretend sein mag. Der körperlich unversehrte Bettler, der gleich groß und mit ebenso edlen Gesichtszügen neben dem Adligen steht, wie in der Miniatur einer Handschrift aus Tournai um 1200, 45 symbolisierte die indiskriminierende Haltung der früheren Epoche gegenüber den als bedürftig empfundenen Menschen (vgl. Abb. 4). Der Kunsthistoriker Michael Camille kommentierte diese Illustration eines Buckligen und eines Krüppels, die vor dem falschen Idol knien: »Die zwei Krüppel sind also Figuren, die nicht Sympathie sondern Tadel hervorrufen sollen, da sie ›Profis‹ sind, wie jene in den Exempla der zwei faulen Bettler.« 46 Im Gegensatz dazu verleiht das Tafelbild eines unbekannten Künstlers um 1440 (Rottenburg, Diözesanmuseum) dem verkrüppelten, sich mühsam am Boden heranschleppenden Bettler hässliche und fratzenartige Gesichtszüge, die seinen
45 London: British Library, MS Additional 15219 fol. 12r; der Text unterhalb von Martins Pferd lautet: »Mit einem Teil seines Mantels bekleidete Martin den, der Kleidung brauchte. Denn im Himmel sieht er, daß er den König bedeckt hat« (Parte sue uestis hic uestit veste carentum. Q[ui]a videt in celis contectum cuncta regentem). 46 Camille: The Gothic Idol, S. 271.
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erbärmlichen Zustand noch betonen sollen, um auf die Diskriminierung von un/bedürftigen Armen aufmerksam zu machen (vgl. Abb. 5). Die schriftliche Erzählung, die dem visualisierten Bildnis vom Martinswunder voraus ging, hatte die Gestalt des Bettlers als Gestalt Christi interpretiert, in der der Bettler sich als verborgener Christus herausstellte, dem der Heilige unwissentlich half, so dass im erweiterten theologischen Sinn Martin eine symbolische karitative Handlung am Körper des Bettlers ausübte, der die Menschheit an sich versinnbildlichte. In der Gesellschaft des Früh- und Hochmittelalters war der Gedanke noch weit verbreitet, dass Caritas nicht diskriminierend sein sollte, also keine Unterschiede machen sollte: Wenn jemand bettelte, dann sollte man ihm Almosen geben, ungeachtet seines moralischen Zustands. Als Gegengabe wurde von Bettlern erwartet, dass diese für das Seelenheil ihrer Almosenspender beten sollten. Dieses auf Gegenseitigkeit beruhende gesellschaftliche Übereinkommen blieb bis zum Spätmittelalter geläufig, als wirtschaftliche, soziale und politische Krisen man denke an das so genannte ›katastrophale‹ 14. Jahrhundert einen Wandel der Mentalitäten bewirkten. Fortan sollte Caritas diskriminierend sein, so dass nur noch den rechtmäßigen Armen, solchen Menschen, die als ›bedürftig‹ klassifiziert wurden, der Empfang von Almosen zustand. Innerhalb der spätmittelalterlichen Definition, wer nun genau die bedürftigen Armen seien, findet man den ›Krüppel‹ neben anderen körperlich Behinderten (wie z. B. den Blinden oder Tauben), aber auch die Alten, Witwen und Waisen.
Abb. 4: Mantelspende Martins Quelle: London, British Library, MS Additional 15219 fol. 12r, ursprünglich Tournai, (um 1200).
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Abb. 5: Mantelspende Martins Quelle: Tafelbild um 1440, unbekannter Maler, Diözesanmuseum Rottenburg.
Die Ikonografie des Hl. Martin scheint einerseits Veränderungen in sozialen Standpunkten zu reflektieren, aber andererseits auch solche Standpunkte zu verstärken, indem eine visuelle Botschaft bestimmt wurde, die oftmals öffentlich und propagandistisch durch große Skulpturen, prominente Anbringung von Gemälden im Kirchenraum usw. zur Schau gestellt wurde. Ab dem 15. Jahrhundert, als Bedenken über ›falsche Krüppel‹ und folglich Befürchtungen wegen ›täuschender‹ Bettler sich verbreiteten, verstärkte und reflektierte die Darstellung des heiligen Martin mit dem behinderten Bettler normative Vorstellungen von korrekter Mildtätigkeit und gerechter Ordnung im Almosengeben. Das verkrüppelte, versehrte oder gar amputierte Bein des Bettlers ließ sich schlechter fälschen als andere Behinderungen, wie z. B. Blindheit, geschweige denn Taubheit, dazu ›trat‹ diese orthopädische Behinderung wortwörtlich hervor und war sofort ersichtlicher als andere Beeinträchtigungen, so dass man annehmen kann, dass diese Gestalt des Bettlers wegen ihrer Unmittelbarkeit, Offensichtlichkeit und Authentizität gewählt wurde. Anhand eines letzten Bildbeispiels lässt sich das Zusammenspiel sozialer Normen und religiöser Ansichten verdeutlichen. Das Fragment eines von einem schwäbischen Meister 1502 gemalten Flügelaltars in der Budapester Nationalgalerie zeigt nicht nur einen, sondern gleich zwei Bettler, die sich die Mantelspende Martins erhoffen. Martin sitzt, wie üblich, hoch zu Ross in der Mitte des Bildes, umgeben von den beiden Bettlern. Dem Rechten, der auf Krücken und mit
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verbundenem Beinstumpf zu ihm hin humpelt, wendet Martin sich zu und teilt seinen Mantel, aber dem Linken, der nur einen Wanderstab und keine Krücke hält, wendet sich in abwehrender Haltung bloß Martins Pferd zu. Dieser ›starke‹ Bettler (mendicus validus) muss mit dem wahrhaft bedürftigen Krüppel konkurrieren. Wir, die Betrachter, wie auch der heilige Martin, müssen die moralisch richtige Entscheidung zur Almosengabe treffen. Der Bettler des heiligen Martin wurde also zum Symbol aller ›wahrhaft‹ bedürftigen Bettler. Da die spätmittelalterliche Berechtigung zum Betteln und Almosenempfangen primär auf körperlicher Schwäche und Behinderung beruhte, erhielt der (behinderte) Körper des Bettlers fundamentale Bedeutung für die allgemeine Erscheinung des Bettlers. 47 Man kann also argumentieren, dass während des Spätmittelalters die Behinderten die Armen an sich konstituierten. Nicht alle behinderten Menschen waren verarmt, aber solche die es waren, brachten eine spezifische Bedeutung mit in den Begriff der Armut. Wenn ein armer Mensch einen konsolidierten und legitimierten Status innehaben wollte, mit dem Anrecht auf Almosen oder betteln zu dürfen, dann war es wohl am Besten, körperlich behindert zu sein.
47 Geremek: Geschichte, S. 64: »Für das Aussehen des Bettlers hat der Körper fundamentale Bedeutung. Zu den Techniken des professionellen Bettelns gehört vor allem, daß man seine Gebrechen, Krankheiten und körperlichen Mängel geschickt zur Schau stellt. […] Die Berechtigung zum Betteln beruhte vor allem auf körperlicher Gebrechlichkeit, und sie in geeigneter Form zu betonen war ein Mittel, das Betteln zu legitimieren und Mitleid zu erwecken.«
Behinderung in der Karikatur Zum Verhältnis von Hässlichkeit, Komik und Behinderung in der Geschichte der Karikatur C LAUDIA G OTTWALD
Was haben Komik, Hässlichkeit und Behinderung miteinander zu tun? Wie kommt es, dass alle drei Phänomene immer wieder miteinander verknüpft werden? Welche Bilder entstehen dabei? Welche Geschichten werden erzählt? Im Folgenden soll analysiert werden, wie Komisches bzw. Lächerliches, Hässlichkeit und Behinderung in unterschiedlichen Epochen bildlich und diskursiv miteinander verknüpft werden. Im Kern der Betrachtung stehen die Karikatur bzw. ihre Vorläufer in Bezug auf die Frage, wie sie Deformationen thematisieren bzw. als Mittel der Darstellung nutzen. Der Begriff ›Karikatur‹ kommt von dem italienischen Verb caricare (überladen) und meint sehr allgemein die »satirisch-komische Darstellung von Menschen oder gesellschaftlichen Zuständen.« 1 Der wertende Kunstbegriff stellt die Karikatur der schönen Kunst gegenüber. Es gehe in der Karikatur im Kontrast zur Kunst (z.B. eines Raffael) darum, die Hässlichkeit zu perfektionieren 2. Dabei werde »auf den Anspruch des ernstzunehmenden Künstlers bei gleichzeitig um so stärkerer Betonung des Anspruches als moralischer Propagandist anerkannt zu
1
Meyers Lexikon 2007.
2
Vgl. Heinisch, Severin: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft. Wien: Böhlau 1988, S. 24; Hofmann, Werner: »Die Karikatur – eine Gegenkunst?«, in: Langemeyer, Gerhard; Unverfehrt, Gerd; Guratzsch, Herwig; Stölzl, Christoph (Hg.): Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. München: Prestel 1984, S. 359.
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werden« 3 verzichtet. Die Karikatur orientiert sich an moralischen und körperlichen Auffälligkeiten, wobei körperliche Missbildungen und auffällige Proportionen übertrieben dargestellt werden. 4 Als stilistisches Mittel vor allem zur Darstellung moralischer Hässlichkeit werden häufig Mensch-Tier-Vergleiche verwendet. Hier finden sich schon deutliche Bezüge zum Thema: Die übertriebene Darstellung macht aus Auffälligkeiten Hässlichkeit. Karikaturen arbeiten vor allem damit, dass sie skizzenhaft sind. Dabei werden Proportionen verschoben, auffallende Dinge überzeichnet und im Gegenzug anderes reduziert bzw. ganz weggelassen. Ihre Darstellung ist allegorisch. 5 Lachen bzw. Komik sind nur ein Aspekt der Karikatur, aber nicht zwingend mit ihr verbunden. Der Begriff der Karikatur kann nicht trennscharf bestimmt werden, da mit ihm drei Konzepte verbunden werden. • Karikaturen als politisch-satirische Zeichnung • Karikaturen als bestimmte Form der Portraitzeichnung • Karikaturen als Stilmittel mit charakteristischer Übertreibung 6 Karikaturen können zwei Stoßrichtungen haben, auf die indirekt schon Platon verwies: In der »Politea« (388-390 v. Chr.) differenziert er zwischen dem Lachen über starke und mächtige Menschen und demjenigen über den Schwachen, der sich nicht wehren könne. 7 Dies wurde in den alten deutschen Begriffen der Spott- und Zerrbilder, die erst um 1800 vom Begriff der Karikatur abgelöst wurden, auf eine ähnliche Weise deutlich: Als Spottbilder wurden Zeichnungen verstanden, die Gruppen oder Institutionen darstellten mit dem Ziel, sie »zu schmä-
3
Lucie-Smith, Edward: Die Kunst der Karikatur. Weingarten: Kunstverlag Weingarten 1981, S. 14.
4
Vgl. ebd; Döring, Jürgen: »Katalog«, in: Langemeyer, Gerhard; Unverfehrt, Gerd; Guratzsch, Herwig; Stölzl, Christoph (Hg.): Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. München: Prestel 1984, S. 18-314, hier S. 19.
5
Vgl. Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 14.
6
Vgl. Heinisch: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft, S. 29.
7
Vgl. Seibt, Gustav: »Der Einspruch des Körpers. Philosophien des Lachens von Platon bis Plessner und zurück«, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 10/2002, S. 752.
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hen, bloßzustellen, zu verunglimpfen« 8. Als Zerrbilder wurden überladene, übertriebene Darstellungen von Personen bezeichnet. Damit lassen sich Karikaturen als Mittel sozialer Ausgrenzung von denjenigen als Mittel sozialer Kritik abgrenzen. Während erstere eine Minorität als das Andere markieren und sich gegen Außenseiter und gesellschaftlich niedrig Stehende richten, üben letztere moralische Kritik an Mächtigen und Herrschenden bzw. gesellschaftlichen Bedingungen und enthalten also subversive Elemente. In beiden Fällen aber wollen Karikaturen jemanden bzw. etwas ins Lächerliche ziehen, um ihn oder es ›klein‹ zu machen.
H ÄSSLICHKEIT , DER ANTIKE
D EFORMATION
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L ÄCHERLICHKEIT
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Umberto Eco zufolge ist das Hässliche als Gegenteil des griechischen Ideals zu fassen, das als das Schöne und Gute zu verstehen ist (kalokagathía von kalós = schön, agathos = gut). 9 Laut Franke verhält sich in der griechischen Metaphysik das Hässliche zum Schönen wie das Böse zum Guten, das Nichts zum Sein, wobei das Hässliche in der Regel als Minderwertiges, Abstoßendes oder Ekelhaftes begriffen werde. 10 Für Aristoteles (384-322 v. Chr.) ist das Hässliche eng mit dem Komischen bzw. Lächerlichen verbunden. In der Poetik beschreibt er die Komödie als übertriebene Nachahmung von im weitesten Sinne hässlichen Menschen. 11 Auch für Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) existiert die enge Verknüpfung des Lächerlichen mit dem Hässlichen. Er hält in seiner Rhetorik fest, Deformationen böten einen guten Anlass für das Lächerliche. Laut Cicero geht es beim Lächerlichen um etwas Missgestaltetes, eine Diskrepanz, ein Deformiertes. In Bezug
8
Ahlke, Reinhard: »Karikatur«, http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/ Tutorium/Themenkomplexe/Quellen/Quellenarten/Karikatur/karikatur.html,
letzter
Zugriff am 31.01.2012. 9
Eco, Umberto: Die Geschichte der Häßlichkeit. München: Hanser 2007, S. 23.
10 Franke, Ursula: »Das Häßliche«, in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3. Basel 1984, S. 1003. 11 Ueberhorst, Karl: Das Fälschlich-Komische. Besondere Erscheinungen des Komischen. Witz, Spott und Scherz. Nachträge zur Lehre vom Wirklich-Komischen. Leipzig: Wigand 1900, S. 738ff.
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auf die politische Rede fordert Cicero dazu auf, sich über die körperlichen Schwächen des politischen Gegners lustig zu machen.12 Die griechische Mythologie bietet eine gute Möglichkeit, sich das komische Hässliche in Bezug auf Behinderung bzw. körperliche Abweichung näher anzuschauen. Als humpelnder Mundschenk erregt Hephaistos beim Göttergelage das so genannte ›homerische Gelächter‹, als er nach einem Streit zwischen Zeus und Hera der Götterrunde Nektar serviert: »[U]nermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern, Als sie sahn, wie Hephästos in emsiger Eil’ umherging.« 13 Das Lachen in der griechischen Mythologie ist auch das Lachen über Thersites, der von Homer als der hässlichste Mann von Ilios beschrieben wird: schielend, lahm, höckerig, mit spitzem Kopf und dünnem Haar. Thersites gilt denn auch als Gegenbild des griechischen Schönheitsideals, d.h. er gilt als körperlich und moralisch hässlich. Dabei dient die körperliche Hässlichkeit dazu, Thersites als negativen, unbeliebten Feind von Odysseus zu markieren. Thersites ergreift auf einer Versammlung der Griechen von Troja das Wort. Odysseus reagiert auf seine Rede, indem er ihn beschimpft, sich über seine Statur lustig macht und ihm schließlich mit einem Stock den Rücken blutig schlägt. Homer fährt fort: »Er [Thersites, C. G.] setzte sich nun, und bebte, murrend vor Schmerz, mit entstelltem Gesicht, und wischte die Trän’ ab.« (Ebd., II, S. 265ff) Und weiter: »Die [anderen Anwesenden, C. G.] aber, so bekümmert sie waren, lachten vergnügt über ihn.« (Ebd., II, S. 270) Bei diesem Beispiel ist das Lachen eng mit der auffälligen Statur des Thersites verknüpft – sie scheint die Legitimation dafür zu geben. Das Lachen wird von Odysseus, wie bei Cicero beschrieben, als Strategie genutzt, den politischen Gegner zu schwächen. Vor allem die Darstellung des Thersites wird später als karikaturistisch gefasst werden. Den Begriff der Karikatur gab es in der Antike allerdings noch nicht. 14
12 Nick, Friedrich: Die Hof und Volksnarren, sammt den närrischen Lustbarkeiten der verschiedenen Stände aller Völker und Zeiten (1861). Band 1: Die Hofnarren, Lustigmacher, Possenreißer und Volksnarren älterer und neuerer Zeiten, ihre Spässe, komischen Einfälle, lustigen Streiche und Schwänke. Stuttgart: J. Scheible 1861, S. 195ff; Moody, Raymond: Lachen und Leiden. Über die heilende Kraft des Humors. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 46ff. 13 Homer: Ilias. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. o. J., I, S. 599f., http://gutenberg. spiegel.de, letzter Zugriff am 15.02.2007. 14 Eine etwas ausführlichere Darstellung zu ›komischen Behinderungen‹ in der Antike siehe Gottwald, Claudia: »Lachen über Behinderung? Positionen der antiken Mythologie und Theorien der antiken Philosophie«, in: Graf, Erich Otto; Renggli, Cornelia; Weisser, Jan (Hg.): Die Welt als Barriere. Deutschsprachige Beiträge zu den Disabili-
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Die in Abb. 1 gezeigte römische Bronzestatue aus dem 3. Jahrhundert nach Christus hatte dennoch den Zweck, den dargestellten römischen Kaiser Marcus Aurelius Severus Antonius (188-217 n. Chr.), genannt Caracalla, lächerlich zu machen, also zu karikieren. Caracalla gilt als einer der blutrünstigsten Tyrannen der römischen Geschichte. Er soll klein und hässlich – was auch immer das heißt – gewesen sein. Seine Darstellung als ›Zwerg‹ ist kein Zufall: Kleinwüchsige waren zu dieser Zeit so populär, dass sie in vielen komischen Darstellungen zu finden sind.
Abb. 1: Unbek. Künstler: Caracalla mit Kuchenkorb. Bronzestatuette, 3. Jh. n. Chr. Quell: E. Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur.
Der Grund für ihre Beliebtheit im Rahmen von Karikaturen liegt auf der Hand: Durch die Darstellung als Zwerg lässt sich die Situation bzw. Person verkleinern, verharmlosen, ins Lächerliche ziehen. Hier wird das Ziel der Karikatur, jemanden klein zu machen, wörtlich genommen. Für die Antike ist also zu konstatieren: 1. Schönes und Gutes werden ebenso miteinander verknüpft wie Hässliches und Schlechtes. 2. In der Komödie aber auch in Skulpturen und Illustrationen, ebenso wie in der Literatur wird das Häss-
ty Studies. Bern: Ed. Soziothek 2006; Heinisch: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft, S. 32.
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liche lächerlich gemacht. Ziel ist dabei meist das ›Kleinmachen‹ des politischen Gegners.
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Die Verknüpfung von Hässlichkeit, Lächerlichkeit und Behinderung setzt sich im Mittelalter fort. Etymologisch kommt der Begriff des Hässlichen vom mittelhochdeutschen ›hazlich‹, das ›hassenswert‹ oder ›feindselig‹ meint. 15 Bereits in der Etymologie wird die Verzahnung von körperlichen und moralischen Aspekten deutlich. In vielen Sprachen bezeichnet der Begriff des Hässlichen gleichzeitig das ›Krumme‹› ›Verlogene‹ oder ›Schlechte‹. Auch im Mittelalter ist das Hässliche nicht bloß physische Kategorie. Es wird als das Böse oder seelisch Verkommene, aber auch als das Satanische interpretiert 16, da in mittelalterlicher Vorstellung »Hölle und Hässlichkeit« korrespondierten . 17 Unter anderem Thomas von Aquin setzte das Missgestaltete und Hässliche mit der Sünde gleich. Anders als in späteren Epochen, ist das Hässliche aber nicht Gegensatz des Schönen. 18 Karikaturen im heutigen Sinne sind im Mittelalter kaum zu finden, komische und groteske Darstellungen des Hässlichen sind jedoch geläufig. Sie werden zumeist in ein religiöses Weltbild eingebunden. Thematisch interessieren die Dinge, die die Öffentlichkeit beschäftigen. 19 Vor allem an den Kirchen finden sich komische bzw. groteske Darstellungen des Hässlichen. Diese entspringen jedoch anders als die späteren Karikaturen der Phantasie.20
15 Vgl. Henckmann, Wolfhart: »Häßlich«, in: Fricke, Harald; Braungart, Georg; Grubmüller, Klaus; Müller, Jan-Dirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band II. Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 3. 16 Müller, Klaus E.: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München: Beck 1996, S. 124; Döring: Katalog, S. 20; Heinisch: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft, S. 43. 17 Petrat, Gerhardt: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen zu Herrschaft und Moral in der Frühen Neuzeit. Bochum: Winkler 1998, S. 11. 18 Franke: Das Häßliche, S. 1004. 19 Erste Karikaturen sind so z.B. antisemitisch. Vgl. Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur S. 33. 20 Frühe Karikaturen gibt es auch in den Blättern der Reformationszeit (Langemeyer, Gerhard: »Einleitung«, in: Langemeyer, Gerhard; Unverfehrt, Gerd; Guratzsch, Herwig; Stölzl, Christoph (Hg.): Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf
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Spätestens im Mittelalter gilt Behinderung als hässlich. 21 Und auch hier ist das Komische bzw. Lächerliche nicht weit: So hat z.B. die Institution der so genannten natürlichen Narren starke Bezüge zu den Topoi des Komischen und Hässlichen. Narren hatten nicht nur eine unterhaltende, komische oder lächerliche Funktion, sondern vorwiegend eine warnende, aber auch eine Macht erhaltende Funktion. Sie dienten als Memento, als Warnung vor Eitelkeit, Nichtigkeit und Vergänglichkeit (Vanitas). Sie sollten durch ihre Hässlichkeit und Missgestalt den Herrschenden daran erinnern, dass es nicht weit vom gelobten König bis zum verspotteten Narren sei und somit zu Demut anhalten. 22 Die Narren sollten dem Herrscher die ihm zuteil gewordene Gnade Gottes vor Augen führen und als Warnzeichen den Unterschied zwischen Gut und Böse symbolisieren. Auch die Kleidung der Narren war so gewählt, dass sie den Gegenpol zum Sapiens, dem weisen Herrscher, darstellte. Körperliche Auffälligkeit bzw. Hässlichkeit wird häufig durch den Buckel und die Nase mit einer Warze symbolisiert, die auch an Darstellungen der Hexe bzw. der Juden erinnert. Der Buckel gilt im Mittelalter als charakteristisches Hässlichkeitsmerkmal, das vor allem bei Darstellungen und Beschreibungen der so genannten Zwerge verwendet wird. Diesen Zusammenhang – Buckel und Hässlichkeit – legt ja schon die Etymologie nahe, ebenso wie den Verweis auf das Moralische: die Verknüpfung von ›krumm‹, ›verlogen‹ und ›schlecht‹ (s.o.). Auch die 51-teilige Holzschnittserie von Hans Holbeins Totentänzen, die zwischen 1523 und 1526 entstanden sind, wird in der Forschung zu den Karikaturen gezählt, teilweise werden sie sogar als deren »Geburtsstunde« 23 bezeichnet. Ein Holzschnitt dieser Serie zeigt den mit dem natürlichen Narren tanzenden Tod. Auch hier wird der Narr als hässlich attribuiert. Sein Geschlecht ist zudem entblößt, was auf seine Unehrenhaftigkeit, Schamlosigkeit aber auch die Gottes-
Jahrhunderten. München: Prestel 1984, hier S. 8). Hier richtet sich die Kritik häufig gegen Papst und Klerus (vgl. Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 33). Physiognomische Überzeichnungen oder Verschiebungen von Proportionen werden nicht vorgenommen. Missgeburten werden aber bspw. satirisch gedeutet und deshalb teilweise als Karikaturen interpretiert. 21 Vgl. Müller: Der Krüppel, S. 27f. 22 Vgl. Mezger, Werner: Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amts, Konstanz: Universitätsverl. 1981, S. 17 sowie Petrat: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. S. 11 23 Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 31.
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ferne verweist. 24 In den Totentänzen wird der Tod als »Gleichmacher einer bis ins Lächerliche hierarchischen Gesellschaft« 25 gezeigt. Damit geht es dieser Karikatur um die soziale Kritik an Mächtigen. Anders als in späteren Karikaturen wird nicht mit dem stilistischen Mittel der Überzeichnung gearbeitet. Hässlichkeit und Lächerlichkeit werden im Mittelalter vor allem in Bezug auf die Figur des Narrens mit Behinderungen verknüpft. Die enge Verbindung von körperlicher und moralischer Hässlichkeit bleibt bestehen.
H ÄSSLICHKEIT , P ORTRAIT UND K ARIKATUR R ENAISSANCE UND B AROCK
IN
Waren komische Darstellungen im Mittelalter vor allem religiös eingebettet und hatten eine gesellschaftliche Ordnungsfunktion, entdeckt man eine neue Qualität bzw. Motivation im Italien der Renaissance. Missgestalt bzw. Hässlichkeit wird zu dieser Zeit als »boshafte Spielerei der Natur« 26 aufgefasst, die entweder Spott, Mitleid oder Faszination hervorrufen könne. Während das Hässliche und Deformierte nun nicht mehr mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurde, wurde im 16. Jahrhundert weiterhin die »Deformation des Körpers zur Kennzeichnung des Bösen« 27 verwendet. So hebt beispielsweise der Gelehrte Giambettista della Porta (1535-1615) die Intelligenz von wohlproportionierten Kleinwüchsigen hervor, während er den Charakter achondroplastischer Kleinwüchsiger negativ bewertet. Eine Konstante ist außerdem die Verknüpfung von Hässlichkeit und Lächerlichkeit. 28 Als Begründer grotesker Porträts bzw. Charakterstudien gilt Leonardo da Vinci (1452-1519). Leonardo studierte in seinen Porträts den menschlichen Charakter bzw. seine Physiognomie und Mimik und soll – so Zeitgenossen – begeis-
24 Vgl. Barwig, Edgar; Schmitz, Ralf: »Narren – Geisteskranke und Hofleute«, in: Hergemöller, Bernd U. (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf: Fahlbusch 1990, S. 223. 25 Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 31. 26 Heinisch: Die Karikatur, S. 55. 27 Döring: Katalog, S. 22. 28 Vgl. Gobbi, Christine: Jacques Callot. ›Varie Figure Gobbi‹, Magisterarbeit an der Universität Wien 2008, http://othes.univie.ac.at/1711/1/2008-09-24_957 4090.pdf, letzter Zugriff am 28.01.2012.
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tert gewesen sein, wenn er auf Menschen mit auffälligen Physiognomien stieß. 29 Sein Ziel war es festzustellen, ob es neben idealer Schönheit der Gestalt auch ideale Hässlichkeit gibt. 30 Während die klassischen Porträts dieser Zeit dem Schönheitsideal der Renaissance entsprechend die Lehre der idealen Proportionen umzusetzen versuchten, widmete sich die Porträtkarikatur dem Hässlichen und Missgestalteten. Leonardo ging davon aus, dass der Kontrast von Schönem und Hässlichem eine beiderseitige Steigerung ermögliche. 31
Abb. 2: Leonardo da Vinci. Studienblatt mit fünf Köpfen. Federzeichnung, Royal Library, Windsor Quelle: Hofmann, Werner: Die Karikatur von Leonardo bis Picasso. Hamburg: PHILO & PhiloFineArts 2007.
Auffallend ist, dass Leonardo die klassischen ›Deformationen‹ vorangegangener Darstellungen nicht aufgriff: Zwerge, Buckel und Kröpfe tauchen bei ihm nicht auf. 32 Obwohl da Vincis Skizzenblätter grotesker Köpfe häufig unter die Karikaturen subsumiert wurden, sind sie wahrscheinlich eher als deren Vorläufer zu bezeichnen. Sie waren allerdings bis ins 19. Jahrhundert in Lehrbüchern zur Ka29 Vgl. Veltmann, Kim H.: »Groteske Köpfe nach Leonardo da Vinci«, in: Langemeyer, Gerhard; Unverfehrt, Gerd; Guratzsch, Herwig; Stölzl, Christoph (Hg.): Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. München: Prestel 1984, S. 19-42, hier S. 37. 30 Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 38. 31 Hofmann: Die Karikatur – eine Gegenkunst?, S. 92. 32 Vgl. Gobbi: Jacques Callot. ›Varie Figure Gobbi‹, S. 34.
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rikatur enthalten und dienten sehr wahrscheinlich zahllosen Karikaturisten als »Gestaltungsmuster« 33. Ähnliche Porträts bzw. Skizzen findet man in Folge nicht nur unter Leonardos Schülern recht häufig. Neben den ins Groteske verzerrten Gesichtszügen findet man dann häufig die Darstellung von Kröpfen bzw. Kretinismus. Dies diente vor allem der Symbolisierung von Einfalt bzw. Narrheit, wie man z.B. an den Werken von Hans Weidnitz, Albrecht Dürer, Ribera und anderen sehen kann. In Bezug auf die Wahrnehmung von Behinderung ist vor allem die Rezeptionsgeschichte interessant: Im Nordeuropa der frühen Neuzeit wurde zunächst vor biblischem Hintergrund interpretiert. Im 19. Jahrhundert hingegen sah man in den Gesichtern die Grimassen von ›Geisteskranken‹, etwas später meinte man die Verkörperung der vier Temperamente entdeckt zu haben. Aufgrund des Kranzes wurde auch geschlossen, es handele sich um eine Skizze, die den Kontrast von Hässlichkeit und klassischem Ideal verdeutlichen solle. Dargestellt ist wahrscheinlich eine betrügerische Szene mit Zigeunern: Der Mann in der Mitte der Zeichnung reicht seine Hand der älteren Frau rechts zum Handlesen. Währenddessen greift die linke Figur der mittleren unter die Ärmel und bestiehlt diese. 34 Vielen Wissenschaftlern gilt der italienische Maler und Kupferstecher Annibale Carracci (1560-1609) als Begründer der eigentlichen Karikaturen. Er ist es auch, der den Begriff Caricatura einführte. Karikaturen hat er zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung seiner Schüler gezeichnet. 35 Carracci habe (laut Mossini 1646) gemeint, die Natur selbst deformiere die Züge der Menschen, deshalb brauche die Kunst dies bloß nachzuahmen, um ihre Lächerlichkeit zu verstärken. Anders als im Mittelalter werden die Figuren also nicht phantasiert, sondern sowieso vorhandene Schwächen werden betont und hervorgehoben. 36 Geradezu berühmt geworden sind Jacques Callots (1592–1635) etwas später entstandenen Zwergenfiguren: Varie figure gobbi (gobbo=Buckel). Auch hier ist sich die Forschung nicht einig, ob es sich um Karikaturen im engeren Sinne han-
33 Döring: Katalog, S. 21. 34 Vgl. Hofmann: Die Karikatur – eine Gegenkunst?, S. 92; Gobbi: Jacques Callot. ›Varie Figure Gobbi‹, S. 47. 35 Vgl. Langemeyer: Einleitung, S. 7. 36 Vgl. Hofmann: Die Karikatur – eine Gegenkunst?, S. 358; Unverfehrt, Gerd: Karikatur – Zur Geschichte eines Begriffs, in: Langemeyer, Gerhard; Unverfehrt, Gerd; Guratzsch, Herwig; Stölzl, Christoph (Hg.): Bild als Waffe., S. 345-353, hier S. 347.
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delt. 37 Callots Gobbi sind aber sicher von den frühen italienischen Charakterstudien bzw. Karikaturen Leonardos und Carrachis beeinflusst. 38 Ähnlich wie von Leonardo da Vinci heißt es über Callot, er habe eine Vorliebe für das Groteske und Bizarre gehabt. Man weiß, dass Callot an den Höfen entsprechenden Veranstaltungen (z. B. Turnieren mit Zwergen, aber auch so genannten Zwergentheatern) beiwohnte und sich dadurch wohl zu seinen Gobbi inspirieren ließ. 39 Seine Figuren »waren das Gespräch an allen Höfen Europas, weil einige nicht nur die beliebigen Verwachsungen Kleinwüchsiger darstellten, sondern obszön ihre Geschlechtlichkeit betonten und darboten«.
H ÄSSLICHKEIT , ÄSTHETIK J AHRHUNDERT
UND
K ARIKATUR IM 18./19.
Vor allem in der Ästhetik und der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt man sich mit Verweisen auf Aristoteles und Cicero mit der Frage des Verhältnisses von Lächerlichem/Komischem und Hässlichem. Das Hässliche wird als Gegensatz zum Schönen oder zum Erhabenen gedeutet. Hässlichkeit als Abwesenheit von Schönheit wird als »Missgestalt« 40 verstanden und »in den Abweichungen einer der Schönheit fähigen Gestalt von ihrer Norm« (ebd.) näher bestimmt: »Das Reich des Häßlichen ist sehr weit […], es umfaßt die ganze Leiter menschlicher Defigurationen, die körperlichen und geistigen Gebrechen von den gröbsten Formen bis zu den unscheinbarsten.« 41
37 Das ist natürlich abhängig von der jeweiligen Definition. Laut Lucie-Smith sind sie keine Karikatur, weil Typen dargestellt werden und es sich nicht um ein Portrait handele (vgl. Lucie-Smith: Die Kunst der Karikatur, S. 46). Langemeyer zufolge ist diese Frage nicht zu klären (vgl. G. Langemeyer: Einleitung, S. 29). 38 Vgl. Gobbi: Jacques Callot. ›Varie Figure Gobbi‹, S. 48. 39 Vgl. Bauer, Günther G.; Verfondern, Heinz: Barocke Zwergenkarikaturen von Callot bis Chodowiecki. Salzburg: Kulturamt 1991, S. 40; G. Langemeyer: Einleitung, S. 29. 40 Vischer, Friedrich Theodor: »Über das Erhabene und Komische. Ein Beitrag zur Philosophie des Schönen [1837]«, in: Vischer, Friedrich Theodor, Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 172. 41 Fischer, Kuno: Über den Witz. 2. durchges. Auflage. Heidelberg: Winter 1889, S. 43.
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In seiner »Ästhetik des Hässlichen« beschreibt Karl Rosenkranz 1853 das Hässliche ausführlich. Für Rosenkranz kann nur das hässlich sein, was das Potential hat, schön zu sein. Das Hässliche wird von ihm als Disharmonie begriffen und dem Schönen gegenübergestellt: Während das Schöne das Erhabene und Gefällige bezeichne, sei das Hässliche demgegenüber das Gemeine und Widrige. 42 Wichtig ist Rosenkranz die Lösung des Hässlichen von seiner moralischen Bewertung: »Das Hässliche kann sich auch ohne das Böse erzeugen.« (Ebd. S. 165) Ursache des Hässlichen im Menschen seien neben physischen Abweichungen vor allem psychische Krankheiten: »Blödsinn, Verrücktheit, Wahnsinn, Raserei, machen den Menschen häßlich.« (Ebd.) Auch Freiherr Johann Wolfgang von Goethe (1782-1832) ist der Ansicht, das Hässliche gehöre in den »niedrigen Kreis des Lächerlichen« 43. Karl Rosenkranz ist der Meinung, »das Hässliche kann nur begriffen werden als die Mitte zwischen dem Schönen und dem Komischen.« 44 Mehr noch: Ohne das Hässliche sei das Komische nicht möglich. Karl Theodor Vischer sieht diesen Bezug ebenfalls: »Im Gebiete des sinnlich Komischen z.B. erscheint daher der menschliche Körper als ein hässlicher.« 45 Ursache dafür ist für Kuno Fischer, dass die komische Betrachtung immer den Kontrast suche. Deshalb beleuchte sie vor allem das Hässliche und verwandle es ins Lächerliche, wo der Körper als ungeschickt oder »tölpelhaft« bzw. »verunstaltet« 46 erscheine: »Natürlich werden die gröbsten und am meisten hervorspringenden Verunstaltungen auch die ersten sein, welche der komischen Vorstellung auf ihrer niedrigsten Stufe ins Auge fallen. So lachen die Kinder über den Anblick eines Buckligen […].« (Ebd.) Dieser hässliche Körper zeigt sich nach Ansicht vieler als Karikatur. Karl Julius Weber befindet, schon Homer habe den Thersites hässlich dargestellt, »um ihn lächerlich zu machen« 47. Und Karl Rosenkranz zufolge kann das Hässliche mittels der Karikatur in das Komische übergehen. Die Karikatur sei wie das Hässliche durch Übertreibung und Unproportionalität gekennzeichnet und die ›Fratze‹ kennzeichne »das Extrem der Caricatur« (ebd., S. 390ff).
42 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg: Bornträger 1853, S. 166, S. 386. 43 Goethe zitiert nach Franke: Das Häßliche, S. 1004. 44 Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, VII. 45 Vischer: Über das Erhabene und Komische, S. 172. 46 Fischer: Über den Witz, S. 40ff. 47 Weber, Karl Julius: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen [1832], 8., sorgfältig erläuterte Original-Stereotyp-Ausgabe, Band. I-XII, Stuttgart: Rieger, hier Band I, S. 201.
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Nach Ansicht von Rosenkranz können behinderte Menschen Karikaturen sein. »Vom Cretin läßt sich […] sagen, daß er eine Caricatur des Menschen sei, weil er, dem Wesen nach schon Mensch, doch seiner Erscheinung nach in die Thierheit versunken ist« 48. An anderer Stelle äußert Rosenkranz: »Der Cretin ist noch häßlicher als der Neger, weil er zur Unförmlichkeit der Figur noch die Stupidität der Intelligenz und Schwäche des Geistes hinzufügt.« (Ebd., S. 31f) Auffallend ist hier zunächst der Tiervergleich, der einerseits als Stilmittel der Karikatur gilt, andererseits Charakteristikum der Beschreibung von Menschen mit Behinderung im 18. und 19. Jahrhundert ist. Außerdem werden körperliche und moralische Hässlichkeit miteinander verknüpft. Zum ›Buckel‹ hat Rosenkranz folgendes zu sagen: »Ein Buckliger z.B. kann häßlich sein; er kann sich aber dennoch für schön halten; ja er kann, wie man dies von vielen Buckligen beobachtet haben will, kaum wissen, daß er bucklig ist. Er macht also die Prätension der Schönheit, der normalen Gestaltung und hiermit wird er erst zu einer Caricatur und zwar zu einer komischen, denn nun fordert sein Betragen selber uns auf, ihn mit seiner Normalform zu vergleichen.« 49
Rosenkranz Einlassungen zeigen, dass es ihm nicht mehr nur um bildliche Darstellungen von behinderten Menschen als Karikatur, sondern um den Menschen selbst geht, der Karikatur sei. Auch für den Philosophen Karl Heinrich Heydenreich ist der behinderte Mensch Karikatur. In seiner »Philosophie über die Leiden der Menschheit« plädiert er bereits 1797 dafür, behinderten Menschen, die als »moralische Mißgeburten«, ›Narren‹ und ›Demente‹, ›Krüppel‹ und ›Gichtige‹ näher charakterisiert werden, Heirat und Fortpflanzung gesetzlich zu verbieten. 50 Sonst sei es kein Wunder, »wenn die Caricaturen und Unwesen unserer Gattung immer mehr und mehr zunehmen« (ebd.). Menschen mit Behinderung, dies zeigen auch die Aussagen von Rosenkranz werden als Karikatur selbst betrachtet, sie müssen erst gar nicht als eine solche gezeichnet bzw. überzeichnet werden.
48 Weber: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, S. 396. 49 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen (Faksimile-Neudruck der Ausgabe Königsberg 1853). Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1968, S. 175. 50 Vgl. Heydenreich, Karl Heinrich: Philosophie über die Leiden der Menschheit. Ein Lesebuch für Glückliche und Unglückliche, specculativen und populairen Inhalts. Zweiter Theil, Leipzig: Leupold 1798, S. 209.
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Einzig Immanuel Kant (1724-1804) setzt sich kritisch mit dieser Sicht auseinander. Er meint, man dürfe über das hässliche Gesicht nicht lachen, da es nicht frei erworben sei: »Ein solches Gesicht ist nicht Carricatur, denn diese ist vorsätzlich-übertriebene Zeichnung (›Verzerrung‹) des Gesichtes im Affect, zum Auslachen ersonnen, und gehört zur Mimik; es muss vielmehr zu einer Varietät gezählt werden, die in der Natur liegt und ist kein Fratzengesicht zu nennen (welches abschreckend wäre), sondern kann Liebe erwecken, ob es gleich nicht lieblich, und ohne schön zu sein, doch nicht hässlich ist.« 51
Ihm zufolge dürften nur solche Gesichter als hässlich angesehen werden, denen man moralische Verfehlungen ansehe. Kant versucht also mit dem Begriff des Hässlichen moralische Abweichungen zu benennen und körperliche Devianzen davon auszunehmen.
F AZIT
UND
AUSBLICK
Das Hässliche, das auf Behinderung bezogen wird und häufig als Lächerliches betrachtet wird, ist vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert durchgängiges Thema. Im Mittelalter hatte Hässlichkeit die Funktion der Mahnung und Warnung und symbolisierte Vanitas. In Renaissance und Barock ist es zwar nicht mehr mit dem Teufel, aber weiterhin mit dem Bösen verknüpft. Seit dem 18. Jahrhundert wird das Hässliche der Ästhetik zugeordnet und mit Attributen des Ekels und der Abscheu verknüpft, sofern es nicht lächerlich ist. Menschen mit psychischen und physischen Abweichungen gelten nun als Karikatur und werden quasi als vom Leben, von Gott oder vom Schicksal überzeichnet gedacht. Dabei wird häufig auf ihre Nähe zum Tier verwiesen. Studien, auf die Müller verweist, belegen, dass der Zusammenhang von Hässlichkeit und Behinderung bis mindestens in die 1980er Jahre Geltung hat. 52 Die »Verbrüderung von Schönheit und Moral« 53, ist wie Brittnacher konstatiert, noch heute aktuell. Dies gilt auch und vielleicht besonders für die Karikatur. Für
51 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1796-1797]. 3. Auflage. Leipzig: Koschny 1880, S. 223. 52 Vgl. Müller: Der Krüppel, S. 27f. 53 Brittnacher, Hans Richard: »Der böse Blick des Physiognomen. Lavaters Ästhetik der Deformation«, in: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. 2. Auflage. Göttingen 2005, S. 146.
B EHINDERUNG
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den Bezug von Behinderung zum Lächerlichen muss man aber konstatieren, dass es zwischen den 1930er und 1980er Jahren kaum komische oder lächerliche Darstellungen von Behinderung gibt. Sie tauchen erst Anfang der 1990er Jahre wieder auf. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Frage, wie die mit allen drei Konzepten – Hässlichkeit, Komik, Behinderung - verbundenen Normabweichungen in komischen, hässlichen Darstellungen von Behinderung verknüpft werden. Ebenso wie Komisches bzw. Lächerliches und Hässliches, ist Behinderung als Reaktion auf eine Normabweichung zu verstehen. Es scheint als könnte ihr Zusammenspiel in der Karikatur die gewünschte Wirkung potenzieren. Zijderveld konstatiert eine Ambivalenz zwischen Angezogen- und Abgestoßensein in Bezug auf Normabweichungen, aus der ihre Faszination entstehe. 54 Dies gilt gleichermaßen für die drei Phänomene (Komik, Hässlichkeit und Behinderung). Kennzeichen komischer Hässlichkeiten ist die übertriebene Darstellung von Unproportioniertem und Unharmonischem. Vor allem im Schwarzen bzw. Sarkastischen Humor (z.B. beim Cartoonisten John Callahan in Bezug auf Behinderung anzutreffen), ist das Grauen auch nicht weit. In der Karikatur ist das Hässliche immer auch das Lächerliche. Ziel des Lächerlichen ist, wie schon gesagt, die Herabsetzung seines Gegenstandes. Behinderungen sind immer wieder Thema der Karikatur. Ob etwas ›schon‹ Behinderung und ›nur‹ Hässlichkeit ist, lässt sich aber im Einzelfall nur schwer klären. Folgt man der Differenzierung von Heese (1995), unterscheiden sich Hässlichkeit und Behinderung dergestalt, dass erstere als ästhetische Normverletzung gilt, während Behinderung eine funktionale Normverletzung darstelle. Dennoch schränkt er ein, dass es eine gemeinsame Schnittmenge zwischen den beiden Bereichen gebe, die mittig zwischen »reiner Entstellung ohne funktionale Einschränkung« 55 und nicht sichtbarer Behinderung liege. Es ist bei der Karikatur schwierig zu erkennen, ob es sich um Mimik oder Physiognomie handelt. Des Weiteren ist schwer zu klären, ob es sich um einen spontanen Gesichtsausdruck handelt oder um etwas, das als Ausdruck einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung gedacht wird. Und: Handelt es sich bei Darstellungen auffälliger Physiognomien um eine überzeichnete ästhetische Abweichung oder um
54 Vgl. Zijderveld, Anton C.: Humor und Gesellschaft. Eine Soziologie des Humors und des Lachens. Graz/Wien/Köln: Styria 1976, S. 129. 55 Heese, Gerhard: »Entstellung – eine Behinderung?«, in: Hoyningen-Süess, Ursula; Amrein, Christine (Hg.): Entstellung und Hässlichkeit. Beiträge aus philosophischer, medizinischer, literatur- und kunsthistorischer sowie aus sonderpädagogischer Perspektive. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt 1995.
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eine Darstellung von Behinderung? Vor allem ist festzuhalten, dass im Reich der Karikatur der Begriff der Behinderung zumindest historisch nicht weiterhilft, auch wenn er als Hilfsmittel immer wieder hier verwendet wurde; es kann immer nur um die Analyse der Grenzbereiche zwischen funktionalen und ästhetischen Normabweichungen gehen. Ich gehe davon aus, dass Karikaturen unbewusst negative Bilder vom Anderen festigen und Vorurteile intensivieren. Beide Stoßrichtungen der Karikatur verstärken die Gleichsetzung von körperlicher Abweichung mit moralischer Hässlichkeit: In der Karikatur als Mittel sozialer Kritik fungieren Hässlichkeit und Normabweichungen als Hinweis auf moralische Verfehlungen Mächtiger. Sie sollen lächerlich und klein gemacht werden. Im Falle der Karikatur als Mittel zur Ausgrenzung von Minoritäten werden ebenfalls körperliche und moralische Hässlichkeit gleichgesetzt, um Exklusionen zu begründen. Damit haben Karikaturen meines Erachtens tendenziell einen negativen Einfluss auf das Bild vom Anderen und verfestigen Stereotypien.
»Lärmender Frohsinn« Fotografien körperbehinderter Kinder (1900-1920) P HILIPP O STEN
Am 2. September 1920 wurde in den Kammerlichtspielen am Potsdamer Platz der erste »abendfüllende Kulturfilm der Ufa« 1 uraufgeführt. Der Film KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE mischt Spielszenen mit dokumentarischen Aufnahmen aus einer Berliner Modellinstitution für die Ausbildung und medizinische Behandlung von körperbehinderten Kindern und Jugendlichen. »Tatsachen, nichts als Tatsachen. [...] Als Kunstwerk ist er Kunstwerk über jedem Kunstwerk; ungewollt; Drama über jedem Drama, Lyrik über jeder Lyrik, Vermittler einer reinsten und verklärtesten Erschütterung« (ebd.), schrieb der Filmkurier am Morgen nach der Premiere. Der 50-minütige Film, dessen Entstehungsgeschichte bis in das Jahr 1910 zurückreicht, ist nicht nur aus cineastischer Perspektive interessant. Er war Teil einer breit angelegten Propagandakampagne, bestehend aus Flugblättern, Postkarten, Informationsbroschüren, Publikumsausstellungen und wenig später auch Radiosendungen. Politische Dispositive bestimmten den Diskurs über körperbehinderte Menschen gegen Ende der Kaiserzeit. Noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs etablierte sich eine sozialbiologische Bewertung, die die Arbeitsfähigkeit eines Menschen zum wichtigsten Kriterium erhob. Bald trat eine eugenische Perspektive hinzu. Die Ikonographie dieser Entwicklung ist das Thema dieses Beitrags. KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE entstand im Auftrag der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge (heute: Deutsche Vereinigung für Rehabilitation), einer staatlichen Wohltätigkeitsorganisation für körperbehinderte Kinder, deren Öffentlichkeitsarbeit vor allem von einer Berliner Klinik geprägt wurde, dem 1
o.A.: »Lehrfilme zum Krüppelkongreß. Probevorführungen der Ufa«. In: Film-Kurier, Nr. 196, 3.9.1920.
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Oskar-Helene-Heim für die Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder, das im Jahr 1906 als »Modellanstalt für Krüppelfürsorge« gegründet wurde. Ihr ärztlicher Leiter, Konrad Biesalski (1868-1930) war zugleich Schriftführer und später Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge. Konzept seiner Einrichtung war es, die Unterbringung, Ausbildung und medizinische Betreuung körperbehinderter Kinder in einer Institution zu bündeln. 2 Einprägsame Slogans, die im Film KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE als Texttafeln erscheinen, sollten das Bild körperbehinderter Menschen in der Weimarer Republik prägen. »Arbeit ist die Kraftquelle der Entkrüppelung«, steht da, oder »Almosenempfänger zu Steuerzahlern«. 3 Die Architekten dieser Kampagne, ein preußischer Ministerialdirektor und ein Professor für Orthopädie, stellten auf diese Weise ihre Vorstellungen von einer »modernen Krüppelfürsorge« vor. Ihre Strategie war erfolgreich. Ein »Gesetz zur Krüppelfürsorge« legte 1920 eine zwangsweise Heimunterbringung und eine Meldepflicht für »jugendliche Krüppel« fest und regelte die Finanzierung von Therapie und Ausbildung nach dem Armenrecht. 4 Die Entstehung dieses Gesetzes widersprach den parlamentarischen Regeln der jungen Weimarer Demokratie. Einer gründlichen juristischen Prüfung hätte es nicht standgehalten. Obwohl die Bestimmung des Armenrechts vorschrieb, körperbehinderte Kinder auch gegen den Willen ihrer Eltern in ›Krüppelheimen‹ unterzubringen, blieb sie unangefochten bestehen. Noch aus der Kaiserzeit stammten die ersten Entwürfe des Gesetzes. Die Beamten der obersten preußischen Medizinalbehörde, die es in der unmittelbaren Nachkriegszeit lancierten, waren dieselben wie vor 1918. Und so finden sich im Wortlaut
2
Der Begriff Krüppel war umstritten. Orthopäden und Sonderpädagogen wollten ihn als ›Kampfbegriff‹ etablieren. Selbsthilfeverbände lehnten ihn ab. Durchsetzen konnten sich nur die im Ersten Weltkrieg verwundeten Soldaten – nach langer Diskussion. Sie forderten, Kriegsbeschädigte genannt zu werden. Vgl. Thomann, Klaus-Dieter: »Der ›Krüppel‹: Entstehen und Verschwinden eines Kampfbegriffs«, in: Medizinhistorisches Journal, 27/1992, S. 221–271.
3
KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE D 1920, 35mm, S/W, 51 Minuten. Regie: Nicholas Kaufmann, Curt Thomalla, Konrad Biesalski. Produktion: Universum-Film Aktiengesellschaft (Ufa). Erhaltene Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin. Zur filmhistorischen Analyse vgl.: Osten, Philipp: Ärzte als Filmregisseure. Ein Ufa-Kulturfilm aus dem Berliner Oskar-Helene-Heim für die Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder, aufgenommen in den Jahren 1910 bis 1920. In: Filmblatt. Wissenschaftliche Zeitschrift von Cinegraph Babelsberg. 13 (2008), Heft 37, S. 37-56.
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Schlossman, Arthur: Die öffentliche Krüppelfürsorge. Das preußische Gesetz vom 6. Mai 1920 nebst den Ausführungsbestimmungen. Berlin: Heymann 1920.
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der Norm nicht wenige Textbausteine, die bereits 1911 auf der Dresdner Hygieneausstellung als Slogans gedient hatten. Das galt nicht zuletzt für die gesetzliche Definition des Begriffs »Krüppel«, die weitgehend aus einer Propagandaschrift des Jahres 1909 stammte. Als Definitionsmerkmal eines »Krüppels« legte das Gesetz die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit »auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte« aufgrund von dauerhaften Behinderungen fest. 5 Mit der Verabschiedung des Gesetzes wurden so genannte ›Landeskrüppelschauen‹ etabliert, bei denen Ärzte alle ihnen von Lehrern, Pastoren, Hebammen und Pädiatern gemeldeten Kinder begutachteten. Diese Versammlungen geschahen öffentlich. Ein Berliner Arzt berichtete über den Ablauf: »Wenn ich als Landeskrüppelarzt der Provinz Brandenburg die Kreise aufsuche, so halte ich die Untersuchung stets in der Form ab, daß sämtliche Eltern mit ihren Kindern in einem großen Saal, möglichst in einem Turnsaal, versammelt sind. Das Kind wird je nach dem Falle, nach Geschlecht und Alter, hinter einer Gardine untersucht, und dann benutze ich den Fall dazu, um in Gegenwart der Eltern, Beamten und Ärzte eine Erklärung daran zu knüpfen, wie diesem Kinde geholfen werden kann, was schon versäumt ist und was aus ihm werden muß, wenn nicht sofortige Hilfe einsetzt.«6
Das Beispiel zeigt, dass die Kinder bereits im Moment ihrer ärztlichen Erfassung Teil einer Kampagne wurden.
» D IE R ETINA DER W ISSENSCHAFT « 7 – MEDIZINISCHER B LICK UND P ATIENTENFOTOGRAFIE Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte die Fotografie eine Schlüsselrolle für die Etablierung der neuen chirurgischen Disziplin Orthopädie. Bereits im Jahr 1858 beauftragte der Berliner Direktor eines heilgymnastischen Instituts, der Arzt
5
Gesetz betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge vom 6. Mai 1920, § 9, zitiert nach Friedrich Wendenburg: Soziale Hygiene (= Handbücherei für Staatsmedizin, Band 13), Berlin: Heymanns 1929, S. 129-131.
6
Biesalski, Konrad: »Die Verminderung des Krüppeltums durch Vorbeugung«, in: Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge (Hg.): Zeitgemäße Krüppelfürsorge. Leipzig: Leop. Voß 1925, S. 25–32, hier S. 30.
7
Petersen, Walther: Chirurgisch-photographische Versuche mit den Röntgen’schen Strahlen, in: Münchener Medicinische Wochenschrift 43 (1896), S. 121–123.
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Heimann Wolff Berend (1809-1873), 8 den Fotografen Leopold Haase, seine Patienten zu fotografieren. Die Studioaufnahmen folgen dem Vorbild bürgerlicher Porträtfotografie. 9 Fixiert durch einen appareil du pose – so hießen die Haltestative für Hals, Arme und Schultern, die Verwacklungen bei den damals notwendigen langen Belichtungszeiten verhindern sollten – wurden die Patienten im Atelier fotografiert. Berend war jüdischen Glaubens. Eine Professur in Preußen blieb ihm verwehrt. 10 Seine Patientenbilder aber wurden zum frühesten fotografischen Lehrmaterial europäischer Universitäten. Die technischen Rahmenbedingungen, die der Herstellung verwacklungsfreier und gleichmäßig belichteter Aufnahmen dienten (Kamera auf einem Stativ, Fixierung der Patienten, immer gleicher Aufnahmewinkel und Abstand zwischen Filmebene und Objekt im fotografischen Studio), trugen zur Standardisierung bei. Fotografisch dokumentierte Befunde wurden vergleichbar. In der Folge entstanden neue Klassifikationen von Rückgratsverkrümmungen, Gelenkfehlstellungen und Kopfhaltungen. Für seine Publikationen ließ Berend die Bilder von Kupferstechern in Xylographien umwandeln. Die Zeichnung nach einer Fotografie wurde auch von anderen Autoren als verlässlicher bewertet, als wenn ein Künstler sie direkt und in Angesicht des natürlichen Objekts angefertigt hätte. So behandelte der Neuroanatom Emil Huschke (1797-1858) eine Serie von Lithographien, die er 1854 einem wissenschaftlichen Artikel über Hirnanatomie anfügte, synonym mit tatsächlichen Fotografien:
8
Vgl. Marcus, Benjamin A.: »Heimann Wolff Berend (1809-1873) und Moritz Michael Eulenburg (1811-1887) - Berliner Orthopäden im 19. Jahrhundert«, in: Zichner, Ludwig; Rauschmann, Michael A.; Thomann, Klaus-Dieter (Hg.): Geschichte konservativer Verfahren an den Bewegungsorganen (= Deutsches Orthopädisches Geschichtsund Forschungsmuseum, Jahrbuch Band 3). Frankfurt a.M.: Steinkopff 2001, S. 227232.
9
Brinkschulte, Eva; Lemke Muniz de Faria, Yara: »Patienten im Atelier: Die fotografische Sammlung des Arztes Heimann Wolff Berend 1858 bis 1865«, in: Fotogeschichte: Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Versehrte Körper. Fotografie und Medizin, 80, 21/2001, S. 16-26.
10 Zur Situation jüdischer Wissenschaftler in Preußen vgl. Schmiedebach, Heinz-Peter: Robert Remak (1815–1865). Ein jüdischer Arzt im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Herausgegeben von Richard Toellner und Nelly Tsouyopoulos (= Medizin in Geschichte und Kultur, Band 18), Stuttgart: Fischer 1995.
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»Ich habe sie [die Abbildungen] photographisch, jedoch in natürlicher Größe, ausgeführt, weil nur auf diesem neuen Wege, das Hirn darzustellen, die möglichste Naturtreue zu erreichen ist, gerade in den Windungen, deren Chaos nicht weniger den fremden Zeichner, als auch schon den Anatomen von Fach zu verwirren im Stande ist. Kenner werden beurtheilen, ob die Schärfe und Wahrheit der Darstellung den bekannten anatomischen Werken gegenüber gewonnen haben.« 11
Zu sehen waren freilich die üblichen Stiche – deren Vorbild nur eben nicht die Präparate selbst, sondern Fotografien waren. Das »Abkupfern« von Bildern, die auf eine Holz-, Stein- oder Kupferplatte projiziert wurden, hatte sich bereits in den 1820er Jahren, also lange vor der Erfindung der Fotografie etabliert, um Kunstwerke zu reproduzieren. Die Technik wurde bis zur Einführung von gerasterten Bildern beibehalten, mit der schließlich um 1900 die Publikation von Abbildungen auch für Massenmedien erschwinglich wurde. Die »Naturtreue« der Fotografie galt als das überzeugendste Argument für ihren Einsatz. 12 Henry Fox Talbot (1800-1877) hatte seinem ersten kommerziellen Buch, das fotografische Aufnahmen enthielt, den Titel »The Pencil of Nature« gegeben und einen Zettel beigefügt, auf dem stand: »Die Tafeln in dem vorliegenden Werk wurden allein von der Kraft des Lichts geformt, ohne jegliche Hilfe durch den Stift eines Zeichners. Sie sind Bilder der Sonne und nicht, wie einige Personen vermutet haben, Stiche, die aus der Imitation gefertigt sind.« 13
Der französische Semiotiker Roland Barthes (1915-1980) brachte die besondere Rolle der Fotografie in der Wissenschaft auf den Punkt: Sie sei zugleich Abbild und Referent der Authentizität des Abgebildeten: »Die Photographie ist, wörtlich verstanden, die Emanation des Referenten.« 14 In Deutschland erfuhr die wissenschaftliche Fotografie ihre bedeutendste Rolle ab Mitte der 1870er Jahre auf dem Gebiet der Bakteriologie. »Wichtiger als der Gegenstand selbst« sei das mikrophotographische Bild eines Bakteriums,
11 Huschke, Emil: Schädel, Hirn und Seele. Des Menschen und der Thiere nach Alter, Geschlecht und Raçe. Dargestellt nach neuen Methoden und Untersuchungen. Jena: Mauke 1854, S. VI. 12 Zur »Naturtreue« vgl. Daston, Lorraine; Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations, Special Issue: Seeing Science, 40/1992, S. 81-128. 13 Fox-Talbot, Henry: The Pencil of Nature. London 1844, Einlegeblatt [eigene Übers.]. 14 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 91.
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schrieb Robert Koch (1843-1910) 1877 in seinem berühmten Aufsatz über das »Verfahren zur Untersuchung, zum Conservieren und Photographieren der Bakterien« 15. Unretuschierte Glasplattennegative wurden bei der wissenschaftlichen Präsentation eines neu entdeckten Erregers als Beweis seiner Existenz durch den Hörsaal gereicht. 1896, unmittelbar nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, fasste der Chirurg Walther Petersen ehrfürchtig zusammen, in welchem Maß die Fotografie endgültig zum Leitmedium der Medizin geworden war: »Die photographische Platte ist die Retina der Wissenschaft.« 16 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Mediziner glaubten an fotografische Abbildungen. Petersens Satz hält das in paradigmatischer Weise fest, in dem er die Silbergelatineplatte mit der Netzhaut gleichsetzt. Für ihn ist die Fotografie Wahrnehmungsorgan und Aufzeichnungsmedium zugleich. Dies überaus hohe Ansehen, das Wissenschaftler Fotografien entgegen bringen, muss berücksichtigt werden, wenn man damit beginnt, Abbildungen von Menschen mit Behinderungen zu betrachten, die Ärzte in Umlauf brachten.
E NTDÄMONISIERUNGSPROZESSE : ANALYSE HISTORISCHER F OTOGRAFIEN Bereits vor gut 80 Jahren entstanden Initiativen, Bilder als historische Quellen zu nutzen, die erst heute, im Zuge des iconic turn, breite Anerkennung finden. Anfang der 1930er Jahre wies der Dermato-Venerologe Ludwik Fleck (1896-1961) erstmals auf die Bedeutung von Bildern für die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen hin. 17 Heute gilt er zu Recht als ein grundlegender Vordenker der historischen Epistemologie. Zur selben Zeit begann der Leipziger
15 Vgl. Schlich, Thomas »›Wichtiger als der Gegenstand selbst‹ – Die Bedeutung des fotografischen Bildes in der Begründung der bakteriologischen Krankheitsauffassung durch Robert Koch«, in: Dinges, Martin; Schlich, Thomas (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart: Steiner 1995, S. 143-174. 16 Petersen, Walther: »Chirurgisch-photographische Versuche mit den Röntgen’schen Strahlen«, in: Münchener Medicinische Wochenschrift, 43/1896, S. 121-123, hier S. 123. 17 Fleck, Ludwik: Denkstile und Tatsachen - Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Herausgegeben von Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011.
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Ordinarius für Geschichte der Medizin, Henry E. Sigerist (1891-1957), als erster Historiker damit, Erwin Panofskys (1892-1968) historische Ikonographie als Methode für die Geschichtswissenschaften zu nutzen. Sigerists mit Panofskys Hilfe verfasster Aufsatz über die wechselnden Darstellungen des Heiligen Sebastian, der sich über die Jahrhunderte von einem Pestheiligen in den Schutzpatron vor der Syphilis verwandelt (und viel später zu einem Schutzpatron vor HIV wird), erschien Mitte der 1930er Jahre freilich in den USA. 18 Als einen Entdämonisierungsprozess beschrieb es der Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg (1866-1929), Bilder zu ordnen und einer systematischen Einteilung zu unterziehen. 19 Das gilt insbesondere für die Analyse von Patientenfotografien, die oft gegen den Willen der Abgebildeten und unter den Bedingungen totaler Institutionen entstanden. 20 Die erste orientierende Durchsicht in Archiven von Kliniken, Heimen und Anstalten, wo Patientenfotografien oft zu hunderten ungeordnet liegen, löst ein Befremden aus, das nur in einem langen Prozess des Klassifizierens, Kontextualisierens und Gruppierens zu bewältigen ist. 21 Die Geschichte der von ›Krüppelheimen‹ publizierten Bilder ihrer Insassen setzt vor der Jahrhundertwende mit der Mode ein, Lebensberichte von Patienten
18 Sigerist, Henry E.: »The Historical Aspect of Art and Medicine«, in: Bulletin of the Institute of the History of Medicine, 4/1936, S. 271-296. 19 Warburg, Aby: »Mnemosyne-Atlas«. Herausgegeben von Martin Warnke und Cornelia Brink (=Aby Warburg Gesammelte Schriften. Der Bilderatlas Mnemosyne. Studienausgabe. Band II.1). Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 5. 20 Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp1973. 21 Exemplarisch wurde ein solches Vorhaben in dem von Eva Brinkschulte konzipierten DFG-Projekt ›Patientenbilder‹ anhand der publizierten Bilder des Berliner ›Krüppelfürsorgeanstalt‹ Oskar-Helene-Heim mit Hilfe eines relationalen Datenbanksystems durchgeführt, bei dem Abbildungen, Bildunterschriften, Bildbeschreibungen, Verschlagwortung und schriftliche Archivalien einzelne Analyseebenen darstellten. Viele Thesen dieses Beitrags basieren auf den Erkenntnissen, die Yara Lemke Muniz de Faria, Petra Fuchs, Benjamin Marcus, Miriam Kayser und ich unter der Leitung von Eva Brinkschulte gemeinsam im Team erarbeitet haben. Zu den Methoden des Projekts vgl. Brinkschulte, Eva: Patientenbilder. »Zur Methode der Erschließung historischer Fotografien am Beispiel der digitalen Fotothek des Oskar-Helene-Heims«. In: Jahrbuch des Deutschen Orthopädischen Geschichts- und Forschungsmuseums, 3/2001, S. 233-250.
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mit besonderen Fähigkeiten zu veröffentlichen. 22 Heime, die unter Leitung protestantischer Geistlicher standen, begannen ab 1890 damit, ihren Zöglingen Handarbeiten und Korbflechten zu lehren und ihre Erzeugnisse zu vertreiben. Unübersehbar ist die Nähe zu der Arbeitstherapie psychiatrischer Kliniken. Doch anders als dort ging es den Anstaltsleitern nicht um ein medizinisches Konzept, sondern um die Orientierung der Zöglinge an den bürgerlichen Werten ihrer Zeit. Berichte über handarbeitende junge Frauen illustrierten diese gesellschaftliche Integration. Publiziert in Jahresberichten für Spender und wohlhabende Unterstützer, transportierten die Lebensberichte das Bild häuslicher Frauentätigkeit; einer Beschäftigung allerdings, die in bürgerlichen Kreisen geübt wurde. Die Insassen der Heime waren dort nach dem Armenrecht untergebracht, und sie stammten aus Gesellschaftsschichten, in denen Frauen selbstverständlich arbeiteten, um den Unterhalt ihrer Familien zu bestreiten. Die Berichte über handarbeitende Frauen mit Körperbehinderungen sollten wohlhabende Philanthropen ansprechen. Durch »Ertüchtigung«, schrieb im Jahr 1900 der Hamburger Pastor Heinrich Wilhelmi, in einem Artikel mit dem Titel »Was mag eines Krüppels Leben wert sein?«, würden »Krüppel« zu nützlichen Mitgliedern der »diesseitigen, irdischen Gesellschaft ohne im Mindesten damit Glaube und Hoffnung auf ein jenseitiges, himmlisches Leben aufgeben, oder herabsetzen zu wollen. Wir haben Wert und Gewicht der irdischen Aufgaben beizeiten verstehen gelernt.« 23 Die durch Arbeit entstandene »gesellschaftliche Akzeptanz«, fuhr Wilhelmi fort, sei »der Krüppelfürsorge von Anfang an zu Gute gekommen.« (Ebd.) Finanziell getragen wurden die Anstalten der Inneren Mission von wohlhabenden Stiftern und Vereinen, denen Industrielle und adlige Repräsentanten des Staates vorstanden. Dieses Fundraising wurde zum Modell bürgerlicher Wohltätigkeit und entwickelte sich, als die Begrenzung sozialer Aufgaben unter der Regentschaft Wilhelms II oberste Prämisse wurde, auch zum Modell für staatlich gelenkte Wohlfahrtsorganisationen. Bekanntestes Beispiel ist der Zentralverein für Jugendpflege, der im Jahr 1900 unter dem Eindruck der verheerenden Kindersterblichkeit gegründet wurde. Deutschland belegte bei der Säuglingssterblichkeit (gleichauf mit dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn) den
22 Vgl. z.B. Schäfer, Theodor: »Die taubstumm-blinde Laura Bridgman«, in: Jahrbuch der Krüppelfürsorge, 9/1907, S. 50-52, sowie Wilhelmi, J. H.: »Selma Kunze, die Zungenkünstlerin«, in: Jahrbuch der Krüppelfürsorge, 7/1905, S. 23-29. 23 Wilhelmi, Heinrich: »Was mag eines Krüppels Leben wert sein?«, in: Jahrbuch der Krüppelfürsorge, 2/1900, S. 17-29.
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schlechtesten Platz in Europa. 24 In Berlin lag sie im Durchschnitt bei 25 Prozent und stieg in den dicht besiedelten Quartieren Scheunenviertel und Prenzlauer Berg in den Sommermonaten auf über 40 Prozent. Erstes Ziel des von privaten Spendern getragenen, aber staatlich geleiteten Zentralvereins für Jugendpflege, war die Errichtung des Kaiserin-Auguste-Victoria-Hauses zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. Das zweite Großprojekt war die Errichtung der Krüppelfürsorgeanstalt Oskar-Helene Heim, benannt nach ihren Stiftern, dem Industriellen Oskar Pintsch (1844-1912) und seiner Frau Helene (1857-1923), die der Berliner Vereinigung für Krüppelfürsorge vorstand. Neu an dieser Einrichtung war zunächst, dass sie unter ärztlicher Leitung stand. Anstelle eines Geistlichen wurde ein Pädagoge angestellt: Hans Würtz (1875-1958), der ab 1911 seine eigene pädagogische Lehre entwickelte. Wesentlicher Inhalt der von Hans Würtz selbst so bezeichneten »Krüppelpsychologie« war die Vorstellung, körperbehinderte Menschen würden sich selbst als von ihrer Umwelt so verschieden wahrnehmen, dass sie nie Teil der Gesellschaft werden könnten, »der Krüppel […] ist Gemeinschaftskrank«, 25 lautet eine seiner Kernthesen. Nach Würtz sollten die Körperbehinderten untereinander eine starke aber abgegrenzte Gemeinschaft bilden, die sich an den kulturellen Werten der Gesamt-Gesellschaft orientieren solle. Heute gilt sein segregatives Konzept als Ursprung der Sonderpädagogik. Korrespondierend zu diesen Slogans zeigen die publizierten Fotografien der Anstalt überwiegend Motive, auf denen Jugendliche bei einer handwerklichen Tätigkeit oder im Kontext von Schule und Ausbildung gezeigt werden.
P ATIENTENFOTOGRAFIEN : ACHT B EISPIELE IM HISTORISCHEN K ONTEXT Zunächst zeigten die Abbildungen simple Vorher-Nachher-Bilder. Die erste Fotografie präsentiert ein unbekleidetes Kind mit sichtbarem medizinischem Befund aus leicht erhöhter Perspektive, von oben herab aufgenommen, daneben dasselbe Kind in Kleidung und ordentlicher Frisur und in gerader Haltung, nun (wie in Abb. 1) auf Augenhöhe fotografiert. Weit mehr als einen medizinischen Behandlungserfolg führen diese Abbildungen eine erfolgreiche Resozialisierung vor. Spätere Bildtafeln (Abb. 2) sparten medizinische Details aus, auf dem ersten
24 Baum, Marie: »Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit«, in: Zeitschrift für das Armenwesen, 7/1906, S. 45-52. 25 Würtz, Hans: Das Seelenleben des Krüppels. Leipzig: Voss 1921, S. 3.
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Bild ist das nackte Kind zu sehen, daneben steht es in Anstaltskluft an einer Werkbank.
Abb. 1: »Völlig schlaffe Lähmung des linken Fusses, Lähmungsplattfuss rechts. Geheilt durch Verödung des Sprunggelenks links mit Verlagerung der Sehnen in das Schienbein, durch Sehnenscheidenauswechselung rechts. Die Apparate werden nur während der Nachbehandlung getragen.« Quelle: Krüppel-Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin-Brandenburg e. V. (Hg.): Dritter Rechenschaftsbericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für die Zeit von Januar 1909 bis September 1910. Berlin 1910.
Ein weiterer Schwerpunkt der Abbildungen liegt auf medizinischem Gebiet. Rehabilitation durch Chirurgie und Arbeit wurde zur Botschaft der »produktiven Krüppelfürsorge« 26. Die visuelle Umsetzung dieser Botschaft aber unterlag einer kontinuierlichen Entwicklung. Bilder zu veröffentlichen war teuer. Der Druck gerasterter Fotografien war erst um 1898 halbwegs erschwinglich geworden, um 1910 kostete die Publikation einer Bilderseite das Zehnfache einer Textseite. Anstaltsleiter Biesalski kannte sich aus. Nach dem Studium war er nicht als Mediziner, sondern als Fotograf hervorgetreten. Er gestaltete Fotobände, experi26 Der Begriff fällt unter anderem in einer Werbeanzeige des Jahres 1931: o. A.: Unterstützen Sie die produktive Krüppelfürsorge durch Übertragung von Arbeiten an die Lehrwerkstätten des Oskar-Helene-Heims. Mitteilungen aus dem Oskar-Helene-Heim 5 (1931), H. 1, S. 8.
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mentierte mit Farbfotografie, 27 beriet den Künstler Adolph von Menzel (18151905) in Reprotechniken und war Kritiker einer Zeitschrift professioneller Fotografen. 28 Erst mit dem Aufkommen der Röntgentechnik konnte er seine Kenntnisse aus dem Fotolabor als Arzt einbringen. Als ihm die Leitung der kleinen Sieben-Betten-Klinik mit dem Namen Krüppel-, Heil- und Erziehungsanstalt für Berlin und Brandenburg übertragen wurde, war er bereits ein gefragter Mann für Öffentlichkeitsarbeit.
Abb. 2: »Bildtafel in einer Festschrift zum 20. Jubiläum des Oskar-Helene-Heims.« Quelle: Geschäftsführender Ausschuß des Krüppel-Heil- und Fürsorge-Vereins für BerlinBrandenburg e. V.: Zwanzig Jahre Krüppelfürsorge im Oskar-Helene-Heim für die Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder. Zentral-Forschungs- und Fortbildungs-Anstalt für die Krüppelfürsorge in Preußen und im Deutschen Reiche. Eine Festschrift. Berlin 1926.
27 Vgl. Benda, C./Biesalski, Konrad: »Die Farbfotographie nach Lumière im Dienste der Medizin (mit Demonstration)«, in: Deutsche Medicinische Wochenschrift, 33/1907, S. 1921. 28 Vgl. z.B.: Biesalski, Konrad: »Ausstellung für künstlerische Photographie«, in: Photographische Mitteilungen, 5-7, 36/1899 [Sonderdruck].
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Kaum ein Bild aus Biesalskis Anstalt, aus der 1911 das Oskar-Helene-Heim mit über 300 Betten hervorgehen sollte, wurde ohne professionelle Retusche publiziert. Das ging mit mehrfachen Reproaufnahmen auf Glasplattennegativen einher. Das Kürzel Bx am rechten unteren Bildrand ziert die Fotografien aus den frühen Jahren. 1910 oder 1911 erhielt die Anstalt eine eigene Fotografische Abteilung. Anna Plothow (1853-1924), eine Journalistin, die für das Berliner Tageblatt in hoher Frequenz positiv über die Einrichtung berichtete, 29 hatte angeregt, die weiblichen Zöglinge nicht mehr, wie der Anstaltsleiter es in seinen ersten Überlegungen vorgesehen hatte, zu Dienstmädchen zu erziehen, sondern sie in ›modernen Frauenberufen‹ auszubilden. Diese Forderung machte sich auch die Vereinsvorsitzende Helene Pintsch zu Eigen. Lehrerinnen aus der Lette Schule, in der das Berufsbild der ›medizinischen Assistentin‹ entwickelt worden war, kamen in die Anstalt und bauten ein Ausbildungsprogramm für Fotografinnen auf, die in der Röntgenabteilung und für die Öffentlichkeitsarbeit der Anstalt tätig waren. Im Folgenden soll die Entwicklung und Verfeinerung der Bildpropaganda anhand einiger Beispiele nachvollzogen werden. Trotz der Ausrichtung auf Erziehung und Arbeit beginnt die Reihe der publizierten Krankheitsbilder des Oskar-Helene-Heims mit Motiven, die aus dem Kontext der konfessionellen Heime hätten stammen können. Als im Jahr 1908 erstmals Schulärztliche Untersuchungen in Berlin durchgeführt wurden, offenbarte sich, dass allein in den Innenstadtbezirken über 2000 Kinder an Lungen- oder Knochentuberkulose litten. 30 Anders als im Erwachsenenalter befiel Tuberkulose bei Kindern überwiegend Knochen und Gelenke. 31
29 Die Rolle Anna Plothows hat Oliver Musenberg in seiner hervorragenden Biographie des Sonderpädagogen Hans Würtz nachgezeichnet (vgl. Musenberg, Oliver: Der Körperbehindertenpädagoge Hans Würtz (1875–1958). Eine kritische Würdigung des psychologischen und pädagogischen Konzeptes vor dem Hintergrund seiner Biographie (= Schriftenreihe Sonderpädagogik in Forschung und Praxis, Band 2), Hamburg 2002. 30 Insgesamt wurden 2090 Kinder aufgrund der Verdachtsdiagnose TBC überwacht. Meyer, Paul: »Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte 1908/09«, in: Zeitschrift für das Armenwesen, 12/1911, S. 211-214. 31 Ärzte begründeten diese altersspezifische Besonderheit damit, dass die gut durchbluteten Wachstumszonen der langen Röhrenknochen ein für die Ansiedlung des Tuberkuloseerregers besonders günstiges Milieu böten. Die Mortalität war hoch. In der Zeit vor der Einführung der Antibiotika starben über 25% der Kinder mit Wirbelsäulentu-
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In den ersten Jahren des Bestehens des Oskar-Helene Heims kamen mehr als ein Viertel der Kinder mit der Diagnose Tuberkulose in die Anstalt. Grund dafür war der Mangel an Therapiestätten für Kinder und Jugendliche. 32
Abb. 3: »Ella K. Wirbelsäulentuberkulose. Linksseitige Krampflähmung. Strickt einhändig, ist die beste Strickerin und Maschinenschreiberin an der Schreibmaschine für Einarmige.« Quelle: Krüppel-Heil- und Fürsorgeverein für Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.): Zweiter Rechenschafts-Bericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für die Zeit von November 1907 bis Ende 1908. Berlin 1909.
Und obwohl die Erziehung zur Arbeit oberstes Ziel des neuen Heims der »modernen Krüppelfürsorge« war, existiert in den zwischen 1906 und 1926 publizierten und reich illustrierten Rechenschaftsberichten der Anstalt nur ein einziges Bild, das einen Patienten mit Tuberkulose bei einer Tätigkeit zeigt; ein striberkulose an ihrer Krankheit (vgl. Fliegel, Otto: Klinik und Therapie der Knochen und Gelenktuberkulose. Leipzig: Weidmann 1937, S. 9-15). 32 3667 Anträgen der Landesversicherungsanstalt Berlin auf Tuberkulose-Heilverfahren für Erwachsene standen im Jahr 1909/10 lediglich 27 Anträge auf Einweisung von Kindern gegenüber. o. A.: »Tuberkulose-Fürsorgeverfahren der Landesversicherungsanstalt Berlin«, in: Zeitschrift für das Armenwesen, 12/1911, S. 183-184.
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ckendes Mädchen (Abb. 3). Sie wird den Lesern als Ella K. vorgestellt: Das Mädchen im Schulkindalter ist mit einer Kittelschürze bekleidet und sitzt, zur linken Seite geneigt, auf einem Stuhl, der vor einer Leinwand platziert ist. In ihrer rechten Hand hält sie eine Nadel und das Produkt ihrer Strickarbeit. Die zweite Stricknadel hält das Kind unter den Oberarm geklemmt. Die Bildunterschrift nennt in drei Worten Diagnose und Symptomatik: »Wirbelsäulentuberkulose. Linksseitige Krampflähmung«. Ausführlich hingegen werden die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Patientin hervorgehoben. Ella K. ist die einzige Patientin, die in den Rechenschaftsberichten des Oskar-Helene-Heims namentlich erwähnt wird. Ella K. wurde im Januar 1907 als vierte Patientin in die Anstalt aufgenommen und verbrachte dort 6 ½ Jahre, bis zu ihrem Tod am 21. Juli 1913. 33 Aus dem Bilderkanon des Oskar-Helene-Heims fällt die Fotografie des Mädchens heraus. Sie repräsentiert die klassische Bildtradition konfessionell getragener Krüppelfürsorgeeinrichtungen, die Mädchen und junge Frauen bei Tätigkeiten und in Posen präsentierten, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal der Zeit entsprachen.
Abb. 4: »Orthopädischer Operations- und Verbandstisch. Knabe mit WirbelsäulenTuberkulose in Extension an Kopf und Füßen vor Anlegung des Gipsverbandes.« Quelle: Krüppel-Heil- und Fürsorgeverein für Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.): Zweiter Rechenschafts-Bericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für die Zeit von November 1907 bis Ende 1908. Berlin 1909.
33 »Name: Ella K[…]. Nr. des Aufnahmebuches: 4. Aufgenommen am: 24.1.07. Entlassen am: 21.7. 13. Entlassen als: †. Nummer der Krankenakte 1906/07M8.« Archiv des Oskar-Helene-Heims: Krankenregister 1906 bis 1929, Blatt 52.
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36 weitere Abbildungen von körperbehinderten Kindern mit Knochen- und Gelenktuberkulose publizierte die Anstalt bis 1926 in ihren Jahrbüchern. Sie alle führen medizinische Eingriffe vor. In den frühen, bis einschließlich 1910 publizierten Bildern findet sich ein ungebrochenes Nebeneinander von technischer Faszination und körperlicher Gewalt, gerade bei den Darstellungen die sich mit der Therapie der Tuberkulose befassen. Das Bild eines Jungen, der an Hüfte, Kopf und Füßen über einen Verbandstisch gespannt ist (Abb. 4), stammt aus demselben Bericht wie das Foto der Ella K. Kein über die Bildunterschrift hinausgehender Text erläutert Sinn und Zweck der Behandlung. An der Sorgfalt dagegen, mit der die Fotografie inszeniert ist, wird deutlich, wie viel Wert auf eine korrekte Belichtung der Szene, auf Tiefenschärfe und auf Komposition gelegt wurde. Die folgende Seite des Rechenschaftsberichts aus dem Jahr 1909 präsentiert ein Übungsgerät »zur Redression schwerer Wirbelsäulen-Verbiegung«. Der Entwickler des Geräts, der Orthopäde Louis Wullstein (1864-1931), hatte für die Präsentation seines Verfahrens eine weiblichen Leiche mit frei präparierter Wirbelsäule in dem Gerät platziert, um die Geraderichtung des Rückens im Verlauf der Übung zu visualisieren. 34 Die von Wullstein publizierten Fotografien waren aus derselben Perspektive aufgenommen, wie die in Abbildung 5 wiedergegebene Fotografie Biesalskis. Der Berliner Krüppel-, Heil- und Fürsorgeverein gehörte zu den ersten öffentlichen Institutionen, die den sogenannten »Wullsteinschen Rahmen« erwarben (Abb. 5). Sonst fand sich das kostspielige Gerät nur in den gymnastisch-orthopädischen Privatinstituten, die einem gehobenen Kundenkreis dienten. Auch sie zeigten ihren Gerätepark in bebilderten Prospekten. Die aber bildeten entweder gar keine Patienten oder elegant gekleidete Herren ab. Das Berliner Heim dagegen entschied sich für eine Präsentation seiner Geräte, die mehr oder weniger direkt der Bebilderung in medizinischen Fachorganen entsprach.
34 Vgl. Wullstein, Louis: Die Skoliose in ihrer Behandlung und Entstehung nach klinischen und experimentellen Studien. Stuttgart: Union 1902.
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Abb. 5: »Wullsteinscher Rahmen zur Redression schwerer Wirbelsäulen-Verbiegung. a. vor, b. nach der Anwendung.« Quelle: Wullstein, Louis: Die Skoliose in ihrer Behandlung und Entstehung nach klinischen und experimentellen Studien. Stuttgart: Union 1902.
Es existieren keine Informationen darüber, wie die Leserinnen und Leser der Rechenschaftsberichte Bilder von Kindern aufnahmen, die nackt und in gestreckter Haltung über Verbandstischen schwebten oder in Übungsgeräte eingespannt waren. Im Jahr 1909 scheint der Glaube an den technischen Fortschritt ungebrochen. In der angelsächsischen Literatur finden sich erste kritische Töne, etwa durch H.G. Wells, 35 der seine ersten Erfolge als Wissenschaftsschriftsteller feiert. In Deutschland werden populäre Bearbeitungen des Themas, etwa in Ernst Tollers (1893-1939) Technik-Dystopie »Maschinenstürmer« (1922) und durch Oskar Schlemmers futuristisches Ballett der Stangenmenschen 36, erst zehn Jahre später in Szene gesetzt – nach dem Ersten Weltkrieg, in dessen ersten Jahren die medizinische Versorgung amputierter Soldaten über wandernde Kriegsausstellungen einem Massenpublikum anhand von Puppen, Dioramen und Fotografien präsentiert wurde.
35 Wells, Herbert George: Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought. London: Chapman & Hall 1902. 36 Droop, Fritz: Ernst Toller und seine Bühnenwerke. Mit selbstbiographischen Notizen des Bühnendichters. Leipzig: Schneider 1922.
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Einen prominenten Zeugen hat die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen dieser Periode. In den ersten Wochen des Krieges besichtigte der Versicherungsjurist Franz Kafka (1883-1924) für die Arbeiter-Unfallversicherung ein Heim für körperbehinderte Kinder, das nach dem Vorbild des Oskar-Helene+HLPV YRU GHQ 7RUHQ 3UDJV HUULFKWHW ZXUGH 'LH -HGOLþND $QVWDOW VROOWH LQ HLQH Einrichtung der ›Kriegskrüppelfürsorge‹ umgewandelt werden. Wie auch in Berlin machten die Kinder verwundeten Soldaten Platz. Für die Behandlung kamen die bisherigen Unfallversicherungen der Soldaten aus dem Zivilleben auf. In zwei Zeitungsartikeln schildert Kafka die Finanzierung der Kriegsinvalidenfürsorge. Es sind harmlose Texte, wie sie sich zu hunderten in den teils mehr, teils weniger der Kriegspropaganda verpflichteten Zeitungen finden. 37 Das Wort ›Krüppel‹ benutzt Kafka nicht. Und auch die in ähnlichen Texten stets hervorgehobenen Behandlungen mit Operationen und medico-mechanischen Geräten und Prothesen stehen für ihn nicht im Zentrum. Der früheste Text allerdings, den Kafka in engem zeitlichem Zusammenhang mit seiner ersten Führung durch die noch mit Kindern bevölkerte Anstalt verfasste, ist literarischer Art. Er entstand im Oktober 1914 und trägt den Titel »In der Strafkolonie«. Und er enthält die Beschreibung eines Apparats und einer Prozedur. 38
37 Kafka, Franz: »Helft den Kriegsinvaliden! Ein dringender Aufruf an die Bevölkerung«, in: Prager Tageblatt, 16. Dezember 1916. Herausgegeben von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner: Franz Kafka: Amtliche Schriften. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 506–512, sowie Kafka, Franz: »Helft den Kriegsinvaliden!«, in: Deutsche Zeitung Bohemia, 10. Mai 1917, Ebendort S. 513-14. 38 Bisher wurde dieser Zusammenhang in keiner mir bekannten literaturhistorischen Arbeit über die Strafkolonie berücksichtigt. Mit den Beschreibungen technischer Abläufe befasst sich: Weitin, Thomas: »Revolution und Routine. Die Verfahrensdarstellung in Kafkas Strafkolonie«, in: Höcker, Arne; Simons, Oliver (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld: transcript 2007, S.255-268. Weitere Arbeiten betonen den kolonialen Aspekt (vgl. Zilcosky, John: Kafka’s travels: exoticism, colonialism, and the traffic of writing. New York: Palgrave Macmillan 2003). Andere stellen in Analogie zu Lyotard das Ausgeliefertsein des Körpers für Empfinden und Schmerz in den Mittelpunkt (vgl. Curtis, Neal: »The Body as Outlaw: Lyotard, Kafka and the Visible Human Project«, in: Body & Society, 5/1999, S. 249–266). Eine frühere Studie weist in eine ähnliche Richtung (vgl. Schmidt, Ulrich: »Von der Peinlichkeit der Zeit: Kafkas Erzählung in der Strafkolonie«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 28/1984, S. 407445). Vgl. auch Kafka, Franz: In der Strafkolonie: Eine Geschichte aus dem Jahr 1914.
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Quellen,
Abbildungen,
Materialien
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»›Schade, daß Sie den früheren Kommandanten nicht gekannt haben! – Aber‹, unterbrach sich der Offizier, ›ich schwätze, und sein Apparat steht hier vor uns. Er besteht, wie Sie sehen, aus drei Teilen. Es haben sich im Laufe der Zeit für jeden dieser Teile gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen ausgebildet. Der untere heißt das Bett, der obere heißt der Zeichner, und hier der mittlere, schwebende Teil heißt die Egge. […] Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, wie ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, daß er dem Mann gerade in den Mund dringt.‹« 39
Es wäre zu eng gefasst, Kafkas »Strafkolonie« als das Zeugnis der Verarbeitung seiner Begegnungen mit der medizinischen Behandlung von Körperbehinderten zu interpretieren. Und doch evoziert die Lektüre der Erzählung ähnliche Emotionen, wie die nüchterne Darstellung von Kindern als Objekten medizinischer Behandlung. Das Jahr 1911 markiert einen Wendepunkt für die Art und Weise, in der die Vertreter der »modernen Krüppelfürsorge« Körperbehinderte abbilden. Es ist das Jahr der Internationalen Hygieneausstellung. Zunächst privat organisiert von dem Mundwasserfabrikanten Karl August Lingner (1861-1916), entwickelt sich die Freiluftausstellung im Dresdner Großen Garten zu der größten Ausstellung der Kaiserzeit mit mehr als fünf Millionen Besuchern. Produkte, von Zigarren über Glühbirnen bis hin zu Waschmittel und Fertighäusern, wurden wie auf einer Messe kostenpflichtig ausgestellt. Kostenlos konnten staatliche und gemeinnützige Organisationen ihre Arbeit präsentieren. Darüber, dass die Präsentationen der Gesundheitseinrichtungen nicht abschreckend wirkten, wachte ein »Statistisches Büro«. Es arbeitete eng mit dem preußischen Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten zusammen und wurde in den folgenden Jahren zu einer Stabsstelle für Gesundheitspropaganda – nicht zuletzt die großen Kriegsausstellungen wurden hier konzipiert. Als sich die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge entschloss, an der Hygieneausstellung teilzunehmen, wurde sie nicht etwa Objekt der Belehrungen durch das »statistische Büro«; im Gegenteil. Konrad Biesalski entwickelte die
sicherungsanstalt, Chronik und Anmerkungen von Klaus Wagenbach. Berlin: Wagenbach 1977. 39 Kafka, Franz: In der Strafkolonie (= Gesammelte Werke. Band 5), Frankfurt a.M.: S. Fischer 1950, S. 151-177, hier S. 152-154.
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Richtlinien dieser Institution ganz maßgeblich mit. Aus dem informellen Beraterstab wurde ein politisches Lenkungsgremium für die öffentliche Darstellung von Zielen der Gesundheitspolitik. Seit der Dresdner Hygiene-Ausstellung von 1911 saß Biesalski als Berater in den vom preußischen Kultusministerium kontrollierten Ausschüssen zu Propagandafragen. Er konzipiere die Darstellung der so genannten »Kriegskrüppelfürsorge« in den Kriegsausstellungen des Ersten Weltkriegs (die von 1915 bis Anfang 1917 Publikumsmagneten waren), wurde Mitglied im medizinischen Ausschuss der Bildstelle der neu gegründeten Ufa 40 und nach dem Krieg ständiges Mitglied des Preußischen Landesgesundheitsrats 41 und der Reichsarbeitsgemeinschaft für soziale Hygiene und Demographie. 42 1926, auf der größten Ausstellung der Weimarer Republik, der Düsseldorfer Ausstellung »Gesundheit, Soziale Fürsorge und Leibesübungen (GESOLEI)«, oblag dem Oskar-Helene-Heim die Aufgabe, das offizielle, staatliche Konzept der Versorgung körperbehinderter Menschen zu vertreten. Hier stellte insbesondere die Orientierung an dem von Konrad Biesalski geprägtem Begriff »Sozialbiologie« einen wesentlichen Unterschied zu den Überzeugungen der katholischen Heime für Körperbehinderte dar. Ihre Vertreter wehren sich auf der Düsseldorfer Ausstellung erstmals offensiv gegen die These des Oskar-HeleneHeims, ein Anspruch auf medizinische Versorgung müsse mit der potentiellen Leistungsfähigkeit des Patienten für die Gesellschaft verknüpft werden. 43 Für die Dresdner Ausstellung des Jahres 1911 erhielt Biesalskis Organisation einen großzügigen eigenen Ausstellungspavillon mit Dioramen zur Darstellung der häufigsten orthopädischen Krankheitsbilder und einer Filmvorführeinrichtung. Die für die Ausstellung erstellten Materialien, Diaserien, Plakate und der Film wurden vom statistischen Büro der Hygieneausstellung über Jahre hinweg gegen Leihgebühren vertrieben. Die groß angelegte Dresdner Schau sollte zum Grundstock eines »Museums für Krüppelfürsorge« werden, mit eigenem Gebäude direkt neben dem Zehlendorfer U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim. Dazu kam es
40 Dietrich, Eduard: »Der medizinische Ausschuss der Bildstelle«, in: Kulturabteilung der Universum-Film A.-G. (Hg.): Das Medizinische Filmarchiv bei der Kulturabteilung der Universum- Film AG. Berlin: Gahl 1919, S. 9-11. 41 Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin Rep. 76 VIII B, Nr. 1677. 42 Reichsausschuß für hygienische Volksbelehrung: »Prof. Dr. Konrad Biesalski †«. Hygienischer Wegweiser. In: Zentralblatt für Technik und Methodik der hygienischen Volksbelehrung, 5/1930, S. 57. 43 Vgl. Osten, Philipp: Die Modellanstalt. Über den Aufbau einer modernen Krüppelfürsorge (1905-1933). 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag 2012, S. 282-324.
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nicht, aus dem gleichen Grund, aus dem auch das Dresdner Hygienemuseum nicht 1916 eröffnet werden konnte. Die Gelder der Trägervereine waren in Kriegsanleihen angelegt, der Rest ging durch die Inflation verloren. Erst 1926 wurde im Oskar-Helene-Heim ein Museum eröffnet. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Objekte, Schautafeln, Prospekte und Filme stetig gewachsen. Als Exponate wurden sie auf über hundert verschiedenen Ausstellungen präsentiert. Sich ihrer wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit bewusst, änderte die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge den Bilderkanon, mit dem sie sich präsentierte. Anlässlich der Dresdner Ausstellung verfasste Konrad Biesalski einen »Leitfaden für Krüppelfürsorge« 44. Er dokumentiert die Abkehr von martialischen Motiven und war nun ganz auf die bürgerlichen Unterstützer der Anstalten zugeschnitten. In Stimmungsbildern sollten positive Emotionen geweckt werden. Biesalski schrieb: »Besucher der Krüppelheime erwarten dort Trauer, Grauen und Jammer zu finden und sind meist auf das Höchste überrascht, wenn ihnen lärmender Frohsinn, Lachen und all der Jubel der Jugend entgegenklingt«. 45
Nach diesem Muster wurde der Film produziert, den die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge in ihrem Ausstellungspavillon zeigte. Da die Anstalt zu diesem Zeitpunkt in einem weitgehend baufälligen ehemaligen Jugendgefängnis untergebracht war, baute man Werkstätten und Schulräume als offene Kulissen im Freien auf. »Alles Unangenehme und Abstoßende ist vermieden, es kommt lediglich das Versöhnliche und Heitere der großen Kinderstube zur Anschauung und übt nach der bisherigen Erfahrung auf Laien eine ungewöhnlich aufklärende, werbende, ja begeisternde Wirkung aus. Der Zuschauer sieht das Turnen der Knaben und Mädchen, den Gang zur Schule, wobei das ganze Volk vergnügt vorbeidefiliert an Krücken, Gehbänken, auf Wagen, Selbstfahrern, Huckepack und per pedes apostolorum, den Unterricht in der Schule, die Handfertigkeit beim Hobeln, den Werkunterricht, das Modellieren, die Herstellung einer Waage, die Handwerksstuben, Schneiderei, Korb- und Stuhlflechten, das Schmieden und Feilen, Sticken, Nähen und Essen einhändiger Zöglinge, drollige Intima aus dem Babyzimmer,
44 Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt. Der vier Jahre später erschienene Leitfaden der Kriegskrüppelfürsorge kam auf 150 000 gedruckte Exemplare. 45 Biesalski, Konrad: Leitfaden der Krüppelfürsorge. Leipzig 1911, S. 48.
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eine vergnügte Gesellschaft beim Mittagessen, Spiele und Tanz im Freien, kurz das ganze ernste und heitere Treiben in einer Anstalt, das uns so vertraut ist und den anfangs zaghaften, fremden Besucher so schnell gefangen nimmt.«
Die Inhaltsangabe des Films offenbart die intendierte Zielgruppe. Die Vermeidung des »Unangenehmen« bedeutete den Verzicht auf medizinische Darstellungen. Aufklärend, werbend und begeisternd wurde gleichermaßen an die Herzen wohltätiger Spender wie an das ökonomische Kalkül der Provinzialverbände appelliert, die gemeinsam für die Unterbringung der Kinder aufkommen sollten. Auf der Hygiene-Ausstellung wurde das Werbekonzept zur gesellschaftlichen Etablierung der »Krüppelfürsorge« erstmals erfolgreich erprobt. Angeblich herrschte in dem Ausstellungspavillon »lebensgefährliches Gedränge« und 320 000 Besucher wurden gezählt. 46 »Allerlei niedliche Szenen aus dem Leben des Hauses« herzustellen sollte das vorrangige Ziel der Bildpropaganda der Jahre 1911 bis 1914 sein. 47 »Eine frische Sendung«, ist der Titel einer Fotografie (Abb. 6), die einen kleinen Jungen in einem Weidenkorb zeigt. Für den Kreis der Spender und Unterstützer war die Anspielung auf das erste Buch Mose offensichtlich. Zugleich war das Bild ein Hinweis darauf, dass dem Heim die meisten Kinder aus dem Waisenhaus Rummelsburg zugewiesen wurden. Eine Praxis, die Anstaltsleiter Biesalski dazu missbrauchte, chirurgische Experimente an seinen Zöglingen durchzuführen. 48
46 o. A.: Die Dresdener Ausstellung. Zeitschrift für Krüppelfürsorge 5/1912, S. 2-3. 47 Konrad Biesalski in einem Brief, in dem er einen potentiellen Spender bittet, seiner Anstalt eine kinematographische Anlage zu stiften. Handakte Biesalski, 1914, Archiv Oskar-Helene-Heim. 48 1910 erhielt er massive Kritik von seinen Berliner Kollegen für die experimentelle Transplantation eines Gelenks von einem Jungen mit Kinderlähmung auf ein Kind mit Knochentuberkulose. Vgl. Biesalski, Konrad: Ein Fall von heterologer Gelenktransplantation. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für orthopädische Chirurgie, 9/1910. Beilageheft der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie, 27/1910, S. 426-428. Zur ethischen Bewertung dieser Praxis im Kontext des Jahres 1910 vgl. Osten: Modellanstalt, S. 177f.
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Abb. 6: »Eine frische Sendung.« Quelle: Krüppel-Heil- und Fürsorgeverein für Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.): Vierter Rechenschafts-Bericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für die Zeit von Oktober 1910 bis September 1912. Berlin 1912.
Ein weiteres Bild (Abb. 7) zeigt ein Sommerfest. Es fand kurz vor Ausbruch des Krieges im Garten der Anstalt statt. Bereits bei dem Jungen im Weidenkorb war keine Behinderung sichtbar. Auch das Bild mit tanzenden Kindern, Musikern und einem Karussell, ist nur mit Mühe als Krankenhausszene zu identifizieren, einziger Hinweis sind die Schwestern, ein Mädchen im Rollstuhl und ein Junge mit einer Gehbank. Die bewegten Motive wurden aufwändig inszeniert und aus einer erhöhten Position aufgenommen. Das Bild wurde erst 1915 gedruckt, wie vorgeschrieben auf minderwertigem Kriegspapier, daher die geringe Qualität der Reproduktion im Vergleich zu den fein gerasteten Hochglanzabbildungen der früheren Jahre. Ikonographisch erinnert die Szene an Motive aus dem Frühwerk Max Liebermanns (1847-1935) (Abb. 8). Der Maler war in den 1880er Jahren mit Bildern aus holländischen Waisenhäusern bekannt geworden. Pleinairismus nannte er seinen Stil. Seine Bilder provozierten zunächst, denn sie zeigten Menschen aus unteren gesellschaftlichen Schichten. 30 Jahre später, im Jahr 1914, galten sie als Meisterwerke und Liebermann wurde als Vordenker einer neuen Orientierung auf Sonnenlicht, Freiluft und Natur interpretiert. Die Rolle, die Licht, Luft und Sonne im Kontext medizinischer Behandlungen um 1910 spielten, ist vielschichtig. Kaum war das Oskar-Helene-Heim aus der maroden Kreuzberger Erziehungsanstalt in den Grunewald gezogen, fand der Schulunterricht im Freien statt und die Betten standen vom Frühjahr bis in den Herbst in halboffenen Lie-
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gehallen. Sonnenlicht galt als Mittel gegen die Tuberkulose und es heilte Rachitis. In Frischluft-Liegehallen breiteten sich Infektionen erwiesenermaßen weniger rasch aus als in geschlossenen Räumen.
Abb. 7: »Auf dem zur Waldschule gehörigen Turnplatz« Quelle: Krüppelkinder-Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.): Fünfter Rechenschaftsbericht über das Oscar-Helene-Heim für Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder für die Zeit vom Oktober 1912 bis September 1915. Berlin 1915. Abb. 8: Max Liebermann: »Spielende Kinder«
49
Quelle: Liebermann, Max: Acht farbige Wiedergaben seiner Werke: Mit einer Einführung von Hans Wolff. Leipzig: Seemann 1917.
Die neue Strategie der angenehmen Bilder hatte durchaus einen politischen Hintergrund. Das eben erst aufgestellte Fürsorgemodell stand in der Kritik. Eltern waren nicht bereit, ihre Kinder für lange Zeit in Heimen unterzubringen. Noch (bis zu dem Gesetz von 1920) waren Körperbehinderungen im Sinne der Versicherungsordnungen keine Krankheiten, sondern so genannte »statische Leiden« 50. Für ihre medizinische Behandlung mussten die Betroffenen und ihre Familien selbst aufkommen. Nur wenige konnten sich das leisten. Nach dem Berliner Modell der »modernen Krüppelfürsorge« zahlten die Armenverbände für die Unterbringung der Kinder und finanzierten so den Betrieb der Anstalten. Alles war daher auf lange Verweildauer ausgerichtet, Patienten sollten bis zum Abschluss ihrer Berufsausbildung in der Anstalt bleiben. Die Gelder für die zusätzlichen medizinischen Kosten wurden über Spenden eingeworben. Nur das Gesamtkonzept trug: Als Sozialdemokraten nachdrücklich eine Aufnahme orthopädischer Behandlungen in den Leistungskatalog der allgemeinen Kranken49 Das Bild »Spielende Kinder«, 1882, Öl auf Leinwand, 41 × 69 cm, gehörte zur Sammlung Emil Meiner und ist verschollen. 50 Köhne, Paul: Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883/10. April 1892. Stuttgart: Enke 1892, S. 83.
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kassen forderten, schien das Modell Krüppelheim gefährdet. Operationen wären dann in den chirurgischen Abteilungen herkömmlicher Krankenhäuser durchgeführt worden. Alles änderte sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Die exponierte Rolle des Berliner Anstaltsleiters Biesalski in der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums für Medizinalangelegenheiten führte dazu, dass er sich als Organisator der »Kriegskrüppelfürsorge« profilieren konnte. Der erste Schritt bestand darin, in den für Kinder errichteten Heimen Platz für Soldaten zu schaffen: »….der eine wird seine Kinder zusammendrängen können und etwa die Schulklassen frei machen; der andere hat [...] vielleicht Baracken oder ein leerstehendes Haus oder ein Gebäude, das er räumen kann; dem dritten nehmen einen Teil der Pfleglinge vielleicht gute Freunde oder Nachbarn ab….«, 51 schrieb Biesalski im Spätsommer 1914 in einem Aufruf an seinen Kollegen. Die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge, bisher ein Interessenverband mit wenigen hundert Mitgliedern, baut er zu einer gigantischen Organisation aus. Staats- und Reichsministerien, Handelskammern, Kirchenbehörden, Landesversicherungsanstalten, Krankenkassen, Unfallversicherungen, Berufsgenossenschaften, Zechen, Fabriken und Eisenbahndirektionen treten ihr bei. 52 Sie alle finanzieren die orthopädische Nachbehandlung amputierter Soldaten und ihre Umschulung auf neue, der Behinderung gerechte Berufe. Wenn ein Fabrikarbeiter einberufen wurde, behielt er seinen Versicherungsstatus. Unfallversicherungen, die im Zivilleben bei Arbeitsunfällen für Renten und Behandlung aufkamen, waren verpflichtet, die Kosten für Kriegsverletzungen ihrer Mitglieder zu tragen. Damit wurde erstmals das Modell der beruflichen Rehabilitation zum Ziel der Behandlung erhoben. Freiwillig waren Behandlung und Ausbildung im Lazarett Oskar-Helene-Heim nicht. Kriegsbeschädigte »schulden ihre Kraft dem Vaterland«, 53 schrieb der Leiter des Wohlfahrtswesens der Rheinprovinz, Johannes Horion (1876-1933), in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge. Die verwundeten und amputierten Soldaten waren Militärpersonen. Wer sich ärztlichen Anordnungen oder der Ausbildung in den Werkstätten der »Krüppelfürsorge« wider-
51 o. A.: Aus der Deutschen Vereinigung. Zeitschrift für Krüppelfürsorge, 7/1914, S. 267-277, hier S. 269. 52 Biesalski, Konrad: »Die Tätigkeit der Deutschen Vereinigung im Kriege«, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge, 12/1919, S. 185-191. 53 Horion, Johannes: »Schwierigkeiten bei der Berufsberatung Kriegsbeschädigter. Wie ist der Kriegsbeschädigte zu behandeln, der dem erteilten Rat nicht folgen will?«, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge, 10/1917, S. 58-63.
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setzte, verweigerte Befehle und hatte mit disziplinarischen Konsequenzen zu rechnen. Eine Folge des auf Autorität und Gehorsam basierenden Rehabilitationskonzepts war, dass alle gehfähigen Insassen des orthopädischen Sonderlazaretts das Oskar-Helene-Heim innerhalb weniger Stunden nach Kriegsende verließen. An anderen Orten kam es in den orthopädischen Lazaretten zu Konfrontationen zwischen ärztlicher Leitung und Revolutionären, die im Interesse der nicht transportfähigen Patienten versuchten, Kontrolle über die Räumlichkeiten zugewinnen. 54 Das jähe Ende der »Kriegskrüppelfürsorge« führte dazu, dass in den nach 1918 publizierten Bildern kaum mehr Soldaten zu sehen waren, obwohl Propagandabroschüren, Fachartikel, Ausstellungen, Filme und feierliche Reden, der vorangegangenen Jahre ausschließlich ihnen gegolten hatten. In dem Film KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE ist nur noch ein kurzer Ausschnitt mit exerzierenden Jugendlichen aus der Kriegszeit zu sehen, die im Jargon der Anstalt als »Ohnhänder« bezeichnet wurden.
Abb. 8: Standbilder aus dem KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE
55
Quelle: D, 1920, R.: Nicholas Kaufmann.
54 Vgl. Osten, Philipp: »Heidelberg als Lazarettstadt im Ersten Weltkrieg«. In: Meusburger, Peter; Schuch, Thomas (Hg.), Wissenschaftsatlas der Universität Heidelberg. Knittlingen: Verl. Bibliotheca Palatina 2011, S. 128-129. 55 Standbilder aus dem Film KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE, hergestellt in den Jahren 1910 bis 1920 unter der Regie von Kurt Thomalla, Nicholas Kaufmann und Konrad Biesalski.
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Z USAMMENFASSUNG Die Kampagnen der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge verfolgten das Ziel, das Bild körperbehinderter Menschen in der Öffentlichkeit zu prägen. Mit hohem finanziellen und personellen Aufwand betrieb die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge eine auf dem Gebiet des Gesundheitswesens bis dahin beispiellose Öffentlichkeitsarbeit. Im vorliegenden Beitrag wurden die ersten zehn Jahre dieser Bildproduktion an ausgewählten Beispielen analysiert. Dabei offenbart sich, wie präzise die publizierten Fotografien körperbehinderter Kinder an die jeweiligen politischen, ökonomischen, weltanschaulichen und fachpolitischen Ziele der Institution angepasst wurden. Früh traten die dem bekannten Kanon konfessioneller Einrichtungen entsprechenden Bilder in den Hintergrund, die Identifikation wecken oder Mitleid erregen sollten (wie die Fotografie der Ella K. aus dem Jahr 1908). Oberstes Ziel war nun, von den Armenverbänden als effiziente Behandlungseinrichtung angesehen zu werden. Dafür griff die Anstaltsleitung auf martialische Bilder zurück, die bisweilen aus einem genuin medizinischen Kontext an die Öffentlichkeit getragen wurden. Der Slogan »Almosenempfänger zu Steuerzahlern« wird mit Vorher-Nacher-Serien illustriert, die Patienten zuerst nackt und dann bei einer handwerklichen Tätigkeit zeigen. Hier mischen sich die medizinischen Bilder, wie sie bei der Aufnahme eines Patienten in die Anstalt zu dokumentarischen Zwecken angefertigt werden, mit gestellten Fotografien, die ausschließlich der Öffentlichkeitsarbeit dienen. Eine weitere Professionalisierung der technisch bereits perfekten und mit großem finanziellem Aufwand betriebenen Bildkampagne erfolgt in Vorbereitung der Internationalen Hygieneausstellung von 1911. Ab diesem Zeitpunkt werden vermehrt Bilder in Umlauf gebracht, die positive Emotionen wecken sollen. Das Bild von Behinderung, das in den Fotografien der Berliner »ZentralForschungs- und Fortbildungs-Anstalt für die Krüppelfürsorge in Preußen und im Deutschen Reiche« produziert wird, ist einseitig. Es werden ausschließlich Kinder präsentiert, die potentiell rehabilitierbar sind. Sehr bald nach ihrer Gründung sieht sich die Anstalt in der Lage, Patienten abzuweisen. Eine Selektion beginnt. Entscheidendes Kriterium sind potentielle Arbeitsfähigkeit und kognitive Fähigkeiten. Medizinisch gebotene Eingriffe werden mit dem Hinweis auf Intelligenztests verweigert, 56 selbst wenn sie die Lebensqualität der Kinder verbes-
56 Vgl. Osten, Philipp: »Zur Geschichte des Umgangs mit schwer und mehrfach behinderten Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: Fröhlich, Andreas;
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sert hätten, und obwohl die Armenverbände ab 1920 dazu verpflichtet waren, die Kosten der Operationen zu tragen. »Sozialbiologie« nennt Anstaltsleiter Biesalski die Maxime seiner Krüppelfürsorge. Er versteht darunter medizinischbiologische und erzieherische Maßnahmen, welche die Arbeitskraft Körperbehinderter zum Nutzen der Volksgemeinschaft erhöhen. Im Jahr 1926, anlässlich der Eröffnung des Museums der Krüppelfürsorge auf dem Gelände seiner Anstalt, erklärt Biesalski: »Heute wird viel über die Austilgung lebensunwerten Lebens geschrieben, gesprochen und gestritten, und zwar mit gutem Grunde, weil die Zahl der Unsozialen in solcher Weise anschwillt, daß sie als eine kaum noch zu ertragende Belastung des immer geringer werdenden gesunden und erwerbsfähigen Teiles unserer Volksgemeinschaft empfunden wird. Zu diesem Haufen der Unsozialen: Idioten, Epileptische, Geisteskranke, unheilbare Trinker, Schwindsüchtige und manche andere, wirft [der Laie] nun vielfach in einer manchmal rührenden Unkenntnis unseres besonderen Arbeitsgebietes auch die Krüppel, einfach aus einer Art von ästhetischem Widerwillen heraus [...]«57
Es ist nicht allein das Bild körperbehinderter Menschen, das ab 1908 in der Berliner Modellanstalt mit der Hilfe von Fotografien entworfen wird. Es ist ein Ausloten der Grenzlinie zwischen »lebenswertem« und »lebensunwertem« Leben. Die »Austilgung«, von der Biesalski 1926 inmitten der Bilder und Schautafeln seiner Anstalt spricht, beginnt sieben Jahre darauf; zunächst mit eugenischen Zwangssterilisationen, dann mit der sogenannten ›Euthanasie‹. Den organisierten Krankenmorden nationalsozialistischer Ärzte fallen allein zwischen Januar 1940 und August 1941 mehr als 70 000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten zum Opfer. Die Akten der Ermordeten belegen: Arbeitsunfähigkeit war für die Mörder das entscheidende Kriterium ihrer Selektion. 58
Heinen, Norbert; Klauß, Theo; Lamers, Wolfgang (Hg.): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Oberhausen: ATHENA-Verlag 2011, S. 41-59. 57 Biesalski, Konrad: Krüppelfürsorge und Sozialbiologie. Festrede, gehalten bei der Feier aus Anlaß des zwanzigjährigen Bestehens des Oscar-Helene-Heims, BerlinDahlem, erfolgten Eröffnung des Museums der Krüppelfürsorge. Berlin: Elsner 1926, S. 9. 58 Vgl. Hohendorf, Gerrit; Rotzoll, Maike; Richter, Paul; Mundt, Christoph; Eckart, Wolfgang U.: »Die Opfer der nationalsozialistischen ›Euthanasie-Aktion T4‹ – Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin«, in: Der Nervenarzt, 73/2002, S. 1065-1074.
Die nackte Wahrheit Bildnisse mit Behinderungen C HRISTIAN M ÜRNER
Redet jemand von der ›nackten Wahrheit‹, dann ist damit sprichwörtlich eine reale Situation oder eine wahre Geschichte gemeint. Etwas wird unverstellt und direkt gezeigt oder kommt ohne Inszenierung und Verklärung zum Vorschein. Die Wahrheit als nackt zu charakterisieren, ist zwiespältig. Denn im Zusammenhang von Bildnissen mit Behinderungen kann sie neben der Aufrichtigkeit auch zur Bloßstellung verführen. Das Verständnis des eigenen Bildes bestimmt die Identitätsentwicklung und es scheint ebenso folgenschwer, was die anderen davon halten.
S TELLVERTRETUNG Von Homer, dem berühmten antiken Dichter, lese ich in der Zeitung (am 6. Mai 2006, Süddeutsche Zeitung), dass man nichts von seiner Person und Lebensgeschichte kenne. Man wisse aber bestimmt, dass er blind war. Diese Anekdote zu Homer (Ende 8. Jh. v. Chr.) war mir unbekannt. Betrachte ich die unterschiedlichen Typen von überlieferten steinernen Kopfskulpturen von Homer – alles römische Kopien, die nach griechischen Originalen entstanden sind, die aber selbst erst Jahrhunderte später angefertigt wurden –, dann entsteht der Eindruck, dass Homer einerseits die Augen geschlossenen hat, andererseits seine Kopfhaltung leicht nach oben gerichtet ist. 1 Inwiefern
1
Siehe http://commons.wikimedia.org/wiki/Homer?uselang=de, letzter Zugriff am 21.11.2011.
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ist dies von den Vorstellungen einer vermeintlich typischen Haltung eines Blinden diktiert oder der Realität nachgeahmt? Der römische Offizier, Staatsmann und Historiker C. Plinius Sekundus der Ältere (23-79 n. Chr.) beklagt am Anfang des 35. Buches seiner ›Naturkunde‹, dass man von dem Prinzip der Bildnismalerei, nämlich »Gestalten so ähnlich wie möglich der Nachwelt« zu überliefern, »völlig abgekommen« sei. 2 Diese Gleichgültigkeit sei zu bedauern, denn es gebe »keinen größeren Beweis von Glückseligkeit«, als zu erfahren, »wie jemand ausgesehen hat«. D.h.: »Sind keine Bildnisse vorhanden, so werden solche erdacht und erwecken das Verlangen nach nicht überlieferten Gesichtszügen, wie es bei Homer der Fall ist«. (Ebd., S. 19) Dem griechischen Maler Apelles (4. Jh. v. Chr.) seien, schreibt Plinius, »Bilder von so vollkommener Ähnlichkeit« gelungen, »dass – unglaublich zu sagen – der Grammatiker Apion eine Schrift hinterließ, in der er berichtete, dass ein Mann, der nach dem Gesicht wahrsagte (man nennt solche Leute metoposkópoi = Physiognomiker), aus ihnen entweder das kommende Todesjahr oder die Zahl der vergangenen Lebensjahre bestimmt hat« (ebd., S. 71). Nach Plinius zählt der mit Linien nachgezeichnete Schatten eines Menschen an einer Wand zum »Ursprung der Malerei« (ebd., S. 21). Da ein Töpfer im antiken Korinth später die Umrisse des in die Fremde gezogenen Geliebten seiner Tochter auch mit Ton ausformte und auffüllte, gilt die Legende zugleich als Ursprung der Plastik. Das Schattenbild, die Silhouette an der Hauswand, soll den Geliebten während seiner Abwesenheit für die Tochter gewissermaßen lebendig und unvergesslich erhalten, die Erinnerung an ihn wach halten, Nähe trotz des Fernbleibens erwecken. Das nennt man die Memorialfunktion von Bildnissen. 3 Bildnisse sollen über den Tod hinaus an die Person erinnern, ja gewissermaßen ›den Tod überwinden‹. Insofern sagt man auch, dass das Bildnis aus der Grabplastik entstanden sei. Das Bildnis ist ein Ersatz, der eine Beziehung zu der nicht (mehr) anwesenden Person hervorruft. Von dieser Abhängigkeit abgesehen, hat das Bildnis aber auch eine eigene Daseinsweise, eine Originalität, die über einen Lückenbüßer hinausgeht. Das wird einerseits gebrandmarkt, wenn man das Bildnis als Kult- oder Götzenbild verehrt, andererseits zur Bildpropaganda benutzt, wenn beispielsweise in der Reformationszeit Flugblätter mit dem Porträtieren
2
Plinius, C. Secundus der Ältere: Naturkunde, Buch XXXV. Herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. München: Heimeran 1978, S. 15.
3
Schneider, Norbert: Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildniskunst; 14201670. Köln: Taschen 1999, S. 28.
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von sogenannten Monstren zur Abschreckung und eingeklagten Umkehr eingesetzt werden. »Wenn man nach dem Zweck bildlicher Darstellung der einzelnen Person« frage, schreibt der Kunsthistoriker Alfred Reinle, »so ergibt sich als Anlass dafür fast stets die Funktion einer Stellvertretung des Menschen durch das Bild.« 4 Das Herrscherbild hat meistens eine ziemlich unmittelbare ›Vertretungsfunktion‹. »Die meisten Bildnisse wollen mehr oder weniger offen Macht, Herrschaft, Privilegien demonstrieren.« 5 Bildnisse sollen beeindrucken, Anerkennung oder Ablehnung erzeugen. Das Porträt eines Herrschers soll sogar die Übereinstimmung der Person und ihrer Darstellung suggerieren. Wenn es zu Gewalt gegen Bilder kommt, glaubt man in der Regel, das Bild sei mit dem, was es darstellt, identisch. 6 Reinle notiert, dass die »Voraussetzung für die Porträtkunst […] das Vorhandensein einer führenden Gesellschaft ausgeprägter Charaktere« 7 sei. Bemerkenswert dabei ist: »Das Individuelle erscheint in den schriftlichen Zeugnissen vorerst als von der edlen Norm abweichendes komisches, hässliches, groteskes Element: So die Kahlköpfigkeit des Aischylos und des Aristophanes, der zwiebelförmige Schädel des Perikles – der deshalb von den Künstlern mit einem Helm dargestellt wird –, die Halsgestikulation des Alkibiades, das Silengesicht des Sokrates mit wulstigen Lippen, Stumpfnase und herausquellenden Augen.« (Ebd.)
Dementsprechend verallgemeinert Reinle die Perspektive auf das autonome Personenbild wie folgt: »Aus dem Bereich des Abnormen und der apotropäischen Maske ist das individuell betonte Menschenbild und letzten Endes auch das Porträt hervorgegangen, indem das MagischWirksame, das Furcht, Abscheu oder Gelächter Erregende, sich mit der veränderten Anschauung langsam zum Menschlich-Wesenhaften wandelte. Auch die Maske der Komödie war eine Durchbruchstelle für die aufkommende Bildnisähnlichkeit. Der
4
Reinle, Adolf: Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Zürich/München: Artemis 1984, S. 7.
5 6
Vgl. Schneider, Porträtmalerei, S. 26, S. 28. Vgl. Spanke, Daniel: Porträt – Ikone – Kunst, Methodologische Studien zum Porträt in der Kunstliteratur. Zu einer Bildtheorie der Kunst. München: Fink 2004, S. 50f.
7
Reinle: Das stellvertretende Bildnis, S. 133.
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Bedeutungsumfang des griechischen prosopon – Gesicht, Maske, Person – und des römischen persona – Maske, Rolle, Person – erhält hiermit einen tieferen Hintergrund.« (Ebd.)
Römische Bildnisse enthielten erstaunlich viele »Warzen, Verwachsungen, Runzeln aller Grade« der Dargestellten, die dies »freiwillig oder unfreiwillig« als persönliche Charakterisierung hinnahmen und nicht als »sozialkritische« Bloßstellung empfanden. (Ebd., S. 139)
ABWEICHUNG Von der Suche ›nach dem wahren Gesicht‹ William Shakespeares’ (1564-1616), dem berühmten englischen Dramatiker, lese ich in der Zeitung (am 6. Mai 2006, Süddeutsche Zeitung). Schon ein früherer Artikel (am 24. Februar 2006) berichtete davon, dass es bisher ›kein authentisches Porträt‹ von Shakespeare gebe, dass nun aber das sogenannte Chandos-Porträt von 1603 für echt befunden worden sei. Entscheidend für die Identifizierung war nicht der goldene Ohrring, sondern, wie es heißt, »markante Krankheitssymptome wie eine auffallende Erhebung auf der Stirn, eine Deformation über dem linken Augenlid sowie eine Schwellung im Augenwinkel«. Diese Besonderheiten kannte man aus schriftlichen Quellen. Sie wurden nun am Bildnis belegt. Die Kunsttheoretiker des 16. Jahrhunderts, das die Blütezeit der Bildnisse verkörpert, diskutierten eingehend das Problem, ob physiognomische Abweichungen der Person im Porträt wahrhaftig dargestellt oder eher verbessert werden sollten. 8 Giorgio Vasari (1511-1574), der Erste, der Künstlerbiografien aufzeichnete, schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts von einem Maler, der heute kaum mehr bekannt ist (Antonio del Ceraiuolo), dass er von diesem »einige Köpfe nach der Natur gesehen (habe), die zwar, mit Verlaub zu sagen, eine schiefe Nase, eine Lippe kurz und eine lang, und andere solche Verzeichnungen haben, trotzdem ähnlich sind, weil er den Ausdruck des Betreffenden getroffen hatte« 9. Für Vasari ist die Ähnlichkeit das oberste Kriterium, die Forderungen nach einer ›vollkommenen Gestalt‹ könnten vernachlässigt werden. Allerdings wird ein Porträt nach Vasari erst dann zum Kunstwerk, wenn es den Porträtierten nicht
8
Vgl. Mürner, Christian: »Bildnis und Behinderung«, in: Flieger, Petra; Schönwiese, Volker (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2007, S. 171-210, hier S. 177ff.
9
Zitiert nach Spanke: Porträt – Ikone – Kunst, S. 87.
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nur ähnlich, sondern auch schön darbietet. Das lediglich ähnliche Bildnis wäre ›kunstschwach‹, wenn es ihm nicht gelänge, den Dargestellten zu verlebendigen. Der Bologneser Bischof Gabriele Paleotti (1522-1597) schrieb 1582 in einem Traktat, das sich auf das Tridentiner Konzil und die katholische Bildpolitik berief, dass ein Porträt für sich selbst betrachtet, »indifferent« sei, erst sein öffentlicher Gebrauch entscheide, ob es für eine »gute oder schlechte Sache« stehe. 10 Paleotti, der die Bilder als älter als die Schrift begriff, notierte: »Da sie aber Porträts nach der Natur genannt werden, so hat man auch dafür zu sorgen, dass das Gesicht oder irgendein anderes Körperteil nicht schöner oder würdiger gemacht oder überhaupt verändert werde, als es die Natur demjenigen in seinem Alter zugestanden hat, sondern vielmehr dass es auch dann, wenn angeborene oder zufällige Fehler denjenigen verunstalten, nicht dazu kommt, diese auszulassen, es sei denn sie ließen sich mittels Kunst verheimlichen, so wie man über das Bildnis des Antigonos geschrieben hat, das von Apelles im Profil wiedergegeben wurde, damit man nicht merkte, dass er triefäugig war und ihm ein Auge fehlte.« (Ebd.)
Giovanni Paolo Lomazzo (1538-1600), einer der wichtigsten Kunsttheoretiker gegen Ende des 16. Jahrhunderts, bemerkte 1584, indem er seine Überlegungen fokussierte, dass jeder Herrscher »Edelmut und Ernst« vermitteln möchte, auch wenn es in Wirklichkeit nicht so sei. 11 »Daher sollte der Maler immer die Größe und Herrlichkeit in den Gesichtern vermehren und dabei den Mangel der Natur bedecken, wie man es bei den antiken Malern sieht, die stets die natürlichen Unvollkommenheiten mithilfe der Kunst zu verheimlichen und zu verstecken pflegen.« (Ebd.)
D.h., nicht nur die antiken, sondern auch die Maler der Renaissance, wie Leonardo, Raffael und Michelangelo würden, wie Lomazzo betonte, den »Mangel der Natur vorsichtig mit dem Schleier der Kunst« überdecken. (Ebd.) Eine körperliche Blässe beispielsweise könne lebhafter gestaltet werden, aber nur soweit, dass die Ähnlichkeit nicht verloren gehe.
10 Preimesberger, Rudolf; Baader, Hannah; Suthor, Nicola (Hg.): Porträt. Berlin: Reimer 1999, S. 302f.
11 Zitiert nach Spanke: Porträt – Ikone – Kunst, S. 105.
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Beim Porträt des schielenden Kardinals Inghirami (1511/12) machte Raffael »aus diesem körperlichen Defizit eine künstlerische Tugend und wählte eine Pose, die dessen Augen im Sinne eines Inspirationsgestus nach oben richten ließ und also auf göttliche Eingebung verweist« 12. Beim Porträt eines Adligen von Bartolomeo Veneto (um 1500) übersieht man schnell das Schielen, weil die Kleidung auf der Brust ein markantes, symbolbeladenes Labyrinth zeigt. Christoph Wilhelmi hat nun aufgrund einer Zeichnung aus der Schule des Jean Clouet den bisher anonymen Adligen als den Herzog Charles III. de Bourbon (14901527) identifizieren können, u.a. durch die »abweichende Augenstellung« 13. Charles de Bourbon starb, bevor er das in Auftrag gegebene Bildnis zur Brautwerbung einsetzen konnte. Lomazzo beschränkte das ›Bildnisrecht‹ auf die herrschenden Stände und da er der Kunst die Aufgabe zuschrieb, die »Fehler der Natur zu beseitigen«, lehnte er es ab, dass jeder »ungehobelte Maler« Porträts anfertige. Lomazzo forderte, dass man denjenigen, den man porträtiere, mit »besonderen Zeichen« ausstatte.14 Zu solchen Zeichen gehören etwa der Lorbeerkranz oder der Feldherrenstab, aber auch körperliche Eigenheiten, die Mimik oder die Farbe der Haut, deren Helligkeit unter Umständen auf Einfachheit oder Reinheit hindeuten könne. Lomazzo war selbst Maler in Mailand. Als er mit dreiunddreißig Jahren erblindete, widmete er sich der Kunsttheorie. 15 Der spanische Kunstschriftsteller Francisco Pacheco (1564-1644), der ›Gehilfe der Inquisition‹ und zugleich künstlerischer Lehrer von Velázquez war, 16 schrieb in einem Traktat, das 1648 veröffentlicht wurde, dass man die »Fehler [...] in den Porträts nicht verbergen« solle, auch wenn die antiken Maler genau dafür gelobt worden seien. Die Verheimlichung sei »[…] eine Vorsicht, die man bei hochgestellten Persönlichkeiten walten lassen kann, die aber nicht auf Kosten der Wahrheit gehen soll. Denn gewöhnlich müssen schlechte Porträtisten die auffälligen Defekte darstellen, damit die Personen überhaupt erkannt werden, denn darauf stützt sich dann ihr Ruhm.« 17
12 Bayer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. München: Hirmer 2002, S. 146. 13 Wilhelmi, Christoph: Porträts der Renaissance. Hintergründe und Schicksale. Berlin: Reimer 2011, S. 12ff. 14 Zitiert nach Preimesberger et. al.: Porträt, S. 309. 15 Vgl. Busch, Werner (Hg.): Landschaftsmalerei. Berlin: Reimer 1997, S. 98. 16 Scholz-Hänsel, Michael: El Greco, der Großinquisitor: neues Licht auf die schwarze Legende. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verl. 1991, S. 35f. 17 Zitiert nach Preimesberger et. al.: Porträt, S. 342.
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Wird die Priorität allein bei der Ähnlichkeit gesetzt, scheint das Porträt nicht in der Welt der Kunst bestehen oder Anerkennung finden zu können, wird hingegen die künstlerische Ausdrucksweise eines Bildnisses bevorzugt, gilt die Übereinstimmung mit dem Modell und der ›nackten Wahrheit‹ als zweifelhaft, im Extremfall wird von einem ›Fantasieporträt‹ oder einer Porträtkarikatur die Rede sein. Ich denke, dass es plausibel ist, beide Perspektiven in der Betrachtung zu berücksichtigen.
K ARIKATUR 1646 zitierte Giovanni Atanasio Mosini den Maler Annibale Carracci (15601609), der gesagt habe, »[…] wenn die Natur ein beliebiges Objekt entstelle, indem sie eine große Nase, einen großen Mund, einen Buckel mache oder in anderer Weise irgendeinen Teil verforme, deute sie eine Art an, sich mit dem Gegenstand und der so gemachten Verformung und Missproportion ein Vergnügen und einen Scherz zu machen, und zu ihrer eigenen Erholung selbst darüber zu lachen«. (Ebd., S. 322)
Diese Position stand im Einklang mit der zeitgenössischen Ansicht der ›Schöpfung als Spiel‹, insbesondere die sogenannten ›Abirrungen der Natur‹ wurden beispielsweise vom französischen Arzt Ambroise Paré 1573 oder vom englischen Philosophen Francis Bacon 1605 damit erklärt. 18 Carracci hingegen sah dadurch die Karikatur gerechtfertigt, sie werde von nun an die »Kunst wie der Narr den König« 19 begleiten. Weil übertriebene Darstellungen oder andere Spottbilder ohne die Orientierung sowohl an der Realität wie an einem Ideal nicht auskommen, erzeuge die Karikatur in paradoxer Weise »die Figur einer schönen Entstellung«. (Ebd., S. 323) Selbst in der Übertreibung oder der Akzentuierung einer Gegenwelt bleibt die Karikatur, so der Kunsthistoriker Werner Hofmann, stets dem »Vorbild verpflichtet« 20. Die Karikatur beschränkt ihren Protest auf den ästhetischen Bereich, aber eine Differenzierung zwischen »Schaustellung und Bloßstellung« interessiert sie nicht. (Ebd., S. 64) Die Karikatur ist »Ankläger und Richter« zugleich.
18 Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Überarb. Neuausgabe, 2. Auflage. Berlin: Wagenbach 2002, S. 67.
19 Zitiert nach Preimesberger et. al.: Porträt, S. 325. 20 Hofmann, Werner: Die Karikatur. Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2007, S. 35.
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(Ebd.) Die Karikatur popularisiert, sie stellt nicht nur die Herrschenden bloß, sondern beachtet das Außergewöhnliche, Unheimliche, Alltägliche und auch das »nackte Elend« 21. Die Pointierung und Typisierung vor allem von Gesichtszügen übernahm die Physiognomik. Der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (17411801), der der Physiognomik mit seinen Büchern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ungeheure alltägliche Popularität verschafft hat, nannte die Porträtmalerei die »edelste, nützlichste Kunst« 22.
P HYSIOGNOMIK Die Physiognomik verstand sich bekanntlich als Wissenschaft und Kunst von der ›Kenntnis der Körperlichkeit‹ – so eine direkte Übersetzung von Physiognomik. Sie schloss vor allem aber vom Gesichtsausdruck eines Menschen auf seine innere Haltung. 1775 erschien Lavaters berühmtes Buch mit dem vielversprechenden Titel »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe«. Lavater setzte Schönheit und gutes Benehmen gleich, indem er schrieb: »Je moralisch besser; desto schöner. Je moralisch schlimmer; desto hässlicher.« 23 Den häufigsten Einwand gegen diese eindeutige Aussage erwähnt Lavater selbst, er bestehe in der Physiognomie des Sokrates (um 470 bis 399 v. Chr.). Der geniale Sokrates gilt schon seinen Zeitgenossen als physiognomischer Inbegriff der Hässlichkeit, orientiert am griechischen Schönheitsideal. Aber durch seine überlegene Argumentationsweise in Platons Dialogen ist Sokrates im Grunde unantastbar. Weil Sokrates nicht so aussieht, wie er ist, geraten die Physiognomen in Schwierigkeiten. Es ist ausgerechnet Sokrates selbst, der den Physiognomen aus der Verlegenheit hilft, wie eine antike Anekdote überliefert: Mit den Lastern, die man an seiner Gestalt ablesen könne, sei er allerdings »auf die Welt gekommen, aber mihilfe der Vernunft habe er sich ihrer entledigt», 24 – zu verstehen ist das wahrscheinlich eher auf eine ironische Art und Weise. Lavater begriff Sokrates als die Ausnahme von der Regel. Er sprach von einem ›Druckfehler‹ der Natur, zehn oder zwanzig Druckfehler in einem Buch würden dieses
21 Hofmann: Die Karikatur S. 106. 22 Lavater, zitiert nach ebd., S. 67. 23 Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente. Stuttgart: Reclam 1984, S. 53. 24 Picard, Max: Die Grenzen der Physiognomik. 2. Auflage. Erlenbach-Zürich: Rentsch 1952, S. 9.
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auch nicht unlesbar machen, damit sei die Physiognomik gerettet und gerechtfertigt. Doch es gab auch Kritik. Der schärfste zeitgenössische Kritiker Lavaters war der Göttinger Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). 1778 veröffentlichte Lichtenberg eine Streitschrift mit dem Titel »Über Physiognomik wider die Physiognomen« im Göttinger Taschen Kalender. Hier heißt es: »Allein, ruft der Physiognome, Was? Newtons Seele sollte in dem Kopf eines Negers sitzen können? Eine Engels-Seele in einem scheußlichen Körper? der Schöpfer sollte die Tugend und das Verdienst so zeichnen? das ist unmöglich. Diesen seichten Strom jugendlicher Deklamation kann man mit einem einzigen ›Und warum nicht?‹ auf immer hemmen.« 25
Die Unterscheidung von Physiognomik und Pathognomik, der Lavater zustimmte, veranschaulichte Lichtenberg sehr treffend – vielleicht auch aus persönlicher Betroffenheit aufgrund seiner Wirbelsäulenverkrümmung – in der folgenden Stelle, die ich deswegen ausführlich zitiere: »Die Nase kommt in hundert Sprüchwörtern und Redensarten vor, aber immer pathognomisch, als Zeichen vorübergehender Handlung, und niemals physiognomisch, oder als Zeichen stehenden Charakters oder Anlage. Es fehlt ihm über der Nase, sagt man im gemeinen Leben von einem, der nicht viel Verstand hat; nach der neuern Physiognomik müsste man sagen, es fehlt ihm an der Nase. Es gibt allerdings Sprüchwörter, die der Physiognomik das Wort reden, aber was lässt sich nicht mit Sprüchwörtern erweisen. Hüte dich vor den Gezeichneten ist ein Schimpfwort, denen die Gezeichneten, von einer gewissen Klasse der Nicht-Gezeichneten in der Welt seit jeher ausgesetzt gewesen sind. Mit größerem Recht könnten also die Gezeichneten sagen: hüte dich vor den NichtGezeichneten.« (Ebd., S. 278f)
›G EZEICHNETE ‹ Für behinderte, vor allem körperlich auffällige Kinder galt im 18. Jahrhundert generell die obrigkeitliche Anordnung, sie von der »menschlichen Gesellschaft
25 Lichtenberg, Georg Christoph: Über Physiognomik; Wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: Ders.: Schriften und Briefe, Band 3. Herausgegeben von Wolfgang Promies. Darmstadt 1972, S. 272.
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notwendig abzusondern«. 26 Der Sohn des Webers Witzig von Uhwiesen wurde in der Neujahrnacht 1740 von einem versehentlich ausgelösten Schuss im Gesicht schwer verletzt. Nach Heilung der Wunde stellte man fest, dass er gesund und stark war und arbeiten konnte, aber nicht immer zu Hause bleiben wollte. Viele Frauen beschwerten sich darauf, dass sein ›hässlicher Anblick‹ sie erschrecke. Man wies ihn zur lebenslangen Verwahrung ins Siechenhaus Spanweid ein. Diese Geschichte findet sich im Buch »Sorgenkinder« der Zürcher Medizinhistorikerin Iris Ritzmann. Sie warnt davor, dieses Beispiel gefühlsbetont und ahistorisch allein aus der Innenperspektive des Jungen zu betrachten, was einer Projektion aus heutiger Perspektive entsprechen würde. Ritzmann hebt hervor, dass die Interpretation des Beispiels aus Sicht der damaligen Zeit das vorherrschende Krankheitskonzept des ›Versehens‹ zu berücksichtigen habe, was bedeutet, dass der Ausschluss des Jungen erfolgt sei, um »weiteres Unglück zu verhindern« (Ebd., S. 144). Denn die Lehre des ›Versehens‹ ging davon aus, dass der Schock bei der unerwarteten Betrachtung einer Entstellung oder Behinderung bei einer schwangeren Frau sich in sinngemäßer Weise körperlich auf ihr ungeborenes Kind auswirke. Ritzmann notiert: »Was heute als ungerechte Behandlung erscheint, dürfte der Knabe als notwendige Folge seiner Verstümmelung betrachtet haben. Seine Leidenserfahrung stimmte in diesem wesentlichen Punkt vermutlich nicht mit unserem Verständnis der emotionalen Lage überein.« (Ebd., S. 145)
Ritzmann bezweifelt also eine Konstante der Gefühle. Allerdings fehlen bei Ritzmann Ausführungen zur Frage der Konstanz des ›Versehens‹. Dass es sich dabei um einen Irrtum oder ein Vorurteil handelt, wird gerade im 18. Jahrhundert in markanten Schriften dargestellt. Das ›Versehen‹ war also zumindest umstritten, doch wäre der Einfluss auf die Bevölkerung selbst zu untersuchen. Für Ritzmann dagegen steht fest: »Nur auf dem Hintergrund des Versehens lässt sich erklären, weshalb viele Eltern trotz des hohen Risikos eine chirurgische Behandlung einfacher Lippenspalten anstrebten.« (Ebd., S. 171) Der einjährige Hans Ulrich Stuz, dessen Operation ohne Schmerzbetäubung stattfand und nicht unbedingt notwendig war, weil er gut ernährt werden konnte, starb nach einem Tag. Ritzmann präsentiert auch ein Aquarell in Schwarztönen, um 1780, aus dem Zürcher Spital (Abb. 1). (Ebd., S. 170)
26 Ritzmann, Iris: Sorgenkinder, Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert. Köln: Böhlau 2008, S. 164.
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Abb. 1: »Säugling mit Lippenspalte im Zürcher Spital«, ca. 1780 Quelle: Iris Ritzmann: Sorgenkinder, Köln 2008, S. 170; Archiv des Medizinhistorischen Instituts Zürich, PN 94, Slg. Pathologie, No. 24.
Es zeigt ein Porträt eines Säuglings mit Lippenspalte. Die Behinderung erscheint zwar im Zentrum des Bildes, aber durch die Art der künstlerischen Darstellung wird der Ausdruck und die Individualität des Kindes betont. Es ist behutsam gewickelt in ein geschmackvoll geschmücktes Tuch, das auch seinen Kopf umrahmt. Es liegt auf zwei Kissen. Die Form der Lippenspalte gleicht fast der Verzierung auf den Kissenecken. Kann man da noch von einer Verunstaltung des Gesichts reden? Das Kind schaut aufmerksam zur Seite. Der Ausdruckskraft des Aquarells scheint die Verhinderung des ›Versehens‹ zu gelingen. Dieses kleine Porträt steht in scharfem Kontrast zur Fotografie einer Anzeige (aus der Süddeutschen Zeitung vom 11. Januar 2007), eines Spendenaufrufs. Bei dieser Fotografie wird der Kopf des Kindes oben und unten angeschnitten, links und rechts nur grauer Hintergrund, so dass kein Kontext sichtbar wird. Der Ausdruck konzentriert sich auf die Augen und die Lippenspalte. Quer über die Stirn des Kindes ist in weißer Schrift der Appell platziert. »Geben Sie Kindern mit Lippenspalten ein neues Leben.« Unter der Fotografie ist ein Spendencoupon, der besagt, dass die Kosten für die Operation einer Lippenspalte in Entwicklungsländern zweihundert Euro betrage. Abgesehen von der Berechtigung des Spendenaufrufs, entsteht der Eindruck, dass das abgebildete Kind funktionalisiert wird. Andere machten sich ein Bild von diesem Kind, statt es zu porträtieren oder zu beteiligen an seinem eigenen Bild.
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S ELBSTBILDNIS Als Ursprung des Selbstbildnisses gilt unter anderem eine griechische Sage. Sie handelt von Narziss, der sein Gesicht in einer glatten, spiegelnden Wasserfläche erkennt. 27 Das braucht man nicht als Selbstgefälligkeit schlecht zu machen, denke ich. Es lässt sich einfach feststellen: Das Selbstbildnis entsteht vor dem Spiegel. Die »Ursprungslegende eines Selbstporträts« schildert der erste Kunsthistoriker, Giorgio Vasari, 1550 wie folgt: Parmigianino (1503-1540) sah sich eines Tages in einem »halbrund aufgewölbten Barbierspiegel«, die »Sonderbarkeit« seines Aussehens nahm er zum Anlass, sich zu porträtieren, d.h. »sich selbst zu erfahren und zu ergründen«. 28 Dieses Selbstbildnis ist von Format rund (wie ein Teller), ein sogenanntes Tondo, es zeigt ziemlich ungewöhnlich Parmigianinos linke, elegant verzerrte Hand und die Ärmelmanschette im Vordergrund, erst dahinter das gleichgroße helle Gesicht. Parmigianino gilt als einer der Begründer des Manierismus, einer Stilrichtung, die gewöhnlich unberechtigt im negativen Sinn mit einer gekünstelten Ausdrucksweise in Zusammenhang gebracht wird, weil in ihr und ihren Paradoxien sich eher die »Verunsicherung der Epoche« spiegelt. 29 Das Bildnis ist, nach der Erzählung Vasaris, ohne Auftrag, allein im Sinn der Selbsterforschung entstanden, fand aber nach Bekanntwerden sofort Beachtung. Er habe sein Selbstbildnis als »Bewerbungsbild« benutzt, um sein Können potenziellen Auftraggebern zu demonstrieren, und er hatte Erfolg damit bei Papst Clemens VII., der es 1523 erwarb. Auch andere Künstler sandten unaufgefordert ihre Bilder an Höfe oder Fürsten, um Aufträge zu erhalten oder auf sich aufmerksam zu machen. (Vgl. ebd., S. 171, S. 204) Obwohl Parmigianino die Wirklichkeit verzerrt wiedergab, erkannte man ihn sofort – er bezog sich auf den zeitgenössischen Begriff des »Bizarren«, 30 auf eine besonders seltsame Charakterisierung. Rundspiegel fand man beeindruckend und staunenswert! »Das Bildnis des Dorian Gray«, die 1891 entstandene Erzählung von Oscar Wilde, nimmt nicht nur die Narziss-Legende auf, indem sich der junge schöne Dorian Gray in dem gemalten Bild spiegelt, sondern dieser stellt zugleich seine Vergänglichkeit gegenüber dem beständigen Porträt fest: »Warum soll es bewahren, was ich verlieren muss?« 31 Diese Frage löst beim Modell gewalttätige Im-
27 In Ovids »Metamorphosen«, zitiert nach Bayer: Das Porträt in der Malerei, S. 17. 28 Zitiert nach Preimesberger et. al.: Porträt, S. 262ff. 29 Vgl. Bayer: Das Porträt in der Malerei, S. 168ff. 30 Vgl. Preimesberger et. al.: Porträt, S. 267. 31 Wilde, Oscar: Werke in zwei Bänden, Band 1. Herausgegeben von Rainer Gruenter. Frankfurt a.M.: Ullstein Taschenbuchverlag 1976, S. 185.
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pulse sowohl gegen den Maler als auch gegen das Bildnis aus. Hat sich mit der Zeit nicht auch der Ausdruck des Bildnisses verändert? Macht es neben der äußerlichen Schönheit außerdem eine innere Hässlichkeit sichtbar? Sieht das Bildnis den Betrachter an, »mit einem schönen entstellten Gesicht und seinem grausamen Lächeln«? (Ebd., S. 220) Das Bildnis wird zum furchtbaren ›Beweisstück‹, zur ›nackten Wahrheit‹ gegen den Porträtierten. Ist die Betrachtung weniger harmlos, als man in der Regel annimmt?
݀STHETIK
DER
E XISTENZ ‹
Als der 1954 geborene Zürcher Künstler Hans Witschi, der seit 1989 in New York lebt, sich mit seinem behinderten Körper in einer Serie von Selbstbildnissen beschäftigte, bemerkte er, dass es ihm schwer fiel, sich selbst im Spiegel nackt zu betrachten. Er schrieb mir: »Ich wusste nicht, wie ich in die Welt schauen soll. Selbst nach mehrmaligen Versuchen, den akkuraten Gesichtsausdruck zu meinem Körper zu finden, funktionierte die Spiegelung nicht, das Abstandnehmen auch nicht. Meine Lösung bestand darin, dass ich mich mit einer Augenbinde darstellte. Das Verbinden der Augen gab mir nun die Freiheit, mich ungestört zu betrachten. Zugleich lieferte ich mich total dem Betrachter aus, da – im Gegensatz zu späteren Selbstbildnissen – der blickende Bann fehlt.« 32
Hans Witschis »Selbstbildnis mit roter Augenbinde« von 1987 zeigt meiner Ansicht nach einen kämpferischen Mann. Doch das Bild war umstritten, als das auf die Leinwand gebannte prägnante Spiegelgefecht mit Pinsel 2003 im Rahmen einer Anti-Diskriminierungs-Initiative als Plakat für eine Ausstellung mit dem Titel »Gleiche Rechte für Behinderte« in Bern benutzt wurde. 33 Das ist erstaunlich, da gerade der fehlende »blickende Bann« die Betrachter auch zu ihren Gunsten als Schonung auslegen könnten. Denn dieses Motiv mit der Augenbinde taucht auf einigen klassischen Bildern auf, bei denen ein angstvoller, auswegloser Blick durch die Augenbinde abgedeckt wird, weil ansonsten die Betrachter als Beteiligte mitschuldig würden. Hans Witschis Bildnis begreife ich als Veranschaulichung der ›Ästhetik der Existenz‹, um einen Begriff von Michel Foucault auszuleihen. 34 Foucault ver-
32 E-Mail an den Verfasser am 13. Dezember 2006. 33 Vgl. http://www.culturanova.ch/expo/grechte.html, letzter Zugriff am 23.11.2011. 34 Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.
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stand unter der ›Ästhetik der Existenz‹ eine Lebensweise, die um sich selbst besorgt ist, die nicht in der Normalisierung oder Anpassung eines bestimmten Verhaltens besteht, sondern in der »Stilisierung einer Haltung«, die Körperlichkeit und Verletzbarkeit nicht im Ergebnis der Angleichung oder im Effekt der Auffälligkeit sieht, sondern in der Chance eines authentischen Ausdrucks, die die bewusste Thematisierung des Körpers und des Körperbildes beinhaltet. Nun hat der Anglist Tobin Siebers im Rahmen der Disability Studies bemerkt, dass manche Darstellung von Behinderung schöner gemacht und damit »für die Gesellschaft akzeptabler« würde 35. Diese Position der Ästhetisierung sei durchaus nachvollziehbar, denn nur darauf zu beharren, gewissermaßen schonungslose oder authentische Bilder behinderter Körper zu reproduzieren, würde die Möglichkeiten der künstlerischen Darstellung verschenken. In Kunst und Kultur geht es eben nicht allein (wie z.B. in der Medizin) um sogenannte richtige oder falsche Darstellungen, sondern auch um das, was sie als solche auslösen oder bewirken, z. B. eine Veränderung oder Irritation der gängigen Wahrnehmung. Das heißt aber auch, dass die Bilder von Körpern mit Behinderung eher die Vorstellungen von Behinderung thematisieren, also nicht die Realität oder ›nackte Wahrheit‹. Diese Bilder sind keine unbeteiligten Abbilder. Auf die sprichwörtliche ›nackte Wahrheit‹ sollten 2005 in einer Berliner Ausstellung eine Reihe überlebensgroßer Schwarz-Weiß-Fotos hinweisen. Oliviero Toscani fotografierte 1999/2000 auf Anregung des Deutschen Grünen Kreuzes mehr als 20 Frauen und Männer im Alter von 30 bis 90 Jahren nackt von vorne, von hinten, von der Seite, um ihre Krankheit Osteoporose zu dokumentieren. Einer von den Fotografierten war Leonid aus der Ukraine. Er ist 1917 geboren. Er arbeitete als Ingenieur bei der Eisenbahn. Als ihm seine Ärztin vorschlug, sich fotografieren zu lassen, zögerte er. Dann dachte er, wie er erzählt, »es macht nichts, Leonid, wenn dein Foto allen zeigt, wie verbogen du bist«. Also fuhr er mit der Eisenbahn nach Berlin. Er fügt hinzu: »Aber ich habe darauf bestanden, meine Mütze aufzubehalten: Wenn alle Welt schon sehen würde, wie schief mein Körper ist, sollte wenigstens meine Glatze verborgen bleiben.« 36 Im Katalog kommen die Menschen selbst zu Wort, wie Leonid sind sie hier (im Gegensatz zur Ausstellung) auf ihren eigenen Wunsch nur von der Seite abgebildet.
35 Siebers, Tobin: »Zerbrochene Schönheit«, in: Lutz, Petra; Macho, Thomas; Staupe, Gisela; Zirden, Heike (Hg.): Der (im-)perfekte Mensch: Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln: Böhlau 2003, S. 252-272, S. 257. 36 Toscani, Oliviero: Osteoporosis. Fotografische Einblicke. Marburg: Verl. im Kilian 2005, S. 81.
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Zusammen mit einem Gesichtsporträt, in dem sich, wie mir scheint, Leonids Humor ausdrückt.
B ILDWÜRDE Norbert Schneider schreibt in Bezug auf Pico della Mirandolas Buch »De dignitate hominis/Über die Würde des Menschen« von 1496: »Kulturgeschichtlich gesehen stellen die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit geschaffenen Bildnisse das Korrelat zu den in der Philosophie der Renaissance aufkommenden emphatischen Vorstellungen von der Würde des Menschen dar.« 37 Um 1500 galten nur Wenige als ›bildniswürdig‹. Bildnisse wurden von »geistlichen und weltlichen Würdenträgern« zur Repräsentation benutzt, zunehmend auch im »zwischenhöfischen Verkehr« ausgetauscht, zur Anbahnung von Ehen. Ein ›Conterfetter‹, ein Bildnismaler, erhielt also im 16. Jahrhundert einen Auftrag, wenn ein Kind als Prinz oder Prinzessin geboren wurde, ein gewöhnliches Kind hatte »[…] nur Bildnischancen, wenn es als Siamesischer Zwilling, mit einem Wasserkopf oder vollbehaart auf die Welt gekommen war; dann konnte selbst Dürer seinen Stichel in Bewegung setzen, um das ›Curiosum‹ oder ›Monster‹ in Flugschriften zu verbreiten. Aber auch Verbrecher wurden seit dem 14. Jahrhundert mit Hilfe von Bildnissen gesucht und in effigie hingerichtet. Ein normaler Sterblicher konnte sein Bildnis verbreitet sehen, sobald er sich anormal gebärdet hatte.« 38
Man hat auch gesagt, dass Bild und Bildnis eine Art »Schutzzone« darstellen können (im Gegensatz zum realen Ausschluss), denn die Bildwürde und -würdigkeit, verschaffe Ansehen und eine gewisse Freiheit. 39 Im Verlauf des 15. Jahrhunderts erhalten die Porträtierten eine »unverwechselbare Identität«. Die Bildnisse hingen noch nicht an den Wänden, sondern wurden in Truhen aufbewahrt. Oft hatten die Bildnisse und kleineren Privatporträts durch einen entsprechenden Rahmen auch einen verschiebbaren Deckel (vgl. ebd., S. 113), der sie schützte, aber auch dessen Betrachtung in ein aktiviertes und in eine Art theatralisches Blickfeld stellte.
37 Schneider: Porträtmalerei, S. 9. 38 Warnke, Martin: Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1984, S. 7f. 39 Bayer: Das Porträt in der Malerei, S. 199.
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Trotz besonderer Kennzeichen gibt es auch viele anonyme Bildnisse, bei denen weder der Maler noch der Porträtierte bekannt sind. Es sind Persondarstellungen ohne »authentische Identität« 40. Die Porträts haben Titel wie »Bildnis einer jungen Frau« oder »Bildnis eines Adligen«. Ein einmaliges »Bildnis eines behinderten Mannes« hängt in der Kunst- und Wunderkammer in Schloss Ambras bei Innsbruck. Jahrelang nannte man dieses Porträt »Bildnis eines Krüppels«, bis ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Volker Schönwiese, die in der Kunstgeschichte übliche sachliche Bezeichnung vorschlug. 41 Weder der Name des dargestellten, auf dem Bauch liegenden nackten Mannes noch der Maler sind bekannt. Das Bild hat eine außergewöhnliche Beschädigung, die sich über dem Rücken des Mannes befindet und noch Papierreste von roter Farbe enthält. Das Bildnis des Körpers, nicht des Kopfes, wurde durch ein bewegliches rotes Papier abgedeckt, das man allerdings hochheben konnte. Lässt sich dies anders deuten, als dass hier, mit diesem Eingriff in das Bildnis, eine urtümliche Identifizierung der dargestellten Person mit dem Bild vorgenommen wurde? Die Darstellung der Behinderung des Mannes wollte man so direkt auf Anhieb nicht sehen, aber auch nicht auf den Anblick verzichten. Die Ambivalenz der ›nackten Wahrheit‹ wird im »Bildnis des behinderten Mannes« veranschaulicht. Die ›nackte Wahrheit‹ kann nicht auf das nackte biologische Leben reduziert werden. 42 Die Ambivalenz ist ein »Brücken-Konzept« 43 – in Ambivalenz-Analysen liegt die Chance der kreativen Sensibilisierung komplexer Sachverhalte. Die Ambivalenz zwischen Zeigen und Verbergen bildet sich darin ab, dass die Bilder zwar Körper präsentieren, aber wie der Kunsthistoriker Hans Belting sagt, Menschen bedeuten, d.h. ein Menschenbild beinhalten. 44 Die Betrachtung neigt dazu, Bild und Körper zu verbinden, statt in verschiedene Perspektiven zu differenzieren. Nicht nur bei historischen Bildern, wie dem »Bildnis eines behinderten Mannes« ist dies wichtig, weil von der Biografie dieses Mannes bisher nichts bekannt wurde und so nicht klar ist, was seiner Ansicht nach an dem Bildnis treffend ist oder was den Vorstellungen des Auftraggebers, des Malers oder des Publikums entspricht. Diese Art kultureller Bildforschung zu Behinderung und die Ausformu-
40 Wilhelmi: Porträts der Renaissance, S. 7. 41 Vgl. Flieger, Petra; Schönwiese, Volker (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2007. 42 Vgl. Agamben, Giorgio: Nacktheiten. Frankfurt a.M: S. Fischer 2010. 43 Lüscher, Kurt: »Ambivalenz: Eine soziologische Annäherung«, in: Dietrich, Walter; Lüscher, Kurt; Müller, Christoph (Hg.): Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Zürich: Theologischer Verlag 2009, S. 17-67, hier S. 61. 44 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. München: Fink 2001, S. 87.
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lierung einer ›Ästhetik der Existenz‹ im Zusammenhang von Menschen mit Behinderung oder allgemeiner gesagt, im Zusammenhang der Bilder des Anderen, stehen meiner Meinung nach erst am Anfang.
E RSCHRECKEN Man wird vor einem Bildnis zwar oft auf eine bestimmte Person hingewiesen, aber man schaut auch ein wenig – man denke an Narziss –, in den Spiegel und erschrickt. D.h., man erkennt hin und wieder im anderen sich selbst, Vorzüge und eigene Schwächen. »Über das bildliche Wissen bestimmt sich unsere Identität«, schreibt Ernst Pöppel. 45 Den World Press Photo Award 2011 gewann die südafrikanische Fotografin Jodi Bieber mit einem Porträt von Bibi Aisha, Opfer einer Verstümmelung in Afghanistan. Man kritisierte an dem Foto dessen »manipulative Kraft«, im Kontext als Titelbild des Time Magazins habe das Porträt als »Plädoyer für den Krieg« in Afghanistan die amerikanischen Kongresswahlen beeinflusst. 46 Die Person, Bibi Aisha, und ihre Lebens- und Leidensgeschichte ging dabei fast verloren. Bilder von Menschen mit Behinderung werden häufig in ihrer Medienwirkung als Kulturschock begriffen. D.h., in diesen Bildern wird mehr gesehen, als sie zeigen, mehr als die dargestellte Person, sie werden als Ausdruck von Isolation, Leid, Schrecken usw. interpretiert. D.h., sie werden aus der gesellschaftlichen Perspektive von ihnen zugesprochenen Bedeutungen betrachtet. Das Bild ist sowohl konventionell wie inszeniert. Die ›Konvention der Porträtmalerei‹ bedingt, dass die realistische Darstellung von Personen zugleich deren Bedeutsamkeit betont. Das kann, wie Rosemarie Garland-Thomsen 2007 sagte, »auch gesellschaftliche Effekte haben, wenn sie bei (nicht-behinderten) Betrachterinnen und Betrachtern und in der Öffentlichkeit einen anderen Blick auf behinderte Menschen anregten« 47.
45 Pöppel, Ernst: Der Rahmen: Ein Blick des Gehirns auf unser Ich. München: Hanser 2006, S. 147. 46 Vgl. Muscionico, Daniele: »Miss America«, in: Du: Kulturmedien AG 816, Mai 2011, S. 94f. 47 Mayer, Stefanie: »The New Disability Arts in the US« – Vortrag von Rosemarie Garland-Thomson, Bericht vom Friedrichshainer Gespräch am 12. Juli 2007, zitiert nach http://www.imew.de/index.php?id=309&id=309&type=1, 23.11.2011.
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Nicht selbstverständlich erscheint, dass in den letzten zwanzig Jahren Behinderungen, Menschen mit Behinderungen und ihre Körper zunehmend unverhüllter in Text und Bild dargestellt wurden und behinderte Menschen sich selbst so darstellten. Unverhüllt heißt nicht in erster Linie nackt und nicht allein in einem symbolischen Sinn offensiver und schonungsloser, sondern manchmal auch verbindlicher und authentischer. Ist das ein neues kulturgeschichtliches Phänomen, ein aktueller Fortschritt im Zusammenhang der Selbstbestimmt-LebenBewegung oder ist es eher eine andere Art Körperkult der Einbeziehung ungewöhnlicher und außerordentlicher Personen? Wird hier mit behinderten Personen ein Kult der Abweichung inszeniert? Lassen sich bei nackten Körpern Unzulänglichkeiten nicht mehr beschönigen? Aus welcher Perspektive, aus der Innenoder Außenperspektive, lässt sich eine angemessene Betrachtung und Beschreibung begründen? Es stellt sich damit die Frage nach dem öffentlichen Umgang und der medien- und kulturgeschichtlichen Bedeutung und Bewertung dieser Bilder- und Körperkultur von Menschen mit Behinderung.
N ACHTRAG Im Emblem-Buch von Johann Mannich von 1580 wird die Wahrheit wie folgt personifiziert und gekennzeichnet: Mit Leinwant angethan ein Weib / Dardurch man sihet jhren Leib. Die Warheit wird damit andeut / Die rein vnd sauber allezeit. Ihr Augen die sind jhr verbundn / Kein Arm werden an jhr gefundn: Lehren / daß sie kein Gschenk nem an / Seh auch nicht an einig Person. 48
48 Zitiert nach Henkel, Arthur; Schöne, Albrecht (Hg.): Emblemata. Stuttgart: J. B. Metzler 1996, S. 1817.
Erzählen, wie man in andere Zustände kommt: Mentale Denormalisierung in der Literatur (mit einem Blick auf Zola und Musil) J ÜRGEN L INK
Bei allen Unterschieden im interdiskursiven Wissens-Spektrum und im stilistischen Ton haben wir es bei den literarischen Fällen Zola und Musil, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde, mit großen Epen einer realistischen Katabasis, eines Niedergangs, und konkret einer Denormalisierung, eines Verlusts von Normalität, zu tun. Für eine Reihe von Figuren bedeutet das, dass ihre Beschreibung und Narrativierung sich auf Störungsbilder bezieht, die wir heute ins Feld der ›Behinderung‹ bzw. der Disability einordnen würden. Im 18., 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre eine solche Zuordnung allerdings unverständlich gewesen. Mein Beitrag verfolgt also, mit Foucault gesprochen, sowohl ›archäologische‹, d.h. diskurshistorische, wie ›genealogische‹, d.h. machthistorische Fragestellungen, wobei die literarischen Texte nicht nur der Illustration dienen – sie haben vielmehr selbst bei jener historischen Transformation eine wichtige Rolle gespielt, durch die unsere heutigen Vorstellungen von einem integrierten Feld von ›Behinderungen‹ entstanden sind. Um diese Rolle und um ihren Kontext – die Emergenz eines, wie zu zeigen sein wird, ›normalistischen‹ Feldes von ›Behinderungen‹ einzugrenzen, ist ein kurzer Blick auf die vornormalistische Diskurslandschaft notwendig. Noch um 1800 haben Phänomene wie Blindheit, Taubheit, Lahmheit, Zwergwuchs, Verwachsenheit, Stottern, Fallsucht, aggressive Anfälle, Sprach- und Denkschwäche, melancholische Verstimmtheit, Suizid und Wahnsinn nichts miteinander zu tun. Es gibt keinen Diskurskomplex von der Art unserer Behinderung samt ihren Teilmengen körperliche, psychische und geistige Behinderung, mittels dessen diese empirischen Fälle integriert gedacht werden könnten. Sie sind schlicht dis-
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kontinuierlich und befinden sich an sehr verschiedenen Orten der nosologischen Matrix. Symptomatisch für dieses Denken in typologischen Diskontinuitäten ist der von Beate Ochsner u.a. am Beispiel Victor Hugo behandelte Fall des »Monstrums« 1, das für die absolute Diskontinuität steht. Hugos Faszination durch das ausschließlich körperliche Monstrum ist insofern ›romantisch‹ und vor-normalistisch, als sie auf einem christlichen bzw. postchristlichen Dualismus von Körper und Seele, also einer fundamentalen metaphysischen Diskontinuität, beruht. Triboulet (»Le roi s’amuse«) ist eine böse und Quasimodo eine schöne Seele in monströsen Körpern, Gwynplain schließlich wurde –genau wie die blinde Dea nicht von der Natur, sondern von einer perversen Gesellschaft deformiert, wodurch er zu einer Allegorie der vom Feudalismus entfremdeten schönen Seele wird. Wenn die Blinden, ›Krüppel‹ und ›Besessenen‹ im Christentum von Gott so geschaffen worden waren, um den Heiligen die Gelegenheit zu Wunderheilungen und den einfachen Christen die zur Caritas zu bieten, so sollen sie bei Hugo die künftige republikanische Emanzipation einklagen. Ich habe in diesen einleitenden Bemerkungen bereits mehrfach den Begriff des Normalismus verwendet, mit dem in meinen Augen die entscheidende diskurshistorische Zäsur verbunden ist, die die große Transformation von der nosologischen Diskontinuität, die noch die literarischen Mythen Victor Hugos bestimmt, zum heutigen kontinuierlichen Feld der Behinderung ermöglicht hat. Ich muss dabei auf meine ausführliche systematische und historische Studie »Versuch über den Normalismus« 2 verweisen, aus der ich hier lediglich einige exemplarische Aspekte erinnern kann. Ich gehe dabei von einem der entscheidenden diskursbegründenden Ereignisse aus, dessen Bedeutung von Canguilhem in seiner noch immer grundlegenden Darstellung zurecht betont worden ist: dem sogenannten »Prinzip von Broussais« 3, oder – wie ich ergänzen möchte – dem Prinzip von Broussais und Comte, das man auch als das normalistische Kontinuitätsprinzip bezeichnen kann. Dieses diskurshistorische Ereignis lässt sich nicht nur – es muss geradezu narrativ induziert werden: Denn nichts anderes als ein Wahnsinnsanfall des Begründers der Soziologie und des Positivismus, Auguste Comte, führte zur Formulierung des normalistischen Kontinuitätsprinzips.
1
Vgl. Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monstrums und des
2
Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 4., er-
Monströsen in Literatur, Fotografie und Film. Heidelberg: Synchron 2010. gänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009 (1. Aufl. Opladen 1996). 3
Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique. Paris: Presses Universitaires de France 1966.
E RZÄHLEN , WIE
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1826 hatte Comte seine berühmten öffentlichen Vorlesungen vor der Pariser intellektuellen Elite (einschließlich des Wahlparisers Alexander von Humboldt) über die ›positive Philosophie‹ begonnen. Nach der dritten Vorlesung dreht das Genie durch (als solches ›Durchdrehen‹ hat Comte die Krise später selbst ganz distanziert beschrieben), schreibt Briefe wie der wahnsinnige Nietzsche, wandert wie Büchners Lenz halluzinierend durch die Wälder und schlägt seiner Caroline vor, zusammen mit ihm wie Jesus auf dem Wasser zu wandeln. Mithilfe des berühmten Physiologen Blainville, der im Cours de philosophie positive einen Ehrenplatz erhalten wird, schafft Caroline ihren Auguste nach Charenton zu Esquirol, der eine ›Manie‹ diagnostiziert. Luzide durchschaut der Patient die Schädlichkeit der ›Therapie‹ aus kalten Duschen und Aderlässen, so dass er wiederum mithilfe Blainvilles die Anstalt verlässt – gegen den erklärten Rat Esquirols, der »N.G.« in die Papiere einträgt: »non guéri«, »nicht geheilt«. Bei der anschließenden kirchlichen Heirat mit Caroline beschimpft der Bräutigam die Pfaffen und unterschreibt mit »Brutus Bonaparte Comte«. Er fällt dann von der ›Manie‹ in die ›Melancholie‹, also Depression, bis zu einem Selbstmordversuch in der Seine. Etwa zweieinhalb Jahre nach dem Ausbruch kann Comte die Vorlesungen wieder aufnehmen, unter denen sich nun auch Broussais in Person, Fourier (der Mathematiker) und Esquirol selber befinden. Comte ging später wiederholt in seinen theoretischen Schriften auf seinen Wahnsinnsanfall ein, den er als »Experiment der Natur« betrachtete, etwa so: »Nun hat mir der gesamte Ablauf dieser ausnahmeartigen Schwankung [oscillation exceptionnelle] meine jüngste Entdeckung über das Hauptgesetz der menschlichen Evolution auf doppelte Weise zu verifizieren erlaubt. Ich durchlief seinerzeit nämlich sämtliche wesentlichen Entwicklungsphasen, zunächst rückwärts, dann wieder vorwärts. « 4
Mit den Entwicklungsphasen sind die bekannten »fetischistischen«, »theologischen«, »metaphysischen« und »positiven Stadien« gemeint. Er sei bis zum »Fetischismus« ›regrediert‹, wie man später formuliert hätte. »Meine Spontaneität stellte die normale Existenz wieder her.« Insgesamt deutete er seine manischdepressive Phase als Überschreitung einer Normalitätsgrenze zuerst nach ›oben‹ (durch ›Überhitzung‹ und ›exzessives Tempo‹ des Denkens), danach nach ›unten‹ (durch ›extreme Verlangsamung‹ und ›Einschlafen‹ des Denkens in der De-
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Comte, Auguste: »Système de politique positive«, in: Ders.: Sociologie. Textes choisis par Jean Laubier. Paris: Presses Universitaires de France 1963, S.90. Zu den »Stadien« grundsätzlich: Comte, Auguste: Philosophie première. Herausgegeben u.a. von Michel Serres. Paris: Hermann 1975, S. 20ff.
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pression). Diese Erkenntnis glaubte er aus Broussais‹ Traktat »De l’irritation et de la folie« ziehen zu können, an dessen gründliches Studium er sich nach dem Ende seines Wahnsinns schon 1827 umgehend begab. Man könnte Comtes Lektüre dieses Broussais-Texts ›an der Grenze des Wahnsinns‹ als Gründungsereignis des Normalismus bezeichnen, wenn es so etwas wie den Ur-Sprung eines epochalen Diskurses überhaupt geben könnte. Jedenfalls lassen sich Comtes ›Rezeptionseffekte‹ bei der Lektüre leicht mutmaßen. Über die Entstehung des Wahnsinns las er dort: »Zum einen die zu weit getriebenen intellektuellen Anstrengungen, zum anderen die heftigen und vor allem andauernden Leidenschaften bewirken Tag für Tag, da sie der Innervation keine Ruhe gönnen und ihr nie ein Absinken zum Normaltyp gestatten, eine Entzündung, deren Hauptherd im Nervenapparat der drei wichtigsten Körperhöhlen [Gehirn, Brust, Magen, J.L.] liegt«. 5
Wenn vor allem das Gehirn in ununterbrochene neue »Erektion« (érection) versetzt wird, »bevor noch die letzte auf den Normalgrad absinken konnte, wird die Reizung überstark und die Entzündung tritt ein [...].« (Ebd., S. 291) Wenn Broussais diese »Explosion« (ebd., S. 451) vor allem als Geschwindigkeitsüberschreitung der Nervenbewegung, als Durchdrehen im Wortsinne, zu fassen sucht, so muss das dem genialen Polytechnicien unmittelbar eingeleuchtet haben: »Denn das bedeutet, dass der hypernormale Modus der Bewegung im Gehirn [mouvement intra-cérébral] derartig schnell ist, dass nichts ihn stoppen kann.« (Ebd., S. 454) Um das Wesentliche zusammenzufassen: Die »fixe Idee« bekommt bei Broussais eine neue Bedeutung; es gilt nicht mehr, in einer nosologischen Matrix die richtige »Manie« oder »Melancholie« herauszufinden – bildlich gesprochen: wie in einem bestimmten ›Kästchen‹ – vielmehr liegt den Symptomen nun eine Kurve der »Irritation« zugrunde, die Broussais von John Brown übernahm. Diese Kurve ist dreiteilig und kontinuierlich gedacht: Sie besitzt im mittleren Bereich ein »normales« Spektrum, sowie zwei »anormale« Zonen oben und unten (Supernormalität und Subnormalität), wobei jeweils eine Normalitätsgrenze überschritten wird. Die gesamte Kurve ist kontinuierlich und deshalb Raum dynamischer Prozesse, so dass ein Individuum aus dem Normalbereich über die Normalitätsgrenzen geraten kann (Denormalisierung). Dieser Prozess ist, wie Comte es erfahren zu haben glaubte, prinzipiell reversibel (Normalisierung).
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Broussais, François Joseph Victor: De l’irritation et de la folie. 2. Auflage. 2 Bände. Paris: Fayard 1839, Band. 2, S. 292.
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Unheilbaren Wahnsinn bzw. unheilbaren Schwachsinn erklärte Broussais als Erblast oder als Chronifizierung. Comte war überzeugt, dass ein längerer Aufenthalt in Esquirols Anstalt ihn chronisch wahnsinnig gemacht hätte, so dass eine Normalisierung unmöglich geworden wäre. Die normalistische Diskursivierung des Anderen kennt also keine WesensAlterität: Wenn die Anormalität in ihren beiden – ›oberen‹ und ›unteren‹ – Spielarten auch durchaus jeweils einen ›qualitativen Sprung‹ impliziert, so haben wir es dabei dennoch immer mit einem prinzipiell reversiblen dynamischen Prozess auf einem quantifizierbaren Kontinuum zu tun. Damit sind auch die Kategorien Homogenität und Gradualismus anstelle der vornormalistischen Heterogenitäten, Wesenszäsuren und Wesensmetamorphosen (Verwandlungen) gegeben. Typisch normalistisch sind also Prozesse einer graduellen Zu- oder Abnahme von (idealiter quantifizierbaren) ›Werten‹ in einer kontinuierlichen ›Dimension‹, wie wir alle es heute aus unserem Alltag kennen: So messen wir den Blutdruck und sind beruhigt, wenn er sich im normalen Spektrum zwischen 130:85 ›oben‹ und 100:60 mm Hg (Millimeter Quecksilbersäule) ›unten‹ situiert – steigt er aber darüber oder fällt er darunter, dann bedeutet das Denormalisierungsalarm (Hypertonie oder Hypotonie). Aus dem Kontinuitätsprinzip folgt der Gradualismus: So liegt über dem normalen Blutdruck zunächst der ›hoch normale‹, darüber dann die ›leichte‹, dann die ›mittelschwere‹ und schließlich die ›schwere‹ Hypertonie. Ein ganz analoger alltäglicher Fall wäre das Körpergewicht, metaphorisch die ›Linie‹, mit einem Normalspektrum zwischen Über- und Untergewicht. Der Übergang von wesenhaften Alteritäten und Diskontinuitäten zu graduellen Kontinuitäten im Normalismus impliziert auch eine entscheidende Änderung auf der Diskurs- und Subjektseite der Beschreibung: Während die Wesensalterität epistemologisch opak (unverständlich) war, ist die Anormalität prinzipiell erkennbar und dem Subjekt, besonders dem therapeutischen, transparent. Diese epistemologische Quelle der normalistischen Transparenz ist entscheidend – sie wird durch die demokratische Transparenz gestärkt: Idealiter stehen die normalistischen Kurvenlandschaften allen Subjekten der Kultur offen und können ihnen so zur Orientierung und im flexiblen Normalismus dann auch zur Selbstadjustierung dienen. Die literarhistorische Frage ist nun, wie sich Denormalisierung und Normalisierung erzählen lassen. Während Balzac mit seinem Modellsymbol des kontinuierlich schrumpfenden Chagrinleders und dessen Kopplung an eine mythische Katabasis eine solche Möglichkeit in heute längst klassischer Weise aufgezeigt hatte, widersprach der Gradualismus, wie wir sahen, diametral der hugoschen Fantasie, die gerade auf extrem großen Diskontinuitäts-Chocks beruht, weshalb
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der Zeitgenosse Balzacs, Comtes und sogar noch des frühen Zola eine vornormalistische Teratologie reinszenierte. Balzacs Peau de chagrin, in der übrigens Broussais als Brisset karikiert wird, bezieht die Denormalisierung auf ein Individuum, was also eine Lebensgeschichte ergibt. 6 Eine andere Komponente des Normalismus, die ich hier nur signalisieren kann, nämlich die mit dem Namen Quételet und dem Anspruch auf Transparenz verbundene massenverdatende und statistische, legt noch eine andere Möglichkeit nahe: die einer kollektiven Denormalisierung im Zuge eines Vererbungsprozesses, in dem das einzelne Individuum jeweils nur Repräsentant eines Grades auf einer überindividuellen Kurve ist. Wir sind bei Émile Zola und seinem Konzept eines Romanzyklus der Denormalisierung über vier Generationen angekommen. Zola konstruierte seinen Erbgang auf der Basis heute überholter Entartungstheorien (dégénérenscence: Lucas, Moreau de Tours, Morel, Magnan, Féré, Déjerine u.a.) 7 – wobei aber gerade das normalistische Rahmenwissen weitgehend mit der modernen Humangenetik kompatibel ist (im Wesentlichen denkt etwa ein Thilo Sarrazin heute noch genauso). Nach solchen Quellen Zolas waren es vor allem Alkohol, Syphilis/Paralyse und eine spezifische Nervenschwäche, für die sich schließlich der Begriff ›Neurasthenie‹ durchsetzte, die im Erbgang zwischen den Generationen kontinuierlich weitergegeben wurden und sich dabei gradualistisch verschlimmern konnten. Wie Ulla Link-Heer dargestellt hat, spielt im normalistischen Vererbungsdiskurs das Modell des ›StammBaums‹ (arbre généalogique) die Rolle eines Leitsymbols. (Vgl. ebd., S 287ff) Dabei geht es um die das einzelne Individuum übergreifende hereditäre bzw. familiale Gesamtkurve, die die Kategorien der Kontinuität und des Gradualismus exemplarisch veranschaulichen kann. So kann in einem solchen Stammbaum eine bestimmte Dimension (etwa die einer heutigen ›geistigen Behinderung‹) graduell zu- oder abnehmen. Ich beschränke mich auf einige Episoden aus der Macquart-Branche des Zyklus. Zolas Urmutter Adélaide Fouque besitzt bereits eine leichte Anlage zur Nervenschwäche: Nachdem ihr Ehemann Rougon, der Vater der anderen Branche, ums Leben kam, bekommt sie von ihrem Liebhaber Antoine Macquart drei Kinder. Während die Rougon-Branche insgesamt ein stärkeres Normalitätspotential besitzt, geht es mit der Macquart-Branche schnell bergab. Das liegt am
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Zur Glücksspiel-Komponente in Balzacs Roman und ihrem Zusammenhang mit Probabilismus und Normalismus vgl. Schnyder, Peter: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650-1850. Göttingen: Wallstein 2009, S. 348 ff.
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Link-Heer, Ursula: »Über den Anteil der Fiktionalität an der Psychopathologie des 19. Jahrhunderts«, in: LiLi, 51, 22/1983, S. 280-302.
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schweren Alkoholismus des Antoine Macquart, der sein Sperma beeinträchtigt hat. Nach Zolas Quellen ist Alkohol ein ›Gift‹, das das Erbgut schädigt und die Sprösslinge graduell ›entarten‹ lässt. Schon Antoines Tochter Gervaise akkumuliert in ihren Eiern Alkohol und Nervenschwäche – von ihrem Liebhaber Lantier kommt die Anlage zur Paralyse durch syphilitische ›Vergiftung‹ hinzu, was bei ihren vier Kindern bereits schwere Anormalitäten generiert: bei Nana die bekannte Nymphomanie und die gesteigerte Syphilis, bei Étienne Lantier politischen ›Extremismus‹ (Germinal), bei dem Lokführer Jacques Lantier »folie homicide«, also Wahnzustände mit zwanghaften Lustmordanfällen, beim Maler Claude Lantier schließlich ein mit Melancholie gepaartes künstlerisches Genie, das durch ›Konversion‹ der letzlich von Adélaide Fouque stammenden ›Nervenschwäche‹ erklärt wird (»névrose se tournant en génie«). 8 Zolas eigenes Genie besteht darin, dass er die genetischen Anlagen zum einen als Generatoren für Extremfall-Narrative und zum anderen darüber hinaus für spannende Kopplungen mit der sexuellen wie der »sozialen«, politischen und historischen Dimension nutzt, wobei aber durch den normalistischen Rahmen insgesamt ein homogener und kontinuierlicher Chronotopos entsteht, in dem alle Einzelgeschichten und Einzelfiguren als Gradmarkierungen auf einem einzigen Kurvenbündel bzw. Kurvenfächer vernetzt sind. Dabei sind die Einzelgeschichten eine ingeniöse Transformation des typisch normalistischen Genres der vor allem medizinischen und psychiatrischen »Fallgeschichte«, die von Michaela Ralser diskurshistorisch untersucht wurde. 9 Zur exemplarischen Illustration wähle ich Claude Lantiers kleinen Sohn Jacques-Louis, der mit seiner Hydrozephalie (»Wasserkopf«) heute als ein typischer ›Behinderter‹ gelten würde. Mit fünf Jahren wird Jacques’ Schädigung »auffällig«, wie man heute sagen würde: Da zogen seine Eltern vom Land nach Paris um, was ihn im Zimmer isolierte und wo er durch beide Eltern zunehmend vernachlässigt wurde: »L’enfant s’accomodait mal de Paris. Lui, qui avait eu la campagne vaste pour se rouler en liberté, étouffait dans l’espace étroit où il devait se tenir sage. Ses belles couleurs rouges se pâlissaient, il ne poussait plus que chétif, sérieux comme un petit homme, les yeux élargis sur les choses. Il venait d’avoir cinq ans, sa tête avait démesurément grossi, par un
8
Zola, Émile: Arbres généalogiques des Rougon-Macquart, in: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire. Herausgegeben von Armand Lanoux. Paris: Gallimard 1978, unpaginierte Einlage.
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Ralser, Michaela: Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900. Paderborn/München: Fink 2010.
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phénomène singulier, qui faisait dire à son père: ›Le gaillard a la caboche d’un grand homme!‹ Mais, au contraire, il semblait que l’intelligence diminuât, à mesure que le crâne augmentait. Très doux, craintif, l’enfant s’absorbait pendant des heures, sans savoir répondre, l’esprit en fuite; et, s’il sortait de cette immobilité, c’était dans des crises folles de sauts et de cris, comme une jeune bête joueuse que l’instinct emporte. Alors, les ›tiens-toi tranquille!‹ pleuvaient, car la mère ne pouvait comprendre ces vacarmes subits, bouleversée de voir le père s’irriter à son chevalet, se fâchant elle-même, courant vite rassoir le petit dans son coin. Calmé tout à coup, avec le frisson peureux d’un réveil trop brusque, il se rendormait, les yeux ouverts, si paresseux à vivre, que les jouets, les bouchons, des images, de vieux tubes de couleur, lui tombaient des mains.« 10
Der Kleine sträubt sich dann gegen das Lesenlernen. Dieses Symptom ist noch im heutigen Normalismus zentral – seit Binet wird bekanntlich geistige Behinderung in Zeiteinheiten von ›Retardation‹ gegenüber der ›normalen Entwicklung‹ gemessen. Was wir heutzutage unter LRS (Lese-Rechtschreibschwäche) verstehen, wird mit dem gleichen Dispositiv konstituiert, ebenso wie ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Disorder), was in Zolas Deskription deutlich beobachtet wird: »Jacques, oubliant de manger, tapait sa cuiller au bord de son assiette, les yeux rieurs, l’air ravi de cette musique. ›Jacques, tais-toi! gronda la mère à son tour. Laisse ton père manger tranquille!‹ Et le petit, effrayé, tout de suite très sage, retomba dans son immobilité morne, les yeux ternes sur ses pommes de terre, qu’il ne mangeait toujours pas.« (Ebd., S. 215) »Mais Jacques, une fois encore, s’oubliait. Après être resté longtemps silencieux devant son livre, absorbé sur une image qui représentait un chat noir, il s’était mis à chantonner doucement des paroles de sa composition: ›Oh! gentil chat! oh! vilain chat! oh! gentil et vilain chat!‹ et cela à l’infini, du même ton lamentable. […] - ›Jacques, tais-toi, quand ton père cause! répéta Christine. - Non, ma parole! il devient idiot... Vois-moi sa tête, s’il n’a pas l’air d’un idiot. C’est désespérant... Réponds, qu’est-ce que tu veux dire, avec ton chat qui est gentil et qui est vilain?‹ Le petit, blême, dondelinant sa tête trop grosse, répondit d’un air de stupeur: ›Sais pas.‹« (Ebd., S. 217)
10 Seitenangaben nach Zola, Émile: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire. Heraugegeben von Armand Lanoux (= Bibliothèque de la Pléiade, Band 4). Paris: Gallimard 1966, S. 209.
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»Ce pauvre Jacques, malgré ses neuf ans sonnés, ne poussait guère vite; sa tête seule continuait de grossir, on ne pouvait l’envoyer plus de huit jours de suite à l’école, d’où il revenait hébété, malade d’avoir voulu apprendre; si bien que, le plus souvent, ils le laissaient vivre à quatre pattes autour d’eux, se traînant dans les coins.« (Ebd., S. 237)
Solche Deskriptionen mit ihren Verben des positiven und negativen Wachstums, die wie von medizinischen Fotos und Serienfotos, wie sie die Fallgeschichten ergänzten, inspiriert erscheinen, sind in ihrer Präzision von hoher Intensität. Georg Lukács begriff in seiner Kritik an Zolas angeblichem Deskriptivismus nicht, dass die Deskriptionen dennoch an jeder Stelle integraler Bestandteil einer genuinen Narration sind der aus Fallgeschichten komponierten übergreifenden Narration epochaler Denormalisierung. Der Tod des kleinen Jacques liefert ein Musterbeispiel für eine neue Art von Mythos, den pseudowissenschaftlichen Mythos vom Ende der Rasse. Mit zwölf Jahren (ebd. S. 258ff) erkrankt Jacques schwer: er kann nur noch liegen, weil der Kopf zu schwer für den schwachen Körper geworden ist, er kann den schweren Kopf nicht mehr heben. Über Nacht ist er tot. (Vgl. ebd., S. 266) Diese Art von Schaden funktioniert dominant symbolisch: »avec sa tête trop grosse d’enfant du génie« (ebd.) Schädel und Gehirn haben sich durch Degeneration voneinander gelöst: Der Schädel ist allein auf Kosten von Gehirn und Körper gewachsen – ein Beispiel für nicht bloß ein-, sondern nun mehrdimensionale Denormalisierung, die zum Kollaps führt. Parallel damit schreitet auch die Katabasis des genialen Vaters fort; das große Meisterwerk einer als impressionistisch konnotierten Ansicht der Seine mit der Île de la Cité scheitert Claude malt zwanghaft den toten Jacques in ›klassischer‹ Manier und schickt ihn statt des Meisterwerks zum Salon. Die Jury sieht den Maler als erledigt an und nimmt sein Porträt lediglich als »charité« in die Ausstellung. (Ebd., S. 280f) Es wird ganz hoch zwischen Schund gehängt und völlig übersehen; nur Claude selbst steht lange davor. Damit beginnt seine sich bis zum Suizid steigernde »Melancholie«, wie es damals hieß, in heutiger Terminologie Depression. 11 Den Fall von Claudes Bruder Jacques Lantier habe ich in meinem »Versuch über den Normalismus« ausführlich behandelt. 12 Hier geht es um eine extreme Alterität, Fremdheit, ja Monstrosität: den zwanghaften Lustmord, der dann in Musils Moosbrugger in gänzlich verschiedener Diskursivierung wiederkehrt. Auch Zola gerät mit diesem Thema an die Grenze normalistischer Darstellungsmöglichkeiten, d.h. an die Grenze des Kontinuums und der Transparenz. Sein
11 Im Text als »Schwärze« und »Dunkelheit« symbolisiert (ebd., S. 339f). 12 Vgl. ebd., S. 245-251.
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psychiatrisch gesehen extrem unplausibler, literarisch aber genialer Trick besteht darin, seiner monströs anormalen Figur gleichzeitig hohe, geradezu wissenschaftliche Intelligenz zu verleihen. Jacques Lantier kann sich selbst diagnostizieren und eine Vermeidungstaktik gegenüber riskanten Situationen entwickeln. Diese Klarsicht impliziert aber eine ausweglose Steigerung der Denormalisierungsangst: Er muss sein Geheimnis verschweigen, gerade auch gegenüber geliebten Frauen, was dann schließlich die tragische Katastrophe auslöst. Zolas berühmter Zyklus, der bloß das klassische Meisterwerk (»L’Oeuvre«) einer ausgedehnten, zahlreiche Texte der E- und noch viel mehr der U-Literatur umfassenden Formation mit den Namen Naturalismus, roman du terroir, Bauernund Sippenroman, Blubo, Familiensaga usw., auch eines Teils von »sozialistischem Realismus«, umfasst, hat vermutlich indirekt zur Konstituierung eines integrierten und integralen normalistischen Feldes der ›Behinderung‹ beigetragen. Ein Blick auf Zolas Stammbäume zeigt ein zusammenhängendes, homogenes, kontinuierliches Feld statistischer Verzweigungen und Devianzen, wodurch die vornormalistisch inkompatiblen Krankheits- bzw. Störungsbilder als analoge Punkte in einen kontinuierlichen Kurvenfächer eingetragen sind. Lahmheit liegt nun im gleichen Feld mit Wasserkopf, Nervenschwäche und Lustmordsucht. Der Vorwurf gegen Zola, er »wühle ständig im Schlamm«, meint – normalismustheoretisch reformuliert – schlicht die Komposition der großen Katabasis aus Fallgeschichten von Denormalisierung und Anormalität. Das entsprach der protonormalistischen Lage, 13 deren Prinzip man unter Umfunktionierung Foucaults so formulieren könnte: Anormalität machen, Normalität (zu)lassen bzw. sich entwickeln lassen. (Im Unterschied zum heutigen flexiblen Normalismus, wo es heißen könnte: Normalität machen, Anormalität als Grenzfall (zu)lassen.) Die ›Vorarbeit‹, wie man sagen könnte, der protonormalistischen Entartungstheorien für das heutige flexibel-normalistische Behinderungs-Dispositiv bestand also in der Integration, Homogenisierung und Kontinuierung des Feldes, die von dem neuen Dispositiv ›beerbt‹ werden konnte. Thematisch geht es auch in Musils »Mann ohne Eigenschaften« um ähnliche Fälle von Anormalität und Denormalisierung wie bei Zola – insbesondere spielt der Lustmörder Moosbrugger eine zentrale Rolle bei der großen, in den Weltkrieg führenden Katabasis einer umfassenden Denormalisierung, weil er wie eine Art Magnet wirkt, der andere Anormalitäten, und besonders die in Wahnsinn übergehende ›Neurasthenie‹ Clarisses, anzieht. Auch die normalistischen Diskurse der Jahrhundertwende von 1900, vor allem die medizinischen, psychiatri-
13 Zur idealtypischen Polarität von Protonormalismus und flexiblem Normalismus vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S.75-82.
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schen und psychoanalytischen, spielen eine dominante Rolle –im Unterschied aber zu Zola, bei dem diese Diskurse als »positives« Orientierungswissen der Erzählinstanz dienen, wie es der theoretische Rahmen-Roman »Le docteur Pascal« explizit macht, wird das normalistische Wissen bei Musil lediglich zitiert und zwar skeptisch, kritisch und teilweise destruktiv-satirisch. Die Kategorie, auf die die Erzählinstanz stattdessen sozusagen hinauswill, ist der ›andere Zustand‹. Diese rätselhafte und viel beredete Kategorie muss, wie Claus Hoheisel in seiner Dissertation plausibel gemacht hat, dominant physikalisch gelesen werden: als eine Analogie zu den materiellen »Aggregatzuständen« 14. Musil begreift mentale, sowohl kognitive wie emotiv- und affektiv-psychische Intensitäten als wechselnde ›Zustände‹: Indem Musil sowohl physikalische wie psychologische und soziologische Prozesse thermodynamisch-massendynamisch denkt, physikalisiert er wie schon Quételet die normalistische Grundkategorie des ›Normalzustands‹. Die normalistische Fragestellung impliziert, wie sich zeigte, notwendig die Problematik der Kontinuität bzw. Diskontinuität. Wenn der Normalzustand, d.h. die Normalitätsgrenze, im Prozess einer Denormalisierung überschritten wird, entsteht ein Zustand der Anormalität, der aber in normalistischer Sicht auf einem Kontinuum mit der Normalität liegt und prinzipiell reversibel bleibt. Man könnte nun mutmaßen, dass Musils physikalische Zustandsänderung mit diesem normalistischen Kontinuitätsmodell kompatibel sein sollte und eine Reihe von Formulierungen – allerdings meistens von Normalisten-Figuren – gehen in diese Richtung. So bekennt sich Clarisses Bruder Siegmund, der Arzt, explizit zum Kontinuitätsprinzip von Broussais-Comte (und implizit bereits zu einer flexibelnormalistischen Sicht): »›Sie [Clarisse, J.L.] ist ohne Zweifel anomal‹, erwiderte er. ›Aber ist Meingast normal? Oder selbst Walter? Ist Klavierspielen normal? Es ist ein ungewöhnlicher Erregungszustand, verbunden mit einem Tremor in den Hand- und Fußgelenken. Für einen Arzt gibt es nicht Normales.‹« 15
Mit dem Term ›Erregungszustand‹ haben wir wörtlich die Grundkategorie von Broussais, wenn auch in Verbindung mit radikaler Flexibilisierung – ganz wie
14 Vgl. Hoheisel, Claus: Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Ein Kommentar. Dissertation. Dortmund 2002, veröffentlicht im Internet. http://d-nb.info/970690940/04, letzter Zugriff am 10.07.2012. 15 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Herausgegeben. von Adolf Frisé, neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe in 2 Bänden. Reinbek: Rowohlt 1987, S. 839.
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bei dem anderen Sigmund (ohne e), der ›normal‹ ebenfalls häufig in Gänsefüßchen setzte. Mit einer solchen normalistischen Lesart bricht jedoch definitiv der ›mystische‹ Diskurskomplex, der als ›Emergenz‹ im engen philosophischen Sinne zu verstehen sein soll: Bei der Überschreitung einer Grenze (Transgression) – häufig einer typischen Normalitätsgrenze – ereignet sich eine Metamorphose, die nicht mehr im normalistischen Rahmen interpretierbar ist, die also das Kontinuum radikal sprengt und auf durchaus wunderbare, irrationale Weise einen gänzlich ›anderen‹ Bewusstseinszustand induziert. Der Protagonist Ulrich möchte eine Gesetzmäßigkeit für diese Metamorphose entdecken und zwar durch am eigenen Subjekt induzierte ›Experimente‹. In der Agathe-Handlung erscheint der Geschwisterinzest zunächst als mögliches Experiment zum ›anderen Zustand‹ – was aber im Laufe der Arbeit am Roman stark differenziert, sublimiert und möglicherweise ganz umfunktioniert werden sollte. Entscheidend wird nun die grundsätzlichere Problematik des Androgynen und die Flexibilisierung der starren protonormalistischen Normalitätsgrenze zwischen Mann und Frau. Diese Grenze fällt nun symptomatischerweise mit der von zwei elementaren ›Zuständen‹ zusammen: »Der Mensch kommt in zweien [Zuständen, J.L.] vor, als Mann und als Frau.« Das ist der Schluss eines exemplarisch physikalischen Kontexts: »In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht herausgekommen war. Er erinnerte sich dunkel, daß er an Clarisse gedacht hatte, als er aus den drei Hauptzuständen des Wassers ein Beispiel gemacht hatte, um an ihm eine neue mathematische Möglichkeit zu zeigen; und Clarisse hatte ihn dann davon abgelenkt. Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: ›Kohlenstoff...‹ und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Kohlenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: ›Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und als Frau.‹« 16
Diese Schlüsselstelle 17 steht im Kontext der sich entwickelnden ›anormal‹ intensiven Geschwisterliebe, bei der es – jedenfalls soweit sich das Konzept ›letzter Hand‹ erschließen lässt – mehr um Androgynie als um banalen Inzest gehen soll-
16 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 687. 17 Über das Motiv der Zustände des Kohlenstoffs vgl. Hoheisel: Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«.
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te. Zwei denormalisierende Prozesse stehen sich im Roman gegenüber: zum einen die protonormalistische Steigerung der binär polarisierten Geschlechtscharaktere in eine ›durchdrehende‹ männlich-soldatische und parallel dazu in eine ›durchdrehende‹ weiblich-›hysterische‹ Anormalität. Beide Anormalitäten liegen im normalistischen Kontinuuum und führen in Extremismus, Faschismus, Militarismus und die kollektive Flucht in den großen Krieg. Zum anderen die transnormalistische beidseitige, chiastische Androgynisierung, bei der ›mystische‹ Bewusstseinszustände erhofft werden, zu denen intermittierende Erlebnisse die Vorstufe bilden könnten: »Es kam ihm aber vor, daß diese Liebesverwandlung des Bewußtseins nur ein besonderer Fall von etwas Allgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird.« 18
Ob die androgyne Metamorphose in der Geschwisterliebe über solche, auf der Normalität aufruhende und aus ihr emergierende ›Inseln‹ hinausgehen sollte und wenn ja, in welcher diskursiven und literarischen Formulierung, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Deutlich ist nur das Projekt eines nicht anormalen, sondern eines transnormalistischen Zustands, der thematisch mit dem Friedensmotiv verbunden ist. In der Moosbrugger-Handlung möchte Ulrich zunächst erforschen, ob der ›anormale‹ Zustand des Lustmörders – etwa während des acting-out – in einen ›mystischen‹ Zustand umschlägt. Ganz im Gegensatz zu Zolas Jacques Lantier wird Moosbrugger als eine Person charakterisiert, die wir heute als ›geistig behindert‹ bezeichnen würden. Sie bleibt für Außenstehende, einschließlich der Ärzte und Ulrichs, vollständig opak. Psychiater und Juristen, darunter Ulrichs Vater, streiten über die Zurechnungsfähigkeit, die normalistisch vom Grad der Anormalität abhängig gemacht, traditional normativistisch jedoch grundsätzlich postuliert wird, solange die Person nicht unter ständigen Anfällen leidet (Moosbrugger ist außerhalb seiner Schübe ein opaker, aber ›ruhiger‹ Mensch). Ulrich gehört weder zu den Normalisten noch zu den Normativisten, weil ihn hypothetische ›andere Zustände‹ bei Moosbrugger interessieren. Erstaunlich ist bei dieser Anlage der Problematik die Ermächtigung des allwissenden Erzählers zur Introspektion in die opake Figur: Wir lesen im Kapitel 59 des ersten Teils (»Moosbrugger denkt nach«) erlebte Rede und sogar innere Monologe des Lustmörders:
18 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 115.
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»In der Einzelzelle dachte Moosbrugger darüber nach, was sein Recht sei. Das konnte er nicht sagen. Aber es war das, was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte. In dem Augenblick, wo er daran dachte, schwoll sein Gefühl an. Seine Zunge wölbte sich und setzte zu einer Bewegung an wie ein Hengst im spanischen Schritt; so vornehm wollte sie es betonen. ›Recht‹, dachte er außerordentlich langsam, um diesen Begriff zu bestimmen, und dachte so, als ob er mit jemand spräche, ›das ist, wenn man nicht unrecht tut oder so, nicht wahr‹ – und plötzlich fiel ihm ein: ›Recht ist Jus.‹ So war es, sein Recht war sein Jus! [...] Sein Jus hatte man ihm vorenthalten!« (Ebd., S. 236f)
In diesem Moment assoziiert Moosbrugger seinen ersten sadistischen Überfall auf eine Frau, seine damalige Meisterin, mit 16 Jahren, und überhaupt die Frauen, die ihn zunächst jeweils durch ihre bloße Anwesenheit stören. »Dann merkte er, daß sein Denken anfing schwer zu werden. Er dachte ohnehin langsam, die Worte bereiteten ihm Mühe, er hatte nie genug Worte, und zuweilen, wenn er mit jemand sprach, kam es vor, daß der ihn plötzlich erstaunt ansah und nicht begriff, wieviel ein einzelnes Wort sagte, wenn Moosbrugger es langsam hervorbrachte.« (Ebd., S. 238)
Diese Vorstellung einer Verlangsamung des Denkens ist ganz normalistisch – schon Broussais kannte sie als subnormales Tempo des Denkens. Immer in erlebter Rede folgt die Eskalation eines psychiatrisch gesprochen – ›Schubs‹ – über paranoische Ideen zu Halluzinationen bis zum acting-out. Dabei verleiht die Erzählinstanz der anormalen Innenperspektive modellsymbolische Ausdrucksmittel, um sich an eine Kennzeichnung des gesuchten ›Zustands‹ heranzutasten: »Oft hätte er nicht genau beschreiben können, was er sah, hörte und spürte; dennoch wußte er, was es war. Es war manchmal sehr undeutlich; die Gesichte kamen von außen, aber ein Schimmer von Beobachtung sagte ihm zugleich, daß sie trotzdem von ihm selbst kämen. Das Wichtige war, daß es gar nichts Wichtiges bedeutete, ob etwas draußen ist oder innen; in seinem Zustand war das wie helles Wasser zu beiden Seiten einer durchsichtigen Glaswand.« (Ebd., S. 239)
Wiederum wird der ›Zustand‹ an dieser wichtigen Stelle physikalisch modelliert. Weiter geht die Kennzeichnung des ›Zustands‹ im Kapitel 59 des ersten Teils nicht – sie steht sozusagen auf der Kippe zwischen einem noch normalismuskompatiblen und einem schon transnormalistisch-›mystischen‹ Narrativ. Wie beim Inzest hat Musil auch die letzte Eskalation des von Clarisse befreiten
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Moosbrugger nicht mehr schreiben können, so dass auch die Frage nach Moosbruggers ›anderem Zustand‹ unbeantwortet bleiben muss. Die den zwanghaften Lustmord generierende psychische Störung, ob als ›Psychopathie‹ oder als ›Psychose‹ (Schizophrenie) diskursiviert, stellt in jeder Hinsicht einen Extremfall dar: Nicht nur liegt sie klar außerhalb eines noch so weit expandierten Gesamtfeldes von ›Behinderungen‹ – sie gehört auch zu jenen Grenzfällen des flexiblen Normalismus, die wie Pädophilie und Amoklauf weit jenseits der Normalitätsgrenze verharren und daher große Angst machen. Diese Angst entspringt insbesondere einer Art von Versagen des Kontinuitätsprinzips: Zwar müssen – normalistisch gedacht auch Lustmord, Pädophilie und Amok irgendwo weit außen auf dem Kontinuum situierbar sein, sie entziehen sich aber weitgehend der Transparenz, bleiben weitgehend opak. Normalismus bedeutet jedoch, dass das Kontinuitätsprinzip auch in diesen Fällen wirkt – und zwar mittels der Frage nach den (gradualistischen) ›Vorstufen‹. Typisch dafür ist die bei jedem Amoklauf wiederkehrende Suche nach vorwarnenden Symptomen, also nach den auf der Kurve des Kontinuums liegenden ›niedrigeren‹ Stufen bzw. Punkten. SM-Sex ist flexibel normalisierbar und längst normalisiert – aber führt von dort ein Kontinuum zum mörderischen Sadismus? Im Feld der Behinderungen gibt es ›Störungsbilder‹, die mit ›Hyperaktivität‹ und ›Aggressivität‹ gekoppelt sind, umgekehrt mit ›Depressivität‹ (mit aktuellen Varianten wie Burnout und Boreout). Die in Zolas Protonormalismus symptomatischen Süchte (Alkohol und Sex) spielen im flexiblen Normalismus eine ambivalente Rolle: Die Normalitätsgrenze wird nun in mehrdeutiger Weise attraktiv, weil ihre Überschreitung sehr starke Intensitäten verspricht. Gleichzeitig droht die Sucht, also das ›Hängenbleiben‹ in der Anormalität und der Verlust jeder Normalisierungsmöglichkeit. Ulrichs, Agathes und Clarisses Entwicklungskurven bewegen sich auf diese Situation zu, brechen aber an einem noch unentschiedenen Punkt ab. Musils Epos ambivalenter Denormalisierungen mit dem Potential zu ›anderen Zuständen‹ mit ›mystischem‹ Charakter arbeitet sich demnach an den Aporien nicht bloß des Protonormalismus, sondern antizipierend bereits auch denen unseres aktuellen Flexibilitätsnormalismus ab – also an den Aporien des Normalismus überhaupt. Begreift man den flexiblen Normalismus als eine der historisch avanciertesten Formen von ›Reterritorialisierung‹, dann arbeitete Musil in eine ähnliche Richtung wie später die ›Schizoanalyse‹ von Deleuze und Guattari. So ließen sich ›andere Zustände‹ womöglich als besondere Formen von ›SchizoIntensitäten‹ begreifen. Dennoch wird man auch bei Deleuze und Guattari eine Lösung der in Musils Fragment offen gebliebenen Fragen vergeblich suchen. Die
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Frage nach den Grenzen jedes Normalismus wie die nach tragfähigen transnormalistischen Alternativen bleibt unser aller epochale offene Frage.
Menschentrümmer oder eine neue Anthropologie? Zur Fotografie der hässlichen Krankheiten im 19. Jahrhundert G UNNAR S CHMIDT
Die Frage nach Schönheit und Hässlichkeit im Feld der Medizin zu stellen, mag zunächst unangemessen erscheinen: Medizin ist einem Realismus der Tatsachen verpflichtet, dessen Repräsentationsansprüche einem symbolischen System jenseits ästhetischer Kategorienbildung unterliegen. Die ikonografischen Sujets in Lehrbüchern und Schausammlungen müssen urteilslos in Bezug auf die »selbständigen Eigenwerte der Kunst« 1 sein, weil sie der Wissens- und nicht der Form- oder Stillogik folgen. 2 Für die Bild- und Urteilswelten im 19. Jahrhundert stellt das Nebeneinander von Wissen und ästhetischem Eindruck allerdings einen produktiven Anlass dar, um eine Diskursproduktion zwischen Erkenntnis und Vorurteil in Gang zu bringen, deren Wirkungen sich auch in nicht-medizinischen Kulturen zeigen. 3 Um einen Zugang zu dieser Ästhetik zu finden, die das Hässliche als potentiell mehrdeutige Oberfläche entwirft, ist an den historischen Punkt zurückzukehren, an dem die Fotografie soeben erfunden worden war. Mit dem neuen techni-
1
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1. Tübingen: Mohr 1988, S. 555.
2
Mit Blick auf den literarischen Realismus ähnlich argumentierend Rancière, Jacques: »Die Hinrichtung Emma Bovarys«, in: Ders.: Politik der Literatur. Wien: Passagen Verlag 2008, S. 65-90, hier S. 71-72.
3
Zu verweisen ist auf die Freakshows, die populär-medizinischen Wachsfigurenkabinette mit Schauerästhetik sowie auf die morbiden Bildwelten der künstlerischen Décadence.
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schen Medium, das lange als das realistische schlechthin galt, wurden erweiterte Erkenntnismöglichkeiten eröffnet – im gleichen Zuge das Erkennbarkeitsproblem aber auch verschärft. Der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne hat dazu in einer selten kommentierten Passage der Kurzgeschichte »The Birthmark« die passende fantastisch-dramatische Situation entworfen; in ihr wird das Verhältnis von Bild, Ästhetik, Medizin und Erkenntnis am historischen Punkt des Auftauchens einer neuen Episteme thematisiert. Die Geschichte handelt von dem Wissenschaftler Aylmer, der ein kleines Muttermal in der Form einer winzigen Hand aus dem Antlitz seiner Frau entfernen will, um aus ihr das Bild menschlicher Perfektion zu machen. In der Hawthorne-Forschung wird die Erzählung wiederkehrend als Psychogramm der männlichen Angst vor weiblicher Unreinheit gedeutet. 4 Erstaunlich an der Geschichte ist aber vor allem ihre Hellsicht in Bezug auf die moderne Wissenschaftsentwicklung. Als »The Birthmark« 1843 erschien, war die Fotografie noch nicht als bildgebendes Verfahren im Medizinkontext etabliert. Hawthorne deutet in seiner Erzählung dennoch etwas an, das charakteristisch für die medico-ikonografische Entwicklung im 19. Jahrhundert sein wird: »Er [Aylmer] bot ihr [seiner Frau] an, sie durch einen wissenschaftlichen Vorgang, den er erfunden hatte, zu porträtieren. Dies sollte durch den Einfall von Lichtstrahlen auf eine polierte Metallplatte bewirkt werden. Georgiana willigte ein. Als sie jedoch das Ereignis sah, erschrak sie; denn die Züge des Porträts waren verwischt und ununterscheidbar, während die winzige Hand genau dort erschien, wo die Wange hätte sein sollen. Rasch riß Aylmer die Metallplatte an sich und warf sie in eine Schale mit ätzender Säure.« 5
Hawthorne stellt das alte klassizistische Kunstparadigma der glatten, einheitlichen Oberfläche, in der jedes Fältchen, jedes Grübchen und jede Runzel als störend und ekelerregend erachtet wurde, dem modernen materialistischenergetischen Lebensparadigma gegenüber. Aylmer repräsentiert das idealistische Regime der edlen Form. Er kann in seiner Gewaltsamkeit, mit der er die »klassisch-ästhetische Codierung des Körpers« zu regeln hofft, als Vorläufer der
4
Siehe Benthien, Claudia: Haut. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 163167; Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 190f; Dunlavy Valenti, Patricia: Sophia Peabody Hawthorne. Missouri: University of Missouri Press 2004, S. 192f.
5
Hawthorne, Nathaniel: »Das Muttermal«, in: Ders.: Rappaccinis Tochter und andere Erzählungen. Übersetzt von Ilse Krämer. Zürich: Manesse-Verlag 1966, S. 294-321, hier S. 307.
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Eugeniker betrachtet werden. 6 Hawthorne impliziert in seiner Schilderung der hysterischen Reaktion auf das Defekte eine Kritik an dieser anatomischen Idealisierung. Die Vernichtung der scheinbar misslungenen Fotografie ist eine Geste der Verleugnung einer medial enthüllten Wahrheit: Weil das Bild eine Umwertung vornimmt, in dem das schöne Antlitz durch Unschärfe abgeblendet und das Symptom monströs vergrößert wird, ist ihm Erkenntniswert eingeschrieben. Das hässliche Symptom zeigt die Prozessualität potentiellen Wachstums, einer unsichtbar wirkenden Produktion. Die Erzählung insinuiert, dass für das erkennende Auge das hervorgebracht werden muss, was konventionell als hässlich gilt. Dieser ikonografische Tiefenblick entspringt einer epistemischen Neuausrichtung der Medizin im 19. Jahrhundert. Dazu ist zu anzumerken, dass die Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als äußerst bildarm zu kennzeichnen ist und im Bereich der Naturphilosophie das Modell ›Literatur‹ absoluten Vorrang vor dem der Ikonografie hatte. 7 Dies liegt gewiss zum einen an der Tatsache, dass Bildproduktion und -reproduktion recht aufwändig waren. Wichtiger ist jedoch der wissenschaftslogische Hintergrund. Wie Michel Foucault eindrucksvoll in seiner Studie zur Geburt der Klinik dargelegt hat, gewinnt der klinische Blick mit der Verwissenschaftlichung der Medizin erst im 19. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung. 8 Was ist aber das Charakteristikum der frühen Klinik? Sie ist nicht nach dem Vorbild des botanischen Gartens organisiert; die Krankheiten sind nicht Gegenstände, die nach einem existierenden Ordnungssystem geordnet werden können. Die Klinik ist der Ort einer noch wilden Wirklichkeitsbegründung für die Krankheiten, deren Verläufe, Nuancen und deren Ende beobachtet werden müssen. Auf sehr bildstarke Weise hat Emile Zola diesen verwirrenden Reichtum in seinem Roman »Lourdes« (1894) veranschaulicht: Im langen Einleitungskapitel wird der Zug nach Lourdes mit Waggons voller Kranker dem Leser als ein »wirklicher Krankensaal« 9 dargeboten. In ihm sind unterschiedliche Krankheiten versammelt, die sich zumeist durch »erbärmliche und traurige Häßlichkeit« (ebd.) auszeichnen. Illusionstechnisch ist das Kapitel als Abbild eines Stücks Lebenswelt motiviert; das Wort vom ›Krankensaal‹ enthält jedoch auch eine
6
Siehe Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1999, S. 78ff.
7
Siehe ausführlich dazu Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. München:
8
Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein Verlag
9
Zola, Emile: Lourdes. Leipzig: Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung 1987, S. 8.
Hanser Verlag 1994. 1985.
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Wissensproblematik: Nicht nur hat man es mit einer unübersichtlichen Menge an unverbundenem Beobachtungsmaterial zu tun, der Zug als Zeitpfeil gibt die Temporalität zwischen Krankheit und Tod wie auch zwischen Krankheit und Gesundung an. Wissen erschöpft sich nicht in Diagnostik, sondern fordert die Vorhersage einer Entwicklung. Bevor der Temporalitätsaspekt wieder aufgenommen wird, ist vorerst festzuhalten, dass die Fotografie der Krankheiten an Bedeutung gewinnt, weil sie die mediale Verdinglichung der Beobachtung beinhaltet und eine unvergleichliche Effizienz in der Bildleistung verspricht. Aufzeichnungsgenauigkeit bedeutet aber auch, dass es ein Bild gibt, das nicht mehr von künstlerischen Motiven durchdrungen sein sollte. In der Folge wird die Fotografie als technisches Bildmedium gerade diesen Aspekt der Kunstferne als Stärke ausspielen. Exemplarisch kommt diese Haltung in einer Formulierung des englischen Arztes und Fotografen Hugh Welch Diamond zum Ausdruck: »The Photographer […] needs in many cases no aid from any language of his own, but prefers rather to listen, with the picture before him, to the silent but telling language of nature.« 10 »Die Sprache der Natur« – mit diesem Stichwort ist noch nicht ausgesagt, was unter Natur zu verstehen ist. Schaut man auf die Patienten-Ikonografie des 19. Jahrhunderts, so wird offenkundig, dass darunter extreme pathologische Zustände verstanden wurden. Es wird eine Ästhetik institutionalisiert, die eine Ablehnung jeder Form idealistischer Kunst einschließt – weder verfügt das Bild über ethischen Nutzen, noch lädt es zur Identifikation mit Idealvorstellungen des Körpers ein. Propagiert wird gewissermaßen eine Hässlichkeit ohne Sinn. In Hawthornes Erzählung deutet sich dieser Konflikt zweier Ästhetiken an: Das Bild der Perfektion gehorcht der Vorstellung zivilisatorischer Anstrengung, wonach »Vollkommenheit durch Mühe und Leid erarbeitet werden müsse.« 11 Das Symptom hingegen verkörpert nicht nur die ungeschmückte Natur des Körpers, es zeigt den natürlichen Lebensprozess mit seinen Konnotationen der Vergänglichkeit an. In diesem Sinne ist es konsequent, wenn der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz 1853 in seiner »Ästhetik des Häßlichen« schreibt: »In einem Atlas der Anatomie und Pathologie zu wissenschaftlichen Zwecken ist natürlich auch das Scheußlichste gerechtfertigt, für die Kunst hingegen wird die ekelhafte Krank-
10 Welch Diamond, Hugh: »On the Application of Photography to the Physiognomy and Mental Phenomena of Insanity« [1856], in: Burrow, Adrienne; Schumacher, Iwan (Hg.): Portraits of the Insane. London: Quartet Books 1990, S. 153-156, hier S. 153. 11 Hawthorne: Das Muttermal, S. 297f.
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heit nur unter der Bedingung darstellbar, daß ein Gegengewicht ethischer und religiöser Ideen mitgesetzt wird.« 12 Anders gesagt: Kunst im konventionellen Sinne ist Repräsentation, Wissenschaft ist Präsentation. Emile Zola fasst den gleichen Sachverhalt mit dem Wort »Fleisch«, das er mehrfach benutzt: Fleisch – das ist der Körper in seiner imaginationslosen Unmittelbarkeit. Der Wissenschaft ist es als Auftrag gegeben, diese ungeschönte Gegebenheit zu erkunden, sie muss, wie der Physiologe Claude Bernard schreibt, »die übelriechende, zuckende, lebende Materie bearbeiten«. Die Wissenschaft vom Leben ist für ihn »ein prachtvoller Saal [...], in den man nur durch eine lange abscheuliche Küche gelangen kann.« 13 Das Hässliche ist demnach doppelt bestimmt: Es ergibt sich aus dem Gegenstand – die »ekelhaften Krankheiten« – und der Abwesenheit künstlerischer Durchbildung. Hässlich ist das Rohe, das Stoffliche. In hegelianischer Diktion: Die Freiheit des Geistes, der in der Kunst sich ausprägt, ist hier vollständig abwesend. In diesem Sinne operiert die Ästhetik des Hässlichen an der Grenze zur Obszönität. Da die Patientenfotografie das dominierende Genre im medizinischen Feld war (bevor um 1900 die Mikrofotografie dominant wird), stellt sie in großen Teilen ein Menschenbild dar, das unter der Perspektive der Verformbarkeit, des Verfalls, der Evolution und Transmutation zur Darstellung kommt. Legt man das sozialverbindliche Körperbild des 19. Jahrhunderts zugrunde, das sich Richard Sennett zufolge durch Einförmigkeit und Unauffälligkeit auszeichnete 14, dann gewinnt die epochentypische Obsession für Bildwerke des obszönen Körpers eine Doppeldeutigkeit: Scheinen die Zeichen der Krankheit gleichsam über den Körper zu fluten und ihn in seiner fleischlichen Wahrheit zu zeigen, sind die Bilder gleichzeitig Anzeichen einer untergründigen Rätselhaftigkeit. Damit ist in einer ersten Schicht das für die Medizin zu erzeugende Wissen angesprochen, das erst noch auf eine Basis der Gewissheit zu stellen war. Die Figur des Doktor Chassaigne in Zolas Roman artikuliert die zeittypische skeptische Haltung, wenn er sagt, das »die ärztliche Wissenschaft eine ›Kunst‹ bleibt, weil sie keine strenge Erfahrungsregel haben kann.« 15 Unterhalb dieser Wissenspragmatik läuft allerdings auch, so die These, die Frage nach der Grenze des Humanums mit. Die
12 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig: Reclam Verlag 1990, S. 265. 13 Bernard, Claude: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin [1865]. Leipzig: J. A. Barth Verlag 1961, S. 32f. 14 Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1983, S. 187ff. 15 Zola: Lourdes, S. 184.
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außerordentlichen Verunstaltungen konnten gleichsam das Menschenbild deformieren. Die wiederkehrenden sprachlichen Allusionen ans Tierische waren nur allzu oft undeutliche Referenzen, in denen sich mythische wie evolutionsbiologische Vorstellungen vermischen konnten. Mag auch die Kategorie des Hässlichen aus Sicht der Medizin nur eine untergeordnete Bedeutung spielen, so übernimmt sie doch die Funktion eines Initials für eine Übersetzung in Wissensformen. Die fotografischen Notate extremer Pathologien waren in gleichem Maße Akte der Datenvereinfachung wie auch Medien der Konfrontation mit dem Enigma des Körpers. Die Fotografien erscheinen nachträglich geradezu als Ausdruck einer strukturierenden Blickobsession. 1858 heißt es in einer Notiz in »The Lancet«: »The surgeon employs it [photography] but very seldom, and then only to delineate some case of extraordinary deformity or unusual interest.« 16 Die in dieser Bemerkung zum Ausdruck kommende Haltung wird die Bilderfassung im 19. Jahrhundert bestimmen. Mit ihr werden Sammlungen angelegt, die die seltensten Krankheitsausformungen zeigen. Im Vorwort der »Photographic Review of Medicine and Surgery« (1870-72) wird diese Orientierung zum programmatischen Dogma: »It has been our aim to select the most striking and remarkable from those cases offered, especially those whose interesting points would admit of clear representation.« 17 Am Ende des Jahrhunderts fassen Gould und Pyle in ihrem Buch »Anomalies and Curiosites of Medicine« diese für die Epoche typische Haltung zusammen. »Even when medical science became more strict, it was largely the curious and rare that were thought worthy of chronicling, and not the establishment and illustration of the common, or of general principles.« 18 Dass Emile Zola, der bekanntlich seine Romantheorie aus der medizinischen Wissenschaft seiner Zeit abgeleitet und intensive Recherchen zu Lourdes unternommen hat, 19 sich auch auf die medizinische Ikonografie gestützt haben wird, legt eine eindrückliche Passage seines Romans nahe. Dort skizziert er in einer Stilmischung aus medizinischer Nomenklatur und literarischer Höllendarstellung die Teilnehmer der Prozession zur Grotte der Bernadette. Beim Lesen wird man kaum glauben, dass er die Wirklichkeit in Lourdes abbildet, sondern einen Pa-
16 The Lancet, Vol. II, 1859, S. 68. 17 Maury, Frank F.; Duhring, Louis A. (Hg.): Photographic Review of Medicine and Surgery, Vol. 1, 1870-1871, S. iii. 18 Gould, George M.; Pyle, Walter L.: Anomalies and Curiosities of Medicine. New York: Bell Publishing Company 1896, S. 2. 19 Siehe Link, Jürgen; Link-Heer, Ursula: »Das naturalisierte Wunder. Emile Zolas Lourdes-Roman als interdiskursives Ereignis«, in: Bergermann, Ulrike; Strowick, Elisabeth (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen. Bielefeld: transcript 2007, S. 96-117.
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thologie-Atlas durchblättert und Bild für Bild kurz beschreibt. In seiner Schilderung erscheinen nicht allein die »seltensten und scheußlichsten Fälle«, die Krankheitsgruppen folgen fast einer Systematik, wie sie in Lehrbüchern zu finden ist: zuerst die Hautkrankheiten, dann die Schwellungen und Auswachsungen gefolgt von den Hysterien und Epilepsien, im Anschluss die Krankheiten der Knochen sowie der Geschwüre. 20 »Es nahm gar kein Ende, immer länger wurde die Prozession des Greuels. Es war, als hätte die Hölle in wüstem Gemisch aller Gebrechen die ungeheuerlichsten Übel, die seltensten und scheußlichsten Fälle auf einen Haufen ausgespien, so dass dem Betrachter ein kalter Schauer über den Rücken lief. Da waren von Ekzemen zerfressene Köpfe, Stirnen von rotem Ausschlag gekrönt, Nasen und Münder, die von der Elephantiasis zu gräßlichen Tierschnauzen entstellt waren. Längst erloschen geglaubte Krankheiten waren wieder ausgebrochen, eine alte Frau hatte Lepra, eine andere war mit Flechten bedeckt wie ein Baum, der im Schatten verfault. Wassersüchtige kamen vorbei, wie Schläuche aufgebläht, den riesigen Bauch unter der Decke verborgen; Hände von Rheumatismus verkrümmt, hingen an den Bahren herab, Füße humpelten vorbei, die von Ödemen bis zur Unkenntlichkeit geschwollen waren wie vollgestopfte Lumpensäcke. Eine Wasserköpfige, die in einem Wägelchen saß, balancierte einen riesigen Schädel, der so schwer war, daß er bei jede Erschütterung wieder zurückfiel. […] Dann folgten alle Scheußlichkeiten von Versteifungen, verkrümmte Rücken, nach hinten gedrehte Arme und Hälse, lauter zu Trümmern zerschmetterte Wesen […]. Dann stellten rachitische Mädchen ihren wachsbleichen Teint und ihren gebrechlichen, Skrofeln zernagten Nacken zur Schau; gelbgesichtige Frauen hatten den schmerzvollen Schreckensblick derer, denen der Krebs die Brüste zerfrißt; […]. Einer paralytischen Alten, die völligem Blödsinn verfallen war, hatte die Geschlechtskrankheit die Nase weggefressen, und ihre schwarze Mundöffnung war zu scheußlichem Lachen verzerrt.« 21
Die These, dass mit diesem Textstück ein Konstrukt vorliegt, dass sich mehr an der ikonografischen Revue pathologischer Abbildungen orientiert als an der Rea-
20 Ohne einen bildlichen Beleg innerhalb des gesetzten Rahmens einer Publikation liefern zu können, verweise ich beispielhaft auf Clinique photographique de l’hopital Saint-Louis (1868); Revue photographique des Hopitaux de Paris (1869–1872); Nouvelle Iconographie de la Salpêtrière (1890). Alle Werke dürften Zola bekannt gewesen sein. 21 Zola: Lourdes, S. 140-142.
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lität Lourdes’, wird plausibel, wenn man eine andere Ikonografie 22 und das Diskursmillieu 23 aus der gleichen Epoche mit Zolas Roman vergleicht: In diesen Repräsentationen des Wallfahrtortes spielen die pathologischen Extremzustände nur eine beiläufige oder gar keine Rolle. 24 Damit ist nicht gesagt, dass diese Darstellungen über einen authentischeren Realismus verfügen, sie zeigen aber, dass das Phänomen ›Krankheit‹ bei Zola einer epistemischen Interessiertheit unterliegt. Was aber besagt die intermediale Relation zwischen Roman und Klinik? Vordergründig scheint Zola die aufgeführten Fälle als Auswurf der Medizin kenntlich zu machen, die nur noch auf das Wunder der Bernadette hoffen können. Tatsächlich jedoch hatten genau die Erscheinungen, die die ärztliche Heilkunst des 19. Jahrhunderts in ihre Schranken wiesen, eine wichtige Erkenntnisfunktion. Die Aufzeichnung und Archivierung von Extremformen körperentstellender Krankheiten ist wissenschaftslogisch darin motiviert, das Phänomen Krankheit im Sinne einer reinen Gestalt erfahrbar zu machen. Diese reine Gestalt soll auf das deuten, was sich im Normalgeschehen gerade der Sichtbarkeit entzieht – auf die Prozessualität des Lebens. Rudolf Virchow formuliert 1847 dieses Erkenntnisethos wie folgt:
22 Siehe die Holzstiche mit den Registriernummern V0012863–V0012871 im Bildarchiv von Wellcome Images: http://medphoto.wellcome.ac.uk/, letzter Zugriff am 06.03.2012. 23 Siehe ausführlich Kaufman, Suzanne K: Consuming Vision. Mass Culture and the Lourdes Shrine. Ithaca/New York: Cornell University Press 2005; Kotulla, Andreas J.: »Nach Lourdes!«. Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich. München: Martin Meidenbauer 2006. 24 Eine Ausnahme bildet das vierte Kapitel im Anti-Zola-Buch »Les Foules de Lourdes« (1906) von Joris-Karl Huysmans, in dem der Autor in der Schilderung pathologischer Erscheinungen Zola noch zu übertreffen sucht (siehe dazu den Kommentar von Link/Link-Heer: »Das naturalisierte Wunder«, S. 114-116). Eine nähere Textanalyse könnte zeigen, dass Huysmans aufgrund seiner katholischen Voreingenommenheit in einem Dilemma steckt: Erscheinen die Entstellungen einerseits als Herausforderung an die christliche Tugend der Barmherzigkeit, sind sie andererseits ein ästhetischer Gegenentwurf zur Reinheit des heiligen Antlitzes: Das Monströse gefährdet die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott. Siehe parallel dazu das sechste Kapitel, in dem Huysmans die architektonischen und ikonografischen Scheußlichkeiten von Lourdes als Attribut des Teufels ausweist (Huysmans, Joris-Karl: Les Foules de Lourdes. 23. Auflage. Paris: P.-V. Stock 1907, S. 67-78, 101-114).
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»Je weiter man in der Erkenntniß dieser Bildungen vorrückt, um so mehr wird man sich überzeugen, daß es nur darauf ankommt, die Erscheinungen in ihrer Reinheit aufzufassen, und genau festzustellen, was aus einem Dinge werden kann, um seine prognostische Bedeutung daraus folgern zu können.« 25
Man beobachtet, wie die Erscheinung bis an ihr Ende treibt, wie sie sich, so Virchow, »erschöpft«. Daraus ist jedoch nicht zu schlussfolgern, dass mit der Kenntnisnahme des finalen Symptoms auch die Erkenntnis ihr Ziel erreicht hätte. Dies würde bedeuten, dass die fotografische Sammlung das medizinische Wissensarchiv schlechthin wäre. Die bloße Betrachtung des Krankheitsprodukts verurteilt Virchow als »traurige Pathologie«. Worum es wirklich geht, ist dies: »In der Produktion, in dem Werden und Entstehen die krankhaften Dinge zu erfassen, das ist der Triumph der Wissenschaft, das Objekt denkender Köpfe.« (Ebd. S. 120) Damit ist das Stichwort gefallen, das für das 19. Jahrhundert bestimmend ist: Produktion. Der kranke Körper wird als Produktionseinheit konzipiert, er bringt hervor, er zeigt die Potenzen seiner inneren Prozesse. Das Körperkonzept in der sich modernisierenden Medizin steht in Analogie zur Industrialisierung. Hier wie dort: Betriebsamkeit, Rohstoffverarbeitung, Geschichte. Der Körper wird nicht vornehmlich als anatomische Architektur (wie in den älteren Ikonografien) aufgefasst, in der der feste Bauplan das Entscheidende ist. Die Krankheiten werden zum übersteigerten Inbild des Lebens, das in der Lage ist, etwas hervorzubringen und Veränderungen zu bewirken. Der Temporalitätsaspekt ist auf innigste Weise mit dem Konzept von Produktion verknüpft. In Zolas Lourdes-Roman wird dieses Paradigma aufgenommen und mit der religiösen Vorstellung von Zeitlichkeit konfrontiert. In der Gegenüberstellung offenbart sich die weltanschauliche Kluft: Die Pilger sind diejenigen, die die Genesung mit der »Schnelligkeit des Blitzstrahls« erwarten. »Keine langsame Genesungszeit war nötig, vielmehr ging die Heilung in einem plötzlichen Sprung von den Todeswehen in die völlige Gesundheit ohne Übergang vor sich.« 26 Das Modell ›Wunder‹ steht konträr zu dem der ›Produktion‹, in dem Zeitinvestition und Energietransformation entscheidend sind.
25 Virchow, Rudolf: »Die Reform der pathologischen und therapeutischen Anschauungen durch die mikroskopischen Untersuchungen« [1847], in: Ders.: Sämtliche Werke, Abteilung I, Band 4. Bern: Peter Lang Verlag 1992, S. 119. 26 Zola: Lourdes, S. 83.
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Mit dem Wandel dieser Sicht auf die Krankheit, verändert sich auch der Anspruch an die Darstellung. Es ist wieder Virchow, der die moderne Position formuliert: »Der descriptive Theil ist nur ein propädeutischer, der in seiner höchsten Gelungenheit immer nur ein künstlerisches Interesse haben kann. 27 […] Vielmehr halte ich es für ganz unmöglich, irgend einen befriedigenden Gesichtspunkt der Classification aufzufinden, der nicht in der inneren Natur der Geschwülste selbst begründet ist, der nur von äusseren Beziehungen, nicht von ihrer inneren Einrichtung und ihrer Entstehung ausgeht.« 28
Claude Bernard folgt dem gleichen Credo, wenn er seine »Einführung in das Studium der experimentellen Medizin« (1865) mit dem Satz beginnt: »Der Mensch kann die ihn umgebenden Erscheinungen nur in sehr beschränkten Grenzen beobachten; der größte Teil entgeht seinen Sinnen, und die einfache Beobachtung genügt ihm nicht.« Aus diesem Umstand wird die Folgerung für die Forschung gezogen, die dazu bestimmt ist, »uns die mehr oder weniger verborgenen Vorgänge, die uns umgeben, entdecken und feststellen zu lassen.« 29 Der Mediziner muss also hinter die Erscheinungen schauen. Dabei kann er sich nicht auf eine eindeutig festgeschriebene Relation zwischen Körperzeichen und Bedeutung verlassen, denn die Körper bringen allerhand zum Vor-Schein, worin auch die Möglichkeit zur Täuschung liegt. Virchow schreibt entsprechend: »Dem gegenüber müssen wir vor Allem feststellen, dass die äussere Form keineswegs immer nothwendig mit dem inneren Wesen zusammenhängt.« 30 Das fotografische Krankenporträt mit seinen monströsen Erscheinungen ist also ein Bild, in dem das Innere nach Außen gestülpt erscheint. Als Beispiel einer sinnfälligen Inszenierung dieser Haltung, die zwischen den inneren Prozessen und äußeren Erscheinungen die Forschung schalten muss, können Virchows Vorlesungen über die krankhaften Geschwülste betrachtet und gelesen werden. Auch wenn Virchow 1863 für den Druck noch keine Fotografien verwenden konnte, wie er es später tun wird, ist er dennoch ganz blick-empiristisch orientiert. 25 Vorlesungen sind mit über 240 Illustrationen versehen, auf die, wie es im Vorwort heißt, »Sorgfalt« verwendet worden ist. Die erste Abbildung ist ein
27 Virchow, Rudolf: »Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin«. In: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie, 1 (1847), S. 11. 28 Virchow, Rudolf: Die krankhaften Geschwülste, Band 1. Berlin: Verlag A. Hirschwald 1863, S. 8. 29 Bernard: Einführung, S. 19. 30 Virchow: Geschwülste, S. 10.
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Titelkupfer der Vorder- und Rückenansicht einer 47-jährigen Frau, die über und über mit Auswachsungen bedeckt ist und einen riesigen Tumor zeigt (Abb. 1). Abgesehen von einem eher schematischen Holzstich eines Säuglings, ist dies das einzige Bild innerhalb der Abhandlungen, das einen Patienten darstellt. Auch hier zeigt sich das schon beschriebene Modell: die überdeutliche Ausprägung, der Reichtum in der Erscheinung in sorgfältiger, detailgenauer Ausführung. Virchow beginnt also sein Thema wortlos, mit einem Bild, das die äußeren morphologischen Gegebenheiten zeigt. Von diesem Realismus der Kranken verengt sich der Fokus hin zu einem Realismus des Befundes. Die weiteren Abbildungen geben makroskopische Gewebedetails wieder. Aber der Begründer der Zellularpathologie und Förderer der Mikroskopie findet den Grund nicht im Gewebe. Die Repräsentationen histologischer Sachverhalte, die »mikroskopischen Anschauungen« sind der letzte Schritt bei der Untersuchung. Virchow geht von Schicht zu Schicht, vom Äußeren zum Inneren. Es gibt immer ein Davor – räumlich und zeitlich. »Ja, ohne Zweifel, der Experimentator zwingt die Natur sich zu enthüllen, indem er sie angreift [...]« 31, schreibt auch Bernard.
Abb. 1: Titelkupfer Quelle: Virchow, Rudolf: Die krankhaften Geschwülste. Band 1. Verlag A. Hirschwald 1863.
31 Bernard: Einführung, S. 43.
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Mit der Enthüllung werden nicht nur die eingeschlossenen Sachverhalte ans Tageslicht befördert, sondern auch die abgeschlossenen und kommenden Prozesse verstanden. Der Körper ist mehr als eine Schachtel, in die man hineinschaut. Die Bildverwendung in der Medizin des 19. Jahrhunderts ist demnach nicht hinreichend mit dem zeitgenössischen Wunsch nach wirklichkeitstreuer Wiedergabe erklärt. Man bindet das Bild in einen zeitlichen und räumlichen Horizont ein. Weil es Fragment, Ausschnitt ist, fordert es zur Ergänzung durch ein MehrSehen und Mehr-Sagen auf. In diesem Sinne ist das Ende der Beginn, das Sichtbare ein Hinweis auf das Nicht-Sichtbare und Unsichtbare. Man darf sich von der Wucht der Deutlichkeit nicht täuschen lassen. Es geht nicht um Wunder, vor denen die Augen aufgerissen werden, der Mund aber erklärungslos verschlossen bleibt. Die ikonografische Sammlung herausragender Fälle entspricht nicht den vorwissenschaftlichen Wunderkammern, in denen die singulären Anomalien als Widerspruch zur klassifizierbaren Natur eingingen. Die Deutlichkeit der pathologischen Erscheinung ist ein Hinweis auf die Ausprägekraft des Physiologischen, auf das Werden der Körper. Gerade die Fotografie, die im Herstellungsmodus die Momenthaftigkeit hervorkehrt, kommt der zeitlichen Strukturierung der medizinischen Erkenntnis entgegen. Sie verklärt die Erscheinung der Krankheit nicht zum Bild ästhetischer Endgültigkeit, sondern gibt ihr den Charakter des Jetzt. Das Rätsel, das der Arzt zu lösen hat, besteht darin, den Körper in der Zeit zu strukturieren – zwischen Rekonstruktion und Vorausschau. In Zolas Lourdes-Roman wird diese epistemische Dimension an einer pessimistischen und an einer optimistisch Erzählung veranschaulicht: Die Figur des Doktor Chasseigne hat der Wissenschaft nach dem Tod seiner Frau und Tochter abgeschworen, weil er unfähig war, die Krankheit zu begreifen und – wie es im Text heißt – »auch nur vorauszusehen, was hätte geschehen müssen«. 32 Die Wissenschaft hat versagt, weil sie nicht in der Lage war, die Prozesse in ihren Abläufen zu erfassen. So wie Chasseigne zur Religion zurückkehrt, weil die Wissenschaft (noch) ohne prognostische Kompetenz auskommen muss, so gelingt es in spiegelbildlicher Verkehrung dem Abbé Pierre Froment nicht, zur Religion zurückzufinden, weil ihm der Mediziner Beauclaire in allen Einzelheiten die Heilung einer Gelähmten prognostiziert hat: Dieser Arzt kennt nicht nur die Symptome, er weiß ihren Verlauf Punkt für Punkt als natürliche Phänomene zu benennen. (Vgl. ebd., S. 379)
32 Zola: Lourdes, S. 155.
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Abb. 2: Bernadette Soubirous, c. 1863 Quelle: http://corjesusacratissimum.org/2012/07/the-story-of-saint-bernadette-and-lourdes -part-iv-i-wish-people-to-come-here-in-procession/, letzter Zugriff am 19.09.2012.
Das nur scheinbare Paradox einer Bilderwelt aus festgehaltenen Krankheiten, in der sich ein beständig transmutierendes Menschenbild offenbart, muss für das 19. Jahrhundert als verstörende Neuprogrammierung der Anthropologie erfahren worden sein. Emile Zola hat diese neue Beweglichkeit im biologischen Substrat im Verlauf des Romans wiederkehrend mit der religiösen Ikonografie konfrontiert, die als traditionelles Versicherungsmedium erscheint: Bilder Marias mit dem gütigen Lächeln, Heiligenbilder in ihrer naiven Pracht, der »liebe Gott im Glorienschein«, die Propagandabilder mit der »Lieben Frau von Lourdes«. Zola erwähnt die Medien dieser Kommunikation: Kirchenfenster, Bilderbücher, Statuen, vergoldete Altäre, religiöses Schriftgut, Medaillons, Nippsachenkram. 33 Man verstünde ihre Funktion innerhalb des Romans nur unvollständig, würde man darin lediglich die religiösen Verklärungszeichen einer besseren, gesunderen Welt erkennen, die sich von den Bildern der »Menschentrümmer« (ebd., S. 368) absetzt. Sicherlich sind die Schönheit, der Glanz und die Perfektion das Versprechen auf eine andere Möglichkeit. Diese Ikonografie ist aber vor allem einer anderen Bildlogik verpflichtet. Gegen Ende des Romans kauft Abbé Pierre Froment das Porträt Bernadettes (Abb. 2), »die große Photographie, die sie kniend in schwarzem Kleid, einen Schleier ums Haar gebunden, darstellt, angeblich das einzige nach der Natur aufgenommene Bildnis.« (Ebd. S. 470) ›Nach der
33 Zola: Lourdes, S. 89, 93, 469.
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Natur‹ – das ist eine konventionalisierte Redewendung im Kontext des Fotografiediskurses gewesen. Doch hat diese Natur nichts mit der Natur zu tun, die in der medizinischen Ikonografie vorkommt. Der Körper der Bernadette ist der an unendlich vielen Vorbildern geformte Körper. Das Re-Enactment der Pathosformel religiöser Inbrunst bringt Überzeitlichkeit und Unveränderlichkeit zum Ausdruck. Genau diese Aspekte werden in den Mutationen der Hässlichkeit des Pathologischen zum Verschwinden gebracht. In der Gegenüberstellung von Schönheit und Hässlichkeit regiert im Kern noch die traditionelle Vorstellung normierter Ästhetik. Auch wenn man feststellen muss, dass mit den grauslichen Verformungen unabweisbare Leidformen vorliegen, so ist mit der monströsen Bildlichkeit dennoch eine mediale Symbolform mit zwei Entwicklungsmöglichkeiten geben, die im Zuge der Moderne beobachtbar sind: Einerseits wird das Hässliche rassistisch gedeutet und als Degeneration oder Atavismus stigmatisiert. Die grausamen Folgen dieser Orientierung sind bekannt. Andererseits werden andere Schönheiten denkbar, die dem Konzept eines formbaren Humanum folgen. In der modernen Ästhetik alteritärer Körpermodelle (Abb. 3) wie auch in evolutionären oder transhumanen Anthropologien sind die Wirkungen der medizinischen Bildrevolution noch nachzuspüren. Immerhin konnte Gustav Flaubert, einer derjenigen, der das normativrepräsentative Regime negiert hat, bereits 1847 schreiben:
Abb. 3: Lucyandbart (2008) Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Lucy McRae und Bart Hess.
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»Wenn die sogenannten Missbildungen der Natur ihre anatomischen Zusammenhänge der Form und ihre physiologischen Lebensgesetze haben, warum will man, von diesem Prinzip ausgehend und diese absonderliche Welt anerkennend, die wie eine Verneinung der unserigen erscheint und vielleicht gerade ihre Fortsetzung ist, ihr nicht ihre Schönheit und die Möglichkeit einer Vollendung zugestehen.« 34
34 Flaubert, Gustave: Die Reisetagebücher 1840-1847. Leipzig: Verlag Gustav Kiepenheuer 1993, S. 318.
Fotografien-wider-Willen: Psychiatrische Bilder und Vor-Bilder vom Anderen im 20. Jahrhundert S USANNE R EGENER
V OR -B ILDLICHKEIT Fotografischen Bildern geht eine Praxis voraus: Sie werden im Vorfeld schon mit einer bewussten Absicht oder unbewussten Bewegung gestaltet, wenn die Kamera an einem bestimmten Ort gezückt wird, wenn der Fotograf oder die Fotografin durch den Sucher bzw. auf dem Display das zu Fotografierende in den Blick nimmt. Voraus geht dem Bild aber auch ein Diskurs oder eine Haltung des Fotografen/der Fotografin zum Ort der Aufnahme und zum Objekt der Aufnahme. Insofern geht in den Herstellungsprozess etwas Vor-Bildliches ein. Wird das Bild deshalb auch im paradigmatischen Sinne vorbildlich? 1 Mich interessiert hier konkret die Herstellungsgeschichte von Fotografien, die in Psychiatrien des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Wie ist das visuelle Objekt zu dem geworden, was sich zu erkennen gibt: Ist es denn entworfen worden? 2 Wenn ich den Vorentwurf annehme, kann das Bild nicht zufällig entstanden sein. Vor-Bildlichkeit ist somit mehr als der Prozess des Bilder-Herstellens im technischen oder künst-
1
Für Inspirationen danke ich den Organisatoren der Konferenz »Vor-Bildlichkeit« des Eikones-Forums Basel, Toni Hildebrandt und Ulrich Richtmeyer und den dortigen Mit-Referent(-innen): eikones.ch.
2
Dieser Artikel geht zurück auf eine Forschung und Analyse, die ich in meinem Buch Visuelle Gewalt: Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2010 ausführlich dargelegt habe.
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lerischen Sinn. Die Auffassung von der Fotografie als »Signifikationspraxis«3 erscheint mir für meine Überlegungen zum Bild sinnfällig: Victor Burgin betont mit diesem Begriff, dass an Objekten, an bestimmten Materialien in spezifischen sozialen und historischen Kontexten gearbeitet wird und dass gleichzeitig das Merkmal der Fotografie in der Produktion und Dissemination von Bedeutung besteht. 4 Die Bildpraktiken, die zu den hier vorgestellten Fremd-Darstellungen von Menschen aus der Psychiatrie führen, sind gekennzeichnet von einem spezifischen wissenschaftlichen und narrativen Umfeld, in dem Fotoamateure aktiv werden. In der Regel waren dies ausgebildete Ärzte, zu deren Berufsalltag bestimmte Umgangsformen mit Patienten gehörten. Nach ihren Anweisungen wurden die Patient(-innen) mit einer Diagnose versehen, klassifiziert und zu therapeutischen Programmen geführt/unterworfen. In welcher Beziehung steht ein Foto zum Raum seiner Entstehung und zur Wirklichkeit, in der es wirken soll, zu den Abgebildeten selbst und zu den das Foto umgebenden Texten? 5 Nicht nur die Praxis der Signifikation spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, sondern auch eine auf die Rezeption des Bildes gerichtete Praxis, die das Bild selbst in Prozesse der Bedeutungsbildung involviert. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat in Anlehnung an den Sprechakt den Begriff des Bildaktes geprägt, bei dem an die Stelle des Sprechenden die Bilder gesetzt werden. 6 Damit wird die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von den ikonografischen Anteilen hin zu den ›Äußerungsakten‹ und mithin zu den Akteur(-innen) verlagert: »Der hier verwendete Begriff des ›Bildakts‹ nimmt diese Spannungsbestimmung auf, um den Impetus in die Außenwelt der Artefakte zu verlagern. In diesem Positionswechsel geht es um die Latenz des Bildes, im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich aus eine eigene, aktive Rolle zu spielen.« (Ebd., S. 52)
Der Bildakt besteht aus einer »Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln« (ebd.), die aus dem Zusammenspiel des Bildes und seinen verborgenen In-
3
Burgin, Victor: »Einleitung zu ›Thinking Photography‹« [1982], in: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 25-37, hier S. 25.
4
Ebd.; als Konzeptkünstler hatte Burgin eine sehr konkrete Vorstellung von der Formung des Objekts.
5
Regener, Susanne: »Visuelle Kultur«, in: Ayaß, Ruth; Bergmann, Jörg (Hg.): Qualitative Methoden der Medienforschung. Hamburg: rororo, S. 435-455, hier S. 438.
6
Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010.
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halten mit den Betrachter(-innen) konstituiert wird. Ich möchte hinzufügen, dass die Rolle des Bildes nicht nur im Dialog mit dem Betrachter entsteht, sondern dass auch die bildproduzierenden Ärzte bewusst oder unbewusst an der Latenz des Bildes arbeiten. Das ist z.B. der Fall, wenn Porträtfotografien von Patienten immer wieder mit ähnlichen stereotypen Grundzügen ausgestattet werden, sodass sie sich reproduzieren, auch über längere Zeiträume hinweg, wie zu zeigen sein wird. Die verborgenen Botschaften werden im Falle der Anstaltfotografie für den wissend Sehenden rezipierbar, und sie lenken wiederum die Arbeit der Ärzte; die Latenz ist somit Teil der Bildpraxis in der Psychiatrie. Durch diese Verschiebung der Aufmerksamkeit wurde nicht die Machtposition in Frage gestellt, die die Fotografien in der Psychiatrie für die Blickposition der Herrschenden über die Anderen hatten. Im Gegenteil: Die Latenz des Bildes brachte, entgegen aller kontextuellen Beschreibungen, gerade die hegemoniale Sicht und Behandlungsweise hervor. Es kann mithilfe der »Theorie des Bildakts« besser verstanden werden, wie solche Fremd-Fotografien aus Zwangskontexten für Künstler, z.B. die des Surrealismus, in neue Kontexte übersetzt werden konnten. Schließlich, so kann man die Situation interpretieren, hatten die Ärzte spätestens nach der Psychiatriereform in den 1970er Jahren einen großen Respekt vor der Wirkmächtigkeit der Bilder und verabschiedeten sich weltweit weitgehend von dieser Praxis der Visualisierung von psychisch Kranken. Die Beispiele, die im Folgenden vorgestellt, stammen aus einer von Erving Goffman so benannten »totalen Institution«: Die Psychiatrie ist ein Ort, wo alle Bewegungen und Produktionen hierarchisch geregelt und kontrolliert werden. 7 Alle Fotografien, die in der Psychiatrie von Patient(-innen) handeln, sind von jenen gemacht, die die Aufsicht führen und die die Idee der Einsperrung und der Notwendigkeit einer Beobachtung vertreten. Mimesis bezieht sich, das wird gezeigt, auf Vorstellungen mentaler, narrativer, wissenschaftlicher und alltagskultureller Art. Daneben gab und gibt es in der psychiatrischen Anstalt auch ein Bilderschaffen von Patienten und Patientinnen: Malerei, Stickerei, Skulpturen herstellen, fotografieren. Gelegentlich geduldet wurden diese Aktivitäten in psychiatrischen Anstalten, und es gab/gibt Förderer, die die Produkte des Selbstausdrucks in Ausstellungen präsentieren und publizieren, wie z.B. in den 1920er Jahren Hans Prinzhorn in Heidelberg, Erik Strømgren, Johannes Nielsen, Mia Lejsted seit den 1950er Jahren in Risskov/Aarhus und aus der Zeit zwischen 1920 und 1955 stammen Zeichnungen und Gemälde von Psychiatriepatienten, die Irene Jakab in
7
Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.
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Pécs zusammengetragen hat. 8 In welcher Weise gehen Selbstbildnisse mit Fremddarstellungen eine Korrespondenz ein? Wie wirkten sich Duldung und Förderung der Patientenaktivitäten in der Psychiatrie auf den Diskurs über den Anderen, das Abweichende und Behinderung aus? Das wären wichtige, noch zu erforschende Fragestellungen.
P RODUKTION VON Z WANGSBILDERN Dieser Text allerdings beschäftigt sich mit fotografischen Porträts, die zumeist unter Zwang hergestellt wurden. Nicht immer wird eine Patientin mit physischer Gewalt vor der Kamera ruhig gestellt (Abb. 1). Wenn man der Studie über Hysterie von Georges Didi-Huberman folgt, gab es auch Situationen, in der Patientinnen die Rolle der Kranken sehr gut beherrschten, das Spiel des Bildermachens durch die Ärzte mitspielten und dadurch möglicherweise einer Demütigung entgingen. Eine solche – man könnte sagen: eigensinnige Taktik, die in das Bild eingeht, wurde von der Patientin Augustine der Pariser Salpêtrière beherrscht. Sie war das Model, die Performerin, in der berühmten Klinik von Jean-Martin Charcot Ende des 19. Jahrhunderts. 9 Sie beherrschte die Rolle, die von ihr verlangt wurde, bis sie irgendwann aus der Klinik flüchtete. Ich nenne die Fotografien, die in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt (oder in anderen medizinischen Umgebungen) entstehen, Fotografien-widerWillen 10: Sie wurden gegen den Willen bzw. ohne Einwilligung der betroffenen Person oder der Angehörigen unter direkter Gewaltanwendung (Abb. 1) oder indirekter Gewaltanwendung, d.h. durch beständige Überwachung, Medikalisie-
8
Siehe Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychoapathologie der Gestaltung. Berlin: Springer 1922; für die Psychiatrie in Risskov/Aarhus siehe: Museum Ovartaci: http://ovartaci.dk/, letzter Zugriff am 04.07.2012; Jakab, Irene: Zeichnungen und Gemälde der Geisteskranken. Ihre psychiatrische und künstlerische Analyse. Berlin: Akademie der Wissenschaften/Henschel 1956.
9
Didi-Huberman, Georges: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München: Fink 1997.
10 Ich habe diesen Ausdruck zunächst für Zwangsfotografien entworfen, die bei der Polizei per Befugnis der Strafprozessordnung auch heute noch legitimiert sind: Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Fink 1999. In Psychiatrien der westlichen Welt ist dieser Zwang seit den 1970er Jahren aufgehoben.
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rung und verschiedene Therapieformen hergestellt. Sie sind Dokumente einer Machtbeziehung: Diese besteht aus einem hypostasierten leidenden Individuum, einem disziplinierenden Umfeld, korrigierendem Pflegepersonal und einem allwissenden Arzt. Die Zwangsbilder sind Gegenentwürfe zu repräsentativen Porträts. Oftmals, so kann man aufgrund der sozialen Herkunft der Patient(innen) annehmen, hat es sicherlich noch keine oder nur eine eingeschränkte Fotografie-Erfahrung gegeben im Sinne eines selbstbestimmten Porträts. Fotografien-wider-Willen orientieren sich an Erfassungsfotografien, wie sie bei kolonialistischen Forschungsprojekten weißer Forscher von den so genannten Wilden, Eingeborenen, natives hergestellt wurden und später, um 1900 bei der erkennungsdienstlichen Arbeit der Polizei standardisiert und international gleich gestaltet vollzogen wurden. 11
Abb. 1 Quelle: Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster, 1905/06, Landeswohlfahrtsverband Hessen (Archiv).
11 Siehe Maxwell, Anne: Colonial Photography & Exhibitions. Representations of the ›Native‹ and the Making of European Identities. London: Leicester University Press 1999; Regener: Erfassung.
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Abb. 2 Quelle: Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster, 1909, Landeswohlfahrtsverband Hessen (Archiv).
Die Männer, die auf diesen Fotografien zu sehen sind (Abb. 2), wurden buchstäblich aus dem Bett gezerrt: Sie tragen Nachthemden, mal liegt eine Decke, mal ein zweites Hemd über den bloßen Knien. Improvisiert wirkt auch der Hintergrund: Nur in zwei Fällen heben sich die weiß gekleideten Patienten kontrastreich vor dem Hintergrund ab, einmal ist eine Überlichtung zu konstatieren und ein weiteres Foto zeigt auf Kopfhöhe einen faltenreichen Vorhang. Bei allen Fotografien ist sichtbar geblieben, dass im Krankenhaus eine atelierähnliche Situation hergestellt werden sollte, in der die Porträts inszeniert wurden. Die amateurische Medienpraxis in der totalen Institution orientierte sich an einem kulturellen Muster der Porträtfotografie, nämlich an dem der Fotografie-Ateliers, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit preiswerten Carte-de-VisiteFotografien Porträts für das Bürgertum herstellten. In diesen Fotoateliers gab es ein mehr oder weniger pompös ausgestattetes Standardprogramm für Hintergrund, Sitzgelegenheiten und Accessoires. Die Selbstdarstellung des Bürgers geriet damit zum Klischee, wie der Fotohistoriker Timm Starl betont. 12 Die Fremddarstellung oder Fotografie-wider-Willen schafft ebensolche Klischees,
12 Starl, Timm: Im Prisma des Fortschritts. Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts. Marburg: Jonas 1991, S. 31.
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ohne jedoch den Anspruch an ein schönes, repräsentatives Produkt zu haben, ein Anspruch, der eine Illusionsbildung anstreben würde. Stattdessen bleibt der Inszenierungsraum sichtbar und die Degradierung der Männer durch ihre Darstellung in Nachthemden sowie die mangelnde Ausleuchtung der Szene und der Köpfe signifiziert das Machtverhältnis, dem diese Männer unterworfen sind, bei gleichzeitiger laienhafter – und das meint hier unprofessioneller – Durchführung der Visualisierung. Demütigung war Teil des Produktionsprozesses, denn nichts ist ins Bild gebracht, das den einzelnen Mann individualisieren würde, private Kleidung und Habe sind ihm genommen. Erving Goffman prägte für diese Situation der Visitierung und erzwungenen Veräußerung persönlicher Dinge den Begriff der »zwischenmenschlichen Verunreinigung«13. Die Privatsphäre des Patienten wurde verletzt, wenn alles an seinem Körper und um ihn herum untersucht und er schließlich aufgefordert wurde, in Anstaltkleidung vor die Kamera zu treten, mal zu zweit, zu dritt und in späterer Zeit auch allein. Als Vorbilder könnten improvisierte Aufnahmen von Wanderfotografen gedient haben, d.h. jene ambulanten Inszenierungen, die im Freien stattfanden statt im Atelier. Zumeist waren die Kunden dieser umherziehenden und hausierenden Fotografen Landarbeiter oder Handwerker, Ladenbesitzer und Arbeiter in der Stadt. Die ambulante Inszenierung, die nicht vergleichbar perfekt sein konnte wie im Atelier, war selbst signifikant für die Repräsentation unterer sozialer Schichten. Im Zusammenhang mit der Ablichtung von Patienten in der Psychiatrie wurde ein Bildelement oder eine Bildkomposition eingeführt, die diese soziale Komponente enthielt. Die reihenweise Fotografie der Männer, im Fall der Landes Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster waren es mehrere Fotoalben zwischen 1905 und 1914, setzt die einzelne Fotografie in einen Zusammenhang der Präsentation im Album, die während des Produktionsprozesses schon vorgedacht wurde und die Standardisierung noch einmal verstärkt. 14 Fotografische Aktivitäten im Krankenhaus müssen vor dem Hintergrund medizinischer und klinischer Leitideen gesehen werden: Porträtfotografien von Patienten und Patientinnen sollten die Klassifizierungsarbeit unterstützen und vor allem helfen, etwas zu ›sehen‹ – und das hieß, den Patienten als kranken Menschen zu identifizieren ›sehen lernen‹. Der klinische Blick entstand historisch erst nach und nach im Zuge einer Schule des Sehens, in der die Fotografie, wenn auch amateurhaft ausgeführt, zum Vehikel der ärztlichen Blickarbeit wurde. In
13 Goffman: Asyle, S. 37f. 14 Siehe ausführlicher dazu: Regener: Gewalt, S. 95-115.
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der Ausbildung einer »Souveränität des Blicks« 15 orientierte sich die klinische Psychiatrie an der Naturgeschichte, einer Wissenschaft, die im 18. Jahrhundert das Wissen, die Objekte, die Daten ordnete und in Diskurse überführte. Am Beginn psychiatrischer Wissensgeschichte stand die Idee, aus Verworrenheit und Unklarheit über die Symptome eine klare Sicht auf die Ursachen der Krankheit zu erzielen, eben mit wissenschaftlich geschulten Augen. (ebd., S. 102-107) Sigmund Freud beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts, was die Psychoanalyse von der Psychiatrie unterscheidet. Psychiater in Kliniken würden weitgehend im Dunkeln stochern, wenn sie um Diagnosen und die Prognose des weiteren Verlaufs einer Krankheit bemüht waren. In diesem Zusammenhang sollte die Fotografie, das Bild vom Patienten, buchstäblich Licht in die Arbeit bringen. In Freuds Kritik heißt es, der Psychiater würde sich mit der Diagnose eines Falles begnügen. Er würde sich nur mit den äußeren Formen beschäftigen und diese als Realität denken. 16 Die Fotografie, die zeitgenössisch als Wahrheitsmedium fungierte, wurde in der Psychiatrie als Medium einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Symptomen und Charakterisierungen der Diagnosen aufgefasst. Freud hatte sich vom Studium des Körpers und des Gesichtes abgewendet; seine Therapie folgt der Stimme und der Erzählung. In der Psychiatrie hingegen wurde die physiognomische Anschauung favorisiert, für die die Fotografie kongeniales Medium war.
V ISUALISIERUNGEN FÜR DIE W ISSENSCHAFT Der erste Fotograf psychiatrischer Patient(-innen) war Hugh Welch Diamond. Aus seinen Beschreibungen über Produktionsprozesse von Bildern kranker und geheilter Patient(-innen) wird deutlich, dass seine Begeisterung für das Foto von ihm als Bildakt beschrieben wird: Im Vergleich zu früheren Zeichnungen gäbe das Foto einen perfekten und dauerhaften Eindruck vom Fall. Geradezu enthusiasmiert betonte Diamond, dass hier nicht nur die Technik verwirkliche, was der Arzt speichern möchte, sondern dass bei der Herstellung der Fotografie die Beziehung zwischen Arzt und Patientin in neuer Weise ein ›wahres Bild‹ entstehen lässt, das späterhin die Kraft hätte, die Patientin selbst zu belehren. Diamond
15 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 19.
16 Freud, Sigmund: »Psychoanalyse und Psychiatrie«, in: Ders.: Studienausgabe, Band 1 (= Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse). 8. Auflage. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1978, S. 243-257.
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hielt verschiedene Krankheitsstadien einer Patientin fest (Abb. 3), um ihr selbst die Prozesse vor Augen zu führen: »Diese Patientin wollte es kaum glauben, dass ihr letztes Bild, das sie so ordentlich gekleidet wie früher und in gesundem Geisteszustand zeigte, so schreckliche Vorläufer gehabt haben sollte, und mit diesen treuen Mahnern in der Hand wird sie stets die glücklichsten Gefühle der Dankbarkeit für eine so vollständige und unerwartete Heilung bewahren.« 17
Abb. 3: »Pueperal Mania in Four Stages«, Lithografie nach Fotografien von Hugh W. Diamond, 1858 Quelle: Adrienne Burrows/Iwan Schumacher, Dr. Diamonds Bildnisse von Geisteskranken, Frankfurt a.M.: Syndikat 1979.
Die Beziehung zwischen dem Bild, seiner Latenz und der Betrachterin/Patientin wird hier schon vorweggenommen. Die psychiatrische Wissenschaft versucht den Bildakt für eine bestimmte Klientel zu manipulieren. Allerdings bleiben die
17 Burrows, Adrienne; Schumacher, Iwan: Dr. Diamonds Bildnisse von Geisteskranken. Frankfurt a.M.: Syndikat 1979, S. 156.
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zumindest im aufklärerischen Sinne an Heilung interessierten Visualisierungen von Diamond Einzelfälle in der Geschichte der psychiatrischen Fotografie. Vor jedem Bild steht eine Erzählung, d.h. die Beschäftigung mit einem Thema, das auch in visuellen Artefakten seinen Niederschlag findet. Insofern steht das Foto nicht unbedingt in einem direkten Zusammenhang zu einem Vor-Bild, wohl aber in einem narrativen, Anschaulichkeit produzierenden Diskurs.
Abb. 4 a, b: Hysterischer Anfall Quelle: Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Band 4, 8. Auflage. Leipzig 1915.
Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin wurde 1903, nach verschiedenen Stationen, Professor für Psychiatrie an der Universitätsklinik in München. Sein international einflussreiches Lehrbuch war anfangs nicht illustriert, erst in der 8. Auflage (1909-15) wurden wenige Bilder einbezogen. »Gesichtsausdruck im hysterischen Anfalle« und »Ausstrecken der Zunge im hysterischen Anfalle« (Abb. 4 a, b) waren zwei Ansichten, die Kopf und Oberkörper einer Frau vor einem dunklen Hintergrund zeigten. Kraepelin hatte sein Vor-Bild im Kopf: Für ihn waren alle psychischen Störungen körperlicher Art und sollten bezähmt wer-
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den. 18 Obwohl es in seinem Werk nicht zur Sprache kommt, scheinen auch die Fotografien hysterischer Anfälle von Frauen aus dem Charcot´schen Klinikatelier ebenso Vor-Bilder gewesen zu sein, wie die vielen Beschreibungen, die sich mit Krisenzuständen von Frauen beschäftigen. Zur Diskurspraktik gehörte es, dem Anormalen über die textuelle und die visuelle Beschreibung ein Gesicht zu geben. Das Foto ist der Beweis für Abweichung.
M USEALISIERUNG
UND
K ONTINUITÄTSKONSTRUKTION
Während einige Fotoalben und Fotoserien, die in der Psychiatrie angefertigt wurden, dort auch verbleiben, gehen andere in Lehrbücher der Psychiatrie ein, werden also in einen bewussten Vermittlungsprozess eingespannt. 19 Die Produktionen von Jean-Martin Charcot und seinem Team an der Pariser Salpêtrière zielen auf eine Verewigung des psychiatrischen Blicks: Mit der »Iconographie photographique de la Salpêtrière« (1875) und der »Nouvelle Iconographie photographique de la Salpêtrière«, die zwischen 1888 und 1918 28 Bände umfasste, wurde ein umfangreiches Bildwerk angelegt, das eine ikonografische Geschichte fortschreiben wollte. Die Vor-Bilder (z.B. Abb. 5) für dieses Bildwerk, bestehend aus künstlerischen Darstellungen von so genannten Besessenen, waren Bestandteil von Charcots privater Sammlung gewesen und wurden erstmals 1887 veröffentlicht. 20 Die beiden Mediziner sind viel gereist, haben Museen und Privatsammlungen evaluiert und Freunde und Kollegen zum Mitsammeln aufgefordert. Charcot und Richer hatten ein besonderes Verhältnis zur Kunst: Sie interessierten sich dafür, Kunst für die medizinische Wissenschaft nutzbar zu machen und sie hatten den Anspruch, ihre visuellen Studien mit dem seinerzeit neuen Medium Fotografie in eine spezifische Form des Beweises aus der klinischen Praxis zu transformieren. Die Repräsentation des Heiligen Ignatius von Loyola (Gemälde von Peter Paul Rubens 1617/18) beispielsweise ist Bezugspunkt für das Charcot´sche Denkgebäude. Seine Interpretation verweist auf seine zeitgenössischen Erfahrungen mit und seine Konstruktionen zum Krankheitsbild Hysterie. Die hier dar-
18 Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Vier Bände. 8. Auflage. Leipzig: Barth 1909-1915. 19 Siehe Regener: Erfassung, S. 117-153. 20 Charcot, Jean-Martin; Richer, Paul: Les demoniaques dans l’art. Avec 67 figures intergalées dans le texte. Paris: A. Delahaye et E. Lescrosnier 1887; Charcot, JeanMartin; Richer, Paul (Hg.): Die Besessenen in der Kunst. Göttingen: Steidl 1988.
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gestellte Besessene würde die »Symptome eines ›großen Anfalls‹« darstellen, und besonders bemerkenswert findet Charcot, dass »die abscheuliche Deformation der Halsbildung getreulich« (ebd., S. 83) nachgezeichnet sei. Ferner gibt Charcot eine Einschätzung zur Verwissenschaftlichung mit psychischem Leiden, die einsetzt, als sich die Inaugenscheinnahme von Priestern und Richtern hin zu Ärzten im 19. Jahrhundert ändert. (Ebd., S. 11f) In seiner Betrachtung der Kunstgeschichte fragt er immer wieder nach »echten Typen« und konstatiert »Meisterschaft in der Beobachtung und exakten Nachbildung der Natur«. (Ebd. S. 77)
Abb. 5: »Der Heilige Ignatius heilt die Besessenen« Quelle: Stich nach dem Gemälde von Peter Paul Rubens, aus Jean-Martin Charcot/Paul Richer (Hg.), Die Besessenen in der Kunst. Göttingen: Steidl 1988.
Charcots Sammlungen und Historiografien waren eine wissenschaftlich-museale Beschäftigung, die schließlich darin mündet, dass er selbst voller Stolz die Salpêtrière als »lebendes pathologisches Museum« bezeichnete. Seine Vorlesungen, zu denen sich nicht nur angehende Ärzte trafen, sondern auch »Schriftsteller, Schauspielerinnen, die elegante Halbwelt«, wie der Schriftsteller Axel Munthe in seinen Beobachtungen beschreibt, waren visuelle Spektakel. 21 Man
21 Siehe Schneider, Manfred: »Nachwort«, in: Charcot, Jean-Martin; Richer, Paul (Hg.): Die Besessenen in der Kunst. Göttingen: Steidl 1988, S. 138-158, hier S. 157.
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hat den Eindruck, dass Charcot in diesen Vorlesungen die Patientin in stereotyper Weise vorführt (Abb. 6) und damit die Kontinuität eines visuellen Musters von der lasziven Patientin, die gestützt werden muss, beschwört.
Abb. 6: Eine klinische Vorlesung bei Charcot Quelle: Gemälde von Brouillet, aus Jean-Martin Charcot/Paul Richer (Hg.), Die Besessenen in der Kunst. Göttingen: Steidl 1988.
Aus der Perspektive eines bis 1985 immer wieder aufgelegten Lehrbuches der Psychiatrie kann eine weitere Festschreibung eines stereotypen ärztlichen Blicks konstatiert werden. Ein Beispiel für die Bebilderungspraxis der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler und seines Sohnes Manfred ist die Fotografie einer Frau, die als »Manische Schizophrene« bezeichnet wurde (Abb. 7 a, b). 1910 wurde diese Fotografie in der Zürcher Klinik Burghölzli hergestellt. Als Manfred Bleuler 1979 das Lehrbuch der Psychiatrie seines Vaters Eugen neu be- und überarbeitet, illustriert er den Fall mit eben dem gleichen Foto, das leichte formale Abweichungen enthält (Abb. 7 b).
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Abb. 7a: »Manische Schizophrene«, um 1910 Quelle: Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin: J. Springer 1916. Abb. 7b Quelle: Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie. 14. Auflage. Bearbeitet von Manfred Bleuler. Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1979.
Der Text dazu lautet in der Ausgabe des Sohnes: »Manische Schizophrene, die sich aus Gras und Zweigen einen Kranz gemacht hat, daneben in stereotyper Weise den in Form einer Wurst zusammengedrehten unteren Teil des Kleides mit beiden Händen umfasst hält. Im Bett hält sie das in gleicher Weise zusammengedrehte Leinentuch vor sich hin. Das Interesse an dem Vorgang des Photographierens verdeckt den sonst steifen Gesichtsausdruck. Aufnahme von 1910. Die heutige klinische Behandlung soll derartige Verwahrlosungen nicht mehr aufkommen lassen.«
Die Ärzte zweier Generationen wollten die Abnormität der Erscheinungsweise einer Frau kennzeichnen: ihre Hosenkleidung und die ungewöhnliche Gestik gleichermaßen als Zeichen für Verrücktheit. Das Foto, das Eugen Bleuler 1916 abdruckte, ist offenbar eine retuschierte Variante: Gesicht und Hände haben eine Kontur, der Faltenwurf ist kunstvoll, der Mauerhintergrund fehlt. Der Sohn Manfred setzt zwar die Tradition des väterlichen Lehrbuchs fort, erlaubt sich aber mit einer eigensinnigen fotografischen Praxis Kritik an der visuellen Idealisierung.
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Indem er nicht dasselbe Foto, sondern offenbar auf eine Variante der Fotografiersituation zurückgreift, macht er eine ›Verwahrlosung‹ deutlich und mit unscharfem Gesicht und Mauerhintergrund die Konnotation von Anormalität und Eingeschlossen-Sein.
ABSCHIED VON V OR -B ILDERN In den meisten europäischen Psychiatrien wirkten sich die Reformbewegungen auch dahingehend aus, dass Patienten und Patientinnen nicht mehr ohne ihr Einverständnis fotografiert werden konnten und dass überhaupt die Fotografie zu Zwecken der diagnostischen Erkenntnisbildung ad acta gelegt wurde. In dieser Zeit entstanden im Gefolge der Antipsychiatrie neue Denkgebäude, die zu neuen (therapeutischen) Kommunikationsformen in Psychiatrien führten und auch neue Leitbilder für die Visualisierungen entwickelten. In dieser Zeit – Ende der 1970er Jahre – begann die westdeutsche Psychologin Christa Mayer in einer Berliner Nervenklinik psychotherapeutisch zu arbeiten und zunächst autodidaktisch als Amateurin Fotografie, Audioaufnahmen und Videofilm in ihrem Arbeitsumfeld einzusetzen. Von Anfang an kommt es Mayer darauf an, »das Sehen in einem nichtvoyeuristischen Sinn« 22 auszubilden. Ihre Fotografien (Abb. 8) sind, wie sie selbst sagt, in einem »intensiven psychodramatischen Feld« entstanden, das Sprechen, Performance, Gesang, Video und Fotografie beinhaltet. (Ebd., S. 16) Ihrem Bildentwurf geht die Kritik am diagnostischen Blick und der Praxis von Fotografien-wider-Willen voraus. Es handelt sich bei ihr um einen Produktionsprozess, der durch die Imagination gegenseitiger Einfühlnahme gekennzeichnet ist: »In der Zusammenarbeit mit Patienten versuche ich, den kreativen Prozess der Orientierung auf ihren EigenSinn zu untersuchen, ihn zu provozieren und mit künstlerischen Mitteln nachzuvollziehen bzw. nachzuvollziehen lassen. Ich ermutige die Kranken, Situationen zu inszenieren, in denen sie selbst typisch und die für sie typisch sind. Sie versuchen, sich so zu zeigen, wie sie sind, und einander so zu verstehen, wie sie verstanden werden möchten.« (Ebd., S. 15)
22 Mayer, Christa: Fotografische Porträts von Langzeitpatientinnen seit 1982. Herausgegeben von Bettina Brand-Claussen und Thomas Röske, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2002, S. 14. Ich danke Christa Mayer für die freundliche Überlassung der Fotografie (Abb. 8).
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Abb. 8: Christa Mayer, »Frau P.«, 1996 Quelle: Christa Mayer: Frau P., aus der Arbeit PASSIO N., Berlin 1996, Colorprint 17,5 x 17,5 cm.
Christa Mayer hat in ihrer Arbeit keine konkreten Vor-Bilder bzw. versucht, diesen entgegenzuarbeiten, indem sie zusammen mit den Patientinnen ein Bild entwirft. Ehemalige Vor-Bilder, d.h. visuelle Ergebnisse des diagnostischen und kategorisierenden Blicks kennt Mayer selbstverständlich; sie gehören zum kollektiven Bildgedächtnis nicht nur der in der Psychiatrie Tätigen. Durch ihre kritisch-reflektierte Einstellung zu Krankheit und mithilfe der Kommunikation mit Kranken sowie durch ihre Anregung zur Selbstdarstellung versucht die Therapeutin und Künstlerin der Kontinuitätslinie der institutionellen Fremddarstellung zu entkommen. An einer anderen Stelle schreibt Mayer: »Wenn ich photographiere, bekommt der Andere ein menschliches Gesicht, und das Unmenschliche der Krankheit verschwindet.« (Ebd., S. 17) Der Erkenntnisprozess, in den Erfahrungen mit psychisch kranken Menschen und die Kritik an Deutungshoheiten eingehen, ist immer auch eine Auseinandersetzung mit Vor-Bildern. Die Bildakte, die mit diesen Porträts der Anderen entstehen, eröffnen eine (neue) umfassende Wahrnehmung, die die Betrachter(-innen) stärker in eine Relativierung des Selbst, des eigenen Körpers und seines Ausdrucks bringen.
Wenn der Fotograf kommt: Eine Porträtserie aus dem Fotoarchiv der Stiftung Liebenau A NNA G REBE
Ein junger Mann steht vor einer hellen Wand in einem Innenraum (Abb. 1), er trägt ein kariertes Jackett und eine dunkle Hose, dazu ein Hemd mit Fliege. Seine blonden Haare sind mit Pomade frisiert und sorgfältig gescheitelt, er hält ein Bilderbuch in den Händen, während er schräg rechts an der Kamera vorbeizuschauen scheint und dabei lächelt. Auf einem zweiten Bild hält ein anderer junger Mann ein Kuscheltier eng an sich geschmiegt (Abb. 2), auf einem dritten Bild steht eine Ordensschwester in Tracht neben einem Jungen und zeigt mit dem Finger in das Bilderbuch, als erklärte sie ihm etwas (Abb. 3). Was alle Bilder dieser aus der im Folgenden zu analysierenden und 45 Fotografien umfassenden Porträtserie gemein haben: Die jungen Männer tragen Festtagskleidung, sie stehen oder sitzen vor einem neutralen Hintergrund, vermutlich einer Wand in ihrem Wohnbereich, die meisten halten ein Buch, ein Kuscheltier oder eine Puppe in den Händen. Der Fotograf oder die Fotografin ist unbekannt, fest steht jedoch, dass die jungen Männer zu jener Zeit im sogenannten Josefshaus in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt für kranke und behinderte Menschen in Liebenau 1 untergebracht waren und dort von weltlichen Erziehern und Erzieherin-
1
Im Jahre 1870 erwarb Kaplan Adolf Aich das kleine Schlossgut Liebenau nördlich von Tettnang in Oberschwaben und gründete dort die »Pfleg- und Bewahranstalt für Unheilbare« und spätere Stiftung Liebenau; als Pflegerinnen und Hauswirtschafterinnen wurden die Reuter Franziskanerinnen eingesetzt, die bis 1975 die Einrichtung wesentlich prägten. Vgl. www.stiftung-liebenau.de. Ich bedanke mich herzlichst bei der Stiftung Liebenau, insbesondere bei Helga Raible und Susanne Brüstle, die mir den
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nen wie auch von Ordensschwestern betreut wurden, welche ebenfalls auf einigen der Fotografien abgebildet sind. 2
Abb. 1 Quelle: Fotoarchiv der Stiftung Liebenau (aufgenommen ca. 1957).
Das Wissen, dass diese Fotoserie in einer Heilanstalt aufgenommen wurde, mag im ersten Moment dazu verführen, die abgebildeten Menschen per se als krank oder behindert wahrzunehmen. Doch auch ohne dieses Wissen weisen die Fotografien ästhetische Konstruktionen und Konstellationen auf, die die Kategorisie-
Zugang zu den Bildern ermöglicht haben, die ich in meinem Dissertationsprojekt analysieren und in einen bild- und medienwissenschaftlichen Kontext stellen werde. 2
Über den Anlass des Fotografierens kann nur gemutmaßt werden, da keine Hinweise darauf, für wen die Fotos bestimmt waren, vorhanden sind; die kleinformatigen Fotografien wurden in einem unbeschrifteten Papierumschlag in einem so genannten Bildarchiv gefunden, einige von ihnen sind nachträglich auf der Rückseite mit dem Namen des oder der Abgebildeten versehen worden, die Mehrzahl der jungen Männer kann allerdings nicht mehr namentlich identifiziert werden, da Vergleichsfotografien aus jener Zeit fehlen und es keine Fotografien in den Akten des Patientenarchives gibt.
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rungen von ›Behinderung‹ und ›Normalität‹ auffällig als das ›Andere‹ oder ›Fremde‹ ins Bild setzen. Welche Produktions-, aber auch Rezeptionspraktiken führen dazu, dass eine Irritation oder Störung wahrgenommen werden kann? Und an welche (fotografischen) Vor-Bilder schließt sich diese Wahrnehmung an?
Abb. 2 Quelle: Fotoarchiv der Stiftung Liebenau (aufgenommen ca. 1957).
Haben Studien zu Monster- und Freakdarstellungen 3, aber auch zum Bild des Behinderten in der Kunst 4 körperliche Behinderung als nicht-ontologisch3
Um nur einige Beispiele zu nennen: Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2011; Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Kunst. München: Synchron 2010; Parr, Rolf: »Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns«, in: Geisenhanslüke, Achim; Mein, Georg (Hg.): Monströse Ordnungen, zur Typologie und Ästhetik des Normalen. Bielefeld: transcript 2009, S. 19-24; Renggli, Cornelia: »Freak-Shows und Körperinszenierun-
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essentialistische Gegebenheit aufgedeckt und die dazugehörigen Blickstrategien herausgearbeitet, so sind die Fragen nach den Strategien visueller Produktion von speziell geistiger Behinderung weitgehend unbeantwortet geblieben. 5 Geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen, die sich nicht auf der Oberfläche des fotografierten Körpers manifestieren und dem Betrachter keine verkörperten Zeichen anbieten, die auf eine geistige Devianz schließen lassen, verlangen daher nach einer anderen Form der Sichtbarmachung, die sich Strategien bedient, die auch außerhalb des abgebildeten Körpers, aber im Bild und in dessen Wechselwirkung mit unserem Sehen selbst zu finden sind. Im Folgenden möchte ich anhand einer schlaglichtartigen Analyse der oben beschriebenen Porträtserie junger Männer der späten 1950er Jahre aus der Stiftung Liebenau, einer im Jahre 1870 gegründeten Einrichtung für behinderte Menschen in Oberschwaben, unter Berücksichtigung von einigen mir wichtig erscheinenden Gesichtspunkten auf Produktions- wie auf Rezeptionsebene vorstellen, auf welche
gen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung«, in: Behindertenpädagogik 41, 2/2004, S. 173-184; Bogdan, Robert: »The social construction of freaks«, in: GarlandThomson, Rosemarie (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York/London: New York University Press 1996, S. 23-37; Oldenburg, Volker: Der Mensch und das Monströse: Zu Vorstellungsbildern in Anthropologie und Medizin in Darwins Umfeld. Essen: Die Blaue Eule 1996 u.v.m. 4
Vgl. u.a. Siebers, Tobin: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld: transcript 2009; Mürner, Christian: »Das Bild behinderter Menschen im medien- und kulturgeschichtlichen Wandel anhand von Beispielen aus Kunst und Kultur«, in: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete Heft 1/2004, S. 101-115 u.v.m.
5
Dies mag einerseits freilich an der späten Klassifizierung und begrifflichen Trennung der »Diagnosen« von geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung liegen, die erst ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch den sonder- und heilpädagogischen Diskurs eine langsame Etablierung erfuhren. Einen interessanten Versuch, geistige Behinderung und ihre Rolle in der Werbefotografie und Performance unter dem Fokus der Inklusion zu beschreiben, hat Anja Tervooren unternommen; sie analysiert eine Benetton-Werbekampagne, in welcher die Models (geistig) behindert sind sowie ein Theaterstück einer Berliner Theatergruppe
geistig behinderter Menschen, jedoch
bleibt die Frage nach dem kulturellen Sehen von geistiger Behinderung an dieser Stelle zugunsten der Frage nach Idealisierung weitgehend unbeantwortet: Tervooren, Anja: »Von Sonnenblumen und Kneipengängern. Repräsentationen von geistiger Behinderung in Bild und Performance«, in: Forum Kritische Psychologie, 44, 2002, S. 1421.
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Weise Strategien der Sichtbarmachung und Unsichtbarmachung von geistiger Behinderung funktionieren können und wie sich diese im Einzelbild wie auch in der Serie verhalten. 6 Im Zentrum steht dabei die Frage nach den sich wechselseitig ausbildenden Rezeptionspraktiken des Sehens/Nicht-Sehens von (Nicht-) Behinderung und wie dadurch ein Bild von Behinderung (und NichtBehinderung) hervorgebracht wird, welches nicht zuletzt mit Vor-Bildern operiert und so den Diskurs zur Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von geistiger Behinderung bestimmt. Um mich diesen vielschichtigen Fragen anzunähern, werde ich die Liebenauer Bilder unter drei zentralen Aspekten beleuchten: Zunächst gilt es, die Erscheinungsform der Porträts zu analysieren, die sich zwischen der bürgerlichen Atelierfotografie und der Psychiatriefotografie des 19. und 20. Jahrhunderts bewegt; während dieser erste Teil schwerpunktmäßig das Auftreten der Fotografien als Einzelbilder in den Fokus rücken lässt, so wird im zweiten Teil die Präsentationsform der Liebenauer Bilder untersucht werden, die als Serie entdeckt worden ist und dadurch einen Anschluss an serielle Fotografien wie jener Bertillons und an die Archivtheorie ermöglicht. Im dritten Teil soll dann darauf eingegangen werden, wie sich die Wechselwirkung von kulturellem Sehen und visueller Produktion von Nicht-Normalität vollzieht und welche Rolle hierbei das Setting, die Requisite, aber auch die kulturell geprägte Wahrnehmung von Körpern und Menschen in der Fotografie spielt.
6
Einige wenige Fotografien der zu analysierenden Serie zeigen auch junge Männer im Rollstuhl. Der Rollstuhl steht nicht nur in Piktogrammen, zum Beispiel für Behindertenparkplätze, stellvertretend für einen Menschen mit einer Gehbehinderung, er wird zum Symbol für Behinderung insgesamt, nicht nur für eine Gehbehinderung oder eine rein körperliche Behinderung. Dennoch soll dieser Aspekt insofern vernachlässigt werden, als dass er zwar in der Betrachtung der Fotografien als Serie auf einem Tableau auch zum Vorzeichen von Behinderung für die Bildnisse jener junger Männer, die nicht im Rollstuhl sitzen, werden kann, jedoch bereits in anderen Studien zur Visualisierung von Behinderung eine Rolle gespielt hat, insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsatz von Prothetik und anderen Hilfsmitteln. Vgl. exemplarisch: Garland-Thomson, Rosemarie: »Seeing the Disabled. Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography«, in: Longmore, Paul K.; Umansky, Lauri (Hg.): The new disability history. American perspectives. New York: New York University Press 2001, S. 335-374.
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Abb. 3 Quelle: Fotoarchiv der Stiftung Liebenau (aufgenommen ca. 1957).
B ITTE RECHT FREUNDLICH ! P ORTRÄTFOTOGRAFIE ZWISCHEN ATELIER UND P SYCHIATRIE Die Situation, professionell von einem Fotografen in einem Fotostudio oder Atelier porträtiert zu werden, sei es für Passbilder, für Familienporträts oder auch für Hochzeitsfotos, ist geprägt durch ihr soziales und technisches Dispositiv, das sich für die Studiofotografie bis etwa in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts so beschreiben ließe: Man sitzt auf einem Stuhl oder auf einem Hocker oder man steht, zum Beispiel an etwas gelehnt, vor einem neutralen Hintergrund. Zuvor hat man sich zu recht gemacht, die Haare ordentlich gekämmt, den besten Anzug oder das beste Kleid angezogen und erhofft nun, dass der Fotograf aufgrund seiner künstlerisch-technischen Fähigkeiten eines oder mehrere Bilder schießt, die uns von unserer Schokoladenseite oder uns zumindest so zeigen, wie wir es schon viele Male auf anderen Porträtfotografien gesehen haben, die zum Beispiel im Schaufenster des Fotografen hingen. Damit schreiben wir uns in ein normalisierendes Feld ein, indem wir uns einem sozio-kulturell geprägten Setting und einem Blickregime zwischen Fotograf, Kamera und Betrachter unterordnen.
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Damit evozieren wir, dass der Betrachter unseres entwickelten und dem Blick ausgestellten Fotos unser Bildnis, unsere visuelle (Re-)Präsentation zwar als besonders gelungen, nicht aber als besonders auffällig oder gar ›anormal‹ beurteilt. Die Ganzkörperaufnahmen aus der Liebenau erinnern auf den ersten Blick inhaltlich wie auch strukturell-inszenatorisch an die oben beschriebene Studioästhetik – und irritieren uns als Betrachter doch entscheidend, da sie deutlich machen, dass die visuelle Produktion von Anormalität sich im fotografischen Dispositiv selbst entfaltet und in Wechselwirkung zu unseren inneren Bildern, den »images « nach W.J.T. Mitchell, 7 sowie in der Serialisierung im Bildarchiv hergestellt wird. Die Irritation und die Wahrnehmung von Nicht-Normalität, »[…] der Einbruch des Fremden in eine als selbstverständlich und natürlich empfundene Ordnung […]«, 8 welche die Liebenauer Bilder im Betrachter auslösen, ergibt sich aus einer Schnittmenge zwischen psychiatrischer Fotografie und Atelierfotografie. Viele Patientenfotografien sind bereits als hybrides Bildmedium angelegt 9: Diese Bilder folgen zwar einerseits den Konventionen bürgerlicher Porträtfotografie, jedoch lassen sie andererseits durch ihren hohen Schnappschusscharakter, den oftmals improvisierten Hintergrund 10 und die deutliche Präsenz der Institution Psychiatrie in Form von Schwestern oder Pflegerinnen vermuten, dass die zu fotografierende Person nicht freiwillig vor das Kameraob-
7
Mitchell unterscheidet zwischen »Bildern überhaupt« (engl. image) und »Bildern als materielle[n] Entitäten« (engl. picture), vgl. Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 10ff.
8
Aus der Sicht der Phänomenologie »[…] setzt [dieser] Prozess ein, wenn Unvertrautes erscheint, wo Vertrautes erwartet wird, wenn das Unheimliche an die Stelle des Heimeligen tritt, das Ungeheure an die Stelle des Geheuren, wo es also zu einer Art Einbruch des Fremden in eine als selbstverständlich und natürlich empfundene Ordnung kommt. « Vgl. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007, S. 88.
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Susanne Regeners Beitrag im vorliegenden Sammelband ergänzt an dieser Stelle meine Ausführungen zur psychiatrischen Fotografie und weisen besonders auf die von ihr als »Fotografie-wider-Willen« eingeführte Begrifflichkeit hin. Siehe auch: Regener, Susanne: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2009.
10 Ich spreche hier von Improvisation, da auf einem Einzelbild der Liebenauer Porträtserie zu sehen ist, dass, um einen neutralen Hintergrund für die Porträts gewährleisten zu können, Möbelstücke von dieser Wand weggerückt worden sind und zusammengeschoben in einem Erker des improvisierten Ateliers stehen.
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jektiv getreten war. 11 Zweck des Fotografierens psychiatrischer Patienten war es u.a., an äußeren, physiognomischen Merkmalen psychische Erkrankungen und Anormalitäten ablesen zu können, häufig aber auch das Erfassen der Patienten für eine Anstaltskartei, wobei auf Strategien aus der polizeilich-kriminalistischen Fotografie zurückgegriffen wurde. 12 Diese Zielsetzung des äußeren Erkennens von inneren Vorgängen lässt ebenso Bezüge zu den dispositiven Mustern der Atelierfotografie und ihrer Rezeption im Allgemeinen erkennen, wenn es nämlich um den Anspruch der professionellen Porträtfotografie des 20. Jahrhunderts geht: Für das fotografische Porträt eines Menschen spielen Ähnlichkeit und Schönheit eine Rolle, »[…] mithin die unverwechselbare Individualität des Portraitierten als Kern der Darstellung« 13. Jene Individualität als Sichtbarmachung des an sich unsichtbaren Kerns eines Menschen zielt auf den Zusammenhang zwischen dem Menschenbild als Metapher und dem Körperbild als der Visualisierung jenes inneren Bildes, ein Verhältnis, das sich verändert, wenn sich die Kamera zwischen den Fotografen und den zu Porträtierenden schiebt. Aufgrund des angenommenen Wahrheitscharakters der Fotografie durch den physikalischchemischen Prozess, welcher ihr vor dem Zeitalter der digitalen Fotografie inhärent war und der mit ihr verbundenen mechanischen Objektivität und Abbildgenauigkeit, hat das fotografische Porträt das Ziel, Abwesendes zu vergegenwärtigen und für den privaten Gebrauch Nähe herzustellen oder für den wissenschaftlichen oder behördlichen Zweck als Beweis oder Argument zu dienen.14 Die Patientenfotografie bezieht sich allerdings weniger auf die Schönheit denn auf die Individualität, wenn es um das Erkennen von zum Beispiel psychischen Erkrankungen geht – jedoch verschwimmt diese Individualität, wenn die Fotografien in Serie auftreten und die zu porträtierenden Menschen stets vor ein und
11 Vgl. Regener: Visuelle Gewalt., S. 101f. 12 Das fotografische Porträt, oftmals aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen, wurde in den Karteien ergänzt durch biographische Angaben, Körpermaße und erläuternde Bildbeschreibungen sowie in vielen Fällen durch Fingerabdrücke. Grundlegend dazu ist Susanne Regeners Studie, in der sie auch dezidiert auf Alphonse Bertillon eingeht, der in diesem Beitrag noch eine andere Rolle spielen wird: Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Fink 1999. 13 Betancourt-Nuñez, Gabriele: »Positionen des fotografischen Dialoges«, in: Dies. (Hg.): Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Bielefeld: Kerber Photo Art 2011, S. 8-21, hier S. 8. 14 Drück, Patricia: Das Bild des Menschen in der Fotografie. Die Porträts von Thomas Ruff. Berlin: Reimer 2004, S. 32.
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demselben Hintergrund, in der gleichen oder ähnlichen Pose, womöglich auch in der gleichen Kleidung aufgenommen werden. Bei den Liebenauer Porträts trifft Letzteres durchaus in gewissem Maße zu – auf allen Fotografien dieser Serie sind die jungen Männer in ähnlicher Pose, sitzend oder stehend, abgebildet und ihre Kleidung ähnelt sich durch ihren festlichen Charakter sehr; jedoch handelt es sich nicht um Erfassungsbilder oder Bilder, die nachträglich von einem Mediziner zur Diagnose von Kriminalität, Krankheit oder Behinderung verwendet wurden oder der Bestätigung derselbigen dienten, vielmehr gab sich der Fotograf große Mühe, die Menschen ›so normal wie möglich‹, sprich: der bürgerlichen Atelierfotografie jener Zeit angepasst, zu zeigen. Daraus ergibt sich der Hybridcharakter dieser Liebenauer Bilder, verortet man sie zwischen Psychiatrie- und Atelierfotografie: Die ganzfigurigen Porträts referieren zum einen auf die bürgerliche Atelierfotografie mit ihren klaren technischen und kulturellen Anordnungen – neutraler Hintergrund, schicke Kleidung, Pose – jedoch beziehen sie sich zugleich auf die kulturelle Praxis der medizinisch-psychiatrischen Fotografie, die aber auch wiederum auf die Atelierfotografie zurückverweist. Mediologisch gesprochen handelt es sich bei den Liebenauer Porträts folglich um eine Verschränkung von psychiatrischen und bürgerlich-kanonischen (Ins-Bild-)Setzungen, die Bilder bewegen sich zwischen den Bedingungen der Atelierfotografie und jenen der psychiatrischen Fotografie – und brechen dadurch mit unseren Sehgewohnheiten, lassen uns Unsicherheit und Irritation verspüren und reflektieren auch hier die Frage nach dem, was wir als ›normal‹ empfinden und wo die Grenze zum ›Nicht-Normalen‹ verläuft. Es ist vielmehr gerade die der bürgerlichen Atelierfotografie inhärente Inszenierung einer ›heilen Welt‹, die das alles in Frage stellende Negativ hervorbringt. Das ›Normale‹ ist somit nur eine Konstruktion, welche sich in den Blick eingeschrieben hat und zwar so, dass er etwas Abweichendes als etwas Fremdes wahrnimmt. Günter Liehr bemerkt zu dieser Verbindung: »Die Identifizierungsporträts [und somit auch die medizinisch-psychiatrischen Porträts, A.G.] waren stets die heimlichen Begleiter der gängigen Porträtfotografie. Beide zusammen bezeichnen den gesellschaftlichen Zustand der Individualität. Was die einen in Szene setzen, führen die anderen höhnisch ad absurdum.« 15 Die Störung oder Irritation des Betrachters entsteht folglich aufgrund der Unsicherheit bezüglich dieser vexierbildhaften Vorbilder und des daraus resultierenden Sehens der Liebenauer Bilder: Sie setzen zwar dieselben Strategien ins Bild, wie sie bei psychi-
15 Liehr, Günter: »Menschenbilder - Bildermenschen«, in: Honnef, Klaus; Thorn Prikker, Jan (Hg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Köln: Rheinland-Verlag 1982, S. 534-545, hier S. 543.
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atrischen Aufnahmen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu finden sind, konfligieren diese aber, weil das Setting bzw. der Kontext diese eindeutige Lesart nicht ermöglichen, sondern die Fotografien an die bürgerliche Atelierfotografie rückbinden und sie zugleich in Frage stellen.
ANORMALITÄT
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Materialisierte Menschenbilder in Form von Porträts miteinander zu vergleichen ist zwar nicht erst seit dem Aufkommen der Fotografie als Kulturtechnik etabliert, jedoch bot erst die Fotografie aufgrund ihrer schnellen und einfachen Art der Herstellung und Reproduzierbarkeit die Möglichkeit, viele Bilder auf engem Raum zu einem Tableau zusammenzustellen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen. Der Akt des Serienbildens oder Serialisierens beruht dabei auf der Bifurkation von Produktion und Präsentation: Wie wir fotografische Sujets wahrnehmen, ist auch von ihrer Präsentationsform bestimmt – es macht einen Unterschied, ob wir eine Fotografie einzeln gerahmt an einer Wand sehen oder ein Fotoalbum durchblättern, auf dessen Seiten mehrere Fotografien nebeneinander geklebt sind. Aus den in einem Karton des Liebenauer Archivs gefundenen Porträtfotografien lässt sich kein gesicherter Rückschluss darauf ziehen, zu welchem Zweck die Bilder angefertigt worden sind oder ob sie jemals für eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit bestimmt waren. Ihr amateurhafter Charakter und das improvisierte Setting weisen darauf hin, dass jemand aus der Einrichtung selbst und vermutlich sogar aus dem näheren Umfeld der Jungen und Männer aus dem Josefshaus die Aufnahmen angefertigt hat. Bis zum Fund dieser und sechs weiterer Serien mit denselben jungen Männern in anderen Settings sind die Fotografien noch in keinem Zusammenhang präsentiert oder veröffentlicht worden und waren auch den Archivmitarbeiterinnen weitestgehend unbekannt. Deshalb ist grundsätzlich schon in Frage zu stellen, ob die Porträtfotografien jemals als Serie gedacht waren, die an einem Ort und auch nur in Serie betrachtet werden soll oder ob einzelne Abzüge der Fotografien für die Angehörigen der Liebenauer Bewohner im Sinne einer Erinnerungsfotografie bestimmt waren – nicht zuletzt sind auch beide Optionen zugleich möglich. Aber aufgrund der Tatsache, dass sie als Serie vorgefunden wurden, wird eine Analyse als eine solche umso evidenter, wenn man ihre Konformität, ihre Ähnlichkeit, in den Fokus rücken lässt. Durch diese nun erstmalige Betrachtung der Fotografien als Serie in einer Publikation ergeben sich neue Fragen danach, wie sich das Verhältnis von Einzelbild und Serie beschreiben lässt und wie durch die Serialisierung ein fotografisches
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Archiv entsteht, das auf ein sich kontinuierlich veränderndes Menschenbild schließen lässt, das zwischen den Dichotomien von Normalität versus Anormalität, Gesundheit versus Behinderung und Identität versus Alterität verhandelt. Eine Serie zeichnet sich hier insbesondere dadurch aus, dass sie keinen festen Anfang und kein gesetztes Ende hat, sondern dass ihre Einzelbilder beweglich und in keiner determinierten Abfolge stehen, sodass man sie immer wieder neu anordnen und unter verschiedenen Gesichtspunkten miteinander vergleichen kann. 16 Was aber auf einem Einzelbild noch als Zufall, als willfähriger Schnappschuss oder als unsichere Hand des Amateurfotografen bewertet werden kann, kann sich in der Serie zu einer bewussten Methode etablieren: Durch das vergleichende Sehen, das, wenn mehrere Fotografien nebeneinander auf einem Tableau präsentiert werden, nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Differenzen sucht und somit Bilder und deren abgebildete Sujets miteinander in Beziehung setzt, entsteht ein »hyperimage« 17, ein »Bild im Plural«. 18 Die Differenz eines Einzelbildes einer Typologie zu den anderen Bildern ergibt sich weniger durch seine besonderen Merkmale oder durch den bestimmten Unterschied, sondern vielmehr durch den Prozess des Unterscheidens durch den Blick des Betrachters, der durch das vergleichende Sehen Beziehungen zwischen den Einzelbildern eines Bildsystems herstellt und sie auf ihre Familienähnlichkeit untersucht, ohne
16 Schneider, Ulrike: »Variationen über ein Thema – Überlegungen zur seriellen Portraitfotografie«, in: Betancourt-Nuñez, Gabriele (Hg.): Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Bielefeld: Kerber Photo Art 2011, S. 22-33, hier S. 22f. 17 Zum ersten Mal erwähnt in: Thürlemann, Felix: »Vom Einzelbild zum ›hyperimage‹. Eine Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik«, in: NeschkeHentschke, Ada (Hg.): Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle. Évolution et débat actuel. Paris: Löwen 2004, S. 223-247. »Ein hyperimage, wie ich die Gruppierung mehrerer grundsätzlich autonomer Bildwerke zu einem größeren Ganzen nenne – es kann sich dabei z.B. um eine nach den Regeln der Pendanthängung geordnete Bilderwand in einem Museum oder um ein Arrangement von Reproduktionen auf einer Buchdoppelseite handeln – , ist selbst eine bedeutungstragende Einheit, die grundsätzlich nach den gleichen Regeln analysiert werden kann wie ihre Konstituenten, die Bilder, aus denen das hyperimage zusammengesetzt ist.« Vgl. Thürlemann, Felix: »Picasso fotografiert die Klänge einer Kartongitarre«, in: Ganz, David; Ders. (Hg.): Das Bild im Plural. Berlin: Reimer 2010, S. 313-330, hier S. 314. 18 Dobbe, Martina: »Fotografische Bildanordnungen. Visuelle Argumentationsmuster bei Francis Galton und Bernd & Hilla Becher«, in: Ganz, David; Thürlemann, Felix: (Hg.): Das Bild im Plural. Berlin: Reimer 2010, S. 331-350.
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dabei einen vorgängigen Urtypus oder ein Urbild festzustellen. (ebd., S. 340f) Die Gruppierung von Bildern, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können, zu einem Ensemble, das wiederum selbst zum Bild wird, ferner also die Pluralisierung von Einzelbildern, hat für die Fotografie eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist eine Einzelfotografie schon immer ein Bild im Plural, da sie beliebig oft vervielfältigt und immer wieder neu abgebildet und veröffentlicht werden kann; andererseits liegt ihr durch die Referenz auf andere, innere wie äußere Bilder stets eine (virtuelle) Pluralität zugrunde, wie sich im Abgleich der Liebenauer Porträts mit Atelierfotografie und Psychiatriefotografie gezeigt hat. Der Vergleich ist also eines der Grundprinzipien der Serie – und dort, wo Einzelbilder miteinander verglichen werden, dort werden im Falle von Porträtserien auch Menschenbilder gegenübergestellt. 19 Das gleichförmige Arrangement des Settings durch den Fotografen und die ebenso gleichförmige Pose der jungen Männer der Liebenauer Porträts weist deutlich auf den Seriengedanken im Akt der optisch-mechanischen Produktion der Fotografie hin und lässt sich überführen in die serielle Anordnung einer möglichen Präsentation der Porträts als eine Form von Archiv – ein Archiv von jungen Männern mit Behinderung in einer Anstalt des 20. Jahrhunderts (vgl. Abb. 4). Das Archiv, verstanden einerseits im Sinne der klassischen Archivistik als Ort der Speicherung, Aufbewahrung und Narrationsproduktion, andererseits Foucault folgend aufgefasst als Sammlung der Bedingungen der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Wissens, steht seit jeher in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach der Taxonomie von Menschenbildern. 20 Mit dem Aufkommen der Fotografie bedienten sich Leiter von Kranken- und Irrenanstalten wie auch Kriminalisten der Methode der bildlichen Erfassung von Individuen, um entweder Erkenntnisse oder Diagnosen fotografisch festzuhalten oder um Diagnosen erst nachgängig anzustellen. Das von Alphonse Bertillon um 1880 entwickelte fotografisch-anthropometrische Erkennungs- und Erfassungssystem für Kriminelle (auch »Verbrecherkartei« genannt) basierte in erster Linie auf Vermessung des Menschen, Vergleich der Daten und Berechnung einer Durchschnittlichkeit, ferner auf der Basis der Fotografie als wahrhaftigen Speicher unveränderbarer, wahrer körperlicher Merkmale. Dazu fertigte Bertillon von den in der Pariser Polizeistation festgehaltenen Kriminellen Serienfotografien in Profilund Vorderansicht an, die stets mit standardisierter Brennweite, gleicher Beleuchtung und vor neutralem Hintergrund aufgenommen wurden, um diese Fo-
19 Schneider: Variationen über ein Thema, S. 22f. 20 Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve 2002, S. 15ff.
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tografien dann mit Messwerten in Verbindung zu bringen und daraus mithilfe von rudimentärer Wahrscheinlichkeitsrechnung aus körperlichen Zeichen Text werden zu lassen. 21 Weder für Bertillon noch für die medizinische Fotografie und ebensowenig für die Liebenauer Bilder bedeutete der Vergleich von Fotografien erkrankter oder behinderter Menschen allerdings, dass Einzelbilder als Ganzes miteinander verglichen wurden, sondern vielmehr das Herauslösen einzelner Elemente oder Körperteile aus dem Gesamtbild und deren Vergleich und Klassifikation. 22 Der Körper wird damit zum Zeichenträger, körperliche Merkmale zu Indizien für eine Einordnung in ein konstruiertes System – in ein Archiv des (verbrecherischen/kranken/behinderten) Menschen. So wirken die Liebenauer Bilder, präsentiert man sie tableau-artig angeordnet (Abb. 4), wie eine regelrechte Bestandsaufnahme der Patienten im Josefshaus im Jahre 1957, eine Bestandsaufnahme, die die Varianz von Behinderung aufzeigt und den Porträts, ferner den abgebildeten Menschen einen Platz in einer sozialen und moralischen Hierarchie zuweist und damit den Status der Fotografie als archivalisches Medium zementiert, wie Allan Sekula es formulierte. 23 Die Liebenauer Porträts unterliegen dadurch ähnlichen Bedingungen wie die Karteifotografien Bertillons: Die gleichförmig anmutende Inszenierung der jungen Männer in der Porträtserie, das Ablichten vor einem neutralen Hintergrund, die ähnlichen Posen und die vergleichbare festliche Kleidung lässt sie zu einem Teil einer Ordnung werden, die im Einzelbild nicht zwangsläufig erkennbar ist. Dadurch fördert eben jene strukturelle und inhaltliche Analogie den Vergleich der Einzelbilder, ferner der Körper miteinander und evoziert zugleich eine sich durch den Blick auf das Tableau entfaltende Entindividualisierung der abgebildeten Menschen und ihre Reduktion auf vergleichbare und messbare Zeichen und deren Zuordnung zu den Diskursfeldern von Normalität und Anormalität als statistisch zu erfassende Typen.
21 Sekula, Allan: »Der Körper und das Archiv«, in: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 269-334, hier S. 303. 22 Regener: Visuelle Gewalt, S. 104. 23 Sekula: Der Körper und das Archiv, S. 278.
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Abb. 4: 12 Aufnahmen aus der Fotoserie Quelle: Fotoarchiv der Stiftung Liebenau (aufgenommen ca. 1957).
N ORMALE B ILDER ? ANDERE B ILDER ? »Ganz ›normale‹ Bilder bedürfen keiner Begründung. Jeder sieht oder kennt sie – keiner regt sich auf oder wundert sich. Wenn alle meinen, das gleiche zu sehen und zu verstehen, dann ist dies die Wirklichkeit.« 24 Was David Gugerli und Barbara Orland hier vorläufig für apparativ generierte Visualisierungstechniken konstatieren, trifft nur bedingt auf das fotografische Bildnis des Menschen zu, deutet aber zugleich auf ein Problemfeld hin, welches die Darstellung des Menschen in der Fotografie unmittelbar berührt: Wir sind daran gewöhnt, Bilder (und damit auch Körperbilder) zu sehen, sie miteinander zu vergleichen und unseren Blick auf Details zu richten, wenn sie uns ungewöhnlich, besonders oder auch eigenartig vorkommen. Durch eben jenes sozio-kulturelle Sehen von Bildern, bewerten wir Außergewöhnliches oder uns fremd Erscheinendes auf der Basis
24 Gugerli, David; Orland, Barbara: »Einführung«, in: Dies. (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich: Cronos 2002, S. 9-16, hier S. 9.
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jener Bilder, die wir bereits kennen. Können wir sie nicht in das einordnen, was uns bekannt erscheint, ist unser Blick bisweilen irritiert – und wir sind es auch. Es ist jedoch mehr als ein bestimmtes Detail, das uns im Falle der Liebenauer Bilder irritiert, sondern etwas Diffuses, das durch sie hindurch zu schimmern scheint. Es muss sich dabei nicht zwingend um ein einziges durch den Fotografen intentional platziertes, augenfälliges Detail handeln, sondern es kann sich aus dem Zusammenspiel vieler Irritationspunkte ergeben, die mit dem, was wir zu sehen gewohnt sind, zunächst nicht in Einklang zu bringen sind. Zugespitzt formuliert bedeutet dies also, dass das, was wir bereits kennen, unsere innere Ordnung bestimmt und diese internalisierte Ordnung ins Wanken gerät, wenn uns etwas zu sehen gegeben wird, das nicht genau so in dieser Ordnung vorkommt. Haben ausgewiesene Disability-Forscher(-innen) in Bezug auf die Darstellung (körper)behinderter Menschen versucht, sich dem Moment der visuellen Exklusion über eine Analyse und die Kategorisierung der Blickverhältnisse zwischen Betrachter und Betrachtetem bzw. dem, was ›hinter dem Bild‹ liegt zu nähern 25, so wird im Anschluss an die Visual Culture deutlich, dass dieser Blick durch das Bild hindurch nicht alleine die Frage nach der unseren Blick fesselnden Alterität beantworten kann, insbesondere dann, wenn sich diese Alterität nicht körperlich und für unser Auge sichtbar manifestiert. 26 Wendet man sich unter dieser Voraussetzung der Liebenauer Fotoserie und ihren Besonderheiten zu, so zeigt sich, dass insbesondere die Art und Weise, wie die jungen Männer fotografiert und inszeniert wurden, wie sie sich selbst inszenieren, welche Requisiten sie in den Händen halten und wie sie Kontakt über die Kamera mit dem Fotografen und letztlich mit dem Betrachter aufbauen, unser »punctum« konstruiert: Die
25 Rosemarie Garland-Thomson hat eine Theorie des starrenden Blickes entworfen, worin sie auf den durch den Blick konstituierten Raum sozialer Interaktion sowie die im Blick zu begründende interpersonale Beziehung von Starrenden und Angestarrten hinweist. So werden auf diese Weise z. B. die »normalen« sozialen Rollen von Starrendem und Angestarrtem umgekehrt und ein weiterer Reflexionsraum eröffnet. Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: Staring. How we look. New York: Oxford University Press 2009. 26 Im Falle der Visualisierung speziell geistiger Behinderung greifen nicht nur Wohlfahrts- oder Lobbyorganisationen auf das Bild von Menschen mit Down-Syndrom zurück – sie sind in unserem visuellen Gedächtnis nahezu zu Stellvertreter(-innen) oder Metaphern für geistige Behinderung geworden, da die für das Syndrom typisch schräg gestellte Lidfalte für den Betrachter zum Zeichen für die geistige Devianz wird, die sich an die äußeren, sichtbaren Merkmale des Syndroms heftet. Ähnliches gilt für den Rollstuhl als Zeichen körperlicher Behinderung, s. Fußnote 6.
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Mehrheit der abgebildeten Personen hält ein Requisit in den Händen, ein Bilderbuch, ein Stofftier oder eine Puppe. Jene, die ein Buch in den Händen halten, blicken mehrheitlich hinein, wobei sie damit zugleich den Kontakt mit der Kamera und mit dem Betrachter vermeiden. Jene, die ein Stofftier oder eine Puppe halten, kommunizieren aktiv mit dem Objekt und lenken ihre volle Aufmerksamkeit auch eher darauf, als auf die Kamera und den Fotografen (vgl. Abb. 2). Während das Buch seltsam fremd in ihren Händen wirkt und die jungen Männer auch nicht darin zu lesen scheinen, sondern vielmehr – es handelt sich schließlich um Bilderbücher – die Abbildungen darin betrachten, interagieren jene, die ein Stofftier halten, stark mit diesem, sehen es an, spielen damit oder drücken es beherzt an ihre Brust, ohne jedoch in die Kamera zu schauen. Diese Verweigerung des Blickes zeitigt zweierlei Effekte: Zum einen verweist das unpassende, gar ironische Hinzufügen der Requisiten des Kuscheltiers oder des Bilderbuches auf die verzögerte geistige Entwicklung des dargestellten adoleszenten oder erwachsenen Menschen, auf seine ›Kindlichkeit‹ oder gar seine Bildungsunfähigkeit. Die uns vertraut erscheinende Atelierästhetik wird konterkariert durch die Attribuierung durch einen als kindlich konnotierten Gegenstand; der fotografische Blick konstruiert, dass der Mensch in seiner Differenz, seinem nichtaltersgemäßen Geisteszustand entsprechend, wahrgenommen werden soll. Zum anderen verweist der vermiedene Augenkontakt als Bildstrategie auch auf die Erzeugung einer realistischen Situation und legitimiert so den voyeuristischen Blick des Betrachters, der ungestört den fotografisch fest-gehaltenen Körper begutachten kann. Dies steht auch in enger Verbindung mit dem Aufnahmewinkel, aus welchem all jene Fotografien aufgenommen wurden, auf denen jemand stehend abgebildet ist. Die meisten Bilder dieser Serie wurden in Untersicht fotografiert, das heißt, dass durch den Aufnahmewinkel der Eindruck entsteht, man würde von schräg unten nach oben auf das fotografierte Subjekt sehen. Während dies oft als hierarchische Struktur zu Ungunsten des Betrachters klassifiziert wird, im Sinne eines Auf-Sehens zu einer Person und als Gegenteil zur Aufsicht auf eine Person herab, so lässt sich dies in Verbindung mit der nahezu schattenwurffreien, frontalen Ausleuchtung des Subjektes als ein neugieriger, sich an das fotografierte Subjekt ›heranschleichender‹ Betrachterblick bewerten, der durch diesen Blickwinkel den abgebildeten Körper in seiner vollständigen Größe abtasten kann. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Anwesenheit von Ordensschwestern und Pflegepersonal in einigen Bildern der Porträtserie (vgl. Abb. 3): Im Bild sichtbares Pflegepersonal dient in der medizinischen Fotografie in erster Linie dem Nachweis der medizinischen und der sozialen Autorität und damit der
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Legitimierung der Aufnahme sowie ihrer Authentizität. 27 So überspitzt zum Beispiel das Porträt eines Jungen, hinter dem eine Ordensschwester steht, und ihm mit dem Finger auf die Schrift zeigend den Inhalt eines Kinderbuches zu vermitteln scheint, diesen Bildcharakter. Dies liegt daran, dass zwar das Setting und die Kleidung des Mannes auf eine Ateliersituation hinweisen, die so auch in einem familiären und nicht institutionellen Rahmen hätte stattfinden können. Zugleich wird aber eben diese Institution und damit die Disziplinierung im Foucaultތschen Sinne wieder ins Bild geholt, indem die Ordensschwester als Teil des Lehr- und Pflegepersonals, als Autorität in den Mittelpunkt des Bildfeldes rückt und ihre geistige Überlegenheit über den jungen Mann dadurch deutlich angezeigt wird. Diese oben beschriebene Ordnung, in die etwas »eindringt« 28, etabliert sich folglich im Blick auf das Einzelbild durch das kulturelle Sehen des Betrachters, das sich einerseits auf unsere Vorstellung eines ›normalen‹ Körpers und andererseits auf unser Verständnis einer ›normalen‹ Porträtfotografie bezieht. Das, was wir sehen, erzeugt eine Vorstellung in uns, ein inneres Bild, das in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Normalität oder der Gewöhnung an das, was das äußere Bild zeigt, steht. Normalität ist jedoch ein diskursives Ereignis bzw. eine gesellschaftlich operative Kategorie; sie lässt sich nicht festschreiben und nicht in aller Eindeutigkeit und für einen langen Zeitraum markieren. 29 Als kategorischer Imperativ formuliert wäre Normalität: »Betrachtet als normal, was von anderen als normal betrachtet werden könnte und zwar jenseits von expliziten und gesetzten Normen.« 30 In modernen Gesellschaften setzt sich der flexible Normalismus als Dispositiv von Normalität durch. Dieser zieht keine feste Grenze zwischen Anormal und Normal wie der an mehrheitlich klaren Grenzen orientierte Protonormalismus, sondern bietet ein Feld von relativen Punkten, innerhalb dessen sich das autonom gedachte Subjekt selbst konstituieren und positionieren kann. (Ebd. S. 75f) Sehen wir nun also ein Bild eines Menschen, das von etwas abweicht, von dem wir glauben, dass auch andere es sehen würden, so folgen wir zwar einer-
27 Grundlegende Analysen bietet dazu Gunnar Schmidt: Anamorphotische Körper, Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001.
28 Vgl. Dederich, Körper, Kultur und Behinderung, S. 88. 29 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 15f. 30 Schon Anweisungen des Fotografen wie »Stillhalten, bitte!«, »Lächeln!« oder »Jetzt schau zu mir!« sind Teil der Normalisierung im Akt des Fotografierens selbst. Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 16.
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seits dem flexibel-normalistischen Prinzip, das uns als historisch und kulturell geprägtes Wesen markiert, das nur jetzt und nur hier etwas als ›anders‹ erkennen und bezeichnen würde – andererseits aber vollziehen wir damit eine nahezu protonormalistische Bewegung der Exklusion, indem wir uns unserer eigenen verhandelten Normalität versichern und das, was wir sehen, aus diesem Feld ausschließen und stigmatisieren. 31 Die jungen Männer mit den Kuscheltieren oder Bilderbüchern – wir distanzieren uns nicht von ihnen, weil ihr Körper seltsam oder fremd aussieht, sondern es sind vielmehr die oben beschriebenen Details im Produktions- und Präsentationsdispositiv, die uns dazu bringen, auf den ›ersten Blick‹ etwas Fremdes, Ungewohntes wahrzunehmen und für uns zu entscheiden, ob es für uns zugleich ein ›Anormales‹, ›Anderes‹ darstellt, von dem wir uns als Betrachter in unserer eigenen Körperlichkeit distanzieren möchten. Wir produzieren durch unseren Blick auf den uns fotografisch präsentierten Körper ein Körperbild, von welchem wir uns abzugrenzen versuchen, indem wir uns unserer eigenen Normalität versichern und damit vom divergierenden Körperbild auch auf ein entsprechendes Menschenbild schließen. Dieses Menschenbild liegt somit einem Körperbild zugrunde, das den Körper bereits als vorgängiges Bild auffasst, das, wenn er schließlich ins Bild gesetzt und medial arretiert wird, sich durch die Einordnung in das fotografische Dispositiv an Vor-Bildern orientiert und damit zum Bild selbst wird. 32 Was Susanne Regener für die Psychiatriefotografie als »Fotografie-widerWillen« 33 bezeichnet, findet im Falle der Liebenauer Porträts allerdings nur eingeschränkt Anwendung: Zwar wirken die Fotografien einerseits so, als habe jemand, der nicht auf den Bildern anwesend ist, Regie geführt und die jungen Männer dazu aufgefordert, sich auf eine bestimmte Art und Weise vor der hellen Wand aufzustellen, jedoch kokettieren einige von ihnen unmissverständlich mit der Kamera und setzen sich in Pose, so, wie sie dies auf anderen Fotografien vielleicht bereits gesehen haben. 34 Dies führt uns zum fotografischen Dispositiv,
31 Ochsner, Beate: »Visuelle Subversionen. Zur Inszenierung monströser Körper im Bild«, in: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung (http://image-online. de), Nr. 9 (Ausgabe Januar 2009), S. 91-105, hier 92f. 32 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 89. 33 Regener: Visuelle Gewalt, S. 102f. 34 Ich halte es persönlich für reine Spekulation davon auszugehen, dass die jungen Männer aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage gewesen seien zu verstehen, was es heißt, fotografiert zu werden. Die Tatsache, dass in den 50er und 60er Jahren viel in der Liebenau fotografiert wurde und die Existenz mehrerer Fotoserien dieser jungen
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vielmehr noch aber zum Zusammenhang zwischen Vor- und Ab-Bildern als kulturelle Praxis des Fotografierens und Fotografiert-Werdens: 35 Wir nehmen, wenn wir Fotografien sehen, diese meist durch einen imaginären Sucher wahr, der sich zwischen unseren Blick und die »Erscheinungsformen des Wirklichen« schiebt und das Gesehene nach fotografischen Kategorien für uns strukturiert. 36 Stehen wir nun selbst vor der Kameralinse, um uns fotografieren zu lassen, dann denken wir diesen Vorgang mit und orientieren uns unbewusst an Vorbildern, an bereits existierenden Bildern und präsentieren uns dem fotografischen Blickregime auf eine bestimmte Art und Weise. (Ebd., S. 46) »Die Pose imitiert nicht nur ein schon vorliegendes Bild bzw. eine visuelle Figur, sie imitiert vor allen Dingen die Fotografie als solche.« (Ebd., S. 47) Craig Owens zufolge und anschließend an Roland Barthes 37 erstarren wir bereits zum Bild und nehmen es vorweg, bevor wir überhaupt fotografiert werden. 38 Die Pose muss dabei nichts Gewolltes oder Aktives sein, vielmehr kann sie unbewusst und »[…] Resultat eines Bildes sein, das so oft auf den Körper projiziert worden ist, daß das Subjekt beginnt, sich sowohl psychisch wie auch körperlich mit ihm zu identifizieren.« 39 Ein Wirkungseffekt, der zum Beispiel durch Framing oder Requisite hervorgerufen
Männer lassen mich annehmen, dass sie mit dem Vorgang vertraut waren und im Nachgang an die Fotosessions ihre eigenen Porträts auch gesehen haben. 35 »Längst haben die Bilder, die einmal Abbilder der Menschen waren, die Verhältnisse umgekehrt: Sie sind zu Vor-Bildern geworden, nach ihnen haben sich nun die Menschen zu richten, sich ihnen gleichzumachen.« Liehr: Menschenbilder – Bildermenschen, S. 539. 36 Silverman, Kaja: »Dem Blickregime begegnen«, in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41-64, hier S. 42f. 37 Barthes: Die helle Kammer, S. 23. 38 Silverman: Dem Blickregime begegnen, S. 47; siehe auch: Owens, Craig: »Posieren«, in: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 92-114. 39 Ebd., S. 47ff: Kaja Silverman verhandelt das Zusammenspiel von »[…] Rahmen, ›Mise-en-scène‹, Kostüme und Licht […]« in der Fotografie zusammen mit dem Begriff der Pose als Mechanismen und Strategien, mithilfe derer sich das Subjekt als Fotografie anbietet; sie betont dabei, dass jedes dieser Elemente wesentlich und vor allen Dingen eigenständig zur fotografischen Wirkung beiträgt und dafür sorgen kann, dass trotz der willentlichen Annäherung eines Subjekts an eine kulturell codierte Pose vor der Kamera diese Elemente auch für das Gegenteil dessen sorgen könnten, was das Subjekt mit der Nachahmung dieser Pose evozieren wollte.
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werden soll, kann auch durch diese das angestrebte Abbild unterlaufen, wie in den Liebenauer Porträts anschaulich wird und den Betrachter dazu einlädt, die Fotografien zwischen der Frage nach möglichen fotografischen Vorbildern und seiner visuellen Erfahrungswelt zu verhandeln – und auch seine eigenen Maßstäbe von Normalität und Anormalität zu überprüfen.
Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Betrachtet man die Entstehung der Liebenauer Porträts in ihrem institutionellen Rahmen einer Behinderteneinrichtung der 50er Jahre, so erscheint die Art und Weise, wie die Jungen und Männer ins Bild gesetzt wurden, wie ein Vorbote dessen, was ab den 1970er Jahren in der Bundesrepublik zunehmend an Relevanz gewann, waren doch zuvor Ausgrenzung und Verwahrung die vorrangigen Paradigmen: die soziale wie auch visuelle Inklusion behinderter Menschen durch Normalisierungsstrategien. Der Gestus der visuellen Inklusion beruht somit auf der Annahme, dass »als ›behindert‹ etikettierte Menschen […] auf das ›Normalfeld‹ Gesundheit bezogen und auf Grund körperlicher und verkörperter Differenzen dem negativen Pol zugeordnet [werden]; sie gelten als ›nicht normal‹ und sollen […] ›normal‹ gemacht werden.« 40 Nichtsdestotrotz ist durch die Analyse der Liebenauer Bilder im Einzelnen und als Serie deutlich geworden, dass durch den Blick auf die Bilder und damit auf die Menschen eine gewisse, wohl nicht vom Fotografen intendierte Irritation entsteht, die zur Annahme verleitet, dass es sich dennoch um geistig behinderte Menschen handelt und ihnen in diesem Sinne die Kategorie der Behinderung zuweist. Das Oszillieren der Porträtserie zwischen den Polen von Normalität und Anormalität im Zeichen des flexiblen Normalismus tritt deshalb in den Fokus des Betrachters, weil auf Produktionsebene die Normalisierung durch die Annäherung an das Vorbild der Atelierfotografie schon inhärent ist und auf Rezeptionsebene sie auf die Psychiatriefotografie trifft, die diskursiv dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die abgebildeten Individuen durch das Setting, die Aufnahmesituation oder die Requisite als nichtnormal markiert. Die Präsentationsform der Fotografien als Serie verstärken diese Polarität durch ihre Anbindung an den anthropometrischen Diskurs und die
40 Waldschmidt, Anne: »Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies«, in: Dies.; Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies. Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: transcript 2007, S. 55-79, hier S. 69.
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daraus resultierende Produktion von Kategorisierungen und Dichotomisierungen von Menschenbildern – und nicht zuletzt die Produktion unseres Blicks. Die Fotografien aus der Liebenau verweigern sich dadurch möglichen Kategorien einer besonderen ›Ästhetik von Behinderung‹, sondern geben die Frage nach dem, was überhaupt ›normal‹ ist, an den Betrachter zurück und eröffnen dadurch eine neue Perspektive auf ihren Status zwischen dem Anspruch auf wissenschaftlich-objektive bzw. soziale Wahrheit von Behinderung auf der einen Seite und der indexikalischen Wahrheit des fotografischen Mediums auf der anderen Seite.
Behinderung ausstellen Un-/Möglichkeiten der Re-/Präsentation C ORNELIA R ENGGLI
Dieser Beitrag macht einiges nicht: Er führt nicht wie der Titel vielleicht vermuten lässt – über das Ausstellen von Menschen mit Behinderung durch die Massenmedien o.ä. aus. Es geht hier auch nicht – worauf der Untertitel hinweisen könnte – um eine Theoriediskussion zum umstrittenen Begriff der Repräsentation. Es gibt bereits Texte, die Stereotype und Diskriminierungen in Worten und Bildern festgestellt bzw. die Debatten betr. Repräsentation dargestellt haben. Dieser Beitrag nimmt vielmehr folgende Beobachtung zum Ausgangspunkt: Wenn wir Behinderung zum Thema machen, könnte dieses im Prinzip sehr viel umfassen. Dennoch werden damit jeweils spezifische Vorstellungen verbunden. Das führt nicht nur dazu, dass wir zu wissen meinen, um was es bei der Thematisierung von Behinderung geht, sondern diese wird dadurch auch ausgesondert, sodass wir sie nicht nicht aus-stellen können. Was wird auf diese Weise als Behinderung hergestellt, und wie gehen wir mit dem erwähnten Paradoxon um? Antworten auf diese Fragen sollen Blicke auf ein gescheitertes Projekt zum Thema Behinderung sowie auf die Geschichte des Ausstellens geben.
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E IN
GESCHEITERTES
P ROJEKT
Die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern wollte in ihrer sanierungsbedürftigen Klosteranlage das Projekt ›paradrom‹ realisieren. 1 ›paradrom‹ wurde angekündigt als Begegnungs- und Erlebnisort, der eine breite Bevölkerungsschicht ansprechen und daher jährlich von 30.000 Personen besucht werden sollte. Um das Projekt zu unterstützen und v.a. die Finanzierung der Gesamtkosten von ca. 18 Mio. Euro zu sichern, wurde ein Verein mit namhaften Mitgliedern gegründet. »Im Zentrum dieser Vision [stehe] die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Behinderung«, teilte man im November 2007 mit. 2 Von der nächsten Projektpräsentation im Februar 2010 berichteten die Medien: Das ›paradrom‹ wolle ein Erlebnis ermöglichen, »das ein Gefühl für Behinderungen schaffen soll«, die Besuchergruppen würden die Einschränkungen am eigenen Körper erfahren, d.h. Behinderung »hautnah« erleben. 3 Durch die Erfahrung, wie es sei, »mit einer speziellen Eigenschaft ausgestattet – eben anders – zu sein«, solle die Öffentlichkeit ein neues Verhältnis zu einem Defizit gewinnen.4 Bald darauf regte sich Kritik am Konzept vom ›paradrom‹. Im April 2010 wandte sich das Behindertenforum Zentralschweiz in einem offenen Brief an die Verantwortlichen und äußerte als Expertenteam in eigener Sache die drei Kritikpunkte: Nachhaltigkeit, Mitwirkung der Betroffenen, Missverhältnis zwischen Notwendigem und Machbarem. »Das Projekt schadet mehr als es nützt, wenn oberflächliche Sozialromantiker und Gesinnungsethiker mit einem folgenlosen virtuellen Streichelzoo-Spektakel ›leicht und heiter Behinderung erfahren‹ wollen«. Behinderung könne man nicht konsumieren, sie sei keine Faszination und kein sensorisches Phänomen, »sondern ein ernstes zu lösendes sozialpolitisches Problem« 5. Im Mai 2010 ertönten in den Medien die Stimmen der zwei größten Behindertenorganisationen der Schweiz: Die Pro Infirmis fand es »verfehlt, dass Behinderung auf eine Funktionsstörung reduziert [werde]. Jede Behinderung ha-
1
Die Angaben stammen, wo nicht anders zitiert, von der nicht mehr zugänglichen Homepage des Projekts paradrom: http://www.paradrom.rathausen.ch (letzter Zugriff am 21.02.2011).
2
Stiftung für Schwerbehinderte Luzern: »Medienmitteilung«, 12.11.2007.
3
Roschi, Stefan: »Rathausen. Räume simulieren Behinderung«, in: Neue Luzerner Zeitung vom 26.02.2010.
4
Aregger, Adelheid: »Ein historischer Brückenschlag dank Projekt ›Paradrom‹«, in: Zofinger Tagblatt vom 27.02.2010.
5
Behindertenforum Zentralschweiz: »Projekt Paradrom und Behindertenpolitik im Kanton Luzern«, 06.04.2010.
B EHINDERUNG
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be auch soziale und psychische Auswirkungen und betreffe alle Lebensbereiche« und die Procap befürchtete, »dass Menschen mit Behinderung im Paradrom zur Schau gestellt würden.« 6 Diese Kritik fand Widerhall: Ein Online-Kommentator meinte: »Die meisten Behinderungen können nicht wirklichkeitsgetreu wiedergegeben werden«. 7 Ein Leserbriefschreiber fügte hinzu: Behinderte hätten es ja besser als früher, als sie noch Witzfiguren waren. Doch man sollte sie nicht auf ihr Körperproblem reduzieren – man blende sonst den Rest ihrer Wirklichkeit aus. Der Leser stellte die Frage, ob wir prinzipiell den Zustand des Behindertseins selbst einnehmen müssten, um ihn nachvollziehen zu können, schließlich habe der Mensch die Gabe des Mitgefühls. 8 Das Konzept um eine anfänglich eher an einen Freizeitpark zum Thema Wahrnehmung anmutende Idee – vorgesehen waren z.B. Erlebnisse auf einem Rollstuhlparcours und in Dunkelräumen – wurde zwar durch ein Bildungs- und Kulturangebot sowie ein Wissenszentrum ergänzt, in dem die Besucherinnen und Besucher Informationen über verschiedene Formen von Behinderung nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit erhalten sollten. Doch trotz dieser Anpassungen hielt die Kritik an. So nahm die Pro Infirmis im September 2010 erneut Stellung dazu: Das ›paradrom‹ verletze wesentliche Prinzipien der Behinderten-Gleichstellung: Es stelle einen Rückfall in die Segregation – mit Nachahmungsgefahr – dar, anstatt den »Übergang vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung« zu vollziehen. Die Pro Infirmis fände es sinnvoller, mit dem vielen Geld die Zugänglichkeit in der Schweiz zu verbessern. 9 Im Februar 2011 teilte die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern mit, dass sie ihre Planungsarbeiten einstelle. Das Projekt käme aufgrund mangelnder Unterstützung wichtiger Behindertenorganisationen und zu geringer Geldzusagen von Sponsoren nicht zustande. 10 Bedauerte die Stiftung diesen Schritt, so wurde er von den kritischen Stimmen begrüßt.
6
Bühlmann, Beat: »Begegnungsort oder ›Streichelzoo‹?«, in: Tages-Anzeiger vom 27.05.2010.
7
Safado, Christiano: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Begegnungsortoder-Streichelzoo/story/28513256?comments=1 vom 27.05.2010, 10:30 Uhr, letzter Zugriff am 27.07.2012.
8
Widmer, Thomas: »Mal kurz selber in den Rollstuhl?«, in: Tages-Anzeiger vom 28.05.2010.
9
Pro Infirmis: »Erlebnispark Paradrom«, 07.09.2010.
10 Stiftung für Schwerbehinderte Luzern & Verein Kloster Rathausen: »Medienmitteilung«, 14.02.2011.
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B EHINDERUNG In den Verhandlungen zum ›paradrom‹ werden unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Aussagen zu Behinderung gemacht. Zunächst wurde diese von den Projektverantwortlichen als ein auf Körper bezogenes Phänomen (Einschränkung, spezielle Eigenschaft, Differenz) beschrieben, das in verschiedenen Formen auftritt. Auch wenn Behinderung damit als eine Angelegenheit von Menschen mit Behinderung betrachtet wurde, so lasse sie sich auch für Menschen ohne Behinderung erfahrbar machen. Expertenstimmen kritisierten diese Auffassung von Behinderung, wenn sie eine Reduktion auf Funktionseinschränkungen vorbrachten, psychische und soziale Auswirkungen (Segregation) erwähnten und sich für Gleichstellung und Zugänglichkeit aussprachen. Menschen mit Behinderung fügten dieser Kritik hinzu, dass Behinderung weder ein sensorisches Phänomen noch eine konsumierbare Faszination, sondern ein sozialpolitisches Problem sei. Behinderung umfasst in diesem Beispiel also viel, und sie hätte auch noch mehr sein können: Es wäre z.B. möglich gewesen von Behinderung zu sprechen, da ein Projekt zu Behinderung vorwiegend für Menschen ohne Behinderung konzipiert wurde, da dieses Projekt mit seinem Fokus auf der Wahrnehmung nicht allen Menschen zugänglich gewesen wäre oder da die jeweiligen Erwartungen an das Projekt nicht erfüllt wurden. Stattdessen wurde Behinderung auf zwei Arten gedacht, die in der Gegenwart dominant sind: einerseits auf ein Individuum bezogen, andererseits als Gebilde in einem größeren Ganzen. Diese Sichtweisen werden in den Wissenschaften mit Modellen in Beziehung gebracht. Dominant für die erste Sichtweise ist das medizinische Modell von Behinderung, ihr ist jedoch auch das durch die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bekannt gewordene biopsycho-soziale Modell mit seiner Ausrichtung aufs Individuum zuzuordnen. Michel Foucault sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Zugriff aufs Individuum und der v.a. seit dem 19. Jahrhundert stattfindenden Medizinisierung des Daseins: Durch die Arbeitsteilung des Kapitalismus habe eine Hierarchisierung von Individuen nach mehr oder weniger Fähigkeiten eingesetzt. Diese Einordnung der Individuen, die Foucault als eines der großen Machtinstrumente der Gesellschaft beschreibt, folge einem medizinischen Denken, d.h. einer »Wahrnehmung der Dinge, die am Gedanken der Norm ausgerichtet ist, also zwischen ›normal‹ und ›anormal‹ zu unterscheiden versucht«. 11 Behinderung stellt somit
11 Foucault, Michel: »Die Macht, ein großes Tier«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden (= Dits et Ecrits, Band 3), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 477-495, hier S. 484.
B EHINDERUNG
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eine Erfindung der Moderne dar und individuumszentrierte sowie auf das Pathologische ausgerichtete Definitionen bleiben einem medizinischen Denken treu, auch wenn sie vorgeben, nicht oder nicht nur in diesem Modus zu operieren. Dieser Sichtweise wird jene entgegengesetzt, die Behinderung in einem Gefüge verortet. Das geschieht bei dem durch die Disability Studies propagierten sozialen Modell von Behinderung, dem ein kulturelles Modell zur Seite gestellt wurde. Behinderung wird in diesen Modellen unterschiedlich hergestellt. Bei den unter dem sozialen Modell versammelten Ansätzen liegt die Betonung auf gesellschaftlichen Faktoren, die behindern und daher zu beseitigen sind. Im kulturellen Modell hingegen wird nach den Rollen gefragt, die Behinderung in der Gestaltung unserer Leben und damit unserer Kultur spielt. Gemeinsam ist den beiden Modellen, dass sie von einer Kritik an der individuumszentrierten Sichtweise ausgehen. Daher verhalten sich die zwei Denkweisen von Behinderung zueinander wie Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Das soziale und das kulturelle Modell würden eine Grundlage dafür bieten, Behinderung als eine allgemeine menschliche Erfahrung zu verstehen. 12 Wenn jedoch in der Wissenschaft wie auch in der Öffentlichkeit von diesen Modellen die Rede ist, werden damit Vorstellungen von Behinderung als Problem bestimmter (meistens: körperlich beeinträchtiger) Menschen verbunden. Welche Folgen diese eigentlich kritisierte Verknüpfung haben kann, zeigen die Diskussionen zum ›paradrom‹.
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Zum Scheitern vom ›paradrom‹ trugen sicherlich finanzielle und politische Gründe bei. Diese ergaben sich jedoch z.T. erst aus widersprüchlichen Auffassungen von Behinderung und einer Unterschätzung der Wirkungen von Re/Präsentationen. Die Verantwortlichen meinten, durch die Erfahrung einer Einschränkung im Erlebnisparcours bzw. durch medizinische Informationen im Wissenszentrum den Besucherinnen und Besuchern zeigen zu können, was Behinderung sei. Diese wurde als eine Tatsache verstanden, die sich durch irgendwelche Dinge (hier: Worte und Erlebnisse) wiedergeben lässt. Man folgte damit der Annahme, dass es sich bei Repräsentationen um stellvertretende Darstellungen handle, bei der bestehende Bedeutungen wiederhergestellt werden. Zu welchen Problemen eine solche Auffassung führen kann, lässt sich z.B. am Versuch zeigen, Blindheit mittels Dunkelheit zu repräsentieren. Ausgangs-
12 Vgl. Weisser, Jan: »Der Begriff der Behinderung und sein Gebrauch«, in: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 74, 2/2005, S. 104-112.
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punkt dafür bildet die Vorstellung, dass Blindheit Nichtsehen bedeute. Wenn nun aber Sehende in Dunkelräume kommen, nehmen sie – auch sehend – Dunkelheit, nicht Blindheit wahr. Blindheit kann zwar mit Dunkelheit verbunden sein, muss es aber nicht. Es ist somit schwierig, eine andere Wahrnehmung zu simulieren, da wir in der eigenen Wahrnehmung verhaftet bleiben. Zuweilen werden gegen solche Versuche auch ethische Gründe vorgebracht: Es sei bedenklich, kurze Zeit eine Behinderung nachzuspielen und dann das Leben ohne die damit verbundenen Hindernisse fortzusetzen. Dieser Einwand beruht u.a. darauf, dass Behinderung nach dem verbreiteten individuellen Modell Menschen zugeschrieben wird und dass daher mit dem Zeigen von Behinderung die Vorstellung eines Zeigens dieser – oft auf die ihnen zugeschriebene Behinderung reduzierten – Menschen einhergeht. Es lässt sich zwar zwischen »the representation of disability and disabled people’s lives« 13 differenzieren, doch damit sind die grundsätzlichen Probleme nicht gelöst. Hinzu kommt die Frage, ob sich nach dem sozialen Modell Behinderung, die ja erst in einer Interaktion entsteht, überhaupt präsentieren lässt. Die Auffassung, dass Repräsentation eine Darstellung sei, stößt somit auf einige Kritik. Im Lauf der Geschichte war immer wieder die Rede von einer »Krise der Repräsentation«. Gemeinsam ist der oft erkenntnistheoretisch begründeten Kritik, dass sie nicht von einer den Dingen innewohnenden Bedeutung ausgeht, die sich qua Repräsentation reproduzieren lässt. Stattdessen liegt die Annahme zugrunde, dass Bedeutungen durch die Repräsentation erst hergestellt werden. Dabei werden mit den Dingen jeweils Vorstellungen verbunden, denen – ebenso wie den Praktiken – große Bedeutung zukommt: »It is by our use of things, and what we say, think and feel about them – how we represent them – that we give them a meaning.« 14 Behinderung wird nach dieser Auffassung in sozialen Interaktionen produziert. Sie ist somit nicht mehr etwas der Repräsentation Vorgängiges, sondern deren Produkt. Auf diese Weise kann Behinderung durch Sprache, Bilder, Objekte, Inszenierungen oder/und in Handlungen hergestellt werden. Immer entsteht das Bezeichnete erst durch das Bezeichnen. Dass es bei diesem Prozess nicht nur um das Bezeichnen geht, sondern dass er auch weitere Auswirkungen hat, zeigt das Beispiel der Ausstellungen.
13 Sandell, Richard: Museums, prejudice and the reframing of difference. London: Routledge 2007, S. 147. 14 Vgl. Hall, Stuart: »Introduction«, in: Ders. (Hg.): Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. London: Sage 1997, S. 1-11, hier S. 3.
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AUSSTELLEN Indem in Ausstellungen einem Publikum etwas zu sehen gegeben wird, entsteht eine spezifische Form von Öffentlichkeit. Die Geschichte der Ausstellung weist einige Berührungspunkte zu Behinderung auf: So geht das mit seiner Mischung von Information und Unterhaltung typische Medium der Moderne u.a. zurück auf die neuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern, die »neben antiken Kunstwerken und zeitgenössischen Gemälden auch Naturalia und Exotica bzw. Curiosa« zeigten. In diesen Mikrokosmen, die »Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit« erhoben und »eine Ordnung des Weltganzen« zeigen wollten, erschien auch Behinderung. 15 Ausstellungen sind auch verwandt mit Jahrmärkten, Messen und dem Präsentieren von Körpern durch die Medizin. Befriedigten die Jahrmärkte v.a. die Schaulust, so diente die Inszenierung von Körpern durch die Medizin u.a. der Belehrung. Dass sich diese Trennung von Unterhaltung und Information nie strikt durchführen ließ, wird auch am Beispiel der pathologischen (später: medizinhistorischen) Schausammlungen deutlich. Zudem erfüllten Ausstellungen der Medizin und (Krüppel-)Fürsorge im 20. Jahrhundert auch andere, z.B. politische Funktionen. Bei den medizinischen Ausstellungen handelt es sich um eine Spezialform der Gewerbe- und Industrieausstellungen, die v.a. als Weltausstellungen Bekanntheit erlangten und wirtschaftliche wie politische Ziele verfolgten. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stattfindenden Weltausstellungen machten die Ausstellung zu einem Massenphänomen und medialen Ereignis. »Die Weltausstellung war für ein breites Publikum die Begegnung mit Niegesehenem, Unerhörtem, Aufregendem, Entdeckungen und wahren Rekordleistungen menschlicher Erfindungsgabe.« 16 Es wurden allerdings nicht nur Waren ausgestellt, sondern – der Idee der sog. Völkerverbindung folgend – auch als fremd wahrgenommene Menschen. Von diesen Völkerschauen führte nur ein kleiner Schritt zu den Freakshows, die schillernde Orte waren, wo sich »race, ethnicity und disability« 17 überlagerten. In den Freakshows wurden Menschen durch das Aus-
15 Vedder, Ulrike: »Museum/Ausstellung«, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (= Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 7). Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 148-190, hier S.154. 16 Mai, Ekkehard: Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens. München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 1986, S. 31. 17 Bergermann, Ulrike: »Monstrare. Zum Ausstellen von Dis/Ability«, in: Loreck, Hanne; Mayer, Katrin (Hg.): Visuelle Lektüren Lektüren des Visuellen. Hamburg: Textem 2009, S. 178-191, hier S. 183.
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stellen »nicht nur fremd gemacht, sondern andererseits [wurde] dieses Fremde durch die sinnliche Erlebbarkeit in der Ausstellung nah gerückt […] Aus diesem Spannungsverhältnis leiten sich Staunen und Neugierde« 18, aber auch Abwehr her. Diese Reaktionen beschränken sich nicht auf die Freakshows, sondern sie treten auch bei anderen massenmedialen Darstellungen auf: »Representational media secure our attention as readers and viewers in the double bind of our fascination/repulsion with physical differences.« 19 Aus den bisherigen Etappen der Geschichte der Ausstellung lässt sich festhalten, dass Behinderung v.a. in den – durch die Klammer der Anthropologie zusammen gehaltenen – Feldern der Medizin und Ethnologie gezeigt wurde. Die Präsentationsweise folgte weitestgehend dem medizinischen Denken mit seinem Zugriff aufs Individuum, zumal die Ausstellung »das erste öffentliche Ritual [konstituiert], das sich explizit an das Individuum richtet« und »in dem bürgerliche Grundwerte und Formen des Verhaltens ausgeprägt und aufgeführt werden konnten«. 20 Mit der Zeit erweiterten sich die Ausstellungsthemen und so waren – v.a. in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – Ausstellungen zu einzelnen Aspekten von Behinderung, einzelnen Personen oder Institutionen zu sehen. Diese Ausstellungen lassen sich den drei Bereichen Körper, Kunst sowie Wahrnehmung und Kommunikation (mit einem Schwerpunkt auf dem Sehen) zuordnen. Zögerlich findet das Disability Mainstreaming mit all den Vor- und Nachteilen einer Normalisierung Eingang in den Ausstellungsbereich. Die Forderung »Disability issues need to be part of our mainstream cultural provision rather than the occasional special conference or exhibition« 21 führt zum eingangs erwähnten Problem, dass Behinderung nicht gezeigt werden kann, ohne sie dadurch auszustellen, d.h. dass es keine inklusive Darstellung von Behinderung gibt.
18 Muttenthaler, Roswitha: Museum | Differenz | Vielfalt. Drosendorf: Schreib- und Denk-Werkstatt Museologie 2007, S. 2. 19 Mitchell, David T.; Snyder, Sharon L.: »Introduction. Disability Studies and the Double Bind of Representation«, in: Dies. (Hg.): The Body and Physical Differences. Discourses of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press 1997, S. 1-31, hier S. 15. 20 Hantelmann, Dorothea von; Meister, Carolin: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals. Zürich/Berlin: diaphanes 2010, S. 7-18, hier S. 10f. 21 Hartley, Eleanor: »Disabled people and museums: the case for partnership and collaboration«, in: Hooper-Greenhill, Eilean (Hg.): Museum, Media, Message. London: Routledge 1995, S. 151-155, hier S. 153.
B EHINDERUNG
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Es kommt immer noch vor, dass das Thema Behinderung in Ausstellungen nicht berücksichtigt wird, da den Kuratorinnen und Kuratoren entsprechendes Wissen fehlt oder/und sie befürchten, Vorurteile und Stereotype zu bedienen, unerwünschtes Verhalten wie Starren oder Ablehnung zu ermöglichen sowie Menschen mit Behinderung auszustellen und sie so einem Voyeurismus preis zu geben: »Many staff cited a fear of making mistakes and offending disabled people, for example, by inappropriately drawing attention to or stigmatising difference or by using language which may be judged by some to be outdated, distasteful or disrespectful.« 22 Beim Nichtzeigen von Behinderung handelt es sich allerdings nur um eine Verschiebung, nicht um eine Lösung des Problems. Ausstellungen »repräsentieren nicht nur das, was zu sehen ist, sondern auch, was dem öffentlichen Diskurs und der Wahrnehmung entzogen werden soll und damit ausgeschlossen wird« 23. Gerade bei Ausstellungen mit ihrer »Organisation des Sehens« gilt es zu beachten, dass die Art und Weise, wie differierende Sehfähigkeiten soziale Unterschiede markieren – und wie umgekehrt auch Unterschiede dadurch markiert werden –, selbst wieder von den unterschiedlichen Erklärungen des Sehmechanismus abhängig sind«. 24 Der Herstellung – u.a. durch das Sehen – von Behinderung haben sich einige Ausstellungen der jüngsten Vergangenheit gewidmet, z.B. »Bilder, die noch fehlten« (Deutsches Hygiene-Museum in Dresden u.a. 2000ff.), »der [im-] perfekte mensch« (ebd., Martin-Gropius-Bau in Berlin 2000-2002), »sinnlos« (Graz 2003, Liverpool 2008), »Das Bildnis eines behinderten Mannes« (Schloss Ambras in Innsbruck 2006-2007) und »Nicht normaal – Differences on Display« (Kleisthaus in Berlin 2011). Die Ausstellung »der [im-]perfekte Mensch« hat beispielsweise anhand verschiedener Blicke auf Behinderung die Konstruktion dieses Phänomens gezeigt – und damit die Monstrosität von den Menschen auf die Beziehung zwischen ihnen verschoben. Diese Ausstellungen weisen somit auf die Möglichkeit hin, Behinderung zu re-präsentieren.
22 Sandell: Museums, S. 160. 23 Muttenthaler: Museum, S. 5. 24 Bennett, Tony: »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Hantelmann, Dorothea von; Meister, Carolin (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals. Zürich/Berlin: diaphanes 2010, S. 47-77, hier S. 68f.
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M ÖGLICHKEITEN
DER
R E -P RÄSENTATION
Nochmals zurück zum gescheiterten ›paradrom‹: Wie hätte sich dieses Projekt umsetzen lassen? Die Kritik hat ja bereits einige Aufschlüsse gegeben. Klar wurde die politische Forderung, dass Menschen mit Behinderung selbst bestimmen, wie Behinderung präsentiert werde. Es handelt sich somit um die Forderung nach Selbstvertretung, also politischer Repräsentation mit dem Ziel der Verschiebung von Definitions- und Interpretationsmacht. Menschen mit Behinderung sollen nicht nur Zugang zu Ausstellungen haben, sondern auch an allen Prozessen der Entscheidungsfindung teilhaben können. Auch wenn – nach einer konstruktivistischen Auffassung von Repräsentation – »Museumsinhalte von VertreterInnen der betroffenen Bevölkerungsgruppen bearbeiten zu lassen, zwar nicht [garantiere], dass die erzählten Geschichten ›authentischer‹, im Sinne von näher an der ›Wahrheit‹ sind, [können] aber dadurch weitere, vielleicht gegenläufige Perspektiven eingeführt werden« 25. Das ›paradrom‹ hätte »vielfältige Möglichkeiten des Sehens und Verstehens« 26 schaffen können durch Präsentationen, »which contain protean and nuanced interpretations of difference, which mitigate, complicate or subvert prevalent stereotypes, which elicit (and frame) visitor responses and which enable (and inform) society’s conversations« 27. Wie sich solche Präsentationen erarbeiten lassen, verrät das 1995 im Rahmen der Ausstellung »La différence« erarbeitete Manifest zur Ausstellungstheorie. 28 Ausstellen heißt demnach zunächst, die Harmonie zu trüben und das Publikum in seinem intellektuellen Wohlbefinden zu stören: Es geht also nicht darum, den Besucherinnen und Besuchern zu vermitteln, was sie eh schon über Behinderung wissen, sondern gerade dieses Wissen soll hinterfragt werden, um so zu zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten des Denkens gibt. Als weiteren Schritt sieht das Manifest vor, Gefühle hervorzurufen und das Verlangen, mehr zu wissen: Das Hinterfragen bestehender Vorstellungen weckt Emotionen, die von Erstaunen, Akzeptanz bis zu Ablehnung und Wut reichen können. Werden bestehende Auffassungen ihrer Selbstverständlichkeit beraubt, so weckt dies die Frage, wie sich Behinderung
25 Muttenthaler: Museum, S. 7. 26 Bennett: Blick, S. 75. 27 Sandell: Museums, S. 139. 28 Vgl. für die folgenden Ausführungen Gonseth, Marc-Oliver: »Ausstellen heisst …: Bemerkungen über die Muséologie de la rupture«, in: Natter, Tobias G.; Fehr, Michael; Habsburg-Lothringen, Bettina (Hg.): Die Praxis der Ausstellung. Über museale Konzepte auf Zeit und Dauer. Bielefeld: transcript 2012, S. 39-56.
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anders denken lässt. Hier besteht die Möglichkeit, verschiedene Denkweisen und die damit verknüpften Vorstellungen zu zeigen. Für diese Präsentation verfügt eine Ausstellung über verschiedene Werkzeuge, kann sie doch nicht nur mit Texten, sondern auch mit Bildern, Objekten und Inszenierungen arbeiten. Diese Dinge seien jedoch nicht um ihrer selbst willen auszustellen, d.h. es sollen keine Geschichten über sie, sondern mit ihnen erzählt werden. Demnach wäre z.B. Franklin D. Roosevelts Rollstuhl nicht als Hilfsmittel eines amerikanischen Präsidenten zu zeigen. Stattdessen könnte der Rollstuhl – da (nicht nur) Roosevelt es vermied, damit abgebildet zu werden – zur Thematisierung von Un-/Sichtbarkeit von Behinderung beitragen. Im Manifest wurde gefordert, eine kritische Distanz einzunehmen, die Humor, Ironie und Spott zulasse, um so Vorurteile, Stereotype und Dummheit zu bekämpfen: Die kritische Distanz bezieht sich dabei nicht nur auf das Thema, sondern auch auf das Ausstellen selbst. Humor, Ironie und Spott dienen nicht dazu, um sich über Behinderung lustig zu machen, gar Menschen zu verspotten, sondern um im Sinn der »muséologie de la rupture« einen Bruch mit Allgemeinplätzen zu erwirken. Auf dieser Basis sei es schließlich möglich, eine Erfahrung gemeinsam intensiv zu leben. Dabei soll es sich nicht um einen kurzfristigen, sensationellen Event handeln, der allenfalls zur Einsicht führt, dass wir ja alle ein bisschen behindert (und damit auch ein bisschen normal) seien. Vielmehr wird eine nachhaltige Erfahrung angestrebt: So wäre es z.B. möglich zu thematisieren, dass Behinderung nicht nur Menschen mit, sondern auch jene ohne Behinderung betrifft. Alle Menschen machen im Laufe ihrer Leben Behinderungserfahrung. Trotzdem besteht die Schwierigkeit, diese Erfahrungen in das eigene Leben zu integrieren. Es scheint leichter zu fallen, Behinderung auf eine Gruppe von Menschen zu beschränken. Betrachtet man Ausstellungen als Orte, wo »kollektive Konstruktionen von Kultur, Identität, Geschichte und Gedächtnis« 29 ausgehandelt werden, so böten sie auch Raum für eine Auseinandersetzung mit der Kontingenz unseres Lebens und unserer eigenen Verletzbarkeit. Wie im Manifest deutlich wurde, geht es bei der Ausstellungsarbeit nie nur um eine Reflexion über ein Thema, sondern immer auch um eine Selbstreflexion. Ausstellungen könnten beispielsweise die eigenen Ängste, Behinderung auszustellen, präsentieren und den Konstruktionscharakter ihres Tuns darlegen. Damit würde sich ein Medium mit seiner eigenen Behinderung beschäftigen.
29 Muttenthaler: Museum, S. 7.
»Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen« (Fini Straubinger) Zum Widerstand der Bilder in LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT B EATE O CHSNER
»Ich sehe vor mir einen Weg, der quer durch ein ungebrochenes Feld führt, und darüber fliegen eilige Wolken.« 1 Es ist die taubblinde Protagonistin Fini Straubinger aus Werner Herzogs Film LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT, 2 die diesen Satz nahezu prophetisch aus dem Off spricht. Die sogleich im bewegten Bild realisierte Vision macht deutlich, dass Sehen nicht zwangsläufig auf physiologische Konstellationen, sondern auf eine Innen- und Hellsicht verweist, die der audiovisuelle Film in seine spezifischen Kommunikationsmittel, d.h. in Töne und Bilder, übersetzt. Beide Medien jedoch, Sprache ebenso wie Bilder, sind gebunden an sinnliche Wahrnehmungsformen, die den Hauptdarstellern des Filmes, Fini Straubinger wie auch der im Film porträtierten taubblinden Community, nicht zur Verfügung stehen. 3 1
LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT. R: Werner Herzog, D: Werner Herzog Film 1970/71, DVD, 85 min., Dokumentarfilm. Auf dieser DVD basieren die Timecode-Angaben bei den Filmstills.
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Bei Dreharbeiten zu BEHINDERTE ZUKUNFT (D: Werner Herzog Film 1970, 63 min., Dokumentarfilm) begegnet Werner Herzog der taubblinden Fini Straubinger, der er die Ausstrahlung »radikaler Menschenwürde« zuschreibt. (Herzog, zit. nach Wetzel, Kraft: »Kino-Gespräch mit Werner Herzog«, in: Kino 7 (Oktober/November 1973), S. 33-48, hier: S. 42).
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Kurz nach der anfänglich geschilderten Bildfolge erzählt Straubinger von einem Skispringen, das sie als Kind besucht habe: »Ich wollte, Sie könnten das auch einmal se-
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Von einigen Kritikern als ergreifendster Film Herzogs bezeichnet, 4 verspüren andere eine gewisse Monstrosität, die – wenn auch – »nicht Fini, wohl aber einigen anderen Taubblinden des Films eignet. Daher der Vorwurf, dieser Film sei inhuman. Ich glaube das nicht, denn im Gegensatz zum Zwergen-Film überwindet Herzog hier seine schiere Faszination. Er läßt sich behutsam auf die Menschen ein und versucht, ihnen das Absonderliche zu nehmen.« 5 Der Verfasser einer im Münchner Merkur nach der ZDF-Ausstrahlung publizierten Kritik klassifiziert den kontrovers diskutierten Film gar als »eine der großen humanen Dokumentationen der Gegenwart«, 6 während Kritiker aus vornehmlich konservativkirchlichen Kreisen dies gänzlich anders einordnen: »Ob die Zwerge in AUCH ZWERGE HABEN KLEIN ANGEFANGEN, Schwachsinnige zum Beispiel in AGUIRRE, Taubblinde in LAND DES SCHWEIGENS – Herzogs Filmographie liest sich wie eine Statistik skrupellos ausgeschlachteter menschlicher Schwächen. […] die Filme selbst sprechen eine andere Sprache: Aus ihnen läßt sich ohne Anstrengung die nur notdürftig versteckte Faszination an körperlichem und geistigem Elend herauslesen.« 7
hen«, so ihr Kommentar und der Film zeigt Aufnahmen von Skispringern. Gemeinsamkeit und Trennung zugleich, denn nur wir sehen diese Bilder. Ob Herzog diese Erinnerung Straubinger angedichtet hat oder nicht, scheint – vor allem im Hinblick auf die im vorliegenden Artikel auszuführende Argumentation – nur in ihrer Reflexion bedeutend. 4
So z.B. von Cronin, Paul: Herzog on Herzog. Chatam: Faber & Faber 2002, S. 70.
5 Land des Schweigens und der Dunkelheit, in: Filmkritik 12 (1971), S. 623. 6
»Land des Schweigens und der Dunkelheit. Werner Herzogs Dokumentarfilm über eine Taubblinde im ZDF«, in: Münchner Merkur vom 12.6.1972. Die französische Rezeption schließt sich weitestgehend an, hervorgehoben wird »das Urmenschliche« (vgl. Carré, Valérie: »Genie oder Faktenfälscher? Die Rezeption in Frankreich«, in: Wahl, Chris (Hg.): Lektionen in Herzog, München: edition text + kritik 2011 S. 83114), für Michel Pérez thematisiert der Film die (un)mögliche Kommunikation (vgl. Michel Pérez : »La lueur au coeur de la nuit«, in: Le Matin vom 25.3.1980) und für Christine de Montvalon stellt er die »Quintessenz von Herzogs Werk bis 1980« dar (vgl. de Montvalon, Christine: »Le pays du silence et de l’obscurité. La vieille dame infirme«, in: Télérama vom 20.3.1980).
7
Schmidt, Eckhart: »Ein Herrscher und seine Opfer. Werner Herzogs Opus: Herz aus Glas«, in: Deutsche Zeitung Christ und Welt vom 3.12.1976. Die Ausbeutungsdiskussion ging mit JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (R: Werner Herzog, D: Werner Herzog Film 1974, 110 min., Spielfilm) in eine neue Runde und »Herzog wurde Zurschaustellung von Abnormitäten, Exhibition des Leidens vorgeworfen, vor allem die
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Der Experimentalfilmer Fritz André Kracht erinnert daran, dass »Herzog […] eines der wunderbarsten Werke über Kommunikation realisiert [habe], die er, Kracht, je gesehen habe.«8 Und auch Filmkritiker Thomas Koebner mag der Ausbeutungsthese nicht zustimmen, da »[d]ie Anerkennung des existenziellen Ernstes, der seine [Herzogs, B.O.] Figuren bestimmt«, ihn daran hindere, »sie als beinahe pathologische Phänomene einzuordnen, als »Sonderlinge«, wie die Vokabel für die vom Durchschnittlichen abweichende Wesensart lautet.« 9 Vergleichbar simple Positionierungen finden sich tatsächlich häufig, wenn Zusammenhänge zwischen Behinderung und Medien bzw. Filmen analysiert wurden. So macht auch der Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e.V. und Mitglied im Deutschen Ethikrat Dr. Peter Radtke in 2003 auf die Unterkomplexität der Darstellungen von Menschen mit Behinderungen aufmerksam. 10 Dass Behinderung nicht als biologisch-essentialistische Eigenschaft, sondern als Produkt diskursiver Praktiken, als »doing disability« 11 zu verstehen
spektakuläre Ausbeutung seines Kaspar-Hausers-Darstellers Bruno S.« (»Gott gegen alle«, in: Der Spiegel vom 12.5.1975, S. 156. Vgl. auch: Schmidt, Eckhart: »Spott über die Kreatur. Werner Herzog gibt Kaspar Hauser dem Gelächter preis«, in: Deutsche Zeitung Christ und Welt, 6.12.1974 oder Fisch, Mascha M.: »Und abends umfaßt den Bruno die Dunkelheit. Das Kellerkind, das in Werner Herzogs JEDER FÜR SICH UND
GOTT GEGEN ALLE den Kaspar Hauser spielt, fühlt sich vom Regisseur und der
Welt betrogen«, in: Deutsche Zeitung Christ und Welt vom 17.1.1975. Im Vergleich mit Truffauts pädagogisch inspiriertem Film WOLFSJUNGE (F 1970) schneidet Herzog zumindest in den Augen der Zeitschrift Filmkritik deutlich schlechter ab: »Bei Herzog gibt es hauptsächlich […] Situationen, die die andersartige Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Denkweise von Kaspar herausstellen. Dabei wird vor allem deren Provokationswert gegenüber dem ›Normalen‹ ausgebeutet […]. Herzog hütet sich jedoch diese Momente auszuführen, er bleibt beim Karikierenden, das Auffällige herausstreichend. Er ist an Absonderlichkeiten als solchen interessiert.« (RG: »JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE.
Der Kaspar Hauser Film von Werner Herzog«, in: Filmkritik
11 (1975, S. 518-519). 8
Pflaum, Hans Günther: »Augenblicke der Wahrheit. Das dokumentarische Schaffen von Werner Herzog«, in: Film-Dienst 13 (2010). [Artikel aus der Zeitschrift FilmDienst sind dem Online-Archiv entnommen und daher nicht paginiert.]
9
Koebner, Thomas: »Im Labyrinth der Wirklichkeit«, in: Film-Dienst 12 (2001).
10 Radtke, Peter: »Zum Bild behinderter Menschen in den Medien«, in: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 2003, S. 7-12, hier: S. 7. 11 Schillmeier, Michael: »Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis«, in: Schneider, Werner; Waldschmidt, Anne (Hg.): Disability Stu-
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ist, 12 ist zwar mittlerweile gängiger Forschungsbefund der Disability Studies. Nun bestehen zwar kaum Zweifel über die soziokulturelle Relevanz medialer Repräsentation von Menschen mit Behinderungen, 13 die meisten Untersuchungen dieser Art aber sind primär kulturhistorischer Provenienz. 14 Dies gilt im We-
dies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: transcript 2007, S. 79-102, hier S. 102. So hebt Schillmeier zu Recht hervor, dass unser Wissen über Behinderung nicht von der sozialen Welt generiert, sondern in der »Politik der Nature(n)/Kulture(n)« (S. 94) als Prozess des »Behindert-Werdens erfahren« bzw. in Zuschreibungspraxen und Intersektionen beschreibbar wird. 12 Vgl. hierzu u.a. Mitchell, David T.; Snyder, Sharon L.: Cultural Locations of Disability. Chicago: University of Chicago Press 2006; Waldschmidt, Anne: »Brauchen die Disability Studies ein »kulturelles Modell« von Behinderung?«, in: Hermes, Gisela; Rohrmann, Eckhard: Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm: AG SPAK 2006, S. 83-96; Waldschmidt; Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, a.a.O.; Schillmeier, Michael: Rethinking disability. Bodies, senses and things. New York u.a.: Routledge 2010, Tremain, Shirley: Foucault and the government of disability. Ann Arbor, Michigan: University of Michigan Press 2010; Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. 13 Vgl. u.a. Waldschmidt, Anne: »Macht - Wissen - Körper: Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies«, in: Schneider; Waldschmidt (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, S. 55-77 hier: S. 64. Ebenso: Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript 2009. Unter Verweis auf das Konzept der embodied difference schlägt Bösl vor, Körper und Behinderung nicht strikt voneinander zu trennen, da Konstruktionen von Behinderung in besonderem Maße auf wissenschaftlichen wie auch populären Visualisierungsprozessen beruhen (vgl. auch Ochsner, Beate: »Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild«, in: Wenz, Karin; Hess-Lüttich, Ernest (Hg.): Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub)kulturelle Identität. Tübingen: Narr 2010, S. 93-109). 14 Vgl. u.a. Bogdan, Robert: »The social construction of freaks«, in: Garland-Thomson, Rosemarie (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York; London, S. 23-37; Fiedler, Leslie: Tyranny of the normal. Essays on bioethics, theology & myths. Boston 1996; Osten, Philip: »Emotion, Medizin und Volksbelehrung. Die Entstehung des ›deutschen Kulturfilms‹, in: Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences (66) 2009, S. 67-102; Schönwiese, Volker: »Das gesellschaftliche Bild behinderter Menschen«, in: Behinderte in Familie, Schule und
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sentlichen auch für die aufschlussreichen Arbeiten zu populärwissenschaftlichen kultur- (1918-1945) oder sozialhygienischen, sexualerzieherischen und eugenischen Aufklärungsfilmen. 15 Die zahlreichen Untersuchungen zur Darstellung von Behinderung im Spielfilm vernachlässigen leider allzu häufig die medienund filmwissenschaftliche Analyse, was die Filme zuweilen auf reine kulturoder kommunikationswissenschaftliche Belegstellen reduziert. 16 Analysen, die Anschlüsse zu den Visual Studies, zur Kultursoziologie oder Philosophie des Blickes, zur Produktion von Sicht- und Unsichtbarkeit ermöglichen, sind im ang-
Gesellschaft 5, 2005, S. 32-41; Thiele, Matthias: »Boulevard und Magazin der Normalen und Anormalitäten«, in: Bartz, Christina; Krause, Marcus (Hg.): Spektakel der Normalisierung. München: Fink, S. 103-121. 15 Vgl. u.a. Weiser, Martin: Medizinische Kinematographie. Dresden 1919; Schweisheimer, Waldemar: Die Bedeutung des Films für soziale Hygiene und Medizin. München 1920; Schmidt, Ulf: »Sozialhygienische Filme und Propaganda in der Weimarer Republik«, in: Jasbinski, Dietmar (Hg.): Gesundheitskommunikation. Wiesbaden 2000, S. 53-82; Döge, Ulrich: Kulturfilm als Aufgabe. Hans Cürlis (1889-1982). Potsdam 2005; Laukötter, Anja; Bonah, Christian (Hg.): »Moving pictures and medicine in the first half of the 20th century. Some notes on international historical developments and the potential of medical film research«, in: Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences 66 (1) 2009, S. 121-146, Reichert, Ramón (Hg.), Kulturfilm im ›Dritten Reich‹. Wien: Synema 2006; Osten, Philip: »Emotion, Medizin und Volksbelehrung. Die Entstehung des ›deutschen Kulturfilms‹«, in: Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences 66 (1) 2009, S. 67-102. 16 Vgl. u.a. Bartmann, Silke: Der behinderte Mensch im Spielfilm. Eine kritische Auseinandersetzung mit Mustern, Legitimationen, Auswirkungen von und dem Umgang mit Darstellungsweisen von behinderten Menschen in Spielfilmen. Münster: Universität Münster 2001; Heiner, Stefan; Gruber, Enzo (Hg.): Bildstörungen. Kranke und Behinderte im Spielfilm. Frankfurt a.M.: Mabuse 2003; Bosse, Ingo: Behinderung im Fernsehen. Gleichberechtigte Teilhabe als Leitziel der Berichterstattung, Wiesbaden: Deutscher Univ.-Verlag 2006; Ney, Julia: Die keine Rolle spielen: Menschen mit Behinderungen im Film. Eine Untersuchung über die Funktion behinderter Darsteller und die ›dargestellter‹ Behinderter in den Unterhaltungsmedien. Elsendorf: EWK Verlag 2007; Brunn, Esther-Skadi: Darstellung von Menschen mit Behinderungen in den Medien. Ein medialer Querschnitt - Sensationslust, Stigmatisierung, Aufklärung, Gefälligkeitsübersetzung. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008; Hättich, Achim: »Was Harry Potter für die Heilpädagogik bedeutet. Filmische Repräsentationen heldenhafter und leitender Personen mit Behinderung«, in: Heilpädagogik (2) 2008, S. 21-26.
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loamerikanischen Kontext häufiger anzutreffen, 17 während sich die produktive Verschränkung der Disability Studies mit medien- oder filmwissenschaftlichen Forschungen zur Herstellung von Behinderung als Wissensgegenstand in ihren wechselseitigen Relationen zur audiovisuellen Kultur im deutschsprachigen Forschungsraum noch als relativ unbearbeitetes Feld erweist. 18 So zielen die folgenden Überlegungen weder auf eine allgemeine Bilderpolitik noch auf eine spezifische Ästhetik oder ein besonderes Narrativ von Behinderung, vielmehr soll der von Carolin Länger konstatierte ›Erklärungsbedarf‹ des Phänomens Behinderung im Rahmen des »Set[s] medialer Praktiken« beschrieben werden, die – bezogen auf unser Beispiel – hörend-sehend von gehörlos-blind unterscheiden. 19 Wie Herzog in einem Interview zu LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT berichtet, sei ihm während der Dreharbeiten bzw. der Filmsichtung aufgefallen, dass das »ein Film über das Sehen ist. Die ganze Zeit, während man in dem Film
17 Eine
ausführliche
Bibliographie
findet
sich
unter:
http://media-disability-
bibliography.blogspot.com/, letzter Zugriff am 3.02.2012. 18 Ausnahmen im deutschen Kontext bilden u.a. Keck, Annette; Pethes, Nicolas: Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld: transcript 2001; Renggli, Cornelia: »Die Unterscheidungen des Bildes zum Ereignis machen. Zur Bildanalyse mit Werkzeugen von Luhmann und Foucault«, in: Maasen, Sabine; Mayerhauser, Thorsten/dies. (Hg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 181-198; dies.: »Selbstverständlichkeiten zum Ereignis machen. Eine Analyse von Sicht- und Sagbarkeitsverhältnissen nach Foucault«, in: Forum Qualitative Sozialforschung 8 (2, Art. 23) 2007, online verfügbar unter: www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-07/07-2-23-d.htm,
letzter
Zugriff
am
1.02.2012; Bergermann, Ulrike: »MONSTRARE. Zum Ausstellen von Dis/Ability«, in: Loreck, Hanne; Meyer, Katrin (Hg.): Visuelle Lektüren – Lektüren des Visuellen. Hamburg: textem 2009, S. 177-192; Ochsner, Beate: »Die alte und die neue Venus«, in: Assmann, Jan und Aleida (Hg.): Vollkommenheit. Archäologie der Literarischen Kommunikation. München: Fink 2010, S. 7-9, dies.: »Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild«, dies.: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film. München: Synchron Verlag 2010. In diese Schnittstelle zwischen Disability Studies und Medienwissenschaften schreibt sich das Projekt »Zur soziomedialen Produktion von Mindersinnigkeit« der Universität Konstanz ein, an dem die Verfasserin dieses Beitrages, Robert Stock, Anna Grebe und Larissa Bellina arbeiten. 19 In ihrer Studie spricht Carolin Länger vom »erklärungsbedürftige[n] Phänomen […]« Behinderung: Länger: Im Spiegel von Blindheit. Zur Kultursoziologie des Sehsinns. Stuttgart: Lucius 2002, S. 5 und 6.
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sitzt, fragt man sich, was wäre, wenn ich das jetzt wäre – man sieht plötzlich ganz neu. Wir merken, dass wir nur ganz unvollständige Erfahrungen über eine Türklinke haben, oder über eine Autofahrt, einen Händedruck.« 20 Das (Nicht-) Sehen von Behinderung kann demzufolge als spezifische Perspektive auf Behinderung verstanden werden, als Denkstil oder -regime, der auf der Bereitschaft für »solches und nicht anderes Sehen« 21 basiert. Denkstil und Sehen von Behinderung sind dabei in wechselseitiger Bedingtheit aufeinander zu beziehen. Die im Folgenden zu beschreibenden Filmbilder sind demnach als Operationen zu begreifen, die situativ und auf eine bestimmte Art und Weise (Nicht-) Sichtbares mit Bedeutung verbinden oder davon trennen, und denen ebenso eine Macht über den Blick und damit Autorität über Wahrnehmung und Wahrheit zugeschrieben wird, wie sie sich dem Auge aussetzen und den kulturellen Regimen seiner Optik unterwerfen. Wesentlich häufiger jedoch konzentrieren sich die Untersuchungen – wie in den zitierten Artikeln aus Deutsche Zeitschrift Christ und Welt ersichtlich – auf die Darstellung von Menschen mit Behinderungen als handlungsunfähige und passive Opfer, die sich den Zwängen der Medien unterwerfen, ohne die notwendigen Selbsttechniken erlernt zu haben und die Erwartungen erfüllen zu können. 22 Diese Ansätze operieren mit einem dichotom strukturierten Machtmodell von Täter und Opfer bzw. Handelndem und Behandeltem und markieren gleichzeitig eine Gruppe von Teilnehmern als – im Rahmen erwartbarer oder ›normaler‹ Reaktionen – weitestgehend handlungsunfähig. 23 Die auf Basis ihrer Handlungsinitiativen zu beschreibenden Asymmetrien, innerhalb derer »macro-actors capable of strategies, of instrumentalization« von anderen
20 Werner Herzog, zit. nach Pflaum, Hans Günther: LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT, in: Film-Dienst 13 (2010). 21 Fleck, Ludwig: Denkstile und Tatsachen: Gesammelte Schriften und Zeugnisse [1935]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 85. Vgl. auch Walgenbach, Katharina: »Intersektionalität – eine Einführung«, online verfügbar unter: www.portalintersektionalität.de, letzter Zugriff am 15.07.2012. 22 Diese Deutungsweise, wie sie sich z.B. in Ulrike Bergermanns Analyse von Christoph Schlingensiefs FREAKSTAR 3000 (R: Christoph Schlingensief, D: Filmgalerie 451, 2004, 75 min.) findet (vgl. Bergermann: »MONSTRARE. Zum Ausstellen von Dis/Ability«). 23 Vgl. Chivers, Sally; Marcotic, Nicole (Hg.): The problem body. Projecting disability on film. Columbus: Ohio State University Press 2010, S. 1: »[D]isability is highly and continuously present on -screen. However, it is not always agential. Often, disabled bodies appear in order to shore up a sense of normalcy and strength in a presumed-tobe able-bodied audience.«
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Mikro-Akteuren »to points, sometimes to bodies, condemned to repetition, to automatic behaviours« reduziert werden, machen aus disability ein strategisch relevantes Forschungsfeld: »This is why the theme of handicaps and disabilities is becoming strategic […]. It provides an analytical frame-work to account for relations of domination-exclusion between agencies, and to interpret behaviours of resistance or recalcitrance.« 24 Die folgenden Beschreibungen exemplarischer Szenen und Bilder aus LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT gehen davon aus, dass Behinderung bzw. eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen (in diesem Falle die taubblinden Menschen) erst in situativen Interaktionen des filmischen Mediums mit anderen Diskursen hergestellt werden. 25 Der Vorstellung einer endgültigen Fixierung eines bestimmten Menschen- oder Gruppenbildes entgegenwirkend spricht Ian Hacking vom sog. »looping effect«, 26 der den reziproken Relationen und mithin der ständigen Veränderung Rechnung trägt: »They are moving targets because our investigations interact with them, and change them. And since they are changed, they are not quite the same kind of people as before. The target has moved. I call this the ›looping effect‹. Sometimes, our sciences create kinds of people that in a certain sense did not exist before. I call this ›making up people‹.« (Ebd.)
24 Callon, Michel: »Why Virtualism Paves the Way to Political Impotence. Callon Replies to Miller«, in: Economic Sociology. European Electronic Newsletter 6, 2 (Februar 2005), S. 3-21, hier: S. 4-5. 25 Vgl. hierzu auch Ian Hackings Aufsatz zum »Making Up People«, der unter dem gleichen Titel erschien (in: London Review of Books vom 17. August 2006, S. 23-26, hier S. 23). Vgl. auch Waldschmidt, Anne: »›Behinderung‹ neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies«, in: Dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel: bifos 2003, S. 11-22, hier: S. 12. Die Form(at)ierung Nicht-Sehender als Blinde durch Stigmatisierung wurde auch von Erving Goffman aufgezeigt. (vgl. Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974) Robert A. Scott z.B. untersucht wie blinde Menschen durch Wohltätigkeitsorganisationen und deren Praktiken ›gemacht‹ werden (vgl. Scott: The Making of Blind Men. A Study of Adult Socialization. New York: Russell Sage Foundation 1969). Goffman wie auch Scott aber operieren mit stark schematisierten Modellen, die eine bestimmte Zurichtung der Menschen mit Behinderung voraussetzen, ohne deren eigensinniges Reaktionspotenzial zu berücksichtigen. 26 Hacking: »Making up People«, S. 23.
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Besonderes Augenmerk gilt im Folgenden denjenigen medialen Bedingungen und Perspektiven, die mögliche Handlungspotenziale und -räume der Subjekte konfigurieren und deren Einstellung (bei Herzog z.B. der kalkulierte Wechsel zwischen emotionalisierenden Nah- bzw. Detailaufnahmen und Distanz gewährenden Halbtotalen oder Totalen) gegenüber Techniken der Selbst- und Fremdführung untersucht werden. Der in diesem Rahmen eine wesentliche Rolle einnehmende Körper ist nicht »aprioristisch vorauszusetzen, er ist aber auch nicht bloß als Resultat von Diskursen und Praktiken zu verorten, er steckt vielmehr in den Praktiken.« 27 Ähnlich wie bei technischen Objekten, kann in diesem Kontext von kulturellen und medialen Skripten ausgegangen werden,28 die spezifische Anordnungen von Sag- und Sichtbarem hervorbringen, in denen Praktiken des (Nicht-)Sehens und (Nicht-)Hörens bzw. des (Nicht-)Gesehen- und (Nicht-) Gehörtwerdens deskriptierbar werden.
D IE FILMISCHE W AHRHEIT W ERNER H ERZOGS »Augenblicke der Wahrheit«, so überschreibt Hans Günther Pflaum seinen neuesten Artikel über das dokumentarische Schaffen von Werner Herzog. 29 Dessen Praktiken zur Herstellung einer filmspezifischen »ekstatischen Wahrheit« 30 stehen in direktem Gegensatz zu den Techniken der dokumentarischen Tradition des direct cinema, wie sie u.a. in Frederick Wisemans 1986-87 publizierten Filmen DEAF, BLIND und DEAFBLIND angewendet werden. 31 Hier, so Herzog, wer-
27 Hirschauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Hörning, Karl; Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Bielefeld: transcript 2004, S. 73-91, hier: S. 75. 28 »Also definieren technische Objekte wie ein Filmskript den Rahmen einer Handlung zusammen mit den Akteuren den Raum, in dem sie agieren sollen.« (Madeleine Akrich: »Die De-Skription technischer Objekte«, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, S. 407-428, hier: S. 411). 29 Pflaum: »Augenblicke der Wahrheit«, 2010. 30 Herzog, Werner: »On the absolute, the sublime and the ecstatic truth«, online unter: http://www.bu.edu/arion/on-the-absolute-the-sublime-and-ecstatic-truth/, letzter Zugriff am 3.07.2012. 31 DEAF. R: Frederick Wiseman, USA: Zipporah Films 1986, DVD, 164 min., Dokumentarfilm; MULTIHANDICAPPED, R: Frederick Wiseman, USA: Zipporah Films
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den Fakten mit der poetisch-ekstatischen Wahrheit des Filmes verwechselt, die vornehmlich durch Fabrikation, Imagination und Stilisierung erzielt werden könne: »Of course, we can’t disregard the factual; it has normative power. But it can never give us the kind of illumination, the ecstatic flash, from which Truth emerges.« (Ebd.) Filme wie Herzogs LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT – so unsere These – unterlaufen die normbildenden Differenzmechanismen zwischen Dokumentar- und Spielfilm, indem sie sie medial reflektieren. Damit rekurriert der Filmemacher auf die filmhistorisch oft zitierte Unterscheidung zwischen einem Realismus, der vorgängige Fakten oder Wahrheiten nur reproduziert, und einer filmischen Ästhetik, die jene im Prozess der Inszenierung erst produziert: »Ich gehe gerne ruhig bis an den Rand der Unwahrheit, um eine intensivere Form der Wahrheit bloßzulegen. Zum Beispiel habe ich die taube und blinde Fini Straubinger in LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT von einem Skispringer erzählen lassen, den sie angeblich als kleines Mädchen, als sie noch sehen und hören konnte, erlebt habe. Das hat sie nie erlebt. Ich habe sie gebeten, diesen Text zu sprechen. Trotzdem, in dem Film klingt es so, als wäre es tatsächlich ein Erlebnis von ihr. Aber dadurch, dass sie das sagt, kommt auf einmal etwas über sie heraus, das sonst nie als Wahrheit so klar aufdeckbar gewesen wäre.« 32
Was wir am nicht-behinderten/behinderten Körper wahrnehmen, was durch das Handeln als Wahrheit des Körpers wirklich, d.h. handlungswirksam werden lassen, gründet in diskursiv-medialen Prozessen der Herstellung und Formierung von Körperlichkeit. So wird Behinderung filmisch als Differenzeffekt erzeugt, 33
1986, 126 min., Dokumentarfilm und BLIND, R: Frederick Wiseman, USA: Zipporah Films 1987, 132 min.. Zu dieser Reihe gehört ein weiterer Film, ADJUSTMENT & WORK, R: Frederick Wiseman, USA: Zipporah Films 1986, 120 min., Dokumentarfilm. LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT. R: Werner Herzog, D: Werner Herzog Film 1970/71, DVD, 85 min., Dokumentarfilm. 32 Werner Herzog, zit. nach Pflaum, Hans Günther: »Augenblicke der Wahrheit. Das dokumentarische Schaffen von Werner Herzog«, in: Film-Dienst 13 (2010). 33 Vgl. Heike Raab, die Behinderung als »soziokulturelles Differenzierungsverfahren« begreift, das der Hinterfragung und Dekonstruktion dualer und hierarchischer Gegensätze dient. (Vgl. Raab, Heike: »Intersektionalität in den Disability Studies: Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender«, in: Schneider; Waldschmidt (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, S. 127-151, hier: S. 145).
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der die Pole Nichtbehindert-Sein/Behindert-Sein, Normalität/Anormalität, Gesundheit/Krankheit, Subjekt/Objekt performativ hervor- und gleichzeitig die Kontingenz dieser Dichotomien zum Verschwinden bringt. Doch, wie bereits gesagt, sollen hier nicht die häufig analysierten Narrative untersucht werden, vielmehr ist die filmische Eigenlogik in Form spezifischer Raumkonstruktionen, Kadrierung, Montage, mise en scène, Bildkomposition, Bild-Ton-Verhältnis, Dramaturgie und Figurenkonstellation etc., die situativ für die (De-)Konstruktion verantwortlich zeichnet. 34 Dabei steht der Anspruch auf Objektivität der zu verbreitenden diskursiven Aussagen in direkter Relation zu der Inanspruchnahme wahrheitsgetreuer Repräsentation durch das filmische Medium, was sich jedoch gleichermaßen auf die bloße Reproduktion vorgängiger Inhalte wie auch auf das Sich-Wahrnehmbarmachen und damit die Wahrheit des Filmischen selbst beziehen lässt. In seinem Film über Fini Straubinger inszeniert Herzog die Prekarität der Dichotomisierung von Behinderung und Nicht-Behinderung über eine im Wesentlichen räumlich produzierte zweifache Differenzierung zwischen den Zuschauern und der taubblinden Community einerseits, sowie zwischen der taubblinden Protagonistin Fini Straubinger und den im Film portraitierten weiteren Taubblinden andererseits. 35 Diese Schachtelung lässt vermeintlich sichere Positionen von aktiv Sehenden und Hörenden als Handelnde sowie passiven Taubblinden als Be-handelte ebenso ins Wanken geraten wie einseitige Narrative, die Fini Straubinger zum Beispiel für die Überwindung von Behinderung und die erfolgreiche Integration in die Leistungsgesellschaft erklären. 36 Dienen filmische Kad-
34 Christoph Menke hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Gegensatz von ästhetisch-existentiellen und disziplinären Übungen nicht im Bereich ihrer Inhalte oder Narrationen, sondern in der Haltung liege, mit der sie ausgeführt würden bzw. darin, in welcher Weise Prozesse des Behindert-Werdens in ihrem Vollzug audiovisuell übersetzt und erfahrbar gemacht werden. (Menke: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Honneth, Axel (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 283-299, hier: S. 299). 35 Diese räumliche Gruppenbildungen unterstützen die Hacking’sche These vom »making-up people« (Hacking: »Making-up people«). 36 Diese Lesart ist im Rahmen des sog. Rehabilitationsnarrativs als »Elite-Krüppel« (Deffner, George: »Erfahrungen eines Redakteurs. Presse-Berichterstattung über Behinderte«, in: Kagelmann, Hans Jürgen; Zimmermann, Rosemarie (Hg.): Massenmedien und Behinderte – im besten Falle Mitleid? Weinheim: Beltz 1982, S. 47–53, hier: S. 50) bekannt. Die angloamerikanische Forschung spricht an dieser Stelle gerne vom
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rierungsstrategien im allgemeinen der Be- und gleichzeitigen Entgrenzung von Denk- und Sichtbarem, so können sie natürlich auch in Bezug auf soziale Ordnungssysteme eingesetzt werden und als solche gesellschaftliche Hierarchien sichtbar machen oder Komplizenschaften wie auch oppositionelle Verhältnisse zwischen im Bild vorhandenen Personen und/oder dem Betrachter schaffen. Im Unterschied zu zahlreichen anderen Filmen aber wird in LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT weder der Art noch das Lehr- oder Pflegepersonal als bevorzugt handlungsfähig inszeniert, vielmehr ist es die taubblinde Fini Straubinger, der die Kamera beim Durchschreiten und damit Sichtbarmachen der Bildräume folgt. Die spatiale Kredibilisierung von Subjekten und Diskurse weist die taubblinde Protagonisten als Person mit Recht auf Handlung und auf Partizipation an Situationen aus, in denen Wissen (hier: über Taubblindheit) hergestellt wird. Die Zuschreibung oder Verweigerung räumlich bedingter Handlungsfähigkeit auf diegetischer wie auch auf Ebene der außerfilmischen Kommunikation ermöglicht auch die Herstellung sog. truth spots, 37 wobei das vorliegende Filmbeispiel gerade nicht auf Arztzimmer, Behandlungs- oder Therapieräume rekurriert, sondern Raum für Imaginationen oder ›natürlichen‹ Begegnungen schafft, wie der visualisierte Weg zu Beginn des Films, bei einem Rundflug mit einer Sportmaschine, anlässlich eines Zoobesuchs oder im Botanischen Garten in München. Gleichzeitig – und dies muss angemerkt werden – führt die Eröffnung neuer Räume, die Ermöglichung anderer Blicke auch dazu, dass diese ein- und damit andere gleichzeitig ausgegrenzt werden.
Archetypen der Disability Studies, dem sog. »supercrip« (Darke, Paul: »Eye Witness«, in: Pointon, Ann; Davies, Chris; Masefield, Paddy (Hg.): Framed: Interrogating Disability in the Media. London: British Film Institute 1997, S. 36-42, hier: S. 37; Kama, Amit: »Supercrips versus the Pitiful Handicapped: Reception of Disabling Images by Disabled Audience Members«, in: Communications: The European Journal of Communication Research 29 (4), 2004, S. 447-466; Meeuf, Russell: »John Wayne as ›Supercrip‹: Disabled Bodies and the Construction of ›Hard‹ Masculinity in The Wings of Eagles«, in: Cinema Journal 48 (2), 2009, S. 88-113), der vor allem in den letzten Jahren auf ein zunehmendes Interesse sowohl in neueren Dokumentarfilmproduktionen wie auch den zahlreichen Talentshows vornehmlich privater Rundfunksender stößt. 37 Thomas Gieryn verweist auf die Latour’sche Beschreibung von Laboratorien als »truth spots«, die bestimmte Relationen zwischen Wahrheit- und Wissenskonstitution und bestimmten, medial zugerichteten Räumen ermöglichen. (Vgl. Gieryn: »A Space for Place in Sociology«, in: Annual Revue Sociology 26 (2000), S. 463-496.)
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In einem Heim für taubblinde Kinder nehmen wir teil an einem Gespräche Fini Straubingers mit einem Lehrer und dessen beiden taubblinden Schülern. Die halbnahe Einstellung entspricht der ›normalen‹ Sehsituation und wird häufig in dokumentarischen Dialog- oder Interviewszenen verwendet. Die fast gänzliche Abwesenheit der Assistentin im Bild verstärkt die Präsenz Straubingers, die nur kurz am Rande auftauchenden, für die Kommunikation allerdings unerlässlichen Hände werden zumeist ausgeblendet, um ›Normalität‹ zu schaffen, und Straubinger zugleich von den beiden durch die Erwachsenen eingerahmten Jungen zu differenzieren. Dazu trägt auch der zielgenau auf den dozierenden Erzieher gerichtete Blick Straubingers, während die weder sprachlich noch visuell dem Szenarium einzuordnenden, unwillkürlich erscheinenden Kopfbewegungen die Jungen in ihrer Andersartigkeit markieren, die vom Erzieher ebenso erläutert wird wie die zu ergreifenden therapeutischen Maßnahmen und die bereits gezeitigten Erfolge. Im Unterschied zu anderen Filmen über Kinder oder auch Erwachsene mit Behinderungen stellt Herzog die Kommunikation aber nicht über den Erzieher, das Pflegepersonal, einen Arzt oder auch Eltern her, sondern über Fini Straubinger her, deren eigene Taubblindheit im Vergleich zu den beiden Jungen visuell wie auch akustisch abgestuft wird und so in den Hintergrund tritt. Im Gegensatz zu den Jungen verhindert das filmische Dispositiv wie auch die im Interview demonstrierte Sprachfähigkeit Straubingers ihre Objektivierung, betont jedoch zugleich eine erneute, wenngleich positiv besetzte Sonderstellung. Gleichzeitig kann Herzog mit Hilfe dieser mise-en-abyme den von Foucault beschriebenen klinischen Blick reflektieren, dessen Realität die dezentrale Perspektive der »disabled person’s view« als (nur) abgeleitetes Phänomen erscheinen lässt. 38 Eine spätere filmische Sequenz zeigt Straubingers Besuch in einer Nervenheilanstalt. Zusammen mit ihrer Assistentin betritt sie den Raum, in dem die Kamera sie bereits erwartet hat und sie zum Tisch von Elisabeth Fehrer begleitet. Die Schwestern sind ebenso strategisch stehend und zum Eingreifen bereit im Raum platziert wie die weitestgehend bewegungslos an den Tischen verharrenden stummen Heimbewohnerinnen. Rasch übernimmt Straubinger die Initiative und beginnt ein Gespräch mit Fehrer. Ihre Stimme ist dabei deutlich durchdringender als diejenige ihrer (häufig unsichtbar gemachten) Assistentin, die ihre Lormen z.B. bei der Beschreibung der Haltung Fehrers lautlich ergänzt. Eine leicht parasitäre Irritation ist dann zu konstatieren, wenn Straubinger die Anam-
38 Fuchs, Petra: »›Sei doch dich selbst‹ – Krankenakten als historische Quellen von Subjektivität im Kontext der Disability History, in: Bösl, Elsbeth: Disability history. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2010, S. 105-126, hier: S. 120.
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nese Else Fehrers im Ungewissen um die Position der Kamera mit dem Rücken zu ihr bzw. zum Zuschauer spricht, während die Kamera sie und ihre Assistentin auf der Suche nach einer Möglichkeit, einen Blick auf Else Fehrer zu erhaschen, umfährt. Auffallend ist auch der Umstand, dass der Off-Sprecher bereits vorher von der Leidensgeschichte der jungen Frau berichtet hat. Immer wieder dazwischen geschnittene Bilder der wie erstarrt wirkenden Heimbewohnerinnen, die die Situation ebenso wie wir, die Zuschauer, beobachten, verstärkt die Unsicherheit hinsichtlich einer verlässlichen Interpretation und bestätigt die Unbestimmtheit der Szene, die in der Sichtbarmachung von Wechselwirkungen zwischen Diskursen, Kamera, Raumschaffung und Handlungsfähigkeiten zugleich zum eigentlichen Thema gerät.
Abb. 1-12 Quelle: Filmstills aus LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT, TC 0:27:470:28:51.
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Ein harter Schnitt führt uns in den Schlafsaal der Einrichtung. Diesem Ausschnitt wird im Unterschied zu der zuvor besprochenen Sequenz kein OffKommentar unterlegt, sie scheint für sich selbst zu ›sprechen‹. Während Fini Straubinger am rechten unteren Bildrand nur im Anschnitt gezeigt wird, ergreift die Kamera die Initiative und nimmt eine jüngere, auf einem Bett sitzende Frau in einer distanzierten Halbtotalen ins Visier. Wenn sie die Hände faltet und den Blick kurz zum Himmel erhebt, kann man kaum umhin, an einen Verweis auf die Wechselwirkungen von Ikonografie und Hysteriegeschichte zu denken, wie Georges Didi-Huberman sie am Beispiel der fotografischen Sammlung der Salpêtrière uns seines Lieblingsmodells Augustine aufgezeigt hat. 39 Das Fehlen von Kommentar wie von Begleitmusik lässt die Szene merkwürdig autonom erscheinen. Die auch im auszoomenden Überblick zu erkennende, disziplinierende Inszenierung der auf ihren Betten sitzenden Frauen geht ihrer filmischen Insbildsetzung voraus und bezieht sich zugleich auf sie. 40 Gleichzeitig kehrt der direkte Blickkontakt mit zwei Patientinnen die ›normalen‹ sozialen Rollen von Starrendem und Angestarrtem wenn auch nicht ins Gegenteil, so verweist er doch zum einen auf die in der vorangegangenen Szene kurz eingefangenen Blicke der Heimbewohnerinnen und damit auf die filmische Konstruiertheit derartiger Blickkonstellationen, und zum anderen auf die von Rosemarie Garland-Thomson beschriebene Strategie des »staring back«. 41 Der direkt in die Kamera bzw. auf den Zuschauer gerichtete Blick kehrt die soziale Relation insofern um, als das »stare-and-tell« (ebd.) Ritual, d.h. die Dynamik des Starrens, zwar nicht durch die Patientin selbst, wohl aber durch die besondere Kameraeinstellung hervorgebracht wird und sich mithin als medial erzeugtes Narrativ zu erkennen gibt. Insofern kann der Überlegung Garland-Thomsons –»This relational model suggests that disability is not simply a natural state of bodily inferiority and inadequacy. Rather, disability is a culturally fabricated narrative of the body, similar to what we understand as the fictions of race and gender.« (ebd.) – nur zugestimmt werden, wenn dieses Narrativ als Ergebnis einer medialen Konstellation betrachtet wird, die die Handlungsinitiative der Bewohnerinnen ermöglicht, Prozesse des
39 Didi-Huberman, George: L’invention de l’hystérie: Charcot et l’iconographie photographique de la Salpêtrière. Paris: Macula 1982, vgl. dazu Ochsner: DeMONSTRAtion, Kap. 3.4. 40 Im letzten Bild dieser Sequenz ist am rechten Rand eine Krankenschwester zu erkennen, die die Patientinnen im Blick hat. 41 Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: »Staring Back: Self-Representations of Disabled Performance Artists. How We Look«, in: American Quarterly 52 (2), 2000, S. 334338, hier: S. 335.
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otherings und Zuschreibungen (u.U. auch sich selbst) sichtbar macht und auf diese Weise – so erneut Garland-Thomson – neue Reflexions- und Selbstreflexionsräume öffnet.
Abb. 13-18 Quelle: Filmstills aus LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT, TC 0:32:030:33:10.
Als letzte Sequenz aus dem gleichen Film soll der Besuch Straubingers bei Heinrich Fleischmann in einem Altersheim in Nördlingen beschrieben werden. Am Eingang des Wohnhauses angekommen, übernimmt Straubinger sogleich die Initiative und streckt dem leicht abseits stehenden Heinrich Fleischmann die Hand hin, um durch die Berührung die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Er aber scheint abzuwehren (eine einmalige Situation im Film!), und seine Mutter versucht – und dies offensichtlich nicht zum ersten Mal – über seinen Kopf hinweg die Situation zu klären. Kurz vor der allgemeinen Verabschiedung – die Damen sitzen noch auf einer roten Parkbank – steht Heinrich Fleischmann unvermittelt auf und läuft davon. Die – willentlich oder unwillentlich – ›uninszeniert‹ wirkende Unentschlossenheit der Kamera erhöht die Authentizität der Szene. Während sie zunächst auf den sich von der Bank erhebenden Damen bleibt, schwenkt sie in der Folge kurz in Fleischmanns Richtung, kehrt jedoch wieder zu den Damen zurück. Dann nimmt sie erneut Fleischmann ins Visier, dessen Davonlaufen sie in einer den bislang sehr engen und auf Berührung ausgerichteten Raum entgrenzenden Totale einfängt. Während das Gespräch der Damen zunächst als OffTon weiterhin hörbar bleibt, schwächt es sich gleichzeitig mit dem dramatischen Einsatz der Off-Musik (Johann Sebastian Bach) ab, und die Kamera rückt den einen Baum umarmenden und befühlenden Heinrich Fleischmann ins Zentrum
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des Bildes. 42 Noch einmal schwenkt die Kamera auf die miteinander sprechenden Damen, kehrt aber sogleich zurück, um auf Heinrich Fleischmann zu zoomen und endgültig seinen Bewegungen zu folgen. Das Gespräch der Damen ist jetzt fast nicht mehr zu hören, es bleibt die Musik aus dem Off. Nach einer gewissen Zeit – dies ist in den untenstehenden Stills nicht mehr zu sehen – tauchen die Frauen am hinteren Bildrand wieder auf, die Mutter fängt den kurzfristig ›ausgestiegenen‹ Heinrich wieder ein, und die zeitweise aufgehobene Verabschiedung kann stattfinden.
Abb. 19-30 Quelle: Filmstills aus LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT, TC 1:14:47:470:19:20.
42 In seinem Buch Das Bewegungs-Bild. Kino 1 spricht Deleuze bezugnehmend auf diese Filmsequenz irrtümlich von einem taubblinden Kind, das einen Baum berührt. Hier öffne sich „eine Lücke“, die „in weiträumige halluzinatorische Visionen ein[führe]“, in der das Kleine und das Große zusammenfielen. (Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 251.
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ABSCHLIESSENDE Ü BERLEGUNGEN Wenn Garland-Thomson immer wieder neue und selbstermöglichende Arten von Repräsentation einfordert, die den Blick stören und das Bewusstsein sensibilisieren könnten, 43 so macht Gerbig auf die Probleme dieser Praktiken aufmerksam: »Allerdings gilt es hier die Gefahr der Vereinnahmung und Überführung von subversiven Strategien in die Marktförmigkeit oder in Normalisierungsdiskurse im Blick zu behalten.« 44 In vergleichbarer Weise warnt auch Heike Raab vor den Schwierigkeiten, die sich bei Versuchen medialer Ent-Normalisierung von Körpern dann ergeben, wenn z.B. hegemoniale Repräsentationsordnungen aufs Spiel gesetzt werden: »Wie alle Versuche entnormalisierender Körper-Einschreibungen durch Sichtbarkeit und Öffentlichkeit, bergen […] sie [subkulturelle Körperpolitiken, B.O.] die Gefahr einer neuerlichen Festschreibung von Repräsentation – und sei es bloß als subkulturelle Szene-Norm.« 45 Ähnliche Schwierigkeiten resultieren auch aus dem besprochenen Film Herzogs. Wie zu Beginn aufgezeigt, wurden dem Regisseur von verschiedenen Seiten ausbeuterische Ziele unterstellt, da er »nicht ab[lässt] von der Taubblinden, die natürlich nichts spürt von der hartnäckigen Präsenz der Kamera, von Herzogs Blick auf die in ständiger Bewegung unruhig umherwandernden Augen, die sich manchmal ganz zufällig in die Kamera richten.« 46 Gleichzeitig jedoch, so derselbe Au-
43 Vgl. u.a. Garland-Thomson: Staring Back: Self-Representations of Disabled Performance Artists; dies.: Dares to Stares: Disabled Women Performance Artists & the Dynamics of Staring, in: Sandahl, Carrie; Auslander, Philip; Rhelan, Peggy (Hg.): Bodies in Commotion: Disability and Performance. Ann Arbor, MI: University of Michigan 2005, S. 30-41; dies.: »Staring at the Other«, in: Disability Studies Quarterly 25 (4), 2005, o.S. (online unter: http://dsq-sds.org/article/view/610/787, letzter Zugriff am 3.07.2012); dies.: Staring: How We Look. Oxford: Oxford University Press 2009. 44 Gerbig, Doris: »Intersektionalität: Machtkategorien und Körperlichkeit. Race, Gender, Class, Dis-Ability – alles zusammen denkbar!?«, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven der Disability Studies«, Universität Hamburg, 14.11.2011, S. 17. Online unter: http://www.zedis.uni-hamburg.de/wpcontent/uploads/gerbig_14112011.pdf, letzter Zugriff 4.07.2012. 45 Raab, Heike: »Shifting the Paradigm: ›Behinderung, Heteronormativität und Queerness‹«, in: Jakob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hg.): Gendering Disability. Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Bielefeld: transcript 2010, S. 73-94, hier: S. 92. 46 »Ekstatische Wahrheit«, in: Film-Dienst 13 (2010).
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tor weiter, »versucht [er] auch nichts zu erzwingen.« (Ebd.) Tatsächlich lassen sich die weiter oben beschriebenen inszenatorischen Konzepte Herzogs in Bezug auf Einstellungsgrößen, Kamerabewegungen, Raumkonstruktion und filmischer Sequenzialisierung nur schwer einer dezidierten Position des Regisseurs oder einem bestimmten Diskurs zuordnen. Weder kehren sie bestehende Rollen einfach um, wie dies im Hollywood-Narrativ des hässlichen, aber herzensguten Krüppels immer wieder geschieht, noch bestätigen verlässliche Positionen bekannter Diskurse. Vielmehr scheinen die Akteure, d.h. Menschen wie auch Bilder, Formen autonomen Handelns zu entwickeln die, wie im Falle der Insbildsetzung Heinrich Fleischmanns, das Spektrum der Möglichkeiten aufscheinen lässt. Ob Intentionalität oder tatsächlich, wie Herzog betont, Zufall, im Vordergrund steht die Handlungsinitiative, die im hybriden Kollektiv von Kamera, roter Bank, Fleischmann und Baum Bedeutung produzieren kann. In diesem Sinne sollte die vermeintliche Unentschiedenheit der Kamera nicht als Mangel an Präzision und Entscheidung, sondern im Gegenteil als Wertschätzung und Strategie des Unbestimmten oder Ambivalenten gelesen werden. Serge Daney hat die Widerständigkeit des künstlerischen Bildes gegen die bloße Visualisierung hervorgehoben, 47 und dies scheint mir auch essentielles Element in Werner Herzogs Dokumentarfilm über Fini Straubinger zu sein. Während das rein Visuelle auf Direktheit und Unvermitteltheit setzt, muss das Bild im Sinne einer Reflexion des Blickes bzw. eines Verweis auf die Medialität oder Materialität der Bildlichkeit selbst verstanden werden. »Dies«, so Michael Wetzel, »schafft Raum für die Andersheit des Gesehenen und leistet mit diesem Entzug des Bildes Widerstand gegen die Aufdringlichkeit des optischen Spektakels.« 48 So kann – wie bei Herzog gezeigt – die Instanz des Anderen im Bild gegen seine Aus- wie auch seine Gleichschaltung im Ereignis der Visualisierung ausgespielt werden. Herzog insistiert auf standardisierte Aufnahmen und Diskurse (z. B. eindeutige Subjekt-Objekt-Relationen durch Blickkonstellationen oder die filmische Möglichkeit bzw. Verhinderung sozialer Interaktion), die er mit
47 Daney, Serge: Devant la recrudescence des vols de sac à main. Cinéma, télévision, information. Lyon: Alter Éditions 1991, S. 112. 48 Wetzel, Michael: »Der Widerstand des Bildes gegen das Visuelle«, in: Majetschak, Stefan (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektive einer Wissenschaft vom Bild. München: Fink 2005, S. 137-156, hier: S. 144. Die Unterscheidung zwischen dem Visuellen und (dem Ereignis) der Visualität entspricht in etwa derjenigen zwischen Visualität und Visibilität, wie in dem im gleichen Band vorhandenen Aufsatz von Vittoria Borsò angeführt. So bezeichnet das Visuelle das Regime der Sichtbarkeit während mit Visualisierung ein potentielles Sehen gemeint ist.
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Hilfe kleinerer Ton-Bild-Störungen oder aber dadurch dekonstruiert, dass die Kamera den Blickkontakt mit Straubinger verliert, sie (unbemerkt) umkreist, wenn sie eigene bzw. andere Wege einschlägt oder die Kamera zu lange und kommentarlos auf Gesichtern und Menschen verweilt. Auf diese Weise können immer wieder neue Differenzen erzeugt werden, die den möglichen Widerstand der Bilder, Störungen wie auch produktive Durchkreuzungen medialer Strategien und Diskurse in der Verteilung von Sichtbarkeit und Un- oder Nichtsichtbarkeit aufscheinen lassen.
Verletzbare Augenhöhe Disability, Bilder und Anerkennbarkeit U LRIKE B ERGERMANN
L OOKING B ACK / R ELATIONALES H ERZ Vor zwanzig Jahren unternahm Melody Davis eine Analyse des »Male Nude in Contemporary Photography«. Diese blickte weniger auf die Fotografie selbst, sondern verstand sich in weiten Teilen als Blick auf den fotografierten Körper und darüber hinaus als ein Blick, der von den Fotografierten erwidert wurde. Wenn hier trotzdem Davis’ Kapitel über die Fotografie behinderter Körper von Georges Dureau angeführt werden soll, 1 so unter der Prämisse, dass ihm etwas abzulesen ist. Denn die Disability Studies haben mehrfach Positionen abgelehnt,
1
Die Schreibweise, die nicht von einem Mangel zur Definition von Körpern ausgehen will, welche nicht der Norm entsprechen, spricht nicht mehr von »behinderten«, sondern »andersbefähigten Körpern«. Vgl. auch Elahe Haschemi Yekani und Henriette Gunkel, die von der »Produktion befähigter Körperlichkeit« sprechen und Robert McRuers »compulsory able-bodiedness« (aus Crip Theory, 2006) als »Zwangsbefähigte-Körperlichkeit« übersetzen (vgl. Haschemi Yekani, Elahe; Gunkel, Henriette: »(Sich)Fortbewegen«, in: Netzwerk Körper (Hg.): What can a body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus 2012, S. 57-69, hier S. 69. Vgl. McRuer, Robert: »Compulsory AbleBodiedness and Queer/Disabled Existence«, in: Snyder, Sharon L.; Brueggemann, Brenda J.; Garland-Thomson, Rosemarie (Hg.): Disability Studies: Enabling the Humanities. New York: MLA 2002, S. 88-99).
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wie sie in Dekonstruktion, Diskursanalyse oder Medientheorien verbreitet sind 2 um also zu verstehen, wo Disability and Media Studies miteinander zu tun haben, oder auch: wie sie einander herausfordern, sich nicht verstehen oder sich aneinander verändern sollten, sind die entsprechenden Argumentationen genauer zu betrachten. In den frühen 1970er Jahren sollen sie befreundet gewesen sein, die Fotografen Robert Mapplethorpe und Georges Dureau, beide bekannt für ihre Bilder nackter Männer, die Thematisierung von race und Homosexualität. Dureau habe allerdings seine Modelle nicht zum Objekt gemacht und fetischisiert, so lautet das gängige Rezeptionsklischee, sondern sei mit ihnen befreundet gewesen und versetze sie in die Lage, als autonome Subjekte ihren eigenen Blick im Foto zu zeigen. 3 Nackt oder selten mit props wie Tüchern oder der US-Flagge am Körper, stehen oder sitzen die Fotografierten, denen ein Teil von Arm oder Bein fehlt oder sogar der Unterleib, vor der Kamera und blicken oft direkt in das Objektiv, so dass sich ihre Blickrichtung im optisch-mathematisch Imaginären wie einst Velasquez’ Malerauge mit dem Blick des Betrachters treffen muss. Der fiktive Raum, in dem sich solche Blicke ›träfen‹, ist seinerseits Projektionsfläche für die Deutung von Melody Davis, die den Behinderten im Bild Selbstbewusstsein und agency attestiert. 4 Man kann hier leicht von romantisierender, gewollter Kurz-
2
Vgl. z. B. Jeffreys, Mark: »The Visible Cripple. Scars and Other Disfiguring Displays Included«, in: Snyder, Sharon L.; Brueggemann, Brenda J.; Garland-Thomson, Rosemarie (Hg.): Enabling the Humanities. New York: MLA 2002, S. 31-39.
3
Auf Fragen der Homophobie in der Rezeptionsgeschichte kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Vgl. eine typische Beschreibung der ›humanistischen‹ oder ›emphatischen‹ Qualitäten von Dureaus Arbeit: Persistent Voices: Georges Dureau, in: Eliza: Reviews
and
Ramblings
[Blog],
http://reviews-and-ramblings.dreamwidth.org
/1397020.html (dort datiert 28.12.2011, letzter Zugriff am 18.05.2012); ebs.: »Dureau’s views are empathetic, not voyeuristic«. (vgl. auch: Anonym: Southern Artists In Their Studios: George Dureau (The Outtakes), http://oxfordamerican.org/ articles/2012/mar/05/artists-their-studios-george-dureau/ (dort datiert: 5.03.2012, letzter Zugriff am 18.05.2012)). Auch in anderen Texten ist das der Tenor, vgl. die Meldung unter »Personalien« im Spiegel 27/1988 (4.7.88), S. 186 (Dureau wolle »die Ästhetik auch des deformierten Körpers zeigen und vor allem seinen Modellen, allesamt Freunden und guten Bekannten, die ›Menschenwürde wiedergeben‹«). 4
Davis, Melody D.: The Male Nude in Contemporary Photography. Philadelphia: Temple University Press 1991, bes. Kap. 2: The Specularized and Specularizing Other: George Dureau and Robert Mapplethorpe. S. 65-107, bes. zu Dureau: S. 85-107.
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sichtigkeit sprechen, und doch spricht aus der Argumentation für die unterstellte Autonomie der Fotografierten auch ein Wunsch, der etwas über die mediale Disposition aussagt. Eine von Davis’ Quellen sind Telefoninterviews, die sie mit Dureau im Juni und Juli 1989, also kurz nach Mappethorpes Tod im März, durchgeführt hat die Historiografien beginnen sich herauszubilden.5 Zum einen ist wiederholt die
Nur hingewiesen sei auf die Problematik, dass Dureaus eigene Inszenierungsleistung durchaus zur Sprache kommt, aber nie in Bezug zur Authentizitätsrhetorik gesetzt wird man könnte dem Fotografen auch politisch Inkorrektes attestieren: »For Dureau this sort of handicap recalls the most venerated of forms, ancient sculpture. ›There’s a certain sexy tension to an unfulfilled, unfinished thing [...] I think of how we are so attracted to the unfinished and broken marbles of antiquity‹ (Dureau 1989a). [Erotische Aufladung eines Mangels? U.B.] Dureau mentioned how this model was attempting to look ›seductive‹, and when asked to lean forward, a hurt look came into his face: ›Sometimes I find you have to give a command that just elicits something, and then you see what it is. It might be that they’re really giving their message at that moment. [Nur, wenn der Fotograf den Befehl gibt und es zu sehen imstande ist. U.B.]‹« Melody Davis zitiert das Telefonat vom Juni 1989 (Davis: The Male Nude, S. 96). Auf eine andere Weise problematisieren könnte man die Aussage Dureaus, was für ihn Behinderte erotisch macht. »›I’ve always loved handicapped people since I was a child. As a kind of uprooted child, I think I probably liked the idea of people being a little dependent, liking me, needing me. If you rudely trace it back, it was probably a father substitute: it was somebody who was there when I wanted him [...] This one surely is going to need me so much he won’t go away‹ (Davis: The Male Nude, S. 104) Vgl. auch den Wunsch, sich im eigenen Bild einzuschreiben: »Dureau’s photographs are in this way interactive, employing themes of loss and insisting on respect for those who embody it, for the disenfranchised those who are most in need of the drapery of the flag but are least likely to get it. Of course, this encompasses more than the handicapped to Dureau, this is also the homosexual and the African-American, neither of whom have sure footing in the social/symbolic order. For Dureau, these ideas are not just abstract philosophical concepts; they are matters of personal involvement. [Dureau has worked with the civil rights and the gay rights movements since the early 1960s, devoting time and gifts of art.] Speaking of his friends who he photographs, he claims: ›I want to capture them, but I also want to affect them before I capture them, so that I want me in the picture‹.« (Davis: The Male Nude, S. 104). Nach der Absicherung im politischen Engagement auch hier also eine Geste, die sich ebenso als imperiale, grenzüberschreitende Aneignung lesen ließe. 5
Vgl. Fußnote 4.
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Rede von der Kluft, die die Fotografierten von den Betrachtern trenne. Diese werde in Dureaus Studio dadurch praktisch aufgehoben, dass er die Fotografierten persönlich kenne, teilweise über viele Jahre fotografiere, »comparing his studio to a family room, and keeping close ties with his many friends and their friends and families« 6, in Sitzungen, die ganze Nachmittage dauerten das nennt Davis ›die relationale Qualität im Herzen seines Werks‹. (Ebd.) Gleichzeitig bliebe Dureaus Kamera auf Distanz, um keine fetischisierende Zerstückelung des Körpers wie bei Mapplethorpe zu betreiben, sondern den ganzen Menschen abzubilden. Diese ganzen Menschen (deren Bilder gleichzeitig in einer Tradition der Freak Shows stehen, diese aber umzukehren meinen), seien, so Davis, selbstbewusst, in sich gekehrt oder herausfordernd; sie spricht von Interaktionssituationen, als ob die Fotografierten mit ihr in einem Raum wären. Aber die Typografie schlägt ihr ein mediales Schnippchen.
Abb. 1: »John Slate«, Fotografie von Georges Dureau Quelle: Davis: Male Nude, S. 96, Abb. Nr. 38. »John Slate (1983) regards us with cool suspicion, as though he were sizing us up, leaning backward, his athletic body balanced. The cross of arms and right leg echo each other and provide compositional tension that threatens release. His stance and look introduce a gap, a space of distrust between subject and object. In fact, it is difficult to say who is subject and who is object here. Possibly, we, the viewers, are the objects Mr. Slate appraises, his 6
Davis zitiert das Telefonat vom Juni 1989 (Davis: The Male Nude, S. 88). Vgl. auch dies.: Freak Flag: Humour and the Photography of George Dureau, in: Still, Judith (Hg.): Men’s Bodies, Paragraph 26, No. 182, Edinburgh: University Press March/July 2003, S. 89-106.
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arms closed, hand in a fist, body gymnastically poised, eyes as though he were steadying us.« 7
Diese Beschreibung weniger eines Bildes als einer Live-Situation trägt drei Charakteristika. »John Slate regards us with cool suspicion«: Erstens handelt es sich nicht einfach um John Slate, einen Namen/eine Person, sondern um John Slate, einen kursiv markierten Bildtitel. Oder um beides: um eine Markierung der Auffassung, das Objekt sei identisch mit dem Bild. Zweitens blickt dieses Bild selbst zurück. Drittens erzeugt dieser Blick einen Spalt zwischen Bild und Betrachter. Dieser Spalt sei nicht etwa dem Bild vorgängig gewesen, sondern erscheint laut Davis als dessen Effekt, welcher in weiteren Bildinterpretationen dann verschieden ausgedeutet wird, als Einladung zur Identifikation oder Bezugnahme zum Abjekt 8 oder in diversen Begehrenskonstellationen: »Desire, here, does not make its objects into comfortable others. Rather than containing the body by objectifying, Dureau has his subjects return our gaze (and possibly our desire), so that they perhaps posit us as much as we posit them.« 9 Wer genug Empathie
7 8
Davis: The Male Nude, S. 96. Ebd., S. 104: Über das Porträt von B.J. Robinson: »B.J. Robinson faces us, selfassured, his gaze ironically questioning. Whatever misfortunes and callousness Mr. Robinson may have faced, he possesses a strength and pride that come through in his self-presentation. The labels handicapped or disabled do not stick to the men Dureau photographs. The portraits call into question the very notion of subject and object, of otherness, of naming, and, so, his photographs introduce to the safe-distance of viewing the risk of personal identification. To identify with these photographs is to incorporate a measure of their loss and aggression. They threaten to disrupt ideals and conventions of not only the self but of symbolized (social) order. Julia Kristeva, I believe, would call this matter ›abject.‹«
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Ebd., S. 106: »The photographs transgress the boundaries of the symbolized and threaten them with dissolution. Fathering and being fathered exist simultaneously for Dureau, making ambiguous the boundaries of distinction and the security of their symbols. We have also seen how these photographs invert the symbol of ›handicapped‹, emptying its conventional meaning. The erotic charge from transgressed, reversed, or ambiguous boundaries elasticizes the definition of self in Dureau’s work. Desire, here, does not make its objects into comfortable others. Rather than containing the body by objectifying, Dureau has his subjects return our gaze (and possibly our desire), so that they perhaps posit us as much as we posit them.«
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besitzt, sieht demzufolge in jedem Foto das Eigene, den Maßstab des Eigenen,10 ebenso wie den autonomen Anderen, der den Betrachter seinerseits zum Objekt zu machen scheint; und obwohl er ein Ausgestoßener (Krüppel, Schwarzer, Schwuler) ist, kann das Ausgestoßensein aufgehoben werden durch die Fotografie. 11 Melody Davis’ Bildinterpretationen überspringen die Medialität der Fotografie, 12 gerade indem sie vom ›Spalt zwischen Subjekt und Objekt‹ sprechen, und reden vermeintlich über das Bildobjekt selbst, die persönliche Intention des Fotografen und das Begehren der Betrachterin, das das Glück hat, vom Bild erwidert zu werden. Damit ist, besser gesagt, die Medialität der Fotografie nicht wirklich übersprungen, sondern invers benannt, oder benutzt für eine erotisierte Verschmelzungsphantasie. Der angeblich uralte Menschheitswunsch nach der Aufhebung der Trennung von Welt und Zeichen kehrt hier wieder aber nur unter der Voraussetzung bestimmter, dann doch: Objekte; die gleiche Disposition von Begehrlichkeiten wäre einem männlichen Betrachter der Fotografierten bei Helmut Newton sicher nicht zugesprochen worden (selbst wenn die Modelle als unterdrückte, ausgebeutete Prostituierte gekennzeichnet worden wären nicht
10 Ebd., S. 102: »With the psychological state he captures and their relational quality of his photographs, he challenges us not simply to recognize the unfortunate as ›others‹ but to see in these photographs a measure of ourselves.« 11 Ebd., S. 106f: »For Dureau [other than Mapplethorpe], however, the gaze meets its counter, and between them is a gap that cannot be bridged except by recognition of original loss, of abjection. Dureau’s subjects have an autonomy that challenges pictorial objectification. Provided we are empathetic enough, we confront abjection on its own terms, and that can frighten, for it involves acceptance that shakes the selfprotective boundaries of ego. For the abjected, as for Dureau, what bridges the gap, soothes the abjection, is the process of photographing. ›The abject collapses in ... beauty‹ (Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection. New York: Columbia University Press 1982, S. 210); there, art reorients transgression. Between Dureau and his friends is such a reorientation, so that beauty, enjoyment, friendship, and photography are synonymous.« 12 Übrigens überspringen sie auch den Penis. Dass dem Fotografierten ein Teil des rechten Beins fehlt und dass er das Restbein so angewinkelt hat, dass es seinen Penis umrahmt, kommt in Davis’ Bildbetrachtung gar nicht vor. Wer die Behinderung ansieht, dem wird der über dem zu kurzen Bein hängende Penis ins Auge gehalten. Diese Rahmung, dieses bildliche Ineinander von Machtsymbol und Mangel, vielleicht Verletzlichkeit und Selbstbewusstsein, möglicherweise Ironie wäre zu diskutieren, aber Davis bleibt bei Augen und Geste.
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jede Marginalisierung ist gleich). Ob es um den Wunsch geht, eine Trennung von Subjekt und Objekt aufzuheben, oder die Spaltung von Auge und Blick oder auch: den Sinn, der als der kälteste, rationalste, als Fernsinn gilt, zu empathisieren? 13 Es ist die Behinderung, eine bestimmte Sorte von Behinderung (nicht geistig, sondern sichtbar; nicht abstoßend, ohne offene Wunden, ohne Maschinen-Anbindung des Körpers etc.), die eine Erweiterung des schwulen ästhetischen Kanons Dureaus (der antikisierenden Jünglinge etc.) und unvollkommene männliche Gliedmaßen in den heterosexuellen Mainstream-Blick einer weißen Autorin lancieren kann. Ihr Begehren nach einer Welt vor den Zeichen braucht die Augen des behinderten Mannes.
R EALISTISCHE AUGENHÖHE Ein Jahrzehnt später soll der Objektstatus repräsentierter Behinderter in anderen Modellen aufgehoben werden. Als im Jahr 2000 auf dem Washington Post Magazine das Foto eines Schwarzen ohne Hände zu sehen ist (»African amputee«), sieht die bekannte Autorin der Disability Studies, Rosemarie GarlandThomson, darin sofort eine (offensichtlich gelungene) Aufforderung, sich mit ›innerethnischen Konflikten‹ auf dem fernen Kontinent auseinanderzusetzen: Der Fotografierte werde nicht exotisiert, er werde zum universellen Zeichen für menschliche Brutalität, argumentiert sie, und da er so sei wie die Betrachter, fühlten diese sich aufgefordert, sich mit der postkolonialen Situation Afrikas zu beschäftigen. 14 Wie kann es sein, dass eine afrikanische Kriegsverletzung uni-
13 Disability Studies sind gut für die Nichtbehinderten: Ihre Kategorien »gewähren frische Blicke auf unsere Kulturgeschichte«, so Snyder, Sharon L.; Brueggemann, Brenda Jo; Garland-Thomson, Rosemarie: Introduction: Integrating Disability into Teaching and Scholarship, in: Dies. (Hg.): Disability Studies. Enabling the Humanities. New York: MLA 2002, S. 1-12, hier S. 8. 14 »This presentation thus makes him a universal sign for human brutalization, with whom all viewers are encouraged to identify [...] Presented as a victim of interethnic conflict, this man is portrayed completely without visual markers that particularize him except is impairment, which is foregrounded but not exoticized or sensationalized. This image suggests that the viewer must become concerned or involved with postcolonial African politics because the disabled figure is like the viewers socially level with them rather than different from them.« (GarlandThomson, Rosemarie: Seeing the Disabled, in: Longmore, Paul K.; Umansky, Lauri
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versal ist, wenn sie doch gleich wieder partikularisiert wird (»nicht auf unserem Kontinent«, ebd.)? Ist Brutalität allgemein menschlich, oder Eigenschaft nur der Anderen? An anderer Stelle hieß es noch, Verletzbarkeit oder Behinderung würde uns alle früher oder später betreffen, 15 aber das gilt offensichtlich nicht für unzivilisierte Bürgerkriege, von denen man noch nicht einmal erfährt, in welchem Land sie denn nun eigentlich stattfinden außer »in Afrika«. GarlandThomson teilt uns nichts über einen bestimmten Krieg oder Mann mit, sondern führt an, dieses Coverfoto sei ein Beispiel für den »realistic mode« 16 das ist eine der vier Kategorien, die sie für die Abbildung von Behinderungen definiert hat. Ausgehend davon, dass es eine ebenso natürliche Reaktion wie sozial sanktionierte Tätigkeit sei, Behinderte anzustarren, 17 sieht Garland-Thomson ebenso wie Melody Davis eine besondere Beziehung, ja sogar eine Art von »Partnerschaft« 18 zwischen den Schauenden und den Angeschauten am Werk. Vielzitiert
(Hg.): The New Disability History: American Perspectives. New York: New York University Press 2001, S. 335-374, hier S. 344). 15 »The fact that many of us will become disabled if we live long enough is perhaps the fundamental aspect of human embodiment. Yet, in our present collective cultural consciousness, the disabled body is imagined not as the universal consequence of living an embodied life but rather as an alien condition.« It tends to be figured as an absolute state of otherness. »Just as sex was the ubiquitous unspoken subject in the Victorian world, disability the harbinger of mortality is the ubiquitous unspoken topic in contemporary culture.« Snyder, Sharon L.; Brueggemann, Brenda Jo; GarlandThomson, Rosemarie: Introduction: Integrating Disability into Teaching and Scholarship, S. 2. 16 Garland-Thomson: Seeing the Disabled, S. 364ff: »In its urgency to capture ostensible truth, realism often fuses the sensational to the ordinary in a gesture of obstinate opposition to the supposed pretenses or evasions of other representational modes.« 17 Dieses Thema hat sie später in einem Buch ausformuliert: Garland-Thomson, Rosemarie: Staring. How we look. Oxford: Oxford University Press 2010. 18 »Staring at disability choreographs a visual relation between a spectator and a spectacle.« (Garland-Thomson, Rosemarie: The Politics of Staring: Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography, in: Snyder, Sharon L.; Brueggemann, Brenda Jo; Garland-Thomson, Rosemarie (Hg.): Disability Studies: Enabling the Humanities. New York: MLA 2002, S. 56-75, hier S. 56). »By intensely telescoping looking toward the physical signifier for disability, staring creates an awkward partnership that estranges and discomforts both viewer and viewed. Starers gawk with abandon at the prosthetic hook, the empty sleeve, the scarred flesh, the unfocused eye, the twitching
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ist ihre »taxonomy of four primary visual rhetorics of disability. They are the wondrous, the sentimental, the exotic, and the realistic«. 19 Die verwunderte, die sentimentale, die exotische und die realistische Art zu schauen charakterisieren einen unterschiedlichen Umgang mit der Distanz zwischen Subjekt und Objekt des Blicks. Ob man ehrfürchtig zur Abweichung blicke oder sentimental, mit Wohlwollen herabsehe oder ein möglichst fremdartiges Objekt exotisiere, ob the wondrous zwar fremd sei, aber doch ein identifikatorisches Angebot biete solche Blickarten, reformuliert etwa Gesa Ziemer, »entlarvten« die Konditionierung unserer Wahrnehmung. 20 Die größte Beachtung hat der »realistische« Modus des Blicks gefunden. Er lege nahe, dass sich der Schaulustige mit dem Objekt der Prüfung zusammenschließe, und positioniere Betrachter und Betrachteten auf gleiche Höhe; somit liege hier die wirksamste politische Kraft: Obwohl Differenz anerkannt werde, finde Identifikation statt. 21 Eine ›realistische Rhetorik‹ (in Text oder Bild) tendiere zur Angleichung an die Norm und betone die Ähnlichkeit Behinderter und Nichtbehinderter. 22 In einem neueren Text hat sich Garland-
limb, but seldom does looking broaden to envelop the whole body of the person with a disability. Even supposedly invisible disabilities always threaten to disclose some stigma, however subtle, that disrupts the social order by its presence and attenuates the bond between equal members of the human community. Because staring at disability is considered illicit looking, the disabled body is at once the to-be-looked-at and notto-be-looked-at, further dramatizing the staring encounter by making viewers furtive and the viewed defensive.« 19 Garland-Thomson: Politics of Staring, S. 58. 20 Ziemer, Gesa: Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik. Zürich: Diaphanes 2008, S. 119. Cornelia Renggli übersetzt als »die ausserordentliche, rührselige, exotische und alltagsnahe Repräsentationsweise von Behinderung.« (Renggli, Cornelia: Behinderung in den Medien. Sichtbar und unsichtbar zugleich, in: Medienheft, Nov. 2004, http://www.medienheft.ch/kritik/bibliothek/k23_RenggliCornelia.html, letzter Zugriff am 05.05.2012). 21 Ziemer: Verletzbare Orte, S. 120. 22 »[...] realism minimizes distance and difference by establishing a relation of contiguity between viewer and viewed. The wondrous, sentimental, and exotic modes of representation tend to exaggerate the difference of disability to confer exceptionally on the object in the picture. The rhetoric of the realistic, however, trades in verisimilitude, regulating the disabled figure in order to avoid differentiation and arouse identification, often normalizing and sometimes minimizing the visual mark of disability. Realism domesticates disability. Realist disability photography is the rhetoric of equality, most often turned utilitarian. The use of realism can be
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Thomson damit dem klassischen Porträt zugewandt: »Portraits, I suggest, have this iconic quality because of their capacity to stage face-to-face relationships with the viewer that capture elements of living interpersonal relations.« 23 Sie inszenierten/ermöglichten eine Blicksituation, die Elemente einer gelebten zwischenmenschlichen Beziehung einfingen das klingt vorsichtiger als bei Davis. Bilder, so heißt es nun, imitierten oder konstruierten Beziehungen; mit anderen Worten: Die Verwechslung von Bild und Mensch ist weiterhin gegeben, wird aber als medialer Modus reflektiert. Der gesellschaftliche Status eines Porträts, so Garland-Thomson, würde dem Abgebildeten jenseits der Absichten des Künstlers oder des Porträtierten Bedeutung zuschreiben; 24 über solche Akte des Rahmens und Darstellens könnten auch Behinderte eine angemessene Repräsentation erreichen, eine »aesthetic form to the collective ›ethical responsability‹«. 25 Der Abschied vom intentionalen Subjekt führt immer noch dazu, eine gewisse Intentionalität nun dem Bild selbst zuzuschreiben.
commercial or journalistic, and it can also urge the viewer to political or social action. Realism emerged as a property of portraiture, documentary, and medical photography of the nineteenth century.« (Vgl. Garland-Thomson: Politics of Staring, S. 69). Garland-Thomson begrüßt diese Rhetorik und hebt als positives Beispiel die Porträtfotografie einer Verbandsfunktionärin im Rollstuhl hervor. 23 Garland-Thomson, Rosemarie: »Picturing people with disabilities: classical portraiture as reconstructive narrative«, in: Sandell, Richard; Dodd, Jocely; GarlandThomson, Rosemarie (Hg.): Re-Presenting Disability. Activism and Agency in the Museum. London/New York: Routledge 2010, S. 23-40, hier S. 25. 24 »Portraits themselves apart from the intentions of the artist or subject say, ›Look at me and see who I am‹«. Garland-Thomson: Picturing people with disabilities, S. 25. 25 Garland-Thomson: Picturing people with disabilities, S. 39. Ein Beispiel für ein »staring back« wären die Fotografien von Kevin Conolly, der ohne Beine geboren wurde, sich als Extremsportler einen Namen machte und mit seiner Kamera um die Welt reist. Dabei fotografiert er von seinem Rollbrett aus, das ihm als Rollstuhl dient, also von unten die Leute, die ihn anstarren. (vgl. Millett, Ann: »Staring Back And Forth: The Photographs Of Kevin Connolly«, in: Disability Studies Quarterly, Summer 2008, Volume 28, No. 3 (http://dsq-sds.org/article/view/124/124)); vgl. Kevin Michael Connollys Webseite mit über 32.000 Fotografien: The Rolling Exhibition, 2009, http://therollingexhibition.com/, letzter Zugriff am 02.05.2012.
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G EMEINSAME V ERLETZBARKEIT : E IN T ERTIUM CONDITIONALIS Philosophische Lektüren erweitern wiederum ein Jahrzehnt später diese Ansätze. Auch die Kulturwissenschaftlerin Gesa Ziemer hat die visuelle Wahrnehmung, die (Körper-)Bilder und den Zusammenhang von ästhetischen und performativen Formen im Blick auf Behinderte beforscht. Der ›realistische Modus‹ GarlandThomsons dient ihr als Bezugspunkt, um ihr Konzept der »verletzbaren Blicke« zu erläutern. Verletzbarkeit wurde von Garland-Thomson noch dem ›sentimentalen Blick‹ zugeordnet Ziemer dagegen entwirft einen Austausch, in einem ›verletzbaren Blick‹. Dieser ist reziprok gedacht. Verletzbar ist nicht nur das vermeintlich schwache Objekt; beide, Subjekt und Objekt, würden sich ihrer Verletzbarkeit im Austausch bewusst. Wer realistisch blickt, so Ziemer, bleibe verletzbar und damit wach; nur so entstehe ein gleichberechtigter Blick, der einem ethischen Appell, der auf der Anerkennung der Gefährdetheit eines jeden Lebens beruht, gerecht werde. Garland-Thomsons Blicke des Wunderns, der Sentimentalität oder der Exotik versetzten den Betrachter in eine sichere, distanzierte und damit vermeintlich unverletzbare Position. Demgegenüber stelle der verletzbare Blick eine Nähe her, die es erlaube, bei aller Differenz auch eine Identifikation herzustellen. »Dieser verletzbare Blick und Körper ist unser aller Blick und Körper, der nicht nur in Richtung Angeschautes zielt, sondern vor allem den Grenzen der eigenen Wahrnehmung Rechnung trägt.« 26 Hier treffen sich drei Forderungen: Eine gemeinschaftsbezogene, ethisch gesetzte Gleichberechtigung Behinderter und Nichtbehinderter, eine individuelle Selbsteinschätzung als verletzbar, sowie schließlich eine methodologische Forderung, die »körperliches Schauen« propagiert. 27 Es ist nicht Ziemers erstes Anliegen, eine korrekte Abbildungspolitik behinderter Körper zu entwerfen, und es ist auch nicht klar, ob diese zur besseren Selbsteinschätzung genutzt werden. Sie will eine »praktische Ästhetik« entwerfen, die an Projekte der künstlerischen For-
26 Ziemer: Verletzbare Orte, S. 122f. Im Folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf das Kapitel »Verletzbare Blicke«, S. 115-171. 27 »Die Frage ist hier, inwieweit die Bezugsgröße der Verletzbarkeit hilfreich ist, damit der Blick nicht primär auf den abweichenden Körper gerichtet wird, sondern dieser vor allem in Bezug auf den eigenen Körper wahrgenommen wird. Wäre es nicht Teil des geforderten Realismus, sich die Verletzbarkeit des eigenen Körpers ständig präsent zu halten und deshalb auch die Verletzbarkeit des eigenen Blickes zu schärfen? Gleichberechtigt schauen würde dann heißen, Körper anschauen im Sinne von körperlich schauen.« (Vgl. Ziemer: Verletzbare Orte, S. 121f.)
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schung, an Performanceprojekte von Menschen mit Behinderung herangetragen werden. Verletzbarkeit ist darin mehrfache Bezugsgröße sowohl aller Beteiligen untereinander als auch der Beziehung der Forscherin zum Thema, und letztlich der ganzen Reflexion/Wissensproduktion. 28 Hier geht es also nicht um Fotografie und nicht mehr um die entsprechende mediale Konnotation von ›Realismus‹ oder um einseitige Projektionen auf die Bilder fotografierter Menschen, sondern ausgehend von Bühneninszenierungen behinderter Performer(-innen) um Überlegungen zu unvoreingenommenen Wahrnehmungssituationen, Gleichberechtigungen in Verschiedenheit und letztlich eine Konsequenz für das wissenschaftliche Arbeiten, das sich selbst als körperlich gebundenes, daher immer auch verletzbares Denken verstehen soll, in »verletzbare[n] Formate[n] der Reflexion«, die ihren souveränen Standpunkt verlassen haben. 29
28 »Verletzbarkeit wird weder als Begriff noch als Metapher diskutiert, sondern als Bezugsgröße, die auf das Unbegriffliche verweist und damit plurimediale Reflexionsverfahren ermöglicht, welche der Vielfalt von Körperformen und -erfahrungen nahe kommen. Diese Reflexion erklärt nicht von einem distanzierten Standpunkt aus, viel eher macht sie die vermeintlich schwache Eigenschaft der Verletzbarkeit zu einer produktiven, die Subjekt und Objekt in ein Reflexionsfeld eintreten lässt, in dem mit Körpern reflektiert wird.« (Ebd., S. 123f.) 29 »Andererseits geht es mir darum, Ansätze einer theoretisch-künstlerischen Methode zu entwickeln, die ebenso dem Prinzip der Verletzbarkeit folgt. Es ist eine Methode, die sich nicht durch den souveränen Standpunkt des Theoretikers auszeichnet, sondern sich der Verletzbarkeit der scheinbar gesicherten eigenen Position gewahr wird. Die Philosophie versucht ihre Angreifbarkeit demnach nicht zu vermindern, sondern kreativ zu nutzen, indem sie verletzbare Formate der Reflexion herstellt. Diese Formate sprechen keine Wahrheit, sie kommen aber aufgrund ihrer Durchlässigkeit und Brüchigkeit der Wahrheit vielleicht näher als die unangreifbare, distanzierte Erklärung, die wir in den Wissenschaften über Kunst nur allzu oft hören. [...] Die Verletzbarkeit des Körpers und damit ist hier sowohl der menschliche Körper als auch der Begriffskörper jeder philosophischen Ästhetik gemeint zeigt uns die Gefährdetheit unseres Standpunkts. Philosophische Ästhetik und Kunst sind privilegierte Orte des Einspruches gegen Form- und damit Normvorstellungen, die hermeneutisch-kritisch die Definitionsmacht eines normativen Philosophieverständnisses ebenso unterlaufen wie den scheinbar planbaren und perfekten Körper.« (Ebd., S. 15)
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Offen bleibt, wie »der Körper seine Verletzbarkeit zeigen« (ebd., S. 177) oder mitdenken soll. Kann man jeder Abbildung eines behinderten Körpers Selbstreflexivität unterstellen? Reicht guter Wille aus, um eine reflektierte Wissenschaft zu betreiben? Woran wird überprüfbar, dass eine Aufführung gelingt, wenn sie etwa den folgenden Anspruch hat: »[zu] zeigen, dass vor allem der souveräne Betrachter Schiffbruch erleidet, weil das Bühnengeschehen den Zuschauer dazu auffordert, in sich und nicht auf etwas zu schauen. Verletzbar sind alle Körper«? 30 Zu diskutieren wäre die Analogie von Körper und Text, von Behinderung und Brüchigkeit, sowie ein gewisser Mangel an Reflexion auf die eigene Hegemonialität. Nichtbehinderte können sich aussuchen, über ihre Verletzbarkeit nachzudenken, Behinderte nicht. Alle Körper sind verletzbar. Aber nicht alle sind verletzt. Ziemer hat sich selbst diese Fragen gestellt. Das »produktive Potential« der Verletzbarkeit bleibe begründungsbedürftig, ebenso wie in den Prekarisierungsdebatten ökonomische und soziale Ungleichheiten nicht verwischt werden sollten. 31 Ihre Begründung verfährt doppelt: Einerseits mit der Philosophie Hans Blumenbergs und der Verletzlichkeit als Tertium comparationis für Mensch und
30 Ihr zweijähriges Forschungsprojekt am Institut für Theorie (ith) der Zürcher Hochschule der Künste 2003/04 begleitete und filmte die Performancekünstler(-innen) Ju Gosling, Rika Esser, Simon Versnel, Raimund Hoghe, Milli Bitterli, die mit Inszenierungen ihrer ›anderen‹ Körper arbeiten; der Film ist auf DVD dem Buch beigelegt. »Dadurch, dass eine DVD einen Abschnitt dieses Buches darstellt, wird ein gleichsam verletzbares Format vorgeschlagen, das Bild und Text in ein nicht-illustratives Verhältnis zueinander stellt. Stattdessen kommentieren sich die Reflexionsmodi in einem verletzbaren Modus gegenseitig«. (Ebd., S. 14f.) 31 Vgl. ebd., S. 109. Eine weitere Argumentation, in der behinderte und nichtbehinderte Körper gleichen Konstitutionsmechanismen unterliegen, schlägt Anja Tervooren vor: Nach Lacan ist das Spiegelstadium der Bildner der Ichfunktion und hier ist »der zerstückelte Körper« inhärenter Bestandteil der Subjektkonstitution und des Subjektstatus, jede Leugnung dieser Abhängigkeit müsse fehlschlagen; Julia Kristeva schließe diese konstitutive Instabilität mit in ihren Subjektbegriff ein; mit Umwegen über das Abjekt sei zu sehen, dass ein unverletztes ganzes Körperbild ein Phantasma sei, so dass in gewisser Weise Behinderung zu jedem Selbstbild gehöre. (Tervooren, Anja: Phantasmen der (Un-)Verletzlichkeit. Körper und Behinderung, in: Lutz, Petra; Macho, Thomas; Staupe, Gisela; Zirden, Heike (Hg.): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum. Köln/Wien: Böhlau 2003, S. 280-292, hier S. 286).
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Begriff in Blumenbergs Metaphernmodell, 32 andererseits mit Bezug auf die eigene künstlerische/kuratorische Praxis der Autorin. Ihr geht es um den »gemeinsamen Aktionsraum«, den alle Beteiligten in Produktionen behinderter und nichtbehinderter Menschen teilen. Genauer: »Wenn man diesen Möglichkeitsraum als gemeinsamen Aktionsraum versteht, dann wird auch die klare Unterscheidung und Positionierung von Normalem und demjenigen, der von der Norm abweicht, unterlaufen«, 33 ›wenn‹ man diesen Raum so versteht. Das Tertium comparationis ist nicht gegeben, sondern muss erarbeitet werden, vielleicht ein Tertium conditionalis. Die Fotos blicken nicht von selbst zurück, wenn man nur sensibel oder begehrend genug ist, sondern Konstellationen der Gleichberechtigung müssen jeweils von allen Beteiligten hergestellt werden. »Der verletzbare Ort«, so Ziemer in einer Erweiterung des »verletzbaren Blicks«, »ist ein ästhetischer Knotenpunkt, an dem sich neue Blickverhältnisse einstellen und damit Repräsentations- und Wissenschaftskritik, Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und politische Manifestation anknüpfen können.« (Ebd., S. 107) »Anknüpfen können«, damit erhält das Konzept der ›verletzbaren Blicke‹ eine Plausibilität, die weder das ›relationale Herz‹ noch die ›realistische Augenhöhe‹ der vermeintlich zurückschauenden Fotografierten behaupten konnten: Dieses Modell kann gelingen oder scheitern, und das ist im Einzelnen an Text- und Bildproduktionen zu überprüfen. Die Anderen sind immer eine unberechenbare Größe: »Wach zu sein für die Verletzbarkeit des Körpers und des Lebens heißt, eine ethische Haltung einzunehmen, die niemals nur auf das eigene Leben ausgerichtet ist, sondern immer auch das der anderen einschließt.« (Ebd., S. 105) In Interdependenz statt Dependenz sind alle aufeinander verwiesen.
32 »Blumenbergs Metaphernmodell stellt ein Verhältnis zwischen dem anschaulichen menschlichen Körper her und dem unanschaulichen Werkzeug des Denkens, dem Begriff. Diese Anordnung bietet die Möglichkeit, körperliches und begriffliches Denken parallel zu führen und den Körper dabei nicht nur als Vorlage, sondern als genuinen Teil des Denkens zu verstehen. Man kann den Körper als tertium comparationis zwischen Mensch und Begriff verstehen« (Ziemer: Verletzbare Orte, S. 100) 33 Aufgebrochen wird [...] die klare Trennung zwischen dem Körper als Objekt oder Subjekt, denn der verletzbare Körper verkörpert beides: Er ist ethisches und ästhetisches Objekt, das den Eingriffen und Blicken ausgesetzt ist, und gleichzeitig Subjekt seiner eigenen medizinischen Veränderungs- oder ästhetischen Darstellungsmöglichkeiten. Wenn man diesen Möglichkeitsraum als gemeinsamen Aktionsraum versteht, dann wird auch die klare Unterscheidung und Positionierung von Normalem und demjenigen, der von der Norm abweicht, unterlaufen.« (Ebd., S. 105)
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Diese Verwiesenheit ist Teil der Theorien der Anerkennung und der Alterität welche wiederum einen wenig reflektierten Grundzug im Ästhetisch-Visuellen aufweisen.
I M ANTLITZ
DES
ANDEREN
Welche Rolle spielt Visualität im ›Denken des Anderen‹? Eine der medientheoretisch folgenreichsten Reaktionen auf die Fotos von Folterungen aus Abu Ghraib wurde im Rahmen philosophischer Relektüren vor allem von Lévinas’ Ethik des Antlitzes vorgelegt. Judith Butler entwickelt darin Fragen wie die, welches Leben betrauerbar sei oder wessen Verletzbarkeit anerkannt werde, mit der Erörterung von Politiken des Framings im Hinblick auf philosophisch-humanistische Konzepte 34 ebenso wie mit dem Blick auf Bilder, ihre Zirkulation, auf das Verhältnis von Normativität und Visualität. Ohne Referentialität oder dokumentarische Funktionen von Fotografie vollständig zu ignorieren, geht es ihr in erster Linie um eine Rekonstruktion der Bedingungen, wie Bilder an ihren Grenzen gleichzeitig Ein- und Ausschlüsse produzieren und doch offen bleiben müssen: Der Rand eines Bildes ermöglicht zwar dessen Konstitution durch die Trennung von einem Außen, die Restriktion des Inhalts, aber der Rahmen gehört dem Bild nicht vollständig an, lappt in den Kontext hinein und insofern die Bestimmung des Bildes die Zirkulation ist und sich somit der Kon-
34 »Zunächst muss es ein Raster für das Menschliche geben, eines, das beliebig viele Variationen als fertige Beispiele umfassen kann. Doch gemessen daran, wie umstritten die visuelle Repräsentation des ›Menschlichen‹ ist, scheint unsere Fähigkeit, auf ein Antlitz als menschliches zu reagieren, von der Vermittlung durch Bezugsrahmen abhängig, die in einem Fall vermenschlichen und im anderen entmenschlichen. Die Möglichkeit einer ethischen Reaktion auf das Antlitz erfordert folglich eine Normativität des visuellen Felds: Es liegt nicht nur bereits ein epistemologischer Rahmen vor, innerhalb dessen das Antlitz erscheint, sondern wir haben es auch hier schon mit einem Machteffekt zu tun, denn nur kraft gewisser Arten anthropozentrischer Anlagen und kultureller Rahmenbedingungen erscheint uns ein gegebenes Antlitz als menschliches.« (Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002 (Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M. zuvor gehalten als Spinoza-Vorlesungen der Universität Amsterdam 2002); erschienen im Original unter dem Titel »Giving an Account of Oneself« (New York 2003), zuerst übersetzt von Reiner Ansén als »Kritik der ethischen Gewalt«: Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 43).
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text verändert, ist die Brüchigkeit des Rahmens Bestandteil der Bildkonstitution und impliziert auch eine Unabgeschlossenheit des Bildes, das weiter zirkulieren wird. 35 Die Repräsentationsregimes bleiben kritisierbar, der Intervention zugänglich. Rahmen strukturieren unsere Wahrnehmung, die Wahrnehmbarkeit von Dingen, die Restriktionen der sinnlichen Eindrücke, sogar unsere Affekte. »Das stillschweigende Deutungsschema der Unterteilung in wertvolles und wertlose Leben prägt grundlegend die Sinne und schneidet die Schreie, die wir hören, von denen, die wir nicht hören können, die Bilder, die wir sehen, von denen, die wir nicht sehen können, und das Gleiche gilt für Berührungen und sogar für Gerüche.« (Ebd., S. 55f)
Ähnlich formulierte Rancière mit den »Aufteilungen des Sinnlichen«, die festlegen, was wir wahrnehmen, tun und sagen können und wofür wir blind oder taub sind. »Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor.« 36 Sie konstituieren Gemeinschaften. Das Anerkennen ist nicht nur ein emotionales Element, das den Wahrnehmungsakt begleitet, sondern dessen Möglichkeitsbedingung. Anerkennen des Anderen, der Anderen, ist Voraussetzung für die Wahrnehmung einer Situation. Sie steht im Zusammenhang mit Erkennen und Wissen, im Zusammenhang mit der Konstitution von Subjekt und Objekt sowie mit all den Konsequenzen, die das für die »Aufteilung des Sinnlichen« hat. Die Vorgängigkeit der Anerkennung vor jeder Szene, Begegnung, Äußerung oder Aufführung, das Anerkanntsein als ein Subjekt, das sprechen und handeln kann, ist eine umstrittene und komplizierte Angelegenheit. Sind Behinderte im Bild oder auf der Bühne den Regeln dieser Szene von vorneherein unterworfen? Diese Frage wird neu gestellt.
35 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 17f. 36 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006, S. 26f. Vgl. Sonderegger, Ruth: »Drei Formen der Demonstration. Überlegungen mit Jacques Rancière«, in: Frankfurter Kunstverein und dem Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der GoetheUniversität Frankfurt a.M. (Hg.): Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Frankfurter Kunstverein, 20.1.-25.3.2012. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2012, S. 382-387, hier S. 382.
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a) Theater der Anerkennung Ein Buchtitel wie »Verkennende Anerkennung« verweist auf die Paradoxie, dass eine völlige Anerkennung nie stattfinden kann jedes Anerkennen verfehlt notwendigerweise den anderen, weil sie nur unter der Maßgabe des Bekannten erfolgt. 37 Ausgehend von Althussers »Ideologischen Staatsapparaten«, die nicht mehr durch staatliche Organe wie die Polizei herrschen, sondern durch die Ideologie, 38 die sich in Praktiken und Ritualen zeigt und sich hierin performativ durchsetzt, kommt Thomas Bedorf mit Blick aufs französische Original auf die ›Anerkennung‹ als deren grundlegendes Element. Die berühmte Szene, in der der Polizist ›He, Sie da‹ ruft und sich der/die Angerufene umdreht, sich in dieser Unterwerfung unter den Ruf allererst als Subjekt konstituiert, bezeichnete Althusser als »rituel de la reconnaissance«, im Doppelsinn des französischen Wortes: der Wiedererkennung (re-connaître) und der Anerkennung (wie im ›Respekt‹), eine Szene wie ein »little theoretical theatre« (Michel Pecheux). 39 Das
37 Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 145 et passim. Bedorfs jüngste Publikation bietet einen Durchgang durch zwei bis drei Dutzend weißer westlicher Philosophen, die sich für den gegenderten oder rassifizierten Anderen ebenso wenig interessiert haben wie Bedorf selbst nicht zu finden sind Bezüge zu Gender Studies oder Postcolonial Studies, auch dort, wo sich die Figur des Anderen explizit aus solchen Bezügen herleitet, etwa dem Weiblichen bei Lévinas oder dem kolonialen Anderen, der bei Sartre vielleicht keine ursprüngliche, aber zentrale Rolle spielt, wie in seinem Text zu Fanon lesbar. Bedorf, Thomas: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie. Bielefeld: transcript 2011 (vgl. dagegen Gürtler, Sabine: Elementare Ethik. Alterität, Generativität und Geschlechterverhältnis bei Emmanuel Lévinas. München: Fink 2001). Vgl. auch Dungs, Susanne: Anerkennen des Anderen im Zeitalter der Mediatisierung. Sozialphilosophische und sozialarbeitswissenschaftliche Studien im Ausgang von Hegel, Lévinas, Butler, Zizek. Hamburg: LIT 2006. Weitere Publikationen von Thomas Bedorf: Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem. München: Fink 2003. Ders.: Cremonini, Andreas (Hg.): Verfehlte Begegnung. Lévinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen. München: Fink 2005. 38 Bedorf: Verkennende Anerkennung, S. 79; Althusser, Louis: »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: Ders.: Ideologie und Ideologische Staatsapparate, Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin: Argument 1977, S. 108-153. 39 Bedorf: Verkennende Anerkennung, S. 79-81, zitiert Pécheux, Michel: »The Mechanism of Ideological (Mis)recognition«, in: Zizek, Slavoj (Hg.), Mapping Ideology. London/New York: Verso 1997, S. 141-151, hier S. 148.
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ist zeitlich paradox: Ich muss etwas ›wieder‹-erkennen, um es ›allererst‹ anzuerkennen. Die szenischen Formen sind der Anerkennung immanent, die Bühne (der Anrufung) ist der Anerkennung nicht äußerlich oder vorgängig. Melody Davis meinte, auf Dureaus Fotografien etwas wiederzuerkennen; sie fühlte sich angerufen, war allerdings selbst die Regisseurin ihres little photographical theaters und konnte gerade in dieser Position ihr ›Gefangensein‹ genießen. Garland-Thomsons ›Blicken auf Augenhöhe‹ postulierte eine Ebenbürtigkeit von Sehenden und Angesehenen, die in Philosophien der Anerkennung ebenfalls an ihre Grenze geführt wird. Paul Ricoeur hat der Frage der Reconnaissance und dem Anerkennen, der Mehrdeutigkeit des Verbs reconnaître ein ganzes Buch gewidmet und darin die 40 Anerkennung mit dem Erkennen, der Wahrnehmung schlechthin verbunden. Mit Sartre ließe sich zunächst noch sagen, »dass das Ich vom Anderen zum Objekt gemacht wird, insofern es wie ein Gegenstand wahrgenommen wird. [...] Man erfährt sich als Gegenstand der Sichtweisen Anderer und empfindet die eigene Objektheit.« 41 (Dabei gilt: Man begegnet dem anderen, man konstituiert ihn nicht.) 42 Emmanuel Lévinas entwarf dann den »absoluten Anderen«, der nicht nur in Bezug auf den Sprecher, sondern in seiner Inkommensurabilität entworfen werden sollte: 43 Wer den Anderen wahrnehme, könne sich nicht auf vertraute Rahmen beziehen, um den Anderen einzuordnen, sonst wäre er nicht mehr wirklich anders. Und: Ein Ich erfährt sich erst als von Anderen angerufenes. Diese Beziehung geht dem Ich, dem Du, dem Mich, dem Appell, der Anerkennung des anderen selbst voraus. 44 Und der gutmeinenden Intention von Bildbetrachterinnen. Zentral ist bei Lévinas nicht der Appell, ›He Sie da!‹, der Modus des Akustischen, sondern der Begriff des ›Antlitzes‹. »Im Angesicht des Anderen treten wir in eine Beziehung ein, [...] die wir nicht wie einen Gegenstand zu begreifen
40 In drei Kapiteln: Reconnaissance als Identifizieren, als sich selbst Erkennen, schließlich als wechselseitige Anerkennung, vgl. Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 41 Bedorf, Thomas: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie. Bielefeld: transcript 2011, S. 153. 42 Bedorf, Thomas: »Der Dritte als Scharnierfigur. Die Funktion des Dritten in sozialphilosophischer und ethischer Perspektive«, in: Eßlinger, Eva; Schlechtriemen, Tobias; Schweitzer, Doris; Zons Alexander (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 125-136, zitiert Sartre, S. 131. 43 Bedorf: Andere, S. 159. 44 Bedorf: Andere, S. 163. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München: Alber 1992, S. 310f.
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oder beherrschen vermögen.« 45 Das ist keine freiwillige Entscheidung, auch die Form der Beziehung ist nicht einfach wählbar. 46 Hier wäre weiterzudenken, welche Rolle der Blick und das Gesicht für diese Konzeption haben, was letztlich die Rolle der Visualität in der Epistemologie und auch der Ethik betrifft, die ›Objektivität‹ eines Anblicks, das Erkennen von etwas oder jemand, die Reziprozität im Sehen/Gesehenwerden: Sind diese Figuren wesentlich optisch verfasst? 47 Derrida wandte sich nicht der Visualität zu, sondern dem sprachlichen Medium, und er kritisierte an Lévinas, die eigene Verstrickung in die Sprache nicht mitbedacht zu haben wenn man nicht ›über‹ den Anderen sprechen will, und wenn es kaum möglich ist, ohne dass der Andere immer nur der Andere des Selben ist, so muss der Andere neu gedacht werden, nicht als undenkbares Absolutum, sondern als »Differenzierungsprozess eines Selbst ohne ›in sich geschlossene Totalität‹« (ebd., S. 180). Der Andere ist irreduzibel anders, vergleichbar dem Verständnis von Universalität als fortwährender »Arbeit der Uni48 versalisierung«. Man müsste eher von einer »fortwährenden Arbeit mit der Veränderung«, einem immer offenen Prozess von Anerkennen und Unmöglichkeit des Anerkennens ausgehen. Ziemers »verletzbare Orte« wären Bühnen für diese Arbeit. Die Offenheit darin bedeutet Möglichkeitsraum und Freiheit ebenso wie Risiko.
45 Bedorf: Andere, S. 167. 46 Weiterführend (über das »Antlitz« bei Lévinas und Bilder von Al-Quaida) und zur Un/Freiwilligkeit des Angesprochenwerdens: Butler, Judith: »Gefährdetes Leben«, in: Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a. M: Suhrkamp 2005, S. 154178. 47 Bedorf: Andere, S. 167. 48 Zum Problem der Universalität vgl. »Der Einsatz des Friedens. Ein Interview mit Judith Butler von Jill Stauffer (2003)«. In: Butler, Judith; Mohrmann, Judith (Hg.): Krieg und Affekt. Berlin/Zürich: Diaphanes 2009, S. 69-97, hier S. 96.
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b) Der Rahmen und die Lesbarkeit des Antlitzes Durch welche Rahmen/Raster passiert das Anerkennen? Wie ist das Verhältnis von Erkennen und Anerkennen? (Anerkennbarkeit ist nicht eine Eigenschaft oder ein Potential von einzelnen Menschen, behindert oder nichtbehindert.) Das Wahrnehmen ist eine Form der Erkenntnis; auch das bloße Registrieren, die sinnliche Wahrnehmung gehören dazu. »Wie Normen der Anerkennbarkeit den Weg zur Anerkennung ebnen«, so Judith Butler, »so bedingen und erzeugen Schemata der Intelligibilität erst diese Normen der Anerkennbarkeit.« 49 An dieser Stelle wendet sich Butler konkreten Medien, konkreten Bildern zu und fragt mit Blick auf Kriegsfotografie oder die Folterbilder aus Abu Ghraib, welche Rolle deren Rahmungen spielen für die Reflexionsfähigkeit auf die Kontexte der Fotografie, für die Konstitution von Bedeutung. »Zum einen geht es mir um das epistemologische Problem, das sich aus der Rahmung (framing) ergibt: Die Rahmen oder Raster (frames), mittels welcher wir das Leben anderer als zerstört oder beschädigt (und überhaupt als Verlust oder der Beschädigung fähig) wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen, sind politisch mitbestimmt. Sie sind ihrerseits schon das Ergebnis zielgerichteter Verfahren der Macht. Zwar entscheiden sie nicht allein über die Bedingungen der Wahrnehmbarkeit, aber es geht in ihnen doch um die Begrenzung der Sphäre des Erscheinens als solcher.« (Ebd., S. 9)
Der Rahmen legt zwar den Ausschnitt des Zu-Sehen-Gegebenen fest, aber nie ganz, immer wird etwas außerhalb des Rahmens Liegendes erkennbar. Gerade die technische Reproduzierbarkeit und die Zirkulationsfähigkeit des Bildes verändern die Bedeutung des Framing/Rahmens prinzipiell. Die Zirkulationsfähigkeit wird Teil des Bildes, wenn der Rahmen unausweichlich dazu da ist, etwas Zirkulierendes immer wieder in neue Kontexte zu setzen, er sich permanent von seinem Kontext löst. (Ebd., S. 17) Die Zirkulierbarkeit ist nie abgeschlossen, auch diese prinzipielle Offenheit für zukünftige Kontexte destabilisiert eine feste Bedeutungsgebung des Rahmens. Er kann nur dank seiner Reproduzierbarkeit zirkulieren, »[…] und eben diese Reproduzierbarkeit bringt ein strukturelles Risiko für die Identität des Rahmens selbst mit sich. [... Er] funktioniert normativ, kann jedoch, je nach der spezifischen Art seiner Zirkulation, bestimmte Bereiche der Normativität infrage stellen. Sol-
49 Butler: Raster des Krieges, S. 12 und 14.
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che Rahmen strukturieren Anerkennung, ... jedoch sind ihre Grenzen und Bedingtheiten ihrerseits kritisch exponierbar und der Intervention zugänglich.« (Ebd., S. 30)
Eine klassische Form von Repräsentationskritik, die z.B. gegen eine diskriminierende Kontextualisierung von Bildern behinderter Menschen Einspruch erheben würde, bleibt erhalten; 50 weiterhin besteht die Notwendigkeit, Aufklärung und Kritik unangemessener Rahmungen zu betreiben. 51 Butler denkt Rahmungen nicht rein dekonstruktiv (als Derridasche Invaginationen), sondern auch als Gefäße für Inhalte, die instrumentalisierbar sind, Gefühle hervorrufen sollen, Ausschlüsse betreiben, Anerkennbarkeit herstellen (sie folgt also streckenweise durchaus einer Logik von ›vorher und nachher‹, ›innen und außen‹, wenn es um Medialität geht). Raster der Anerkennung, die bestimmte Menschen und Situationen aus der Wahrnehmung ausschließen, sind zu kritisieren. 52 Weitergehend
50 Ausgehend von der Unterscheidung von disability und impairment (Behinderung als Mangel oder soziale Konstruktion) formulierte Ziemer ebenfalls eine Medienkritik. Wenn die Ästhetik fragt, wie kulturelle Vorstellungen vom Körper entstehen, der »fähige Körper« (abled body) nicht nur als falsches quantitatives Ideal beschrieben werden soll, sondern als kulturelles Produkt, dann sucht dieser Shift in der Aufmerksamkeit nicht nach einem zu marginalisierenden Defekt, sondern nach kulturellästhetischen Implikationen, die die Bilder in den Köpfen kreieren. Welche Bilder stehen im Archiv bereit, welche sind prominent, welche abseitig? Welche Narrative des Abnormalen affirmieren die Normalität? Vgl. Ziemer: Verletzbare Orte, S. 118. Entsprechend argumentiert Richard Sandell »[…] gegen das dominante Regime der Repräsentation« (vgl. Sandell, Richard: Museums, Prejudice, and the Reframing of Difference. London/New York: Routlege 2007, S. 130 et passim). Zur aktuellen Bildproduktion vgl. etwa Serlin, David (Hg.): Imagining Illness. Public Health and Visual Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press 2010. Darin ders.: Introduction: Toward a Visual Culture of Public Health. From Broadside to YouTube. xi-xxxvii (Danke für den Hinweis an Mara Mills sowie Karin Harrasser). 51 Butler: Raster des Krieges, S. 97. 52 Ist Verletzbarkeit typisch weiblich? Sabine Hark und Paula-Irene Villa haben für das Heft »Verletzbarkeiten« der Feministischen Studien 2011 ein Interview mit Judith Butler geführt und hartnäckig versucht, nach der Geschlechtsspezifik von Verletzbarkeit zu fragen: »Was genau wäre die geschlechtertheoretische, die darüberhinaus [sic] feministische Pointe einer systematischen Anerkennung von Verletzbarkeit als allgemein-menschliche Bedingung? Läuft Letzteres nicht auf eine eigentümliche Anthropologisierung hinaus, die etwa poststrukturalistische und auch feministische Theorien gerade vermeiden wollen?« (Vgl. Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene: »›Confessing a
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fragt Butler mit Bezug auf Lévinas’ ›Antlitz‹ danach, wie Mitteilbarkeit von Rahmen und Normen entsteht. Bereits in den Adorno-Vorlesungen 2002 kam sie vom Rahmen des Blicks/Gesichts zur Anerkennung. »Wenn mein Antlitz überhaupt lesbar ist, dann nur, weil es in einen visuellen Rahmen eintritt, der die Voraussetzung seiner Lesbarkeit ist. [...] Wenn man, was Lévinas für unausweichlich hält, ethisch auf das Antlitz des Anderen reagiert, dann scheint es, als müsse man jenes erst einmal in die Reihe der menschlichen Antlitze aufnehmen. Zunächst muss es ein Raster für das Menschliche geben, eines, das beliebig viele Variationen als fertige Beispiele umfassen kann. Doch gemessen daran, wie umstritten die visuelle Repräsentation des ›Menschlichen‹ ist, scheint unsere Fähigkeit, auf ein Antlitz als menschliches zu reagieren, von der Vermittlung durch Bezugsrahmen abhängig, die in einem Fall vermenschlichen und im anderen entmenschlichen. Die Möglichkeit einer ethischen Reaktion auf das Antlitz erfordert folglich eine Normativität des visuellen Felds: Es liegt nicht nur bereits ein epistemologischer Rahmen vor, innerhalb dessen das Antlitz erscheint, sondern wir haben es auch hier schon mit einem Machteffekt zu tun [...]«. 53
Hier ist es nicht mehr der Körper, der uns allen gegeben und gemeinsam ist und der irgendwann behindert werden kann oder wird. Keine vorgängige Bewusst-
passionate state...‹ Judith Butler im Interview«, in: »Verletzbarkeiten«, Feministische Studien 2, Jg. 29, Stuttgart: Lucius & Lucius November 2011, S. 196-205, hier S. 196ff). Zunächst gesteht Butler noch eine gewisse ›Feminisierung‹ des Diskurses zu (»This approach takes vunerability and invulnerabilty as political effects, unequally distributed effects of a field of power that acts on and through bodies. And we can see how certain populations are effectively ›feminized‹ by being designated as vulnerable, and others are declared ›masculine‹ through laying claim to impermeability.«); sie besteht darauf, Verletzbarkeit sei keine weibliche Sache was die Interviewerinnen nicht meinten, die eher davor warnen wollten, ein allgemeines anthropologisches Verständnis von Verletzbarkeit als conditio humana könne tatsächlichen, zu bekämpfenden Situationen, die Menschen verletzbar machen, entpolitisieren; dann plädiert sie weiterhin für eine »vulnerability as a somatic dimension of life, that we are normalizing or naturalizing a condition that is historically produced, and that must be challenged through political means.« - Intersektionale Analysen von Geschlecht, disability/impairment, race u.a., ebenso wie Diskussionen um Ableism (mehrdimensionale Verletzbarkeit) nehmen vor: Jacob, Jutta; Köbsell, Swantje; Wollrad, Eske (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht Bielefeld: transcript 2012. 53 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 43.
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seinsarbeit bereitet eine Plattform vor, auf der gleichberechtigte Begegnungen stattfinden könnten. Wer sich begegnet, ist einer Normativität ausgesetzt, die in der Begegnung reproduziert wird und sich darin auch verändern kann. Statt von Begehren ist hier von Macht die Rede 54, statt vom Blicken vom Gesicht. Es geht um die Produktion von Subjektivität und nicht um aktive oder passive Subjekte, um Menschlichkeit statt Menschen. Ein frame gibt mir das Gesicht allererst als ein wahrnehmbares zu sehen. Der Rahmen ist die Möglichkeitsbedingung hierfür, er kann nicht willentlich übersprungen oder intentional für die kommunizierende Gemeinschaft verschoben werden. Auch wenn dieses ›Antlitz‹ kaum mehr für eine Summe einzelner Bilder von Gesichtern stehen kann, sondern einen anderen Status erhalten hat, den des menschlich-ethischen Appellzeichens schlechthin, bleibt im Hinblick auf Bilder nichtnormaler Körper weiterhin die Frage offen, ob deren Anerkennbarkeit weiter an visuelle Erscheinungsformen gebunden bleibt und ob Sichtbarkeit immer erstrebenswert ist. Johanna Schaffer hat die Ambivalenzen des Sichtbarwerdens problematisiert und »Einwände gegen erhöhte Sichtbarkeits-Euphoriken« erhoben wenn sich Hegemonie in ästhetischen Formen konfiguriert, können Repräsentationen etwa von Minoritäten Differenzen verwischen oder Minorisierungen wiederholen; die Taktik müsse daher lauten: »Das visuelle Vokabular der Anerkennung reformulieren«. 55 Die Indikativform des Verbs lässt offen, wer die Agenten solcher Aktionen wären, und deutet eine Unabschließbarkeit dieser Tätigkeit an. Weniger ist ein punctum im Betrachten einer Fotografie zu erwarten, das jähe Gefühl einer Begegnung mit dem Anderen, als ein fortwährendes studium am Anerkennen, das notwendigerweise der Schauplätze und Formen und Rahmen bedarf.
54 Vgl. hierzu weiter: Tremain, Shelley (Hg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2005. 55 Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript 2008, hier S. 51 und S. 111.
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S CHLUSS : D EN ABLED
BODY PROVINZIALISIEREN
Auch mit Lévinas gesprochen, gibt es keine Autonomie, da alle Kommunikation und Wahrnehmung immer vom Anderen her gedacht werden muss. Dieser Andere ist unverfügbar, sonst wäre er kein Anderer; jeglicher Versuch, die Position des Anderen zu bestimmen, muss wie eine Vereinnahmung aussehen. Das gilt auch für solche Andere, die man als Behinderte bezeichnet. Lévinas ›Antlitz‹ beschränkte sich hier nicht auf eine bestimmte Körperregion; eine Formulierung wie »im Angesicht des Anderen« veranschaulicht die existentielle Situation des Gesehenwerdens wie ein Ausgesetztsein. Weniger ein konkretes Gesicht als eine jeweilige unhintergehbare Alterität ist damit adressiert. Gleichzeitig priviliegiert diese Figur, wie oft in der Philosophiegeschichte, den Blick. Auch Ziemers »verletzbare Blicke« sollten im Sehen nur ganze (Selbst-)Wahrnehmungssituationen bündeln. Weder als karitatives Objekt paternalistischer Herablassung noch als Super crip, der heldenhafte (gerade weil versehrte) Übermensch noch als der inkludierte Gleichgemachte: so soll die behinderte Person situiert werden. Handelt es sich in all diesen Betrachtungen letztlich um selbstbezügliche Schlaufen, in denen sich weiße kaumbehinderte akademische Frauen ihrer Menschlichkeit versichern? Drückt sich hier eine differenziertere Form des abled guilt aus (wie ich in Anlehnung an white guilt formulieren möchte)? Entsprechend einer »Autonomie der Migration« wäre auch eine »Autonomie der Behinderung« zu beschreiben 56; dem Writing back der Kolonisierten entspräche das Looking back der fotografierten Behinderten. Wie in den Critical Whiteness Studies gerne zitiert wird: Race does not exist. But it does kill people, so wäre zu reformulieren: Kann sein, dass nicht der Rollstuhlfahrer behindert ist, sondern die Welt, in der er lebt. Aber er kommt trotzdem nicht ins Theater. Von den Postcolonial Studies
56 Die »Autonomie der Migration« will z.B. Flüchtlinge aus der reinen Opferposition in eine Wahrnehmung ihrer Handlungsmacht rücken. Aber die Verallgemeinerbarkeit hierin ist mit Vorsicht zu betrachten: Auf dem Feld der Nicht/Behinderung handelt es sich um Unterschiede, deren Relativität beschränkt ist. Auch wenn es stimmt, dass jede Person durch viele differentielle Dinge bestimmt ist und ein schwarzer Blinder in London ein ›besseres‹ Leben haben mag als ein weißer Sehender in Mogadishu, auch wenn in diese Zusammenstellung selbst schon wieder zahlreiche herablassenden Voraussetzungen eingeschrieben sein können, so sind doch nicht alle Vergleiche gleich. Der Verlust der körperlichen Handlungs-, Bewegungs- oder Genussfähigkeit, die Möglichkeit eines schmerzfreien und weitgehend selbstbestimmten Lebens ist nichts, was durch (Selbst)Definition, Aufklärung oder Handlungswillen eigenmächtig relativiert werden kann.
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zu lernen hieße hier, den abled body zu provinzialisieren. 57 Die hegemoniale Position nicht mehr als einen unsichtbaren Maßstab, an dem sich alles andere zu messen hat, zu affirmieren mit Chakrabarty formuliert: so wie sich Europa einerseits als geografische Position unter anderen (eine Provinz) und gleichzeitig als Maßstab der anderen (als Zentrum der Welt) versteht, also ›provinzialisiert‹ werden muss 58, so wäre jetzt der nichtbehinderte Körper als ein unperfekter unter anderen unperfekten zu betrachten. Kritische Arbeit an hegemonialen Positionen bewegt sich zwischen ihrer eigenen Hegemonialität und einem fortwährenden Appell ihrer Anderen.
57 Für Januar 2013 angekündigt ist allerdings ein Buch, in dem die bekannte postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak einen Text über die Fotografien von Alice Attie schreibt deren Bilder von Harlem auf DuBois’ Beschreibung der doppelten Seele der Schwarzen bezogen werden; Spivak strebt hier eine ›einfühlende Imagination‹ an: »Spivak engages with twenty-four photographs by Alice Attie as she attempts teleopoiesis, which she describes as a reaching toward the distant other through the empathetic power of the imagination. In the hands of Spivak, teleopoiesis is a kind of identity politics in which one disrupts identity as a result of migration or exile.« (Verlagsankündigung, Seagull Books 2012). Teleopoiesis wäre zu vergleichen mit Melody Davis’ Art der Einfühlung. 58 Chakrabarty Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M./New York: Campus 2010. Darin: Europa provinzialisieren: Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, S. 41-65.
Autorinnen und Autoren
Bergermann, Ulrike, Prof. Dr. phil., Professur für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig. Vorher an der Universität Paderborn, der Ruhr-Universität Bochum, dem SFB »Medien und kulturelle Kommunikation« der Universität Köln, Lehraufträge u.a. in Hamburg und Berlin. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Wissenschaftsgeschichte, Gender Studies, Post_koloniale Theorie. Letzte Veröffentlichungen: Postkoloniale Medienwissenschaft. Mobilität und Alterität von Ab/Bildung, in: Reuter, Julia; Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS Verlag 2012, S. 265-279; Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter.͒Herausgegeben mit Otto, Isabell; Schabacher, Gabriele. München: Fink 2010; Programmatische Un-Orte: Comparative Media Studies, in: Paech, Joachim; Mersch Dieter (Hg.): Programm(e) der Medien. Erstes medienwissenschaftliches DFG-Symposium. Berlin: Akademie 2012; Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM. Borsò, Vittoria, Prof. Dr. phil., Inhaberin des Lehrstuhls Romanistik I (Französische, Italienische, Spanische Literaturwissenschaft) an der Heinrich-HeineUniversität, Düsseldorf. Feodor-Lynen-Stipendiatin der Humboldt-Stiftung für Forschungen in den USA; Antragstellerin und stellvertretende Sprecherin des DFG-Graduiertenkolleg 1678 »Materialität und Produktion«. Forschungsschwerpunkte: Biopolitik, Poetik und Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien, Gedächtnis und Differenz, Übergänge zwischen Texträumen und Bildakten. Letzte Veröffentlichungen: Das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft. Mit einer Einleitung von Bernhard Waldenfels. Bielefeld: transcript 2008; Benjamin – Agamben. Politics, Messianism und Kabbalah. (Mitherausgeberin). Würzburg: Königshausen & Neumann 2010; »›Bio-Poetik‹. Das ›Wissen für das Leben‹ in der Literatur und den Künsten«, in: Asholt, Wolfgang; Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm Projekte – Perspektiven. Tübingen: Narr 2010.
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Dederich, Markus, Prof. Dr. phil., Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln; seit 2001 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Behinderte im Nationalsozialismus, Disability Studies, Behinderung, Medizin und Ethik, philosophische Grundlagen der Behindertenpädagogik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Wissenssoziologie und die Frage nach den Zusammenhängen von Behinderung, Gesellschaft und Politik. Letzte Publikationen: Mit Ackermann, Karl-Ernst (Hg.): An Stelle des Anderen. Ein interdisziplinärer Diskurs über Stellvertretung und Behinderung. Oberhausen: Athena 2011; mit Fornefeld, Barbara (Hg.): Menschen mit geistiger Behinderung neu sehen lernen. Europa und Asien im Dialog über Bildung, Integration und Kommunikation. Düsseldorf: Bundesverlag für Körper- und Mehrfachbehinderte 2000; Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007. Grebe, Anna, Doktorandin und wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz, Mitarbeit im Projekt »Filmische Konstruktion von Mindersinnigkeit«; Thema der Dissertation: »Sozio-mediale Konstruktion von Behinderung. Das Fotoarchiv der Stiftung Liebenau«; 2010: Master of Arts in »Literatur – Kunst – Medien«. Forschungsschwerpunkte: Repräsentation von Dis/Ability, Fototheorie, Serialität in Fotografie, Film und Fernsehen, Visual Culture, Biopolitik. Letzte Publikation: Ochsner, Beate; Grebe, Anna; Schimmel, Ursula; Bellina, Larissa: Medien und Disability Studies, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 6, 01/2012. Gottwald, Claudia, Dr. phil., Studienrätin im Hochschuldienst am Lehrstuhl »Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung« an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der TU Dortmund; 2008: Promotion zum Thema »Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung« (transcript 2009). Forschungsschwerpunkte: kulturwissenschaftliche und historische Aspekte von Behinderung (Geschichte, Kultur, Religion), ethische Fragen (Schmerz, Leid, Stellvertretung). Letzte Veröffentlichungen: »Einen Witz zu machen, statt einer zu sein. Vom Wandel des Lachens über Behinderung seit dem 18. Jhd. «. In: CURAVIVA 7-8/2011, S. 40ff; »Ist Behinderung komisch? Lachen über verkörperte Differenz im historischen Wandel«, in: Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld 2010, S. 231ff; zus. mit Dederich, Markus: »Leid, Leiden, Mitleid«, in:
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Jantzen, Wolfgang; Dederich, Markus (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Band 2, Stuttgart 2009, 302ff. Hornuff, Daniel, Dr. phil., Akademischer Mitarbeiter für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG Karlsruhe. Zudem Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung. Magister 2007, Promotion 2009. Lehraufträge in Berlin, Karlsruhe, München, Tübingen, Salzburg und Wien. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Kulturgeschichte der Moderne, Bildwissenschaften, Populärkultur. Letzte Veröffentlichungen: Im Tribunal der Bilder. Politische Interventionen durch Theater und Musikvideo. München: Fink 2011; Bildwissenschaft im Widerstreit. Paderborn: Fink 2012. Link, Jürgen, Prof. Dr. phil. em., Professor für Literaturwissenschaft (und Diskurstheorie) an der Universität Dortmund (seit 2006 a.D.). Forschungsschwerpunkte: struktural-funktionale Interdiskurstheorie, Kollektivsymbolik, Normalismustheorie, literarhistorisch: Lyrik, Hölderlin und die ›andere Klassik‹, Brecht und die ›klassische Moderne‹. Veröffentlichungen (Auswahl): Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München: Fink 1974; Mitherausgeber von: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie. Essen: Klartext 1982ff.; Versuch über den Normalismus. Opladen: Westdeutscher. Verlag 1996. 4. erw. Aufl.. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2008; Roman: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. Oberhausen: Assoverlag 2008 u.v.m. Metzler, Irina, PhD, Fellow der Royal Historical Society, Promotion an der Universität Reading, England, dort und an der Universität Bremen Lehraufträge, z. Zt. ehrenamtliches Forschungsmitglied der Universität Swansea und des Homo-debilis-Projekts der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: interdisziplinäre Erforschung von impairment/disability (Beeinträchtigung/Behinderung) in der mittelalterlichen Kultur und Gesellschaft, Natur- und Tiervorstellungen im Mittelalter. Veröffentlichungen (Auswahl): Disability in Medieval Europe: Thinking about Physical Impairment During the High Middle Ages, c.1100-1400. London/New York: Routledge 2006; »Perceptions of Deafness in the Central Middle Ages«, in: Nolte Cordula (Hg.): Homo debilis. Behinderte Kranke - Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Korb: Didymos-Verlag 2009, S. 79-98; »Disability in the Middle Ages: Impairment at the intersection of historical inquiry and disability studies«, Online-Artikel im Auftrag des Blackwell History Compass 2010.
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Mürner, Christian, Dr. phil., freier Autor und Behindertenpädagoge. Lehraufträge an der Uni Innsbruck (Integrationspädagogik) und an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Themenschwerpunkte: Behinderung, Ethik, Literatur, Kunst, Medien. Letzte Veröffentlichungen: Medien- und Kulturgeschichte behinderte Menschen. Weinheim: Beltz 2003; Erfundene Behinderungen. NeuUlm: AG SPAK 2010. Ochsner, Beate, Prof. Dr. phil., Professur für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Basel und St. Gallen. Forschungsschwerpunkte: Audiovisuelle Produktion von Dis/Ability, Monster und Monstrositäten, Intermedialität, Hybridisierung, junges deutsches Kino, Visual Studies. Letzte Veröffentlichungen: »Von intermedialer Konvergenz zu produsage oder: Die neue Partizipationskultur im Musikvideo«, in: EliaBorer, Nadja; Sieber, Samuel; Tholen, Georg Christoph (Hg): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien. Bielefeld: transcript 2011, S. 183-208; DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie. München: Synchron 2010; Visuelle Subversionen. Zur Inszenierung monströser Körper im Bild, in: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung (http://image-online.de), Nr. 9 (Ausgabe Januar 2009). Osten, Philipp, Dr. med., ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Patientengeschichte, Geschichte des Schlafs, Fürsorgepolitik und medizinische Propaganda, Fotografie und Film als Vermittler medizinischer Propaganda, Geschichte der Orthopädie und ihrer Patienten, Medizin im Nationalsozialismus, Krankenhausgeschichte. Publikationen (Auswahl): Patientendokumente . Krankheit in Selbstzeugnissen (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 35). Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag 2010; als Herausgeber: Mabuse und Co. Ein Kabinett kluger Köpfe. Frankfurt: Mabuse 2005; Die Modellanstalt. Über den Aufbau einer modernen Krüppelfürsorge, 1905-1933. Frankfurt: Mabuse 2004. Regener, Susanne, Prof. Dr. phil., Professorin für Mediengeschichte/Visuelle Kultur an der Universität Siegen und Adjunct Professor for Cultural Studies at University of Copenhagen. Forschungsschwerpunkte: Visualisierungsgeschichte von Kriminellen, Kranken, Marginalisierten in Europa in Wissenschaft, Populärkultur und Kunst. Kultur, Ästhetik und Praxis von Amateuren in Geschichte und Gegenwart. Aktuelle Publikationen: Mit Katrin Köppert: Öffentlich/privat: Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität. Wien/Berlin: Turia+Kant 2012; Visu-
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elle Gewalt – Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2010. www.mediengeschichte.uni-siegen.de, www.medienamateure.uni-siegen.de. Renggli, Cornelia, freie Kulturwissenschaftlerin, Co-Leiterin des Forums Disability Studies für transdisziplinäre Projekte, Doktorandin an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Behinderung, Bild, Medien, Methoden, Museum. Letzte Veröffentlichungen: »Behinderung und das Unterscheiden«. In: Crip Magazine 1 20/2012; mit Erich Otto Graf und Jan Weisser (Hg.): Puls – DruckSache aus der Behindertenbewegung. Materialien für die Wiederaneignung einer Geschichte. Zürich 2011; David gegen Goliath. Behinderung im Mediensport, in: Aster, Felix; Jäger, Jens; Sicks, Kai; Stauff, Markus (Hg.): Mediensport. Strategien der Grenzziehung. München: Fink 2009, S. 183-201. Schmidt, Gunnar, Prof. Dr. phil., Professor an der FH Trier für das Lehrgebiet »Theorie und Praxis des Intermedialen«. Vertretungsprofessuren und Lehraufträge an den Universitäten Hamburg, Dortmund, Siegen sowie an der Folkwang Hochschule Essen. Forschungsschwerpunkte: Medienästhetik, Intermedialitätsforschung zwischen Kunst- und Populärmedien, kulturelle Affektologie. Letzte Veröffentlichungen: Weiche Displays. Projektionen auf Rauch, Wolken und Nebel, Wagenbach Verlag, Berlin 2011; Visualisierungen des Ereignisses. Medienästhetische Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand. Bielefeld: transcript 2009. URL: www.medienaesthetik.de. Schillmeier, Michael, PhD, lehrt prozessorientierte Soziologie, Science & Technology Studies (STS), Disability Studies und empirische Philosophie am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist Schumpeter-Fellow der Volkswagenstiftung und leitet die Nachwuchsforschergruppe »Innovationen in der Nanomedizin«. Veröffentlichungen: mit Joanna Latimer (Hg.): »Un/knowing Bodies«. Malden/Oxford, Blackwell 2009; mit Miquel Domènech (Hg.): »New Technologies and Emerging Spaces of Care«. Aldershot: Ashgate 2010; mit Eleoma Joshua (Hg.): »Disability in German Literature, Film, and Theater«. New York: Camden House 2010; »Rethinking Disability: Bodies, Senses and Things«. London/New York: Routledge 2010.
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Elsbeth Bösl Politiken der Normalisierung Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 406 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1267-7
Elsbeth Bösl, Anne Klein, Anne Waldschmidt (Hg.) Disability History Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung 2010, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1361-2
Markus Dederich Körper, Kultur und Behinderung Eine Einführung in die Disability Studies 2007, 208 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-641-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Lisa Pfahl Techniken der Behinderung Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien 2011, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1532-6
Tobin Siebers Zerbrochene Schönheit Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung 2009, 130 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1132-8
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld 2007, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-486-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de