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German Pages 475 [476] Year 2007
de Gruyter Studienbuch Dieter Birnbacher Analytische Einführung in die Ethik
Dieter Birnbacher
Analytische Einführung in die Ethik
2., durchgesehene und erweiterte Auflage
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019442-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Vorwort zur 2. Auflage Die erfreulicherweise notwendig gewordene Neuauflage hat mir Gelegenheit gegeben, eine Reihe von Schreibfehlern zu berichtigen und ein vielfach als Desiderat empfundenes Sachregister anzufügen. Auf inhaltliche Änderungen habe ich auch da verzichtet, wo mir die kritischen Bemerkungen von Kollegen einleuchten. Sie bleiben einer eventuellen späteren Auflage vorbehalten. Düsseldorf, im Dezember 2006
Dieter Birnbacher
Vorwort Jedes Buch hat seine geheimen Vorbilder. Die Vorbilder dieses Buchs haben mich bereits in der Studienzeit beeindruckt: Richard B. Brandts „Ethical Theory" (1959) und William K. Frankenas „Ethics" (1963, dt. „Analytische Ethik" 1972). Die vorliegende Einführung will und kann es mit beiden Büchern nicht aufnehmen - weder mit der enzyklopädischen Materialfülle des ersteren noch mit der Dichte und Kristallklarheit des letzteren. Die Ziele, von denen es sich leiten lässt, sind jedoch im wesentlichen dieselben: die Hauptfragestellungen der Moralphilosophie und die historischen und zeitgenössischen Ansätze zu ihrer Beantwortung in einem „analytischen" Geist vorzustellen, d. h. unter weitestmöglichem Rückgriff auf systematische Begriffsklärungen, begriffliche Unterscheidungen und die Analyse philosophischer Probleme von der Analyse der sprachlichen Mittel her, mit denen sie formuliert sind. Anders, als es die Kennzeichnung „analytisch" erwarten lässt, stehen allerdings Fragen der Metaethik und speziell der Analyse der Sprache der Moral nicht im Mittelpunkt. Vielmehr liegt das Hauptgewicht - ebenso wie in den Einführungen der beiden Michigan-Ethiker - auf den Fragen der normativen Ethik. Damit dürfte es den Anforderungen von universitären Einführungskursen insgesamt mehr entgegenkommen als durch eine Konzentration auf die metaethischen Fragen, die bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein Hauptgegenstand analytischer Untersuchungen waren. Dass die Auswahl der Themen, das ihnen zugestandene Gewicht, aber auch ihre konkrete Behandlung in hohem Maße die theoretischen Vorlieben ihres Autors widerspiegeln, ist dabei mehr oder weniger unvermeidlich. Mir ist bewusst, dass ich in dieser Hinsicht gelegentlich sehr weit gegangen bin. Viele in den Text eingeflossene Urteile werden einigen Lesern übermäßig dezidiert erscheinen. Aber wenn die eine oder andere Stellungnahme den
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Vorwort
Leser zum Widerspruch reizt - um so besser. Philosophie - und erst recht Moralphilosophie - ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Kritik, Widerspruch und Auseinandersetzung sind ihr Lebenselement. Wenn es den Leser zu aktiver und rationaler Auseinandersetzung mit ihm - und damit den zentralen Fragen der Ethik - herausfordert, hat dieses Buch eines seiner wichtigsten Ziele erreicht. Dem Leser wird nicht entgehen, dass die einzelnen Kapitel, auch wenn sie jeweils für sich gelesen werden können, systematisch aufeinander aufbauen. Das erste Kapitel stellt zunächst die Grundlagen bereit: Der Begriff der Moral wird erläutert und gegen die Begriffe anderweitiger sozialer Normensysteme abgegrenzt sowie die Aufgaben der Ethik als philosophischer Disziplin näher bestimmt. Die vier folgenden Kapitel stellen jeweils die wichtigsten Varianten der normativen Ethik vor - in der Reihenfolge des Ausmaßes, in dem sie sich inhaltlich festlegen: die rekonstruktive Ethik, die die in der Gesellschaft ausdrücklich oder unausdrücklich anerkannten moralischen Normen beschreibt und systematisiert, ohne sie von einem übergeordneten Standpunkt aus zu bestätigen oder kritisch in Frage zu stellen; die Verfahrensethik, die unter Verzicht auf die Festlegung inhaltlicher Normen bestimmte Prozeduren angibt, die bei der Normfindung und Normendiskussion eingehalten werden sollen; schließlich die beiden Hauptvarianten inhaltlich gehaltvoller Ethiken, die deontologische und die konsequenzialistische Ethik. Diese Kapitel konzentrieren sich zunächst auf den Normgehalt der dargestellten Ethiken, also auf die Antworten, die diese Theorien auf die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln geben. Das richtige Handeln ist allerdings nicht das einzige Thema der Ethik. Daneben geht es ihr auch um die Werte, die durch richtiges Handeln verwirklicht werden, und um den Wert der dem richtigen Handeln zugrunde liegenden Motive. Diese Themen werden in den Kapiteln 6 und 7 aufgegriffen. Kapitel 6 versucht, die Vielfalt der in der Geschichte der Ethik entwickelten Güterlehren in eine systemati-
Vorwort
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sehe Ordnung zu bringen, ohne allerdings die Vielgestaltigkeit der gerade in den letzten Jahren wieder zu Ehren gekommenen Philosophien des guten Lebens ausschöpfen zu können. Kapitel 7 stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen moralischen Überzeugungen, moralischen Motiven und moralischem Handeln und stellt dabei die seit den Anfängen der Ethik umstrittene Frage in den Mittelpunkt, ob es andere als egoistische Motive für die Befolgung moralischer Normen gibt oder geben kann, und wenn ja, von welchen Bedingungen solche Motive abhängen. Von Kapitel 8 an treten metaethische Fragen in den Vordergrund, wobei auch hier wieder Wert darauf gelegt worden ist, das Gebiet der Metaethik nach den jeweils zentralen Fragestellungen aufzugliedern. Kapitel 8 gibt einen skizzenhaften Überblick über die Hauptrichtungen des Kernstücks der Metaethik, der Analyse der moralischen Sprache, Kapitel 9 einen analogen Überblick über die Antwortmöglichkeiten auf die Frage, ob es so etwas wie moralische Wahrheit und moralisches Wissen gibt oder geben kann und aus welchen Quellen diese möglicherweise zu gewinnen sind. Das abschließende Kapitel 10 versucht zu zeigen, dass auch dann, wenn man die Möglichkeiten moralischen Wissens skeptisch einschätzt, die Inhalte der Moral nicht schlicht der Willkür persönlicher Entscheidungen überlassen werden müssen. Auch wenn das, was wir sollen, zu einem gewissen Teil von dem abhängt, was wir wollen, lassen sich doch eine Reihe von Rahmenbedingungen plausibel machen, denen alle Normen genügen müssen, die wir - aus Eigeninteresse oder aus moralischen Gründen - allgemein anerkannt und befolgt sehen wollen. Düsseldorf, im Januar 2003
Dieter Birnbacher
Inhaltsverzeichnis 1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik 1.1 Ethik und Moral 1.1.1 Antike und moderne Ethik 1.1.2 D er Standpunkt der Ethik - der Standpunkt der Moral 1.2 WasistMoral? l .3 Kennzeichen moralischer Urteile 1.3.1 Handlungsbezug 1.3.2 Kategorizität 1.3.3 Anspruch auf Allgemeingültigkeit 1.3.4 Universalisierbarkeit l .4 Moralische und moralrelevante Urteile l .5 Moralische und andere Wertungen 1.6 Die Aufgaben der Ethik 2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik 2. l Ethik als „Grammatik der Moral" 2.2 Rekonstruktive Ethik: Beispiele 2.3 Grenzen der rekonstruktiven Ethik 2.4 Moderne rekonstruktive Ethik: Principlism und Bernard Gerts zehn „moralische Regeln"
3. Verfahrensethik 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3
Formen der Verfahrensethik Kasuistische Verfahren Kohärenztheorien Konsenstheorien Verfahrensethiken ohne Verfahren Gewissensethik Situationsethik Dezisionismus
l l 3 4 7 8 12 20 24 31 43 51 57
64 64 67 73 77
84 84 90 92 99 105 105 107 108
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Inhaltsverzeichnis
4. Deontologische Ethik 113 4.1 Was heißt „deontologisch"? 113 4.1.1 Zwei fundamental verschiedene Sichtweisen .. 119 4.1.2 Wie trennscharf ist die Unterscheidung zwischen deontologischer und konsequenzialistischer Ethik? 122 4.1.3 Absolute Pflichten - absolute Rechte: ein Privileg der deontologischen Ethik? 128 4.2 Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus 133 4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus 136 1.3.l Kants Kategorischer Imperativ 136 4.3.2 Das hypothetische Verallgemeinerungsprinzip von M. G. Singer 154 4.4 Prinzipienpluralismus 158 4.4.1 Weisen der Rangabstufung von Prinzipien— 163 4.4.2 Die Lösung moralischer Konflikte aus monistischer und pluralistischer Sicht 170 5. Konsequenzialistische Ethik 173 5.1 Was ist Konsequenzialismus? 173 5.1.1 Was wird in konsequenzialistischen Ethiken unter den „Folgen" einer Handlungen verstanden? 176 5.1.2 Welche Arten von Folgen sind für die Handlungsbeurteilung relevant? 177 5.1.3 Nach welchen Maßstäben werden die relevanten Folgen bewertet? 186 5. l .4 Wie gehen die Folgenbewertungen in die Handlungsbeurteilung ein? 188 5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien .... 194 5.2. l Anforderungen an Sekundärprinzipien 199 5.2.2 Einige Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien — 209
Inhaltsverzeichnis
XI11
5.2.3 Drei Interpretationen von Sekundärprinzipien: Handlungskonsequenzialismus, indirekter Konsequenzialismus und Regelkonsequenzialismus 211 5.3 Der Utilitarismus 217 5.3.1 Varianten des Utilitarismus: Nutzensummenutilitarismus versus Durchschnittsnutzenutilitarismus 221 5.3.2 Glücks- versus Präferenzutilitarismus 224 5.3.3 Kritikpunkte am Utilitarismus und Revisionsvorschläge 229
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
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6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte 242 6.1.1 Intrinsische und extrinsische nicht-moralische Werte 242 6.1.2 Monistische und pluralistische Axiologien — 243 6.1.3 Singularistische, partikularistische und universalistische Axiologien 245 6.1.4 Aggregations- und Strukturtheorien nicht-moralischen Werts 248 6.2 Subjektivistische versus objektivistische Axiologien 251 6.3 Der Hedonismus 253 6.3.1 Subjektivistische Kritik am Hedonismus: Bewertungssouveränität des Subjekts 259 6.3.2 Objektivistische Kritik am Hedonismus: Glücksgütertheorien 263 6.4 Andere objektivistische Axiologien 267 6.4.1 Menschliches Leben als intrinsischer Wert 268 6.4.2 Erkenntniswerte 271 6.4.3 Kosmische und Naturwerte 273
7. Moralische Motivation und moralischer Wert 7.1
279
Moralischer versus nicht-moralischer Wert ... 279
XIV
7.2 7.3 7.4 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3 7.6.4 7.7
Inhaltsverzeichnis
Eigentliche und uneigentliche moralische Motive 281 Moralischer Wert und moralisches Handeln .. 285 Moralische Überzeugungen, moralische Motive und moralisches Handeln 289 Tugend und Tugendethik 295 Moralische, soziale und andere Tugenden 295 Woher kommen Tugenden? 298 Tugendethik 302 Gesinnungsethik 306 Die Herausforderung des psychologischen Egoismus 312 Egoismus und Altruismus 312 Varianten des psychologischen Egoismus 317 Die Rolle von Sanktionen 323 Egoistische Gründe für die Moral 326 Der ethische Egoismus 331
8. Die Sprache der Moral 335 8.1 Drei Konzeptionen der Bedeutung moralischer Urteile: Deskriptivismus, Emotivismus, Präskriptivismus 335 8.2 Deskriptivismus: Modelle der Objektivierung moralischer Urteile 337 8.3 Emotivismus 344 8.4 Präskriptivismus 348 9. Gibt es moralisches Wissen? 354 9.1 Gibt es moralische Wahrheit? Der ethische Realismus 357 9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik 360 9.3 Andere Formen des metaethischen Naturalismus 369
Inhaltsverzeichnis
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9.3.1 Konsens und Kohärenz als Quellen moralischer Wahrheit 369 9.3.2 Starke religiöse Moralbegründung 371 9.3.3 Schwache religiöse Moralbegründung 374 9.4 Der Intuitionismus 381 9.4.1 Intuitionen und Intuitionismus 381 9.4.2 Missverständnisse des ethischen Intuitionismus 385 9.4.3 Kritik am Intuitionismus 389 9.5 Der ethische Relativismus 397 9.6 Zwischen Realismus und Relativismus: die Minimalethik 398 10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch 10.1 Universalisierungsprinzip 10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch 10.2.1 Unparteilichkeit 10.2.2 Umfassende Interessenberücksichtigung 10.3 Kohärenz
406 409 411 413 417 424
Glossar
427
Literaturnachweise
442
Namenregister
453
Sachregister
457
1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik 1.1 Ethik und Moral „Ethik" und „Moral" sind von ihrer Wortgeschichte mehr oder weniger gleichbedeutend. Das griechische „ethos" und das lateinische „mos", aus dem sich die Ausdrücke herleiten, bedeuten jeweils soviel wie Sitte, Gewohnheit, Üblichkeit. Auch in der deutschen Gegenwartssprache werden Ethik und Moral vielfach austauschbar gebraucht. In vielen gesellschaftlichen Bereichen wird dem Ausdruck „Moral" - u. a. wegen der ihm immer noch anhängenden Assoziationen moralistischer Engherzigkeit - das weniger streng klingende „Ethik" vorgezogen, so etwa im Bereich der Wirtschaft, wo es „Unternehmensethik" und „ethische Anlagefonds" gibt, aber keine „Unternehmensmoral" oder „moralische Fonds". Die Ersetzung des Ausdrucks „moralisch" durch den Ausdruck „ethisch" kann dabei an einen älteren und insbesondere in bestimmten Professionen seit längerem üblichen Sprachgebrauch anschließen. Ärzte z. B. sprechen schon immer von „unethisch", wenn sie ein bestimmtes ärztliches Verhalten als verwerflich oder unzulässig bezeichnen wollen - auch dann, wenn sich dieses Urteil nicht auf eine bestimmte kodifizierte „ärztliche Ethik" oder ein bestimmtes informelles „ärztliches Ethos" bezieht. Auch „Ethikkommissionen" und „Ethikkomitees" verdanken ihren Namen der Tatsache, daß sie sich - unter anderem - den durch bestimmte Forschungen, Behandlungen oder professionelle Verhaltensweisen aufgeworfenen moralischen Fragen widmen. Ethikkommissionen sind beauftragt, die Einhaltung moralischer und rechtlicher Grenzen, z. B. bei Versuchen am Menschen, zu überwachen bzw. grundlegende Urteile darüber abzugeben, welche Anwendungen von Wissenschaft und Technik als moralisch zulässig oder unzulässig gelten sollen. Ethikkomitees sollen Ärzten und anderen professionellen Akteuren in
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
konkreten Entscheidungssituationen beratend zur Seite stehen, in denen es darum geht, für einen strittigen oder unklaren Problemfall nicht nur eine sachlich, sondern auch eine moralisch richtige, angemessene oder akzeptable Lösung zu finden. Im Gegensatz dazu hat es sich innerhalb der Philosophie eingebürgert, Ethik und Moral klar voneinander zu unterscheiden. Zwar wird diese Unterscheidung nicht von allen Moralphilosophen in derselben Weise getroffen.1 Aber ganz überwiegend wird zwischen „Ethik" und „Moral" so unterschieden, dass „Ethik" als die philosophische Theorie der Moral gilt, „Moral" dagegen als das komplexe und vielschichtige System der Regeln, Normen und Wertmaßstäbe, das den Gegenstand der Ethik ausmacht. „Ethik" ist danach bedeutungsgleich mit „Moralphilosophie". Sie operiert gegenüber der Ebene der Moral auf einer Metaebene und verhält sich zur Moral ähnlich wie die Rechtsphilosophie zum Recht oder die Religionsphilosophie zur Religion. Auch wenn sie mit ihrem Gegenstand, der Moral, in vielfältiger Weise in Wechselwirkung steht - z. B. so, dass sie bestimmte Moralnormen postuliert oder kritisiert und damit direkt oder indirekt in die Entwicklung der Moral eingreift -, so tut sie dies doch von einem übergeordneten Standpunkt aus. Das „Sprachspiel" der Ethik oder Moralphilosophie ist nicht schlicht identisch mit dem „Sprachspiel" der Moral. Vielmehr ist die Ethik ein theoretisches und speziell philosophisches Meta-Sprachspiel, das eigenen Regeln gehorcht. Die Rolle des Ethikers oder Moralphilosophen besteht nicht primär darin, das Sprachspiel der Moral selbst zu spielen, d. h. den Regeln dieses Sprachspiels gemäß zu urteilen und zu bewerten, sondern primär darin, das Sprachspiel der Moral von einem außerHabermas und einige seiner Schüler etwa verwenden „Ethik" für Fragen der individuellen Lebensführung und des guten Lebens (also für den Bereich, der traditionell Individualethik genannt wird), „Moral" für die Normen des sozialen Zusammenlebens und der Gerechtigkeit.
1.1 Ethik und Moral
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halb des Sprachspiels gelegenen Standpunkt zu beschreiben, zu analysieren und möglicherweise zu begründen. Auch wenn man von dem Ethiker erwarten darf, dass er für die Moral ein besonderes Maß an Verständnis hat und mit dem Sprachspiel der Moral in besonderer Weise vertraut ist, so ist er dennoch nicht eo ipso in besonderer Weise „moralisch" im Sinne von prinzipienfest oder gewissenhaft. Der Ethiker ist ebensowenig per se moralisch wie der Religionsphilosoph religiös - auch wenn die Erfahrung zeigt, dass sich nur wenige, die nicht bereits von vornherein eine Neigung zur Sache haben, sich intensiver auf sie einlassen.
1.1.1 Antike und moderne Ethik Die Definition der Ethik als Philosophie der Moral greift allerdings in einer bestimmten Hinsicht zu kurz: Sie bezieht sich eher auf die nachantiken und insbesondere die neuzeitlichen Theorien der Ethik als auf die Ethik der Antike. Die Ethik der Antike ist vielfach keine Theorie der Moral (und will es auch gar nicht sein), sondern eine Theorie der Lebenskunst. Vielen Ethiksystemen der Antike fehlen zwei Merkmale, die für den neuzeitlichen Moralbegriff, mit dem die Ethik auch heute noch im wesentlichen arbeitet, charakteristisch sind: der Primat des Sozialen gegenüber dem Individuellen und der Bezug auf moralische Pflichten. Viele antike Ethiken - aber auch einige moderne Ethiken, die sich an der antiken Ethik orientieren, etwa die Spinozas - stellen die Frage nach dem individuellen guten Leben ganz in den Vordergrund und geben eher „Anweisungen zum seligen Leben" als Anweisungen zur Gestaltung der Sozialmoral. Sie sind primär Individualethiken und nur sekundär Sozialethiken. Und anders als viele moderne Systeme der Individualethik, die Anweisungen zum guten und richtigen Leben geben, fassen sie diese Anweisungen nicht als Pflichtprinzipien auf, also etwa als „Pflichten gegenüber sich selbst",
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
sondern als Ratschläge und Empfehlungen. Die Ethik hat gewissermaßen den Zeigefinger noch nicht erhoben. Sie versteht sich nicht als Ermahnung, die an Gewissen und Pflichtbewusstsein appelliert, sondern als Beratungsinstanz, die sich an ein von Anfang an unterstelltes Interesse am guten Leben wendet. Wenn etwa Epikur in seinem berühmten Brief an Menoikeus (Epikur 1962) dem Individuum empfiehlt, sein Leben der Philosophie zu widmen, so wird damit zwar eine gewisse Werthierarchie postuliert (die z. B. die Überlegenheit des kontemplativen gegenüber dem aktiven Leben beinhaltet), nicht aber so etwas wie eine „Pflicht gegenüber sich selbst". Dem Individuum wird keine moralische Verpflichtung auferlegt, sondern ihm wird ein Weg zu dem gewiesen, was es von sich aus will (nämlich gut zu leben), bzw. ein Ideal vor Augen gehalten, dem es nachfolgen kann, aber nicht muss. Wenn dieserart „Weisheitslehren" gemeinhin dennoch als „ethische" Lehren gelten, dann deswegen, weil sie sich wie die Moralphilosophie auf eine sehr allgemeine und grundlegende Weise auf die Praxis der Lebensführung beziehen. Auch wenn ihr Gegenstand nicht die Moral im spezifisch modernen (und noch zu erläuternden) Sinne ist, sind die Regeln der Lebensführung, auf die sie sich beziehen, moralischen Regeln doch hinreichend verwandt, um auch sie der Ethik zuzurechnen.
1.1.2 Der Standpunkt der Ethik - der Standpunkt der Moral Der Standpunkt der Ethik als philosophischer Theorie der Moral ist nicht identisch mit dem oder einem bestimmten moralischen Standpunkt. Charakteristisch für sie ist vielmehr, dass sie sich sowohl zu den in einer Gesellschaft akzeptierten moralischen „Selbstverständlichkeiten" als auch zu den von dem jeweiligen individuellen Moralphilosophen als Teilnehmer am moralischen Sprachspiel vertretenen moralischen Grundsätzen
1.1 Ethik und Moral
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in ein distanziert-reflektierendes Verhältnis setzt. Insofern darf der Standpunkt des Ethikers nicht mit dem Standpunkt des Moralisten verwechselt werden. Dieser will andere dazu bringen, bestimmte von ihm selbst vertretene moralische Auffassungen zu übernehmen bzw. (falls die anderen diese bereits akzeptieren) sich ihnen gemäß zu verhalten. Der Ethiker auf der anderen Seite versucht der Moral gegenüber - zumindest der Tendenz nach - einen „Ewigkeitsstandpunkt", einen Standpunkt sub specie aeternitatis jenseits der verschiedenen konkreten Moralen einzunehmen, von dem aus er sich mit Moralisten ganz unterschiedlicher Orientierung verständigen kann. Idealtypisch ist der Standpunkt der Ethik theorieorientiert, der Standpunkt der Moral praxisorientiert. Moralische Kontroversen haben nicht nur praktische Orientierungen und Strategien zum Gegenstand, sondern stehen auch typischerweise in engem Zusammenhang mit praktischen, d. h. handlungsbezogenen Entscheidungen. Ethische Debatten dagegen sind weitgehend handlungs- und entscheidungsentlastet. Auch wenn sie durch praktische Probleme und Kontroversen veranlasst und motiviert sind, zielen ihre Überlegungen nur selten auf eine unmittelbare praktisch-politische Umsetzung. Das distanzierte Verhältnis der Ethik zur Moral hat noch einen weiteren Aspekt: Als philosophisches Unternehmen ist die Ethik in höherem Maße an methodischen Idealen wie Rationalität, Kohärenz und Systematizität orientiert und bringt diese nicht nur gegenüber ihren eigenen Theorieentwürfen, sondern typischerweise auch gegenüber der jeweils zum Gegenstand gemachten Moral zur Geltung. Deshalb distanziert sie sich in besonderer und über das allgemein distanzierte Verhältnis zur Moral hinausgehender Weise von denjenigen Zügen der Moral, die diesen Idealen nicht entsprechen. Ihnen gegenüber nimmt sie nicht nur einen analytisch distanzierten, sondern auch einen kritisch-hinterfragenden Standpunkt ein. Im Hinblick auf das Ideal der Rationalität verhält sie sich kritisch zur Annahme unbegründeter Autoritäten und zur unbefragten Übernahme
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
von Tradition und Sitte. Im Hinblick auf das Ideal der Kohärenz und Systematizität verhält sie sich kritisch zu moralischen Normensystemen, die in sich widersprüchlich sind oder sich aus krass heterogenen Elementen zusammensetzen. Auch wenn die Ethik hinsichtlich der Inhalte der Moral, die sie bejaht oder verwirft, nicht festgelegt ist und frei ist, sich zu der in ihrer jeweiligen Gesellschaft geltenden Moral affirmativ oder kritisch zu verhalten, ist sie ihren eigenen intellektuellen Normen - gewissermaßen ihrer eigenen Moral - unterworfen. Diese ist allerdings rein formal und minimalistisch und umfasst ausschließlich Forderungen, die für jede Theorie und nicht nur für ethische Theorien charakteristisch sind. Aus beiden Gründen - der allgemeinen Distanzierung von den in einer Gesellschaft faktisch geltenden Normen und der speziellen Distanzierung von unkritisch übernommenen Autoritäten - ist die Möglichkeit, Ethik als philosophische Theorie zu betreiben, abhängig von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Die für die Ethik charakteristische Distanziertheit der Reflexion erfordert von der Gesellschaft ein gewisses Maß an Offenheit und Toleranz gegenüber Kritik und Infragestellung. Insofern hat in totalitären Staaten, in fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften, in Gesellschaften mit ideologischem Fundament, aber auch in Gesellschaften mit ausgeprägter political correctness eine philosophische Ethik zwangsläufig einen schweren Stand. Sie hat kaum genug Spielraum, um ihrem Geschäft mit der nötigen Unabhängigkeit nachzugehen. Ethik und Gesellschaft stehen insofern vielfach in einem alles andere als harmonischen Verhältnis. Je „geschlossener" und dogmatisch verhärteter eine Gesellschaft, desto mehr wird sie für den Ethiker zum Risiko - die Kehrseite der Tatsache, dass der Ethiker seinerseits für die Gesellschaft zum Risiko werden kann. Schließlich wurde nur deshalb die athenische Gesellschaft für Sokrates zum Risiko, weil er - in ihren Augen - für sie zum Risiko wurde.
1.2 Was ist Moral?
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1.2 Was ist Moral? Die Moral ist nicht der einzige, aber der Hauptgegenstand der Ethik. Es sollte deshalb geklärt werden, was die Moral ausmacht und wie sie sich von verwandten Beurteilungs- und Orientierungssystemen unterscheidet. Wir werden dabei zunächst vom alltagssprachlichen Moralbegriff ausgehen und diesen dann schrittweise präzisieren und für die weiteren Überlegungen fixieren. Nach dem Alltagssprachgebrauch gibt es nicht nur eine Moral, sondern eine Vielzahl von Moralen, die sich verschiedenen Gesellschaften und Kulturen und verschiedenen Zeitaltern zuordnen lassen. „Moral" ist insofern zunächst ein im weitesten Sinne soziologischer Begriff. Ähnlich wie das in einer Gesellschaft geltende Rechtssystem ist die Moral ein komplexes Ganzes aus teils kollektiv geteilten, teils individuellen und gruppenspezifisch ausdifferenzierten Überzeugungen über richtiges Handeln und ihnen entsprechenden Forderungen. Das Individuum erlebt dieses System zunächst als etwas objektiv Vorgegebenes, das ihm im Prozess der Sozialisation und in vielen Formen sozialer Interaktion begegnet: Moral tritt ihm gegenüber als „objektiver Geist". Zu diesem objektiv Vorgegebenen gehören neben den moralischen Überzeugungen und Forderungen vor allem auch die gesellschaftlichen Institutionen, die moralische Normen, Ideale und Wertvorstellungen setzen, bekräftigen oder sanktionieren: die Eltern, das soziale Umfeld, die Schule, das Rechtssystem, die Medien sowie Politiker und andere herausgehobene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Neben dieser äußerlich-gesellschaftlichen Seite hat die Moral für das Individuum aber zugleich eine „Innenseite". Die Moral vermag ihre gesellschaftliche Rolle nur deshalb zu spielen, weil die einzelnen Individuen die von ihnen nach außen hin vertretene Moral überwiegend auch innerlich bejahen. Die Individuen haben moralische Überzeugungen und Forderun-
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
gen soweit „verinnerlicht", dass sich diese mit zum Teil höchst intensiven Emotionen verbunden haben - moralischen Emotionen wie Schuldgefühlen, Gerechtigkeitsgefühl, Empörung und moralischer Hochachtung. Eine lediglich äußerlich bekundete Moral wäre nicht mehr als eine Scheinmoral. Wir sprechen erst dann davon, dass in einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe bestimmte moralische Normen gelten, wenn diese von der überwiegenden Zahl der Individuen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich anerkannt werden und Ausdruck ihrer authentischen Überzeugungen sind. Insofern unterscheidet sich die Moral auffällig vom Recht. Für das in einer Gesellschaft geltende Recht sind die subjektiven Faktoren weitaus weniger bedeutsam als für die in einer Gesellschaft geltende Moral. Um sagen zu können, dass in einer Gesellschaft ein bestimmtes Rechtssystem gilt, reicht es aus, dass es von einer herrschenden Minderheit innerhalb der Gesellschaft anerkannt wird. Es gilt kraft der beherrschenden Stellung dieser Minderheit auch für die Mehrheit, die ihm nolens volens unterworfen ist. Ein Moralsystem gilt dagegen nur insoweit, als es von den ihm Unterworfenen jeweils individuell und aus freien Stücken anerkannt wird. Deshalb gibt es in der Moral keine Fremdherrschaft und keine Tyrannei im wörtlichen Sinne. Eine Befreiung von moralischen Normen, die man als fremdbestimmt und aufgenötigt empfindet, ist niemals nur die Befreiung von Fremdherrschaft, sondern immer auch ein Stück Selbstbefreiung.
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile Fragt man, was das spezifisch „Moralische" an moralischen Urteilen, Normen und Grundsätzen ausmacht, geht es offensichtlich nicht darum, das Moralische gegen unmoralische oder amoralische Urteile, Normen und Grundsätze abzugrenzen, sondern gegen nicht-moralische Urteile, Normen und Grund-
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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sätze, d. h. solche, die gar nicht in den Bereich des Moralischen fallen und deshalb auch nicht den für diesen Bereich charakteristischen Kriterien unterliegen. „Unmoralisch" und „Amoralisch" sind jeweils auf ihre Weise perspektivische Beschreibungen. „Unmoralisch" setzt die Perspektive einer bestimmten Moral voraus, aus deren Sicht eine Handlung, Handlungsabsicht oder ein bestimmtes Urteil als moralisch verwerflich oder bedenklich beurteilt wird. „Amoralisch" setzt die Perspektive eines bestimmten Moralhegriffs voraus und beschreibt Handlungsmotive und praktische Denkweisen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie moralischen Normen - wie diese im einzelnen auch immer beschaffen sein mögen - keinerlei Verbindlichkeit zusprechen, sondern sich stattdessen an anderen als moralischen oder an gar keinen Normen orientieren. „Amoralisch" verhält sich der, der sich ausschließlich von den eigenen Interessen, von bestimmten nicht-moralischen Selbstbildern, von ästhetischen Idealen oder auch - im Sinne von Willkürhandlungen - von gar keinen übergreifenden Normen leiten lässt. Etwas als „unmoralisch" zu bezeichnen, setzt voraus, dass man eine Moral hat, „amoralisch", dass man einen Begriff von Moral hat. Beide Begriffe setzen voraus, dass man bereits weiß, wie sich zwischen moralischen und nicht-moralischen Urteilen, Normen und Grundsätzen unterscheiden lässt. Man hat gelegentlich versucht, den Bereich des Moralischen indirekt, auf dem Wege der für die Moral charakteristischen Sprechweisen, Sanktionen oder Emotionen zu kennzeichnen, also durch einige der Phänomene, durch die sich die Moral im gesellschaftlichen Leben manifestiert und verwirklicht. Alle drei Versuche begegnen jedoch schwer zu überwindenden Schwierigkeiten.2 Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass die für die Moral kennzeichnenden Sprechweisen, Sanktionen und Emotionen ihrerseits nur mithilfe des Begriffs der Moral 2
Vgl. dazu die Einleitung der Herausgeber und den Beitrag von C. H. Whiteley in Wallace/Walker 1970.
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
beschrieben werden können und der Erklärungsversuch dem Vorwurf der Zirkularität ausgesetzt ist. Offenkundig ist dies für die für moralische Sprechweisen charakteristischen sprachlichen Mittel, etwa die Ausdrücke „gut", „richtig" „soll", „sollte", „muss" usw. Keines dieser sprachlichen Mittel ist als solches für den Bereich der Moral spezifisch. „Gut" bezieht sich nicht nur auf moralisches GutSein, sondern auch auf instrumentelles („ein gutes Messer"), ästhetisches („eine gute Aufführung") oder prudentielles (klugheitsbezogenes) Gut-Sein („eine Woche Ferien wäre gut für dich"). „Richtig" kann sich auch auf sachliche, technische oder ästhetische Richtigkeit beziehen, „soll" und „sollte" werden auch im Bereich des Rechts, der Etikette, der Ästhetik und im Zusammenhang mit Klugheitsregeln verwendet. „Muss" kann auch Ausdruck eines bloßen Wunsches, Verlangens oder eines Befehls sein. Ähnliches gilt für moralische Emotionen wie Empörung, gerechten Zorn oder Gewissensbisse. Moralische Emotionen unterscheiden sich von anderen Emotionen in der Regel ausschließlich durch ihren intentionalen Gehalt, d. h. durch die (positiv oder negativ bewertenden) Urteile, die in sie eingehen. In ihren übrigen Komponenten unterscheiden sie sich in der Regel nicht von den mit ihnen verwandten nicht-moralischen Emotionen wie Ärger, Scham oder Verlegenheit. Zu diesen Komponenten gehören - nach der mittlerweile klassischen Analyse von Aiston (1967) - die phänomenal-erlebnishafte Gefühlsqualität, der Motivationsgehalt, die Erregungsstärke und die körperlich-physiologischen Begleitphänomene. Alle diese Aspekte der Emotionen können bei einer moralischen und bei einer nicht-moralischen Emotion identisch sein. Das Gefühl desjenigen, der sich über fremdes Handeln empört, braucht sich seiner phänomenalen Qualität nach in nichts von dem Gefühl des Ärgers zu unterscheiden. Reue und Gewissensbisse haben ähnliche Begleitphänomene wie Ärger über sich selbst. Was die moralischen Emotionen zu moralischen
l .3 Kennzeichen moralischer Urteile
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macht, ist lediglich ihr jeweiliger Urteilsgehalt. Gewissensbisse beinhalten, dass man ein eigenes Verhalten moralisch in Frage stellt, während man sich aus vielerlei anderen Gründen über sich ärgern kann. Gerechter Zorn beinhaltet, dass man das Verhalten eines anderen moralisch verurteilt, während man aus vielerlei anderen Gründen über andere in Wut geraten kann. Moralische Emotionen erklären das Eigentümliche der Moral nicht, sie setzen es voraus. Um diese Emotionen von anderen Emotionen abzugrenzen, benötigen wir zuallererst ein Verständnis dessen, was das Spezifische der Moral ausmacht. Ähnliches gilt für den Versuch, den Bereich des Moralischen durch besondere Sanktionsformen, d. h. durch Formen der positiven und negativen Reaktion auf moralkonformes oder moralwidriges Verhalten zu charakterisieren. Auch die für die Moral geltenden Sanktionsformen sind alles andere als spezifisch. Charakteristisch für die Moral sind einerseits die vielfältigen Sanktionsformen der sozialen Akzeptanz und Ablehnung, der sozialen Inklusion und Exklusion, andererseits die aus der wirksamen Verinnerlichung moralischer Normen kommenden „inneren Sanktionen", etwa die Gewissensangst und die Schuldgefühle. Aber weder die sozialen noch die inneren Sanktionen sind für die Moral spezifisch. Soziale Sanktionen wie Annahme und Ausschluss, Annäherung und Distanzierung, Lob und Tadel haben ihren Platz nicht nur im Sprachspiel der Moral, sondern auch in anderen Sprachspielen, etwa den Sprachspielen der Religion, der Etikette und anderer kultureller Normen. Strafen haben ihren Platz nicht nur in der moralischen Erziehung, sondern auch im Recht, wo sie als Erzwingungsmittel gelegentlich auch ohne moralisches Unwerturteil zulässig sind. Innere Sanktionen wie Schuldgefühle und Gewissensbisse lassen sich wiederum nur mithilfe eines Vorbegriffs von Moral von nicht-moralischen inneren Sanktionen wie Scham und Verlegenheit unterscheiden. Ob ein intensives negatives Gefühl über das eigene vergangene Verhalten als Verlegenheits-, als Scham- oder als Schuldgefühl aufgefasst wer-
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1. Wesen und Auf gabenstellung der Ethik
den muss, hängt wesentlich davon ab, wie das vergangene eigene Verhalten beurteilt und eingeordnet wird: Verstößt das Verhalten gegen bestimmte kulturelle Normen etwa der Etikette oder des guten Geschmacks, wird es richtigerweise als Verlegenheit zu deuten sein, verstößt es gegen ein normatives Selbstbild oder Persönlichkeitsideal, als Schamgefühl, und nur, wenn es gegen moralische Normen verstößt, als Schuld. Es scheint demnach keine Möglichkeit zu geben, einem Verständnis des Spezifischen der Moral auf indirektem Wege näherzukommen. Nur der direkte Weg steht offen. Fragen wir also, welche Bedingungen eine Überzeugung, ein Urteil oder eine Regel erfüllen muss, um dem Bereich des Moralischen zugeordnet werden zu können. Nachdem die ausgiebige Debatte um die „definition of morality" die Schwierigkeiten aufgezeigt hat, mit denen jeder Versuch konfrontiert ist, im strengen Sinne notwendige und hinreichende Bedingungen für das spezifisch Moralische anzugeben, soll es hier genügen, den Bereich des Moralischen durch vier Kennzeichen zumindest grob einzugrenzen.
1.3.1 Handlungsbezug Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. Neben Urteilen über Handlungen gehören zur Moral auch Urteile über moralische Verpflichtungen, moralische Urteile über Personen, Motive, Absichten und Verhaltensdispositionen, moralische Emotionen, moralische Ideale und Utopien und bestimmte normative Menschenbilder. Aber alle diese weiteren Stücke aus dem moralischen Repertoire stehen in einem unverkennbaren Bezug zu menschlichem Handeln als ihrem letztlichen Zielpunkt und beinhalten Urteile über dieses Handeln. Personen, Motive, Absichten und Handlungsdispositio-
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nen werden als moralisch löblich oder verwerflich beurteilt in dem Maße, in dem sie in der Regel zu moralisch zu billigendem oder zu missbilligendem Handeln führen - auch wenn eine Absicht im Einzelfall unausgeführt bleibt, ein Motiv durch stärkere Gegenmotive unwirksam gemacht oder eine Handlungsdisposition mangels Gelegenheit unausgelebt bleibt. Bei moralischen Emotionen ist der Bezug zu menschlichem Handeln noch direkter, da sie in der Regel die Billigung oder Missbilligung von Handlungen unmittelbar implizieren. Moralische Ideale und Utopien sowie normative Menschenbilder lassen sich auffassen als Konstruktionen einer Welt ohne moralisch zu missbilligende Handlungen. Vier Kennzeichen der Moral 1. Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. 2. Moralische Urteile sind kategorisch. Sie bewerten Handlungen unabhängig davon, wieweit diese den Zwecken oder Interessen des Akteurs entsprechen. 3. Moralische Urteile beanspruchen intersubjektive Verbindlichkeit. 4. Moralische Urteile bewerten Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren, die durch Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können.
Es gibt einen guten Grund, der moralischen Billigung und Missbilligung von - realen und gedachten, gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen - Handlungen und damit morali-
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sehen Bewertungen einen zentraleren Platz und eine grundlegendere Rolle im Ganzen der Moral zuzuweisen als moralischen Forderungen oder „Imperativen": Wir können Forderungen durch Bewertungen begründen, aber nicht andersherum. Wenn wir von jemandem im Namen der Moral fordern, eine bestimmte Handlung auszuführen oder zu unterlassen, können wir diese Aufforderung im allgemeinen durch eine entsprechende moralische Bewertung der Handlung oder der Handlungsweise, die sie exemplifiziert, begründen. So begründen wir etwa die Aufforderung, nicht zu lügen, mit der Bewertung der Lüge als moralisch falsch. Wir fordern dazu auf, die Handlung h auszuführen oder nicht auszuführen, indem wir uns auf die entsprechende Bewertung von h als moralisch richtig oder falsch beziehen. Es wäre jedoch abwegig, die Bewertung, nach der Lügen moralisch falsch ist, ihrerseits dadurch begründen zu wollen, dass man nicht lügen sollte. Das Sollen ist fundiert in einem Richtig- oder Gut-Sein, das Nicht-Sollen und Nicht-Dürfen in einem Falsch- oder Schlecht-Sein. In diesem Sinn ist die moralische Bewertung und nicht der moralische „Imperativ" das fundamentalere Phänomen. Es gibt noch einen anderen Grund, moralischen Handlungsbeurteilungen Vorrang vor moralischen Forderungen zuzuerkennen: Nahezu alle Ethiksysteme erkennen neben moralisch guten Handlungen, die eingefordert werden können und zu denen der Akteur verpflichtet werden kann, auch moralisch gute Handlungen, zu denen der Akteur nicht verpflichtet werden kann, z. B. weil eine solche Verpflichtung durchschnittliche Akteure überfordern würde. Nicht zu allem, was wir an moralisch Lobenswertem tun könnten, sind wir auch verpflichtet. Nicht alles, was wir moralisch positiv bewerten, schreiben wir auch vor - was seinen Grund darin hat, dass Vorschreiben mehr beinhaltet als eine bloße Bewertung, nämlich die Ausübung eines moralischen Drucks, der, wenn es sich um sehr anspruchsvolle Handlungsweisen handelt, unangemessen und sogar kontraproduktiv sein kann. Für heroische und ande-
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re supererogatorische („übergebührliche") Handlungen die als moralisch gut und verdienstvoll bewertet, aber nicht eingefordert werden, gilt die ansonsten bestehende Entsprechung zwischen moralischen Handlungsbewertungen und Handlungsverpflichtungen nicht. Eine notwendige Bedingung genuin moralischer Urteile ist, dass sie ausschließlich menschliches Handeln beurteilen und nicht jedes beliebige von Menschen gezeigte Verhalten. Nur solches Verhalten unterliegt einer moralischen Billigung oder Missbilligung, das der jeweilige Akteur hätte vermeiden können und das er deshalb verantworten muss. Vermeidbarkeit setzt dabei nicht voraus, dass das Verhalten in einem substanziellen Sinn beabsichtigt war. Auch spontanes und routinemäßiges Verhalten, das nicht eigens beabsichtigt ist, kann moralisch beurteilt werden. Eine Bedingung ist jedoch, dass es der Akteur hätte vermeiden können, etwa indem er größere Vorsicht hätte walten lassen. Fahrlässigkeit - ein Handeln ohne die gebotene Vorsicht und Sorgfalt - ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine moralische Beurteilungskategorie. Dabei schließt „Handeln" Unterlassen ein. Unterlassen kann verstanden werden als ein Nicht-Handeln unter Bedingungen, die denen des Handelns im übrigen genau gleich sind. Deshalb ist auch ein Unterlassen nur insoweit moralisch beurteilbar, als es hätte vermieden werden können, der betreffende Akteur also aktiv hätte eingreifen können. Wie das Handeln braucht auch das Unterlassen nicht notwendig beabsichtigt zu sein, um moralisch beurteilt werden zu können. Wie fahrlässiges Handeln lässt sich auch fahrlässiges Unterlassen moralisch missbilligen, z. B. wenn ein Autofahrer aus mangelnder Vorsicht nicht oder zu spät abbremst und dadurch einen anderen Verkehrsteilnehmer zu Schaden bringt. Von einer moralischen Billigung oder Missbilligung ausgenommen sind Verhaltensweisen, die als bloße Widerfahrnisse dem Akteur in keiner Weise zugerechnet werden können, oder die der Akteur mangels Wissen und Verständnis oder infolge
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eines auf ihn einwirkenden Zwangs nicht hätte vermeiden können - es sei denn, der jeweilige Mangel oder Zwang sei von ihm selbst verschuldet. Deshalb sind Kleinkinder und schwer geistig Behinderte ebenso wenig Adressaten moralischer Urteile wie sehr unintelligente Menschen, die zwar verstehen, was sie tun, aber vielfach unfähig sind, die Folgen ihres Tuns für sich und andere abzuschätzen. Allerdings sind die Kriterien dafür, dass ein Handeln moralisch beurteilbar ist, weniger strikt als die Kriterien dafür, dass ein Akteur für sein Handeln moralisch verantwortlich ist. Auch Handlungen, für die ein Akteur entschuldigt wird, etwa weil die fragliche Handlung auf neurotische Zwänge zurückgeführt werden muss, kann dennoch auf ihre moralische Qualität hin beurteilbar sein. Eine „Triebtat" - etwa aus Spielleidenschaft - kann gleichzeitig als moralisch falsch, aber dennoch - bei „übermächtigem Trieb" - als entschuldigt gelten. Wie im Strafrecht sind auch in der Moral die Beurteilung der Rechtswidrigkeit und die Beurteilung der Schuld verschiedene Dinge. Nicht nur für Außenstehende, auch für den Akteur selbst unterscheiden sich diese Beurteilungen: Er kann sein Handeln gleichzeitig als moralisch falsch und sich selbst für schuldlos halten.3 An diesem Punkt stellt sich eine weitere Frage: Ist der Zusatz „menschlich" in „menschliches Handeln" notwendig? Zweifellos, denn es gibt hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass nicht nur Menschen, sondern auch hochentwickelte Tiere handlungsfähig sind (vgl. Griffin, D. R. 1985). Dennoch Deshalb ist auch die Frage der Willensfreiheit für die Frage der moralischen Beurteilbarkeit nicht relevant. Auch wenn man - mit den sogenannten „harten Deterministen" - der Auffassung ist, dass aus einer lückenlosen kausalen Erklärbarkeit menschlichen Handelns die Unmöglichkeit moralischer Verantwortlichkeit (Schuld und Verdienst) folgt, folgt daraus nicht die Unmöglichkeit, menschliches Handeln moralisch zu beurteilen. Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit setzen moralische Handlungsbeurteilungen voraus, diese aber nicht die Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit.
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nehmen wir sie - zumindest im eigentlichen und unabgeleiteten Sinne4 - von moralischen Urteilen aus. Der Grund dafür ist nicht, dass Tiere nicht handeln können, sondern dass sie unser „Sprachspiel" der Moral nicht verstehen. Ein moralisches Urteil ist nicht bloß ein Belohnungs- und Bestrafungsimpuls, der ein Verhalten verstärkt der schwächt (obwohl es das auch ist). Mit einem moralischen Urteil appellieren wir vielmehr an die Einsicht und das Urteilsvermögen des Adressaten, und dies ist bei außermenschlichen Lebewesen nicht ausreichend gegeben. Wenn nur menschliche Akteure Adressaten moralischer Handlungsbeurteilungen sind, muss es sich dann stets um individuelle Akteure handeln oder kann auch das Verhalten ganzer Kollektive zum Gegenstand moralischer Urteile gemacht werden? Gemeinhin beurteilen wir nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive nach moralischen Kriterien, etwa Staaten, Firmen, Vereine und Bürgerinitiativen, denen wir auch problemlos Handlungsfähigkeit zuschreiben: Eine Nation nimmt Beziehungen auf, Unternehmen entscheidet sich für eine Fusion, Bürgerinitiative Z protestiert gegen den Straßenbau. Reicht aber auch hier wiederum die Handlungsfähigkeit aus, um eine moralische Beurteilung zuzulassen? Sind Kollektive - gleichgültig, ob sie aus zwei oder aus Millionen von Individuen bestehen - geeignete Adressaten moralischer Urteile? Diese Frage ist hochgradig umstritten und dies aus naheliegenden Gründen. Es geht ja nicht darum, ob sich moralische Beurteilungen von irgendwie zusammengehörenden individuellen Akteuren möglicherweise aus sprachpragmatischen Gründen so zusammenfassen lassen, dass nicht von diesen Individuen, sondern von den Kollektiven die Rede ist, dem sie Allerdings reicht die Geschichte der mittelalterlichen Tierprozesse, bei denen Tieren in der Regel nicht nur ein rechtlicher, sondern auch ein moralischer Vorwurf gemacht wurde, bis in die Gegenwart hinein. Noch 1936 soll in einem syrischen Dorf ein Tlerprozess stattgefunden haben, der mit der Enthauptung eines Esels zu Ende ging (Berkenhoff 1937, 77).
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angehören oder das sie ausmachen. Eine solche Zusammenfassung vieler individueller Beurteilungen zu einer Gesamtbeurteilung wäre nichts anderes als einefagon de parier und logisch weitgehend unproblematisch.5 Die Frage ist vielmehr, ob Kollektive eigenständige Gegenstände moralischer Urteile sind und ihre Handlungen zusätzlich zu den Handlungen ihrer Mitglieder gebilligt oder missbilligt werden können. Die Frage ist also nicht, ob die Handlungsweise einer Regierung moralisch gelobt oder getadelt werden kann, wenn die Handlungsweise einiger oder aller Regierungsmitglieder moralisch gelobt oder getadelt werden kann, sondern ob die Handlungsweise der Regierung über das Lob und den Tadel, das die einzelnen Regierungsmitglieder verdienen, hinaus gelobt und getadelt werden kann. Von dem amerikanischen Wirtschaftsethiker Peter French (1984) stammt eine viel zitierte (vgl. Maring 1989, Neumaier 1994) Liste von Kriterien für eine eigenständige und unreduzierbare moralische Beurteilbarkeit kollektiven Handelns: 1. Das Kollektiv ist handlungsfähig. 2. Es weist eine interne Organisation und Entscheidungsstruktur auf. 3. Diese Entscheidungsstruktur ermöglicht über bloße Routinen hinausgehende kreative Entscheidungen. Diese Bedingungen sind insbesondere auf Institutionen, Unternehmen und Organisationen zugeschnitten, treffen aber auch - als Grenzfälle - auf Bürgerinitiativen und nur zeitweilig bestehende Interessengemeinschaften zu. Nicht erfüllt werden sie von bloßen „Aggregaten" (French 1984,9) wie zufällig zustandegekommenen Gruppen, etwa Gruppen von Passanten, die bei einem Unglücksfall eingreifen oder nicht eingreifen 5
Wenn es problematisch ist, dann wegen des moralischen Risikos, dass bei der Beurteilung von Kollektiven das Verhalten einiger Mitglieder des Kollektivs unverdientermaßen gebilligt oder missbilligt würde.
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oder von einem lynchenden Mob. Auch die Menschheit als ganze scheint diese Bedingungen nicht erfüllen zu können, da sie nicht hinreichend organisiert ist, um handlungsfähig zu sein und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Es bleiben allerdings grundsätzliche Zweifel, ob Kollektive als solche moralisch beurteilt werden können, und zwar deshalb, weil Kollektiven - auf den ersten Blick paradoxerweise - zwar Handlungen, aber keine Bewusstseinseigenschaften zugeschrieben werden können. Kollektive sind keine Personen. Sie können handeln, aber sie können nicht denken, reflektieren, sie haben keine Empfindungen und Gefühle, oder besser: Die ihnen zugeschriebenen Gedanken und Gefühle sind stets reduzierbar auf die Gedanken und Gefühle einiger oder aller ihrer Mitglieder. Sie sind keine eigenständigen, unabhängigen Subjekte dieser Bewusstseinszustände. Insbesondere sind sie keine geeigneten Subjekte für die Zuschreibung derjenigen Verständnis- und Einsichtsfähigkeit, an die moralische Beurteilungen appellieren. Dieser Appell an die Vernunft und Einsicht des Beurteilten selbst scheint jedoch als Teilmoment des Moralischen unverzichtbar. Deshalb liegt es nahe, als Adressaten moralischer Urteile ausschließlich Individuen zuzulassen. Mit dem ersten Merkmal ist das Spezifische der Moral offensichtlich noch nicht hinreichend getroffen. Auch juridische Normen, Normen der Etikette und ästhetische Normen billigen und missbilligen menschliches Handeln. Dasselbe gilt von Urteilen, die menschliches Handeln nach Gesichtspunkten der Klugheit und Zweckdienlichkeit beurteilen. Das folgende zweite Kennzeichen moralischer Urteile dient insbesondere der Abgrenzung gegen prudentielle Urteile, die menschliches Handeln danach beurteilen, in welchem Maße dieses geeignet ist, die Zwecke des jeweiligen Akteurs zu erreichen.
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l .3.2 Ka tegorizität Moralische Urteile sind kategorisch. Sie bewerten Handlungen unabhängig davon, wieweit diese den Zwecken oder Interessen des Akteurs entsprechen. Klugheitsurteile bewerten ein bestimmtes Handeln nach Maßgabe der Zwecke und Zielsetzungen des jeweiligen Akteurs. Sie liegen dem zugrunde, was Kant „hypothetische Imperative" genannt hat: Empfehlungen und Ratschläge von der Form „führe die Handlung h aus, wenn du den Zweck z erreichen willst", bzw. von der Form „führe die Handlung h aus, da du Zweck z erreichen willst", wobei sich z auf beliebige Zwecke bezieht. Der Imperativ (die Anweisung oder Empfehlung) ist in diesem Fall „hypothetisch", da er unter der Bedingung der dem Akteur unterstellten Zwecke steht. Hätte der Akteur andere Zwecke, würde auch der hypothetische Imperativ anders aussehen müssen. Dass moralische Urteile kategorisch sind, bedeutet demgegenüber, dass sie das jeweilige Handeln unabhängig davon beurteilen, ob dieses den Zwecken des Akteurs dienlich ist oder nicht. Während sich Klugheitsurteile stets nur auf Mittelhandlungen beziehen, folgt aus der kategorischen Natur moralischer Urteile u. a., dass sich moralische Urteile nicht nur auf Mittelhandlungen, die zu bestimmten Zwecken ausgeführt werden, sondern auch auf Zweckhandlungen, die nicht wiederum unter Zwecken stehen, beziehen können. Nicht nur die Mittel, die ein Akteur einsetzt, um seine Zwecke zu erreichen, können moralisch mehr oder weniger billigenswert sein, sondern ebenso die Zwecke, um derentwillen er handelt. Kategorische Bewertungen von Handlungen als moralisch richtig oder falsch bilden die Grundlage dessen, was Kant „kategorische Imperative" genannt hat: Handlungsaufforderungen, die bedingungslos in dem Sinne sind, dass sie keine Rücksicht auf die „Neigungen", d.h. die Interessen des Akteurs nehmen. Anders als Kant sollte man allerdings hervorheben, dass die „Nei-
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gungen" durchaus nicht nur die selbstbezogen-egoistischen, sondern auch die fremdbezogen-altruistischen Interessen umfassen. Moralische Handlungsurteile sind kategorisch nicht nur insofern, als sie Handlungen ohne Rücksicht auf die selbstbezogenen Interessen des Akteurs bewerten, sondern auch insofern, als sie keine Rücksicht auf dessen fremdbezogene Interessen nehmen. Erst dieser Umstand erklärt, warum moralische Urteile in dem Ruf stehen, mit einer gewissen Strenge und Unnachgiebigkeit einherzugehen und warum sie von dem jeweils Beurteilten leicht als Zumutung empfunden und entsprechend zurückgewiesen werden. Kann das moralische Urteil, so möchte man fragen, aber nicht doch gelegentlich von den Neigungen des Akteurs, dessen Handlungen beurteilt werden, abhängen? Kann nicht zumindest das Ausmaß, in dem eine Handlung h billigenswert ist, u. a. davon abhängen, inwieweit der Akteur geneigt ist, h auszuführen - etwa so, dass in dem Urteil über die Handlung auch die Motive berücksichtigt werden, die den Akteur dazu bringen, h auszuführen? Ist nicht ein Akt der Hilfeleistung aus Pflichtbewußtsein oder aus Menschenliebe sehr viel billigenswerter als dieselbe Hilfeleistung, wenn sie aus kühler Berechnung getan wird, etwa um den Empfänger der Hilfeleistung zu ähnlichen Hilfeleistungen dem Akteur gegenüber zu verpflichten? An diesem Punkt dürfen zwei Dinge nicht verwechselt werden: das moralische Urteil über die Handlung und das moralische Urteil über die Motive, die zu ihr geführt haben. Diese Urteile beziehen sich auf verschiedene Gegenstände und können im Einzelfall divergieren. Auch wenn unsere Urteile über Verhaltensmotive nicht unabhängig davon sind, wie wir die Handlungen beurteilen, zu denen diese Motive in der Regel führen, so ist diese Korrelation doch nicht lückenlos. Im Einzelfall können moralisch gute Motive zu moralisch falschem und moralisch schlechte Motive zu moralisch richtigem Handeln führen. Kleists Michael Kohlhaas reißt aus Gerechtigkeitssinn sich und viele andere ins Verderben. Eitelkeit und Ri-
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valität haben zu unzähligen wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen einzelner geführt, von denen die Menschheit nachhaltig profitiert. Aber natürlich können die Neigungen des Akteurs indirekt für die moralische Beurteilung seines Handelns relevant sein, wie etwa dann, wenn eine Handlung, die den eigenen Neigungen entspricht, die insgesamt besseren Folgen erwarten lässt als eine alternative Handlung, die den eigenen Neigungen Zwang antut. C.D. Broad (1930,124) hat in diesem Sinne das Beispiel der Wahl des Ehepartners angeführt. Im allgemeinen finden wir es billigenswerter, wenn der Akteur A von zwei möglichen Ehepartnern denjenigen heiratet, der seinen Neigungen am ehesten entspricht. Also, so Broad, hänge in diesem Fall die moralische Beurteilung im Gegensatz zur Lehre von der kategorischen Natur moralischer Handlungsurteile doch von den Neigungen des Akteurs ab. Aber es ist mehr als fraglich, ob dieses Beispiel als Gegenbeispiel überzeugen kann. Im allgemeinen beurteilen wir hochgradig persönliche Entscheidungen wie Heiraten nicht unter moralischen Gesichtspunkten. Falls es jedoch überhaupt sinnvoll sein sollte, derartige Entscheidungen nach moralischen Kriterien zu beurteilen, könnte sich die Beurteilung nur nach den Folgen richten. Diese können aber zweifellos u. a. von den Neigungen des Akteurs abhängen: Eine „Vernunftheirat" könnte sich womöglich als alle Beteiligten schwer belastende mesalliance herausstellen. Sind diese Folgen einigermaßen vorhersehbar, könnte insofern die Heirat auch moralisch kritikwürdig sein. In diesem Fall würde diese Kritikwürdigkeit jedoch lediglich indirekt von den Neigungen des Akteurs abhängen. Entscheidend für die Beurteilung von h wäre nicht die Neigung des Akteurs zur Ausführung von h, sondern die ihrerseits von As Neigungen abhängenden für alle Beteiligten zu erwartenden Folgen. Die beiden folgenden Merkmale, die als für das Sprachspiel der Moral charakteristisch gelten können - der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und das Prinzip der ausschließlichen Rele-
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vanz allgemeiner Merkmale - lassen sich nicht mit derselben Vorbehaltlosigkeit wie die beiden ersten als Kriterien zur Abgrenzung des spezifisch Moralischen angeben. Während die beiden ersten - die Handlungszentrierung und die Kategorizität - als Kennzeichen des Moralischen mehr oder weniger unbestritten sind,6 werden diese beiden zusätzlichen Kennzeichen längst nicht von allen Moralphilosophen anerkannt. Beide Merkmale lassen sich denn auch eher als Forderungen verstehen, die bestimmte Formen der Ethik an die Moral stellen, denn als Kennzeichen, die aufgrund etablierter semantischer Beziehungen unablösbar mit dem Begriff der Moral verbunden sind. Es ist nicht umstritten, dass beide Kennzeichen auf viele Moralen zutreffen. Es ist jedoch umstritten, ob sie auf jede Moral zutreffen, und ob sie (wenn dies der Fall ist) notwendige, weil im Begriff der Moral liegende Eigenschaften von Moralen ausmachen. Vertreter eines universalistischen Moralbegriffs (wie dieser hier genannt werden soll) tendieren dazu, beide Merkmale als Bedeutungsbestandteile in den Moralbegriff aufzunehmen und Beurteilungssysteme, die diese Merkmale nicht (bzw. nicht durchgängig) aufweisen, nicht als Moralen, sondern als gesellschaftliche Wertsysteme anderer Art aufzufassen. Vertreter eines partikularistischen Moralbegriffs dagegen haben keine Schwierigkeit, auch solche Normensysteme als Moralen gelten zu lassen, die lediglich die ersten beiden, nicht aber auch diese zusätzlichen Kennzeichen aufweisen. Hinter dem Dissens über die Semantik des Moralbegriffs verbirgt sich dabei regelmäßig eine tiefgreifende Divergenz in den Anschauungen darüber, welche Art von Moral letztlich wünschenswert ist. Vertreter eines universalistischen Moralbegriffs verstehen die Moral nicht nur universalistisch, sondern sind in der Regel auch von dem Wunsch geleitet, dass sich eine universalistische MoMehr oder weniger, da nicht alle Moralphilosophen das Merkmal der Kategorizität akzeptieren, vgl. etwa Foot 1997.
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ral (bzw. universalistische Moralen unterschiedlichen Inhalts) real durchsetzen. Vertreter eines partikularistischen Moralbegriffs dagegen lassen nicht nur auf der Ebene der Semantik eine partikularistische Moral zu, sondern halten in der Regel eine Welt für vorzugswürdig, in der partikularistische mit universalistischen Moralen koexistieren.
1.3.3 Anspruch auf Allgemeingültigkeit Das dritte Kennzeichen, das dazu dienen kann, moralische Urteile, Normen und Prinzipien von andersartigen Handlungsbewertungen abzugrenzen, ist der von diesen Urteilen erhobene Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Moralische Urteile sind ihrem Gehalt nach mehr als bloße Meinungsäußerungen. Sie appellieren an die Vernunft und das Empfinden anderer und reklamieren eine über das einzelne Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit. Wer ein moralisches Urteil abgibt, versteht sich nicht als jemand, der lediglich seiner momentanen Befindlichkeit Ausdruck gibt oder seine höchstpersönlichen Überzeugungen mitteilt. Wer moralisch urteilt, versteht sich vielmehr in der Regel als jemand, der etwas behauptet und von den Adressaten seines Urteils erwartet, dass sie das Behauptete nach- und mitvollziehen. Er fasst sein Urteil eher als eine Aussage über das Bestehen eines Sachverhalts denn als bloße Konfession oder Expression auf. Er begibt sich auf eine Ebene, von der er erwartet oder zumindest hofft, dass sie als tragfähige Grundlage für eine Verständigung mit den jeweils Angesprochenen dienen kann. An einem locus classicus hat David Hume diese Eigentümlichkeit des moral point of view folgendermaßen charakterisiert: Wenn jemand einen anderen seinen Feind, seinen Rivalen, seinen Widersacher, seinen Gegner nennt, so meint man, daß er die Sprache der Selbstliebe spricht und daß er Gefühle ausdrückt, die ihm
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eigen sind und die auf seinen besonderen Umständen und seiner besonderen Lage beruhen. Aber wenn er irgend jemanden als lasterhaft, hassenswert und verdorben bezeichnet, dann spricht er eine andere Sprache und drückt Gefühle aus, von denen er erwartet, daß alle seine Zuhörer darin mit ihm übereinstimmen. Er muß daher in diesem Fall von seiner privaten und besonderen Situation absehen und einen Standpunkt wählen, den er mit anderen gemeinsam hat; er muß auf ein allgemeines Prinzip der menschlichen Natur einwirken und eine Saite anschlagen, die bei allen Menschen harmonisch widerklingt. (Hume 1984 a, 200 f.)
Humes Verweis auf ein „allgemeines Prinzip der menschlichen Natur" deutet an, dass er den intersubjektiven Geltungsanspruch universalistisch interpretiert. Diese Interpretation unterstellt dem Menschen eine fundamentale, in seiner Vernunft und seiner Fähigkeit zur Empathie liegende Gleichgesinntheit und Gleichgestimmtheit, die einen in der Realität störbaren, aber im Prinzip jederzeit möglichen wechselseitigen Austausch über moralische Bewertungen erlaubt. Aus universalistischer Sicht wendet sich das moralische Urteil an prinzipiell alle Menschen und appelliert an prinzipiell jeden, der Sichtweise und Bewertung des jeweils Urteilenden zuzustimmen. Moralische Urteile haben insofern etwas zutiefst Demokratisches: Sie sind nicht Ausdruck eines irgendwie gearteten Herrschaftsanspruchs, sondern Ausdruck einer fundamentalen Gemeinsamkeit. Das Sprachspiel, dessen „Züge" sie sind, ist ein Sprachspiel eines „herrschaftsfreien Diskurses", der prinzipiell jedem offensteht und an dem sich jeder, der die notwendigen Voraussetzungen an Verständigkeit, Einfühlungsvermögen und Gutwilligkeit erfüllt, beteiligen kann. Eine wichtige Konsequenz dieses Modells liegt darin, dass der Akteur, dessen Handeln beurteilt wird, in den Kreis derer, an deren Vernunft und Empfinden das moralische Urteil appelliert, eingeschlossen ist. Ihm wird gleichermaßen wie allen anderen unterstellt, dass er das Urteil über sein Verhalten nachzuvollziehen und zu teilen vermag und dass das Urteil
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weniger dazu dient, ihn über etwas zu belehren, als ihm vielmehr etwas zu verdeutlichen oder in Erinnerung zu rufen, was er aus eigener Einsicht und eigenem Empfinden bereits weiß oder wissen kann. Die moralische Bewertung ist - zumindest ihrem Anspruch nach - nichts Fremdes, kein äußeres Diktat, sondern das Wachrufen von etwas Eigenem und aus Freiheit Nachvollziehbaren. Ein moralisches Urteil appelliert beim Beurteilten primär nicht an die Angst vor Entwertung und Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft oder an eigensüchtige Motive wie den Wunsch nach Lob und Anerkennung, sondern an eigenen Nachvollzug, Verständnis und Einsicht. Von diesem Blickwinkel aus wird die enge Verknüpfung sichtbar zwischen der universalistischen Interpretation des Geltungsanspruchs moralischer Urteile und Autonomie im Sinne moralischer Selbstbestimmung. Der universalistischen Interpretation nach erhebt das moralische Urteil den Anspruch, im Prinzip von jedem Verständigen gleichermaßen und aus freien Stücken, also autonom, nachvollzogen und akzeptiert zu werden - entweder so, dass es aus sich heraus einsichtig ist oder dass für es Argumente gegeben werden können, die es im Prinzip für jeden Verständigen einsichtig machen. Wenn ein moralischer Beurteiler für sein Urteil einen universalistischen Geltungsanspruch glaubwürdig vertreten will, kann er sich deshalb nicht auf Erkenntnismittel berufen, die den Adressaten dieses Urteils (einschließlich des Beurteilten selbst) nicht im Prinzip ebenso zugänglich sind wie dem Urteilenden. Insbesondere kann er sich nicht auf Autoritäten oder Traditionen berufen, von denen er nicht erwarten kann, dass sie sein realer oder potenzieller Diskurspartner akzeptiert. Wenn sich diese Evidenz- oder Begründungsansprüche auf Autoritäten berufen, dann auf keine andere als jedem zur Verfügung stehende Quellen wie die Vernunft (exemplarisch in der Ethik der Stoa oder der Ethik Kants) oder die Empathie (exemplarisch in der Ethik Humes und Schopenhauers).
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Das Modell im Hintergrund des universalistischen Moralverständnisses ist die Universalität und Offenheit der Wissenschaft. Nicht zufällig bezeichnet Kant das von ihm postulierte oberste Moralprinzip als „Sittengesetz" und stattet es mit einem Geltungsanspruch aus, das dem der Logik und der fundamentalen Naturgesetze nicht nachsteht. Wie die Newtonschen Gesetze der Mechanik im Prinzip jedermann, der verständig und guten Willens ist, aufgrund sinnlich erfahrbarer Experimente „andemonstriert" werden können, sollen sich auch die obersten Grundsätze der Moral jedem Verständigen und Gutwilligen einsichtig machen lassen, ohne ihm Verbindlichkeiten aufzuzwingen, die er nicht von sich aus anerkennt oder anerkennen kann. Das partikularistische Moralverständnis ist demgegenüber einerseits großzügiger, andererseits zurückhaltender. Es ist großzügiger, insofern es neben Moralen mit universalem Geltungsanspruch auch solche Normensysteme als Moralen gelten lässt, die bestimmten nicht-universell akzeptierten oder zugänglichen Autoritäten und Traditionen verpflichtet sind und ihren Geltungsanspruch auf die Angehörigen bestimmter Kulturen, die Mitglieder bestimmter Religionsgemeinschaften und Volksgruppen, im Extrem auf ein einziges Individuum beschränken. Es ist zurückhaltender, insofern es anders als das universalistische Moralverständnis von einer Moral keinen Ewigkeitsanspruch jenseits aller kulturellen, religiösen oder anderweitigen Bindungen verlangt. Eine Moral kann sich danach vielmehr auch ausschließlich an Gleichgesinnte richten, von denen erwartet wird, dass sie bestimmte nicht-universelle Grundvoraussetzungen mit dem jeweils Urteilenden teilen. Auch nach dieser Auffassung schlagen moralische Urteile „eine Saite an, die harmonisch widerklingt", aber die von diesen Urteilen vorausgesetzte Harmonie verbindet nicht - wie Hume meinte - „alle" Menschen, sondern die Angehörigen spezifischer moralischer Gemeinschaften, deren Identität sich durch bestimmte kulturelle Traditionen, durch historische
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Selbstverständnisse, durch die Anerkennung religiöser Autoritäten oder durch die Bindung an eine charismatische Führerpersönlichkeit konstituiert. Stammesmoralen gelten so gemeinhin nur für die Angehörigen eines Stammes, religiös begründete Moralen vielfach nur für die Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft.7 Den Grenzfall einer partikulären Moral stellt eine rein individuelle oder singuläre Moral dar, die ein Individuum lediglich für sich selbst gelten lässt, etwa die morale par provision Descartes' (Descartes 1960, Teil 3) oder Georg Simmels Konzeption eines individuellen Gesetzes (Simmel 1968). Beide binden das Individuum selbst und niemanden darüber hinaus. Ein partikularistisches Moralverständnis ist in den letzten Jahrzehnten, nachdem lange Zeit ein universalistisches Moralverständnis vorgeherrscht hatte, insbesondere durch die Strömung des Kommunitarismus in der Politischen Philosophie erneut in die Diskussion gebracht worden. Der Kommunitarismus betont die Verwurzeltheit der Moral in der spezifischen Geschichte und Kultur einer Gemeinschaft oder einer Nation und lehnt es ab, die für das universalistische Moralverständnis kennzeichnende scharfe Trennung von moralischen und anderweitigen kulturellen Normen mitzuvollziehen. Ein solches partikularistisches Moralverständnis geht auf der ethischen Ebene vielfach - wenn auch keineswegs notwendig - mit einem metaethischen Relativismus zusammen, nach dem sich der Verbindlichkeitsanspruch der universalistischen Moralen nicht nur in der Realität nicht einlösen lässt, sondern einer systematischen Verkennung der Rolle der Moral und einer Überschätzung der Reichweite moralischer Forderungen entspringt. 7
Dabei machen allerdings die monotheistischen Religionen eine Ausnahme. Auf der Grundlage des Glaubens an die Gleichursprünglichkeit aller Menschen in der Schöpfungshandlung eines einzigen Gottes erheben sie in der Regel einen universellen Geltungsanspruch.
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Da die Ausdrücke „universal" und „partikulär" in der Ethik eine Vielzahl von Bedeutungen annehmen können, ist es wichtig zu sehen, welche Art von Universalität moralischen Urteilen nach universalistischem Verständnis nicht oder nicht notwendig zukommt. Dass moralische Urteile nach universalistischem Verständnis einen universellen Geltungsanspruch erheben, heißt erstens nicht, dass danach alle moralischen Urteile Anwendungsfälle von Prinzipien mit universeller Reichweite sein müssen, wobei sich die Reichweite jeweils nach der Größe der Klassen von Akteuren bemisst, deren Handeln durch das Prinzip beurteilt wird. Prinzipien von größtmöglicher Reichweite beurteilen das Handeln aller Menschen in Gegenwart und Zukunft und unter allen möglichen Bedingungen oder schreiben allen Menschen zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen bestimmte Pflichten oder Rechte (z. B. Menschenrechte) zu. Prinzipien von eingeschränkter Reichweite beurteilen das Handeln von Menschen, die bestimmte Bedingungen erfüllen, oder sie schreiben bestimmten Trägern gesellschaftlicher Rollen bestimmte Rechte und Pflichten zu. Die Dimension der Reichweite ist dabei von der Dimension des Geltungsanspruchs grundsätzlich unabhängig: Eine Moral kann einen universellen Geltungsanspruch erheben, aber gleichzeitig sehr spezifische Beurteilungsprinzipien enthalten, die nur auf wenige Akteure oder nur unter besonderen und selten eintretenden Umständen zutreffen. Die allermeisten Moralen, gleichgültig ob universell oder partikulär, beurteilen z. B. das Handeln von Ärzten, Geistlichen, Lehrern oder Staatsbediensteten anders als das Handeln von jedermann und weisen den Angehörigen dieser Berufsgruppen besondere Rechte und Pflichten zu. Dass eine Moral für Ärzte, Geistliche, Lehrer oder Staatsbedienstete besondere Normen gelten lässt, schränkt ihren universellen Geltungsanspruch jedoch in keiner Weise ein. Auch wenn diese Normen nur für die Bewertung der Handlungen der relativ wenigen Personen relevant sind, die unter die jeweiligen Rollenbeschreibungen fallen, können diese Normen dennoch den-
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selben universellen Geltungsanspruch erheben wie Normen von größerer Reichweite. Auch wenn ihr Anspruch auf Befolgung auf die jeweilige Gruppe, auf die sie zutrifft, begrenzt ist, kann ihr Anspruch auf Anerkennung dennoch universell sein. Auf der anderen Seite kann eine ihrem Geltungsanspruch nach partikuläre Moral dennoch Normen von großer Reichweite enthalten, die weit über den Bereich ihres Geltungsanspruchs hinausgehen. Ein Beispiel ist etwa die Moral des abimsa, die von ihrem Geltungsanspruch her auf die Gemeinschaft der Hindus beschränkt ist, dennoch aber eine universelle Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit formuliert. Man sollte allerdings den Gegensatz zwischen universalistischem und partikularistischem Moralbegriff nicht allzu rigide fassen. Auch der Vertreter eines universalistischen Moralbegriffs wird dem Partikularismus hinsichtlich einer bestimmten Form moralischer Orientierungen zustimmen, nämlich hinsichtlich derjenigen persönlichen moralischen Orientierungen, die herkömmlich moralische Ideale genannt werden. Moralische Ideale sind von ihren Inhalten her moralischen Urteilen und Prinzipien verwandt, erheben im Gegensatz zu diesen jedoch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Man kann in ihnen eine Variante des „individuellen Gesetzes" sehen, das wir als Extremfall einer partikularistischen Moral bereits kennen gelernt haben: Wer ein moralisches Ideal vertritt, unterwirft sein eigenes Handeln anspruchsvolleren Maßstäben als das Handeln anderer und fordert von sich selbst mehr und anderes, als er bereit ist, von anderen zu fordern. Die moralische Messlatte, die er an sein eigenes Verhalten anlegt, liegt höher als die, an der er das Handeln anderer bemisst. Ebenso wie das dritte ist auch das vierte Kennzeichen moralischer Urteile, die sogenannte „Universalisierbarkeit", hinsichtlich seiner Unabdingbarkeit nicht unumstritten und stellt möglicherweise eher eine Forderung an die Moral als ein Definitionsmerkmal dar. Während das dritte Kennzeichen den Geltungsanspruch moralischer Urteile betrifft, betrifft das
l .3 Kennzeichen moralischer Urteile
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vierte Kennzeichen die Bedingungen, unter denen bestimmte Faktoren für die moralische Beurteilung von Handlungen relevant werden.
1.3.4 Universalisierbarkeit Universalisierbarkeit bedeutet, dass moralische Urteile Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren bewerten, die durch Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können. Dieses Kennzeichen betrifft weniger die moralischen Urteile selbst als die Faktoren, aufgrund derer sie gefällt werden. Wir beurteilen, ob und in welchem Maße eine Handlung moralisch zu billigen oder zu missbilligen ist, in der Regel nicht willkürlich oder nach Laune, sondern nach Maßgabe bestimmter in der Handlung und im Handlungskontext liegender Faktoren. Diese Faktoren werden als für die Beurteilung relevant angesehen und das moralische Urteil mit Bezug auf sie begründet. Die Tatsache, dass das Ausmaß, in dem eine Handlung billigenswert ist, von bestimmten in Handlung und Handlungskontext liegenden Faktoren oder Aspekten abhängt, lässt sich auch so ausdrücken, dass man sagt, die Eigenschaft, moralisch billigenswert zu sein (oder kurz: die moralische Qualität einer Handlung), sei in Bezug auf die Gesamtheit der relevanten Eigenschaften der Handlung und des Handlungskontexts supervenient. „Supervenienz" bezeichnet eine einseitige Abhängigkeit: Die moralische Qualität einer Handlung ist in dem Sinne abhängig von den für sie relevanten nicht-moralischen Eigenschaften der Handlung und des Handlungskontexts, dass wenn diese vorliegen, der Urteilende zu einem bestimmten moralischen Urteil über die Handlung berechtigt ist. Schematisch: Immer wenn eine Handlung h die Faktoren f t , f2, f 3 f n aufweist, kommt ihr die moralische Qualität q zu.
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Welche Faktoren im einzelnen für die moralische Qualität q ausschlaggebend sind, hängt dabei von der jeweils zugrundeliegenden Moral m ab. Für unterschiedliche Moralen können unterschiedliche Faktoren relevant sein. So sind etwa für eine Gesinnungsmoral die Motive eines Akteurs für die Beurteilung der moralischen Qualität der Handlung relevanter als die Folgen der Handlung, während sich dies für eine konsequenzialistische Moral genau andersherum verhält. Andererseits gilt: Wie immer die Faktoren fj, f2, f 3 f n im einzelnen spezifiziert werden, die Beziehung zwischen den Aussagen, die das Vorliegen der Faktoren f l5 f2, f 3 _ f n aussagt, und der Aussage, die den Besitz der moralischen Qualität q aussagt, ist in keinem Fall eine Beziehung der logischen oder semantischen Implikation. Die Ableitungsbeziehung ist nicht logischer, sondern spezifisch moralischer Art. Von einem nichtmoralischen So-Sein (dem Vorliegen der Faktoren f1? f2, f3...fn) wird mithilfe eines spezifisch moralischen Prinzips auf ein moralisches So-Sein geschlossen.8 Die der Beurteilung zugrunde liegende Moral entscheidet darüber, welche Faktoren im einzelnen für die moralische Beurteilung den Ausschlag geben - bestimmte Merkmale der Handlung selbst, das, was der Handlung vorausgegangen ist, die Handlungsfolgen, die Handlungsumstände, die Person des Akteurs oder bestimmte Kombinationen aus diesen Faktoren. Das lässt es so aussehen, als seien für die moralische Bewertung einer Handlung ausschließlich die faktisch vorliegenden Faktoren relevant. Aber selbstverständlich sind vielfach auch rein negative Faktoren für die moralische Bewertung bestimmend. Nicht nur die in einer Situation gegebenen Faktoren, sondern auch das Fehlen bestimmter Faktoren kann für die Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen einen Man könnte auch sagen: Bei der Abhängigkeit der moralischen Qualität von den nicht-moralischen Faktoren handelt es sich nicht um eine Form der starken, sondern der schwachen Supervenienz.
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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Unterschied machen. So macht es für die moralische Beurteilung einer Handlung von A, die in einer Leistung für B besteht, gemeinhin einen Unterschied, ob A diese Leistung B vorher versprochen hat. Deshalb ist auch die Tatsache (wenn es denn eine Tatsache ist), dass A B die Leistung nicht versprochen hat, für die moralische Qualität der Leistung relevant. Diese rein negative Tatsache ist klarerweise ein beurteilungsrelevanter Aspekt. Im moralischen Alltagsdiskurs verweisen wir allerdings zumeist ausschließlich auf die positiven relevanten Faktoren. Die negativen Faktoren werden als gegeben vorausgesetzt. Das heißt allerdings nicht, dass diese negativen Faktoren vernachlässigt werden dürfen. Denn strenggenommen gelten die im Alltagsleben gegebenen Begründungen - ähnlich wie viele wissenschaftliche Erklärungen - nur unter bestimmten - gemeinhin als gegeben vorausgesetzten - negativen Randbedingungen. Wenn etwa A B beleidigt oder wüst beschimpft, berechtigt dies nur dann zu einem negativen moralischen Urteil über As Handlungsweise, wenn bestimmte negative Randbedingungen erfüllt sind, etwa die, dass A und B sich nicht zufällig auf einer Bühne befinden und lediglich die vom Autor vorgeschriebene Sprachhandlungen ausführen, oder dass nicht ein Verhalten von B vorausgegangen ist, das As Beschimpfungen rechtfertigt. Die moralische Qualität einer Handlung hängt demnach von der jeweils gegebenen Gesamtkonstellation an moralisch relevanten nicht-moralischen Faktoren ab. Zu diesen gehören wesentlich auch Faktoren, die nicht in der Handlung selbst, sondern im Kontext der Handlung liegen, etwa die situativen Bedingungen, die Beziehungen, in denen der Akteur zu den übrigen Beteiligten steht und die der Handlung zugrunde liegenden Erwartungen, Motive und Absichten. Wir können nun das Universalisierungsprinzip folgendermaßen formulieren: Unter den nicht-moralischen Faktoren, mit Bezug auf die moralische Beurteilungen von Handlungen begründet werden, dürfen keine sein, die ausschließlich durch
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Eigennamen oder durch indexikalische Ausdrücke wie „ich", „du", „hier", „dort", „jetzt", „meine Familie", „deine Freunde" usw. ausgedrückt werden können. Nach diesem Prinzip müssen alle Faktoren, die als für die moralische Beurteilung relevant gelten sollen, durch sprachliche Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausdrückbar sein. Das bedeutet, dass singuläre moralische Urteile wie „Es ist richtig, dass du h getan hast", „Du solltest h tun" oder „Ich habe das Recht, h zu tun" nicht allein mit Bezug auf Faktoren begründet werden dürfen, deren Beschreibung wesentlich die Ausdrücke „ich" und „du" enthalten. Wenn ich das Recht habe, h zu tun, dann darf dies nach dem Universalisierungsprinzip allein in Faktoren begründet sein, die nicht so fest an meine Person gebunden sind, dass sie nicht im Prinzip auch anderen offenstehen. Wenn du h tun sollst, dann kann zu den Faktoren, die diese Forderung begründen, nicht auch der Aspekt gehören, dass der Aufgeforderte die konkrete Person des Aufgeforderten ist. Begründet werden kann sie nur durch allgemeine Faktoren (der Handlung, des Akteurs, des Handlungskontexts), die bei dem Aufgeforderten gegeben sind, die aber im Prinzip auch bei anderen Personen gegeben sein können. Das Universalisierungsprinzip beschränkt den Kreis der Faktoren, die als für eine moralische Beurteilung relevant angesehen werden können. Keiner der relevanten Faktoren darf sich ausschließlich durch Eigennamen oder indexikalische Ausdrücke ausdrücken lassen. Damit geht dieses Prinzip über ein anderes Prinzip, mit dem es leicht verwechselt wird, weit hinaus: das Prinzip, dass Handlungen, bei denen alle moralisch relevanten nicht-moralischen Faktoren gleich sind, moralisch gleich beurteilt werden müssen. Dieses letztere Prinzip ist sehr viel schwächer als das Universalisierungsprinzip und folgt bereits aus der Supervenienz moralischer Beurteilungen. Dass Handlungen, die in allen relevanten Faktoren gleich sind, gleich beurteilt werden müssen, wird im Unterschied zum Universalisierungsprinzip von Vertretern aller Moralbegriffe
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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anerkannt. Auch die Vertreter eines Moralbegriffs, für den das Universalisierungsprinzip nicht gilt, erkennen an, dass zwei in allen nicht-moralischen Hinsichten gleiche Handlungen gleich beurteilt werden müssen. Was sie nicht anerkennen, ist, dass zu den relevanten nicht-moralischen Faktoren nur solche gehören dürfen, die nicht ausschließlich durch Eigennamen ausgedrückt werden können. Ihnen zufolge können auch Faktoren moralisch relevant sein, die ausschließlich durch Eigennamen ausgedrückt werden können, wie z. B. durch die Eigennamen von Nationen, Göttern oder charismatischen Personen. Zu den Moralen, die zwar dem Supervenienzprinzip genügen, nicht aber dem Universalisierungsprinzip, gehören insbesondere Moralen, die sich auf Offenbarungstexte bzw. auf Götter oder andere Gegenstände religiöser Einstellungen stützen, die sich in diesen Texten offenbaren. Für diese Moralen macht es vielfach einen Unterschied, ob dieser Offenbarungstext oder dieser Gott bestimmte Handlungen billigt oder missbilligt. So bezieht sich der Ausdruck „Gott" in dem Prinzip Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen auf ein Wesen, das im Rahmen einer religiösen Moralbegründung vielfach so aufgefasst wird, dass es ausschließlich durch einen Eigennamen bezeichnet werden kann. Ein solches Prinzip genügt dem Universalisierungsprinzip offenkundig nicht. Es würde ihm nur dann genügen, wenn „Gott" als Allgemeinbegriff verstanden würde und das Prinzip dann etwa die Form annähme Jeder sollte seinem Gott mehr gehorchen als den Menschen Diese Interpretation ist jedoch mit der intendierten Bedeutung des Prinzips nicht vereinbar. Auch die Forderung Du sollst keine anderen Götter haben neben mir lässt sich nur schwer mit dem Universalisierungsprinzip vereinbaren-jedenfalls solange die Individuenkonstante „mir" in
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
dieser Aussage nicht auf die Individuenvariable „Gott von x" zurückgeführt werden kann und die Forderung dann nichts anderes besagt als das Verbot der Vielgötterei: Jeder sollte nur einen Gott anbeten und damit wiederum die Intention des ursprünglichen Verpflichtungssatzes verfehlt. Ethiken, die das Universalisierungsprinzip nicht gelten lassen, kann man singularistisch nennen: Sie akzeptieren auch solche Normensysteme als Formen von Moral, die ihre Handlungsbewertungen nach Faktoren differenzieren, die nicht durch allgemeine Merkmale, sondern lediglich durch Eigennamen oder indexikalische Ausdrücke, also durch singuläre Bezeichnungen ausgedrückt werden können. Das Modell, das bei diesen Moralen im Hintergrund steht, ist nicht das allgemein und „ohne Ansehn der Person" geltende Gesetz, sondern die individualisierte persönliche Beziehung. Wahrend Gesetze typischerweise allgemein formuliert sind und lediglich die Merkmale benennen, die mit bestimmten anderen Merkmalen in Beziehung stehen, richten sich Beziehungen auf Individuen unabhängig von ihren jeweiligen konkreten Merkmalen. Wer N achtet, achtet notwendig auch dessen idealen Zwillingsbruder M, der mit N in allen Merkmalen außer seiner raumzeitlichen Position übereinstimmt. Aber wer N liebt, muss unter denselben Bedingungen nicht notwendig auch M lieben. Die wohl häufigste Ausprägung einer Moral, die dem Universalisierungsprinzip nicht gerecht wird, ist eine Gruppenmoral, verstanden als eine Moral, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als moralisch relevant gelten lässt, ohne dass diese Gruppe anders als durch die Zuordnung zu einer bestimmten Person, zu einer bestimmten Nation oder zu einem bestimmten religiösen Gegenstand beschrieben werden kann. Für eine Gruppenmoral kann es moralisch relevant sein, ob eine Handlung h von einem Angehörigen der Gruppe oder von einem Gruppenfremden ausgeführt wird, ohne dass sich diese
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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in irgendeinem anderen, über die Gruppenzugehörigkeit hinausgehenden Aspekt unterscheiden müssen. Dass der Akteur „zu uns" gehört, kann als für die moralische Bewertung seines Handelns sehr viel bedeutsamer angesehen werden als alle weiteren moralisch relevanten Faktoren. Verletzt ist das Universalisierungsprinzip allerdings nur, wenn die Zugehörigkeit zu der jeweiligen Bezugsgruppe nicht anders beschrieben werden kann als unter Bezugnahme auf singuläre Bezeichnungen, also etwa über die Anhängerschaft an diese Gruppe, diesen Guru oder diesen heiligen Text. Das Universalisierungsprinzip fordert, dass moralische Urteile durch nicht-singuläre Faktoren begründet werden, aber es fordert ebensowenig wie der Allgemeingültigkeitsanspruch, dass die Faktoren, durch die moralische Urteile begründet werden, von hoher Allgemeinheit sind. Die Faktoren können sehr allgemein, sie können aber auch sehr spezifisch sein. Die moralische Bewertung eines Handelns kann z.B. davon abhängen, im Rahmen welcher Berufstätigkeit oder im Kontext welcher gesellschaftlicher, familiärer oder emotionaler Beziehungen die Handlung ausgeführt wird, und die Beschreibungen für diese Beziehungen können hochgradig spezifisch ausfallen. Insofern kann eine Moral dem Universalisierungsprinzip genügen und gleichzeitig hochgradig differenzierte berufs-, Standes- oder beziehungsmoralische Normen aufweisen. Dass für Ärzte weitergehende Hilfspflichten und für Kindergärtnerinnen weitergehende Aufsichtspflichten gelten als für NichtÄrzte und für Nicht-Kindergärtnerinnen, widerspricht dem Universalisierungsprinzip solange nicht, wie sich die sozialen Rollen von Ärzten und Kindergärtnerinnen ohne Eigennamen beschreiben lassen. Ebensowenig widerspricht dem Universalisierungsprinzip eine rigide Differenzierung der moralischen Beurteilung nach Akteursvariablen wie Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit. Moralische Bewertungen können gleichzeitig dem Universalisierungsprinzip genügen und ausgesprochen parteilich zugunsten eines Geschlechts oder einer Klasse
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
sein. Moralische Normen sind selbst noch aus der Sicht eines universalistischen Moralbegriffs nicht eo ipso egalitär - auch wenn dies einem im westlichen Kulturbereich seit dem 18. Jahrhundert weitverbreiteten Moralverständnis entspricht. In welcher Hinsicht sind moralische Urteile nach universalistischer Auffassung universell^ Moralische Urteile erheben einen universellen Geltungsanspruch: Ja. Sie beanspruchen, von allen als gültig anerkannt zu werden. Moralische Urteile bewerten Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren, die durch Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können: Ja. Sie berücksichtigen keine Faktoren, die sich ausschließlich durch Eigennamen oder indexikalische Ausdrücke ausdrücken lassen. Moralische Urteile sind Anwendungsfälle von Prinzipien von universeller Reichweite: Nein. Moralische Prinzipien betreffen nicht notwendig alle Menschen, sondern möglicherweise nur die Träger bestimmter hochspezifischer gesellschaftlicher Rollen. Moralische Urteile sind gleichheitsorientiert: Nein. Moralische Urteile können auch nach universalistischer Anschauung Rechte und Pflichten nach bestimmten Akteursmerkmalen differenzieren.
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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Sowohl der Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Beurteilungen als auch das Universalisierungsprinzip werden von der großen Mehrzahl der Moralphilosophen als notwendige, zumindest aber als charakteristische Merkmale der Moral akzeptiert. Insbesondere der Singularismus ist bis heute eher ein Minderheitsvotum geblieben, auch wenn er etwa im Zusammenhang mit der Diskussion um die sogenannten agent-relative reasons neuen Auftrieb bekommen hat. Die These Akteursrelativität in der Form, in der sie etwa von Jonathan Dancy (vgl. Dancy 1993) entwickelt worden ist, bedeutet eine Infragestellung sowohl des Allgemeingültigkeitsprinzips als auch des Universalisierungsprinzips. Ihr zufolge ist es weder notwendig, dass die Maßstäbe, nach denen Handlungen moralisch beurteilt werden, einen intersubjektiven Geltungsanspruch erheben, noch dass sie auf Faktoren allgemeiner Art zurückgreifen müssen. Beide Bedingungen können unerfüllt sein, ohne dass die entsprechende Beurteilung damit ihren moralischen Charakter verliert. Dabei ist die Aufgabe der zweiten Bedingung gravierender als die erste. Wäre nur die erste Bedingung aufgegeben, ließen sich die akteursrelativen Gründe und Prinzipien als moralische Ideale auffassen, die ein Akteur legitimerweise verfolgt, ohne für sie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. Gravierender ist, dass die akteursrelativen Gründe auch dann als „moralische" Gründe gelten sollen, wenn sie ihrem Inhalt nach nicht unabhängig von den Lebensplänen, Idealen und Zielen des jeweiligen Akteurs charakterisiert werden können und insofern die numerische Identität des Akteurs ins Spiel bringen.9 Es gibt gute Gründe, es bei den vier angegebenen Kennzeichen des Moralischen zu belassen. Zwei weitere Kennzeichen, die von verschiedenen Theoretikern als notwendige Merkmale des Moralischen vorgeschlagen worden sind, scheinen noch Zur Kritik des Ansatzes der „agent-relative reasons" vgl. Gesang 2000a, Kap. 4.
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
weniger universell mit den verschiedenen Erscheinungsformen der Moral zusammenzugehen als die beiden letzten - nur von einer Mehrheit der Ethiker anerkannten - Kennzeichen. Ich denke dabei einerseits an den Vorschlag Hares, moralische Beurteilungen u. a. durch ihre Vorrangigkeit (ihre overridingness) zu charakterisieren sowie an die verschiedenen Ansätze zu einer Charakterisierung des Moralischen durch bestimmte allen Moralen gemeinsame Inhalte. Kommt moralischen Beurteilungen einer Handlung notwendig oder regelmäßig Vorrang vor allen anderen - z. B. rechtlichen, ästhetischen oder prudentiellen - Beurteilungen zu? Sind moralische Bewertungen notwendig verbindlicher und verpflichtender als alle anderen Bewertungen? Diese These hat - im Anschluss an Kant - Hare vertreten: Es gibt eine Bedeutung des Wortes „moralisch" (die vielleicht wichtigste), nach der es für moralische Grundsätze charakteristisch ist, daß sie... nicht untergeordnet, sondern nur geändert bzw. modifiziert werden können, um irgendeine Ausnahme zuzulassen. Dieses Merkmal hängt mit der Tatsache zusammen, daß moralische Grundsätze jeder anderen Art von Grundsätzen überlegen sind bzw. mehr Autorität besitzen.... In diesem Sinn sind jemandes moralische Grundsätze diejenigen Grundsätze, von denen er letztlich akzeptiert, dass sie sein Leben leiten, selbst wenn das mit sich bringt, daß untergeordnete Grundsätze, wie solche der Ästhetik und der Etikette, gebrochen werden. (Hare 1973, 189)
Gehört der unbedingte Primat moralischer Gesichtspunkte in der Beurteilung menschlichen Handelns so notwendig zum Begriff der Moral, dass jeder, der moralischen Beurteilungen diesen Primat aberkennt, nicht richtig verstanden hat, um was es sich bei der Moral handelt, den Begriff der Moral also regelwidrig gebraucht? Das scheint nicht der Fall zu sein. Moralische Rücksichten können gelegentlich auch einen relativ schwachen Stellenwert haben und nur eine von mehreren Überlegungen sein, an de-
1.3 Kennzeichen moralischer Urteile
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nen sich das Verhalten eines Akteurs orientiert. Dabei ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass es die Moral nicht nur mit strengen Geboten und Verboten zu tun hat, sondern auch mit moralischen Empfehlungen und Vorbehalten weniger strenger Art. Man kann durchaus schwache moralische Gründe für oder schwache moralische Bedenken gegen eine Handlung haben, ohne dass diese auf das Endergebnis der Überlegung, was zu tun oder zu lassen ist, durchschlagen. Auch für denjenigen, der bereit ist, moralischen Rücksichten Raum zu geben, können andersartige Gründe den Ausschlag geben. So kann etwa in Notzeiten der „Kartoffelklau" aus Selbsterhaltungsgründen die Option der Wahl sein, ohne dass deshalb die Handlung des Diebstahls von Grundnahrungsmitteln ihre in der Regel geltende moralische Bedenklichkeit verlieren muss. Diese und andere Beispiele für einen zurückgenommenen und sich selbst relativierenden Anspruch moralischer Beurteilungen wecken Zweifel selbst noch an der ursprünglich gegen Hares Vorrangthese gerichteten Auffassung John L. Mackies, dass die Moral zumindest aus ihrer eigenen Binnenperspektive Vorrang vor andersartigen Überlegungen fordert (Mackie 1981,125). Auch wenn nichts dazu zwingt, der Moral- aus einer Außenperspektive betrachtet - Vorrang vor andersartigen Überlegungen zu geben, sollen doch zumindest aus der Perspektive der Moral selbst moralische Rücksichten allen übrigen möglichen Erwägungen vorgeordnet sein. Aber auch noch dieser Vorschlag scheint ein einseitiges Bild von der Moral als einer fordernden Instanz vorauszusetzen, das ausschließlich strikte Gebote und Verbote für die Sache der Moral hält - also genau das Bild, das Fichte mit seinem Postulat gezeichnet hat, nach dem die erste moralische Pflicht darin besteht, der Moral und keiner anderen Norm zu folgen: „Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht; oder: handle stets nach deinem Gewissen." (Fichte 1922,153). Dieses Bild ist einseitig, weil es sowohl die vielen Zwischentöne zwischen Geboten und Verboten vernachlässigt und die
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Mehrschichtigkeit moralischer Bewertungen übersieht, die für moralische Werturteile Raum lässt, die keine Forderungen implizieren, wie etwa bei der Beurteilung von supererogatorischen Handlungen. Wenn die Moral Handlungen positiv beurteilen kann, ohne sie zu fordern, kann es nicht richtig sein, dass sie für ihre Urteile durchgängig Priorität vor andersartigen Erwägungen fordert. Ist der Versuch, die Moral durch inhaltliche Gesichtspunkte zu charakterisieren, erfolgreicher? Ich glaube nein. Auch hier führt eine Festlegung der Moral auf bestimmte inhaltliche Orientierungen zu einem unangemessen engen Moralbegriff. Es ist leicht zuzugestehen, dass im Mittelpunkt der meisten Moralsysteme Pflichten altruistischer Art wie Pflichten zur Unterlassung von Schädigungen anderer und Pflichten zur Hilfeleistung in Notlagen stehen. Aber ob dieses in allen Moralen so sein muss, die diese Bezeichnung zu Recht tragen, darf bezweifelt werden. Auch eine Moral des verallgemeinerten Egoismus, die jedem das Recht zugesteht, ausschließlich im eigenen wohlverstandenen Eigeninteresse zu handeln, ist nicht nur denkbar, sondern in manchen Kreisen durchaus akzeptiert. Und ebensowenig, wie eine Moral aus begrifflicher Notwendigkeit altruistisch orientiert sein muss, muss sie autonomieorientiert sein, so wie es Frankena anzunehmen scheint, wenn er die Moral als eine Institution des sozialen Lebens bezeichnet, „die rationale Selbstlenkung und Selbstbestimmung in ihren Mitgliedern unterstützt" (Frankena 1921, 24). Auch dieses Merkmal gilt für viele, aber nicht für alle Moralen, z. B. nicht für die Moralen vieler fundamentalistischer Gruppen, die die persönliche Entscheidung und Gewissensfreiheit nur begrenzt als Wert gelten lassen. Es wäre unplausibel, einem Normensystem, das nicht Autonomie, sondern Heteronomie prämiert, das Recht abzusprechen, als Moral zu gelten, wie immer man eine solche Moral von seinem eigenen moralischen Standpunkt aus beurteilt.
1.4 Moralische lind moralrelevante Urteile
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Gilt dasselbe für die gesellschaftlichen Funktionen moralischer Normen? Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen der Moral gehören die folgenden: 1. Verhaltensorientierung und Erwartungssicherheit: Moralische „Selbstverständlichkeiten" sorgen dafür, dass der einzelne sich im Alltag gewohnheitsmäßig an bestimmten Normen orientiert und andere dies in ihre Verhaltenserwartungen aufnehmen. 2. Soziales Vertrauen und Angstminderung: Moralische Normen setzen Übergriffen anderer Grenzen und mindern die Angst vor Aggressivität und Übervorteilung. 3. Ermöglichung gewaltloser Konfliktbewältigung: Moralische Normen erlauben es, Interessen- und Normkonflikte nach Regeln statt nach dem „Gesetz des Stärkeren" zu lösen. 4. Ermöglichung von Kooperation: Moralische Normen schaffen Vertrauen in die Verlässlichkeit von Versprechen und Verträgen und schaffen die Grundlage für längerfristige Kooperationen zum wechselseitigen Vorteil. Wenn dies die wichtigsten Funktionen moralischer Normen sind, dann ist offenkundig, dass auch diese kein Alleinbesitz der Moral sind: Alle diese gesellschaftlichen Funktionen werden auch von anderweitigen gesellschaftlichen Normen, insbesondere von Rechtsnormen, übernommen.
1.4 Moralische und moralrelevante Urteile Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile über Handlungen, die diese Handlungen als in unterschiedlichem Grade billigenswert oder zu missbilligen bewerten. Der Zusatz „in unterschiedlichem Grade" ist wichtig, denn wir verfügen bei der Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen über ein Kontinuum von Bewertungen, das mehr Abstufungen erlaubt als die zweistufige Skala von moralisch Falsch und moralisch Richtig, moralisch Schlecht und moralisch Gut. Zwischen dem
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
moralisch Falschen und dem moralisch Richtigen liegen Zwischentöne: das moralisch Bedenkliche und Zweifelhafte (das näher beim moralisch Falschen liegt) und das moralisch Passable und Akzeptable (das näher beim moralisch Richtigen liegt). Dabei bedienen wir uns in der moralischen Praxis gewöhnlich Redewendungen, die nicht eigens den Ausdruck „moralisch" enthalten, aber dennoch eine unverkennbar moralische Tönung haben, etwa:
moralisch falsch/schlecht
unanständig, verwerflich, unmoralisch, perfide, schändlich, inakzeptabel, intolerabel
moralisch zweifelhaft
bedenklich, problematisch
moralisch akzeptabel
annehmbar, hmnehmbar, in Ordnung
moralisch richtig
löblich, anständig, verdienstvoll
moralisch herausragend
aufopfernd, vorbildlich, bewundernswert
Eine andere Art von Handlungsurteilen beurteilt Handlungen nicht nach ihrer moralischen Qualität, sondern danach, ob sie geboten, erlaubt oder verboten sind, bezieht sich also darauf, ob ihre Ausführung oder Nicht-Ausführung moralischen Forderungen entspricht. Handlungen, deren Ausführung erfordert ist, sind Handlungen, zu denen der jeweilige Akteur verpflichtet ist. Führt er sie aus, handelt er pflichtgemäß, führt er sie nicht aus, verhält er sich pflichtwidrig. Die einzelnen Ethik- (und Moral-)Systeme unterscheiden sich darin, wie sie die Skala der Verpflichtungsurteile der Skala der Qualitätsurteile zuordnen. Alle stimmen darin überein, dass das moralisch Falsche unerlaubt und pflichtwidrig ist und dass alle Handlungen, die demgegenüber eine moralisch höhere Qualitätsstufe erreichen, zumindest als erlaubt gelten müssen.
l .4 Moralische und moralrelevante Urteile
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Das lässt jedoch offen, ob das moralisch Akzeptable auch bereits als geboten und pflichtgemäß gelten kann. Eine Ethik, dies diese Frage bejaht, würde die folgende Zuordnung vornehmen: moralisch falsch/schlecht moralisch zweifelhaft
verboten, pflichtwidrig
moralisch akzeptabel moralisch richtig
erlaubt, geboten, pflichtgemäß
moralisch herausragend
nicht geboten, supererogatorisch
In diesem Denkrahmen betreffen Pflichten stets nur die Sicherstellung eines moralischen Minimums. Auch wenn jenseits dieses Minimums die moralischen Qualitätsabstufungen nicht aufhören, wirken sie sich dennoch nicht auf die jeweils zugeordneten Verpflichtungsurteile aus. Es gibt allerdings auch Ethiken, die die Messlatte für das Pflichtgemäße höher legen und nicht nur die Erfüllung des moralischen Minimums, sondern eine substanziellere Moralität für einforderbar halten. Das bedeutet dann, dass erst auf der Stufe des moralisch Richtigen der Pflicht Genüge getan ist. Das moralisch Akzeptable wird dann zwar nicht als „pflichtwidrig" eingestuft (das wäre irreführend), es wird aber dennoch nicht als hinreichend betrachtet. Es gilt dann das modifizierte Schema: moralisch falsch/schlecht moralisch zweifelhaft
verboten, pflichtwidrig
moralisch akzeptabel
erlaubt
moralisch richtig
geboten, pflichtgemäß
moralisch herausragend
nicht geboten, supererogatorisch
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Neben Handlungen sind auch Motive, Absichten, Einstellungen, Charakterzüge und Personen Gegenstand moralischer Bewertungen. Sie werden gemeinhin als moralische Werturteile von moralischen Handlungsurteilen unterschieden, mögen sie sich auch teilweise derselben sprachlichen Mittel - wie etwa der Ausdrücke „gut", „schlecht", „bedenklich" usw. - bedienen. Auch bei dieser Art von moralischen Urteilen geht es um eine Qualitätsbewertung, aber sie richtet sich statt auf die moralische Qualität von Handlungen auf die moralische Qualität von Motiven, Handlungsdispositionen und Charaktereigenschaften. Ihre Beurteilungsdimension ist nicht die von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht, sondern die von Gut und Böse, Tugendhaft und Lasterhaft. Auch hier ist die Abhängigkeit von den moralischen Handlungsurteilen offenkundig: Tugenden und Laster, gute und schlechte Motive, bedenkliche und löbliche Charakterzüge werden so bewertet, weil sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu moralisch richtigen oder falschen Handlungen führen. Moralisch positiv bewertete Charakterzüge manifestieren sich in moralisch positiv bewerteten Motiven, diese (in der Regel) in moralisch positiv bewerteten Absichten und Handlungen. Moralisch negativ bewertete Charakterzüge manifestieren sich in moralisch negativ bewerteten Motiven, diese (in der Regel) in moralisch negativ bewerteten Absichten und Handlungen. Dabei charakterisieren wir die moralische Qualität von Motiven, Einstellungen und Personen gewöhnlich durch „dichte" Begriffe (thick concepts), die zusätzlich zu bewertenden auch (unterschiedlich spezifische) deskriptive Anteile enthalten, etwa durch Tugendbegriffe wie Großzügigkeit, Bescheidenheit oder Zivilcourage oder - mit negativen Vorzeichen - Boshaftigkeit, Hartherzigkeit oder Grausamkeit. Moralische Werturteile stehen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu moralischen Handlungsurteilen. Allerdings darf diese Abhängigkeit nicht so verstanden werden, dass sich etwa der Großzügige tatsächlich großzügig verhalten oder der
1.4 Moralische und moralrelevante Urteile
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Grausame tatsächlich Grausamkeiten verüben muss, um als großzügig oder grausam zu gelten. Um entsprechend charakterisiert werden zu können, reicht es hin, zur Großzügigkeit oder Grausamkeit disponiert oder motiviert zu sein, auch wenn es keine Gelegenheit gibt, diese Dispositionen konkret zu beweisen. Das ändert nichts an der logischen Abhängigkeit der Beschreibungen der jeweiligen Motive, Einstellungen und Charakterzüge von den Handlungen, zu denen sie motivieren. Charakterzüge, Motive, Absichten und Handlungen stehen dabei in einem hierarchischen Verhältnis der Expressivität: Charakterzüge manifestieren sich in Motiven, Motive in Absichten, Absichten in Handlungen. Umgekehrt sind Handlungen Indizien für Absichten, Absichten Indizien für Motive, Motive Indizien für Charakterzüge. Eine dritte Kategorie von Urteilen, die in der Moral und vor allem in der Begründung moralischer Handlungsurteile eine Schlüsselfunktion übernehmen, ist die Kategorie der nichtmoralischen oder axiologischen Werturteile. Auch wenn es sich hierbei nicht um eigentliche moralische Urteile handelt, sind diese Urteile doch hochgradig moralrelevant. Nicht-moralische oder axiologische Werturteile beurteilen bestimmte innere (psychische) und äußere (Welt-)Zustände oder Ereignisse als gut und schlecht, wünschenswert und nicht wünschenswert, erstrebenswert und nicht erstrebenswert. Anders als moralische Werturteile beziehen sie sich weder direkt noch indirekt auf menschliche Handlungen. In der Regel macht es für die nicht-moralische Beurteilung von inneren oder äußeren Sachverhalten keinen Unterschied, ob oder inwieweit diese durch menschliches Handeln beeinflussbar sind. Aber relevant für die Moral werden sie in eben dem Maße, in dem die beurteilten Zustände und Ereignisse durch menschliches Handeln herbeigeführt oder verhindert werden können. Da bis auf wenige Ausnahmen alle Moralen die moralische Qualität von Handlungen u. a. von der nicht-moralischen Qualität der erwarteten, zu erwartenden oder beabsichtigten
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Handlungsfolgen abhängig machen, sind axiologische Werturteile in fast allen Moralen für moralische Handlungsurteile relevant, in vielen sogar ausschließlich relevant. Auch zwischen axiologischen und Handlungsurteilen besteht also ein Verhältnis der Abhängigkeit, allerdings mit dem Unterschied, dass nicht alle Moralen- und die, die es tun, nicht alle in demselben Maße - moralische Handlungsurteile von nicht-moralischen Werturteilen abhängen lassen. Moralen und Ethiken, nach denen die moralische Qualität einer Handlung ausschließlich von der axiologischen Qualität der Handlungsfolgen abhängt, werden traditionell teleologisch (von griechisch telos = Ziel, Zweck) genannt (vgl. Frankena 1972, 32). Auch hier wiederum gilt die Abhängigkeit stets nur „in der Regel", so dass abweichende Einzelfälle nicht ausgeschlossen sind. Im Einzelfall können die Beurteilungen in den drei Kategorien von Urteilen - den moralischen Handlungsurteilen, den moralischen Werturteilen und den axiologischen Werturteilen - die in der Regel bestehenden Abhängigkeitsbeziehungen durchkreuzen. Moralisch gute Motive können im Einzelfall zu moralisch falschem Handeln, moralisch schlechte Motive zu moralisch richtigem Handeln anleiten. Moralisch richtige Handlungen können im Einzelfall schlechte Folgen, moralisch falsche Handlungen im Einzelfall gute Folgen zeitigen. Es kann sogar vorkommen, dass sich das Vorzeichen zweimal umkehrt und moralisch gute Motive zu moralisch falschen Handlungen führen, die ihrerseits axiologisch gute Folgen haben. Umgekehrt können moralisch schlechte Motive zu moralisch richtigem Handeln führen, das seinerseits wiederum schlechte Folgen hat. Mephisto bezeichnet sich bei Goethe als „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" (Faust I, V. 1335). Hume spricht davon, dass jemand auch „zu gut" sein kann (Hume 1984 a, 185). Es ist jedoch nicht vorstellbar, dass gute Motive in der Regel zu moralisch falschen Handlungen führen oder dass moralisch schlechte Motive in der Regel zu moralisch richtigem Handeln
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l .4 Moralische und moralrelevante Urteile
führen. Vielmehr würde sich in diesem Fall die Bewertung der Motive umkehren. Dasselbe gilt der Tendenz nach für die Beziehung zwischen der moralischen Richtigkeit und Falschheit von Handlungen und für die Erwünschtheit oder Unerwünschtheit der Handlungsfolgen, wenn auch nicht mit derselben Verlässlichkeit. Das folgende Schema stellt die drei verschiedenen Urteilskategorien noch einmal gegenüber: Urteilskategorie
Urteilsgegenstand
typische Beurteilungsprädikate
letzte Begriindungsebene für deontologische Ethik
moralische Handlungsurteile
Handlung
richtig/falsch geboten/verboten/erlaubt pflichtgemäß/ pflichtwidrig
moralische Werturteile
Handlungsmotive, Charakterzüge
gut/böse gut/schlecht Tugend/Laster
Gesinnungsethik
Handlungsfolgen
gut/schlecht wünschenswert/nicht wünschenswert
ideologische Ethik
nichtmoralische (axiologische) Werturteile
Dieses Schema verdeutlicht, dass die Moral in der Regel nicht nur einen einzigen, sondern ein ganzes System miteinander verwobener Beurteilungsmaßstäbe beinhaltet. Die Moral ist in der Regel kein Monolith, sondern ein System verschiedenartiger Bewertungsskalen, die durch regelhafte Beziehungen miteinander verknüpft sind, auch wenn es in Einzelfällen Abweichungen gibt. In der überwiegenden Mehrzahl der Moralen
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
und Ethiken spielen alle drei Urteilskategorien eine Rolle. Nur wenige Systeme kennen ausschließlich nicht-moralische Werturteile (so die Ethik Epikurs und andere Formen der antiken Ethik, die ausschließlich ein höchstes Gut und darauf bezogene Klugheitsregeln, aber keinen Pflichtbegriff kennen). Nur wenige Moralen oder ethische Konzeptionen kennen ausschließlich moralische Handlungsurteile und moralische Werturteile und erkennen aber keine axiologischen Werturteile als moralisch relevant an (so die Ethik der Stoa und die Ethik Kants). Die Unterscheidung der drei Urteilskategorien bietet gleichzeitig einen Ansatzpunkt für die Klassifikation von Moralen und ethischen Theorien, und zwar danach, welche Beurteilungskategorie für sie von vorrangiger Bedeutung ist, d. h. welcher Art von Beurteilung sie jeweils Priorität einräumt. Die ideologische Ethik räumt den nicht-moralischen Werten die höchste Priorität ein. Sie sieht in der Moral im Kern ein soziales Instrumentarium zur Erreichung und Sicherung von nichtmoralischen Werten. Für sie ist die Schlüsselfrage die Frage nach dem summum bonum, dem höchsten Gut. Aus der Antwort auf diese Frage ergeben sich dann die Kriterien des richtigen Handelns und des guten Wollens. Die deontologische Ethik nimmt ihren Ausgangspunkt vom richtigen Handeln und fragt nur in zweiter Linie nach dem axiologischen Wert von inneren und äußeren Zuständen. Für diese Ethik ist das richtige Handeln nicht ausschließlich aus Folgenüberlegungen ableitbar, sondern hat einen folgenunabhängigen Eigenwert. Moralische Werturteile spielen allerdings wie in der teleologischen auch in der deontologischen Ethik nur eine sekundäre Rolle. Dies ist anders in der Gesinnungsethik, die die Motive und Verhaltensdispositionen (statt des konkreten Handelns) der Akteure in den Vordergrund rückt und dadurch definiert ist, dass sie den moralischen Wert der Motive - und nicht die moralische Richtigkeit des Handels - zum ausschlaggebenden Aspekt der moralischen Bewertung menschlichen Handelns macht. Handlungen werden weniger nach ihrer jeweiligen
1.5 Moralische und andere Wertungen
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konkreten Ausprägung als vielmehr nach den Motiven und Dispositionen bewertet, die ihnen zugrunde liegen und sich in ihnen manifestieren.
1.5 Moralische und andere Wertungen Wie wir gesehen haben, besteht kein Konsens darüber, ob das dritte und das vierte Kennzeichen des Moralischen, der Allgemeingültigkeitsanspruch und die Universalisierbarkeit notwendige Bedingungen sind, die erfüllt sein müssen, um Urteile, Normen und Prinzipien als „moralisch" zu klassifizieren. Verzichtet man auf diese Kriterien, lassen sich moralische Normen nicht mehr eindeutig von kulturellen Normen - Normen der Etikette, der gesellschaftlichen Konventionen und der Religion - abgrenzen. Die Grenze zwischen moralischen und kulturellen Normen verflüssigt sich. Nimmt man andererseits mit der Mehrheit der Ethiker - an, dass beide Kennzeichen für das Moralische notwendig sind, lässt sich zwischen moralischen und anderweitigen gesellschaftlichen Normen eine halbwegs eindeutige Grenze ziehen: Kulturelle und rechtliche Normen erheben anders als moralische Normen keinen Allgemeingültigkeitsanspruch, sondern beanspruchen Geltung lediglich für eine bestimmte Gesellschaft, eine Klasse, Kultur, Religionsoder Rechtsgemeinschaft. Viele juridische Normen sind darüber hinaus auch in zeitlicher Hinsicht terminiert. Auch sind die rechtlichen und kulturellen Normen nicht in derselben Weise wie die Moral auf die Universalisierbarkeit ihrer Urteile festgelegt. Religiöse Normen können sich auf den „Willen Gottes" (der als in einem bestimmten Text oder in einer bestimmten Lehre offenbart gilt) berufen, ohne dass von ihnen eine Begründung dafür verlangt wird, warum gerade diesem und keinem anderen Gott Gehorsam geleistet werden soll. Allerdings ist diese Grenze nicht in allen Fällen völlig eindeutig. Viele Normen des Verfassungs-, aber auch zum Teil des
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l. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Völkerrechts nehmen eine Zwischenstellung zwischen Moral und Recht ein. So erhebt z.B. der Grundrechtskatalog des deutschen Grundgesetzes einen über die Gesamtheit der deutschen Staatsbürger hinausgehenden universellen Geltungsanspruch. Obwohl es sich bei dem Grundrechtskatalog um staatlich gesetztes und insoweit positives Recht handelt, erhebt diese Rechtsetzung einen überpositiven und einen dem universalistischen Moralverständnis entsprechenden moralischen Geltungsanspruch, der aller staatlichen Gesetzgebung (und paradoxerweise auch sich selbst) vorausliegen soll. Wie unterscheiden sich moralische Bewertungen von ästhetischen Bewertungen? Viele Kennzeichen des Moralischen treffen auch auf ästhetische Bewertungen zu. Sie sind kategorisch und weisen - zumindest einigen einflussreichen Theorien des ästhetischen Urteils zufolge - auch die beiden letzten Kennzeichen auf: Sie geben nicht nur einer subjektiver Wertschätzung Ausdruck, sondern erheben einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Darüber hinaus sind sie in dem Sinne universalisierbar, dass sie ästhetische Wertaspekte nicht nur als supervenient zu bestimmten deskriptiven Merkmalen ihrer Gegenstände auffassen, sondern die ästhetischen Qualitäten auch in allgemeinen, durch logisch allgemeine Ausdrücke ausdrückbaren Aspekten begründet sehen. Der wesentliche Unterschied zu moralischen Urteilen besteht allein darin, dass sich ästhetische Bewertungen primär auf Gegenstände beziehen - auf Artefakte (Kunst) wie auf natürlich gegebene (Naturästhetik) - und erst sekundär auf Handlungen, die diese Gegenstände hervorbringen oder in anderer Weise mit ihnen umgehen. Darüber hinaus lassen sich eine Reihe weiterer Unterschiede zwischen moralischen und andersartigen Bewertungen benennen:
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1.5 Moralische und andere Wertungen
Normen
moralische
kulturelle
rechtliche
bewerten primär menschliches Handeln
X
X
X
sind kategorisch
X
X
X
ästhetische
X
beanspruchen Allgemeingültigkeit sind universalisierbar
x(?)
x(?)
l. Änderbarkeit. Moralische Normen lassen sich nicht willentlich in oder außer Kraft setzen. Sie wandeln sich aufgrund allmählich verlaufender sozialer Prozesse. „Moralpioniere" (wie Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King) oder Religionsstifter (Buddha, Jesus, Mohammed) können diese Prozesse allerdings wesentlich anstoßen bzw. sich bereits vollziehende Entwicklungen verstärken. Rechtsnormen dagegen gelten kraft Setzung, sowohl durch den Gesetzgeber als auch durch die Rechtsprechung, die ihrerseits wiederum durch Entwicklungen in der Rechtswissenschaft beeinflusst ist. Allerdings sind große Bereiche des Rechts einem ähnlich ganzheitlichen gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt wie moralische Normen. Kein Individuum und keine Institution vermag den Gang der Entwicklung aus eigener Kraft umfassend zu steuern. Vielmehr wirken eine Vielzahl von Entscheidungsinstanzen so zusammen, dass sich die kodifizierten Rechtsnormen und ihre Auslegung nach und nach - zum Teil mit großen zeitlichen Verzögerungen - den gewandelten gesellschaftlichen Anschauun-
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
gen anpassen. So hat sich etwa das Verständnis der Grundrechte durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts während der letzten 50 Jahre in vielen Einzelheiten signifikant gewandelt, großenteils in Anpassung an gewandelte gesellschaftliche Sichtweisen. Dagegen lassen sich kulturelle und ästhetische Normen ähnlich wie Moralnormen überwiegend nicht willentlich in Kraft oder außer Kraft setzen, auch wenn sich für sie vielfach „tonangebende" Individuen identifizieren lassen, die die Entwicklung dieser Normen maßgeblich prägen. 2. Art der Sanktionen. Charakteristisch für die Moral ist die große Bedeutung innerer Sanktionen wie Gerechtigkeitsempfinden und Schuldgefühl, während bei rechtlichen, kulturellen und ästhetischen Normen äußere Sanktionen wie Belohnung und Bestrafung, Lob und Tadel, Gewährung und Entzug von Anerkennung und Reputation eine größere Rolle spielen. Auch wenn die inneren Sanktionen von ihrer Entstehung her zumindest teilweise von (früheren) äußeren Sanktionen wie Tadel, Verachtung, Meidung und anderen Formen von „Liebesentzug" abhängen, werden sie doch gewöhnlich im individuellen moralischen Leben unabhängig von äußeren gesellschaftlichen Sanktionen wirksam und steuern als „Gewissensfunktionen" das Verhalten auch in Abwesenheit äußerer Sanktionen. Je stärker die inneren Sanktionen bei einem Individuum ausgeprägt sind (je vollständiger sein „Gewissen" entwickelt ist), desto stärker hängt die Wirksamkeit äußerer moralischer Sanktionen davon ab, wieweit sie den eigenen moralischen Überzeugungen entsprechen. Moralische Kritik, die der Akteur nicht innerlich nachvollziehen kann, z. B. weil sie auf der Grundlage einer von seiner eigenen Moral erheblich abweichenden Moral geäußert wird, wird dann allenfalls als Belästigung empfunden, statt eigene gleichgerichtete Überzeugungen und Verhaltensbereitschaften zu verstärken. Das Rechtssystem dagegen bedient sich primär äußerer Sanktionen (Strafe, Bußgelder, Verwarnung, „Maßnahmen" wie Führerscheinentzug). Die „Rechtsgesinnung" als innere
1.5 Moralische und andere Wertungen
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Sanktion spielt eine untergeordnete Rolle. Auch bei den kulturellen und ästhetischen Normen sind die Sanktionen gewöhnlich nur teilweise internalisiert. Eine wichtigere Rolle bei der Verstärkung normkonformen Verhaltens spielen äußere Sanktionen wie der Ausdruck von Befremden, der Verzicht auf Kooperationsangebote und soziale Isolierung. Das Individuum, das „dazugehören" will, sieht sich genötigt, bestimmten Normen zu entsprechen, ohne sie in sein eigenes Überzeugungssystem zu integrieren. 3. Form des sozialen Drucks. Charakteristisch für moralische Normen ist, dass sich Appelle an die Normbefolgung weniger an das Interesse an sozialer Anerkennung und Integration richten als vielmehr an Verstand und Vernunft. In der Moral appelliert man nicht nur an das Gewissen und das Verantwortungsgefühl, sondern wesentlich auch an Urteilsvermögen und Einsicht. Moralische Bewertungen beanspruchen, von jedem Verständigen als „vernünftig" anerkannt zu werden, unabhängig von den darüber hinausgehenden kulturellen Bezügen, in denen er lebt. Dies gilt zumindest für die dem universalistischen Moralbegriff entsprechenden Moralen. Der soziale Druck, der die Einhaltung partikulärer - etwa kultureller Normen sicherstellt, appelliert dagegen im wesentlichen an die Angst vor Marginalisierung. „Vernünftige" oder „einsichtige" Begründungen werden im allgemeinen nicht gegeben und auch nicht verlangt. Vielmehr wird Konformität auch ohne Einsicht gefordert - allenfalls die Einsicht in die eigene historische Situiertheit und die schlichte Notwendigkeit von Konventionen zur Erleichterung des Zusammenlebens. Auch das Rechtssystem appelliert nicht nur an die Furcht vor Sanktionen und den Wunsch, mit seiner sozialen Umwelt im Rechtsfrieden zu leben. Es appelliert auch an das Rechtsbewußtsein, das Gerechtigkeitsgefühl, das Gefühl für Billigkeit und Angemessenheit. Letztlich bezieht das Rechtssystem jedoch seine Durchsetzungsfähigkeit von der Androhung von Zwangsmaßnahmen.
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
4. Bedeutung für das soziale Zusammenleben. Moralische Normen sind durchweg von grundlegender Bedeutung für ein gedeihliches Zusammenleben, während von den Rechtsnormen einige bedeutsam sind, andere aber auch nur marginal, z. B. indem sie quasi als „Ausführungsbestimmungen" eine bestimmte soziale Praxis in concreto regeln und organisieren. Während sich moralische und Rechtsnormen in ihren sozialen Funktionen wenig unterscheiden, sind moralische Normen für die individuelle Lebensgestaltung sehr viel bedeutsamer: Sie stiften existenziellen Sinn und bilden die Grundlage für persönliche Beziehungen. Sie sind insofern weit mehr als bloße „Spielregeln" des sozialen Umgangs. Kulturelle und ästhetische Regeln sind wesensgemäß weniger bedeutsam für das gesellschaftliche Miteinander als moralische und Rechtsnormen. Für das Individuum und für den Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften können allerdings religiöse Normen eine alles überragende Bedeutung annehmen und dann - wie in vielen fundamentalistischen Gruppen - die moralische Normsphäre gänzlich dominieren. 5. Rolle von Entschuldigungsgründen. In der Moral führt das Vorliegen von entschuldigenden Bedingungen immer zur Entlastung von Sanktionen, im Recht und in anderen kulturellen Sphären nicht. Ein moralischer Tadel wird bei Vorliegen von Entschuldigungsgründen gegenstandslos, während das Rechtssystem demgegenüber in bestimmten Fällen auch unter entschuldigenden Bedingungen Sanktionen vorsehen kann, z. B. im Fall der „Gefährdungshaftung" im Umweltrecht, bei der eine Haftung auch ohne Verschulden des Gefährdenden eintritt. Wenn ein Minister die „Verantwortung" für Fehlentscheidungen für das Fehlverhalten Untergebener „übernimmt" und von seinem Amt zurücktritt, weist schon die Tatsache, dass diese Art „Verantwortung" von jedem zurechenbaren Verschulden des Ministers unabhängig ist, darauf hin, dass es sich hierbei weniger um die Übernahme genuin moralischer Verantwortung handelt als um einen rein symbolischen Akt.
1.6 Die Aufgaben der Ethik
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1.6 Die Aufgaben der Ethik Das Verhältnis der Ethik zur Moral ist so bestimmt worden, dass die Moral der Gegenstand der philosophischen Disziplin Ethik ist. Offenkundig besitzt die Ethik auf die Moral jedoch kein Monopol. Eine Reihe weiterer Disziplinen, darunter die Psychologie, die Soziologie, die Ethnologie und die Geschichtswissenschaft beschäftigen sich ebenfalls mit Phänomenen der Moral, anders als die Ethik allerdings primär unter empirischen Gesichtspunkten. In welcher spezifischen Weise bezieht sich die Ethik auf die Moral? Man kann das besondere Verhältnis der Ethik zur Moral durch sechs Aufgabenstellungen zu beschreiben versuchen: 1. Phänomenologie der Moral. Um über moralische Phänomene theoretisieren zu können, muss die Ethik diese Phänomene zunächst einmal verfügbar machen. Sie muss ihren Gegenstandsbereich deskriptiv erfassen. Dabei strebt sie allerdings weder Vollständigkeit noch historische und sozialwissenschaftliche Genauigkeit an, sondern beschränkt sich auf diejenigen Phänomene, die sie braucht, um ihre theoretischen Fragen mit Erfahrungswerten zu unterfüttern. Es geht ihr deshalb weniger darum, die exakte statistische Verteilung bestimmter Moralvorstellungen in der Gesellschaft zu ermitteln, als darum, ein ungefähres Bild von der Einheit und Vielfalt, der Entstehung und Funktion moralischer Maßstäbe und den Funktionsprinzipien des „moralischen Sprachspiels" zu vermitteln. Phänomenologisch-empirische Fragestellungen sind für die Ethik in genau dem Maße interessant, als sie Konsequenzen für die spezifisch theoretischen Fragestellungen der Ethik haben. So sind die Auskünfte der Soziolinguistik zur moralischen Sprache relevant für die metaethische Frage nach den Besonderheiten der Sprache der Moral und für eine Typologie moralischer Urteile. Ebenso relevant sind die ethnologischen und historischen Daten zur Verschiedenheit der Moralen für die ethische Frage, inwieweit der von moralischen Be-
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
urteilungsprinzipien erhobene Allgemeingültigkeitsanspruch unter realen Bedingungen als eingelöst gelten kann: Gibt es moralische „Universalien", in denen alle Moralen, die wir kennen, übereinstimmen, oder ergibt sich aus der Duchmusterung der tatsächlich bestehenden Moralen ein buntscheckiges, nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringendes Bild? In der Geschichte der Ethik haben insbesondere empiristisch orientierte Moralphilosophen zu einer solchen Phänomenologie der Moral Beiträge geleistet. Große Teile etwa von Adam Smiths „Theorie der moralischen Gefühle" (Smith 1977) oder von Humes „Untersuchung über die Prinzipien der Moral" (Hume 1984 a) widmen sich Fragen der deskriptiven Moralpsychologie, große Teile von Sidgwicks „Methoden der Ethik" (Sidgwick 1907) lassen sich u. a. als Beschreibung der Moral des viktorianischen Englands lesen. Aber ebenso wie bei den Philosophen, die historische Hypothesen zur Entstehung der Moral entwickelt haben - z. B. Nietzsche in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral" (Nietzsche 1966, Bd. 2, 761-900) oder Bergson in „Die beiden Quellen der Moral und der Religion" (Bergson 1933) - stehen die empirischen Anteile in einem mehr oder weniger direkten Bezug zu im engeren Sinne philosophischen Moraltheorien, die sie fundieren und exemplifizieren. Selbst der Gründer des Wiener Kreises des Logischen Empirismus, Moritz Schlick, der in seinen „Fragen der Ethik" (Schlick 1984) die „Ethik" als eine rein deskriptive Disziplin versteht, die die „ethischen Phänomene" beschreibt, wie sie sich der Erfahrung darbieten, ist seinem deskriptiven Programm nicht konsequent treu geblieben. 2, Normativ-ethische und metaethische Analyse der Moral. Neben der Phänomenbeschreibung gehört zu den Aufgaben der Ethik die Klärung und Rekonstruktion der Inhalte der Moral sowie der sprachlichen und argumentativen Mittel, mit deren Hilfe diese Inhalte formuliert, reflektiert und kommuniziert werden. Ziel der Analyse ist es, Inhalte, Zusammenhänge, Strukturen und Argumentationsformen verständlich und
1.6 Die Aufgaben der Ethik
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durchsichtig zu machen und dadurch die moralischen Akteure über das, was sie die meiste Zeit über unreflektiert und routiniert ausführen, ins Bild zu setzen. Erst eine solche Bewusstmachung ermöglicht einen kritischen Blick auf die allgemeine und die je eigene Moral. Dabei unterscheidet man gemeinhin zwischen einer normativ-ethischen Analyse, die sich den Inhalten der Moral, und einer metaethischen Analyse, die sich u. a. den für die Moral kennzeichnenden sprachlichen und argumentativen Mitteln zuwendet. Die Ausdrücke „normativ-ethisch" und „metaethisch" haben sich eingebürgert, sind aber dennoch nicht glücklich gewählt. Weder ist die normative Ethik notwendig normativ in dem Sinne, dass sie Normen aufstellt oder begründet, noch ist die Metaethik eine Disziplin, die irgendwie jenseits der Ethik steht und die Ethik zum Gegenstand hat, so wie sich die Metasprache auf die (Objekt-Jsprache bezieht und diese zum Gegenstand hat. Vielmehr sind beide Untersuchungsarten gleichermaßen Teile der Ethik oder der Moralphilosophie. Unterschieden sind sie lediglich dadurch, dass sich die normative Ethik den inhaltlichen Aspekten der Moral und den zwischen ihnen bestehenden Zusammenhängen zuwendet, während sich die Metaethik einerseits der Analyse der moralischen Sprache - d. h. der Verwendungsweise der in moralischen Urteilen typischerweise vorkommenden Ausdrücken wie „Sollen", „Pflicht", „Recht", „Gebot", „Schuld", „Verantwortlichkeit" widmet, andererseits der Analyse der Begründungs- und Argumentationsweisen, mit denen in der Alltagsmoral wie auch in philosophischen und religiösen Moralsystemen moralische Urteile, Prinzipien oder Ideale begründet werden. Darüber hinaus werden im allgemeinen auch Fragen nach der Wahrheitsfähigkeit und der Erkennbarkeit moralischer Urteile der Metaethik zugerechnet. Anders als die normative Ethik greift die Metaethik dabei zumeist auf Methoden zurück, die auch in anderen philosophischen Disziplinen eingesetzt werden und für den Bereich der Moral in keiner Weise spezifisch sind.
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
Aus der Definition von normativer Ethik und Metaethik folgt, dass die Unterscheidung zwischen beiden Untersuchungsrichtungen nicht völlig trennscharf sein kann. Zwischen Inhalten und Argumentationsweisen gibt es kontinuierliche Übergänge, vor allem bei Ethiksystemen, die keine inhaltlichen Kriterien der moralischen Richtigkeit kennen, sondern die Berechtigung zu bestimmten moralischen Urteilen an das Kriterium ihrer Begründbarkeit durch bestimmte Argumentationsweisen binden. Für eine „formalistische" Ethik wie die Ethik Kants oder die Diskursethik, die beide die Legitimität moralischer Urteilen danach bemessen, ob diese Urteile bestimmte Prüfungsverfahren bestehen, lässt sich zwischen normativer und Metaethik keine klare Grenze ziehen. 3. Moral- und Ethikkritik. Analyse steht in der Ethik vielfach im Dienste kritischer Absichten. Zum Gegenstand der Kritik können dabei so verschiedene Dinge werden wie die Begriffsbildung, die Argumentationsformen, die von einer Moral bzw. Ethik für ihre Urteile gegebenen Begründungen, die in den Urteilen zum Ausdruck kommenden Positionen und die erhobenen Geltungsansprüche. Ethische und moralische Kritik unterscheiden sich dabei durch die die Kritik jeweils tragenden Kriterien. Ethische Kritikansätze greifen im wesentlichen auf disziplinübergreifende und weithin akzeptierte kognitive Standards wie Klarheit, Eindeutigkeit, Konsistenz, Explizitheit und Plausibilität zurück; moralische Kritikansätze berufen sich ausdrücklich oder unausdrücklich auf die Positionen einer bestimmten als gültig vorausgesetzten Moral bzw. auf bestimmte persönliche oder weithin geteilte moralische Grundsätze.10 Auch hier gibt es kontinuierliche Übergänge. Standards der Plausibilität lassen sich nicht immer abtrennen von inhalt10 Die häufig anzutreffende Kritik eines bestimmten moralischen Urteils als „kontraintuitiv" kann deshalb mehreres heißen: dass das betreffende Urteil dem jeweiligen Autor nicht einleuchtet, dass es weithin geteilten moralischen Intuitionen nicht entspricht oder beides.
1.6 Die Aufgaben der Ethik
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liehen moralischen Überzeugungen, und auch Ethiker, die sich um eine distanziert-wissenschaftliche Sicht bemühen, lassen vielfach ihren eigenen moralischen Standpunkt in die ethische Kritik einfließen. Wie wir gesehen haben, ist bereits das Verständnis dessen, was „Moral" bedeutet, nicht gänzlich abzulösen von den inhaltlichen Überzeugungen, die man mit diesem Terminus verbindet. 4. Normenkonstruktion. Der Experte in Sachen Ethik ist nicht eo ipso auch ein Experte in Sachen Moral. Der Ethiker verfügt als solcher über kein irgendwie geartetes höheres Wissen um Gut und Richtig und darf sich nicht anmaßen, andere darüber belehren zu wollen. Ethiker sind Wissenschaftler und keine Gurus. Dass der Ethiker mit moralischen Begriffen, Argumenten, Normen- und Wertsystemen umzugehen versteht, macht ihn noch nicht zu einer moralischen Autorität. Das hindert ihn allerdings nicht daran, selbst normative Positionen zu vertreten und für gegebene moralische Problemlagen Lösungswege vorzuschlagen, die nach seiner Auffassung realitätsgerecht, zweckmäßig und gut begründet sind. Auch wenn er für seine Normenkonstruktionen keinen Anspruch auf Letztbegründetheit erhebt, werden seine Vorschläge im allgemeinen bestimmte Defizite nicht aufweisen, die er bei den Vorschlägen anderer für kritikwürdig hält. Normenkonstruktionen können sich auf jedem beliebigen Niveau der Allgemeinheit bewegen und reichen von umfassenden Ansätzen eines Gesamtsystems der Moral bis zu eng begrenzten Lösungsvorschlägen für kasuistische Einzelfälle. Gefragt ist die konstruktive Tätigkeit des Ethikers vor allem dann, wenn sich infolge neu aufkommender Handlungsmöglichkeiten Fragen nach dem Guten und Richtigen stellen, auf die die herkömmliche Moral keine oder nur unzureichende Antworten gibt, etwa weil diese auf einen älteren Stand der Technik zugeschnitten sind und sich als nicht angemessen für die durch die neuen Möglichkeiten aufgeworfenen Entscheidungsprobleme erweisen.
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1. Wesen und Aufgabenstellung der Ethik
5. Ontotogie und Erkenntnistheorie der Moral. Ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen gehören zum angestammten Problembestand der Moralphilosophie und weisen die engsten Bezüge zu metaphysischen und anderen Fragestellungen der theoretischen Philosophie auf. Fragen der Ontotogie der Moral sind Fragen nach der Seinsweise moralischer Sachverhalte: Gibt es moralische Sachverhalte? Können moralische Urteile im Sinne einer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit diesen Sachverhalten wahr oder falsch sein? Realisten behaupten, dass es derartige Sachverhalte gibt, Relativisten bestreiten das. Fragen nach der Erkenntnistheorie der Moral sind Fragen nach der Erkennbarkeit moralischer Sachverhalte und nach den zur Erkenntnis moralischer Sachverhalte tauglichen Erkenntnismitteln und -verfahren. Kognitivisten behaupten, dass es genuine moralische Erkenntnis gibt oder zumindest geben kann, Nonkognitivisten bestreiten das. 6. Moralpragmatik. Anders als Ontologie und Erkenntnistheorie der Moral gehört die Moralpragmatik nicht zum angestammten Aufgabenbereich der Ethik, ist aber immer da, wo sich die Ethik konstruktiv mit der Entwicklung von moralischen Normen für neue Anwendungsbereiche befasst, eine in der Praxis der Ethik nicht zu vernachlässigende Aufgabe. Gegenstand der Moralpragmatik sind Fragen der pädagogischen Vermittlung, der praktisch-politischen Umsetzung sowie Fragen der Motivierung zu einem normkonformen Verhalten, der zweckdienlichen Sanktionsformen und der möglichen institutionellen Verankerungen. Moralpragmatik ist eine Aufgabe, die sinnvollerweise in Kooperation mit anderen Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Rechtswissenschaft bearbeitet wird. Moralpragmatische Überlegungen spielen vor allem bei der Frage einer möglichen Umsetzung moralischer Normen in Rechtsnormen eine entscheidende Rolle. Angesichts der Tatsache, dass eine staatliche Durchsetzung moralischer Forderungen in Gestalt von Rechtsnormen mora-
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lisch signifikante Nebenfolgen insbesondere für die Freiheit des Einzelnen haben kann und nicht jede moralisch legitime Forderung auch schon eine geeignete Grundlage für rechtliche Kodifikationen darstellt, ist es Aufgabe der Moralpragmatik, zu prüfen, unter welchen konkreten Bedingungen eine Umsetzung von Moral in Recht erforderlich oder vertretbar ist. Die Aufgaben der Ethik im Überblick Phänomenologie der Moral Normativ-ethische und metaethische Analyse der Moral Moral- und Ethikkritik Normenkonstruktion Ontologie und Erkenntnistheorie der Moral Moralpragmatik
2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik 2.1 Ethik als „Grammatik der Moral" Der erste Schritt der ethischen Analyse, so hatten wir oben gesagt, ist eine phänomenologische Bestandserfassung der Moral, gewissermaßen eine Vergewisserung des Materials, mit dem die Ethik in jeweils besonderer Weise umgeht. So gut wie alle ethischen Theorien enthalten eine solche Phänomenologie oder zumindest ausschnitthafte Beschreibungen des in der Gesellschaft des Ethikers faktisch gespielten „moralischen Sprachspiels" und seiner grundlegenden Regeln und Strukturen. Das gilt auch für die Konzeptionen von Moralphilosophen, die sich primär als Moralreformer verstehen und den als änderungs- oder verbesserungsbedürftig empfundenen moralischen Grundsätzen ihrer Gesellschaft Alternativen gegenüberstellen. Für den Moralreformer bietet sich eine Rekonstruktion der geltenden Moral nicht zuletzt deswegen an, weil er darum bemüht sein muss, den vorgeschlagenen Alternativen den Weg zu ebnen, indem er Ansatzpunkte der geforderten Änderungen im Bestand der geltenden Normen selbst aufweist. Ethische Theorien, die die Beschreibung der Funktionsprinzipien der geltenden Moral in den Mittelpunkt stellen oder sich weitgehend auf eine Phänomenologie der geltenden Moral beschränken, lassen sich dem Modell einer rekonstruktiven Ethik zuordnen - im Gegensatz zum Modell einer fundierenden Ethik, die moralische Prinzipien nicht nur beschreibt, sondern darüber hinaus auch zu begründen versucht. Eine rekonstruktive Ethik verzichtet darauf, moralische Beurteilungsprinzipien zu begründen und in eine systematisch aufgebaute Theorie zu integrieren. Sie gibt sich damit zufrieden, die faktisch geltenden Normen in eine „übersichtliche Darstellung" (Witt-
2.1 Ethik als „Grammatik der Moral"
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genstein) zu bringen und in einer systematisch geordneten Form zu präsentieren. Meist verfolgt sie dabei nicht das ehrgeizige Projekt, die moralischen Phänomene auf ein einziges, letztes und obendrein möglichst einfaches Grundprinzip zurückzuführen, aus dem diese dann lückenlos herleitbar sind. Vielmehr begnügt sie sich in der Regel damit, die Vielfalt der Phänomene durch eine Vielfalt wechselseitig unabhängiger Prinzipien, Regeln und Gesichtspunkte zu erhellen. Die einzelnen „Züge" des „moralischen Sprachspiels" ergeben sich dann aus dem komplexen Ineinandergreifen dieser Prinzipien und ihrer Anpassung an wechselnde situative Bedingungen - in ähnlicher Weise, wie sich die konkreten Formen einer Sprache aus dem Wechselspiel von grammatischen Regeln und außersprachlichen Faktoren ergeben. Die Analogie der Moral mit der Grammatik (und die Analogie der Ethik mit der Grammatik als explizitem Regelwerk) ist eine ausgesprochen ergiebige Analogie.11 Wie das Regelsystem natürlicher Sprachen zumeist sehr viel komplexer ist als die Regelsysteme von Kunstsprachen, ist auch das Regelsystem „gewachsener" Moralen meist sehr viel komplexer als das Regelsystem der von Ethikern konstruierten Moralen. Wie in der Grammatik sind auch in der Moral die Regeln zumeist hierarchisch geordnet und lassen auf allen Ebenen Ausnahmen zu, wobei über die Ausnahmen nicht selten Meinungsverschiedenheiten entbrennen: Soll in einem Fall, in dem eine strikte Regelanwendung zu intuitiv unbefriedigenden Resultaten führt, der Regel gefolgt werden oder dem Sprachgefühl bzw. der Einzelfallplausibilität? Wie soll man sich verhalten, wenn für ein und denselben Zweifelsfall zwei oder mehr Regeln einschlägig sind, die zu unvereinbaren Resultaten führen? Wie in der Grammatik bleiben auch in der Moral die Regeln für die native Speakers weitgehend implizit und wenig überschaubar. Vermittelt werden sie weniger durch ausdrückliche Belehrung als 11 Sie findet sich bereits bei Adam Smith (vgl. Smith 1977, 268).
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
durch langjährige Gewohnheit und Übung, und u. a. deshalb sind beide stark emotional besetzt. Für beide Regelsysteme gilt, dass nicht alle, die bestimmte Regeln vertreten oder propagieren, sie auch in der Praxis konsequent einhalten. Andersherum gibt es diejenigen, die die Regeln korrekt einhalten, weil sie dazu erzogen worden sind, dennoch aber für eine Lockerung der Regeln eintreten. In beiden Bereichen kommt es im zeitlichen Verlauf zu strukturell ähnlichen „Generationenkonflikten": Wie ganze grammatische Kategorien, die Sprachkonservativen heilig sind (etwa die Verben mit dem Genitiv), allmählich in Vergessenheit geraten, geraten auch ganze moralische Kategorien in Vergessenheit (im 20. Jahrhundert etwa der gesamte Komplex der Ehre und der Pflichten zur Ehrenbezeigung). In beiden Bereichen gibt es keine zentrale Instanz, die die Regeln setzen und deren Befolgung erzwingen könnte. Weder für die sprachliche noch für die moralische Grammatik gibt es Gesetzgebungskörperschaften und Gerichte. Der Wandel vollzieht sich vielmehr dezentral, durch konvergierende Erosions- und Erneuerungsprozesse. An diesen sind so zahllose Akteure und Beurteiler beteiligt, dass eine Zuweisung von Verantwortlichkeiten ins Leere trifft. Klassische Beispiele für eine rekonstruktive Ethik finden sich bei so verschiedenen Philosophen wie Aristoteles, Schopenhauer und Sidgwick. Keiner der drei beschränkt sich vollständig auf die Rekonstruktion der herrschenden Moral seiner Zeit und seiner Gesellschaft. Alle drei erheben auch Forderungen, die mit der geltenden Moral unvereinbar sind und für die sie eine gesellschafts- und epochenübergreifende Verbindlichkeit reklamieren. Aber die Distanzierung von der Moral ihrer Zeit hält sich in engen Grenzen. Keiner stellt die Moral- und Tugendbegriffe seiner Gesellschaft grundlegend in Frage.
2.2 Rekonstruktive Ethik: Beispiele
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2.2 Rekonstruktive Ethik: Beispiele Aristoteles' Lehrschriften zur Ethik wenden sich an Leser (bzw. Hörer - die Schriften gehen wahrscheinlich auf Vorlesungen zurück), die im Geiste der Moral, die Gegenstand der Rekonstruktion ist, erzogen worden sind und deshalb über sie nicht erst noch belehrt werden müssen. Den Ausgangspunkt der Rekonstruktion bilden Üblichkeiten - die endoxay die allgemein vertretenen Auffassungen. Diese Vorverständnisse werden dann präzisiert, systematisiert und auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit überprüft. Aristoteles geht dabei im wesentlichen induktiv und analytisch vor, wobei er sich vor allem an den sprachlichen Gegebenheiten orientiert. Einzelfallurteile werden analysiert und daraufhin überprüft, wieweit sich aus ihnen allgemeine Aussagen ableiten lassen. Zugleich werden die in diesen Urteilen verwendeten Begriffe geklärt, in ihre verschiedenen Bedeutungen und Anwendungsbereiche differenziert und in der Regel einer abschließenden Definition oder Erklärung zugeführt. Illustriert wird Aristoteles rekonstruktives Vorgehen durch die bekannte Lehre von der mesotes in den Büchern II-IV der Nikomacbischen Ethik, die Lehre von der Tugend als „goldenem Mittelweg" zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, d. h. zwischen je zwei polar entgegengesetzten verderblichen Extremen, Als theoretische Konzeption scheint diese Lehre nicht besonders vielversprechend, sondern eher trivial: „Zuviel" und „zuwenig" sind bereits sprachlich negativ konnotiert, und was weder zuviel noch zuwenig ist, ist zwangsläufig besser als die Extreme. Aber nicht trivial ist, dass sich für eine Reihe von Tugenden tatsächlich eine Reihung finden lässt, bei der die jeweils positiv bewerteten Charaktermerkmale in der Mitte zwischen zwei negativ bewerteten zu liegen kommen:
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
Feigheit
Tapferkeit
Tollheit
Stumpfheit
Besonnenheit
Zügellosigkeit
Verschwendung
Großzügigkeit
Kleinlichkeit
Eitelkeit
Großgesinntheit
Kleinmütigkeit
Schwächlichkeit
Milde
Jähzorn
Ironie
Wahrhaftigkeit
Unverschämtheit
Tölpelhaftigkeit
Gewandtheit
Ungezogenheit
Grobheit
Liebenswürdigkeit
Gefallsucht
Schamlosigkeit
Scham
Schüchternheit
Auch wenn Aristoteles' Schematisierung in einzelnen Punkten gezwungen und schief ist, so zeigt sie doch sehr plastisch das Bemühen um eine Systematisierung und Strukturierung eines für den ethischen Laien schwer zu überblickenden Begriffsfelds. Bei Schopenhauer steht die rekonstruktivistische Ethikauffassung in engem Zusammenhang mit einer Grundsatzkritik an der Kantischen Ethik und ihrer Überbetonung des moralischen Sollens. Kants Ethik tendiert in Schopenhauers Sicht in mehr als einer Hinsicht dazu, das „Imperativische" der Ethik zu überziehen: Nicht nur sieht Kant das „Urphänomen" der Moral in der Sollensforderung, dem Imperativ, und versucht infolgedessen, die Strukturen der Moral vom Phänomen des Sollens her aufzuschlüsseln. Kant scheut sich auch als Moralphilosoph nicht, mit Berufung auf das oberste Prinzip, auf das ihn seine Analyse führt, des „Sittengesetzes", mit großem Pathos Sollensforderungen zu erheben und sich gewissermaßen zum privilegierten Ausleger und Vermittler dieses „Gesetzes"
2.2 Rekonstruktive Ethik: Beispiele
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zu machen. Dadurch aber begibt er sich in Schopenhauers Augen in die bedenkliche Nähe der theologischen Ethik, die moralische Urteile auf die Gebote eines göttlichen Gesetzgebers zurückführt. An die Stelle dieses antiquierten, weil seiner Meinung nach mythologischen Modells von Ethik setzt Schopenhauer als Gegenmodell die Idee einer Ethik als bloßer Rekonstruktion tatsächlich verbreiteter moralischer Handlungs- und Beurteilungskriterien. Damit wird für ihn die Ethik „die leichteste aller Wissenschaften" (Schopenhauer 1988, Bd. 4, 230) - vor allem da Schopenhauer meint, sämtliche faktisch anerkannten und praktizierten moralischen Urteilsmaßstäbe auf lediglich zwei Prinzipien zurückführen zu können, von denen das erste in allen Situationen Vorrang vor dem zweiten hat: auf das Prinzip der Gerechtigkeit (neminem laede), nach dem es moralisch falsch ist, anderen Schaden zuzufügen, und auf das Prinzip der Menschenliebe (omnes quantum potes juva), nach dem es moralisch richtig ist, anderen soweit wie möglich Gutes zu tun. Auch Sidgwicks monumentales Hauptwerk „The methods of ethics" (Sidgwick 1909) lässt sich (obwohl es gleichzeitig ein Hauptwerk des Utilitarismus [vgl. Kap. 5.3.4] darstellt) bemerkenswert tief auf eine Beschreibung und Analyse der in der Zeit des Viktorianismus herrschenden Moral ein - in genauer Entsprechung zu Sidgwicks Zielsetzung, „so klar und vollständig, als es die vorgesteckten Grenzen erlauben, die verschiedenen Methoden der Ethik darzustellen, die ich in unserem gewöhnlichen sittlichen Urteil vorfinde" (Sidgwick 1909, Bd. l, 17). Anders als in Schopenhauers forciert harmonisierender Rekonstruktion stellt sich für Sidgwick die Moral des common sense allerdings als ein inhomogenes Ganzes dar, das durch die drei von Sidgwick unterschiedenen „Methoden" - rationaler Egoismus, Intuitionismus und Utilitarismus - jeweils nur in Teilaspekten erfasst wird. Glaubt man Sidgwicks programmatischen Äußerungen (die er allerdings im Verlaufe seines Werks nicht immer konsequent einhält), geht es auch ihm ausschließ-
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
lieh um eine Rekonstruktion faktisch anerkannter moralischer Prinzipien und nicht darum, bestimmte Prinzipien zu postulieren oder zu begründen. Seinem methodologischen Programm zufolge versteht er sich ausschließlich als ethischer Wissenschaftler und nicht als Moralist. Das Bildungsziel der Ethik sei nicht die Verbesserung der Moral, sondern die Verbesserung des Verständnisses der Moral: „Deshalb habe ich... nie selbst irgendeinen positiven praktischen Schluß gezogen, außer zum Zwecke eines Beispiels, und habe nie gewagt, dogmatisch über irgendeinen streitigen Punkt zu entscheiden, außer wo die Streitfrage infolge eines Mangels an Genauigkeit oder Klarheit in der Definition von Prinzipien oder an Folgerichtigkeit im Überlegen entstanden zu sein schien." (Sidgwick 1909, Bd. l, 17) In der Gegenwart ersetzt die rekonstruktive Ethik weitgehend eine weithin fehlende Moralsoziologie. Die Rollen von Moralphilosophie und Moralsoziologie haben sich zunehmend verkehrt. Während die Soziologie in den letzten Jahren immer theoretischer und normativer geworden ist, ist die Moralphilosophie immer deskriptiver geworden (vgl. Schmidt 1994, 318). Differenzierte Beschreibungen etwa der verschiedenen Bedeutungsgehalte, Anwendungsbereiche und Funktionen des chamäleonartig vieldeutigen Begriffs der Gerechtigkeit verdanken wir weniger Moralsoziologen als vielmehr Ethikern wie Henry Sidgwick (1909), Chaim Perelman (1967), Michael Walzer (1992) und Jon Elster (1992). Obwohl diese Ethiker von sehr unterschiedlichen methodischen Ausgangspunkten ausgehen, stimmen sie darin überein, dass es in der faktisch geltenden und praktizierten - individuellen und politischen - Moral keine einheitliche und übergreifende Idee von Gerechtigkeit gibt, die die vielfältigen Verständnisse und Ausdifferenzierungen von Gerechtigkeit integriert. Das platonische Bild von „der" (einen) Gerechtigkeit als einer in sich einheitlichen und beherrschenden Leitidee geht an der Realität der Moral vorbei. „Gerechtigkeit" ist vielmehr eine Familie von Kriterien und
2.2 Rekonstruktive Ethik: Beispiele
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Idealen, die durch vielfältige und wechselnde Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander verknüpft sind und deren jeweilige konkrete Ausprägung entscheidend vom Anwendungskontext abhängt. Über die klassische, auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit hinaus lässt sich die Realität der Verwendung des Begriffs dabei nur unter Berücksichtigung weiterer kontextabhängiger Differenzierungen erfassen. Ausgleichende Gerechtigkeit betrifft die Angemessenheit des für eine Ware oder Dienstleistung verlangten oder bezahlten Preises (Tauschgerechtigkeit) und die Angemessenheit der Reaktion auf eine erwiesene Wohltat oder auf einen erlittenen Schaden, also die Vergeltung von Geschenken und Gefälligkeiten, die Würdigung von Verdiensten, die Kompensation von zugefügtem Unrecht und die Bestrafung von Rechtsverletzungen, sei es durch den jeweiligen Begünstigten oder Geschädigten oder durch die Rechtsordnung. Jedesmal geht es um das angemessene Verhältnis von Geben und Nehmen in einem bilateralen oder multilateralen Austauschverhältnis. Dabei kommen je nach Anwendungskontext unterschiedliche Kriterien zum Zuge. Während bei der Tauschgerechtigkeit und beim Schadensersatz zumindest als Ideal strenge Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, Schaden und Schadensersatz gefordert wird, gilt bei der Dankesbezeigung und beim Strafmaß lediglich ein Kriterium der Proportionalität, beim Strafmaß darüber hinaus nur mit erheblichen Einschränkungen. Das Strafmaß soll der Schwere der Straftat ungefähr proportional sein, muss aber darüber hinaus auch weitere - insbesondere folgenorientierte - Gesichtspunkte berücksichtigen. Noch offenkundiger ist die Vielfalt und Kontextabhängigkeit der Gerechtigkeitskriterien bei der austeilenden Gerechtigkeit. Was als „gerecht" gilt, wechselt von einem Lebensbereich der Gesellschaft zum anderen. Gleichheit gilt als gerecht bei grundlegenden Menschen- und Bürgerrechten und beim Zugang zu politischen Ämtern, Erziehungs- und Bildungs-
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
chancen und elementaren Gesundheitsdienstleistungen. In anderen Bereichen gelten Proportionalitätskriterien, in der Wirtschaft vorwiegend nach Leistung, im Rentensystem nach Lebenseinkommen, in der Besetzung öffentlicher Amter nach Qualifikation, in den Sozialleistungen und im System der gesetzlichen Krankenversicherung nach Bedürftigkeit. Bei der Lohn- und Preisgerechtigkeit schließlich spielen in der Marktwirtschaft Gerechtigkeitskriterien nur eine untergeordnete Rolle, da sich der Preis weitgehend nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt und ein marktunabhängiges Wertkriterium (etwa nach Arbeitsaufwand oder Naturverbrauch) nicht leicht zu formulieren ist. Jeder Lebensbereich der Gesellschaft hat seine eigene („lokale") Gerechtigkeit, und Grenzüberschreitungen zwischen den einzelnen „Sphären" (Walzer), die mit einer Übertragung der Normen des einen in andere Bereiche verbunden sind, wird meist mit Argwohn begegnet. So wird etwa die Übertragung ökonomischer Kategorien auf den Bereich der Gesundheitsfürsorge („Ökonomisierung"), der Kultur („Kulturindustrie") oder der Religion („Sektenunwesen") von vielen in diesen Bereichen Tätigen mit demselben Befremden abgewehrt wie die Übertragung familiärer Loyalitäten in die Politik („Nepotismus") oder in die Wirtschaft („Patronage"). Die Erhellung der Komplexitäten des Gerechtigkeitsbegriffs ist nur eines von vielen Beispielen für die von der rekonstruktiven Ethik geleistete Aufklärungsarbeit, vorausgesetzt, diese lässt sich auf die Komplexität der faktisch anerkannten und angewendeten Urteilsmaßstäbe ein. Das große Verdienst der rekonstruktiven Ethik besteht darin, dass sie ein Bild von der Differenziertheit vermittelt, mit der der moralische Alltagsverstand unterschiedliche Konstellationen von moralisch relevanten Faktoren zu beurteilen weiß und dabei die Beurteilungsmaßstäbe den jeweiligen Kontextbedingungen anpasst.
2.3 Grenzen der rekonstruktiven Ethik
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2.3 Grenzen der rekonstruktiven Ethik Neben ihren zweifellosen Verdiensten weist die rekonstruktive Ethik aber auch deutliche Schwächen auf. Als eine Ethik, die sich darauf beschränkt, geltende Normbestände zu systematisieren, ist sie mit gewissen Risiken konfrontiert, die nicht alle Ansätze in dieser Tradition erfolgreich gemeistert haben. Eine erstes Risiko ist die Tendenz, die rekonstruierten Prinzipien bedingungslos zu affirmieren und das Geltende lediglich deshalb, weil es gilt, auch für gültig zu halten und einer Kritik nach externen kognitiven oder moralischen Maßstäben zu entziehen. Eine derartige moralkonservative Tendenz tritt bereits bei Aristoteles zutage, z. B. wenn er die Unterordnung der Frauen oder die Sklaverei rechtfertigt, findet sich aber auch in einigen zeitgenössischen kommunitaristischen Ethiken. Bei Walzer etwa gerät die Rekonstruktion der den verschiedenen „Sphären" des gesellschaftlichen Lebens eigenen Gerechtigkeitskriterien wiederholt zur Apologie dieser Gerechtigkeitskriterien, so als wäre das faktische Funktionieren dieser verschiedenen moralischen Kulturen bereits ein hinreichender Beweis ihrer Legitimität. Moralische Defizite werden dann weitgehend nur darin gesehen, dass die für die jeweilige Sphäre geltenden Normen nicht hinreichend konsequent befolgt werden, weniger darin, dass diese Normen selbst möglicherweise revisionsbedürftig sind. Nichts in der Anlage der rekonstruktiven Ethik schließt aus, gleichzeitig mit der Rekonstruktion der geltenden Prinzipien über diese hinauszugehen und Vorschläge für moralische Reformen zu machen. Auch wenn in einer bestimmten gesellschaftlichen Sphäre bestimmte Gerechtigkeitskriterien fest etabliert sind, kann es doch gute moralische Gründe geben, diese durch andere Gerechtigkeitsvorstellungen zu ersetzen. So kann man etwa bezweifeln, ob die dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit folgende Vergeltungstheorie, die in den meisten Ländern im Bereich des Strafrechts anerkannt ist, den sozialpräventiven Funktionen des
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
Strafrechts hinreichend gerecht wird und ob diese nicht vielleicht in noch stärkerem Maße, als es bereits der Fall ist, durch ein Maßnahmerecht ergänzt oder abgelöst werden müsste. Eine zweite Problematik, mit der rekonstruktivistische Ethikansätze konfrontiert sind und der sie vielfach nicht hinreichend gerecht werden, ist die Tatsache, dass die für viele Lebensbereiche geltenden Normen nicht unumstritten sind, sondern verschiedene gesellschaftliche Gruppen für dieselbe „Sphäre" ganz unterschiedliche Prinzipien für angemessen halten. Dies gilt insbesondere für moderne, in ihren moralischen und nicht-moralischen Wertvorstellungen stark ausdifferenzierte wertpluralistische Gesellschaften. Dieser Pluralismus der Wertvorstellungen wird für die rekonstruktive Ethik zum Problem, da die Uneindeutigkeit der Werthaltungen die Möglichkeiten einer übersichtlichen und systematischen Rekonstruktion der etablierten moralischen Standards zwangsläufig beschränkt. Während eine moralreformerische Ethik (wie etwa historisch die politische Ethik Rousseaus oder der Utilitarismus) frei ist, sich ein eigenes Normensystem auszudenken, und lediglich darauf achten muss, interne Widersprüche und Ungereimtheiten zu vermeiden und sich keine allzu wirklichkeitsfremden Vorstellungen von ihrer Realisierbarkeit zu machen, ist die rekonstruktive Ethik an die Gegebenheiten gebunden und steht unter dem Zwang, die „Phänomene zu retten". Deshalb kann sie nicht umhin, auch denjenigen Normbereichen gerecht zu werden, in denen über das moralisch Gute und Richtige auch unter den Verständigen und Aufrichtigen alles andere als ein Konsens besteht. Diese Dissense beschränken sich in pluralistischen Gesellschaften nicht auf die Peripherie der Moral - etwa auf hochspezifische Rollennormen oder die für bestimmte Institutionen geltenden Normen -, sondern reichen bis ins Zentrum der gesellschaftlichen Moral hinein. Das naheliegendste Beispiel für einen besonders hartnäckigen Dissens, der dem Zentrum der Moral schon recht nahe kommt, ist die moralische Beurteilung des Schwangerschafts-
2.3 Grenzen der rekonstruktiven Ethik
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abbruchs und der verbrauchenden Forschung an menschlichen Embryonen und damit die Frage nach der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens in seinen frühesten Phasen. Die Kontroverse um dieses sogenannte „Statusproblem" - das Problem, welcher moralische Status dem menschlichen Embryo gegenüber den Interessen der Mutter bzw. Forschungsinteressen zukommt - hat sich als so wenig auflösbar erwiesen, dass eine rechtliche Regelung, wie immer sie ausfällt, zwangsläufig auf einer oder auf beiden Seiten als inakzeptable Zumutung empfunden wird. Entweder schützt sie das vorgeburtliche Leben zu wenig, oder sie wird den mit dem Lebensschutz konkurrierenden Werten wie Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit zu wenig gerecht. Eine mit der Frage des Lebensschutzes eng zusammenhängende Kontroverse betrifft den Gehalt und die Anwendungsbedingungen des in Deutschland wegen seines herausgehobenen verfassungsrechtlichen Rangs zentralen Prinzips der Achtung der Menschenwürde. Der Begriff „Menschenwürde" ist insofern ein Unikum, als bei ihm ein Höchstmaß an Pathos und Emphase mit einem Höchstmaß an inhaltlicher Unbestimmtheit zusammengeht. Dadurch erhält dieser Begriff ein quasi theologisches Gepräge: Wie bei der Rede über Gott ist es leichter, sich darauf zu einigen, dass das Gemeinte von zentraler und existenzieller Wichtigkeit ist, als darauf, worauf es sich der Sache nach bezieht. Dementsprechend ist der Begriff der Menschenwürde ähnlich wie der Gottesbegriff einer Vielfalt historisch wechselnden Deutungen ausgesetzt. Allerdings lassen sich zumindest einige Kerngehalte benennen: Der Begriff schreibt dem Menschen - als Individuum und als Gattung - eine besondere Wertigkeit zu, die ihn über die Individuen anderer biologischer Gattungen (bzw. über diese anderen Gattungen) hinaushebt und die von allen individuellen qualitativen Besonderheiten wie Entwicklungsstand, Fähigkeiten, Leistungen und besonderen Bedürftigkeiten unabhängig ist. Diese im Begriff der Menschenwürde liegende Privilegierung des Hu-
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
manum kann metaphysisch begründet werden, ist aber auf eine solche Begründung nicht angewiesen. Sie ist mit metaphysischen Konstruktionen wie der Geistseele der Scholastik oder dem intelligiblen Selbst Kants (die beide ausschließlich dem Menschen und allenfalls höheren Wesen, aber keinem Tier zukommen sollen) vereinbar, bedarf ihrer aber nicht. Eine unmittelbare Folge der inhaltlichen Unbestimmtheit des Menschenwürdeprinzips ist, dass seine Anwendung auf das ungeborene menschliche Leben mindestens ebenso kontrovers ist wie die Anwendung des Prinzip des Lebensschutzes und dass die Positionen dazu noch stärker polarisiert sind. Gegenwärtig gibt es wohl kein Thema, das für die gesellschaftliche Praxis ebenso unmittelbar relevant ist und bei dem sich gleichzeitig die Plausibilitäten über ein so großes Spektrum erstrecken. Am einen Ende des Spektrums wird die Auffassung vertreten, dass das Prinzip des Würdeschutzes nicht nur absolut gilt und gegen kein anderes Recht abgewogen werden darf, sondern dass es in diesem absoluten Sinn für das menschliche Leben auch bereits in seinen frühesten Stadien relevant ist. Am anderen Ende des Spektrums wird bezweifelt, ob die Anwendung des Begriffs der Menschenwürde auf diese frühen Phasen - abgesehen davon, dass sie für moralisch unplausibel gehalten wird - auch nur begrifflich möglich ist. Nach dieser Auffassung läuft das Zusprechen von „Menschenwürde" bei der befruchteten Eizelle auf nichts anderes als eine begriffliche Konfusion hinaus, bei der ein potenzieller Mensch irrigerweise so behandelt wird, als wäre er bereits ein wirklicher Mensch, ein aus einer einzigen Zelle bestehendes mikroskopisches Wesen also gewissermaßen durch eine Rückprojektion anthropomorphisiert wird. Wie soll sich eine rein rekonstruktive Ethik angesichts solcher radikalen Divergenzen verhalten? Wenn sie der Empirie gegenüber fair sein will, kann sie gar nicht anders, als den Dissens so stehen zu lassen, wie sie ihn vorfindet, auch wenn das von ihr gezeichnete Bild der Moral damit an Schärfe und Eindeu-
2.4 Principlism und Bernard Gerts zehn „moralische Regeln"
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tigkeit verliert. Freilich zwingt sie die Fairness dann auch dazu, ihre Systematisierungsziele zurückzunehmen und das Programm einer Rekonstruktion der geltenden Moral nicht durch allzu weitgehende Homogenisierungsbemühungen zu kompromittieren. Sie darf die Moral nicht als etwas darstellen, was sie nicht ist: als einen monolithischen Block, starr, scharf konturiert und klar nach außen hin abgegrenzt. Die Moral ist - wie andere soziale Regelsysteme auch - ein dynamisches System, das durch innere Ungleichgewichte und äußere Einflüsse, insbesondere aber durch die Notwendigkeit der Anpassung an sich schnell wandelnde Lebensbedingungen ständig in Bewegung gehalten wird. Wenn sie ihrem Programm treu bleiben will, muss sich die rekonstruktive Ethik dieser Dynamik öffnen und vermeiden, die Zukunft der Moral „an die Kette zu legen". 2.4 Moderne rekonstruktive Ethik: Principlism und Bernard Gerts zehn „moralische Regeln" Gibt es einen Weg, an den rekonstruktiven Zielen festzuhalten, ohne durch die Berücksichtigung des Meinungspluralismus die Übersichtlichkeit des resultierenden Bilds zu gefährden? Dass es diesen Weg gibt, belegen zwei der bekanntesten zeitgenössischen Ethikansätze, der sogenannte Principlism von Beauchamp und Childress und der minimalethische Ansatz von Bernard Gert. Bei aller inhaltlichen Verschiedenheit (und wechselseitigen Polemik) treffen sich beide rekonstruktiven Konzepte in einem gewissen ethischen Minimalismus. Nicht das Ganze der Moral, sondern lediglich deren Grundlinien sollen erfasst werden. Statt die kontroversen Verästelungen der moralischen Anschauungen im Detail nachzuzeichnen, beschränken sich beide Konzeptionen auf die groben Umrisse der Moral und rekonstruieren nur denjenigen Kernbestand an Prinzipien, der so unkontrovers ist, dass er von allen, die überhaupt am moralischen Sprachspiel teilnehmen, gleichermaßen anerkannt wird. Auf diese Weise fällt Licht zwar nur auf einen
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem der Moral. Für die rekonstruktive Ethik bedeutet diese Selbstbeschränkung jedoch gleichzeitig einen Zuwachs an Sicherheit. Sie umreißt den overlapping consensus, den „übergreifenden Konsens" (Rawls) zwischen den diversifizierten Moralen, von dem man mit Grund annehmen kann, dass er allen zukünftigen Wandlungen der Moral zum Trotz konstant bleibt und der in einer pluralistischen Gesellschaft dafür prädestiniert ist, durch Rechtsnormen festgeschrieben und effektiviert zu werden. Insofern ist eine minimalistische rekonstruktive Ethik ein nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch wichtiges Unternehmen. Wenn es in der hochdifferenzierten Gesellschaft unserer Tage nur wenig gibt, auf das man sich unproblematisch einigen kann, und wenn Recht und Politik darauf angewiesen sind, Kompromisse zu schließen, mit denen alle - behaglich oder unbehaglich - leben können, dann ist es von eminenter pragmatischer Bedeutung zu wissen, welche unbestrittenen Prinzipien diesen Kompromissen gewissermaßen als Anker dienen können. Für die Sicherheit und Eindeutigkeit der rekonstruierten Prinzipien ist allerdings ein Preis zu zahlen: Diese Prinzipien gelten nicht bedingungslos, sondern sind offen für Ausnahmen. Für die moralische Beurteilung konkreter Handlungen stellen sie stets nur allgemeine Gesichtspunkte bereit, die situativ jeweils mit anderen beurteilungsrelevanten Gesichtspunkten abzugleichen sind. Fertige Problemlösungen sind von einer solchen Ethik deshalb nicht zu erwarten. Würde sich diese Art von Ethik darauf einlassen, die genauen Bedingungen zu beschreiben, unter denen von den postulierten Prinzipien zugunsten anderer Gesichtspunkte abgegangen werden kann, würde sie sich bereits zu weit in den „kontroversen Moralbereich" (Gert) vorwagen, um ihre Eindeutigkeit aufrechterhalten zu können. Sie würde sich auf die Seite einer von vielen möglichen moralischen Meinungen stellen und damit von ihrem rein rekonstruktiven Programm abweichen.
2.4 Principlism und Bernard Gerts zehn „moralische Regeln"
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Was bei Beauchamp und Childress „Prinzipien" und bei Gert „Gebote" genannt wird, darf also nicht verwechselt werden mit den grundlegenden Axiomen oder Grundsätzen eines deduktiv verfahrenden Moralsystems. Die von dieser Art rekonstruktiver Ethik aufgewiesenen Prinzipien sollen nicht als oberste Sätze dienen, aus denen moralische Theoreme zur konkreten Urteilsfindung abgeleitet werden, sondern als Topoi, als leitende Gesichtspunkte, für die beansprucht wird, dass sie von allen, die sich überhaupt auf Moral einlassen, bei der moralischen Urteilsfindung als berücksichtigenswert anerkannt werden und insofern ein Stück dessen ausmachen, was man den moralischen common sense nennen könnte. Die „Prinzipien", die Tom L. Beauchamp und James F. Childress (1994) zunächst ausschließlich für die Medizin-Ethik formuliert haben, die sich aber leicht auf alle Anwendungsbereiche der Moral übertragen lassen, sind nicht mehr als vier: das Prinzip der Nichtschädigung, das Prinzip der Respektierung von Selbstbestimmung, das Prinzip der Fürsorge oder des Wohltuns und das Prinzip der Gerechtigkeit und Gleichheit.
Der Principlism von Beauchamp und Childress Beauchamp und Childress rekonstruieren den Kern der Moral durch ein Vier-Prinzipien-Schema: Nichtschädigung (nonmaleficence) Respektierung von Selbstbestimmung (autonomy) Fürsorge/Wohltun (beneficence} Gerechtigkeit/Gleichheit (justice)
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2. Phänomene logic der Moral und rekonstruktive Ethik
Das Prinzip der Nichtschädigung steht an erster Stelle, da es in den meisten Fällen, in denen es mit anderen Prinzipien kollidiert, unbestritten Vorrang genießt. Es verbietet, anderen Schaden an Leib, Leben oder Eigentum zuzufügen oder sie in diesen Hinsichten hohen Risiken auszusetzen. Neben physischen Schädigungen verbietet es auch psychische Schädigungen, z.B. durch Demütigung, Herabwürdigung, Eingriffe in die Privatsphäre und Verletzung der Selbstachtung. Das Prinzip der Respektierung von Selbstbestimmung versucht der besonderen moralischen Bedeutung der individuellen Wahlfreiheit gerecht zu werden. Danach ist nicht nur die Anwendung von Zwang, sondern auch jeder Akt von wohlmeinend-paternalistischer Bevormundung begründungsbedürftig. Grundsätzlich - im dem Sinne von „grundsätzlich", der begründete Ausnahmen zulässt - sind die Wünsche, Ziele und Lebenspläne anderer zu respektieren, auch dann, wenn derjenige, der zu ihrer Respektierung aufgefordert ist, sie auf dem Hintergrund seiner eigenen Wertvorstellungen nicht akzeptieren kann. Ein naheliegender gemeinsamer Oberbegriff für diese beiden ersten Prinzipien ist der Begriff der Achtung. Einen Menschen zu achten bedeutet mindestens, weder seine körperliche noch seine psychische Integrität ohne guten Grund zu verletzen oder zu beeinträchtigen und seinen Willen zu respektieren, solange dies ohne die Beeinträchtigung höherranger Güter möglich ist. Allerdings scheint es fraglich, ob sich der Gehalt der Achtung in diesen beiden Momenten erschöpft. Achtung heißt mehr als Respektierung von Integrität und Freiheit. Jemanden zu achten heißt auch, ihm dann, wenn es nottut, Hilfe nicht zu verweigern (Fürsorge), aber auch, ihn nicht schlechter zu behandeln als andere (Gleichheit). Das Prinzip der Fürsorge oder des Wohltuns fordert über die Nichtschädigung hinaus die Bereitschaft, auch dann anderen zur Seite zu stehen, wenn sie in Notlagen geraten, gleichgültig auf welche Ursachen diese im einzelnen zurückgehen - auf Fremdeinwirkung, schicksalhafte Faktoren oder auf Selbst-
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Schädigung. Um als die Rekonstruktion eines weithin akzeptierten Prinzips gelten zu können, muss dieses Analogen zum traditionellen Gebot der Nächstenliebe freilich eingeschränkt werden. Konsensfähig ist es allenfalls in der schwachen Form, in der es gebietet, anderen, die in Not geraten sind, zu helfen, soweit die Hilfe zumutbar ist und den Helfer nicht überfordert. Auch das Prinzip der Gerechtigkeit und Gleichheit muss im Rahmen einer rekonstruktiven Ethik minimalistisch verstanden werden, wenn es konsensfähig sein soll. Zwei Interpretationen bieten sich dafür an: eine Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes als Beweislastregel, die man Prima-facie-Gleichbehandlungsgrundsatz nennen könnte, und eine Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes als Fairnessprinzip. Als Prima-facie-Gleichbehandlungsgrundsatz interpretiert besagt der Gleichheitsgrundsatz, dass jeder Mensch grundsätzlich das Recht auf gleiche Behandlung hat, es sei denn, es gibt gute Gründe zur Ungleichbehandlung. Dieses Prinzip ist schwach genug, um als allseits akzeptabel gelten zu können. In der Tat fordert es sehr viel weniger als substanzielle Gleichheitsprinzipien (vgl. Williams 1973, 368). Es fordert lediglich, dass jede Ungleichbehandlung begründet werden muss, lässt jedoch offen, wie diese Begründung im einzelnen aussieht. Eine zweite Interpretation des Gleichheitsprinzips, die allgemein akzeptabel sein sollte, ist das Fairnessprinzip (vgl. Lyons 1965, 161 ff., Hoerster 1971, 111): Bei gemeinschaftlichen Aktivitäten sollten die Vorteile, die jeder einzelne aus der Aktivität zieht, seinen Beiträgen proportional sein. Dass es sich auch bei diesem Prinzip um ein Gleichheitsprinzip handelt, wird deutlich, wenn man ihm eine etwas andere Formulierung gibt: Das Verhältnis von Leistung und Ertrag sollte für alle gleich sein. Keiner sollte aus seinem Beitrag einen relativ größeren Ertrag ziehen als andere. Offensichtlich lässt auch dieses Prinzip große Interpretationsspielräume, "wie z. B. soll der relative Beitrag bemessen werden - nach der objektiven Leistung, nach der subjektiven Anstrengung, nach dem Anteil an
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2. Phänomenologie der Moral und rekonstruktive Ethik
Ressourcen, den es gemessen an den Ressourcen des einzelnen beansprucht? Jede nähere Festlegung würde die Konsensfähigkeit des Fairnessprinzips und damit seinen Platz in einer rekonstruktiven Minimalethik gefährden. Der zweite bekannte Versuch einer Rekonstruktion eines weithin konsensfähigen „harten Kerns" der Moral ist der minimalethische Ansatz von Bernard Gert (vgl. Gert 1983 und Gert 1998). Anders als Beauchamp und Childress formuliert Gert sein moralisches Minimum nicht in Gestalt vonprinciples, sondern in Gestalt von „moralischen Regeln", die sich formal an den Dekalog des Alten Testaments anlehnen. Die von Gert formulierten „Zehn Gebote" lauten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Du Du Du Du Du Du Du Du Du Du
sollst nicht töten. sollst keine Schmerzen verursachen. sollst nicht unfähig machen. sollst nicht Freiheit oder Chancen entziehen. sollst nicht Lust entziehen. sollst nicht täuschen. sollst Deine Versprechen halten. sollst nicht betrügen. sollst dem Gesetz gehorchen. sollst Deine Pflicht tun.
Dabei bezieht sich „Gesetz" im neunten Gebot im Sinne des englischen „law" auf das jeweilige Rechtssystem und „Pflicht" im zehnten Gebot auf die jeweils für das Individuum definierten Rollenpflichten, die es entweder freiwillig übernommen hat oder die ihm aufgrund seiner Position (z. B. als Kind oder Geschwister) von der Gesellschaft zugewiesen werden. Gerade angesichts dieser beiden letzen Gebote ist es zur Einschätzung von Gerts Liste wichtig zu bedenken, dass diese Gebote nicht als absolut geltend unterstellt werden, sondern lediglich als Prima-facie-Pflichten, d. h. als Regeln, die für den Fall, dass mehrere Regeln in einer Situation miteinander in Konflikt geraten, gegeneinander abgewogen werden müssen und die auch
2.4 Principlism und Bernard Gerts zehn „moralische Regeln"
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darüber hinaus Ausnahmen zulassen - nicht nur zugunsten anderer Regeln, sondern auch zugunsten der Interessen des jeweiligen Akteurs. Insofern sollte man sich von dem Eindruck von Strenge und Unnachgiebigkeit, den Gerts Dekalog auf den ersten Blick vermittelt, nicht täuschen lassen. Diese Ethik ist hinsichtlich der Ausnahmen, die sie gestattet, außerordentlich großzügig - und tut gut daran, wenn sie dem Anspruch, die schlechthin elementaren und allseits anerkannten moralischen Grundsätze zu rekonstruieren, halbwegs genügen will.
Zwei Typen rekonstruktiver Ethik 1. Systematisierende Beschreibung und Analyse der in einer Gesellschaft geltenden moralischen Normen
Beispiele: Aristoteles: Nikomachische Ethik Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral Sidgwick: Die Methoden der Ethik 2. Rekonstruktion eines weithin konsensfähigen „harten Kerns" der Moral Beispiele: Beauchamp und Childress: Principlism Gert: Minimalethik
3. Verfahrensethik 3.1 Formen der Verfahrensethik Mit der Verfahrensethik lernen wir in diesem Kapitel eine erste Ethikkonzeption kennen, die moralische Normen nicht nur beschreiben und systematisieren, sondern auch begründen und kritisch in Frage stellen will. Wie die Ausdrücke „Verfahrensethik" und „prozedurale Ethik" nahelegen, handelt es sich bei Verfahrensethiken um Theorien, die sich ganz oder weitgehend einer inhaltlichen Festlegung moralischer Beurteilungsprinzipien enthalten und lediglich bestimmte Verfahren vorschreiben oder vorschlagen, mit denen solche Prinzipien aufgefunden, erzeugt oder geprüft werden können. Eine Verfahrensethik enthält sich also keineswegs aller Prinzipien. Sie kann die Prinzipien, die auf der Ebene der Normfindung zu beachten sind, sogar sehr umfassend und bis ins einzelne spezifizieren. Entscheidend ist allein, dass sie darauf verzichtet, auf der Ebene des Norminhalts irgendwelche Vorgaben zu machen, und das Ergebnis des Normfindungsprozesses ganz oder weitgehend der jeweils kontingenten und nicht vorwegzunehmenden Anwendung der von ihr angegebenen Verfahren überlässt. Eine Verfahrensethik ist wesentlich ergebnisoffen. Falls der Verfahrensethiker daran interessiert ist, mit dem vorgeschlagenen Verfahren ganz bestimmte Normen zu realisieren, geht er ein beträchtliches Risiko ein. Er kann sich nicht sicher sein, dass die Ergebnisse der konkreten Anwendung des von ihm vorgeschlagenen Verfahrens so ausfallen, wie er sich das auf dem Hintergrund seiner eigenen moralischen Überzeugungen erhofft. Indem er auf jede inhaltliche Festlegung verzichtet, nimmt er in Kauf, dass die in der konkreten Durchführung seiner Verfahrensvorschläge erzielten Ergebnisse sich seiner eigenen Steuerung weitgehend entziehen.
3.1 Formen der Verfahrensethik
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Eine bevorzugte Strategie zur Minderung dieses Risikos ist die Beschränkung des Spielraums, in dem die Ergebnisse des jeweiligen Verfahrens variieren können, durch die Formulierung von Grenzbedingungen oder „Eckpunkten", innerhalb derer sich die möglichen Ergebnisse bewegen müssen. Die „Eckpunkte" fungieren dann ähnlich wie Verfassungsbestimmungen in Bezug auf die einfachen Gesetze oder die für bestimmte Verfassungsartikel geltende „Ewigkeitsgarantie" in Bezug auf mögliche Verfassungsänderungen.12 Man kann in diesem Fall von einer unvollständigen Verfahrensethik sprechen. Anders als eine reine Verfahrensethik, die ausschließlich Prozeduren der Auffindung, Generierung oder Prüfung moralischer Normen angibt und die Inhalte dieser Normen offen lässt, sind für eine unvollständige Verfahrensethik nur Verfahrensergebnisse akzeptabel, die sich in den Grenzen der angegebenen übergeordneten Normen halten. Eine naheliegende Grenze ist dabei die Sakrosanktheit der Verfahrensregeln selbst. Analog zum deutschen Grundgesetz kann eine Verfahrensethik Vorkehrungen dagegen treffen, dass das Verfahren im Zuge seiner Anwendung gewissermaßen „aus dem Ruder läuft" und die Anwendung der Verfahrensregeln ihre eigene Aufhebung nach sich zieht. In der Regel wird die Verfahrensethik deshalb Sicherungen einbauen und eine Verpflichtung zur Beachtung der Verfahrensregeln formulieren, die durch das Verfahren selbst nicht beliebig geändert oder aufgehoben werden kann. Unvollständige Verfahrensethiken postulieren mindestens zwei Arten von Normen: Erstens Normen, die bestimmen, wie das ethische Entscheidungsverfahren durchzuführen ist, zweitens Normen, die die möglichen Ergebnisse der Verfahrensdurchführung begrenzen. Einige Verfahrensethiken kennen darüber hinaus noch eine dritte Art von Normen, nämlich solche, die vorschreiben, dass das betreffende Verfahren durchge12 So darf etwa nach deutschem Verfassungsrecht auch eine verfassungsändernde Mehrheit des Bundestags die in Art. 20 festgelegte „Gliederung des Bundes in Länder" nicht in Frage stellen (Art. 79, 3 GG).
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3. Verfahrensethik
führt wird, bzw. - um diese Nom zu „effektivieren" - die Norm, allererst die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwirklichen und abzusichern, die eine Durchführung des geforderten Verfahrens zulassen. So gehört etwa zu den Prinzipien der von Karl-Otto Apel entwickelten Verfahrensethik u. a. das Prinzip, die für die Durchführung des diskursiven Verfahrens geforderte ideale Kommunikationssituation einer herrschaftsfreien und rationalen Normfindung allererst zu realisieren. Als Grundnorm seiner Diskursethik formuliert Apel die Norm, „in jeder Angelegenheit, welche die Interessen... Anderer berührt, eine Übereinkunft zwecks solidarischer Willensbildung anzustreben." Erst wenn diese Grundnorm anerkannt ist, sollen auch die je konkreten Normen gelten, über die in Übereinstimmung mit den Verfahrensnormen eine Übereinkunft erzielt wird (Apel 1973,426). In einer reinen Verfahrensethik dagegen müsste die Norm, den Diskurs über die Anfangsphase hinaus fortzusetzen, allererst durch die Diskursgemeinschaft selbst beschlossen werden. Verfahrensethiken weisen eine große Formenvielfalt auf und lassen sich nach mehreren Gesichtspunkten einteilen. Ein erster Gesichtspunkt ist, ob die von der jeweiligen Konzeption postulierten Verfahren real oder ideal zur Anwendung kommen sollen. Erstere fordern, dass die beschriebenen Verfahren in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit durchgeführt werden, letztere fordern lediglich, dass die Verfahren in Gedankenexperimenten durchgespielt werden. Ethiken dieses letzteren Typs lassen sich allerdings von Ethiken, die bestimmte inhaltliche Normen vorschlagen, so wenig eindeutig abgrenzen, dass es fraglich ist, ob man sie überhaupt den Verfahrensethiken zurechnen sollte. Viele ethische Theorien, die bestimmte Verfahrensweisen für die bloß gedankliche Herleitung und Begründung von moralischen Normen angeben, greifen auf die angegebenen Herleitungsverfahren nur deshalb zurück, um bestimmte inhaltliche und von vornherein feststehende inhaltliche Normen plausibel zu machen. Das Verfahren ist nicht
3.1 Formen der Verfahrensethik
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ergebnisoffen, sondern ergebnisorientiert.13 Das gilt etwa für viele Theorien eines hypothetischen Gesellschaftsvertrags in der Politischen Philosophie. Die Verfahrensnormen der hypothetischen Vertragsschließung haben in diesen Theorien weitgehend nur eine illustrierende und keine eigenständige Begründungsfunktion. Dabei gehen in die gedankliche Herleitung der Ergebnisse vielfach Voraussetzungen ein, von denen fraglich ist, ob sie für einen möglichen realen Anwendungslauf realistisch sind. So gehört etwa zu den Voraussetzungen vieler hypothetischer Verfahrensmodelle eine schematische AprioriPsychologie, die den an dem Verfahren beteiligten hypothetischen Personen bestimmte Motive und Intentionen zuschreibt, ohne im einzelnen zu überprüfen, ob sich diese auch empirisch bestätigen lassen. Das gilt etwa für das von Hobbes entwickelte Modell eines hypothetischen Staats Vertrags. Hobbes' Theorie eines hypothetischen Vertrags bedient sich einer ausgeprägt pessimistischen Apriori-Psychologie, die dem Menschen Selbsterhaltungstrieb und Todesfurcht als dominante Motive unterstellt. Primäres Bedürfnis der Menschen im hypothetischen „Naturzustand" ist es, ihr Leben zu erhalten und sich vor den Übergriffen anderer zu schützen. Die Ergebnisse des Gedankenexperiments hängen entscheidend von dieser Voraussetzung ab. Denn Hobbes argumentiert, dass angesichts der latenten Aggressivität anderer und der Dominanz des Schutzbedürfnisses die Menschen im Naturzustand bereit sind, auf alle individuelle Freiheit und politische Partizipation zu verzichten und sich auf eine autokratisch-absolutistische Staatsform zu verständigen. Die Machtvollkommenheit des absoluten Herrschers ist lediglich durch das Widerstandsrecht gegen einen Monarchen 13 In manchen Theorien, etwa bei Rawls, werden die Verfahrensregeln ausdrücklich so getroffen, dass sich am Ende die gewünschten Prinzipien ergeben: „Wir möchten den Urzustand so bestimmen, daß die gewünschte Lösung herauskommt" (Rawls 1975,165).
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3. Verfahrensethik
eingeschränkt, der sich als unfähig erweist, den Bürgern die gewünschte Sicherheit zu gewähren (vgl. Hobbes 1976, 171 Sicherheitserwägungen spielen auch in Rawls' „Theorie der Gerechtigkeit" (Rawls 1975) eine Schlüsselrolle, allerdings weitgehend nur im Bereich der Einkommensverteilung. Rawls geht von dem Modell eines hypothetischen Vertrags aus, bei dem die Grundprinzipien der gesellschaftlichen Ordnung und des politischen Lebens von egoistisch motivierten Akteuren in einem fiktiven „Urzustand" ausgehandelt werden. Die Wahl im „Urzustand" findet dabei unter einem „Schleier des Nichtwissens" statt, d. h. die Vertragsparteien müssen sich auf Prinzipien einigen, ohne ihre tatsächlichen individuellen Merkmale und gesellschaftlichen Positionen zu kennen. Auch bei Rawls sind die Ergebnisse der Theorie weitgehend durch die Apriori-Psychologie determiniert. Rawls postuliert für die an der Beschlussfassung im „Urzustand" Beteiligten eine ausgeprägte Präferenz für staatsbürgerliche Freiheiten und eine ausgeprägte Risikoscheu hinsichtlich der Einkommensverteilung und leitet daraus u. a. den Vorrang liberaler Freiheitsrecht sowie ein „Maximin" -Prinzip ab, nach dem die Einkommen so verteilt werden sollen, dass die relativ am schlechtesten Gestellten auf das vergleichsweise höchstmögliche Niveau kommen. Die Autoren dieser Modelle bedienen sich durchweg intuitiver Plausibilitätsüberlegungen. Ob dieselben Grundsätze auch bei einer realen Anwendung des jeweiligen Verfahrens beschlossen würden, ist ihnen gleichgültig. Man kann das als Indiz dafür nehmen, dass es ihnen im Grund weniger um diese Verfahren selbst geht als um die aus deren hypothetischer Durchführung abgeleiteten Prinzipien. Diese sollen durch die hypothetische Verfahrensanwendung lediglich plausibel gemacht und ihre Herleitung durch ein anschauliches Modell illustriert werden. In folgenden sollen deshalb unter „Verfahrensethiken" nur solche gefasst werden, die auf eine reale Ver-
3.1 Formen der Verfahrensethik
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fahrenspraxis zielen, deren Ergebnis nur unvollständig festgelegt und antizipierbar ist. Ein zweiter Gesichtspunkt, nach dem man verfahrensethische Konzepte einteilen kann, ist der, ob die Normfindung monologisch oder dialogisch erfolgen soll, ob also das Verfahren für die Anwendung eines einzelnen Beurteilers oder für die Anwendung in Gruppen von mehreren Beurteilern intendiert ist, die mithilfe des Verfahrens zu einer gemeinsamen Urteilsfindung kommen. Im ersteren Fall ist das Ergebnis der Verfahrensanwendung lediglich für den individuellen Beurteiler, im letzteren Fall für alle am Verfahren Beteiligten verbindlich. Für die meisten Verfahrensethiken lassen sich sowohl monologische als auch dialogische Anwendungen denken. Das gilt insbesondere für die sogenannten Kohärenztheorien. Kohärenztheorien lassen sich als Verfahrensethiken verstehen, die Methoden entwerfen, wie eine zunächst ungeordnete und teilweise widersprüchliche Menge von moralischen Überzeugungen so systematisiert werden kann, dass sie sich am Ende als ein geordnetes und zusammenhängendes Moralsystem darstellen lassen. Diese Methoden umfassen üblicherweise zwei Schritte. In einem ersten Schritt wird eine bestimmte Basismenge von vortheoretischen moralischen Urteilen („Intuitionen") ermittelt, deren Elemente dann in einem zweiten Schritt geordnet, systematisiert und durch wechselseitige Anpassungen miteinander kompatibel gemacht werden. Eine monologische Anwendung des Kohärenzverfahrens läuft auf einen Reflexionsprozess hinaus, bei dem sich ein Individuum über seine moralischen Urteile Rechenschaft ablegt und diese in eine widerspruchsfreie und geordnete Form überführt. Eine dialogische Anwendung desselben Verfahrens ist sehr viel anspruchsvoller. Sie erfordert nicht nur im ersten Schritt die Ermittlung der moralischen Urteile aller Beteiligten, sondern verlangt im zweiten Schritt, die Widersprüche zwischen den Urteilen verschiedener Beurteiler zu bereinigen und die Urteile der gesam-
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3. Verfahrensethik
ten Gruppe auf einen „gemeinsamen Nenner" zu bringen, der einerseits möglichst übersichtlich und systematisch ist, andererseits aber auch von allen akzeptiert werden kann. Drittens kann man Verfahrensethiken nach den formalen Strukturen der jeweils postulierten Verfahren unterscheiden: Was dient den Verfahren als Ausgangspunkt, auf welche Zielpunkte sollen sie zusteuern und auf welchem Wege sollen sie ihre jeweiligen Zielpunkte erreichen? Legt man diese Kategorien zugrunde, ergeben sich die auf Seite 91 aufgeführten Varianten: Im Folgenden werden diese Varianten im Einzelnen kommentiert.
3.2 Kasuistische Verfahren Kennzeichnend für kasuistische Verfahrensethiken (man spricht auch von „Kasuismus") ist, dass sie die Ebene allgemeiner Normen weitestmöglich meiden und sich gänzlich oder weitgehend auf die Beurteilung von realen oder hypothetischen Einzelfällen konzentrieren. Einzelfallurteile sind hier nicht nur die Ausgangspunkte, sondern auch die End- und Zielpunkte der moralischen Urteilsbildung. Neue Einzelfälle sollen anhand der Beurteilung von bereits bekannten Einzelfällen beurteilt werden, und zwar über eine Betrachtung der jeweils zwischen den Fällen bestehenden Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, Analogien und Disanalogien. Dabei soll ein zu beurteilender Einzelfall jeweils nach Analogie zu anderen Einzelfällen beurteilt werden, ohne ausdrücklich auf Prinzipien Bezug zu nehmen.
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3.2 Kasuistische Verfahren
Ausgangspunkt
Durchgangspunkt
Angezielter Endpunkt
Theorieheispiel
Einzelfallbeurteilung
Analogien, Disanalogien
Einzelfallbeurteilung
Kasuistik
Einzelfallbeurteilung
Verallgemeinerungen über Einzelfallbeurteilungen
Prinzipien
Kohärenztheorie I: „Induktives" Verfahren der Prinzipiengewinnung
Einzelfallbeurteilung, Prinzipien
Abwägung zwischen Einzelfallbeurteilung und Prinzipien
Einzelfallbeurteilung, Prinzipien
Kohärenztheorie II: „ Üherlegungsgleichgewicht" erster Art
Prinzipien
Kohärenzprüfung, Prinzipiendiskurs
Prinzipien, Praxisnormen
Kohärenztheorie III: „ Üherlegungsgleichgewicht" zweiter Art
Prinzipien
Prinzipiendiskurs, Konsensfindung
Prinzipien, Praxisnormen
Konsenstheorie
Ein Standardverfahren der traditionellen Kasuistik besteht in der Klärung und Lösung uneindeutiger Fälle durch Analogiebildung zu Fällen, für die bereits Lösungen existieren bzw. deren moralische Beurteilung unstrittig ist. Die Ermordung eines in jeder Hinsicht Unschuldigen ist eindeutig verwerflich; aber wie steht es mit uneindeutigeren Fällen von Tötung, etwa dem Tyrannenmord, der Tötung auf ausdrückliches Verlangen oder
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3. Verfahrensethik
der Tötung aus Notwehr? Auch diese Fälle stellen vorsätzliche und zum Teil bewusst intendierte Tötungen dar, stimmen also in bestimmten Merkmalen mit dem eindeutig verwerflichen Mord überein. Andererseits treten Merkmale hinzu, die moralisch relevant sind und die moralische Beurteilung in einem gewissen Maße modifizieren, wenn nicht umkehren. Das Charakteristikum der Kasuistik besteht darin, dass sie die dabei herangezogenen Gesichtspunkte im allgemeinen nicht ausdrücklich benennt und als Prinzipien formuliert, sondern die Urteilsfindung jeweils gänzlich dem Beurteiler überlässt. Würde sie sich darauf einlassen, die Gesichtspunkte und Prinzipien zu formulieren, nach denen sich die Analogiebildung und der Fall-für-Fall-Vergleich orientieren sollen, wäre sie keine reine Verfahrensethik mehr. Historisch wurde allerdings die Kasuistik nur selten unter Verzicht auf jegliche allgemeine Regeln praktiziert. Vielmehr kamen bei der Beurteilung strittiger Fälle durch Analogisierung mit unstrittigen stets auch allgemeine Maximen, Leitsätze und Hilfsprinzipien zur Anwendung, die etwa dem römischen Recht, dem kanonischen Recht oder der Bibel entnommen waren. Jonsen und Toulmin nennen in ihrem Buch über die Kasuistik in ihrer Blütezeit, dem 16. Jahrhundert (Jonsen/Toulmin 1988, 250 ff.) als Beispiel etwa die Regel, nach der ein kleines Übel geduldet werden kann, um ein größeres zu verhindern. 3.3
Kohärenztheorien
Im Gegensatz zur Kasuistik zielen Kohärenztheorien nicht auf die Auffindung oder Konstruktion von moralischen Einzelfallbeurteilungen, sondern auf die Auffindung oder Konstruktion allgemeiner, d. h. für unterschiedliche Fallkonstellationen relevanter moralischer Prinzipien. Diese sollen dadurch gewonnen werden, dass eine bestimmte Menge an faktisch ver-
3.3 Kohärenztheorien
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tretenen moralischen Überzeugungen in ein möglichst kohärentes, d. h. zusammenhängendes und einheitliches System überführt wird. „Kohärenz" schließt dabei Konsistenz, d. h. Widerspruchslosigkeit, ein, geht aber darüber hinaus. „Kohärenz" bedeutet, dass die einzelnen Teile des zu generierenden Systems von Urteilen und Prinzipien über die Widerspruchsfreiheit hinaus zueinander passen, miteinander harmonieren und sich wechselseitig stützen. Der Idealfall von Kohärenz liegt dann vor, wenn alle einzelnen Teile so eng miteinander verwoben sind, dass der Wegfall eines einzigen Teils das System zwar nicht zusammenbrechen lässt, die Überzeugungskraft der übrigen Teile jedoch merklich schwächt. Als eine Verfahrensethik verstanden kann der Kohärentismus stets nur formal und verfahrenstechnisch spezifizieren, wie und in welcher Richtung die geforderte Systematisierung im einzelnen erfolgen soll. Würde er angeben, mit welcher inhaltlichen Tendenz die Systematisierung der zugrunde gelegten Basismenge an Intuitionen betrieben werden soll, verlöre er seine verfahrensethische Reinheit. Soviel lässt sich aber immerhin über das Ergebnis der Systematisierung sagen, dass es kaum je alle Urteile, die zur jeweiligen Basismenge der Systematisierung gehören, bestehen lassen wird. Das aus der Systematisierung hervorgehende Normensystem wird vielmehr einige der zum ursprünglichen Ausgangspunkt gehörenden Urteile bestätigen, andere nicht bestätigen und in einigen Fällen vermittelnde Lösungen oder Kompromissvorschläge enthalten, die keines der miteinander konfligierenden Urteile zur Gänze, aber beide doch partiell bestätigen. Soviel folgt bereits aus dem im Kohärenzprinzip enthaltenen Konsistenzgebot. Da sich in der Ausgangsmenge unter allen realistischen Bedingungen eine große Zahl von Urteilen finden werden, die bereits logisch nicht miteinander vereinbar sind, werden nicht alle Urteile der Basismenge in der kohärenten Menge enthalten sein können. Aber auch eine gewisse Zahl an Urteilen, die
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3. Verfahrensethik
nicht mit anderen logisch unvereinbar sind, werden der Systematisierung zum Opfer fallen. Denn da Kohärenz mehr ist als Konsistenz, müssen die Urteile der Basismenge zweimal „gefiltert" werden - einmal durch den Konsistenz-Filter, der von je zwei unvereinbaren Überzeugungen höchstens eine durchlässt, dann durch den Kohärenz-Filter, der von den verschiedenen Möglichkeiten, die Basismenge der Urteile in eine konsistente Menge zu überführen, nur diejenigen durchlässt, die auch dem zweiten Kriterium, dem Kriterium der systematischen Geschlossenheit und Einheitlichkeit, genügen. Je nachdem, aus welchen Arten von moralischen Urteilen die Elemente der Basismenge bestehen, lassen sich drei Varianten einer kohärentistischen Verfahrensethik unterscheiden: 1. das Verfahren einer „induktiven" Normengewinnung aus Einzelfallurteilen, 2. eine erste Art des Verfahrens des Üherlegungsgleicbgewicbts, bei dem Einzelfallurteile und allgemeine Prinzipien gegeneinander abgewogen werden, und 3. eine zweite Art des Verfahrens des Üherlegungsgleichgewichtsy bei dem allgemeine Prinzipien gegen allgemeine Prinzipien abgewogen werden. Ein Beispiel für eine kohärentistische Verfahrensethik vom ersten Typ ist das von John Rawls in den 60er Jahren entwickelte „Entscheidungsverfahren für die normative Ethik" (Rawls 1976). Dieses Normengewinnungsverfahren vollzieht sich in drei Schritten: 1. einem Auswahlverfahren sogenannter kompetenter Moralbeurteiler, 2. der Ermittlung von Urteilen, die von diesen kompetenten Moralbeurteilern übereinstimmend getroffen werden, und 3. der Konstruktion einer moralischen Theorie auf der Grundlage der im zweiten Schritt herausgefilterten Urteile. In einem ersten Schritt wird eine Menge kompetenter Moralbeurteiler definiert, und zwar anhand bestimmter moralun-
3.3 Kohärenztheorien
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abhängiger Qualifikationen.14 Kompetente Moralbeurteiler sollen Personen sein, die einen gewissen Grad von Intelligenz besitzen, zur Selbstreflexion fähig sind, über Welt- und Menschenkenntnis verfügen und ihre Meinungen mit empirischen Daten und rationalen Argumenten begründen. Darüber hinaus sollen sie genügend Einfühlungsvermögen besitzen, um sich bei inter subjektiven Konflikten in die Interessenlagen aller beteiligten Konfliktparteien einfühlen zu können. Ein kompetenter Moralbeurteiler soll sogar über soviel Selbstdistanz verfügen, dass er sich nicht nur in die Interessenlagen, sondern auch in die Werthaltungen der an einem Konflikt Beteiligten versetzen kann. Er soll fähig sein, Sachverhalte, zu denen er aufgrund seiner eigenen Werte bestimmte Meinungen hat, zugleich auch hypothetisch aus der Wertperspektive anderer zu beurteilen. In einem zweiten Schritt wird die Klasse der wohldurchdachten moralischen Urteile definiert, und zwar als die Klasse derjenigen Urteile, die kompetente Moralbeurteiler über real vorkommende Fälle abgeben. Diese Urteile sollen dabei einer Reihe strenger Bedingungen genügen. Sie müssen nicht nur von allen kompetenten Moralbeurteilern gleich beurteilt werden, die Beurteiler müssen sich bei ihrem Urteil ihrer Sache auch ganz sicher sein. Sie dürfen ihre Urteile nicht nur als Meinungen, sondern als gefestigte Überzeugungen empfinden. Weiterhin sollen sie diese Urteile nicht nur einmal, sondern wiederholt und über die Zeit konstant äußern. Um die folgenden Verfahrensschritte nicht zu präjudizieren, sieht Rawls vor, dass die wohlüberlegten Urteile intuitiv und einzelfallbezogen abgegeben werden. Sie beinhalten jeweils nur die Prüfung eines einzigen Falles und greifen auf keine übergeordneten Prinzipien zurück. Zumindest dürfen sie nicht durch die bewusste Heranziehung allgemeiner Prinzipien zustande kommen. 14 Würden moralische Qualitäten zum Auswahlkriterium gemacht, setzte sich die Theorie dem Vorwurf der Zirkularität aus.
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3. Verfahrensethik
Der dritte Schritt besteht in der Konstruktion einer Theorie, die die wohldurchdachten Urteile in dem Sinne „expliziert", dass sie für alle Fälle, für die wohldurchdachte Urteile vorliegen, exakt dieselben Urteile impliziert. Die Übereinstimmung in den konkreten Konsequenzen macht es dann wahrscheinlich, dass die „explikative Theorie" genau die Grundlagen offenlegt, die den wohldurchdachten Urteilen implizit zugrunde liegen. Die explikative Theorie besteht nur noch aus Prinzipien. Sie soll darüber hinaus bestimmten Kohärenzanforderungen genügen. Von allen möglichen Theorien, die die zu explizierenden Urteile abdecken, soll - analog zu einem ähnlichen Verfahren in der Wissenschaft - diejenige Theorie bevorzugt werden, die die „größtmögliche Einfachheit und Eleganz" (Rawls 1976, 134) aufweist. Die derart gewonnene Theorie stellt dann die durch das Verfahren legitimierte Moral dar. Sie soll die moralischen Grundsätze liefern, die auf Einzelfälle anzuwenden sind. Es ist wichtig, bei dieser Verfahrensethik zwischen Gewinnungs- und Anwendungsbedmgangen zu unterscheiden. Während die gesuchte Moral als Explikation aus Urteilen abstrahiert wird, die unter den kompetenten Moralbeurteilern unstrittig sind, soll diese Theorie ihrerseits auf Fälle angewendet werden, für die sich unter den kompetenten Moralbeurteilern kein Konsens findet. Auch wenn die große Mehrzahl der kompetenten Moralbeurteiler einen konkreten Fall in einer bestimmten Weise löst (und nur eine kleine Minderheit anderer Meinung ist), soll in diesem Fall nicht die Auffassung der Mehrheit der Moralbeurteiler, sondern das Prinzip entscheiden. Anders als beim - weiter unten dargestellten - Verfahren des Überlegungsgleichgewichts kommt, nachdem die moralischen Prinzipien einmal gewonnen sind, den Prinzipien Vorrang vor allen eventuell abweichenden Einzelfallurteilen zu.15 15 In Rawls' Text werden diese Schlussfolgerungen nicht in dieser eindeutigen Weise getroffen, da er sein induktives Normgewinnungsmodell noch
3.3 Kohärenztheorien
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Diese Verfahrensethik ist ersichtlich auf eine Reihe von Voraussetzungen angewiesen, die sich in der Realität nur unter Idealbedingungen finden lassen. Sie setzt erstens voraus, dass die nach den angegebenen Kriterien herausgefilterten Moralbeurteiler tatsächlich in bestimmten Fragen zu einhelligen Urteilen kommen. Sie setzt zweitens voraus, dass sich diese Urteile überhaupt in ein kohärentes Gesamtsystem bringen lassen, d. h. dass sich ein System von Prinzipien finden lässt, das die fraglichen Urteile inkorporiert und gleichzeitig eine gewisse Geschlossenheit und Einheitlichkeit aufweist. Angesichts der zwangsläufigen Unbestimmtheit von Kriterien wie Kohärenz, Einheitlichkeit und „Eleganz" kann man jedoch bezweifeln, ob sich unter den Vertretern unterschiedlicher Moraltheorien Einigkeit darüber erzielen lässt, welche von mehreren möglichen „Explikationen" den Vorzug verdient. In der Realität der rekonstruktiven Ethik behaupten Vertreter ganz unterschiedlicher Ethiksysteme, die jeweils „kohärenteste" der Theorien zu vertreten, die alle oder zumindest nahezu alle der von allen kompetenten Beurteilern akzeptierten Einzelfallurteile (d.h. die „clear cases") enthalten. Ein Beispiel für einen verfahrensethischen Ansatz des zweiten Typs ist die ebenfalls von John Rawls - in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit" (Rawls 1975) - entwickelte Konzeption des „Überlegungsgleichgewichts" (reflective equilibrium}. Bei diesem Verfahren kann man zwei Varianten unterscheiden, das Überlegungsgleichgewicht erster und das Überlegungsgleichgewicht zweiter Art. Beim Überlegungsgleichgewicht erster Art liegen dem Beurteiler verschiedene allgemeine Prinzipien und gleichzeitig nicht klar von dem später sogenannten Modell des „Überlegungsgleichgewichts" unterscheidet und trotz eines zunächst klar ausgesprochenen Primats der abgeleiteten allgemeinen Prinzipen am Ende doch wiederum von einer Gleichrangigkeit und wechselseitigen Abwägungsbedürftigkeit von allgemeinen Prinzipien und Einzelfallurteilen ausgeht (vgl. Hoerster 1977, 73 ff.).
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3. Verfahrensethik
bestimmte wohlüberlegte Urteile über Einzelfälle vor, die nicht oder nicht vollständig miteinander vereinbar sind.16 Das Verfahren besteht darin, eine Übereinstimmung bzw. eine Balance - ein „Gleichgewicht" - zwischen allgemeinen Prinzipien und Einzelfallurteilen dadurch herzustellen, dass entweder die Prinzipien den Einzelfallurteilen oder diese den Prinzipien angepasst bzw. zwischen beiden vermittelnde Positionen gefunden werden. Anlass für diese Theorie war für Rawls die Suche nach einer einheitlichen Konzeption sozialer Gerechtigkeit. Da sich auch unter kompetenten Beurteilern voneinander abweichende Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit finden, ist nicht leicht zu sehen, wie sich die heterogenen Vorstellungen in eine einheitliche Theorie integrieren lassen sollen. Eine einheitliche Theorie ist für Rawls jedoch das zentrale Anliegen der Sozialphilosophie. Es soll eine Gerechtigkeitstheorie entworfen werden, die nicht nur die Summe verschiedener unabhängiger und bezugsloser Prinzipien ist, sondern ein kohärentes Ganzes, in dem sich verschiedene Erwägungen wechselseitig stützen und bestätigen (vgl. Rawls 1975, 39). Aber nicht nur die Theorie, auch ihre konkreten Anwendungen werden in die kohärenztheoretische Strategie einbezogen. Das Ziel ist eine Theorie, die nicht nur daran gemessen wird, wie plausibel ihre Prinzipien sind, sondern auch daran, wie plausibel die Resultate sind, die sich aus ihrer Anwendung in konkreten Entscheidungssituationen ergeben. Die zweite Variante des Verfahrens des Überlegungsgleichgewichts wird ebenfalls in John Rawls' „Theorie der Gerechtigkeit" im Zusammenhang mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit eingeführt. Im Unterschied zum Überlegungsgleichgewicht erster Art wird hier Kohärenz nicht zwischen Prinzipien und Anwendungen, sondern lediglich zwischen Prinzipien 16 Wiederum kann es sich bei diesen Urteilen um die Urteile eines einzigen Beurteilers oder die Urteile mehrerer handeln.
3.4 Konsenstheorien
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hergestellt. Unterschiedliche Prinzipien - eines einzelnen oder mehrerer Beurteiler — werden solange modifiziert, bis sie miteinander verträglich sind und sich in eine übergreifende Konzeption integrieren lassen. Für den monologischen Fall entspricht diese Art des Überlegungsgleichgewichts einem Integrations- und Anpassungsprozess, wie er sich typischerweise im Entwicklungsgang eines moralisch reflektierenden Menschen vollzieht. Die Normen, die wir im Alltagsleben vertreten, sind kaum je vollständig konsistent - schon deshalb nicht, weil sie aus einer Vielzahl verschiedener Quellen stammen: den allgemeinen Üblichkeiten, den eigenen Eltern, der Schule, der persönlichen oder beruflichen Bezugsgruppe usw. Moralische Reflexion besteht dann u. a. darin, die Normen dieses heterogenen Bestands sukzessiv so weit „zurechtzuschleifen", dass sie zusammenpassen und ein kohärentes Ganzes bilden. Auch wenn diese Integration nur selten vollständig gelingt, ist sie doch sicher ein sinnvolles Ziel persönlicher Identitätsbildung. Sie ist eine Vorbedingung für die Ausbildung einer reifen Persönlichkeit und eines unverwechselbaren persönlichen Profils. 3.4 Konsenstheorien Anders als kohärentistische Konzeptionen begnügen sich konsenstheoretische Verfahrensethiken nicht damit, aus einer Menge gegebener moralischer Intuitionen ein kohärentes System herauszufiltern und zu riskieren, dass keiner der Beurteiler, dessen Urteile in den „kohärenten" Kompromiss eingehen, mit dem Ergebnis wirklich zufrieden sein kann. Eine Konsenstheorie verlangt von den am Verfahren Beteiligten, sich in einem Diskussionsprozess auf eine Norm zu einigen und diese dann als für alle verbindlich anzuerkennen. Anders als bei politischen und rechtlichen Regelungen kann dabei eine moralische Einigung der Natur der Sache nach nicht durch Aushandeln („bargaining") erfolgen, sondern ausschließlich durch ei-
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3. Verfahrensethik
nen Prozess des Austausche von Meinungen und der wechselseitigen Überzeugung. Nicht die strategische Verhandlungsposition soll über das Resultat entscheiden, sondern allein Vernunftgründe, der „Zwang des besseren Arguments" (Habermas). Eine Verständigung auf der Grundlage von Vernunftgründen wird gewöhnlich „Diskurs" genannt, eine Verfahrensethik, die die Durchführung eines solchen Diskurses fordert und eine moralische Norm als legitimiert betrachtet, wenn sie sich in einem Diskurs als konsensfähig herausstellt, als „Diskursethik". Diskursethiken stellen an Diskurse, die moralische Normen generieren, neben der Rationalität des Gedankenaustausche noch weitere prozedurale Bedingungen, die eine gewisse Qualität des angestrebten Konsenses verbürgen sollen. Dazu gehört etwa die Gleichberechtigung der Diskursteilnehmer und der Ausschluss von Zwang und der Androhung von Sanktionen. Der Diskurs soll offen und „herrschaftsfrei" geführt werden und jedem Beteiligten die Chance geben, sowohl seine moralischen Standpunkte als auch seine nicht-moralischen Werte und Interessen zur Geltung zu bringen und in das Diskursergebnis einfließen zu lassen. In Jürgen Habermas' Diskursethik werden für den normbegründenden Diskurs u. a. die folgenden Regeln formuliert (Habermas 1983, 97 ff.): 1.1 Kein Sprecher darf sich widersprechen. 1.2 Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muss bereit sein, F auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. 1.3 Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen. 2.1 Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. 2.2 Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muss hierfür einen Grund angeben.
3.4 Konsenstheorien
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3.1 Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 3.2 a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. 3.3 Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in 3.1 und 3.2 festgelegten Rechte wahrzunehmen. Diese Liste macht bereits einige wichtige Unterschiede zu den von Rawls entwickelten Normgewinnungsverfahren deutlich. Dieses Verfahren ist ausschließlich dialogisch angelegt, es setzt eine intersubjektive Kommunikation voraus. Es bezieht neben moralischen Beurteilungen auch nicht-moralische Urteile, Werte und Interessen ein. Während Rawls' Normgewinnungsverfahren hohe Anforderungen an die Auswahl der Moralbeurteiler stellt, stellt Habermas' Diskursethik hohe Anforderungen an die Qualität der Kommunikation zwischen den Moralbeurteilern.17 Sind diese Anforderungen angesichts der realen moralischen Praxis möglicherweise allzu hoch? Diese Anforderungen sind in der Tat äußerst anspruchsvoll. Darin liegt aber womöglich nicht einmal das größte Problem. Das größte Problem der Konsenstheorie (und damit auch der Diskursethik) scheint weniger die geforderte Qualität des Diskurses als vielmehr die Voraussetzung, dass es bei einem solchen Diskurs tatsächlich zu einem Konsens kommt. Die Erfahrung zeigt jedenfalls, dass zumindest in pluralistischen Gesellschaften nur für sehr wenige Normen - weitgehend nur für die von der Minimalethik rekonstruierten elementaren Prima-facie-Normen - mit der von der Diskursethik geforderten Einstimmigkeit zu rechnen ist. 17 Darüber hinaus soll Habermas' Diskursethik nicht der Auffindung neuer Normen, sondern lediglich der Prüfung vorgeschlagener Normen dienen (vgl. Habermas 1983,113).
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3. Verfahrensethik
Gerade für kontroverse Fragen wäre jedoch eine verfahrensethische Strategie sinnvoll und relevant. Die Aussichten, in einem „herrschaftsfreien Diskurs" zu einem Konsens zu kommen, hängen selbstverständlich von den Bedingungen ab, die man für einen Konsens gelten lassen will. Ein Konsens ist um so unwahrscheinlicher, - je lückenloser der Konsens sein soll und je eher ein einziger „Abweichler" verhindern kann, dass das Verfahren zu einem verwertbaren Ergebnis führt. Auf reale Anwendung zielende diskursethische Konzeptionen (die sich allerdings nicht auf Diskurse über moralische Prinzipien, sondern über konkrete Projekte beziehen) gehen deshalb davon aus, dass es auch in einem Diskurs zu Minderheitsvoten kommt (Skorupinski/Ott 2000, 139); - je größer die Diskursgemeinschaft ist, die durch argumentativen Austausch zu einem einhelligen Urteil kommen soll; - je weniger bei der Diskursgemeinschaft von einer gewissen kulturellen Homogenität ausgegangen werden kann; und nicht zuletzt, - je intensiver die Diskursgemeinschaft über die zu entscheidenden Prinzipien diskutiert. Nach allem, was wir sozialpsychologisch wissen, führt mehr Diskursivität im allgemeinen zu weniger und nicht zu mehr Konsens. Je mehr und ausgiebiger über eine Frage diskutiert wird, desto wahrscheinlicher ist eine Divergenz der Meinungen. Eine „Lösung" kann dann nur ein Kompromiss sein, der der Auffassung keines der Beteiligten voll und ganz entspricht. Speziell in dem konsenstheoretischen Modell von Habermas gibt es zwei Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines Konsenses in besonderer Weise in Frage stellen: Der erste ist die Einbeziehung von Interessen. Es ist zweifellos ein Vorzug von Habermas' Modell, dass ihm zufolge im Diskurs neben moralischen Prinzipien und Überzeugungen auch Wünsche und Bedürfnisse geäußert und geltend gemacht
3.4 Konsenstheorien
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werden sollen. Die Einbeziehung von Wünschen und Interessen mindert jedoch die Aussichten auf eine Konsensfindung. Viele moralische Normen, etwa solche der Verteilungsgerechtigkeit, kennen nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Verlierer in allen Fällen dieselben Normen wie die Gewinner als akzeptabel empfinden. Zwar wissen wir, dass die moralischen Überzeugungen von den nicht-moralischen Präferenzen erheblich abweichen können. Einige Menschen vertreten moralische Normen, von deren Verwirklichung sie selbst keinen Vorteil, sondern nur Nachteile zu erwarten haben, z. B. wenn sie für eine Sozialpolitik eintreten, die die Ärmsten der Gesellschaft besserstellt, für sie selbst aber allenfalls höhere Steuerzahlungen bedeutet. Es ist jedoch fraglich, ob dies für alle Diskursteilnehmer und für alle gesellschaftlichen Bedingungen gelten kann. Der zweite erschwerende Faktor ist die „Tiefe" des angestrebten Konsenses. Ein Konsens ist um so eher zu erwarten, je „flacher" er ist, d. h. je mehr er lediglich die in der Praxis anwendbaren Normen und je weniger er die diesen Normen zugrunde liegenden Prinzipien betrifft. In Habermas' Diskursmodell wird jedoch ein Konsens nicht nur für die Praxisnormen, sondern auch für die Gründe, aus denen die Praxisnormen für die Teilnehmer akzeptabel sind, angezielt. Alle Diskursteilnehmer sollen denselben Normen aus denselben Gründen zustimmen. Das geht jedenfalls aus Habermas' Formulierung hervor, nach der eine Norm dann gültig sein soll, wenn „die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können" (Habermas 1983, 75 f.). In der Regel ist ein Konsens jedoch um so schwerer zu erreichen, je tiefliegender die Prinzipien sind, über die ein Konsens angestrebt wird. Dies erklärt sich u. a. dadurch, dass die grundlegenden Prinzipien oft sehr
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3. Verfahrensethik
viel stärker als die „mittleren Prinzipien" und die konkreten Handlungsbeurteilungen von ihrerseits umstrittenen metaphysischen und weltanschaulichen Annahmen abhängen. Demgegenüber schlagen sich die Differenzen in den weltanschaulichen Grundlagen nicht immer in den relativ praxisnäheren normativen Überzeugungen nieder. Vielmehr können sich Vertreter unterschiedlicher grundlegender Grundprinzipien auf der Praxisebene oftmals relativ unkompliziert einigen. Dies hat sich insbesondere in einem Anwendungsgebiet der Ethik gezeigt, in der die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der grundlegenden moralischen Orientierungen besonders ausgeprägt ist, der Ethik des menschlichen Umgangs mit der außermenschlichen Natur. Die Tatsache, dass es hier trotz gegensätzlicher Ausgangspunkte auffällig häufig zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen für die Praxis, kommt, spricht für die von Bryan Norton (in Norton 1991) aufgestellte „Konvergenzhypothese", nach der im Bereich der Naturethik grundverschiedene Basisüberzeugungen einen Konsens über das konkret Richtige und Falsche keineswegs ausschließen. Unterschiedliche Begründungsmuster münden vielmehr ein in identische Empfehlungen für die praktische Politik. So sind sich etwa Anthropozentriker, die ausschließlich menschlichen inneren und äußeren Zuständen einen moralisch relevanten Eigenwert zuschreiben, mit Bio- und Physiozentrikern, die die Sphäre des Eigenwerts auf die nicht-menschliche Natur ausdehnen, hinsichtlich vieler Arten von Naturwerten einig, auch wenn sie diese Werte jeweils unterschiedlich interpretieren. Auf einer „mittleren" Ebene können sich die Vertreter beider Positionen etwa über die Wichtigkeit der Erhaltung von Naturschönheit und Naturvielfalt einigen, auch wenn sie diese Werte auf dem Hintergrund ihrer Basisüberzeugungen ganz verschieden einordnen: der Bio- und Physiozentriker als „Eigenwerte" der Natur, der Anthropozentriker als „inhärente" Werte (Frankena 1979), d. h. als Werte des kontemplativen Naturerlebens.
3.5 Verfahrensethiken ohne Verfahren
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3.5 Verfahrensethiken ohne Verfahren Die paradoxe Überschrift soll darauf hindeuten, dass auch die damit gemeinten Ethiken nicht ganz ohne paradoxe Züge sind. Gemeint sind eine Reihe von ethischen Ansätzen, die einerseits wie die Verfahrensethiken bewusst darauf verzichten, für die zu befolgenden moralischen Normen inhaltliche Festlegungen zu treffen, andererseits diesen Mangel aber nicht durch die Angabe konkreter Verfahrensschritte ausgleichen. Vielmehr geben sie nur ganz rudimentäre prozedurale Hinweise. Das Maximum an Offenheit, das diese Ethikansätze der moralischen Normfindung lassen, ist erkauft durch ein Minimum an Orientierungsfunktion. Die drei wichtigsten Ausprägungen einer Ethik, die sich weder inhaltlich noch prozedural näher festlegt, sind die Gewissensethik, die Situationsethik und der Dezisionismus.
3.5.1
Gewissensethik
„Gewissensethik" ist in der Ethik kein etablierter Begriff. Der Ausdruck soll hier eine Ethik bezeichnen, die außer der Aufforderung, dem jeweils eigenen Gewissen zu folgen, keine inhaltlichen Vorgaben macht. Sie postuliert lediglich, dass die Normen des Gewissens von logisch allgemeiner Form sind, d. h. sich jeweils nicht nur auf einzelne Situationen, sondern auf Typen von Situationen beziehen. Ohne bereits den weitergehenden Anforderungen des Universalisierungsprinzips genügen zu müssen, sollen die Weisungen des Gewissens zumindest der Forderung genügen, in allen Hinsichten gleiche Situationen in gleicher Weise moralisch zu beurteilen. Eine rein formale Gewissensethik in diesem Sinne findet sich bei Fichte. Fichte postuliert in seinem „System der Sittenlehre": „Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht; oder: handle stets nach deinem Gewissen" (Fichte
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3. Verfahrensethik
1963, 153). Dieses Postulat besagt im Grunde nicht mehr, als dass in allen denkbaren Entscheidungssituationen, das eigene moralische Urteil Priorität haben sollte. Es ist insofern das normative Gegenstück zu der von Hare vertretenen - und oben (Abschnitt 1.2.1) abgelehnten - metaethischen These der notwendigen overridingness moralischer Gesichtspunkte. In jeder Situation soll man so handeln, wie es dem eigenen moralischen Urteil entspricht - also nicht so, wie es etwaigen anderweitigen Urteilen entspricht, seien dies die moralischen Normen der Gesellschaft oder nicht-moralische - rechtliche, ästhetische oder prudentielle - Normen. Inhaltlich bleibt die Forderung jedoch gänzlich leer, da nicht festgelegt wird, an welchen Normen sich das Gewissen seinerseits orientieren soll. Auch werden der Forderung, dem eigenen Gewissen zu folgen, keine irgendwie gearteten Grenzen gesetzt. Auch wenn man der Gewissensethik mit ihrem Appell an das autonome moralische Urteil und die innere Unabhängigkeit jedes Einzelnen den Respekt nicht versagen kann, so hat sie doch zwei unübersehbare Schwächen. Die erste besteht darin, dass sie das Gewissen als etwas Festgelegtes und schlechthin Vorgegebenes behandelt - als eine Art Orakel, das es nur noch zu befragen und dem es bedingungslos zu folgen gilt. Tatsächlich entstehen moralische Konflikte und Entscheidungsprobleme aber gerade da, wo die Auskünfte des „Gewissens" entweder uneindeutig, unsicher oder für den Akteur, der weiß, dass es sich bei den Regungen seines Gewissens um Sedimente früherer auf ihn einwirkender Einflüsse handelt, zweifelhaft sind. Die schlichte Berufung auf das Gewissen bedeutet insofern eine ausgesprochene Verkürzung der Entscheidungsprobleme, mit denen wir in der Wirklichkeit der Moral konfrontiert sind. Es gibt nur in wenigen Situationen Weisungen des „Gewissens", die eindeutig und vertrauenswürdig genug sind, um jede weitere Reflexion und Abwägung überflüssig zu machen. Die zweite Schwäche betrifft das Verhältnis zum Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Urteile. Dieses Verhältnis ist
3.5 Verfahrensethiken ohne Verfahren
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problematisch, weil die Berufung auf das individuelle Gewissen wenig geeignet ist, andere von der Richtigkeit des eigenen moralischen Urteils zu überzeugen - es sei denn, wir setzen heroischerweise voraus, dass die Gewissen aller Beurteiler in einer Art prästabilierter Harmonie lückenlos übereinstimmen. Dies ist jedoch allenfalls hinsichtlich des von der Minimalethik rekonstruierten „harten Kerns" des verlässlichen moralischen Konsenses der Fall. Innerhalb des großen darüber hinaus verbleibenden „kontroversen Moralbereichs" (Gert) bietet die bloße Berufung auf das je eigene Gewissen keine angemessene Grundlage für eine intersubjektive Verständigung und damit eine Erfüllung des Allgemeingültigkeitsanspruchs moralischer Forderungen. Moralische Urteile sind keine bloßen Bekenntnisse, sondern appellieren an die Einsicht und Empathie anderer. Dafür bedarf es der Analyse der Situation, der Auffindung der für die Situation relevanten Normen und Gesichtspunkte und ihrer sorgfältigen wechselseitigen Abwägung. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders" ist kein moralisches Urteil, allenfalls Ausdruck eines inneren Zwangs. 3.5.2 Situationsethik Die Situationsethik kann man als eine Extremform der Kasuistik auffassen. Situationsethiker bezweifeln, dass wir uns über die Einzelfallintuition hinaus an Analogien und Disanalogien zwischen zu beurteilenden Fällen orientieren können und verlangen deshalb, dass jeder Einzelfall für sich geprüft und beurteilt wird. Jedes moralische Urteil kann danach nur auf einer Einzelfallintuition beruhen, und jeder konkrete Fall erfordert eine singuläre, nur auf ihn zugeschnittene Beurteilung. Einer situationsethischen Auffassung kam Aristoteles nahe: Nach einer vielzitierten Passage aus seiner Nikomachischen Ethik liegt die moralische Entscheidung in nichts anderem als der „Wahrnehmung" des jeweiligen besonderen Falls: „Die
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3. Verfahrensethik
Entscheidung liegt in der Wahrnehmung" (l 109b 23). Das Organ der moralischen Erkenntnis ist danach nicht die mit allgemeinen Prinzipien operierende Vernunft, sondern die das Singuläre in seiner jeweiligen Besonderheit erfassende moralische Urteilskraft. Erst nachdem diese ihr Urteil gesprochen hat, kann die Ethik daran gehen, die in diesen „Wahrnehmungen" enthaltenen impliziten Prinzipien zu rekonstruieren. Moderne Vertreter einer Situationsethik finden sich nur selten, die meisten in der evangelischen Theologie, z.B. Karl Barth oder Joseph Fletcher, dessen Hauptwerk in der deutschen Übersetzung den bezeichnenden Titel „Moral ohne Normen" trägt (Fletcher 1967). Dies ist wohl nicht ganz zufällig so, denn in der Tat muss man sich fragen, ob bei der Situationsethik überhaupt noch von einer eigentlichen ethischen Theorie gesprochen werden kann. Immerhin reduziert sich diese Theorie auf kaum mehr als die Anweisung, jeden Fall für sich und ohne den Rückgriff auf allgemeine Gesichtspunkte oder Kriterien zu beurteilen. Diese radikale Reduktion ist aber nicht der einzige Punkt, der Anlass zur Kritik an der Situationsethik gegeben hat. Kritikwürdig erscheint vielen Ethikern vor allem der strenge „Singularismus" der Situationsethik, der es zulässt, zwei numerisch verschiedene (z. B. zu verschiedenen Zeitpunkten bestehende), aber in allen qualitativen Hinsichten gleiche Situation moralisch unterschiedlich zu bewerten. Auf diesen „Singularismus" ist die Situationsethik jedoch festgelegt. Andernfalls würde sie anerkennen, dass es doch so etwas wie allgemeine - wie immer spezifische - Kriterien und Gesichtspunkte gibt, von denen sich das moralische Urteil leiten lässt.
3.5.3 Dezisionismus Der Dezisionismus geht in der Reduzierung der Ethik auf eine weitgehend inhaltslose und rein formale Anweisung zur Beliebigkeit noch einen Schritt weiter. Während die Situationsethik
3.5 Verfahrensethiken ohne Verfahren
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davon ausgeht, dass wir für jeden Einzelfall über so etwas wie moralische Intuitionen verfügen und in der Lage sind, moralische Konflikte durch den Rückgriff auf einzelfallbezogene Beurteilungen aufzulösen, lässt der Dezisionismus diese Voraussetzung fallen und geht stattdessen davon aus, dass wir wenn nicht in jeder, doch in sehr vielen Entscheidungssituationen über keine stabilen und eindeutigen moralischen Intuitionen verfügen. Während die Situationsethiker mit Aristoteles annehmen, dass die „Wahrnehmung", die Erfassung des konkreten Einzelfalls eine Entscheidung- allgemeiner: ein Urteil - ermöglicht, sind die Dezisionisten in diesem Punkt skeptischer. Nach ihnen führt die Erfassung eines konkreten Einzelfalls typischerweise nicht zu einem eindeutigen Urteil, sondern zu Ratlosigkeit. Auch wenn ein Fall uns in allen deskriptiven Details klar vor Augen liegt, wissen wir nicht, wie wir ihn beurteilen sollen. Deshalb kann die von uns erwartete Beurteilung lediglich aufgrund einer willkürlichen Entscheidung, einer Dezision, fallen. Dezisionen sind als Urteile oder Entscheidungen definiert, die wir ohne jede Norm oder Regel aufgrund einer spontanen und grundlosen Willensregung treffen, z. B. dann, wenn wir „nicht wissen, was wir wollen" oder wenn wir nicht wissen, an welchen Kriterien wir eine Entscheidung in Geschmacksfragen orientieren sollen. Literarische Beispiele für prototypische Dezisionen mit erheblichen Folgewirkungen finden sich insbesondere bei Robert L. Stevenson und Andre Gide (vgl. Birnbacher 1992). In der Rechtsphilosophie wird gern das Beispiel der Strafzumessung als Beispiel für zumindest partiell dezisionäre Entscheidungen angeführt. Das Gesetz und die sonstigen rechtlichen Regeln lassen für die Strafe vielfach einen Spielraum, den der Richter aus freiem Ermessen füllen muss. Während die Grenzen (der Strafrahmen) vorgegeben ist, ist das genaue Strafmaß nicht festgelegt. Nach Auffassung der Dezisionisten ist diese Ausfüllung zumindest partiell grundlos und willkürlich. Insbesondere Carl Schmitt hat auf die dezisionären Elemente in solchen und anderen juristischen
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3. Verfahrensethik
Entscheidungen hingewiesen: „Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist." (Schmitt 1934, 41) Der spezifisch ethische Dezisionismus überträgt dieses Modell auf die Moral und behauptet, dass wir nicht nur bei rechtlichen, sondern gerade auch bei moralischen Beurteilungen vielfach über keine hinreichend relevanten Kriterien oder über hinreichend eindeutige Intuitionen verfügen, um einen Fall begründet zu beurteilen. Konsequente Formen des Dezisionismus gehen sogar noch weiter und behaupten, dass wir nicht nur über keine hinreichend genauen moralischen, sondern auch über keinerlei andersartige (z.B. ästhetische, prudentielle oder andere) Kriterien und Gründe verfügen, die uns bei unserer Beurteilung leiten könnten. Als Verfahrensethik verstanden, lautet die Botschaft des Dezisionismus deshalb, Fall-fürFall-Entscheidungen nicht nach Regeln oder Einzelfallintuitionen, sondern schlicht nach Gutdünken zu treffen. Konzeptionen, die sich dem ethischen Dezisionismus zuordnen lassen, finden sich bei Nietzsche, bei Heidegger und im französischen Existenzialismus, insbesondere bei Sartre (1993) und de Beauvoir (1964). Ein Schlüsselsatz in Sartres Hauptwerk „Das Sein und das Nichts" (Sartre 1993) lautet, dass „Wahl und Gewissen ein und dieselbe Sache sind": Nicht unser Gewissen (unsere moralischen Anmutungen oder Intuitionen) geben uns vor, was moralisch richtig und falsch ist, sondern wir wählen, was wir als moralisch richtig und falsch gelten lassen wollen, wobei diese Wahl gänzlich willkürlich und begründungslos sein soll. Da es nach Sartre keine außermenschliche oder gesellschaftliche Autorität gibt, die Werte vorgeben könnte, beruht aller Wert, auch der moralische, auf einer individuellen Wertsetzung. Bezüglich dieser Wertsetzungen ist das Individuum schlechthin frei. In seiner späteren Schrift „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?" von 1946 (Sartre 1965) hat Sartre diesem Dezisio-
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nismus eine universalistische Wendung gegeben, indem er die existenzielle Wahl nun nicht mehr auf singuläre Entscheidungen bezieht, sondern auf allgemeine Prinzipien. Es bleibt jedoch bei dem ethischen Dezisionismus. Wie vorher die Wahl zwischen fallbezogenen Entscheidungen wird nun die Prinzipienwahl einer willkürlichen Wahlentscheidung überlassen. Unbegründete Entscheidungen spielen bei der Entwicklung, Präzisierung, Ausdifferenzierung und Harmonisierung moralischer Urteile ganz sicher eine wesentliche Rolle. Darauf hat insbesondere John L. Mackie hingewiesen. Mackie, dessen Ethik-Buch (Mackie 1981) den bezeichnenden Untertitel „Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen" trägt, sieht die Ausbildung eines persönlichen Normensystems nicht nur als Ausdruck schlicht vorhandener oder sich im Zuge von Bildungs- und Reifungsprozessen herausbildender moralischer Überzeugungen, sondern als einen Gestaltungsprozess, an dem maßgeblich auch Momente bewusster Entscheidung und willentlicher Steuerung beteiligt sind: Die Moral gilt es nicht zu entdecken, sondern zu entwickeln und auszuarbeiten: Wir müssen entscheiden, welche moralischen Regeln wir annehmen, auf welchen Standpunkt wir uns festlegen wollen. Zweifellos werden die Ergebnisse unser eigenes Gerechtigkeitsgefühl, unser moralisches Bewußtsein, widerspiegeln und offenlegen - und zwar unser moralisches Bewußtsein nicht notwendigerweise zu Anfang, sondern am Ende der Diskussion. Doch das ist nicht der eigentliche Gegenstand des Bemühens. Es geht vielmehr darum, zu entscheiden, was wir tun sollen, was wir billigen oder verurteilen sollen, welche Verhaltensprinzipien wir als Richtschnur für unsere und vielleicht auch anderer Menschen Handlungswahlen annehmen und fördern sollen. (Mackie 1981,132)
Nach dem von Mackie gezeichneten Bild der Entwicklung einer persönlichen Moral sind die moralischen Prinzipien und Überzeugungen in einem gewissen Maße ständig im Fluss. Zum Teil gehen die Veränderungen im Gefüge der Normen auf äußere Faktoren zurück: Neue und tiefere Erfahrungen, neue
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3. Verfahrensethik
Arten von realen und imaginierten Konflikten und Entscheidungen, die Begegnung mit neuen Modellen und Gegenmodellen. Zum Teil, und besonders in Krisen- und Umbruchsphasen der persönlichen Entwicklung, gehen diese Veränderungen aber auch auf Anpassungen und Korrekturen zurück, die wir selbst bewusst und gezielt vornehmen, etwa um Wertungswidersprüche aufzulösen oder um zwischen allgemeinen Prinzipien, Einzelfallbeurteilungen und eigenen Handlungsbereitschaften größere Kohärenz herzustellen. Bei dieser Reorganisation unseres Wertsystems geht es nicht ohne Entscheidungen ab. Das anfängliche Gemisch heterogener moralischer Überzeugungen und Vermutungen, mit denen wir anfangen, lässt sich nicht nur in einer Richtung weiterentwickeln, und auch wenn die allgemeine Richtung fest steht, die die eigene moralische Identität nehmen soll, ergeben sich auf jeder Stufe neue Weichenstellungen. Der Dezisionismus ist nicht ohne Grund einer der umstrittensten Ethikansätze. Nicht nur hebt er den Anspruch der ethischen Theorie auf Rationalität und Substanzialität auf, sondern vor allem auch den Anspruch moralischer Beurteilungen auf Nachvollziehbarkeit, Einsichtigkeit und Vernunftgemäßheit. Wenn moralische Beurteilungen nichts anderes sind als Resultate einer letztlich willkürlichen Entscheidung - nach dem Modell der willkürlichen Entscheidung für eine bestimmte persönliche oder religiöse Bindung -, ist nicht mehr zu sehen, wie dies mit dem Anspruch der Moral auf Allgemeingültigkeit zu vereinbaren sein soll. Ähnlich wie Georg Simmels „individuelles Gesetz" scheint eine solche Moral stets nur für die Person, die sie aus freien Stücken gewählt hat, gelten zu können, nicht aber für jedermann. Als Verfahrensethik interpretiert, ist mit dem Dezisionismus jedenfalls der äußerste Punkt eines Verzichts auf inhaltliche Füllung der Ethik erreicht. Selbst die prozeduralen Anweisungen, die diese Ethik gibt, sind auf ein Minimum reduziert.
4. Deontologische Ethik 4.1 Was heißt „deontologisch"? Der Ausdruck „deontologisch" gehört seit C. D. Broads einflussreichem Buch Five types of ethical theory von 1930 zum Begriffsinventar der modernen Moralphilosophie und hat seine Nützlichkeit - auch wenn diese immer wieder in Frage gestellt worden ist - auch heute noch nicht eingebüßt. Deontologische Theorien sind nach Broad dadurch bestimmt, dass sie Aussagen von der folgenden Form enthalten: „Handlungen der Art h sind in Situationen vom Typ s immer richtig (oder falsch), gleichgültig welche Folgen sie haben" (vgl. Broad 1930, 206). Im Kern entspricht diese Begriffsbestimmung dem heute gebräuchlichen Verständnis, auch wenn an der Terminologie inzwischen einige Modifikationen vorgenommen worden sind. Die erste Modifikation betrifft nicht den Begriff „deontologisch" selbst, sondern den Gegenbegriff. Broad konstrastierte „deontologische" Ethiken mit „ideologischen" Ethiken, und zwar so, dass alle Ethiken, die inhaltlich gehaltvolle und nicht nur prozedurale Normen postulieren, entweder der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet werden können. Demgegenüber wird „teleologisch" heute nicht mehr als kontradiktorischer, sondern als konträrer Gegensatz zu „deontologisch" verwendet. Als „teleologisch" werden nur solche nicht-deontologischen ethischen Theorien bezeichnet, die annehmen, dass die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen ausschließlich von der nicht-moralischen Qualität ihrer Folgen abhängt, d. h. davon, in welchen Maße sie nicht-moralische oder axiologische Werte realisieren oder zu deren Realisierung beitragen. Da man die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen jedoch nicht nur von der nichtmoralischen, sondern auch von der moralischen Qualität ihrer Folgen abhängig machen kann, schöpfen die Begriffe deonto-
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4. Deontologische Ethik
logisch und teleologisch die Möglichkeiten nicht aus. Eine Ethik kann die Beurteilung von Handlungen von der Qualität der Handlungsfolgen abhängig machen, ohne sie ausschließlich von der nicht-moralischen Qualität ihrer Folgen abhängig zu machen. Sie kann die moralische Qualität einer Handlung hj u. a. von der moralischen Qualität der weiteren Handlungen h2, h3 hn abhängig machen, die durch r^ bewirkt werden. Wird etwa die moralisch positive Beurteilung der Handlung hj u. a. damit begründet, dass hj andere dazu bringt, ihrerseits die moralisch richtige Handlung h2 auszuführen, liegt weder eine deontologische noch eine ideologische, sondern eine Begründung dritter Art vor. Um alle Formen von Ethik zu erfassen, die die moralische Qualität von Handlungen von ihren Folgen abhängig machen, hat sich - seit G. E. M. Anscombes Artikel „Modern moral philosophy" (Anscombe 1974) - der Ausdruck „konsequenzialistisch" eingebürgert. Dieser Ausdruck füllt nicht nur eine begriffliche Lücke. Er hat auch den Vorteil, dass er rein sprachlich als Gegenbegriff zu „deontologisch" besser geeignet ist als der Ausdruck „teleologisch". Was die konsequenzialistische Ethik der Handlungsbewertung zugrunde legt, sind die Folgen (Konsequenzen) und nicht die Ziele (das telos, bzw. die tele) des Handelns. Die zweite Modifikation betrifft die Reichweite der Anwendung des Begriffs „deontologisch". Während bei Broad die Unterscheidung zwischen „deontologisch" und „teleologisch" ausschließlich für die Ebene der ethischen Theorie - also für die Moralphilosophie - vorgesehen war, ist es üblich geworden, die Unterscheidung auch auf Begründungsweisen anzuwenden, wie sie sich in der Alltagsmoral - also im Gegenstandsbereich der Moralphilosophie - finden. Nach Begründungen moralischer Bewertungen und Normen zu fragen und diese Begründungen auf Verlangen zu liefern, ist ja nicht nur eine Sache der Moralphilosophie, sondern ebenso eine Sache der Moral selbst. Moral und Ethik sind durch keine scharfe Li-
4.1 Was heißt „deontologisch"?
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nie voneinander abgegrenzt, sondern gehen kontinuierlich ineinander über. Und nicht nur in der Ethik als philosophischer Disziplin, auch in den alltagsmoralischen Begründungen von moralischen Urteilen - etwa im Zuge von Erziehungsprozessen - spielt der Gegensatz von deontologischen und konsequenzialistischen Begründungen eine Rolle. So werden etwa Eltern, die ihren Kindern gegenüber moralisch (und nicht nur mit Bezug auf das Risiko, erwischt zu werden) begründen wollen, warum man in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht schwarzfahren oder im Kaufhaus nicht stehlen soll, überlegen, wie sie die entsprechende moralische Norm ihren Kindern gegenüber begründen sollen: deontologisch, mit dem Verweis auf die Unfairness eines Verhaltens, bei dem sich jemand einseitig auf Kosten anderer Vorteile verschafft, oder konsequenzialistisch, mit dem Verweis auf die abträglichen Folgen dieses Verhaltens für die Mehrheit derer, die sich regelkonform verhalten und wegen des unfairen Verhaltens einer Minderheit höhere Preise bezahlen müssen. In einer anderen Hinsicht ist der Theoriebezug in Broads Unterscheidung (dessentwegen es „deontologisch", also wörtlich: die Pflichtenlehre betreffend, und nicht „deontisch", Pflichten betreffend, heißt) allerdings bis heute erhalten geblieben. „Deontologisch", „ideologisch" und „konsequenzialistisch" beziehen sich durchweg auf bestimmte Arten von Begründungen^ die für moralische Urteile gegeben werden, und nicht auf diese Urteile selbst. Viele moralische Urteile - wie etwa das moralische Urteil, dass es falsch ist, in Kaufhäusern kleinere Diebstähle zu begehen - lassen sich sowohl deontologisch als auch konsequenzialistisch begründen, und ob jemand, der das betreffende moralische Urteil vertritt, eher der deontologischen oder der konsequenzialistischen „Schule" der Ethik zuneigt, zeigt sich in der Regel erst dann, wenn er Auskunft darüber gibt, wie er dieses Urteil auf Nachfragen begründen würde. Neigt er dazu, sein Urteil ausschließlich mit dem Hinweis auf die Handlungsfolgen zu begründen, gibt er
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4. Deontologische Ethik
sich soweit als Konsequenzialist zu erkennen. Neigt er dazu, sein Urteil nicht ausschließlich mit dem Hinweis auf die Handlungsfolgen zu begründen, sondern u. a. auch mit dem Hinweis auf die inhärente Unrechtmäßigkeit der Handlung, weist er sich als Moralist deontologischer Observanz aus. Damit ist bereits angedeutet, was die Termini „deontologisch" und „konsequenzialistisch" mit Bezug auf normsetzende ethische Theorien besagen. Eine ethische Theorie heißt „deontologisch", wenn sie die von ihr vorgeschlagenen Normen nicht ausschließlich mit Bezug auf die moralische oder nichtmoralische Qualität der Handlungsfolgen, sondern zumindest teilweise auch mit Bezug auf die innere Beschaffenheit der jeweiligen Handlung begründet. Deontologisch ist eine Ethik, die etwa die moralische Falschheit des Diebstahls nicht ausschließlich mit Bezug auf die individuellen oder gesellschaftlichen Folgen eines einzelnen Diebstahls bzw. einer verbreiteten Praxis des Diebstahls begründet, sondern auch mit Verweis auf die innere und folgenunabhängige Falschheit des Diebstahls oder mit Verweis auf die moralische Bedenklichkeit anderer in der Handlung liegender Faktoren, etwa die darin liegende Unfairness. Damit ist „deontologisch" ganz bewusst in einem inklusiven Sinn bestimmt, d. h. deontologische Theorien können auch in beträchtlichem Umfang konsequenzialistische Elemente enthalten. „Deontologisch" sind sie allein dadurch, dass sie einige moralische Urteile oder Prinzipien nicht vollständig folgenorientiert begründen. Eine derartig großzügige Definition empfiehlt sich wegen einer zunächst ganz äußerlichen Tatsache: dass deontologische Ethiken, die die von ihnen vorgeschlagenen Normen ausschließlich folgenunabhängig begründen, ausgesprochen selten sind. Wollte man nur solche „streng deontologische" Ethiken (Trapp 1988, 35) als deontologisch bezeichnen, würde die große Mehrzahl aller ethischen Theorien von der Dichotomic deontologisch/konsequenzialistisch nicht erfasst.
4.1 Was heißt „deontologisch" ?
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Noch in einem anderen Sinn empfiehlt sich eine möglichst weite Definition des Terminus „deontologisch". Man sollte „deontologisch" nicht bereits auf definitorischem Wege an die Anerkennung des Universalisierungsprinzips binden. Dies geschieht häufig, indem solche Ethiken als deontologisch klassifiziert werden, die die moralische Beurteilung einer Handlung davon abhängen lassen, welchen Typ von Handlung eine einzelne Handlung exemplifiziert. Ersichtlich impliziert diese Charakterisierung die Anerkennung des Universalisierungsprinzips. In der Tat gilt für jede deontologische Ethik, die das Universalisierungsprinzip anerkennt, dass wenn eine bestimmte singuläre Handlung h aus spezifisch deontologischen Gründen moralisch falsch ist, dies aufgrund bestimmter folgenunabhängiger Faktoren der Fall ist, die nicht nur bei dieser, sondern im Prinzip bei einer unbeschränkt großen Zahl in relevanter Hinsicht gleicher Handlungen gegeben sein können. Handelt es sich etwa bei h um eine Lüge und wird h u. a. deshalb für moralisch falsch gehalten, weil h eine Lüge beinhaltet, muss der deontologische Ethiker dasselbe Urteil auch für alle anderen Lügen gelten lassen. Aber auf eine allgemeine Begründung für sein moralisches Urteil, mit der er zugleich über eine Vielzahl ähnlicher möglicher Handlungen urteilt, braucht sich der deontologische Ethiker nicht notwendig einzulassen. Er kann im Prinzip seine Verurteilung von h statt auf allgemeine auch auf solche Faktoren gründen, die sich (wie etwa die genaue Raum-Zeit-Stelle der Handlung) auf andere Handlungen nicht übertragen lassen. Als wie vernünftig oder unvernünftig eine derartige Situationsethik gelten kann, die Handlungen u. a. nach Faktoren beurteilt, die sich aus logischen Gründen nicht auch in anderen ähnlichen Handlungen finden können (und damit das Universalisierungsprinzip verletzt), kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist nur, dass eine deontologische Handlungsbeurteilung eine derartige Situationsethik nicht ausschließt, solange die Beurteilung mit folgenunabhängigen Faktoren begründet wird.
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4. Deontologische Ethik
Deontologische und konsequenzialistische Haupt- und Nebenvarianten
Ethik:
Hauptvariante der deontologischen Ethik ist die nichtstrenge deontologische Ethik, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung außer nach bestimmten Merkmalen der Handlung selbst auch nach den (abgesehenen oder abzusehenden) Handlungsfolgen bemisst. Eine selten vertretene Nebenvariante der deontologischen Ethik ist die strenge deontologische Ethik, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich nach bestimmten Merkmalen der Handlung selbst bemisst. Hauptvariante der konsequenzialistischen Ethik ist die teleologische Ethik, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich nach der nicht-moralischen Qualität der (abzusehenden oder abgesehenen) Handlungsfolgen bemisst. Eine selten vertretene Nebenvariante ist die nicht-teleologische konsequenzialistische Ethik, nach der sich die Richtigkeit und Falschheit einer Handlung nicht nur nach der nicht-moralischen Qualität, sondern auch nach der moralischen Richtigkeit und Falschheit der (abgesehenen oder abzusehenden) Handlungsfolgen bemisst.
4.1 Was heißt „deontologisch"?
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4.1.1 Zwei fundamental verschiedene Sichtweisen Obwohl die Dichotomic deontologisch/konsequenzialistisch als Klassifikationsschema für ethische Theorien sehr viel geeigneter ist als die Dichotomic deontologisch/teleologisch, ist es doch keineswegs zufällig, dass die letztere Dichotomic lange Zeit als die grundlegendere galt. Diese Dichotomic hat den Vorteil, dass sie präziser auf den grundlegenden Unterschied in der Bewertungsperspektive zwischen deontologischen Theorien auf der einen und der großen Mehrzahl der konsequenzialistischen ethischen Theorien auf der anderen Seite verweist. Für den „Deontologen" (ein unschönes Wort, aber praktisch als Bezeichnung für den Vertreter deontologischer Begründungen) haben zumindest einige moralisch richtige Handlungen einen eigenständigen oder intrinsischen Wert, während für den ideologischen Konsequenzialisten moralisch richtige Handlungen letztlich stets nur abgeleiteten oder extrinsischen Wert haben. Letztlich entscheidend sind aus der Sicht des Konsequenzialisten die Werte, die durch Handeln verwirklicht werden, nicht das Handeln selbst. Der Zweck der Moral ist nicht die Befolgung von Regeln, sondern die Verwirklichung von Werten. Dem Handeln selbst kommt in Bezug auf diese Werte stets nur instrumentelle Bedeutung zu. Man kann diesen grundlegenden Unterschied auch so ausdrücken, dass sich der Konsequenzialist bei jeder menschlichen Handlung (bzw. Handlungsweise) berechtigt und genötigt sieht zu fragen, welchem bonum es dient und welches Gut oder welche Güter durch es ermöglicht, bewirkt, oder befördert werden. Für den Vertreter der deontologischen Ethik dagegen ist die Frage quid boni? an einem bestimmten Punkt nicht mehr sinnvoll. Für ihn ist die Befolgung bestimmter moralischer Prinzipien für sich genommen wertvoll, unabhängig davon, ob durch diese Befolgung weitere Güter und Werte realisiert werden. Insofern geben die beiden Typen von Ethik auf die Frage, was für sie eine moralisch ideale Welt ausmacht, radikal ver-
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4. Deontologische Ethik
schiedene Antworten. Für den ideologischen Konsequenzialisten ist die moralisch ideale Welt dadurch bestimmt, dass alle von ihm anerkannten Güter maximal realisiert sind, gleichgültig, ob dies durch moralisch wertvolles Handeln, durch moralisch nicht qualifiziertes Handeln oder aufgrund natürlicher Faktoren geschieht - es sei denn, bestimmte Eigenschaften von Handlungen gehörten ihrerseits zu den von ihm anerkannten Gütern. Auch in diesem letzteren Fall tragen Handlungen lediglich durch ihren nicht-moralischen Wert und nicht durch ihre moralische Qualität oder durch den moralischen Werte ihrer Motive und Intentionen zum Gesamtwert der idealen Welt bei. Ganz anders für den Deontologen und insbesondere für den strengen Deontologen. Für den strengen Deontologen kann eine Welt schon dann als ideal gelten, wenn in ihr alle deontologischen moralischen Gebote und Verbote maximal befolgt werden, gleichgültig, ob durch diese Befolgung zugleich auch der nicht-moralische Wert maximiert wird, ja, ob dadurch überhaupt nicht-moralischer Wert verwirklicht wird. Falls etwa das Verbot der Lüge und des Betrugs zu den vom strengen Deontologen anerkannten Pflichten gehört, ist eine Welt, in der nicht gelogen oder betrogen wird, ceterisparibus stets einer Welt vorzuziehen, in der gelegentlich gelogen und betrogen wird, dafür aber ein höheres Maß an nicht-moralischem Wert realisiert ist, und das ganz unabhängig davon, wie dieser Wert im einzelnen bestimmt ist. Die moralisch ideale Welt für den ideologischen Ethiker in puncto Gesundheit wäre eine Welt idealer Gesundheit, gleichgültig ob von Natur, durch Klugheit oder durch aufopfernde Pflege bewirkt, während eine moralisch ideale Welt in puncto Gesundheit für den deontologischen Ethiker eine Welt selbstloser ärztlicher Anstrengungen zur Erhaltung, Herstellung und Wiederherstellung der Gesundheit wäre, gleichgültig, in welchem Maße diese Anstrengungen ihr angestrebtes Ziel erreichen. Das vielleicht sprechendste Beispiel für die charakteristisch deontologische Sichtweise des moralischen Handelns als in-
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trinsischen Werts ist Kants Theorie der Strafe. Kant war der Auffassung, dass es moralisch richtig ist, ein Verbrechen auch dann zu bestrafen, wenn sicher ist, dass dies aufs Ganze gesehen nicht zu einer Steigerung des nicht-moralischen Werts führt, d. h. wenn die Bestrafung keine Aussicht hat, zukünftige Verbrechen zu verhindern, die Sicherheit der Gesellschaft zu erhöhen, den Opfern des Verbrechens oder den ihnen Nahestehenden Genugtuung zu verschaffen oder den Mitgliedern der Gesellschaft das Gefühl zu geben, der Gerechtigkeit Genüge getan zu haben. Nach Kant - und vielen andere Moralisten und Ethikern vor und nach ihm - ist eine Bestrafung des Verbrechens ganz unabhängig von allen diesen möglichen nichtmoralischen Folgen geboten. Als Erfüllung eines Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit ist sie unabhängig von Folgenerwägungen moralisch notwendig. Entsprechend ist eine Welt, in der sie ausgeführt wird, auch dann moralisch vollkommener als eine, in der sie nicht ausgeführt wird, wenn sie für den Bestraften oder für andere mit nicht-moralischem Übel verbunden ist, das durch ihre positiven Folgen in keiner Weise aufgewogen wird. Das heißt, dass wenn nicht die Moral als ganze, so aber doch immerhin das moralische Handeln als solches für den deontologischen Ethiker nicht nur Mittel, sondern - zumindest teilweise - auch Selbstzweck ist. Auch wenn die große Mehrheit der deontologischen Ethiker nicht so weit geht, dem Eigenwert des moralisch Richtigen - im Sinne eines fiat justitia et pereat mundus (Es geschehe Gerechtigkeit, und wenn die Welt dabei untergeht!) - uneingeschränkten Vorrang vor der Verwirklichung nicht-moralischer Werte zuzugestehen, gestehen sie doch zumindest bestimmten Formen des moralisch richtigen Handelns einen folgenunabhängigen Eigenwert zu.
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4. Deontologische Ethik
4.1.2 Wie trennscharf ist die Unterscheidung zwischen deontologischer und konsequenzialistischer Ethik? Die Unterscheidung zwischen deontologischer und konsequenzialistischer Ethik ist schon deshalb nicht ganz trennscharf, weil in vielen Fällen unklar ist, welche Elemente von Handlungsbeschreibungen der „Handlung selbst" und welche den „Handlungsfolgen" zugerechnet werden können. Handlungen sind nicht realiter und objektiv gegen ihre Folgen abgegrenzt. Was als Handlung und was als Handlungsfolge gilt, hängt vielmehr in einem gewissen Umfang von den begrifflichen Mitteln ab, mit denen wir Handlungen identifizieren, beschreiben und erklären. Wenn die deontologische Ethik von „Handlungen" spricht und diese als solche und unabhängig von den Handlungsfolgen moralisch bewertet, geht sie von einem bestimmten Modell von Standardhandlungsbeschreibungen aus, wie es den meisten natürlichen Sprachen und insbesondere der Sprache des Rechts entnommen werden kann, also von Begriffen wie Lüge, Betrug, Beleidigung, Körperverletzung, Totschlag, Mord, Versprechenhalten, Hilfeleistung, Vergeltung, Vergebung usw. Diese Standardbeschreibungen identifizieren bestimmte wiederkehrende Verhaltensweisen als Handlungen, berücksichtigen jedoch über das Verhalten des Akteurs hinaus bestimmte Faktoren in der näheren oder weiteren Umgebung des Verhaltens. Zu diesen weiteren Faktoren gehören erstens Akteurs-, zweitens Situations- und drittens Folgenmerkmale. Wichtige Akteursmerkmale sind u. a. 1. frühere Handlungen des Akteurs, 2. die mit der Handlung verfolgten Absichten, 3. die diesen Absichten zugrunde liegenden Motive, 4. das Ausmaß, in dem der Akteur frei ist, anders zu handeln.
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Die Handlungsbeschreibung „A erfüllt ein Versprechen", impliziert, dass A zu einem früheren Zeitpunkt ein entsprechendes Versprechen gegeben hat (Fall 1). „Lügen" impliziert die Absicht, eine falsche (oder zumindest für falsch gehaltene) Meinung in einem anderen zu erzeugen (Fall 2). Sich an jemandem zu „rächen" impliziert Rache oder Rachsucht als Motiv. Ein Totschlag wird nach §211 StGB rechtlich als Mord gewertet, wenn er „aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen" erfolgt (Fall 3). „Notwehr" impliziert eine Zwangslage, in der man wichtige eigene Güter nicht anders als durch eine Schädigung des Angreifers schützen kann (Fall 4). Wichtige Situationsmerkmale sind u. a. 5. das auf die Handlung einwirkende Handeln anderer, 6. die Beziehung, in der der Akteur zu den von der Handlung primär Betroffenen steht. Die Handlungsbeschreibung „Bestrafen" schließt ein, dass der Bestrafte etwas Strafwürdiges getan hat, das zu der Bestrafung Anlass gibt (Fall 5). „Vernachlässigung" setzt eine besondere Verantwortungsbeziehung zwischen Vernachlässigendem und Vernachlässigtem voraus (Fall 6). Viele Standardhandlungsbeschreibungen schließen darüber hinaus Faktoren ein, die man als Folgen des primär beschriebenen Verhaltens bezeichnen kann, die jedoch entweder so häufig und zeitlich unmittelbar auf das betreffende Verhalten folgen oder so nahtlos den Absichten des Akteurs entsprechen, dass sie in die Handlungsbeschreibungen „inkorporiert" werden und nicht als Folgen, sondern als Teilmomente der Handlung gelten. So „inkorporiert" die Handlungsbeschreibung „Totschlag" den Tod des Opfers und die Handlungsbeschreibung „Rettung" den Lebenserhalt bzw. die Unversehrtheit des Geretteten. „Betrug" beinhaltet nicht nur, dass der Akteur dem Betrogenen gegenüber eine Aussage macht, von der er weiß oder glaubt, dass sie falsch ist, sondern auch, dass der Be-
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4. Deontologische Ethik
trogene die falsche Aussage für wahr hält und dadurch einen Vermögensnachteil erleidet. In allen diesen Fällen lassen sich die entsprechenden Ereignisse alternativ auch als Handlungsfolgen beschreiben, wobei die Handlung dann durch eine entsprechend „ausgedünnte" Beschreibung charakterisiert werden muss: die Rettung als Folge von Rettungsbemühungen, der Vermögensverlust als Folge einer absichtlichen Täuschung, der Totschlag als Resultat einer schweren Körperverletzung mit Tötungsabsicht. Was unter der einen Handlungsbeschreibung als Teilmoment der Handlung erscheint, wird in der anderen als Handlungsfolge von der Handlung abgetrennt. Nicht bei allen Handlungsbeschreibungen ist eine Abtrennung der in der Handlungsbeschreibung enthaltenen Folgenbeschreibung von der „ausgedünnten" Handlungsbeschreibung möglich. Sie ist etwa nicht möglich bei der Handlungsbeschreibung „Lügen", da es sich bei „Lügen" anders als bei „Betrügen" nicht um ein „Erfolgsverb" handelt, dessen übliche Verwendung den Erfolg der entsprechenden Tätigkeit impliziert. Auch derjenige lügt, dem es nicht gelingt, in einem anderen eine falsche Meinung zu erzeugen, während man nur von dem sagen kann, dass er betrogen hat, dessen Betrugsversuch erfolgreich gewesen ist. Diese Beispiele zeigen, dass zumindest in einigen Fällen auch streng deontologisch begründete Handlungsbeurteilungen die Handlungsfoigen berücksichtigen. Diese Folgenberücksichtigung reicht allerdings nur so weit, wie standardmäßige Handlungsbegriffe zur Verfügung stehen, die diese Folgen inkorporieren und deshalb als Teilmomente der Handlung erscheinen lassen. Welche Handlungsfolgen im einzelnen von solchen Beurteilungen erfasst werden, ist dabei wesentlich durch die Ressourcen und die Eigenarten der (natürlichen) Sprache bedingt, in der die Beurteilungen formuliert werden. Diese spiegeln allerdings ihrerseits bestimmte sachliche, d. h. sprachunabhängige Zusammenhänge. Die Tatsache, dass die
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natürlichen Sprachen bestimmte Handlungsbeschreibungen standardmäßig bereithalten, ist nicht unabhängig von der Tatsache, dass bestimmte Verhaltensweisen und bestimmte Verhaltensfolgen standardmäßig zusammengehen und deshalb als Momente eines einheitlichen Zusammenhangs aufgefasst werden. Damit Verhaltensfolgen in Handlungsbeschreibungen „inkorporiert" werden, müssen im allgemeinen eine oder mehrere der folgenden Bedingungen erfüllt sein: 1. Bei folgenintegrierenden Handlungsbeschreibungen dürfen die Folgen zeitlich nicht zu weit von dem zeitlich ersten Teilmoment der Handlung, der Handlungsabsicht bzw. der ersten der Handlung zugerechneten Verhaltenseinheit (der „Basishandlung") entfernt sein. Wenn Akteur A die Person B erschießt., darf zwischen dem ersten Teilmoment der (äußeren) Handlung, der Fingerbewegung von A und dem Tod von B keine beliebig lange Zeitspanne liegen. Stirbt B eine lange Zeit nach dem Schuss von A an einer der Spätfolgen der Verletzung, würde auch dann, wenn A die Absicht hatte, B zu töten, die Ereignissequenz nicht als „Erschießen", sondern als Körperverletzung beschrieben, die den (früheren) Tod von B zur Folge hat. Ein moralisches Tötungsverbot verbietet deshalb lediglich Handlungen, die den Tod des Opfers mehr oder weniger zeitlich unmittelbar zur Folge haben. 2. Wenn die Folgen einer Handlung in eine Handlungsbeschreibung inkorporiert werden sollen, darf die kausale Beziehung zwischen der Intention des Akteurs bzw. der ersten Verhaltensphase und den Folgen nicht zu indirekt sein. Die kausale Beziehung darf z. B. in der Regel nicht über die Handlungen anderer Akteure vermittelt sein. So wird man von einem A, der B dazu anstiftet, C zu betrügen, nur dann sagen können, dass er C mithilfe von B betrügt, wenn B ein mehr oder weniger willfähriges Werkzeug in den Händen von A ist. In der Regel wird deshalb der Betrug an C lediglich als Folge der Anstiftung von B durch A beschrieben werden können. Ein morali-
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sches Verbot des Betrügens betrifft dann lediglich B, während für A lediglich das Verbot der Anstiftung zum Betrug relevant ist. 3. Die Handlungsbeschreibung darf nicht darauf angelegt sein, primär die zu bewirkenden Handlungsfolgen zu beschreiben und die Wahl der Mittel gänzlich oder weitgehend offenzulassen. Andernfalls fiele die Unterscheidung zwischen deontologisch und konsequenzialistisch begründeten Handlungsbeurteilungen in sich zusammen. Charakteristisch für die deontologisch begründete Handlungsbeurteilung ist, dass für sie nicht primär die Handlungsziele, sondern primär die zur Erreichung dieser Ziele eingesetzten Mittel für die moralische Bewertung ausschlaggebend sind. Im Gegensatz dazu sind für eine konsequenzialistisch begründete Handlungsbeurteilung primär die Ziele und nur sekundär die Mittel bestimmend (wobei allerdings die Mittel ihrerseits moralisch relevante Folgen haben können). Zumindest aus der Sicht des strengen Deontologen können auch die allermoralischsten Ziele moralisch falsche Mittel nicht rechtfertigen. Es kann deshalb für ihn nicht in Frage kommen, Handlungsbeschreibungen wie „moralisch falsche Handlungen anderer verhindern", „auf einen bestmöglichen Gesellschaftszustand hinwirken", oder „andere vor dem sicheren Tod retten" als mögliche Gegenstände moralischer Beurteilungen zuzulassen. Diese Beschreibungen lassen die Art der Handlung, durch die die zu erstrebenden Folgen jeweils erreicht werden, offen. Dem strengen Deontologen kommt es darauf an, die Mittel zu beschränken, mit denen diese Ziele erreicht werden, und dafür sind folgenorientierte Handlungsbeschreibungen denkbar ungeeignet. Nicht-strenge Deontologen haben mit folgenzentrierten Handlungsbeschreibungen weniger Schwierigkeiten, da sie konsequenzialistischen Gesichtspunkten bei der Handlungsbeurteilung ohnehin Raum geben und bereit sind, voneinander abweichende moralische Bewertungen von Zielen und Mitteln gegeneinander abzuwägen.
4.1 Was heißt „deontologisch"?
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Auch in diesem Punkt kann Kant als überzeugender Repräsentant einer in Teilen streng deontologischen Ethikauffassung gelten. In seinem Aufsatz Von einem vermeinten Recht aus Menschenliebe zu lügen diskutiert er ein moralisches Dilemma, in dem zwei Prinzipien miteinander kollidieren und nicht gleichzeitig befolgt werden können: Ein Akteur kann einen zu Unrecht Verfolgten nur dadurch vor Ergreifung und Tötung retten, dass er den Verfolger über den Verbleib des Verfolgten belügt. Kants Lösungsvorschlag für dieses Dilemma lautet, dass der Akteur in diesem Fall nicht berechtigt sei, den Verfolger zu belügen. Da eine Lüge streng unzulässig sei, dürfe sie auch dann nicht in Frage kommen, wenn sie der Rettung eines Unschuldigen dient: „Jeder Mensch ... hat ... die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder Ändern schaden." (Kant 1902 ff., Bd. 7,428) Wie immer wenig man sich mit diesem Vorschlag anfreunden können wird - innerhalb von Kants streng deontologischem Denkrahmen ist er dennoch konsequent. Das Verbot der Lüge ist ein eindeutig deontologisch begründetes Prinzip. Das Gebot, einen unschuldig Verfolgten zu retten, lässt sich dagegen nur konsequenzialistisch begründen. Die Handlungsbeschreibung „einen Unschuldigen retten" ist unheilbar konsequenzialistisch, denn sie lässt die Wahl der zur Rettung eingesetzten Mittel gänzlich offen. Eine solche Handlungsbeschreibung kann deshalb kein Gegenstand einer deontologisch begründeten Verpflichtung oder Bewertung sein. Aus einer streng deontologischen Sicht, nach der ein moralisch falsches Mittel allenfalls durch einen selbst wieder aus deontologischen, nicht aber durch einen aus konsequenzialistischen Gründen gebotenen Zweck „geheiligt" werden kann, muss deshalb das deontologisch begründete Lügenverbot Vorrang haben.
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4. Deontologische Ethik
4.1.3 Absolute Pflichten - absolute Rechte: ein Privileg der deontologischen Ethik? Es wurde oben bereits erwähnt, dass die deontologische Ethik überwiegend in einer nicht-strengen Form vertreten wird, d. h. unter Anerkennung der partiellen Legitimität konsequenzialistischer Beurteilungskriterien zumindest auf der Ebene der ethischen Theorie. Nach Auffassung der allermeisten deontologischen Ethiker sollten für die Frage, welche moralischen Gebote und Verbote in der Praxis gelten sollen, neben Gesichtspunkten des inneren Werts und Unwerts von Handlungen auch Folgengesichtspunkte berücksichtigt werden. Die häufig anzutreffende Unterstellung, der Deontologe beurteile die Legitimität moralischer Regeln ausschließlich nach folgenunabhängigen Gesichtspunkten, ist ein schlichtes Miss Verständnis. Das ist nicht das einzige Missverständnis, das der deontologischen Ethik wie ein Geburtsfehler anhängt. Ein anderes Missverständnis betrifft die angebliche Fähigkeit bzw. Notwendigkeit der deontologischen Ethik, absolute Pflichten bzw. absolute Rechte anzuerkennen. Dieses Missverständnis findet sich merkwürdigerweise sowohl bei den Fürsprechern als auch bei den Gegnern der deontologischen Ethik. Sympathisanten nehmen für die deontologische Ethik in Anspruch, dass allein sie absolute Pflichten und absolute Rechte begründen könne, während Ethiker, die der deontologischen Ethik eher distanziert gegenüberstehen, dieser vorhalten, absolute Pflichten und Rechte anerkennen zu müssen und damit für viele praktische Entscheidungsfälle zu unbefriedigenden und intuitiv wenig überzeugenden Problemlösungen zu kommen. Beide Unterstellungen sind verfehlt. Weder ist der deontologische Ethiker darauf festgelegt, absolute moralische Pflichten oder Rechte postulieren zu müssen, noch besitzt er auf absolute moralische Pflichten oder Rechte ein Monopol. „Absolut" kann eine Pflicht heißen, wenn sie im Konfliktfall gegen keine andere Pflicht abgewogen werden kann, son-
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dern in allen Fällen befolgt werden muss. Offensichtlich ist weder der Deontologe im üblichen (nicht-strengen) noch der Deontologe im strengen Sinn darauf verpflichtet, solche Pflichten anzuerkennen. Denn beide sind frei, eine Mehrzahl von nicht-absoluten Pflichten anzuerkennen, die jeweils im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden müssen, ohne dass von vornherein feststeht, welcher der kollidierenden Pflichten der Vorrang zukommt. Bezeichnenderweise ist die wohl bekannteste neuere deontologische Ethik, die Theorie der Prima-facie-Pflichten von David Ross (1930), eine Theorie dieser Art. Allerdings handelt es sich bei der Theorie von Ross um keine deontologische Ethik im strengen Sinn. Zu ihrem Pflichtenkanon gehören auch eine Reihe konsequenzialistisch begründeter Pflichten. Aber selbst der strenge Deontologe ist frei, eine universelle wechselseitige Abwägbarkeit der von ihm postulierten Pflichten zuzulassen. Dass er nur solche Pflichten anerkennt, für die sich ausschließlich deontologische Begründungen geben lassen, schließt nicht aus, dass diese Pflichten wechselseitig abwägbar sind. Ein absoluter Vorrang kommt diesen Pflichten allenfalls in Situationen (wie Kants Dilemmasituation) zu, in denen sie mit (aus seiner Sicht) vermeintlichen Pflichten kollidieren, die sich nicht ausschließlich deontologisch begründen lassen. Auf der anderen Seite ist die Anerkennung absoluter moralischer Pflichten kein Privileg der deontologischen Ethik. Auch ein Konsequenzialist kann Gründe haben, bestimmte moralische Pflichten mit einem absolutem Geltungsanspruch zu versehen, wobei diese Gründe dann freilich ausschließlich folgenorientierter Natur sind. So kann etwa ein Konsequenzialist es für notwendig halten, bestimmte Handlungsalternativen - wie etwa die Folter als Verhörstrategie - mit einem grundsätzlichen „Tabu" zu belegen, um das von ihm aus Folgenerwägungen heraus für notwendig gehaltene Verbot wirksam durchzusetzen. Auch wenn der Konsequenzialist auf der Ebene der ethischen Begründung seine Überlegungen von Fol-
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4. Deontologische Ethik
genabwägungen und damit von mehr oder weniger kontingenten empirischen Sachlagen abhängig macht, kann er doch für die moralische Praxis bestimmte als absolut und unabwägbar geltende Normierungen für berechtigt und notwendig halten. Dasselbe gilt - im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Auffassung - für moralische Rechte. Von moralischen Rechten sprechen wir gewöhnlich in einer von drei klar voneinander unterschiedenen Bedeutungen (vgl. Hare 1992, 212 f.). Von A zu sagen, dass er ein moralisches Recht auf das Gut g hat bzw. ein Recht darauf, die Handlung h auszuführen, bedeutet entweder, 1. dass es A erlaubt ist, h auszuführen, d. h. dass A nicht verpflichtet ist, nicht-h auszuführen; 2. dass A frei ist, h auszuführen, d. h. dass andere verpflichtet sind, A nicht daran zu hindern, h auszuführen, oder, falls es sich bei h um ein Unterlassen handelt, verpflichtet sind, A nicht dazu zu zwingen oder unter Druck zu setzen, nicht-h auszuführen; oder 3. dass A einen Anspruch darauf hat, g zu bekommen, wobei ihm dieser Anspruch entweder gegen eine bestimme Person oder Gruppe oder gegen die Gesellschaft als ganze zukommt, bzw. dass A einen Anspruch darauf hat, mit den für die Ausführung von h notwendigen Mitteln versehen zu werden. In der ersten Bedeutung heißt ein moralisches Recht zu h zu haben nichts anderes als die Abwesenheit einer moralischen Verpflichtung, h zu unterlassen. In der zweiten Bedeutung stellen moralische Rechte Freiheitsrechte dar. Sie implizieren auf der Seite anderer (bestimmter Personen bzw. der Gesellschaft als ganzer) Pflichten zur Nichtintervention bzw. zur Unterlassung der Anwendung von Zwangs- und Druckmitteln. In der dritten Bedeutung handelt es sich bei moralischen Rechten um
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Anspruchsrechte, die andere nicht nur auf Duldung, sondern auch auf positive Leistungen und Hilfestellungen verpflichten. In den beiden letzteren Bedeutungen von „moralisches Recht" implizieren Rechte moralische Pflichten auf Seiten anderer. Diese Pflichten werden traditionell vollkommene Pflichten genannt. Die durch vollkommene Pflichten Verpflichteten sind dabei entweder bestimmte Personen (z. B. Personen, die zu dem Berechtigten in einer besonderen Rollenbeziehung stehen) oder, wie im Falle sogenannter w-rem-Rechte (Feinberg 1980, 134), die gesamte Gesellschaft. Deklarationen von in rew-Rechten stellen typischerweise Appelle an die Gesellschaft als ganze dar, bestimmte positive (Handlungs-) oder negative (Unterlassungs-)Pflichten anzuerkennen und ihre Erfüllung an bestimmte Mitglieder zu delegieren, z. B. durch die Errichtung und Unterhaltung geeigneter Institutionen. Demgegenüber werden Pflichten, denen keine (Freiheitsoder Anspruchs-)Rechte anderer gegenüberstehen, traditionell als unvollkommene Pflichten bezeichnet. Der Prototyp einer unvollkommenen Pflicht ist die Pflicht zur Wohltätigkeit: Jeder ist verpflichtet, einen je nach Leistungsfähigkeit bemessenen Anteil seines Einkommens und seiner Zeit auf wohltätige Zwecke zu verwenden. Was diese Pflicht von einer vollkommenen Pflicht wie der des Versprechenhaltens unterscheidet, ist, dass sie niemandem im besonderen geschuldet ist und dem Verpflichteten daher einen sehr viel größeren Entscheidungsspielraum lässt. Sie besagt nicht von sich aus, wem gegenüber, wann und auf welche Weise ihr nachzukommen ist. Unvollkommene Pflichten setzen lediglich einen normativen Rahmen. Wie dieser Rahmen auszufüllen ist, bleibt den nicht-moralischen Vorlieben des jeweiligen Akteurs überlassen. Dass es bei moralischen Rechten sehr viel näher liegt, sie als absolut und von jeder Abwägung gegen konkurrierende Rechte und Pflichten ausgenommen aufzufassen als bei moralischen Pflichten, hängt mit der für die Redeweise von moralischen Rechten charakteristischen Emphase zusammen. Moralische
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4. Deontologische Ethik
Rechte stellen besonders starke und gewichtige moralische Ansprüche an das Tun und Unterlassen anderer. Außerdem hat die Berufung auf moralische Rechte - anders als die Erinnerung an moralische Pflichten - zumeist eine advokatorische Funktion. Wer A ein moralisches Recht gegenüber B zuschreibt, macht sich zum Fürsprecher von A und fordert von B, seinen Pflichten gegenüber A nachzukommen. In vielen Fällen reicht diese Funktion sogar noch weiter: Mit der Berufung auf die moralischen Rechte von A wird B nicht nur dazu aufgefordert, diese Rechte zu wahren, sondern darüber hinaus auch dafür zu sorgen, dass andere diese Rechte wahren. Gleichzeitig wird A ermutigt, die Erfüllung der entsprechenden Pflicht bei B einzufordern. Dies alles bedeutet jedoch weder, dass moralische Rechte notwendig absolut gelten noch dass sie von einer deontologischen Ethik als absolut geltend aufgefasst werden müssen. Das Erstere ergibt sich daraus, dass nicht nur juridische, sondern auch moralische Rechte in der Regel nicht von jeder Abwägung gegen konfligierende Rechte und Pflichten ausgenommen sind. Dabei können selbst unvollkommene Pflichten gelegentlich Vorrang vor moralischen Rechten haben, wie etwa dann, wenn eine hochrangige unvollkommene Pflicht zur Hilfeleistung mit einer relativ schwachen vollkommenen Pflicht (und damit einem relativ schwachen moralischen Recht) konfligiert: Der Gläubiger hat ein Recht darauf, sein Geld zum vereinbarten Zeitpunkt vom Schuldner zurückzuerhalten. Dieser kann jedoch Pflichten zur Hilfeleistung haben, die die Verwendung des geborgten Geldes zur Linderung einer akuten Notlage vordringlich erscheinen lassen. Auch wenn die Hilfsbedürftigen kein moralisches Recht auf die Hilfeleistung haben, kann die unvollkommene Pflicht zur Hilfeleistung doch so schwer wiegen, dass ihr gegenüber der vollkommenen Pflicht zur Rückerstattung des geschuldeten Geldes der Vorrang gebührt. Die besondere Emphase, die mit der Redeweise von „Rechten" einhergeht, und die Tatsache, dass Rechte einen besonders starken
4.2 Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus
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moralischen Anspruch beinhalten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch moralische Rechte unterschiedliches Gewicht haben können. Ist dieses Gewicht im Einzelfall gering zu veranschlagen, darf auch ein moralisches Recht nicht nur einem stärkeren moralischen Recht, sondern gelegentlich auch einer stärkeren moralischen Pflicht aufgeopfert werden. Zweitens ist nicht ersichtlich, warum eine deontologische Ethik absolute Rechte anerkennen muss. Vielmehr ist eine deontologische Ethik, gleichgültig, ob strenger oder nicht-strenger Observanz, frei, absolute Rechte anzuerkennen oder auch nicht. Ebensowenig können absolute Rechte (wie etwa die fundamentalen Menschenrechte) als eine ausschließliche Domäne der deontologischen Ethik gelten. Auch ein Konsequenzialist kann Gründe haben, moralische Pflichten zu moralischen Rechtsansprüchen zu verschärfen, vor allem auf dem Hintergrund der Tatsache, dass das mit der Einforderung von Rechten verbundene Pathos die Aussichten, dass diese Rechte auch in der Praxis geachtet werden, eher positiv beeinflussen dürfte.
4.2 Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus Die Unterscheidung zwischen Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus bezieht sich ähnlich wie die Unterscheidung zwischen deontologischen und konsequenzialistischen Begründungsansätzen primär auf die ethische Theorie und nur sekundär auf die in der moralischen Praxis geltenden Regeln. Was die in der moralischen Praxis geltenden Regeln betrifft, so dürfte es keine streng monistische Moral geben, die lediglich ein einziges Verhaltens- oder Wertprinzip enthält, und dasselbe dürfte für die Moralsysteme gelten, die je von einer philosophischen oder theologischen Ethik für die Praxis vorgeschlagen worden sind. Ein gewisser Pluralismus der Prinzipien
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4. Deontologische Ethik
kommt vielen Moralsystemen schon deshalb zu, weil sie neben Prinzipien zur Beurteilung der moralischen Richtigkeit von Handlungen auch Prinzipien zur Beurteilung des moralischen Werts von Charaktermerkmalen und Motiven (z. B. Kataloge von Tugenden und Lastern) enthalten, die nicht direkt aus den ersteren herleitbar sind. Auch wenn diese Moralen über ein „letztes" und umfassendes Prinzip verfügen, das die moralische Richtigkeit von Handlungen zu beurteilen erlaubt, verfügen diese Moralen damit nicht eo ipso über ein Prinzip, das zu beurteilen erlaubt, unter welchen Bedingungen die Ausführung einer moralisch richtigen oder einer moralisch gebotenen oder erlaubten Handlung moralisch wertvoll und Ausdruck tugendhafter Gesinnungen ist. Bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus allerdings auf der Ebene der ethischen Theorie. Sie gibt an, wie weit es einer Ethik gelingt - bzw. wie weit es ihr angemessen scheint -, die von ihr für die gelebte Moral postulierten Prinzipien auf einen „gemeinsamen Nenner" zu bringen bzw. aus einem einzigen letzten Grundprinzip zu begründen. Dabei werden den monistischen Theorien zumeist auch solche zugerechnet, bei denen der Monismus nur für die Prinzipien der moralischen Richtigkeit gilt. Selbst Kants Theorie des Kategorischen Imperativs, gemeinhin als paradigmatisches Beispiel für eine monistische deontologische Ethik angesehen, enthält strenggenommen nicht nur ein, sondern zwei grundlegende Prinzipien. Das eine Prinzip (der Kategorische Imperativ) fungiert als Prinzip zur Beurteilung der moralischen Richtigkeit von Handlungen, das andere (der gute Wille) als Prinzip zur Beurteilung von Handlungsmotiven. Das eine besagt, dass genau diejenigen Handlungen pflichtgemäß sind, die dem Kategorischen Imperativ genügen. Das zweite Prinzip besagt, dass genau diejenigen Handlungsmotive moralisch gut sind, die darauf gerichtet sind, das moralisch Richtige um seiner Richtigkeit willen zu tun. Das erste Prinzip entscheidet über die moralische Richtigkeit
4.2 Prinzipienmonismus und Prinzipienpluralismus
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von Handlungen, sagt aber nichts über den Wert oder Unwert der Handlungsmotive. Das zweite Prinzip setzt das erste Prinzip voraus, folgt aber nicht aus ihm. Im Zusammenhang mit der konsequenzialistischen Ethik bedarf die Unterscheidung zwischen Monismus und Pluralismus einer weiteren Differenzierung. Da konsequenzialistische Ethiken neben einer normativen Theorie, die die Kriterien des moralisch richtigen Handelns angibt, zusätzlich eine Axiologie beinhalten, die angibt, welchen Gütern nicht-moralischer Wert zukommt und welche Güter verwirklicht werden sollen, ist die Charakterisierung als monistisch oder pluralistisch hier nicht mehr eindeutig. Sie kann sich entweder auf die normative Theorie, auf die Axiologie oder auf beides beziehen. Vor allem sind auch „gemischte" Formen denkbar. So kann eine monistische normative Theorie, die lediglich das eine Gebot enthält, den nicht-moralischen Wert zu maximieren, mit einer pluralistischen Axiologie zusammengehen, nach der es nicht nur ein, sondern eine Vielzahl heterogener Güter gibt, die in jeweils unterschiedlicher Weise den zu maximierenden nicht-moralischen Wert konstituieren. Es ist wohl kein Zufall, sondern u. a. auch durch die Notwendigkeiten einer möglichst plastischen Veranschaulichung des jeweiligen Ethiktyps bedingt, dass die beiden ethischen Theorien, die am häufigsten als Lehrbuchbeispiele der deontologischen und der konsequenzialistischen Ethik diskutiert werden, monistische Systeme sind: die Kantische Ethik und der klassische Utilitarismus. Beide repräsentieren gerade aufgrund ihres Monismus besonders „lupenreine" Formen ihrer jeweiligen Paradigmen. Für die Ethik Kants ist der Monismus der Theorie des moralisch Richtigen ebenso charakteristisch wie der Monismus der Theorie des moralischen Werts: Es gibt nur ein letztes Kriterium der Pflichtgemäßheit (den Kategorischen Imperativ) und nur ein Kriterium des moralischen Werts (das Motiv, das moralisch Richtige um seiner moralischen Richtigkeit wil-
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4. Deontologische Ethik
len zu tun). Für den klassischen Utilitarismus gibt es nicht nur ein einziges letztes Prinzip des moralisch Richtigen, aus dem sich alle konkreten moralischen Handlungsurteile ableiten lassen sollen (die Maximierung des nicht-moralisch Guten), sondern auch nur eine einzige Wertqualität (Glück), die dieses zu maximierende nicht-moralische Gut konstituiert. Der klassische Utilitarismus geht in seinem Monismus sogar noch einen Schritt über die Ethik Kants hinaus, indem er selbst noch die Beurteilung von Motiven und Charaktermerkmalen aus seinem Prinzip der moralischen Richtigkeit abzuleiten versucht. Der Realität der ethischen Theorien wird diese polarisierende Auswahl allerdings kaum gerecht. Die Mehrzahl aller deontologischen und konsequenzialistischen Ethiken - der rekonstruktiven wie der konstruktiven - ist sowohl hinsichtlich der von ihr anerkannten nicht-moralischen Werte wie auch hinsichtlich der von ihnen anerkannten normativen Standards mehr oder weniger pluralistisch strukturiert.
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
4.3.1 Kants Kategorischer Imperativ Wir haben oben festgestellt, dass alle moralischen Handlungsbeurteilungen in dem Sinne kategorisch sind, dass sie die jeweilige Handlung nicht mit Bezug auf die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche des Akteurs, sondern mit Bezug auf davon unabhängige Standards beurteilen. Dieser Sprachgebrauch geht auf Kant zurück, der statt von kategorischen Handlungsurteilen von kategorischen Imperativen spricht. Dabei sind mit „Imperativen" Handlungsaufforderungen von der Art „Tue h in Situationen von der Art s" bzw. „Unterlasse h in Situationen
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
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von der Art s" gemeint.18 „Imperative" dürfen im Zusammenhang der Ethik Kants nicht als „Befehle", die bedingungslosen Gehorsam verlangen, missverstanden werden. Erstens umfassen „Imperative" im Sinne Kants auch relativ „weiche" Aufforderungen wie Empfehlungen oder Ratschläge. Und zweitens soll diesen „Imperativen" nicht blind Folge geleistet werden, sondern aus Einsicht in deren Vernünftigkeit. Alle zu Recht bestehenden moralischen Imperative bestehen nach Kant aus Vernunftgründen und sind für jeden, der zu ihrer Befolgung aufgefordert wird, im Prinzip mithilfe der Vernunft als berechtigt einsehbar. Allerdings ist Kants Verwendung des Ausdrucks „kategorisch" nicht frei von Zweideutigkeiten. Kant tendiert dazu, kategorische Imperative mit moralischen bzw. mit berechtigten moralischen Handlungsaufforderungen zu identifizieren. Er übersieht dabei, dass Kategorizität im erklärten Sinn lediglich ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kennzeichen moralischer Urteile ist. Auch auf Normen der Etikette oder der Ästhetik beruhende Forderungen können kategorisch sein: Auch „Du solltest beim Grüßen den Hut abnehmen" und „Du solltest den Anfang der Mondscheinsonate langsamer spielen" sind kategorische Imperative. Ebenso sind auch unberechtigte moralische Imperative der Form nach kategorisch. Sowohl der Imperativ „Mörder sollen mit der Todesstrafe bestraft werden" als auch der Imperativ „Mörder sollen nicht mit der Todesstrafe bestraft werden" ist kategorisch, auch wenn nur einer von beiden zu Recht bestehen kann und für den Vertreter des einen der jeweils andere unberechtigt ist. Kant neigt weiterhin dazu, kategorische Imperative als strenge oder unbedingte Forderungen zu verstehen, die vor allen anderen Forderungen Vorrang haben. Aber ein solcher Vorrang folgt weder aus der Kategorizität dieser Forderungen 18 Anders als oben vorgeschlagen betrachtet Kant nicht Handlungsurteile, sondern Handlungsaufforderungen als fundamental.
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4. Deontologische Ethik
noch aus ihrer Charakterisierung als Imperative. Dass ein Imperativ „kategorisch" ist, bedeutet, wie wir gesehen haben, nicht, dass es sich um einen moralischen Imperativ handelt. Auch selbst wenn man der (oben abgelehnten) Auffassung ist, dass moralische Forderungen in allen Konfliktfällen Vorrang vor nicht-moralischen Forderungen haben, folgt dieser Vorrang nicht schon aus der Kategorizität dieser Forderungen. Denn dass Kant mit „Imperativen" alle Arten von Aufforderungen - nicht nur strenge, sondern auch beliebig „weiche" - meint, zeigt sich u. a. daran, dass er als Gegenbegriff zu den kategorischen die „hypothetischen" Imperative einführt, prudentielle Forderungen und Empfehlungen von der Form „Wenn Du das Ziel z erreichen willst, solltest Du das Mittel m wählen". Hypothetische Imperative sind bei Kant aber nicht nur strenge und nachdrückliche Forderungen, etwa solche, die jemanden davon abhalten sollen, sich selbst zu schädigen oder seine zentralen Zwecke zu verfehlen, sondern auch „weiche" Ratschläge, die jemandem die geeigneten Mittel zur Erreichung seiner weniger existenziellen Zwecke empfehlen. Der Ausdruck „hypothetisch" bedeutet in der Kombination mit „Imperativ" also: abhängig von den (tatsächlichen oder möglichen) Zwecken des Adressaten des Imperativs. Er bedeutet nicht weniger, aber auch nicht mehr. Vor allem hat er keine der weiteren Bedeutungen, mit denen der Ausdruck „hypothetisch" in anderen Zusammenhängen verwendet wird: 1. Es bedeutet nicht, dass der hypothetische Imperativ- im Sinne des logischen Begriffs von „Hypothese" - von Wenndann-Form ist. Viele Aufforderungen in Wenn-dann-Form sind kategorische Imperative, z. B. die Aufforderung „Wenn du h versprochen hast, solltest du h ausführen". 2. Es bedeutet nicht, dass es sich bei der Aufforderung um eine bedingte Aufforderung handelt, von der Art der Aufforderung „Du solltest die Wahrheit sagen, sofern du damit keinen übermäßigen Schaden anrichtest".
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
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3. Es bedeutet nicht, dass die Aufforderung - im Sinne des erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Begriffs von „Hypothese" - in irgendeiner Weise unsicher, ungeprüft oder unzureichend bewährt ist. Es ist klar, dass es eine große und wahrscheinlich nicht vollständig bestimmbare Zahl nicht nur von kategorischen Imperativen, sondern auch von moralischen kategorischen Imperativen gibt. Wenn Kant von dem „Kategorischen Imperativ" spricht, ist etwas anderes gemeint, nämlich das von Kant postulierte allgemeine Prinzip, aus dem sich alle gültigen moralischen Imperative (alle „kategorischen Imperative") ableiten lassen sollen. Die Redeweise von dem Kategorischen Imperativ (im folgenden mit großem K) ist bei Kant nichts anderes als eine elliptische Formulierung für das Prinzip, dem alle moralisch zu Recht erhobenen Forderungen genügen müssen. Dieses oberste Prinzip wird am besten als eine Art Testverfahren verstanden, das darüber entscheiden soll, ob eine vorgeschlagene Norm moralisch akzeptabel ist oder nicht. Die Testobjekte dieses Verfahrens sind bei Kant Maximen, d. h. subjektive Handlungsregeln von der Form „Ich nehme mir vor, in Situationen von Typ s h zu tun". Dabei fungiert der Kategorische Imperativ lediglich als Ausschlusskriterium. Maximen, die den Test nicht bestehen, sollen nicht befolgt werden, alle anderen dürfen befolgt werden. Der Kategorische Imperativ ist ein Testverfahren ausschließlich für das, was moralisch erlaubt ist, nicht für das, was moralisch geboten ist (vgl. Kant 1902 ff., Bd. 4,439). Er grenzt lediglich den Bereich des Erlaubten von dem des Verbotenen ab. Dies ist deshalb nicht unwichtig, weil es zeigt, dass das mit dem Kategorischen Imperativ gesetzte Kriterium alles andere als „rigoristisch" im Sinne exzessiver moralischer Strenge ist. Innerhalb des Bereichs des Erlaubten besteht nach Kant vielmehr ein Spielraum für Ermessensentscheidungen und für ein Handeln nach nicht-moralischen, prudentiellen und rein per-
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4. Deontologische Ethik
sönlichen Kriterien.19 Der „gute Wille" zielt keinesfalls auf moralischen Heroismus, ja nicht einmal auf ausgeprägt „idealistische" Denk- und Verhaltensweisen, sondern lediglich darauf, das nach dem Kategorischen Imperativ Unzulässige zu unterlassen. Dass ein Mensch aus moralischen Gründen den ganz alltäglichen „guten Anstand" wahrt und die Grenzen des moralisch Zulässigen nicht überschreitet, ist nach Kant durchaus hinreichend, einem Menschen „guten Willen" zu bescheinigen. Was besagt nun der Kategorische Imperativ, das Prinzip aller berechtigten moralischen kategorischen Imperative? Die Antwort ist schwieriger, als man erwarten sollte, denn Kant gibt mehrere Varianten dieses Prinzips an. Herkömmlich teilt man die Varianten in drei verschiedene Formulierungen ein. Die erste Formulierung lautet in ihrer am häufigsten zitierten Form: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Die zweite Formulierung fordert dazu auf, den Menschen als Selbstzweck zu achten. Vollständig lautet sie: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als (auch) in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." Die dritte ist eher eine Feststellung als eine Forderung und zeichnet den Menschen als Selbstgesetzgeber aus: Moralische Normen sind selbstgesetzt (autonom) und nicht von einer fremden Instanz gesetzt (heteronom). Als Norm rekonstruiert lautet sie: „Handle so, dass die Maxime deiner Handlung mit der Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens vereinbar ist." Die erste Formulierung ist die zu Recht bekannteste, denn sie postuliert ein rein formales Verfahren zur Überprüfung der 19 Insofern Kant auch unvollkommene Pflichten anerkennt, besteht für ihn ein solcher - wenn auch begrenzter - Ermessensspielraum sogar im Bereich des moralisch Gebotenen.
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
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moralischen Zulässigkeit vorgeschlagener Maximen und wird Kants Grundannahme, dass sich moralische Urteile mithilfe der reinen Vernunft auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen lassen, am unmittelbarsten gerecht. Die zweite und die dritte Formulierung werden demgegenüber von Kant zwar als mehr oder weniger gleichbedeutend mit der ersten aufgefasst, greifen aber sehr viel stärker als die erste Formulierung auf spezifische ethische und metaphysische Lehrstücke seiner Philosophie zuDie drei Formulierungen des Kategorischen Imperativs bei Kant als „Filter" der moralischen Zulässigkeit von Handlungen bzw. Handlungsmaximen 1. Die erste Formulierung: der Filter des VerallgemeinertDenken- (bzw. -Wollen-)Könnens der Maxime einer Handlung „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." 2. Die zweite Formulierung: der Filter der Vereinbarkeit einer Handlung mit dem Selbstzweckcharakter des Menschen „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als (auch) in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." 3. Die dritte Formulierung: der Filter der Vereinbarkeit der Maxime einer Handlung mit der Idee menschlicher Selbstgesetzgebung „Handle so, dass die Maxime deiner Handlung mit der Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens vereinbar ist."
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4. Deontologische Ethik
rück. Beide berufen sich auf die spezifisch kantische Annahme, dass der Mensch (als „Person") an einem metaphysischen Bereich jenseits der empirisch zugänglichen Welt teilhat und dass die jedem Menschen eigene Vernunftfähigkeit gewissermaßen die Brücke darstellt, auf der er sich Zugang zu diesem „intelligiblen" - d. h. nur denkend und nicht anschaulich zugänglichen - Bereich verschaffen kann. Kraft dieser Teilhabe an einer „höheren" Welt kommt dem Menschen eine besondere Würde zu, die seine schrankenlose Instrumentalisierung zu fremden Zwecken verbietet (Formulierung 2). Aus derselben Sonderstellung bezieht er die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung („Autonomie"), die ihn über alle anderen Geschöpfe der Natur hinaushebt und ihn dazu aufruft, neben seiner eigenen Vernunfteinsicht keine irgendwie geartete „höhere" Autorität gelten zu lassen (Formulierung 3). Angesichts dieser starken metaphysischen Voraussetzungen ist zu bezweifeln, ob diese beiden Formulierungen - wie plausibel sie immer sein mögen - in derselben Weise mithilfe der reinen Vernunft als zutreffend und berechtigt erkannt werden können, wie Kant für alle drei Formulierungen beansprucht. Sie wären es nur dann, wenn die Wahrheit der kantischen Metaphysik ihrerseits aus reinen Vernunftgründen einsehbar wäre. Lösen wir also die erste Formulierung von den beiden ändern ab und betrachten sie als das, was sie zu sein beansprucht: ein rein formales Testverfahren für gültige moralische Pflichten und Rechte. Dieses Testverfahren besteht offenkundig aus einem Gedankenexperiment. Für jede Maxime ist zu prüfen, ob es möglich ist, sie hypothetisch verallgemeinert zu denken oder zu wollen. Nur wenn diese Möglichkeit besteht, ist sie moralisch zulässig. Denken-Können und Wollen-Können sind unterschiedlich starke Kriterien, und Kant ist sich des Unterschieds wohl bewusst. Das Kriterium des Nicht-denken-Könnens ordnet er den „strengen" (vollkommenen), das Kriterium des Nicht-wollen-Könnens den „verdienstlichen" (unvollkommenen) Pflich-
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
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ten zu. Eine Maxime, deren Verallgemeinerung nicht gedacht werden kann, soll eine vollkommene Pflicht verletzen, eine Maxime, deren Verallgemeinerung nicht gewollt werden kann, eine unvollkommene Pflicht. Nicht gewollt werden zu können, bezieht sich dabei auf die in der Maxime selbst bekundeten Wünsche und Interessen. Dass eine Verallgemeinerung nicht gewollt werden kann, heißt nicht, dass die Forderung oder Verwirklichung der verallgemeinerten Maxime für sich genommen unmöglich ist, sondern dass es unmöglich ist, gleichzeitig die verallgemeinerte Maxime zu fordern oder zu verwirklichen und die in der Maxime zum Ausdruck kommenden Wünsche und Interessen zu erfüllen. Nicht gewollt werden zu können heißt, dass die Forderung oder Verwirklichung der verallgemeinerten Maxime mit der Erfüllung der Maxime selbst unvereinbar wäre. Die hypothetische Verallgemeinerung würde die Maxime selbst konterkarieren. Die erste Formulierung des Kategorischen Imperativs tritt bei Kant in zwei Varianten auf, von denen die eine von der hypothetischen Verallgemeinerung der zu prüfenden Maxime als einem „Gesetz", die andere als einem „Naturgesetz" spricht: a: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. b: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. Die naheliegendste Interpretation der Variante a ist zweifellos die, die jeweils zu prüfende Maxime so zu verallgemeinern, dass der Bezug auf den jeweiligen Autor der Maxime getilgt und durch den Bezug auf jeden beliebigen Akteur ersetzt wird. Gleichzeitig wird der voluntative Modus der Maxime in den moralischen Modus eines Prinzips transformiert. Sprachlich bedeutet das, das „Ich will" in der Formulierung der Maxime durch ein „Jeder darf" zu ersetzen. Das Resultat dieser Ersetzung ist dann ein der Reichweite nach universelles (für schlechthin jeden Akteur geltendes) moralisches Erlaubnisurteil. Maximen von der allgemeinen Form
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4. Deontologische Ethik
Ich nehme mir vor, in Situationen des Typs s h zu tun. werden also zu Jeder darf in Situationen des Typs s h tun. Das vom Kategorischen Imperativ geforderte Gedankenexperiment bestünde dann darin zu prüfen, ob dieses universelle moralische Erlaubnisurteil aus der Perspektive des Autors der Maxime gedacht oder gewollt werden kann. Ganz anders stellt sich die Aufgabe der Maximenprüfung nach der Variante b dar. Diese Interpretationsvariante legt es nahe, die zu prüfende Maxime nicht zu einem universellen moralischen Erlaubnisurteil zu verallgemeinern, sondern zu einem universellen deskriptiven Urteil. Dieses Urteil hat zum Inhalt, dass alle in Situationen des Typs s tatsächlich h ausführen. Sprachlich heißt das, das „Ich will" in der Formulierung der Maxime durch ein „Jeder tut" zu ersetzen. Das Resultat dieser Ersetzung ist dann ein der Reichweite nach universelles deskriptives Urteil. Aus Maximen von der Form
Ich nehme mir vor, in Situationen des Typs s h zu tun werden „Naturgesetze" von der Form Jeder tut h in Situationen des Typs s. Das vom Kategorischen Imperativ geforderte Gedankenexperiment bestünde dann darin zu prüfen, ob dieses universelle deskriptive Urteil als wahr gedacht oder gewollt werden kann. Offensichtlich führen die Varianten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Variante a fordert, eine Maxime als Regel zu verallgemeinern, die zweite, eine Regel in verallgemeinerter Form realisiert zu denken oder zu wollen. Nach der ersten Variante ist eine Maxime unzulässig, wenn bereits die Regel aus Gründen der Logik nicht gedacht oder gewollt werden kann. Nach der zweiten Variante ist eine Maxime unzulässig, wenn die universelle Befolgung der Regel aus Gründen der Logik
4.3 Beispiele für einen deontologischen Prinzipienmonismus
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nicht gedacht oder gewollt werden kann, es also zu einem Widerspruch führt sich vorzustellen, dass alle, die sich in der Situation s befinden, von der Erlaubnis, h zu tun, Gebrauch machen. Es lassen sich in der Tat Maximen denken, in denen die Vorstellung, dass eine Maxime als Naturgesetz gilt, auf einen Widerspruch führt, während der Gedanke, dass dieselbe Maxime als allgemeine Forderung gilt, durchaus konsistent ist. Ein Beispiel ist die Maxime, keine eigene Zeitung zu kaufen, sondern beim Nachbarn in der S-Bahn mitzulesen. Als Naturgesetz gedacht führt diese Maxime zu einem Widerspruch. Es muss notwendig einige geben, die eine eigene Zeitung kaufen, statt sich bei anderen als „Trittbrettfahrer" zu betätigen. Demgegenüber hat die Verallgemeinerung der Maxime zu der allgemeinem Erlaubnisnorm „Jeder darf bei seinem Nachbarn mitlesen" nichts Widersprüchliches. Sie kann sowohl gedacht als auch gewollt werden. Zu einem Widerspruch käme es allenfalls, falls alle von dieser Erlaubnis Gebrauch machten. Dies wird durch die Geltung der Erlaubnisnorm aber nicht impliziert. Ist Kants Testverfahren adäquat? Gehen wir, um dies zu prüfen, von der Variante b aus, die in Kants eigenen Beispieldiskussionen zugrunde gelegt wird, und fragen wir, ob die Unfähigkeit einer Maxime, verallgemeinert gedacht oder gewollt werden zu können, ein gutes Kriterium für ihre moralische Unzulässigkeit ist. Angesichts der Kantischen Differenzierung des Testverfahrens sind dazu vier Fragen zu stellen: l a. Ist der Test der Nichtdenkbarkeit der hypothetischen Verallgemeinerung eine hinreichende Bedingung für die strenge moralische Unzulässigkeit einer Maxime? Ist es so, dass eine Maxime, für die sich bei hypothetischer Verallgemeinerung ein Widerspruch ergibt, einer vollkommenen Pflicht - und damit einem moralischen Recht - zuwiderläuft? l b. Ist der Test der Nichtdenkbarkeit der hypothetischen Verallgemeinerung eine notwendige Bedingung für die moralische Unzulässigkeit einer Maxime? Ist es so, dass jede Maxime,
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die einer vollkommenen Pflicht zuwiderläuft, bei Verallgemeinerung auf einen Widerspruch führt? Werden durch den Test der Nichtdenkbarkeit der hypothetischen Verallgemeinerung alle vollkommenen Pflichten erfasst? 2 a. Ist der Test der Nichtwünschharkeit der hypothetischen Verallgemeinerung eine hinreichende Bedingung für die moralische Unzulässigkeit einer Maxime? Ist es so, dass eine Maxime, für die sich bei Verallgemeinerung ein Widerspruch zu dem in der Maxime bekundeten Willen ergibt, einer unvollkommenen Pflicht zuwiderläuft? 2 b. Ist der Test der Nichtwünschbarkeit der hypothetischen Verallgemeinerung eine notwendige Bedingung für die moralische Unzulässigkeit einer Maxime? Ist es so, dass eine Maxime, die einer unvollkommenen Pflicht zuwiderläuft, bei Verallgemeinerung auf einen Widerspruch zu dem in der Maxime bekundeten Willen führt? Werden durch den Test der Nichtwünschbarkeit der hypothetischen Verallgemeinerung alle unvollkommenen Pflichten erfasst? Zu l a ist zunächst festzustellen, dass es gar nicht leicht ist, Beispiele für Maximen zu finden, die bei hypothetischer Verallgemeinerung auf einen Widerspruch führen. Noch schwerer ist es, Beispiele zu finden, in denen der Widerspruch einer anerkannten vollkommenen Pflicht entspricht. Die Maxime, bei seinem Nachbarn die Morgenzeitung mitzulesen, führt bei Verallgemeinerung auf einen Widerspruch. Aber besteht die allgemeine Pflicht, sich selbst eine Zeitung zu kaufen? Ist jede und noch so triviale Form von Trittbrettfahrertum pflichtwidrig? Man könnte Kant zugestehen, dass Parasitismus eine fundamentale Fairnessnorm verletzt und insofern prima fade moralisch bedenklich ist. Es bleibt dennoch die Frage, ob die im Trittbrettfahrertum liegende Unfairness in der Verteilung von Vorteilen und Lasten gegen ein moralisches Recht verstößt. Kant gibt für eine mögliche Anwendung des Widerspruchskriteriums das Beispiel des lügenhaften Versprechens, d. h. ei-
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nes Versprechens, das der Versprechengeber nicht zu erfüllen beabsichtigt (Kant 1902 ff., Bd. 4, 422). Die Verallgemeinerung der Maxime würde in diesem Fall auf einen hypothetischen Gesellschaftszustand führen, in dem alle Versprechen lügenhaft wären und das Vertrauen in die Einhaltung von Versprechen in der Folge soweit erodieren würde, dass von einer Institution des Versprechens insgesamt nicht mehr die Rede sein kann. In einer so beschaffenen Gesellschaft gäbe es die Institution des Versprechens nicht mehr. Es wäre unmöglich, irgendetwas zu versprechen. Damit ist gezeigt, dass es unmöglich ist, die Maxime des lügenhaft Versprechenden verallgemeinert zu denken. Aber ist Kants Beispiel des lügenhaften Versprechens eine überzeugende Anwendung des Kategorischen Imperativs? An mehreren Punkten von Kants Ableitung stellen sich kritische Fragen. Eine erste Frage betrifft die Formulierung der zu prüfenden Maxime. Welche Maxime macht sich derjenige zu eigen, der sich „durch Not gedrungen" (Kant 1902 ff., Bd. 4, 422) sieht, Geld zu borgen, von dem er weiß, dass er es nicht zurückzahlen können wird? Kant geht davon aus, dass er sich die Maxime zu eigen macht Ich nehme mir vor, in allen Situationen, in denen ich etwas verspreche, lügenhafte Versprechen abzugeben. Aber ist das realistisch? Realistischer wäre zweifellos, dass er sich die Maxime zu eigen macht Ich nehme mir vor, in allen Situationen, in denen ich in Not bin, lügenhafte Versprechen abzugeben, wenn dies dazu dienen kann, mich aus der Notlage zu befreien. Bei Zugrundelegung dieser realistischeren Maxime würde bei hypothetischer Verallgemeinerung nicht folgen, dass alle Versprechen lügenhaft wären, sondern lediglich, dass alle in Notsituationen gegebenen und für zweckdienlich gehaltenen Ver-
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sprechen lügenhaft wären. Kant erweckt gelegentlich den Eindruck, die vom Testverfahren des Kategorischen Imperativs verlangte Verallgemeinerung müsse sich nicht nur auf die Subjektstelle, sondern auch auf die in der Maxime angegebene Situation erstrecken, so dass bei der Verallgemeinerung nicht nur die Beschränkung der Maxime auf einen Akteur, sondern auch die Beschränkung auf Situationen des Typs s entfällt. Von einer Verallgemeinerung auch über Situationen ist jedoch in den Formulierungen des Kategorischen Imperativs nicht ausdrücklich die Rede. Auch Naturgesetze (auf die die zweite Variante der ersten Formulierung anspielt) enthalten in der Regel Spezifikationen der Bedingungen, unter denen sich Naturobjekte in bestimmter Weise verhalten und sind nicht in dem Sinne bedingungslos oder „unbedingt", dass sie auf beliebige Situationen zutreffen. Auch inhaltlich erscheint die Vernachlässigung der Situationsvariable wenig akzeptabel. Es wäre z.B. abwegig, die Differenzen zwischen dem mutwilligen und notorischen Lügner und seiner Maxime Ich nehme mir vor, immer zu lügen und dem „Notlügner" und seiner Maxime Ich nehme mir vor, in allen Situationen, in denen ich in Not bin, zu lügen, wenn dies dazu dienen kann, mich aus der Notlage zu befreien zu vernachlässigen und beide moralisch auf eine Stufe zu stellen. Eine zweite Frage betrifft die Widersprüchlichkeit der Situation, die sich aus der hypothetischen Verallgemeinerung ergeben soll. Was folgt aus der hypothetischen Verallgemeinerung, wenn man einmal von der Beschränkung der Maxime auf bestimmte Situationsbedingungen absieht? Die hypothetische Verallgemeinerung führt lediglich zu dem Resultat, dass niemand mehr einem Versprechen glaubt. Sie führt nicht zu dem Resultat, dass niemand mehr Versprechen gibt. Es folgt, dass
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niemand mehr erwarten kann, dass seinen Versprechen geglaubt wird. Aber Versprechen zu geben, von denen man nicht glaubt, dass ihnen geglaubt wird, ist nicht offensichtlich widersprüchlich. Selbst die Annahme, dass es infolge der Unglaubwürdigkeit von Versprechen dazu kommt, dass niemand mehr Versprechen gibt und die Institution des Versprechens abstirbt, führt auf keinen Widerspruch. Eine Welt, in der keine Versprechen gegeben werden, ist nicht nur ohne weiteres denkbar, es soll sogar tatsächlich eine Gesellschaft (auf den Tonga-Inseln in Polynesien) geben, in der die Institution des Versprechens unbekannt ist (vgl. Rippe 1993,159). Selbst also, wenn man die Situationsbedingung vernachlässigt und von der unrealistisch stark formulierten Maxime ausgeht, die Kant zugrundezulegen scheint, kann das Testverfahren des Kategorischen Imperativs nicht zeigen, dass es sich beim lügenhaften Versprechen um die Verletzung einer vollkommenen Pflicht handelt und dass deshalb eine vollkommene Pflicht zur Wahrhaftigkeit von Versprechen besteht. Sehr viel überzeugender ist im Fall des lügenhaften Versprechens allerdings die Anwendung des schwächeren Kriteriums des Nicht-Wollen-Könnens: Wer unwahrhaftig verspricht, vertraut darauf, dass andere ihm glauben. Er zielt darauf, eine etablierte Praxis des Vertrauens in die Wahrhaftigkeit von Versprechen parasitär zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen. Er kann deshalb seine Ziele nur erreichen, solange das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit von Versprechen so weitgehend unerschüttert ist, dass seinem eigenen Versprechen geglaubt wird. Diese Voraussetzung ist jedoch unvereinbar mit der Annahme, dass nicht nur er, sondern alle übrigen Gesellschaftsmitglieder immer dann, wenn es ihren Zielen dient, unwahrhaftige Versprechen abgeben. Wenn er mit seiner Strategie Erfolg haben will, muss er vielmehr wollen, dass alle anderen soweit wahrhaftig sind, dass nicht nur Versprechen im allgemeinen geglaubt wird, sondern auch Versprechen, die in einer Notlage abgegeben werden und sich auf die Rückzahlung von geliehe-
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nen Geldmitteln beziehen. Der lügenhaft Versprechende kann folglich in einem klaren Sinn nicht wollen, dass seine Maxime des lügenhaften Versprechens als Naturgesetz gilt. Die Grundlage des Nicht-Wollen-Könnens ist in diesem Fall keine andere als der in der Maxime bekundete Wille des Akteurs. Wenn er lügenhaft versprechen will, will er, dass andere ihm glauben. Er kann deshalb nicht gleichzeitig wollen, dass alle lügenhaft versprechen und es zu einer Erosion des Vertrauens in die Wahrhaftigkeit von Versprechen kommt. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass zwischen dem jetzigen Versprechen und der zeitlich später eintretenden Erosion des Vertrauens eine ideale Gleichzeitigkeit besteht. Strenggenommen könnte der Akteur das gesellschaftliche Vertrauen noch solange ohne Widerspruch nutzen, bis das Vertrauen soweit erodiert ist, dass seinem Versprechen nicht mehr geglaubt wird. Auch wenn diese Anwendung des Kategorischen Imperativs zum angestrebten Ziel führt, hat sie dennoch den Schönheitsfehler, dass damit die Pflicht zum wahrhaftigen Versprechen lediglich als unvollkommene Pflicht erwiesen wäre. Nicht nur für Kant gilt das Unterlassen lügenhafter Versprechen jedoch als vollkommene Pflicht. Nicht nur ist der Versprechensgeber moralisch zur Wahrhaftigkeit verpflichtet, der Versprechensnehmer hat auch ein moralisches Recht auf die Wahrhaftigkeit des Versprechensgebers. Damit ist die Frage 2 a negativ beantwortet: Nicht jede Maxime, die bei Verallgemeinerung zu einem Widerspruch im Sinne des Nicht-wollen-Könnens führt, ist eine unvollkommene Pflicht. Um das Ergebnis zu erhalten, dass ein lügenhaftes Versprechen eine vollkommene Pflicht verletzt, müsste - sieht man wiederum von der Situationsbedingung ab - gezeigt werden, dass bereits der Gedanke, der Akteur könnte unter Bedingungen allgemeinen Vertrauensschwunds etwas versprechen, widersprüchlich ist. Man müsste zeigen, dass der Begriff des Versprechens nur solange sinnvoll anwendbar ist, wie zumindest
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ein substanzieller Teil aller Versprechen glaubwürdig ist, dass der Ausdruck „Versprechen" also andernfalls seine Bedeutung verlieren und unverständlich werden würde. Ob das gelingen kann, scheint fraglich. Es hat zwar etwas Absurdes, in einer Gesellschaft, in der jedes Vertrauen geschwunden ist, etwas lügenhaft versprechen zu wollen. Aber diese Absurdität wäre keine logische Absurdität - zumindest solange nicht, wie die Institution des Versprechens noch in der Vorstellung der oder einiger Gesellschaftsmitglieder fortexistiert.20 Aber gesetzt den Fall, es wäre in einem logischen Sinne absurd - was würde daraus folgen? Möglicherweise ließen sich aus dem so verstandenen Kategorischen Imperativ einige substanzielle vollkommene Pflichten ableiten, z. B. die Pflicht zur Achtung des Eigentums: Eine allgemeine Nichtachtung des Eigentums würde die Institution des Eigentums zunichte machen und damit auch Begriffe wie „Diebstahl", „Betrug", „Raub" usw. unanwendbar werden lassen. Aber auch diese Überlegung führt nicht viel weiter. Denn der Kategorische Imperativ impliziert dann nicht nur die Verwerfung von Maximen, die von erhaltenswerten, sondern auch von solchen, die von nicht erhaltenswerten moralischen Institutionen abhängen. Die Maxime „Ich werde niemals jemanden zum Duell fordern" müsste ebenfalls verworfen werden, da auch sie bei Verallgemeinerung zur Nichtanwendbarkeit des für die Maxime wesentlichen Begriffs führt. Wenn keiner irgend jemanden mehr zum Duell fordert, stirbt die Institution des Duells ab und die Maxime, jemanden nicht zum Duell zu fordern, büßt ihre Verständlichkeit ein. Insofern kann der Kategorische Imperativ dazu führen, „dass der einzelne verpflichtet ist, eine gesellschaftliche Einrichtung zu stützen, die besser gar nicht existierte" (Hoerster 1974, 468). 20 Kann ein moderner Don Quichote sich die Maxime zu eigen machen, einen anderen bei Ehrverletzung zum Duell zu fordern? Die Antwort müsste wohl ja lauten - die Absurdität wäre keine logische Absurdität.
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Auch in der Gegenrichtung (Frage l b) erweist sich der Kategorische Imperativ nur bedingt als adäquat. Als Beispiel mag das moralische Tötungsverbot dienen. Andere nicht zu töten, ist für Kant wie für viele andere Ethiker eine vollkommene Pflicht (der andere hat ein moralisches Recht, nicht getötet zu werden), aber lässt es sich mit Hilfe des Denkbarkeitskriteriums ableiten? Die Maxime „Wenn immer es meinen Zwecken dient, werde ich einen anderen Menschen töten" führt bei Verallgemeinerung weder auf einen inneren Widerspruch noch auf eine Unvereinbarkeit mit dem Willen des Akteurs. Eine Welt, in der das „Gesetz des Dschungels" herrscht, ist alles andere als undenkbar. Ebensowenig ist zu sehen, dass eine Gesellschaft, in der eine unbeschränkte Lizenz zum Töten besteht, es dem Akteur unmöglich machen würde, seine Maxime erfolgreich auszuführen. Ganz im Gegenteil: Die Anarchie des Dschungels wäre für den Akteur das ideale Terrain zum Ausleben seiner mörderischen Maxime. Zwar müsste der Akteur in diesem Fall mörderische Angriffe seitens anderer befürchten. Diese widersprechen aber nicht den in seiner Maxime zum Ausdruck kommenden Wunsch, sondern allenfalls anderen Wünschen. Weder ist der imaginäre Zustand einer universellen Tötungserlaubnis für sich genommen undenkbar, noch kommt es zu einem Widerspruch zwischen dem imaginären Zustand und dem in der Maxime bekundeten Wollen. Das Tötungsverbot ließe sich also nicht einmal als unvollkommene Pflicht ableiten. Eine Begründung für das Tötungsverbot ließe sich allenfalls aus der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs ableiten, jedenfalls dann, wenn die gezielte Tötung als Verletzung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen interpretiert wird. Aber weder erscheint diese Interpretation iüralle gezielten Tötungen plausibel (man denke etwa an die aktive Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen), noch hat Kant die gezielte Tötung als solche als mit der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen unvereinbar gesehen. Grausame und entehrende Strafen (wie die Vierteilung) galten ihm als mit der besonderen Würde
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des Menschen unvereinbar, nicht aber die Todesstrafe als solche, zumindest solange sie nicht konsequenzialistisch mit sozialpräventiven Zwecken, sondern vergeltungstheoretisch als von der ausgleichenden Gerechtigkeit gefordert begründet wird. Eine Überprüfung der Adäquatheit des Tests 2 b fällt noch enttäuschender aus, etwa bei einer weithin anerkannten unvollkommenen Pflicht wie der zur Rettung eines anderen, der sich in Lebensgefahr befindet, soweit diese ohne erhebliche Selbstgefährdung möglich ist. Auch hier ist nicht zu sehen, wie diese Pflicht mithilfe des Kriteriums des Nicht-verallgemeinert-wollen-Könnens hergeleitet werden kann. Die Maxime Ich nehme mir vor, niemandem, der sich in Lebensgefahr befindet, zu Hilfe zu kommen ist nicht nur ohne inneren Widerspruch, sondern auch ohne Widerspruch zu dem sich in dieser Maxime bekundenden Willen verallgemeinert vorstellbar. Ein Zustand, in dem das Naturgesetz gilt, Niemand kommt einem anderen, der sich in Lebensgefahr befindet, zu Hilfe ist nicht nur widerspruchsfrei denkbar, sondern ist mit der Indifferenz des Akteurs auch bestens vereinbar. Kant war zwar der Meinung, dass der Einzelne eine Gesellschaft, in der niemand zur Lebensrettung bereit ist, nicht „wollen kann", da er ja jederzeit selbst in eine Lage kommen kann, in der er von anderen gerettet werden möchte. Aber erstens ist es nicht selbstverständlich, dass der Akteur, der sich die Hilfeleistung für andere erspart, seinerseits die Hilfe anderer in Anspruch nehmen will,21 und zweitens ist der Wunsch, gegebenenfalls vor dem 2l Diese Überlegung spricht ebenso gegen die normative Adäquatheit der Goldenen Regel in ihrer populären Form „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem ändern zu": Jemand kann auch dann zur Hilfelei-
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Tod gerettet zu werden, nicht der Wunsch, der sich in der zu prüfenden Maxime bekundet. In dieser bekundet sich lediglich der Wunsch, andere nicht zu retten. Wenn es hier zu einem Widerspruch kommt, dann allenfalls zwischen der vorgestellten Verallgemeinerung und einem anderen Wunsch des Akteurs.
4.3.2 Das hypothetische Verallgemeinerungsprinzip von M. G. Singer Auch M. G. Singers hypothetisches Verallgemeinerungsprinzip lässt sich als ein Versuch auffassen, eine deontologische Ethik durch ein einziges zentrales Prinzip formaler Art zu begründen. Wie der Kategorische Imperativ Anklänge an die Goldene Regel weist auch das hypothetische Verallgemeinerungsprinzip Ähnlichkeiten zu einer im moralischen Alltag verbreiteten Argumentform auf, nämlich zu dem Argument „Was wäre, wenn alle so handelten wie du?" Marcus Singer hat in seinem Buch „Verallgemeinerung in der Ethik" (Singer, M. G. 1975) diesem Prinzip - in der systematischen Rekonstruktion von N. Hoerster (1971) - die folgende Formulierung gegeben: Wenn die Ausführung einer Handlung der Art h durch jeden aufs ganze gesehen negative Folgen haben würde, dann darf niemand h tun, es sei denn, er hat dafür einen hinreichenden Grund. Dieses Argument entspricht in einer wichtigen Hinsicht der zweiten Variante von Kants erster Formulierung des Kategorischen Imperativs: Entscheidend für die Beurteilung der einzelnen Handlung ist nicht die hypothetische allgemeine Geltung stung verpflichtet sein, wenn er in einer analogen Situation für sich selbst keine Hilfeleistung wünscht, jedenfalls solange davon auszugehen ist, dass normalerweise eine Hilfeleistung gewünscht wird.
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eines Prinzips, sondern seine hypothetische allgemeine Befolgung. Das Argument fordert uns nicht auf zu überlegen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der die in Frage stehende Handlung allen erlaubt ist, sondern ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der die in Frage stehende Handlung von allen ausgeführt wird. In anderen Hinsichten weicht Singers Prinzip allerdings vom Kategorischen Imperativ ab. Erstens enthält es eine Ausnahmeklausel für Fälle, in denen es zulässig scheint, von dem Resultat des hypothetischen Verallgemeinerungstests abzuweichen, nämlich wenn für eine Abweichung moralisch überzeugende Gründe vorliegen. Zweitens wird im Unterschied zu Kants Verwendung des Kategorischen Imperativs mit dem hypothetischen Verallgemeinerungsprinzip nicht unterstellt, dass die hypothetische Verallgemeinerung der Maxime des Akteurs auf einen irgendwie gearteten Widerspruch führt, sondern dass die Folgen einer allgemeinen Praxis der Befolgung der Maxime wenig wünschenswert sind. Dennoch handelt es sich bei diesem Argument um kein rein konsequenzialistisches Argument. Es bezieht sich nicht auf die Qualität der abgesehenen oder absehbaren Folgen der zu beurteilenden Handlung, sondern auf die hypothetischen Folgen einer bloß gedachten Verallgemeinerung. Es schließt von der Unzulässigkeit der hypothetischen Ausführung der Handlung durch jeden auf die Unzulässigkeit der faktischen Ausführung der Handlung durch jeden einzelnen. Dieses Prinzip ist offensichtlich eher als der Kategorische Imperativ geeignet, die moralische Verwerflichkeit von „Trittbrettfahrertum" und anderer Formen der Verletzung des Gleichgewichts von Geben und Nehmen zu begründen. Eine einseitige und unfaire Ausnutzung der allgemeinen Befolgung moralischer Prinzipien und Achtung moralischer Institutionen zum eigenen Vorteil ist danach nicht deshalb moralisch falsch, weil ihre hypothetische Verallgemeinerung mit der Aufrechterhaltung dieser Institutionen unvereinbar wäre, son-
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dern weil sie für die Gesellschaft insgesamt schädlich wäre. Auf diese Weise werden einseitige Vorteilnahmen auch dann als moralisch kritikwürdig ausgezeichnet, wenn die Folgewirkungen ihrer hypothetisch verallgemeinerten Formen weniger dramatisch sind, als es der Kategorische Imperativ fordert. Darüber hinaus wird auch die im Widerspruchskriterium angelegte konservative Tendenz vermieden. Die hypothetische Erosion der in der jeweiligen Maxime vorausgesetzten moralischen Institution ist nicht mehr eo ipso ein Übel, sondern nur dann, wenn die moralische Institution für die Gesellschaft insgesamt unübersehbare Vorteile hat. In einer anderen Hinsichten erweist sich das hypothetische Verallgemeinerungsprinzip allerdings als problematisch: Die schädlichen Folgen einer allgemeinen Praxis können sich aus Faktoren ergeben, die weniger mit der moralischen Unzulässigkeit der Handlung selbst zu tun haben als vielmehr mit der hypothetischen Kumulierung der Folgen aller Einzelhandlungen. Man denke z. B. an das Verbot, eine bestimmte Rasenfläche zu betreten. Eine massenhafte Nutzung des Rasens würde den Rasen zerstören und damit einen Schaden verursachen. Folgt daraus, dass niemand den Rasen betreten darf? Aus Singers Prinzip würde folgen, dass auch dann niemand den Rasen betreten darf, wenn es unwahrscheinlich ist, dass mehr als nur ganz wenige den Rasen betreten und ein Schaden für den Rasen nicht zu befürchten ist. Andere naheliegende Beispiele sind das Autofahren bei Smogwarnung, das Schwarzfahren, das Geben falscher Versprechen oder die Steuerhinterziehung. In allen diesen Fälle führt eine hypothetische Folgenkumulation zu hochgradig unerwünschten Zuständen - nicht nur aus der Perspektive der Gesellschaft, sondern auch aus der Perspektive jedes einzelnen. Gleichzeitig ist es jedoch fraglich, ob sich aus dieser Überlegung ein allgemeines Verbot der entsprechenden Handlungsweise auch für solche Fälle ableiten lässt, in denen entweder von vornherein klar ist, dass nur ganz wenige die kumulativ schädliche Handlung ausführen, oder in denen eine
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bestimmte Schwelle definiert und durchgesetzt werden kann, ab der keiner mehr h ausführen darf, sobald eine bestimmte Zahl anderer h ausführt oder ausgeführt hat. Eine entsprechend revidierte Form des Singerschen Verallgemeinerungsprinzips könnte dann etwa so aussehen: Wenn die Ausführung von Handlungen der Art h durch jeden aufs ganze gesehen negative Folgen haben würde, dann dürfen nicht mehr als n Personen (n = Schwellenwert) h tun, es sei denn, sie haben dafür einen hinreichenden Grund. Natürlich kann die selektive Erlaubnis für einige, h auszuführen, ihrerseits moralisch problematisch sein. Das wird insbesondere dann der Fall sein, wenn man davon ausgehen muss, dass alle gleichermaßen daran interessiert sind, h auszuführen, aber nur wenige sich das Recht nehmen, h auszuführen, während sich die ändern mit Rücksicht auf die Vermeidung der schädlichen Folgen h versagen. Hier läge ein klarer Fall von Unfairness vor: Die falschen Versprechengeber nutzen das Vertrauen der anderen aus, ebenso wie die Steuerhinterzieher die Steuerehrlichkeit der anderen ausnutzen. Dabei wird eine allgemeine Unehrlichkeit auch von denen, die sich einen unfairen Vorteil verschaffen, nicht ernsthaft gewünscht. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, dass andere, die möglicherweise dieselben Interessen haben, sich dennoch an die Moral statt an ihr Interesse halten und dadurch einseitig benachteiligt werden. Diese Unfairness gilt jedoch nicht universell. Nicht in jedem Fall, in dem einige, aber nicht alle eine Handlung h ausführen, die bei Ausführung durch alle schädlich wäre, liegt eine derartige Unfairness vor. Denn die Nichtausführenden brauchen durch die Nichtausführung nicht unbedingt einen Nachteil zu haben, insbesondere dann, wenn sie an h gar nicht interessiert sind. Ein Beispiel ist das Golfspielen. Nicht alle können Golf spielen, da dies einen übermäßigen Flächenverbrauch bedeuten würde. Sollte deshalb niemand Golf spielen dürfen? Zu-
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mindest solange kann es kein Gebot der Fairness sein, nicht Golf zu spielen, wie die nicht Golf Spielenden an diesem Spiel gar nicht interessiert sind und für die Belastungen aus dem Golf spielen derer, die Golf spielen wollen (z.B. die Unzugänglichkeit der dafür notwendigen Flächen) angemessen entschädigt werden.
4.4 Prinzipienpluralismus Es wird gelegentlich bestritten, dass es eine Ethik geben könne, die nicht ein einziges, sondern mehrere verschiedene oberste Prinzipien postuliert. Eine Ethik könne nicht anders als monistisch gedacht werden, da jeder, der sich der moralischen Sprache bedient, einen Geltungs- und Wahrheitsanspruch erhebt, der ihn auf ein einziges grundlegendes Prinzip festlegt. Wem es um das moralisch Richtige, das Gerechte und Gute geht, könne nicht anders als voraussetzen, dass es eine und nur eine moralische Wahrheit gibt. Solange wir auf moralische Fragen eine Antwort suchen (statt diese einfach festzusetzen), müssen wir - zumindest als regulative Idee - die Existenz und Auffindbarkeit einer richtigen Antwort voraussetzen. Diese Antwort könne aber nur eine monistische sein. Dieser Einwand ist leicht als Fehlschluss zu durchschauen. Die eine richtige Antwort, die eine normsetzende Ethik zu geben beansprucht, braucht keineswegs monistisch zu sein. Zwar kann es aus der Sicht einer bestimmten normsetzenden Ethik stets nur eine Wahrheit geben. Aber das heißt nicht, dass es ein und nur ein Prinzip gibt, aus der sich die wahren Antworten herleiten lassen. Auch hier ist die Analogie zur Grammatik hilfreich. Selbst dann, wenn es auf jede grammatikalische Streitfrage eine richtige Antwort gäbe, folgte daraus nicht, dass es eine oberste grammatische Regel gibt, aus der sich alle anderen Regeln ableiten lassen. Aus der Existenz und Auffindbarkeit der richtigen Antworten folgt nicht einmal, dass es auch
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nur eine Regel gibt, aus der Antworten auf moralische Streitfragen abgeleitet werden können. Eine Situationsethik, nach der jede Entscheidung für sich genommen auf ihre moralische Berechtigung geprüft werden muss (und kann), ohne dazu auf irgendeine allgemeine Regel zurückzugreifen, ist nicht von vornherein unsinnig oder widersprüchlich. Obwohl nicht schlüssig, trifft das grundsätzliche Bedenken gegen den Prinzipienpluralismus dennoch einen wichtigen Punkt: Je weiter ein Prinzipienpluralismus getrieben wird, desto eher nimmt er die Züge einer resignativen Position an. Wenn es die Aufgabe der Ethik ist, die Vielfalt der moralischen Standards, anhand deren wir Handlungen und Handlungsmotive bewerten, zu ordnen, zu systematisieren und darin ein zugrunde liegendes Grundmuster und -prinzip erkennbar werden zu lassen, dann muss dieses Ziel um so eher als verfehlt gelten, je größer die Zahl und die Heterogenität der moralischen Prinzipien, die eine pluralistische Ethik als nicht weiter zurückführbare Axiome postuliert. Je mehr diese Axiome darüber hinaus den in der Alltagsmoral üblicherweise anerkannten moralischen Prinzipien nahekommen, desto weniger unterscheidet sich eine pluralistische deontologische Ethik von einer rekonstruktiven Ethik, die es bei einer „Inventarisierung" der herrschenden Normen belässt. Eine solche Ethik verfügt nicht nur über ein relativ niedriges Abstraktionsniveau und deshalb über wenig Erklärungs- und Systematisierungskraft, sie verzichtet auch weitgehend auf ein genuin kritisches Potential. Es ist insofern kein Zufall, dass sich die bekannteste Ausprägung einer pluralistischen deontologischen Theorie, David Ross' Theorie der „Prima-facie-Pflichten" (s. u.), auf das Modell der moralkonservativen aristotelischen Ethik beruft. Aus der Vielzahl der von einer pluralistischen deontologischen Ethik angenommenen Prinzipien folgt, dass Wert- und Normkonflikte bei dieser Ethik nicht nur auf der Ebene der Moral, sondern auch auf der Ebene der ethischen Theorie eine vorrangige Rolle spielen. Ein Wertkonflikt liegt vor, wenn die
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Verwirklichung eines bestimmten Wert Wj mit der Verwirklichung eines anderen Werts w2 unvereinbar ist, der eine also nur auf Kosten des anderen realisierbar ist. Ein häufiger gesellschaftlicher Wertkonflikt ist der zwischen Freiheit und Gleichheit: Ausweitungen der Freiheit führen leicht zu Ungleichheiten, Gleichheit lässt sich vielfach nur auf Kosten der Freiheit aufrechterhalten. Von einem Normkonflikt spricht man, wenn die Ausführung einer gebotenen Handlung hj unvereinbar ist mit der Ausführung einer anderen gebotenen Handlung h2, wie etwa in dem in Kants Beispiel bestehenden Konflikt zwischen (vollkommener) Pflicht zur Wahrhaftigkeit und (unvollkommener) Pflicht zum Schutz vor ungerechter Verfolgung. Monistische Theorien wie die kantische Ethik und der klassische Utilitarismus sehen in der Regel wenig Anlass, sich mit Wertund Normkonflikten näher zu befassen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass mit dem obersten Wert- oder Normprinzip ein Maßstab gegeben ist, nach dem sich für alle Konfliktsituationen entscheiden lässt, welche der konfligierenden Werte und Pflichten Priorität genießt. In der pluralistischen Ethik dagegen finden sich die in der Praxis der Moral aufzulösenden Konflikte zu einem großen Teil auch in der ethischen Theorie wieder, hier allerdings nicht als Konflikte zwischen Handlungsoptionen, sondern als Konflikte zwischen den verschiedenen von der Theorie postulierten Prinzipien. Da eine pluralistische Ethik über kein grundlegendes übergreifendes Prinzip verfügt, aus dem sich eine Rangordnung für die einzelnen Prinzipien ergibt, muss sie diese Rangordnung eigens etablieren und dafür ein gewisses Maß an zusätzlicher Komplexität und Unübersichtlichkeit in Kauf nehmen. Sie muss die möglicherweise kollidierenden Pflicht- und Wertprinzipien so miteinander ins Verhältnis zu setzen, dass für möglichst viele realistische Situationen klar ist, welches Prinzip den Vorzug verdient. Eine Ethik, an der sich die Eigentümlichkeiten der pluralistischen deontologischen Ethik gut studieren lassen, ist die Ethik der „Prima-facie-Pflichten" von David Ross (1930). Bei
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den von dieser Ethik postulierten „Prima-facie-Pflichten" handelt es sich um Beurteilungsprinzipien, deren konkrete Konstellation in einer Entscheidungssituation darüber entscheidet, wozu ein Akteur verpflichtet ist. Erst aus der Gesamtheit der relevanten Prima-facie-Pflichten ergibt sich, was zu tun und zu lassen ist. Dieses Modell entspricht aus der moralischen Praxis bekannten Denkweisen: Der Schuldner empfindet eine Verpflichtung, seinem Gläubiger das geborgte Geld zum vereinbarten Zeitpunkt zurückzuzahlen, braucht es jedoch gleichzeitig, um einem in Not geratenen Freund auszuhelfen. Der Akteur sieht sich mit einem Konflikt zwischen zwei Prima-faciePflichten konfrontiert, die er nicht beide gleichzeitig befolgen kann. Da er beide Prinzipien akzeptiert, hat er sowohl einen Grund, das Geld zurückzuerstatten, als auch einen Grund, dem Freund zu Hilfe zu kommen. Dabei ist zwischen zwei Fällen zu unterscheiden: Erstens dem Fall, dass von den beiden Prima-facie-Pflichten die eine von höherer Verbindlichkeit ist als die andere und deshalb die andere dominiert. In diesem Fall ist der Akteur verpflichtet, die der stärkeren Prima-faciePflicht entsprechende Handlung auszuführen. Zweitens dem Fall, dass beide Prima-facie-Pflichten denselben Grad an Verbindlichkeit besitzen und keine die andere dominiert. In diesem Fall lässt sich keine der Alternativen als geboten auszeichnen und der Akteur ist frei zu entscheiden, welche von beiden Prima-facie-Pflichten er befolgt. Geboten ist in diesem Fall lediglich, eine von beiden Prima-facie-Pflichten zu befolgen. Es ist das Verdienst von Theorien wie der von David Ross, dass sie das aus der kantischen Tradition stammende Bild der Moral als eines Systems von unmittelbar das Handeln anleitenden Pflichten durch ein differenzierteres und der Praxis sehr viel besser entsprechendes Bild ersetzen. Nach diesem Bild ist die Moral nicht primär ein System von Pflichten, sondern ein System von Gründen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Diese Gründe verhalten sich supervenient
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zu bestimmten Faktoren der jeweils in Frage kommenden Handlungen, der Situation und des Akteurs (Ross nennt diese Faktoren right-making characteristics), bestimmen aber je für sich noch nicht, ob und wozu der Akteur konkret verpflichtet ist. Ob der Akteur überhaupt zu einer bestimmten Verhaltensweise verpflichtet ist, hängt davon ab, ob diese Gründe hinreichend stark sind, um den mit der Redeweise von Pflichten verbundenen moralischen Druck zu rechtfertigen. Es könnte ja etwa eine - in der Ethik gewöhnlich zu wenig bedachte - Situation der Art vorliegen, dass zwar einige moralische Gründe dafür sprechen, von zwei Handlungsalternativen hj und h2 die erste zu wählen, dass diese aber nicht so stark sind, dass sie für den Akteur auf eine Verpflichtung zu hj hinauslaufen. Die Ausführung von h2 wäre in diesem Fall nicht moralisch ideal, aber möglicherweise doch tolerierbar. Auch wenn sie nicht ganz ohne Vorbehalte gutgeheißen werden kann, wäre sie doch nicht schlechthin pflichtwidrig oder verboten. Viele deontologische Ethikkonzeptionen, die eine Pluralität von letzten normativen Prinzipien - und, soweit ihre konsequenzialistischen Komponenten betroffen sind, eine Vielzahl von nicht-moralischen Werten - postulieren, lassen den Grad der Verbindlichkeit und das normative Gewicht der einzelnen Prinzipien unbestimmt, so dass auch das Ergebnis der Anwendung dieser Prinzipien auf konkrete Fälle unbestimmt bleibt. Mit Berufung auf Aristoteles verzichtet z. B. die Ethik von David Ross nahezu gänzlich auf die Angabe von Abwägungsregeln. Dass man ein Versprechen halten sollte, gilt zwar unbeschränkt und ist in jeder Situation, für die diese Regel einschlägig ist, ein moralisch relevanter Gesichtspunkt. Aber es wird nicht spezifiziert, gegenüber welchen anderweitigen Prima-facie-Pflichten diese Regel Vorrang genießen soll. Bis auf wenige Andeutungen - z. B. dass die Pflicht zur Unterlassung von Schädigungen der Pflicht zur Wohltätigkeit vorgeordnet ist oder dass das Rückzahlen von Schulden Vorrang hat vor der Verwendung desselben Geldes zu Wohltätigkeitszwecken -
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wird die Abwägung der situationsgebundenen moralischen Intuition überlassen. Der Preis für diese Offenheit ist, dass diese Ethik ihre Normierungsfunktion für die moralische Praxis weitgehend einbüßt. Indem sie die Entscheidung zwischen konfligierenden Handlungsgründen dem moralischen Augenmaß des jeweiligen Akteurs überlässt, kann sie keine bestimmten Problemlösungen vorschreiben oder empfehlen. Das heißt allerdings nicht, dass sie für solche Entscheidungen keinerlei Hilfe anbietet. Immerhin grenzt sie die Art der moralischen Überlegungen ein, die in die Abwägung einfließen. Nur deren Ergebnis lässt sie mehr oder weniger offen. Auf der anderen Seite hat auch eine Festlegung der Rangfolge zwischen den einzelnen Prinzipien ihren Preis. Sie führt leicht zu einer übermäßig starren Normierung der Entscheidung im Einzelfall und riskiert, die Komplexität der moralischen Intuitionen mit ihren vielfältigen Einschränkungen und Ausnahmebedingungen zu verfehlen. Allerdings gilt dieser Einwand nur solange, als die betreffende Ethik in der Tat den Ehrgeiz hat, der Komplexität der moralischen Intuitionen gerecht zu werden. Selbstverständlich braucht sie diesen Ehrgeiz nicht zu haben. Sie kann sich ebensogut dem methodischen Ideal der meisten monistischen deontologischen Ethiken anschließen und den Status eines ethischen Korrektivs für die faktischen moralischen Intuitionen beanspruchen.
4.4.1 Weisen der Rangabstufung von Prinzipien Zur Etablierung von Rangabstufungen zwischen Prinzipien stehen einer pluralistischen deontologischen Ethik im Prinzip mehrere Optionen zur Verfügung: 1. die lexikogmpbische Vorordnung eines oder mehrerer Prinzipien vor anderen;
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2. die Kennzeichnung des normativen Rangs der Prinzipien durch absolute oder relative Gewichte; 3. die zusätzliche Einbeziehung des Ausmaßes,, in dem ein Prinzip seinem Gehalt nach bei Kompromissbildungen gewahrt oder verletzt wird. Die erste Option ist die am leichtesten zu handhabende, aber auch die starrste und in den meisten Fällen die intuitiv am wenigsten überzeugende. Die dritte wird der Differenziertheit und Flexibilität der „Grammatik" der meisten Moralen am besten gerecht, allerdings um den Preis einer erheblichen Komplizierung der ethischen Theorie. Eine lexikographische Vorordnung eines Norm- oder Wertprinzips vor anderen Prinzipien bedeutet, dass diese Prinzipien oder Werte jederzeit Vorrang haben, gleichgültig, in welchem Umfang sich in derselben Situation andere Normen befolgen oder andere Werte verwirklichen lassen. Die Nichtbefolgung einer lexikographisch vorrangigen Norm bzw. die Nichtrealisierung eines lexikographisch vorrangigen Werts kann nicht durch die Befolgung anderer Prinzipien oder durch die Verwirklichung anderer Werte kompensiert werden. Eine lexikographische Rangordnung von Prinzipien läuft insofern auf ein Abwägungsverbot hinaus. Zwischen dem vorgeordneten Prinzip und den nachgeordneten Prinzipien besteht zwar ein Verhältnis der Vergleichbarkeit - es ist im Vergleich zu ihnen höherrangig -, aber kein Verhältnis der Kommensiflrabilität. Es gibt keine Skala von „Werteinheiten", die dem vor- und den nachgeordneten Prinzipien gemeinsam ist und die es möglich macht, die Nichterfüllung des vorgeordneten Prinzips gegen die Erfüllung nachgeordneter Prinzipien zu „verrechnen". Beispiele für eine lexikographische Vorordnung in pluralistischen Ethiken sind fast immer auch Beispiele für einen von seinen Konsequenzen her wenig überzeugenden Rigorismus. Das gilt zumindest für die bekanntesten Beispiele: die Mitleidsethik Schopenhauers (Schopenhauer 1988, Bd.4, 210ff.)
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und die in John Rawls' „Theorie der Gerechtigkeit" (Rawls 1975) entwickelte Theorie gesellschaftlicher Grundnormen. Beide Male handelt es sich um Zwei- bzw. Drei-PrinzipienEthiken mit einer mehr oder weniger starren Priorisierung eines Prinzips. So lässt Schopenhauer das Prinzip der Gerechtigkeit (neminem laede) in allen Anwendungen vor dem Prinzip der Menschenliebe (omnes quantum potes juva) rangieren, Rawls das Prinzip der gleichen Freiheit vor dem Prinzip der Chancengleichheit und dem sogenannten Unterschiedsprinzip (difference principle), nach dem Unterschiede in den Einkommen soweit gerechtfertigt sein sollen, wie sie der Besserstellung der relativ Schlechtestgestellten dienen. Beide Male sind die Konsequenzen der starren Vorordnung intuitiv wenig überzeugend. Schopenhauers Priorisierung des Prinzips der Gerechtigkeit hat die wenig akzeptable Konsequenz, dass eine wie immer geringfügige Schädigung von A auch dann unzulässig ist, wenn sie das einzige Mittel ist, B in einer Notsituation zu Hilfe zu kommen. Ähnlich sind nach Rawls' Prioritätsregel Freiheitsbeschränkungen selbst dann nicht erlaubt, wenn sie unabdingbar sind, um eine für alle angemessene Basisversorgung zu gewährleisten. Anders als Schopenhauer ist sich Rawls dieser Unzuträglichkeiten allerdings soweit bewusst gewesen, dass er sie durch Ausnahmebedingungen „aufgefangen" hat, die die Reichweite der Priorisierung einschränken. Auch die lexikographische Vorordnung der Verpflichtung zur Achtung der menschlichen Würde im deutschen Verfassungsrecht, die eine Abwägung dieser Verpflichtung gegen andere verfassungsmäßige und einfachgesetzliche Pflichten und Rechte ausschließt, hat - zumindest für viele Beurteiler - wenig überzeugende Konsequenzen, zumindest wenn „menschliche Würde" nicht nur dem geborenen Menschen, sondern dem menschlichem Leben in allen Entwicklungsstadien und auch schon im Stadium der befruchteten Eizelle zugesprochen wird. Damit würde etwa eine Forschung an menschlichen Embryonen auch dann als strikt verboten gelten müssen, wenn sie sich
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4. Deontologische Ethik
als zur Entwicklung wichtiger therapeutischer Optionen notwendig erweisen sollte. Zwar ist der Begriff der Menschenwürde offen genug, um seine Reichweite durch Interpretation zu beschränken. Da es sich bei dem Begriff der Menschenwürde jedoch u. a. um einen verfassungsrechtlichen Begriff handelt, liegt die Zuständigkeit für dessen Interpretation maßgeblich beim Bundesverfassungsgericht. Dies hat in den bisherigen einschlägigen Urteilen die Tendenz erkennen lassen, den Begriff in seiner weitest möglichen Bedeutung zu verstehen und ihn auf alle Stadien menschlichen Lebens auszudehnen. Lexikographisch vorgeordnete Prinzipien schließen eine Abwägung gegen andere Prinzipien aus und gelten insofern absolut. Das verhindert jedoch nicht, dass auch diese „absolut" geltenden Prinzipien inpraxi gelegentlich einer Abwägung unterworfen werden müssen. Eine Abwägung ist vor allem in drei Konstellationen unausweichlich: 1. Die Befolgung des lexikographisch vorgeordneten Prinzips gegenüber A ist unvereinbar mit der Befolgung des Prinzips gegenüber B. Wie häufig ein solcher Konflikt zu erwarten ist, hängt wesentlich von der Zahl der Situationen ab, auf die das lexikographisch vorgeordnete Prinzip zutrifft. Dilemmasituationen, in denen ein Akteur nur die Wahl zwischen einer Verletzung der Menschenwürde von A und der Verletzung der Menschenwürde von B hat, dürften selten sein. Anders ist das bei einer Ethik wie Albert Schweitzers „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in allen seinen Erscheinungsformen" (Schweitzer 1966), die die Verpflichtung zur Nicht-Tötung (bzw. sogar zur aktiven Lebenserhaltung) nicht nur lexikographisch vorordnet, sondern zugleich auf alle Formen biologischen Lebens, einschließlich des tierischen und pflanzlichen Lebens ausdehnt. Eine Rangabstufung zwischen den Lebenserhaltungspflichten bei Menschen, Tieren und Pflanzen wird von dieser Ethik ausdrücklich abgelehnt. Damit aber werden Situationen, in denen es zu Kollisionen zwischen der Pflicht zur Erhaltung des Lebens von A und der Pflicht zur Erhaltung des Lebens
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von B kommt, nahezu ubiquitär. Lediglich eine Ernährungsweise, die sich auf den Verzehr von Früchten oder Teilen von Pflanzen beschränkt und diese selbst nicht zerstört, erlaubt es, dem Dilemma einer ethisch unlösbaren Pflichtenkollision zu entgehen. 2. Die Befolgung des lexikographisch vorgeordneten Prinzips gegenüber A ist unvereinbar mit der Befolgung desselben Prinzips gegenüber A zu einem späteren Zeitpunkt. In diesem Fall besteht der Konflikt nicht zwischen Verletzungen des vorgeordneten Prinzips gegenüber verschiedenen Personen, sondern zwischen zeitlich versetzten Verletzungen des vorgeordneten Prinzips gegenüber derselben Person. Solche Konflikte sind etwa im Bereich der Geburtenkontrolle in Bezug auf die Achtung der Menschenwürde bzw. der Menschenrechte denkbar. Es ist denkbar, dass, um spätere Versorgungsengpässe aufgrund eines Ungleichgewichts von Bevölkerung und wirtschaftlicher Produktion zu verhindern, kein anderes Mittel als die Anwendung von Zwang zur Geburtenkontrolle (wie im Falle der chinesischen Ein-Kind-Politik) geeignet scheint. Beidemal würden jedoch Gehalte des Menschenwürdeprinzips (und der UN-Menschenrechtscharta) verletzt - einmal das Recht auf reproduktive Freiheit, ein andermal das Recht auf die Versorgung mit dem Existenzminimum. 3. Die Befolgung des lexikographisch vorgeordneten Prinzips gegenüber A ist unvereinbar mit der Befolgung desselben Prinzips gegenüber A zum selben Zeitpunkt. Ein solcher Konflikt besteht gelegentlich in Dilemmafällen in der Neugeborenenmedizin, bei denen die Erhaltung des Lebens eines schwergeschädigten Neugeborenen durch medizinische Eingriffe für das Neugeborene mit unerträglichen Belastungen verbunden ist, so dass es zu einer Kollision von Versorgungspflicht und Pflicht zur Verhinderung unerträglicher Leidenszustände kommt (vgl. Merkel 2001, 65 ff.). Dieses Dilemma lässt sich allerdings nur dann als Konflikt zwischen einer absolut vorgeordneten Pflicht mit sich selbst konstruieren, wenn man auch
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4. Deontologische Ethik
die erste Option des Dilemmas, die Pflicht zur Lebenserhaltung, als eine Verpflichtung auffasst, die aus der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde folgt oder in dieser enthalten ist. Eine solche Interpretation der Verpflichtung zum Lebenserhalt ist aber zumindest verfassungsrechtlich zweifelhaft, da das Recht auf Leben nach dem deutschem Grundgesetz gerade nicht unabwägbar ist, sondern einem Gesetzesvorbehalt unterliegt, also per Gesetz einschränkbar ist, solange dadurch nicht sein „Wesensgehalt" tangiert wird. Andernfalls ließen sich schon die Bestimmungen zur Notwehr oder zur gerechtfertigten Tötung im Verteidigungsfall schwer rechtfertigen. Die zweite und dritte Option, eine Pluralität von Prinzipien in ein intuitiv angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen, sind der ersten Option aufgrund ihrer größeren Flexibilität deutlich überlegen. Allerdings ist fraglich, ob eine starre Zuordnung von Gewichten, wie sie die zweite Option vorsieht und wie sie etwa in der herkömmlichen Klassifikation der Sünden in lässliche und Todsünden in der katholischen Moraltheologie vorliegt, der Vielfalt der möglichen Fallkonstellationen gerecht werden kann. Man kann sich kaum je sicher sein, dass eine starre Zuordnung von Gewichten in konkreten Fällen nicht zu ähnlich rigiden Beurteilungen zwingt wie lexikographische Vorordnungen. Natürlich lässt sich eine solche Vermutung nur schwer in abstracto plausibel machen. Die Problematik wird jedoch deutlich, wenn man sich etwa Sammlungen von Dilemmafällen aus dem Bereich der angewandten Ethik zuwendet (z.B. Pence 1990, Veatch 1977) und prüft, inwieweit es gelingt, auf der Basis einer pluralistisch-deontologischen Ethik mit starren Gewichts Zuordnungen zu befriedigenden Lösungen zu kommen. Demgegenüber hat die dritte Option des Umgangs mit Prinzipienkollisionen unübersehbare Vorteile. Sie berücksichtigt neben dem Gewicht der an einem Konflikt beteiligten Prinzipien zusätzlich das Ausmaß, in dem eines der Prinzipien, falls dem anderen Vorrang gewährt wird, beeinträchtigt wird, er-
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laubt also zumindest bei denjenigen Konflikten, bei denen eine solche Abstufung möglich ist, eine genauere „Feinabstimmung". Vor allem aber wird sie all solchen Konfliktsituationen besser gerecht, in denen Kompromisse möglich sind, d. h. Lösungen, bei denen beide kollidierenden Prinzipien, wenn nicht vollständig, so doch in einem gewissen Maße zum Zuge kommen. So wird man von demjenigen, der statt seine Schuld zurückzuzahlen, einen notleidenden Freund unterstützt, zumindest verlangen können, dass er den Gläubiger von seinen Gründen in Kenntnis setzt und um Verständnis für seine Entscheidung bittet, andererseits den Freund darüber aufklärt, dass er die Unterstützung nur vorübergehend gewähren kann und auf einer baldigen Rückerstattung besteht. Konfliktlösung im pluralistisch-deontologischen Modell: Drei Optionen und ihre Vor- und Nachteile 1. lexikographische Vorordnung eines oder mehrerer Prinzipien vor anderen: leicht zu handhaben, aber vielfach intuitiv unbefriedigende Ergebnisse 2. die Kennzeichnung des normativen Rangs der Prinzipien durch absolute oder relative Gewichte: komplexer, schwerer zu handhaben, Adäquatheit der Ergebnisse unsicher 3. die zusätzliche Einbeziehung des Ausmaßes, in dem ein Prinzip seinem Gehalt nach bei Kompromissbildungen gewahrt oder verletzt wird: komplex, schwer zu handhaben, befriedigende Ergebnisse.
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4. Deontologische Ethik
4.4.2 Die Lösung moralischer Konflikte aus monistischer und pluralistischer Sicht Es wird gelegentlich gesagt, dass es für den ethischen Monisten - den deontologischen wie den konsequenzialistischen moralische Konflikte letztlich gar nicht geben könne, da er zur Lösung von Dilemmata stets auf das oberste Prinzip zurückgreifen könne. Diese Zuschreibung ist in mehreren Hinsichten unfair. Erstens vernachlässigt sie die für den Monisten wie den Pluralisten geltende Unterscheidung zwischen der Ebene der ethischen Theorie und der Ebene der Sozialmoral. In der Sozialmoral steht auch aus Sicht des Monismus das oberste Prinzip nicht oder zumindest nicht durchgängig zur Verfügung, etwa weil es gute - durch das oberste Prinzip gedeckte - Gründe gibt, dieses oberste Prinzip zwar auf der Ebene der Ethik, nicht aber auf der Ebene der Sozialmoral gelten zu lassen. Zweitens haben wir bereits gesehen, dass auch auf dem Hintergrund eines einzigen obersten Prinzips nicht jeder denkbare Konflikt in der Weise „lösbar" ist, dass einer Alternative der Vorrang zuerkannt wird. Es lassen sich auch für eine monistische Ethik eine Vielzahl von Fällen vorstellen, in denen die Alternativen normativ gleichwertig sind, etwa weil beide Verhaltensalternativen (im Rahmen einer konsequenzialistischen Ethik) ein gleiches Maß an Wertverwirklichung erwarten lassen. Der Akteur ist dann allenfalls verpflichtet, eine von beiden Alternativen zu ergreifen. Dennoch besteht in der Sichtweise der jeweils nachgeordneten Alternative zwischen monistischer und pluralistischer Ethik ein wichtiger Unterschied. Für den Pluralisten verliert die nachgeordnete Alternative auch dann, wenn sie nicht „zum Zuge kommt", ihre normative Bedeutsamkeit nicht, während sie für den Monisten ihre Bedeutung vollständig einbüßt. Aus pluralistischer Sicht ist auch die nachgeordnete Alternative (etwa die Rückzahlung der Schuld bei vorrangiger Hilfs-
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pflicht) weiterhin durch ein eigenständiges Prinzip gedeckt, das auch dann, wenn es einem anderem Prinzip nachgeordnet wird, seine Geltung nicht verliert. Der von der „Prima-faciePflicht" ausgehende normative Anspruch besteht auch dann fort, wenn dieser einem höherrangigen normativen Anspruch aufgeopfert wird. Der Monist dagegen verfügt - zumindest auf der Theorieebene - über kein vergleichbar spezifisches Prinzip. Falls die Verpflichtung zur Hilfeleistung nach dem Kategorischen Imperativ oder dem utilitaristischen Prinzip der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung stärker wiegt als die Verpflichtung zur Rückzahlung der Schuld, ist die Hilfeleistung moralisch richtig und womöglich geboten, die Rückzahlung der Schuld unter Verzicht auf die Hilfeleistung moralisch zumindest bedenklich, womöglich sogar verboten - ohne dass der eigenständige normative Anspruch der nachgeordneten Alternative auf der Theorieebene noch irgendwie repräsentiert wäre. Damit entfernt sich die ethische Theorie ein gutes Stück von der Art und Weise, auf die der Akteur die Konfliktsituation und ihre Lösung konkret erlebt. Für den mit der Pflichtenkollision konfrontierten Akteur geht es zumeist nicht ohne intensives Bedauern und oft nicht ohne Schuldgefühle ab. Diese - in „tragischen" Entscheidungssituationen möglicherweise existenziell bedrohlichen und belastenden - Gefühle äußern sich dann etwa in der Bereitschaft, den durch die Nichtausführung der nachgeordneten Alternative Geschädigten oder Enttäuschten um Verständnis und Verzeihung zu bitten oder ihn für das Unterlassene nachträglich zu entschädigen. Von „Schuld" in solchen Situationen zu sprechen, wie es etwa Albert Schweitzer getan hat (der gleichzeitig mit seiner Ethik die Gelegenheiten für derartige Schuldgefühle ins Unermessliche ausdehnt), wäre allerdings von der Sache her verfehlt. Vorausgesetzt, der Konflikt ist für den Akteur unausweichlich, kann der Akteur dadurch, dass er das (nach seinen moralischen Begriffen) moralisch Richtige tut - nämlich die normativ stärker wiegende Pflicht zu befolgen - nicht im eigentlichen Sinne
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4. Deontologische Ethik
schuldig werden. Schuld setzt eine Verfehlung voraus, und von einer solchen kann bei einer Entscheidung, die dem moralisch Besseren den Vorzug gibt, weder aus monistischer noch aus pluralistischer Sicht die Rede sein. Wie im Recht gilt auch in der Ethik der Leitsatz ultra posse nemo tenetur: Niemand kann zu etwas verpflichtet sein, was er nicht ausführen kann, gleichgültig, ob dieses Nicht-Können durch die Umstände oder die Verfassung des Akteurs oder durch Zwänge eingeschränkt ist, die - wie im gegenwärtigen Kontext - ihrerseits durch moralische Prinzipien bedingt sind. Es fragt sich allerdings, ob die Unmöglichkeit, „tragische" Wahlentscheidungen auch auf der Theorieebene angemessen abzubilden, dem ethischen Monismus ernstlich als Defizit anzurechnen ist. Auch der Monist wird der nachgeordneten Alternative eine besondere Bedeutung zugestehen wollen, allerdings in weniger direkter Weise als der Pluralist. Für ihn ist die zurückgesetzte Alternative schlicht diejenige, die der Akteur zu wählen verpflichtet gewesen wäre, falls nicht - unglücklicherweise - gleichzeitig eine Pflicht zur Ausführung der normativ vorrangigen Pflicht bestanden hätte. Die im Erleben des Akteurs repräsentierte moralische Bedeutung der nachgeordneten Pflicht lässt sich innerhalb des ethischen Monismus zumindest als eine hypothetische oder kontrafaktische Pflicht rekonstruieren.
5. Konsequenzialistische Ethik 5.1 Was ist Konsequenzialismus? Neben der deontologischen Ethik ist der Konsequenzialismus die zweite Hauptrichtung einer normsetzenden Ethik, die sich - anders als die Verfahrensethik - auf die Festlegung inhaltlicher moralischer Normen einlässt. Oben hatten wir die konsequenzialistische Ethik definiert als die Gesamtheit ethischer Theorien, nach denen das Urteil über die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen ausschließlich von der Qualität der Handlungsfolgen abhängt. Aus dieser Charakterisierung ergeben sich bereits eine Reihe wichtiger Merkmale: l. Jede konsequenzialistische Ethik enthält eine axiologische (werttheoretische) und eine normative Teiltheorie. Eine konsequenzialistische Ethik bedarf einer Axiologie, die es erlaubt, Handlungsfolgen zu bewerten. Die axiologische Teiltheorie entscheidet darüber, welche Aspekte der Handlungsfolgen wertvoll oder wünschenswert sind und deshalb geeignet sind, in das Urteil über die moralische Qualität der Handlung, die die entsprechenden Folgen zeitigt, einzugehen. Demgegenüber entscheidet die normative Teiltheorie darüber, welche dieser Folgenwerte für die moralische Beurteilung von Handlungen relevant sind und welche moralischen Forderungen sich aus der Chance der Verwirklichung der von der Axiologie definierten Werte (bzw. dem Risiko der Verwirklichung der von der Axiologie definierten Übel) ergeben. Während die axiologische Teiltheorie ausschließlich Aussagen über die Wünschbarkeit von Handlungen, Ereignissen und Zuständen trifft, trifft die normative Teiltheorie Aussagen darüber, welche Handlungen aufgrund der Wünschbarkeit ihrer Folgen als moralisch richtig oder moralisch falsch, als geboten, erlaubt oder verboten zu beurteilen sind. Diese Zweistufigkeit der Urteilsbegründung ist keine Besonderheit der konsequenzialistischen Ethik. Sie gilt in
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5. Konsequenzialistische Ethik
gleicher Weise für alle deontologischen Ethiken außer den streng deontologischen, bei denen die Handlungsbeurteilung uneingeschränkt folgenunabhängig erfolgt. In der Regel beinhalten deshalb auch deontologische Ethiken eine axiologische Teiltheorie, die aufgrund der Theoriestruktur der deontologischen Ethik allerdings zumeist implizit bleibt und in der für die deontologische Ethik charakteristischen Berufung auf Standardhandlungsbeschreibungen wie „Hilfeleistung", „Wohltätigkeit", „Lebensrettung" usw. versteckt ist. 2. Moralische Verpflichtungs- und Erlaubnisurteile haben eine instrumenteile Funktion. Sie stehen im Dienst der Vermeidung von Übeln und der Beförderung des Guten. Nicht nur die Praxis des moralischen Urteils, sondern die Moral insgesamt steht unter Zwecken und ist nur durch diese Zwecke gerechtfertigt. Sie ist nicht an und für sich ein Gut, sondern lediglich aufgrund ihrer individuellen und gesellschaftlichen Funktionen. Diese Funktionen sind es, die die Einheit unter den heterogenen Inhalten der Moral stiften.22 3. Konsequenzialistische Ethiken erlauben in höherem Maße als deontologische Ethiken Anpassungen des moralischen Urteils an den sozialen und den wissenschaftlich-technischen Wandel. Konsequenzialistische Ethiken sind flexibler als deontologische Ethiken. Sie sind eher als deontologische Ethiken in der Lage, sich auf geänderte Lebensformen und neue Kenntnissen, Einsichten und technische Möglichkeiten einzustellen. Sie vermeiden eines der Grundprobleme der deontolo22 Diese einheitsstiftende Rolle der konsequenzialistischen Ethik beschreibt Henry Sidgwick in einem autobiographischen Bericht zur Entstehung seiner ethischen Theorie: „Das erste abgeschlossene ethische System, dessen Anhänger ich wurde, war der Utilitarismus Mills. Ich fand darin Befreiung von dem scheinbar äußerlichen und willkürlichen Druck moralischer Regeln, in deren Befolgung ich erzogen war, die sich mir jedoch in gewissem Maße zweifelhaft und verworren darstellten und mitunter, selbst wo sie klar waren, eher dogmatisch, Vernunft- und folgewidrig erschienen". (Sidgwick 1909, Bd. l, IV)
5.1 Was ist Konsequenzialismus?
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gischen Ethik, nämlich die Gefahr, dass sich Wohltat in Plage verkehrt und deontologisch begründete Normen auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie aufgrund gewandelter Umstände dysfunktional geworden sind. Konsequenzialistische Ethiken können insbesondere Umfang und Grenzen individueller moralischer Rechte in Abhängigkeit von den jeweiligen historischen und ökonomischen Bedingungen „dosieren" und das relative Gewicht unterschiedlicher Güter für jede Gesellschaft und für jedes Entwicklungsstadium neu bestimmen. Das Gewicht, das den moralischen Normen zur Sicherung der materiellen Versorgung, der politischen Rechte, der persönlichen Freiheiten, des soziales Vertrauens und der Rechtssicherheit zugesprochen wird, steht für sie nicht ein für allemal fest, sondern variiert nach den gesellschaftlichen Verhältnissen und insbesondere nach dem Ausmaß, in dem die durch diese Normen geschützten Güter konkret gefährdet sind. So haben mit den Möglichkeiten der Geburtenkontrolle viele traditionellen Normen der Sexualmoral ihre Funktion verloren. Die Verhinderung der Geburt schlecht versorgter vor- und unehelicher Kinder ist nicht mehr in demselben Maße wie in früheren Zeiten vordringlich. Ebenso haben mit der Einführung der modernen Hygiene viele ältere Reinheitsgeböte ihren funktionalen Sinn eingebüßt und überleben nur noch in bestimmten religiösen Moralen jenseits aller Funktionalität als - gerade durch ihre „Irrationalität" - kohäsionsstiftende Momente. Aus konsequenzialistischer Sicht steht eine Ethik, die derartige Normen deontologisch begründet, in der Gefahr, die Kontextvariablen aus dem Blick zu verlieren, die diesen Normen ihren Sinn geben. Sie riskiert, einem „Normenfetischismus" zu erliegen, der an einem bestimmten Normenkanon ungeachtet seiner sich im Zeitlauf ändernden Funktionalität festhält. Weitere Merkmale der konsequenzialistischen Ethiker werden sich aus den folgenden Abschnitten ergeben. In diesen wird versucht, auf vier Fragen Antwort zu geben:
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5. Konsequenzialistische Ethik
1. Was wird in konsequenzialistischen Ethiken unter den „Folgen" einer Handlung verstanden? 2. Welche Folgen werden für die Handlungsbeurteilung herangezogen? 3. Nach welchen Maßstäben werden die Folgen bewertet? 4. Wie gehen die Folgenbewertungen in die Handlungsbeurteilung ein?
5.1.1 Was wird in konsequenzialistischen Ethiken unter den „Folgen" einer Handlungen verstanden? Wie wir gesehen haben, schließen Handlungsbeschreibungen in gewissem Umfang Folgendimensionen ein. So schließt etwa die Handlungsbeschreibung „Betrügen" ein, dass der Betrogene nicht nur infolge einer Unwahrhaftigkeit eine falsche Überzeugung erworben, sondern darüber hinaus auch einen Vermögensnachteil erlitten hat. Diese Folgendimensionen werden auch von deontologisch begründeten Normen berücksichtigt. Was konsequenzialistische Begründungen moralischer Urteile von deontologischen unterscheidet, ist, dass sie darüber hinaus auch Folgen berücksichtigen, die nicht bereits in der Standardbeschreibung des jeweiligen Verhaltenskomplexes enthalten sind. In den meisten konsequenzialistischen Ethiken werden neben den Handlungsfolgen im engeren Sinne auch solche Quasi-Handlungsfolgen berücksichtigt, die sich von den Handlungen selbst nicht scharf abtrennen lassen und eher Aspekte der Handlung selbst als solche der Handlungsfolgen sind. Eine Einbeziehung von Handlungsaspekten, die nicht im strengen Sinne „Folgen" der Handlung sind, wird vielfach bereits deshalb für unerlässlich gehalten, weil die konsequenzialistische Ethik nicht nur instrumentelle Handlungen beurteilen will, die um bestimmter erwarteter Folgen willen ausgeführt werden, die sich von der Handlung abtrennen lassen, sondern auch
5.1 Was ist Konsequenzialismus?
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selbstzweckhafte Handlungen, die um ihrer selbst willen ausgeführt werden. Die moralisch relevanten Aspekte von Selbstzweckhandlungen sind jedoch vielfach Faktoren, die mit ihr eng verbunden sind und gleichzeitig mit ihr realisiert werden. Ein Beispiel sind Spielhandlungen. Wenn A an einem Spiel Spaß hat, wird man diesen Aspekt auch dann den Folgen des Spielens zurechnen wollen, wenn der Spaß am Spiel mit dem Vollzug der Spielhandlungen gleichzeitig und von diesem Vollzug nicht abtrennbar ist. Wenn N Spaß am Schachspiel hat, dann gewöhnlich nicht deswegen, weil er einige Zeit nach dem Spiel irgendwelche lustvollen Empfindungen verspürt, sondern weil er das Spielen selbst als lustvoll empfindet, bzw. weil er gern spielt, im Spiel ganz und gar aufgeht usw. Diese Lust am Spiel ist aus konsequenzialistischer Sicht für die Beurteilung der Spielhandlung auch dann relevant, wenn sie strenggenommen nicht als zeitlich nachgelagerte „Folge" der Spielhandlung aufgefasst werden kann. Aber auch negativ bewertete Aspekte der Handlung werden gemeinhin den „Handlungsfolgen" zugerechnet, etwa der physische und psychische Aufwand, den die Handlung vom Akteur fordert. MUSS der Akteur etwa ein erhebliches Maß an Willenskraft aufbringen, um eine Handlung auszuführen (oder zu unterlassen), so ist dieser Umstand in der Regel auch aus konsequenzialistischer Sicht bei der Beurteilung der Handlung zu berücksichtigen.
5.1.2
Welche Arten von Folgen sind für die Handlungsbeurteilung relevant?
Die konsequenzialistische Ethik darf nicht so verstanden werden, als mache sie die moralische Beurteilung einer Handlung von ihren faktischen Folgen abhängig. Würde sie das tun, überließe sie die moralische Qualität von Handlungen in weitem Maße schicksalhaften Faktoren, über die der Akteur keine Macht hat und die für ihn nur begrenzt vorauszusehen sind.
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5. Konsequenzialistische Ethik
Die allerunschuldigste Handlung beinhaltete das Risiko, aufgrund unvorhersehbarer fataler Auswirkungen mit einem moralischen Verdammungsurteil belegt zu werden. Eine derartige Moralisierung von Widerfahrnissen ist charakteristisch für mythische Sichtweisen (etwa in einigen altgriechischen Tragödien), spielt aber auch im deutschen Strafrecht noch eine gewisse Rolle, etwa dann, wenn das Strafgesetzbuch in §227 für die Körperverletzung mit Todesfolge einen weitergehenden Strafrahmen vorgibt als für die Körperverletzung nach § 223, oder wenn der Versuch eines Totschlags oder eines Mords auch dann weniger streng bestraft wird als der vollendete Totschlag oder Mord, wenn die Vereitelung der Vollendung der Tat auf zufällige und für den Täter unvorhersehbare Faktoren zurückgeht. Eine Moralisierung des Schicksals entspricht zwar vielfach der psychologischen Realität - wir haben gewöhnlich auch dann Schuldgefühle, wenn uns für ein objektiv unheilvolles Tun vernünftigerweise keine Schuld trifft, etwa weil wir die unheilvollen Folgen nicht erkennen konnten -, nicht aber der Rationalität. Deshalb gibt es keine moderne konsequenzialistische Ethik, die eine moralische Beurteilung von Handlungen nach ihren faktischen Handlungsfolgen vertritt. Die in der Handlungsbeurteilung berücksichtigten Folgen werden vielmehr stets aus einer dem Zeitpunkt ihres Eintretens vorgelagerten Perspektive gesehen. Dabei stehen im Prinzip vier Optionen zur Wahl. 1. Beurteilungsrelevant sind die vom Akteur beabsichtigten Handlungsfolgen. 2. Beurteilungsrelevant sind die vom Akteur vorausgesehenen Handlungsfolgen. 3. Beurteilungsrelevant sind die/«r den konkreten Akteur voraussehbaren Handlungsfolgen. 4. Beurteilungsrelevant sind die (nach einem objektiven Standard) voraussehbaren Handlungsfolgen.
5.1 Was ist Konsequenzialismus ?
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Die erste Option vertritt der von Kutschera (1999, 86) so genannte ethische Intentionalismus. Er beurteilt die moralische Qualität von Handlungen nach den Folgezuständen, deren Bewirkung mit ihnen beabsichtigt ist. Diese Position ist charakteristisch eher für deontologische als für konsequenzialistische Ethiken. Viele deontologische Ansätze, etwa die moraltheologische Tradition der Lehre von der Doppelwirkung unterscheiden scharf zwischen der moralischen Relevanz beabsichtigter und lediglich vorausgesehener Folgen. Der Ausdruck „Doppelwirkung" bezieht sich dabei auf den Fall, dass eine Handlung sowohl eine gute als auch eine schlechte Folge hat. Nach der Lehre von der Doppelwirkung ist eine Handlung mit einer guten und einer schlechten Folge nur dann moralisch erlaubt, wenn die gute, aber nicht die schlechte Folge beabsichtigt ist. Moralisch verboten ist sie immer dann, wenn (auch) die schlechte Folge beabsichtigt ist. Diese letzte Bedingung ist vor allem dann regelmäßig erfüllt, wenn die schlechte Folge als Mittel zur Erreichung der guten Folge eingesetzt wird. Denn durch den Einsatz als Mittel wird die schlechte Folge zwangsläufig beabsichtigt. Dagegen ist eine Handlung mit einer guten und einer schlechten Folge nach der Lehre von der Doppelwirkung solange moralisch erlaubt, als die schlechte Folge lediglich als nicht-beabsichtigte Nebenfolge aus der beabsichtigten guten Folge eintritt. Nach dieser Lehre „zählt" die schlechte Folge also moralisch nur soweit, als sie vom Akteur beabsichtigt wird. Solange der Akteur die schlechte Folge nur voraussieht, aber nicht beabsichtigt, d. h. nicht zum Gegenstand eines Wollens macht, bleibt sie ohne Einfluss auf die moralische Qualität der Handlung. Diese Lehre wird gelegentlich herangezogen, um die in fast allen Rechtssystemen vorhandene normative Differenzierung zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe zu begründen: Bei der aktiven Sterbehilfe wird der Tod des Patienten (der hierbei als schlechte Folge gilt) als Mittel einerseits zur Leidensminde-
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5. Konsequenzialistische Ethik
rung, andererseits zur Erfüllung des vom Patienten geäußerten Sterbewunsches eingesetzt (die hierbei als gute Folgen gelten). Bei der indirekten Sterbehilfe dagegen wird der Tod lediglich als die mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit eintretende Nebenfolge vorausgesehen, dieser aber nicht direkt beabsichtigt. Was die indirekte von der aktiven Sterbehilfe unterscheidet, ist also, dass bei der aktiven Sterbehilfe der Tod als Mittel beabsichtigt ist, während bei der indirekten Sterbehilfe der Tod als (mögliche, wahrscheinliche oder sichere) Folge nicht beabsichtigt, sondern lediglich in Kauf genommen wird. In bemerkenswert genauer Übereinstimmung mit der Lehre von der Doppelwirkung wird die aktive Sterbehilfe (die gezielte Tötung auf Verlangen als Mittel der Leidensminderung) weithin abgelehnt, die indirekte Sterbehilfe (die Inkaufnahme einer wahrscheinlichen oder sogar sicheren Lebensverkürzung als Nebenfolge einer Maßnahme der Leidensminderung) jedoch weithin gebilligt. Trotz der in diesem Fall recht genauen Übereinstimmung mit weithin geteilten Intuitionen ist die Lehre von der Doppelwirkung als solche hochgradig umstritten. Im allgemeinen macht es für die moralische Beurteilung einer Handlung oder Unterlassung keinen erheblichen Unterschied, ob eine schlechte Folge nur erwartet oder auch beabsichtigt wird. Dass eine bestimmte schlechte Wirkung sich als mit Sicherheit zu erwartende Nebenfolge aus einer Handlung ergibt, die primär auf etwas Gutes zielt, entlastet den Handelnden im allgemeinen nicht von der moralischen Verantwortung für die Inkaufnahme der schlechten Wirkung. Auch das Recht schließt eine derart radikale Abstufung zwischen beabsichtigten und lediglich vorausgesehenen Folgen aus. Außer in besonderen Fällen wie beim Betrug oder beim Mord misst das geltende Strafrecht der Absicht keine besondere Bedeutung zu. Solange eine Nebenfolge erwartet ist, gelten die Regeln für das unbedingt oder bedingt vorsätzliche Handeln, wobei „Vorsatz" im Strafrecht (anders als in der Alltagssprache) nicht die Absichtlich-
5.1 Was ist Konsequenzialismus?
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keit, sondern die Voraus gesehenheit der Handlungsfolgen bedeutet. Nach der zweiten Option bemisst sich die moralische Qualität von Handlungen nach den Folgen, die der Akteur voraussieht, gleichgültig, ob er diese Folgen beabsichtigt oder lediglich in Kauf nimmt. Auch diese Interpretation von „Handlungsfolgen" vermag kaum zu befriedigen. Offensichtlich führt sie zu einer ausgesprochen großzügigen Zulassung von Leichtsinn und Gedankenlosigkeit als Entlastungsgründen. Die Tatsache, dass ein Akteur die Folgen seines Handelns nur sehr unvollständig voraussieht, ist keineswegs immer geeignet, ihn von moralischem Tadel freizusprechen. Mangelnde Voraussicht ist vielmehr in vielen Fällen dazu angetan, die negative moralische Bewertung noch zu verschärfen, insbesondere dann, wenn der Akteur sich über die schädlichen Folgen seines Handelns leicht oder mit vertretbarem Aufwand hätte informieren können. Vermeidbares Unwissen schützt vor Strafe - bzw. vor moralischen Vorwürfen - nicht. Die dritte Option ist von Trapp (1988, 50) als die insgesamt befriedigendste vorgeschlagen worden. Sie fordert, die Handlungsbeurteilung statt von den vorausgesehen von den den voraussehbaren Folgen abhängig zu machen, wobei allerdings der Bezug auf die jeweils individuellen Möglichkeiten des Akteurs beibehalten ist. Die Richtigkeit und Falschheit einer Handlung wird nicht daran gemessen, was der Akteur faktisch voraussieht, sondern was er nach Maßgabe der individuellen und situativen Möglichkeiten voraussehen kann. D. h. berücksichtigt werden grundsätzlich nur Faktoren, die dem Akteur zum Zeitpunkt der Handlung zur Verfügung stehen. Ist seine Fähigkeit zur Voraussicht der sich aus seiner Handlung ergebenden Folgen, seine Fähigkeit, die richtigen Schlüsse aus dieser Voraussicht zu ziehen oder seine Fähigkeit, diesen Schlüssen entsprechend zu handeln, zeitweilig eingeschränkt - und ist ihm diese Einschränkung nicht ihrerseits vorzuwerfen -,
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muss eine Handlung, die unter anderen Bedingungen als moralisch richtig oder falsch, moralisch geboten oder verboten gelten würde, als moralisch neutral gelten. Dieser Vorschlag ist auf den ersten Blick bestechend, auf den zweiten aber mit einem gravierenden Einwand konfrontiert: Diese Option hebt die Differenz zwischen der Beurteilung der moralischen Qualität einer Handlung und der Beurteilung der Verantwortlichkeit für eine Handlung auf. Ob und in welchem Maße wir Verantwortlichkeit, Schuld und Verdienst zusprechen, hängt in der Tat entscheidend davon ab, welche Folgen ein Akteur in der konkreten Situation seines Handelns voraussehen konnte. Es ist aber wenig plausibel, auch die moralische Qualität der Handlung selbst von diesen individuellen und situativen Faktoren abhängen zu lassen. Auch derjenige, der in einem Anfall von Rachsucht einen anderen tötet und dabei in so weitgehendem Maße von unkontrollierbaren Impulsen getrieben ist, dass ihn keine Schuld trifft, tut etwas moralisches Falsches - zumindest solange er die Kriterien für die Beurteilbarkeit seines Handelns nach moralischen Kriterien im allgemeinen erfüllt, also nicht z. B. dauerhaft unmündig ist. Die vierte Formulierung scheint insofern insgesamt befriedigender. Sie wird den gegen den zweiten und den dritten Formulierungsvorschlag geltend gemachten Einwänden gerecht, indem sie die moralische Qualität von Handlungen nicht von den Folgen abhängig macht, die der Akteur selbst voraussieht oder voraussehen kann, sondern von den Folgen, die nach dem Stand des Wissens vorausgesehen werden können. Dass der Akteur A einen Knopf drückt, ohne zu wissen, dass er damit eine für viele Menschen fatale Explosion auslöst, ist nach diesem Vorschlag auch dann moralisch falsch, wenn A diese Folge nicht vorausgesehen hat oder auf dem Hintergrund seiner situativen persönlichen Fähigkeiten nicht voraussehen konnte, diese aber im Prinzip - unter Heranziehung des objektiv verfügbaren Wissens - hätte voraussehen können. Moralische Richtigkeitsurteile müssen sich nach diesem Vorschlag an das
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halten, was in der betreffenden Situation vorauszusehen möglich war, und zwar nach einem überindividuellen, gesellschaftlichen Standard der Voraussehbarkeit. Ob der Akteur A faktisch in der Lage war, sich diesen objektiv verfügbaren Wissensstand anzueignen oder zunutze zu machen, ist nach dieser Formulierung für die Beurteilung der Handlung gleichgültig. In-
Welche Folgen sind aus konsequenzialistischer Sicht für die moralische Handlungsbeurteilung relevant? Vier Alternativen: 1. Beurteilungsrelevant sind die vom Akteur beabsichtigten Handlungsfolgen. Unbefriedigend, da Nebenfolgen nicht berücksichtigt werden. 2. Beurteilungsrelevant sind die vom Akteur vorausgesehenen Handlungsfolgen. Unbefriedigend, da Folgen nicht berücksichtigt werden, die der Akteur voraussehen könnte, würde er sich besser informieren, besser nachdenken usw. 3. Beurteilungsrelevant sind die für den konkreten Akteur vorausseh hären Handlungsfolgen. Unbefriedigend, da eine psychisch bedingte Unvorhersehbarkeit der Folgen eine moralisch falsche Handlung zwar entschuldbar, aber nicht moralisch richtig macht. 4. Beurteilungsrelevant sind die (nach einem objektiven Standard) voraussehbaren Handlungsfolgen. Befriedigend, aber zwangsläufig wenig bestimmt.
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dividuelle und besondere situative Umstände spielen zwar für die Beurteilung der Verantwortlichkeit, nicht aber für die Beurteilung der moralischen Qualität der Handlung eine Rolle. Allerdings hat auch diese Formulierung einen Schwachpunkt, nämlich die Unbestimmtheit des Begriffs der objektiven Voraussehbarkeit. Was als gesellschaftlicher „Stand des Wissens" gelten kann, ist nicht mit letzter Genauigkeit festzulegen. Man wird es bei ungefähren Angaben bewenden lassen müssen und etwa nur soviel sagen können, dass die Voraussicht des Akteurs an dem gemessen werden muss, was „auf der Grundlage der verfügbaren Daten von einem gut informierten und vernünftig denkenden Akteur" (Shaw 1999, 30) erwartet werden kann. Dies ist allerdings nur einer der Punkte, an dem in die Abschätzung der Folgen Unbestimmtheiten und Unsicherheiten eingehen. Jede Abschätzung der Handlungsfolgen ist zwangsläufig mit weiteren Unsicherheiten behaftet: 1. Die Folgen sind vielfach nicht mit Sicherheit vorauszusehen, sondern nur als mehr oder weniger wahrscheinlich zu bestimmen. Bei den bei der Handlungsbeurteilung zu berücksichtigenden Folgen handelt es sich um eher um Chancen und Risiken als um mit Sicherheit zu prognostizierende Ereignisse. 2. Die Wahrscheinlichkeit des Folgeneintritts ist vielfach nicht sicher zu bestimmen. Es liegt eine Situation der Ungewissbeit vor. 3. Die Folgen sind selten vollständig zu überblicken. Wichtige Folgendimensionen werden möglicherweise übersehen. Für Vertreter einer im strengen Sinne deontologischen Ethik sind diese Unbestimmtheitsdimensionen der Folgenabschätzung ein wichtiges Motiv, bei der moralischen Beurteilung von Handlungen auf eine Berücksichtigung der Folgen ganz zu verzichten. Kant insbesondere lässt keinen Zweifel daran, dass er es als einen entscheidenden Mangel einer folgenorientierten
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Ethik betrachtet, dass diese ihre Handlungsanweisungen stets von riskanten Folgenkalkülen abhängig machen muss und nicht davor geschützt ist, ihre Zwecke radikal zu verfehlen. Das folgende - allerdings auf den egoistischen Hedonismus bezogene - Zitat ist charakteristisch speziell für Kants Abneigung gegen alles Risikobehaftete und Hypothetische in den zu befolgenden Verhaltensregeln: Will er Reichtum, wieviel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntniß und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde. Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darin unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u. s. w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten Principien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Rathschlägen... von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß die Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Handlungen objektiv als praktisch-notbwendig darstellen, können. (Kant 1902 ff., Bd. 4, 418)
Demgegenüber bietet eine streng deontologische Ethik nahezu absolute Sicherheit: Es genügt, die Forderungen dieser Ethik zu befolgen, um ihren Zweck zu erfüllen. Der Konsequenzialist kann es in diesem Punkt mit dem (strengen) Deontologen nicht aufnehmen. Allerdings wird der Konsequenzialist darauf hinweisen, dass mit der rationalen Entscheidungstheorie und den verschiedenen Theorien der Entscheidung unter Ungewissheit mittlerweile Theorieansätze zur Verfügung stehen, die
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den Umgang mit unsicheren Handlungsfolgen nicht nur in Bezug auf eine egoistisch-prudentielle, sondern auch in Hinsicht auf eine altruistisch-moralische Bewertung anleiten und die Riskantheit moralischer Entscheidungen zumindest abmildern können.
5.1.3 Nach welchen Maßstäben werden die relevanten Folgen bewertet? Eine wichtige Unterscheidung ist bereits in Abschnitt 4.1. erwähnt worden: die zwischen ideologischen und nicht-teleologischen Formen einer konsequenzialistischen Ethik. Teleologische Formen der konsequenzialistischen Ethik greifen auf eine ausschließlich nicht-moralische Bewertung der Handlungsfolgen zurück, nicht-teleologische u. a. auch auf moralische Bewertungen. Ein nicht-teleologischer Konsequenzialist könnte etwa postulieren, dass die Anstiftung zum Diebstahl auch dann moralisch negativ beurteilt werden müsste, wenn sie in keinem Fall dazu führen würde, dass tatsächlich ein Diebstahl ausgeführt wird. Auch wenn der Diebstahl nur versucht, aber nicht vollendet wird und insofern kein nicht-moralischer Schaden entsteht, könnte die Anstiftung dennoch insofern moralisch verurteilt werden, als bereits der Versuch ein moralisch falsches Handeln darstellt. Ein reiner nicht-teleologischer Konsequenzialismus ließe sich so definieren, dass er ausschließlich die moralische Richtigkeit und in keiner Weise die nicht-moralische Qualität der Handlungsfolgen berücksichtigt. Er könnte etwa so lauten:
Handle so, dass die moralisch richtigen Handlungen, die sich aus deinem Handeln ergeben, die moralisch falschen Handlungen, die sich aus deinem Handeln ergeben, nach Zahl und Schwere weitestmöglich überwiegen.
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Auch moralische Rechte können in den nicht-teleologischen Konsequenzialismus einbezogen werden. Handlungen könnten danach beurteilt werden, wie weit sie zur Respektierung bzw. zur Verletzung von moralischen Rechten führen. Die Respektierung und Verletzung moralischer Rechte werden dabei ähnlich wie Güter im ideologischen Konsequenzialismus gegeneinander aufgerechnet.23 Denkweisen, die die Respektierung und Verletzung von Rechten ähnlich wie nichtmoralische Güter den Folgen von Handlungen zurechnen, sind insbesondere im politischen Bereich nicht selten.24 Politische Grundsatzentscheidungen werden häufig u. a. danach bewertet, wie vielen und welchen moralischen Rechten sie (voraussichtlich) genügen und wie hoch das Risiko ist, dass es im Zuge ihrer Durchsetzung zu Verletzungen von moralischen Rechten - von Seiten des Staates, aber auch von Seiten Dritter - kommt. Es ist nicht schwer zu sehen, warum trotz dieser berechtigten Hinweise auf ihr faktisches Vorkommen nicht-teleologische konsequenzialistische Argumentationen in der Ethik lediglich eine untergeordnete Rolle spielen: Alle Formen eines nicht-teleologischen Konsequenzialismus setzen voraus, dass die Handlungen, deren moralische Qualität in das Folgenkalkül einbezogen wird, bereits aufgrund eines unabhängigen Standards bewertet worden sind. Dieser Standard kann jedoch nur ein deontologischer sein. Andernfalls würde das Prinzip, das Handlungen nach dem Ausmaß beurteilt, in dem sie diese Folgehandlungen fördern oder verhindern, zu einem teleologischen. Ein nicht-teleologischer Konsequenzialismus ist deshalb eine Art ethischer Zwitter - eine Mischtheorie mit starken deontologischen Anteilen. Er entspricht der Grundidee der konsequenzialistischen Ethik, Handlungsbeurteilungen nach 23 Nozick hat einen derartigen Rechte-Konsequenzialismus deshalb „Utilitarismus der Rechte" genannt (vgl. Nozick o. J., 39). 24 Darauf hat u. a. Sen hingewiesen, vgl. Sen 1988,197.
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Maßgabe der Qualität ihrer Folgen zu begründen, stets nur halb. Er bemisst zwar die moralische Qualität der primär zu beurteilenden Handlungen an ihren Folgen, nicht aber die moralische Qualität der Folgehandlungen, von der diese Urteile teilweise oder gänzlich abhängen. Im folgenden wird deshalb durchweg von der ideologischen Form der konsequenzialistischen Ethik ausgegangen.
5.1.4 Wie gehen die Folgenbewertungen in die Handlungsbeurteilung ein? Ähnlich wie bei den deontologischen Ethiken finden wir auch bei den konsequenzialistischen Ethiken eine große Vielfalt von Varianten, wobei hier die Spielräume sogar noch größer sind, da sich konsequenzialistische Ethiken sowohl in ihrer Axiologie als auch in den Konsequenzen unterscheiden können, die sie für die normative Theorie daraus ziehen. Zwei konsequenzialistische Ethiken, die von ein und derselben Axiologie ausgehen, können dennoch unterschiedliche Normen aufweisen. Die erste Hinsicht, in der sich zwei konsequenzialistische normsetzende Ethiken mit derselben Axiologie unterscheiden können, ist das Ausmaß, in dem sie die von der Axiologie definierten Güter und Übel als für die moralische Handlungsbeurteilung und für die Formulierung von Handlungsverpflichtungen relevant betrachten. Die eine Theorie kann aus einer Axiologie ausgesprochen strenge und anspruchsvolle, die andere aus derselben Axiologie ausgesprochen lässliche und zurückhaltende normative Forderungen ableiten. Die Mehrzahl der konsequenzialistischen Ethiken geht von einer universalistischen Axiologie aus, nach der es für den Wert eines Guts und für den Unwert eines Übels keinen Unterschied macht, wo und wann es sich in der Welt ereignet und in welcher räumlichen oder zeitlichen Relation der Beurteiler zu dem jeweiligen Gut oder Übel steht. Gleichzeitig leiten die konsequenzialisti-
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sehen Ethiken jedoch ganz unterschiedlich anspruchsvolle Handlungsbeurteilungen und Handlungsverpflichtungen aus dieser Wertlehre ab, je nachdem, ob und inwieweit sie die Relevanz dieser Güter und Übel für das konkrete Handeln einschränken. Haben wir gegenüber den hilfsbedürftigen Angehörigen der „Dritten Welt" dieselben Verpflichtungen wie gegenüber den hilfsbedürftigen Angehörigen unserer eigenen Gesellschaft? Haben wir auch nur diesen gegenüber eine Verpflichtung, oder beschränken sich diese auf unser engeres familiäres und gesellschaftliches Umfeld? Sollte uns das zu erwartende Elend von Millionen von Menschen in der nächsten (noch sehr viel mehr Menschen umfassenden) Generation der „Dritten Welt" ebenso angelegen sein wie das Elend der gegenwärtigen Generation, oder dürfen wir zukünftige Güter und zukünftige Übel - was unsere Handlungsverpflichtungen betrifft - diskontieren, a. h. gegenüber gegenwärtigen Gütern und Übeln abwerten? Verschiedene konsequenzialistische Ethiken können sich in den Antworten auf diese Frage erheblich unterscheiden. Die zweite Hinsicht, in der normsetzende konsequenzialistische Ethiken variieren, betrifft das Ausmaß, in dem sie die Verwirklichung der für relevant gehaltenen Güter und die Nichtverwirklichung bzw. die Verhinderung der für relevant gehaltenen Übel zu Verpflichtungen erklären. Das Spektrum reicht von Maximierungs-Pr'mzip'ien auf der einen bis zu Satis/i'cwg-Prinzipien auf der anderen Seite. Beide lassen sich wiederum in entsprechende Prinzipien für die moralische Richtigkeit und Falschheit einerseits, für die moralische Verpflichtetheit andererseits differenzieren. Ein Maximierungsprinzip hinsichtlich der moralischen Richtigkeit besagt, dass nur die Ausführung derjenigen Handlung als moralisch richtig gelten soll, die - nach Maßgabe der jeweiligen Axiologie - das Maximum an Wert verwirklicht. Alle Handlungen, die weniger als dieses Maximum verwirklichen, sind danach moralisch falsch oder zumindest moralisch bedenklich. Das entsprechen-
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de Verpflichtungsprinzip besagt, dass wir verpflichtet sind, unter allen in der jeweiligen Situation ausführbaren Handlungen diejenige mit der maximalen Folgenqualität auszuführen. Alle Handlungsoptionen mit relativ schlechteren Folgen gelten dagegen als pflichtwidrig. Auch wenn Vertreter des Maximierungsprinzips naheliegenderweise darauf hinweisen, dass diese Position nicht impliziert, dass man jemandem, der das Optimum knapp verfehlt, daraus schon einen Vorwurf machen oder ihn dafür tadeln sollte (vgl. z.B. Shaw 1999,143), muss man doch fragen, ob dieser hohe Standard nicht zu hoch angesetzt ist Schließlich lassen sich leicht Konstellationen denken, in denen die zweitbeste Handlungsoption immer noch so gut ist, dass sie angesichts der tatsächlichen Handlungsbereitschaften als moralisch vorbildlich gelten kann. Nicht nur die nicht mehr überbietbare, auch die zweitbeste Option kann immer noch zu ideal sein, um sich für sie realistische Erfüllungschancen auszurechnen. Es wäre jedoch unplausibel, die zweitbeste Option in diesem Fall als „pflichtwidrig" oder auch nur als moralisch bedenklich zu qualifizieren. Satisficing-Prinzipien fordern demgegenüber für das moralisch Richtige bzw. das moralisch Pflichtgemäße lediglich das Erreichen eines bestimmten Niveaus der Folgenqualität, das im einzelnen unterschiedlich hoch angesetzt werden kann. Satisficing-Prinzipien zufolge sind alle Handlungen unterhalb einer bestimmten Schwelle moralisch falsch und pflichtwidrig, alle Handlungen oberhalb der Schwelle moralisch richtig und pflichtgemäß - unabhängig davon, ob sich zwischen diesen möglicherweise noch nach anderen Gesichtspunkten differenzieren lässt, etwa danach, ob sie darüber hinaus als moralisch vorbildlich gelten können. Satisficing-Prinzipien vermeiden das Paradox, dass die in einer Situation von ihren Folgen her zweitbeste Handlung bereits als moralisch falsch oder bedenklich bewertet werden muss. Nicht nur die beste, sondern alle Handlungen, die ein bestimmtes Niveau der Folgenqualität er-
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reichen, gelten als moralisch richtig. Wie plausibel sie im einzelnen sind, hängt entscheidend von der Höhe der Schwelle ab. Eine dritte Unterscheidung betrifft die Frage, wieweit sich der Akteur selbst um die Kenntnisnahme der Anlässe moralischen Handelns bemühen muss. Kann er darauf warten, dass ihn die Erfahrung zufällig mit einem Anlass zu moralischem Eingreifen konfrontiert, oder muss er aus eigenem Antrieb tätig werden, um diese Anlässe aufzusuchen oder herauszufinden? Jemand kann so behütet aufwachsen oder ein so weitgehend in vorgezeichneten Bahnen verlaufendes Leben führen, dass er nur selten mit Situationen konfrontiert wird, in denen moralisch ins Gewicht fallende Entscheidungen zu treffen sind. Wer mit keinerlei Versuchungen konfrontiert ist, hat ein geringeres Risiko, sich moralisch fehlzuverhalten, als wer sich den Gefährdungen realer persönlicher Beziehungen aussetzt. Verhält sich derjenige, der schlicht keinen Anlass zu moralischen Anstrengungen sieht, moralisch bedenklich? Vielleicht wäre er zu moralischem Handeln durchaus bereit, es fehlt jedoch an Gelegenheit. Auch wenn dieser Fall unrealistisch scheint, ist er doch geeignet, den Aspekt deutlich zu machen, um dem es bei dieser Unterscheidung geht: Man kann moralische Pflichten einerseits als „Holschuld", andererseits als „Bringschuld" auffassen. Eine Ethik, die moralische Pflichten als Holschuld auffasst, hat gegen das „reine Gemüt", das sich mangels Gelegenheit keine moralischen Verfehlungen, aber auch keine moralischen Verdienste zurechnen kann, nichts einzuwenden, während eine Ethik, die moralische Pflichten als Bringschuld auffasst, verlangt, dass man die Gelegenheiten zu moralischem Handeln aktiv aufsucht. Nach dem HolschuldPrinzip ist es eine Sache des Zufalls, ob der Akteur zu einem Handeln mit guten Folgen moralisch verpflichtet ist. Er ist nur soweit verpflichtet, als es der Zufall fügt, dass er auf eine Situation trifft, in der er Gutes bewirken kann. Nach dem Bringschuld-Prinzip darf der Akteur dies nicht dem Zufall überlassen, sondern muss selbst initiativ werden. Sein Gewissen kann
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erst beruhigt sein, wenn er trotz intensiver Nachforschungen keine Bedarfslage gefunden hat, die sein persönliches moralisches Eingreifen erfordert. Zusammenfassend kann man diese drei Unterscheidungsdimensionen an den möglichen Ausdeutungen eines der zentralen Prinzipien nahezu jeder konsequenzialistischen Ethik illustrieren, des Prinzips des Wohltuns bzw. - in der christlichen Tradition - der Nächstenliebe. Unter dem Gesichtspunkt der Relevanz kann man erstens die Reichweite der Pflicht zur Nächstenliebe unterschiedlich bemessen. Nach Lukas 10, 29 stellt schon der Schriftgelehrte an Jesus die Frage, wer denn der Nächste sei, dessen Wohl mir angelegen sein sollte - der mir persönlich Nahestehende, der Nachbar (die englische Fassung des Nächstenliebe-Prinzips heißt „love your neighbour"), die Angehörigen der verschiedenen Gruppierungen, denen ich mich zurechne, oder alle Menschen, möglicherweise einschließlich aller zukünftigen? Eine universalistische Axiologie würde hier die maximale Interpretation wählen und die relevante Bezugsmenge in der Menge aller Menschen sehen, deren Wohl und Wehe durch mein Handeln beeinflusst werden kann. Was Nietzsche provokativ „Fernsten-Liebe" genannt hat (Nietzsche 1966, Bd. 2, 324), wäre dann unter „Nächstenliebe" im umfassenden Sinne subsumiert. Eine partikularistische Axiologie dagegen würde den Kreis der zu berücksichtigenden Bedarfszustände auf die unmittelbar Nahestehenden begrenzen, also die Menschen, denen sich der Akteur mehr oder weniger affektiv verbunden fühlt. Unter dem Gesichtspunkt des Ausmaßes der Verpflichtung kann man zweitens die Interpretationen des NächstenliebeGebots danach abstufen, in welchem Umfang und in welchen Grenzen dem „Nächsten" Liebesdienste geleistet werden sollen. Interessanterweise enthält bereits die Formulierung des Prinzips im Neuen Testament (Matth. 22, 39, Luk. 10, 27) eine Begrenzung und zugleich eine Relativierung. Der Nächste soll
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nicht weniger, aber auch nicht mehr geliebt werden, als sich der Akteur selbst liebt. Er soll sich für den anderen nicht aufopfern müssen, aber er darf das Wohl des anderen gegenüber seinem eigenen Wohl auch nicht „diskontieren". Nicht gesagt wird allerdings, wer bei dem Vergleich zwischen Eigen- und Nächstenliebe als „Nächster" zählt - jeder einzelne Bedürftige oder die Gesamtheit aller Bedürftigen der jeweiligen Bezugsmenge? Im ersten Fall liefe das Nächstenliebe-Gebot angesichts des Elends in der Welt bereits bei der Wahl einer nicht ganz engen Bezugsmenge auf eine radikale Überforderung hinaus. Solange die Bezugsmenge mehr Menschen umfasst als die persönlich Nahestehenden, kann dies Gebot ernstlich nur so verstanden werden, dass das Gute, das man anderen insgesamt tut, dem Guten, das man sich selbst tut, gleichwertig ist. Drittens kann man die unter dem Nächstenliebeprinzip geforderten Verpflichtungen danach abstufen, ob man sie nur demjenigen schuldet, der uns zufällig begegnet, oder ob wir verpflichtet sind, die Gelegenheiten zur Hilfeleistung aktiv aufzusuchen. Im ersteren Fall wäre die Pflicht zur Nächstenliebe eine Holschuld, für die der Bedürftige selbst, im letzteren Fall eine Bringschuld, für die wir selbst initiativ werden müssten. Im ersteren Fall könnten wir uns der Verlegenheit, uns um andere kümmern zu müssen, durch Selbstisolierung und Informationsverweigerung entziehen, im letzteren nicht. Der biblische Samariter trifft aus reinem Zufall auf den von Räubern Zusammengeschlagenen am Wegesrand (Luk. 10, 33). In der Legende teilt der heilige Martin seinen Mantel mit dem zufällig angetroffenen Bettler. Wer die Pflicht zur Nächstenliebe als „Bringschuld" versteht, kann mit dieser Sicht von Nächstenliebe nicht ganz zufrieden sein. Er wird die nicht ganz unberechtigte Frage stellen, ob beide nicht auch ohne diese zufälligen Begegnungen von der Existenz von Bettlern und Verbrechensopfern hätten wissen können.
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5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien Die auf John Stuart Mill zurückgehende Unterscheidung zwischen Primärprinzipien und Sekundärprinzipien ist innerhalb der konsequenzialistischen Ethik ein zunehmend favorisierter Weg zu einer Auflösung der unvermeidbaren Spannung zwischen der in den meisten konsequenzialistischen Ethiken enthaltenen universalistischen Axiologie und den Tatsachen der Moralpsychologie. Denn diese Tatsachen lassen eine Orientierung an einer universalistischen Axiologie im Handeln als systematische Überforderung erscheinen. Pointiert kann man die Unterscheidung zwischen Primärprinzipien und Sekundärprinzipien so ausdrücken, dass Primärprinzipien theorie-, aber nicht praxistauglich sind, während es sich bei Sekundärprinzipien genau andersherum verhält. Primärprinzipien sind sinnvoll auf der Ebene der ethischen Theorie, Sekundärprinzipien auf der Ebene der moralischen Praxis. Dabei besteht zwischen Primär- und Sekundärprinzipien ein einseitiges Begründungsverhältnis: Die ethischen Primärprinzipien entscheiden darüber, welche Sekundärprinzipien auf der Ebene der Sozialmoral gelten sollen. Es gibt mehrere Gründe, warum die von vielen konsequenzialistischen Ethiken formulierten Primärprinzipien - das bekannteste Beispiel ist das utilitaristische Primärprinzip, das „größte Glück der größten Zahl" zu verwirklichen - nur begrenzt praxistauglich sind. Erstens neigen sie dazu, den durchschnittlichen Akteur kognitiv zu überfordern, etwa indem sie vom Akteur für jede Handlungsoption eine umfassende Folgenabschätzung verlangen. Dies gilt zumindest für Primärprinzipien nach dem Maximierungsmodell. Denn hier ist allein diejenige Handlung richtig oder pflichtgemäß, deren absehbare Gesamtfolgen axiologisch besser sind als die Gesamtfolgen jeder alternativen Handlung. Eine derartige umfassende Folgenabschätzung und -abwägung kann gemeinhin nur von Entscheidungen mit
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weitreichenden Folgewirkungen erwartet werden, etwa von den Entscheidungen staatlicher und überstaatlicher Gesetzgeber. Zweitens neigen sie dazu, den durchschnittlichen Akteur motivational zu überfordern. Diese Tendenz zur Überforderung ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass die Primärprinzipien in der Regel keine Abstufung der Relevanz des durch Handeln realisierbaren Werts nach psychologisch wichtigen Faktoren wie der sozialen oder zeitlichen Distanz der Wertrealisierung zulassen. Die meisten konsequenzialistischen Primärprinzipien erlauben keine normative Differenzierung zwischen den Pflichten gegenüber Näherstehenden und Fremden. In der Tat ist im Rahmen einer universalistischen Axiologie schwer einzusehen, warum das Wohl und Wehe (wie immer dies im einzelnen bestimmt ist) fremder Kinder weniger schwer wiegen soll als das Wohl und Wehe der eigenen Kinder. Psychologisch macht die soziale Distanz für die Bereitschaft zur Anerkennung und Befolgung moralischer Pflichten jedoch einen entscheidenden Unterschied.25 Analoges gilt für die Zeitdimension: Die Auswirkungen eines gegenwärtigen Handelns auf zukünftige Generationen erhält nach der universalistischen Axiologie dasselbe Gewicht wie die Auswirkungen auf die gegenwärtig Lebenden. Eine Diskontierung zukünftigen Wohls und Wehes in Abhängigkeit von seiner zeitlichen Distanz ist nicht nur mit den Grundprinzipien einer universalistischen Axiologie unvereinbar, sondern scheint auch wenig rational.26 Entsprechend erlauben konse25 Erheblich ist dieser Unterschied insbesondere für die positiven Pflichten, die ein aktives Eingreifen erfordern, weniger bei Unterlassenspflichten. Auch strafrechtlich wird den Pflichten zur Hilfeleistung bei Fremden sehr viel weniger Gewicht beigemessen als den entsprechenden Pflichten bei Nahestehenden. 26 Sidgwick hielt es sogar für ein Prinzip des moralischen Alltagsverstands: „Alles, was das Prinzip besagen will, ist, daß der Unterschied von früher und später allein noch kein vernünftiger Grund dafür ist, auf das Bewußt-
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quenzialistische Primärprinzipien in der Regel keine normative Abstufung zwischen den Pflichten gegenüber zeitlich Näheren und Ferneren. Überforderungseffekte können noch von einer weiteren Eigentümlichkeit konsequenzialistischer Primärnormen ausgehen: der Tatsache, dass sie zwischen der Verantwortung für die Folgen aktiven Tuns und der Verantwortung für die Folgen passiven Geschehenlassens keinen Unterschied machen. Während deontologische Ethiken frei sind, die Folgen von Unterlassungen geringer zu gewichten als die Folgen von Handlungen und damit die „negative Verantwortung" zu begrenzen, muss eine konsequenzialistische Ethik darauf bestehen, Handlungs- und Unterlassensfolgen gleichgewichtig zu berücksichtigen. Ein Akteur, der einem konsequenzialistischen Primärprinzip folgt, müsste demnach die Folgen seiner Unterlassungen (seines Nicht-Handelns) mit derselben Intensität bedenken und berücksichtigen wie die Folgen seines Handelns. Drittens ist problematisch, dass konsequenzialistische Primärprinzipien wenig geeignet sind, realen Akteuren Handlungs- und Orientierungssicherheit zu verschaffen. Praktikable Handlungsorientierungen müssen hinreichend konkret und darüber hinaus lehr- und lernbar sein, um in der moralischen Praxis mit einiger Sicherheit angewendet werden zu können. Konsequenzialistische Primärprinzipien sind dafür im allgemeinen zu abstrakt. Sie liefern von sich aus weder eine praktische Handlungsorientierung noch eine ausreichende Handlungsmotivation. Viertens sind konsequenzialistische Primärprinzipien wenig geeignet, realen Akteuren eine hinreichende Erwartungssicherheit zu verschaffen. Zu den wesentlichen Bedingungen des gedeihlichen Funktionierens einer Gesellschaft gehört, dass seins eines Augenblicks mehr Rücksicht zu nehmen als auf das eines ändern." (Sidgwick 1909, Bd. 2, 173)
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die Akteure die Verhaltensweisen anderer Akteure abschätzen und ihr eigenes Verhalten an relativ festen Verhaltenserwartungen orientieren können. Es ist jedoch fraglich, ob das Verhalten von Akteuren, die keinem anderen als einem konsequenzialistischen Primärprinzip folgen, dieser Bedingung gerecht werden kann. Auch wenn alle demselben abstrakten konsequenzialistischen Prinzip folgen, besteht die Gefahr, dass die jeweils individuellen Folgenkalküle zu so stark voneinander abweichenden Handlungen führen, dass die gesellschaftliche Erwartungssicherheit darunter leidet. Sekundärprinzipien müssen so formuliert sein, dass sie die genannten Unzulänglichkeiten der Primärprinzipien vermeiden. Wie sie im einzelnen formuliert sein müssen, um unter Bedingungen der moralischen Praxis die von der konsequenzialistischen Ethik postulierte Axiologie bestmöglich zu realisieren, ist für den Konsequenzialisten dabei letztlich eine empirische Frage. Welchen Inhalt die konkreten Normen haben müssen, die ein Akteur befolgen muss, um diesem Kriterium zu genügen, kann nicht a priori, sondern nur aufgrund der Erfahrung entschieden werden. Viel hängt allerdings davon ab, wie diese Optimalität der gesuchten Sekundärprinzipien genauer bestimmt wird. Dafür sind in der bis heute anhaltenden Debatte im wesentlichen vier Möglichkeiten diskutiert worden: 1. Optimal ist derjenige Kodex von Sekundärregeln, dessen lückenlose Befolgung durch die Gesellschaft die - nach der jeweils zugrunde gelegten Axiologie - besten Folgen zeitigt. 2. Optimal ist derjenige Kodex von Sekundärregeln, dessen wahrscheinliche Befolgung durch die Gesellschaft die - nach der jeweils zugrunde gelegten Axiologie - besten Folgen zeitigt. 3. Optimal ist derjenige Kodex von Sekundärregeln, dessen lückenlose Annahme durch die Gesellschaft die - nach der jeweils zugrunde gelegten Axiologie - besten Folgen zeitigt.
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4. Optimal ist derjenige Kodex von Sekundärregeln, dessen wahrscheinliche Annahme durch die Gesellschaft die - nach der jeweils zugrunde gelegten Axiologie - besten Folgen zeitigt. Unter der Prämisse, dass über die Optimalität von Sekundärprinzipien nur empirisch entschieden werden kann, scheiden die Optionen l und 3 offensichtlich aus. Beide führen auf einen „idealen Moralkodex", der unter idealen Umständen optimal wäre, nicht aber automatisch auch unter den faktischen bzw. für die Zukunft realistischerweise zu erwartenden Bedingungen. Gesucht ist keine „ideale" Norm, sondern eine unter nicht-idealen Praxisbedingungen relativ ideale Praxisnorm, die den gegebenen Begrenzungen der Prognostizier- und Bewertbarkeit direkter und indirekter Handlungsfolgen ebenso Rechnung trägt wie den Begrenzungen der moralischen Einsicht und der moralischen Motivation. Ein Beispiel für eine „ideale" Konstruktion von Sekundärprinzipien ist Richard Brandts Version des Regelutilitarismus (Brandt 1992). Danach ist der utilitaristisch richtige Moralkodex so bestimmt, dass er unter der Bedingung, dass er von allen konsequent befolgt wird, das Wohlfahrtsmaximum realisiert. Die Schwäche dieser Konstruktion besteht in ihrer unrealistischen Zugrundelegung einer hundertprozentigen Befolgung. Der Akteur wird auf die Befolgung von Sekundärprinzipien verpflichtet, von denen er weiß, dass sie nur unter idealen, nicht aber unter realen Bedingungen optimal sind. So wäre etwa nach einem idealen Moralkodex in Brandts Sinn möglicherweise ein Pazifismus geboten, da unter der Annahme, dass alle anderen Pazifisten sind (und ihrem Pazifismus in ihrem Verhalten konsequent folgen) ein Pazifismus im Sinne der Wohlfahrtsmaximierung durchaus optimal sein könnte. Pazifistische Sekundärprinzipien müssen jedoch in demselben Maße fragwürdig werden, in dem es unwahrscheinlich ist, dass diese Annahme der Realität entspricht und alle anderen auf
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eine gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen und eigener Werte unter allen Umständen verzichten. Welche von den zwei verbleibenden Formulierungen 2 und 4 ist vorzuziehen? Offenkundig die vierte. Denn nur sie stellt bei der Auswahl der Sekundärprinzipien neben den zu erwartenden Folgen ihrer Befolgung auch die Folgen ihrer Annahme und Geltung in Rechnung. Die Beschränkung der Folgenabschätzung auf die Folgen der Befolgung der Sekundärprinzipien würde zu kurz greifen. Die Befolgung einer Regel ist stets nur ein - wenn auch der wichtigste - Aspekt der Annahme dieser Regel. Die Annahme einer Regel kann Folgen haben, die über die Folgen der Befolgung der Regel weit hinausgehen. Auch wenn ein Sekundärprinzip sich dadurch empfiehlt, dass seine Befolgung überwiegend gute Folgen zeitigt, können doch die möglichen Folgen der Annahme desselben Prinzips Anlass zu Befürchtungen geben, die es als Sekundärprinzip ungeeignet erscheinen lassen, so etwa, wenn von der Annahme des Prinzips Missbrauchsgefahren oder - bei Erlaubnisnormen - Dammbruchgefahren ausgehen, also Gefahren einer Ausweitung einer Erlaubnis über das wünschenswerte Maß hinaus. Außerdem werden durch die Annahme bestimmter Sekundärprinzipien möglicherweise Denkweisen und Einstellungen befördert, die ihrerseits nach dem Primärprinzip unerwünschte Folgen zeitigen. Deshalb kann auch dann, wenn die Befolgung eines Sekundärprinzips nach den Primärprinzipien der konsequenzialistischen Ethik zu wünschen ist, die Geltung und Inkraftsetzung desselben Sekundärprinzips nach denselben Primärprinzipien unratsam erscheinen.
5.2.1 Anforderungen an Sekundärprinzipien Die Anforderungen, denen Sekundärprinzipien genügen müssen, ergeben sich aus der Liste der Defizite einer unmittelbaren Anwendung des Primärprinzips:
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Erstens dürfen Sekundärprinzipien den durchschnittlichen Akteur nicht kognitiv überfordern. Dies bedeutet z.B., dass sie vom Akteur nicht verlangen dürfen, künftige Weltzustände in seine Handlungsgründe einzubeziehen, die aus objektiven Gründe nicht vorhersehbar sind. Niemand kann für die Vermeidung von Übeln verantwortlich sein, die der objektiven Lage der Dinge nach in keiner Weise vorauszusehen oder mit einer wie immer kleinen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Zwar wird - etwa bei Neuland- und Risikotechnologien - den Akteuren gemeinhin eine Verantwortung zur Vorsorge auch gegen solche Risiken zugeschrieben, die nicht konkret benannt, geschweige denn mit exakten Eintrittswahrscheinlichkeiten belegt werden können. Aber hierbei ist die Verantwortungszuschreibung durch die Überlegung gerechtfertigt, dass aufgrund historischer Erfahrung - vor allem bei neuen Technologien mit kurzen Erprobungszeiten oder hohem Erprobungsrisiko - zumindest mit einem abstrakten, nicht näher kalkulierbaren „Restrisiko" gerechnet werden muss. Auch Brücken, die ex ante als hundertprozentig sicher gelten, stürzen gelegentlich aus geklärten oder ungeklärten Ursachen ein. Dieselbe Überlegung einer Begrenzung des kognitiven Aufwands bestimmt auch die Tendenz konsequenzialistischer Sekundärprinzipien, insbesondere diejenigen Akteure mit der Sorge und Verantwortung für eine andere Person B zu betrauen, die mit den Bedürfnissen dieser anderer Person am besten vertraut sind. Personen, die B besonders nahestehen, werden in der Regel besser wissen, was B braucht oder guttut, als vollkommen Fremde. Damit freilich nimmt das System der konsequenzialistischen Sekundärprinzipien ein gewisses Maß an Akteursrelativität an. Die Pflichten, die A gegenüber B zuwachsen, hängen u. a. von seiner Rollenbeziehung zu B ab. Trotz der zugrunde liegenden universalistischen Axiologie differenzieren sich die Pflichten und Rechte (und die entsprechenden Prinzipien moralischer Handlungsbeurteilung) auf der Ebene der Sekundärprinzipien nach Rollenbeziehungen aus - in dem-
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selben Maße, in dem eine solche Differenzierung der Verwirklichung der in der universalistischen Axiologie festgelegten Güter und Werte dient. Es ist im Sinne des Wohls aller Kinder besser, wenn sich Eltern primär um das Wohl ihrer eigenen Kinder kümmern als um das Wohl fremder Kinder. Auch wenn das Wohl aller Kinder - der eigenen wie der fremden - für den Konsequenzialisten gleich wichtig ist, wird er dennoch auf der Ebene der Sekundärprinzipien der besonderen Verbundenheit der Eltern mit den jeweils eigenen Kindern Zugeständnisse machen (vgl. Sen 1988, 221). Zweitens dürfen Sekundärprinzipien den durchschnittlichen Akteur nicht motivational uberfordern. Überforderung ist aus konsequenzialistischer Sicht ein Übel, da es die Aussichten auf die Befolgung moralischer Prinzipien mindert. Eine Norm, die durchschnittliche Akteure überfordert, kann mit einer so geringen Regelbefolgung rechnen, dass es unratsam wäre, diese Regel unter die verbindlichen Sekundärprinzipien aufzunehmen. Wie ein „zu hoher" Steuersatz dazu führen kann, dass das Ausmaß der Steuerhinterziehung überproportional zunimmt und das Steueraufkommen insgesamt sinkt, kann auch eine zu strenge Verhaltensregel seine Adressaten in die Verweigerung treiben. Im Sinne einer möglichst hohen Effizienz eines Systems von Sekundärprinzipien wird es sich für den Konsequenzialisten in der Regel empfehlen, die Sekundärprinzipien so zu formulieren, dass sie möglichst weit mit den affektiven Beziehungen, die moralunabhängig zu den durch das Sekundärprinzip Begünstigten bestehen, zusammenstimmen. Das Sekundärprinzip, dass sich Eltern primär um das Wohl ihrer eigenen statt um das Wohl fremder Kinder kümmern sollten, empfiehlt sich nicht nur deshalb, weil Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder in der Regel besser kennen als die Bedürfnisse fremder, sondern auch, weil bei ihnen starke nicht-moralische Motive erwartet werden können, die in dieselbe Richtung weisen und die durch moralische Gründe weitgehend nur noch bestärkt und abgesi-
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5. Konsequenzialistische Ethik
chert werden müssen. Diese Motive können dabei einerseits „natürlich" im Sinne von biologisch determinierten Sympathien sein. Sie können andererseits aber auch von erworbenen und kulturell vermittelten Motiven abhängen, nicht zuletzt auch durch Habitualisierungen, die anfänglich ganz oder teilweise durch genuin moralische Motive wie Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein in Gang gesetzt worden sind. Weitere Faktoren, die bei der Wahl von Sekundärprinzipien im Sinne der Vermeidung von motivationaler Überforderung zu berücksichtigen sind (und die mit dem ersten, aber auch untereinander konfligieren können und dann gegeneinander abgewogen werden müssen), sind die Leistungsfähigkeit der durch die jeweiligen Prinzipien verpflichteten Akteure und das Ausmaß, in dem der Akteur frei ist, bestimmte soziale Verpflichtungen zu übernehmen oder abzulehnen. Die Sekundärprinzipien werden in der Regel von den Wohlhabenderen, Gesünderen und Stabileren größere Leistungen und Opfer verlangen als von den in diesen Hinsichten Schlechtergestellten und Schwächeren, da damit zu rechnen ist, dass den relativ Bessergestellten das Opfer zugunsten der Schlechtergestellten leichter fällt und einen geringeren motivationalen Aufwand erfordert. Und sie werden diejenigen, die freiwillig bestimmte Pflichten übernommen haben, stärker verpflichten als diejenigen, denen die entsprechenden Pflichten von der Gesellschaft diktiert werden. Von Sekundärprinzipien auferlegte Verpflichtungen erscheinen um so eher zumutbar, je eher von dem Verpflichteten gesagt werden kann, dass er diese Verpflichtungen zu einem früheren Zeitpunkt aus freien Stücken übernommen hat. Demgegenüber schränken Pflichten, die dem Subjekt aufgrund schicksalhaft gegebener und unabänderlicher (bzw. nur unter prohibitiven Kosten aufzugebender) Positionen zugeschrieben werden, die Handlungsfreiheit in der Regel sehr viel weitergehend ein. Solange Freiheit ein von der Axiologie anerkanntes Gut ist, können sie immer nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Zuschreibung notwendig ist, um eindeutiges Übel zu
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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verhindern und „freiwillige" Alternativen nicht zur Verfügung stehen. So erscheint es konsequenzialistisch günstiger, die Verantwortung für die pflegebedürftigen eigenen Kinder den Eltern zu übertragen als die Verantwortung für die pflegebedürftigen Eltern den Kindern - nicht nur deswegen, weil bei den Eltern mit einer größeren Zuneigung zu ihren (kleinen) Kindern zu rechnen ist als bei den (erwachsenen) Kindern zu ihren Eltern, sondern auch deswegen, weil die Eltern mit der Zeugung von Kindern zumindest das Risiko späterhin undankbarer Kinder in Kauf genommen haben, während die Kinder ihrerseits zu keinem Zeitpunkt die Wahl hatten, Eltern zu haben oder nicht. Die Eltern haben dadurch, dass sie ihre Kinder gezeugt haben, freiwillig bestimmte Rollenpflichten auf sich genommen, während die Kinder niemals eine Chance haben, sich den Pflichten gegenüber den Eltern zu entziehen. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist, wie weit der verpflichtete Akteur selbst kausal zu dem Übel beigetragen hat, zu dessen Linderung oder Kompensation er durch die Sekundärprinzipien verpflichtet wird. Wer sich wissentlich oder fahrlässig so verhalten hat, dass er andere schädigt oder substanziellen Risiken aussetzt, wird in der Regel auch deshalb eher zur Behebung des angerichteten Schadens verpflichtet, weil von ihm angenommen werden kann, dass er dazu ohnehin in stärkerem Maße motiviert ist als Unbeteiligte. Ganz unabhängig von Gesichtspunkten der ausgleichenden Gerechtigkeit sprechen auch bereits Effizienzgesichtspunkte für ein „Verursacherprinzip" als Teil der geltenden Sekundärprinzipien, nach denen in erster Linie der Verursacher - soweit er den Schaden willentlich oder fahrlässig verursacht hat - zu den Kosten der Behebung oder Wiedergutmachung des Schadens heranzuziehen ist. Zur Vermeidung von Überforderung und zur Entlastung von moralischem Druck wird ein effizientes System von Sekundärprinzipien vor allem darauf achten müssen, einen großen Bereich von Handlungen anzuerkennen, die weder moralisch geboten noch moralisch verboten sind und deren Ausfüh-
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5. Konsequenzialistische Ethik
rung - zumindest soweit nur ein geringes Risiko der Schädigung anderer besteht - in das freie Ermessen des Akteurs gestellt ist. Es muss Raum lassen für Spontaneität und freie Selbstentfaltung und dazu die persönliche Lebenssphäre des Einzelnen von normativem Druck entlasten. Dem dient u. a. die strenge Begrenzung von selbstbezogenen moralischen Pflichten im Sinne von „Pflichten gegen sich selbst". Ein Kodex von Sekundärprinzipien, der umfangreiche Pflichten zur Erlangung und Sicherung des eigenen Glücks oder zur Ausbildung physischer, geistiger oder moralischer Vollkommenheit beinhaltet, gerät eher in die Gefahr, den durchschnittlichen Akteur zu überfordern als ein System von Sekundärprinzipien, das den Akteur im Bereich von Handlungen, die ausschließlich oder primär ihn selbst betreffen, von moralischen Pflichten freistellt und diesen Bereich ausschließlich frei wählbaren Idealen und Leitbildern überlässt. Da für den Konsequenzialisten die Moral kein Selbstzweck, sondern - zweckdienliches - Mittel zur Verwirklichung individueller und kollektiver Güter und Werte ist, wird er sich bei der Konstruktion von Sekundärprinzipien hüten, die Mittel zu Selbstzwecken zu überhöhen und das Wohl der Einzelnen der Moral zum Opfer zu bringen. Die Konsequenz, für sein eigenes Glück moralisch verantwortlich zu sein, gehört zu den Ungereimtheiten des sogenannten HandlungsutilitarismuS) demzufolge das utilitaristische Primärprinzip, die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt, unmittelbar als verpflichtendes Sekundärprinzip gilt. Da das eigene Glück des Akteurs einen Teil der gesellschaftlichen Wohlfahrt darstellt, wären wir danach verpflichtet, bei der Wahl zwischen zwei Handlungen, die sich ausschließlich auf das eigene Glück auswirken, die Handlung mit den besseren Glücksfolgen für uns selbst zu wählen. Im Extremfall ergibt sich das Paradox, dass wir bei der Wahl zwischen zwei Sorten Marmelade zum Frühstück moralisch verpflichtet sind, diejenige zu wählen, die uns geringfügig besser schmeckt (vgl. Birnbacher 1991 b).
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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Mögliche Strategien der Vermeidung von moralischer Überforderung durch Sekundärprinzipien im Rahmen einer konsequenzialistischen Ethik 1. Zuweisung besonderer Verantwortung an die Träger sozialer Rollen, Definition besonderer Zuständigkeiten. 2. Begrenzung der Reichweite der Verantwortung nach räumlicher, zeitlicher und sozialer Nähe und Ferne. 3. Begrenzung der Verantwortung für die Folgen von Unterlassungen. 4. Abstufung der Verantwortung nach der Leistungsfähigkeit, dem Grad der Freiheit in der Übernahme von Verpflichtungen und dem Ausmaß, in dem der Verpflichtete an der Verursachung eines zu bessernden Zustands beteiligt war. 5. Begrenzung von selbstbezogenen Pflichten.
Drittens sollen Sekundärprinzipien Handlungssicherheit verschaffen. Wenn Sekundärprinzipien ihre Aufgabe erfüllen sollen, auch unter Bedingungen unvollständiger Information, eingeschränkter Rationalität und unzureichender Motivation als verlässliche Orientierungen zu dienen, bedürfen diese nicht nur einer gewissen Habitualisierung ihrer Befolgung, sondern auch einer emotionalen Verankerung. Nur dadurch, dass der Handelnde das von den Sekundärprinzipien geforderte Verhalten nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv als richtig und angemessen empfindet und sich nicht - oder zumindest nicht
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5. Konsequenzialistische Ethik
ohne Mühe - durch rationale Überlegungen davon abbringen lässt, gewinnt er die Verhaltenssicherheit (und die anderen die Erwartungssicherheit), die eine Befolgung der Primärprinzipien selbst nicht gewähren kann. Diese Einsicht ist durch die konsequenzialistische Charakterisierung der Sekundärprinzipien als moralischer „Faustregeln" (Smart, J. J. C. 1992, 171) ein Stück weit verdeckt worden. Konsequenzialistische Gründe der Effizienz und Verlässlichkeit moralischer Orientierungen sprechen dafür, Sekundärprinzipien als mehr als bloße „Faustregeln" aufzufassen, die einen ersten Hinweis darauf geben, welche Handlung unter den gegebenen Umständen erfordert ist. Der Akteur sollte sich vielmehr in einem gewissen Maße an diese Prinzipien binden und sie in sein Selbstverständnis als moralisch handelnde Person integrieren. Mag dies auch dazu führen, dass er sich in Ausnahmesituationen allzu starr - gemessen an den Primärprinzipien - an ein internalisiertes Sekundärprinzip hält, kann dies gegenüber der Alternative eines Fehlens einer internalisierten Norm doch aufs Ganze gesehen dennoch vorzugswürdig sein. Die gelegentlich allzu starre Befolgung des Sekundärprinzips (ebenso wie die gelegentlichen Schuldgefühle bei seiner im Sinne der Primärprinzipien gerechtfertigten Übertretung) können der Preis dafür sein, überhaupt über eine einigermaßen verlässliche Verhaltensorientierung zu verfügen. Viertens sollen Sekundärprinzipien Erwartungssicberbeit ermöglichen. Ein Minimum an gesellschaftlicher Erwartungssicherheit erfordert, dass sich das Verhalten, von dem andere signifikant betroffen sind, an relativ stabilen Regeln orientiert statt an Einzelfallerwägungen mit wechselndem und unsicherem Ausgang. Allerdings muss man zugestehen, dass die in einer Gesellschaft herrschende Erwartungssicherheit weniger von der Tatsache abhängt, dass die einzelnen Akteure Sekundärprinzipien befolgen als davon, wieviel Übereinstimmung unter den befolgten Sekundärprinzipien besteht. Unter dem isolierten Ge-
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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sichtspunkt der Erwartungssicherheit ist eine größere Homogenität der in einer Gesellschaft akzeptierten und befolgten Sekundärprinzipien einer geringeren deshalb in jedem Fall vorzuziehen. Dies kann allerdings nicht der einzige Gesichtspunkt für die Wahl von Sekundärprinzipien sein. Eine größere Homogenität birgt aus konsequenzialistischer Sicht vielmehr sowohl Chancen als auch Risiken. Zu den Chancen gehört, dass ein gewisses Maß an Übereinstimmung in den sozialmoralischen Normen allererst die Bedingungen für eine problemlose und fruchtbare gesellschaftliche Kooperation schafft. Auch ein Diskurs über kontroverse moralische Fragen scheint erst möglich auf dem Hintergrund eines gesicherten Konsenses über grundlegende Verfahrensnormen. Viele konstitutive Elemente des moralischen Sprachspiels wie öffentliche moralische Kritik und die öffentliche Würdigung moralischer Verdienste wären undenkbar ohne diesen Hintergrund geteilter Normüberzeugung und Normbefolgung.27 Darüber hinaus wird die durch gemeinsame moralische Normen ermöglichte soziale Kohäsion von vielen Axiologien auch als solche als Wert anerkannt, vor allem, da mit der Einheitlichkeit der moralischen Orientierungen in der Regel auch die individuelle Handlungs- und Entscheidungssicherheit erheblich zunimmt. Kohäsion mindert Angst und ent27 Diese Aspekte sind im Rahmen der konsequenzialistischen Ethik vor allem von Johnson (1991) in den Vordergrund gestellt worden. Johnson lehnt insbesondere Richards Brandts Berufung auf einen hypothetischen idealen Kodex von Sekundärprinzipien mit dem Hinweis ab, dass dies ein beliebiges Abweichen von den sozial anerkannten Normen legitimieren und damit die moralische Orientierungs- und Erwartungssicherheit in Frage stellen würde. Auch wenn Johnson die Kritik an verbesserungsfähigen Normen nicht nur erlaubt, sondern fordert, weist er doch nachdrücklich auf die sozialen Kosten des Übergangs zu einem verbesserten Moralkodex hin. Diese können seiner Meinung nach so gravierend sein (z. B. durch Verunsicherung vieler anderer), dass es sich empfiehlt, sich auch dann an die historisch gewachsenen Normen zu halten, wenn sie konsequenzialistisch gesehen als suboptimal gelten müssen.
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5. Konsequenzialistische Ethik
lastet von dem Zwang, die eigenen Normen gegen Kritik zu verteidigen. Die eigene Identität ist dadurch, dass sie sich in Harmonie mit den gesellschaftlich anerkannten Normen weiß, besser gesichert, das Individuum hat weniger Anlass, die eigenen Normen in Frage zu stellen. Äußere Konflikte lassen sich durch die Berufung auf geteilte Wertorientierungen leichter beilegen, innere Konflikte im Sinne eindeutiger, sozial approbierter Antworten auflösen. Den Chancen einer Homogenität der Sekundärprinzipien stehen aus konsequenzialistischer Sicht auf der anderen Seite aber auch Risiken gegenüber. Eine Gesellschaft mit homogenen Sekundärprinzipien ist weniger flexibel, Anpassungen an gewandelte politische und Umweltbedingungen fallen schwerer. Sozialer Wandel wird gehemmt, innovative Kräfte in Kultur und Wirtschaft geschwächt. Auch werden Techniken und Verfahrensweisen der Konfliktbewältigung weniger ausgeprägt und weniger eingeübt sein, wodurch die Gefahr revolutionärer statt evolutionärer, gewaltsamer statt friedlicher gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zunimmt. Dem Mehr an Geborgenheit steht ein Weniger an Autonomie und Individuation gegenüber. Die größere Orientierungssicherheit für die Mehrheit ist erkauft durch die soziale und psychische Verdrängung alternativer sozialer und privater Lebensformen, nonkonformistische Minderheiten werden eher abgewertet und unterdrückt. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass moralische Normen, die allseits geteilt sind und als mehr oder weniger selbstverständlich gelten, eher auch als Rechtsnormen übernommen werden. Dadurch wird tendenziell die Differenz zwischen Moral und Recht verwischt und die Grenzen des Rechts weniger respektiert. Private Verhaltensspielräume werden nicht nur der moralischen, sondern auch der rechtlichen Kontrolle unterworfen und durch Sanktionen eingeengt, mit entsprechenden Einbußen an persönlicher Freiheit.
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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5.2.2 Einige Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien Neben den bereits aufgeführten Vorzügen hat die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien und die entsprechende Unterscheidung von Theorie- und Praxisebene im Rahmen einer Zwei-Ebenen-Theorie eine Reihe weiterer Konsequenzen, die auch unter Konsequenzialisten ambivalent eingeschätzt werden. Einige dieser Konsequenzen werden eindeutig begrüßt, einige als befremdlich abgelehnt. Eine eindeutig begrüßte Folge der Unterscheidung ist die dadurch eröffnete Möglichkeit, selbst noch innerhalb von konsequenzialistischen Ethiken mit Maximierungsgebot Raum für supererogatorische - lobenswerte, aber keiner Pflicht oder Forderung unterliegende - Handlungen zu lassen. Supererogatorische Handlungen können in diesem Rahmen als Handlungen bestimmt werden, die in einer Situation dem oder den Primärprinzipien folgen, in der das einschlägige Sekundärprinzip eine weniger weitgehende moralische Anstrengung fordert: Handlungen mit eminent guten (absehbaren) Folgen sind dann supererogatorisch gut, wenn sie exakt das ausführen, was vom Primärprinzip gefordert wird, aber auf dem Hintergrund der Notwendigkeit, moralische Überforderung zu vermeiden, in der Regel nicht in praxi eingefordert wird. Die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien kann insofern erklären, warum wir supererogatorisch-heroische Handlungen für lobenswert halten, aber dennoch nicht einfordern. Das konsequenzialistische Primärprinzip gebietet es, heroische moralische Anstrengungen zu loben, verbietet es jedoch, ihre Nichtausführung zu tadeln. Eine eher befremdliche Konsequenz aus der Unterscheidung ist die, dass die Inhalte der Sekundärprinzipien von den Inhalten des Primärprinzips erheblich abweichen können. Anders als in den meisten Formen einer pluralistischen deontologischen Ethik fallen in der konsequenzialistischen Ethik die
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5. Konsequenzialistische Ethik
obersten moralischen Prinzipien und die konkreten Verhaltensorientierungen nicht zusammen, sondern gehen getrennte Wege. Dies gilt insbesondere für Handlungszusammenhänge mit sowohl langfristigen als auch schwer zu überblickenden Folgewirkungen wie etwa in der Ökologie. So hat der amerikanische Pionier der ökologischen Ethik Aldo Leopold die von ihm postulierte land ethic als ein System von Sekundärprinzipien konzipiert, das inhaltlich gänzlich anders orientiert ist als das zugrunde liegende Primärprinzip. Die land ethic soll dienen als „a mode of guidance for meeting ecological situations so new and intricate, or involving such deferred reactions, that the path of social expediency is not discernible to the average individual" (Leopold 1949, 203). Während die zugrunde liegende Ethik anthropozentrisch orientiert ist, ist die land ethic selbst physiozentrisch-holistisch orientiert, d. h. sie verlangt, die ökologischen Individuen und Ganzheiten als mit einem eigenständigen Wert ausgestattet zu denken und zu behandeln. Während die ethischen Prinzipien (ethics) eine Begrenzung menschlicher Eingriffe in die natürlichen Systeme um des langfristigen Wohls des Menschen willen fordern, fordert das praktische Ethos (ethic) der land ethic eine Begrenzung dieser Eingriffe um der Natur selbst willen - sowohl aus Gründen kognitiver situativer Beschränkungen als auch aus motivationalen Erwägungen. Indem sie an die verbreitete werthafte Besetzung von Naturobjekten und Natursystemen anknüpft, möchte sie verlässlichere und verhaltenswirksame motivationale Ressourcen mobilisieren, als es einer rein anthropozentrischen ökologischen Moral möglich wäre. Da der Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärprinzipien innerhalb der konsequenzialistischen Ethik nicht rational, sondern empirisch begründet und den durchschnittlichen Akteuren in der Regel nicht bewusst ist, werden die Sekundärprinzipien leicht mit Normen verwechselt, die lediglich deontologisch begründet werden können. Dies gilt etwa für
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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Pflichtprinzipien, die ein gegenwärtiges Handeln mit Bezug auf die Vergangenheit fordern, etwa beim Erfüllen von Versprechen und Verträgen, bei Lob und Tadel, bei Belohnung und Bestrafung und anderen Akten ausgleichender Gerechtigkeit. Aus konsequenzialistischer Sicht werden zwar die Handlungen, die diese Prinzipien fordern, jeweils mit Bezug auf vergangene Handlungen begründet, nicht aber die dabei leitenden Prinzipien. Die Prinzipien werden lediglich mit den positiven zukünftigen Folgen begründet, die aus ihrer Annahme und Befolgung zu erwarten sind, etwa durch den damit erreichbaren Grad an sozialem Vertrauen und Verlässlichkeit oder durch das Ausmaß, in dem diese Prinzipien verbreiteten Gerechtigkeitsgefühlen entgegenkommen. Während die konkrete Pflicht, einen Vertrag zu halten, durch den Verweis auf den in der Vergangenheit abgeschlossenen Vertrag begründet wird, wird das allgemeine Pflichtprinzip, Verträge zu halten, ausschließlich durch dessen wohltätige Folgen für die Zukunft begründet.
5.2.3 Drei Interpretationen von Sekundärprinzipien: Handlungskonsequenzialismus, indirekter Konsequenzialismus und Regelkonsequenzialismus Damit bleibt offen, wie die Sekundärprinzipien im einzelnen genauer zu interpretieren sind, und in der Tat ist die genaue Interpretation dieser Prinzipien hochgradig umstritten. Die wichtigsten Parteien in dieser Debatte sind in der Tabelle auf Seite 212 aufgeführt. Aus Sicht des Handlungskonsequenzialisten spielen die Sekundärprinzipien die Rolle von „Faustregeln" zur Abkürzung umständlicher Abschätzungs- und Abwägungsprozeduren. Als Kriterium des moralisch Richtigen dient ausschließlich das Primärprinzip, die Sekundärprinzipien übernehmen lediglich eine instrumenteile Funktion. Es empfiehlt sich, sich die „Faustregel" zu eigen zu machen, im Zweifelsfall ein Verspre-
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Verbindlichkeit der Sekundärprinzipien Kriterium für moralische Richtigkeit
5. Konsequenzialistische Ethik
Handlungskonsequenzialismus
indirekter Konsequenzialismus
Regelkonseqttenzialismus
Faustregeln
im Regelfall verbindlich
absolut verbindlich
nein
ja
ja
eben zu halten statt nicht zu halten, weil diese Faustregel langwierige Kalkulationen des sozialen Schadens, der durch ein Nichthalten eines Versprechens entstehen könnte, erspart. In einem Fall, in dem das Halten eines Versprechens ausnahmsweise nicht im allgemeinen Interesse liegt und das Primärprinzip deshalb gebietet, das betreffende Versprechen nicht zu halten, darf die Faustregel des Versprechenhaltens problemlos aufgegeben werden. Eine Bedingung dafür ist allerdings, dass das durch das Nichthalten des Versprechens vermiedene Übel so schwer wiegt, dass es die Nachteile, die der Gesellschaft aus der Regelverletzung in Gestalt der Schwächung der Praxis des Versprechenhaltens erwachsen, klar überwiegt. Eine Schwächung der allgemeinen Befolgung der Sekundärprinzipien muss der Handlungskonsequenzialist vor allem dann befürchten, wenn andere seine Regelverletzung entdecken oder diese sogar - auf dem Hintergrund seines sozialen Status - Modellwirkung entfaltet. Aber auch für sich selbst muss der Handlungskonsequenzialist prüfen, ob es für ihn - angesichts der Forderungen des Primärprinzips - ratsam ist, die Faustregeln zu schwächen, die er sich zu eigen gemacht hat und die zumindest in der Regel auf die moralisch richtige Handlung führen. Gelegentliche Regelverletzungen könnten
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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möglicherweise einen „Flächenbrand" auslösen und die Habitualisierungen, die ihm zur „zweiten Natur" geworden sind, nach und nach erodieren lassen. Der indirekte Konsequenzialist konstruiert dieselbe Situation anders. Im Gegensatz zum Handlungskonsequenzialisten ist für ihn die moralische Richtigkeit des Haltens oder NichtHaltens eines Versprechens primär durch das einschlägige Sekundärprinzip und nicht durch das Primärprinzip bestimmt. Moralisch richtig ist das, was nach den aus dem Primärprinzip für die jeweilige Gesellschaft abgeleiteten Sekundärprinzipien zu tun ist. Lediglich in Fällen, in denen das von den Sekundärprinzipien Gebotene in krasser Weise von dem nach dem Primärprinzip Richtigen abweicht, darf ausnahmsweise auf das Primärprinzip zurückgegriffen werden. Dabei müssen aber ebenso wie beim Handlungskonsequenzialismus die sozialen Folgen einer möglichen Aufweichung der Autorität der Sekundärprinzipien mitbedacht werden. Der indirekte Konsequenzialist stattet die Sekundärnormen mit einer weitergehenden Autorität aus als der Handlungskonsequenzialist. Diese Autorität ist allerdings nicht unbegrenzt. Der indirekte Konsequenzialist schränkt die Autorität der Sekundärprinzipien vielmehr durch eine Generalklausel ein, die - analog zum rechtfertigenden Notstand im Straf recht - in Situationen eines schwerwiegenden Konflikts mit dem Primärprinzip Ausnahmen zulässt und in Einzelfällen von der Befolgung der Sekundärprinzipien entbindet. Ein weiterer Unterschied zum Handlungskonsequenzialismus besteht darin, dass der indirekte Konsequenzialismus sehr viel stärker auf eine autonome und begründungsunabhängige emotionale Verankerung der Sekundärprinzipien im Gewissen des Individuums Wert legt. Die Sekundärprinzipien sollen auch dann befolgt werden, wenn deren Begründbarkeit durch das Primärprinzip nicht unmittelbar einsichtig ist. Während das Prinzip, Versprechen zu halten, für den Handlungskonsequenzialisten lediglich als jederzeit revidierbare „Faustregel"
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5. Konsequenzialistische Ethik
gilt, gilt dasselbe Prinzip für den indirekten Konsequenzialisten als möglichst fest zu verankernde Norm. Eine Verletzung dieser Norm sollte auch dann schwerfallen (und von Gewissensbissen und Gefühlen des Bedauerns begleitet sein), wenn ihre Verletzung nach dem Primärprinzip erlaubt oder sogar geboten ist. Dem indirekten Konsequenzialismus nach ist auch der die Sekundärprinzipien durchsetzende oder zumindest an deren Durchsetzung beteiligte Moralist keinen strengeren (oder lässlicheren) Prinzipien als den Sekundärprinzipien unterworfen, die er für die Gesellschaft insgesamt verbindlich machten möchte. Er zählt sich selbst zu den fehlbaren moralischen Akteuren, auf die die Sekundärprinzipien zugeschnitten sind. Er stellt an sich selbst keine heroischeren moralischen Ansprüche, als er an andere stellt. Auf der anderen Seite gesteht er sich auch keine Ausnahmen zu, die er anderen mit Blick auf die Aufrechterhaltung eines hohen moralischen Niveaus verbietet. Dieselben Sekundärprinzipien gelten für alle und sind für alle in der gleichen Weise verbindlich. Der Regelkonsequenzialist geht noch einen Schritt weiter. Für ihn sind die Sekundärprinzipien ausnahmslos verbindlich - Ausnahmen, in denen das Primärprinzip statt des jeweils einschlägigen Sekundärprinzips gilt, sind nicht zugelassen. Handlungen werden niemals unter Berücksichtigung der Gesamtheit ihrer möglicherweise bedeutsamen Aspekte beurteilt, sondern lediglich als Fälle der Sekundärprinzipien. Es ist offenkundig, dass nach dieser Konzeption die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen entscheidend von der genauen Formulierung der Sekundärprinzipien abhängt. Da diese keinerlei Ausnahmen zulassen, müssen alle denkbaren Ausnahmen bereits im Kodex der - dann absolut geltenden - Sekundärprinzipien berücksichtigt sein. Generalklauseln analog zu Notstandslösungen sind dabei unzulässig. Sie würden die Konzeption verwässern und die Grenze zum indirekten Konsequenzialismus verwischen.
5.2 Primärprinzipien und Sekundärprinzipien
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Welcher dieser Interpretationen ist der Vorzug zu geben? Innerhalb eines konsequenzialistischen Denkrahmens ist diese Frage letztlich nur empirisch zu beantworten: Diejenige Interpretation der Sekundärprinzipien ist zu bevorzugen, die aufs ganze gesehen den größten (nach der Maximierungs-) bzw. einen hinreichend großen (nach der Satisficing-Regel) Wert im Sinne des oder der Primärprinzipien zu verwirklichen erlaubt. Solange lediglich abstrakt über Sekundärprinzipien im allgemeinen und nicht über einen konkreten vorgeschlagenen Kodex zu entscheiden ist, kann dieses Kriterium nur sehr ungenau sein. Die Antwort wird u. a. davon abhängen, wie weit ein zu beurteilendes System von Sekundärprinzipien fähig ist, auf neue und unvertraute moralische Situationen zu reagieren, und wie weit angemessene Ausnahmeregelungen für krasse Widersprüche zum Primärprinzip in die Sekundärprinzipien „eingebaut" sind. Dennoch spricht einiges dafür, dass der indirekte Konsequenzialismus die insgesamt vorzugswürdige Option darstellt. Sowohl der Handlungskonsequenzialismus als auch der Regelkonsequenzialismus sind mit gravierenden Problemen konfrontiert. Das Problematische am Handlungskonsequenzialismus ist, dass er keine stabile Verankerung moralischer Sekundärprinzipien im moralischen Bewusstsein des individuellen Akteurs erlaubt. Es fehlt ihm deshalb an einer Sicherung gegen Willkür in individuellen und sozialen Belastungssituationen. Die unter Normalbedingungen optimalen „Faustregeln" könnten in Krisen- und Ausnahmelagen allzu leicht in einer mit dem Primärprinzip nicht zu vereinbarenden Weise aufgegeben werden. Das Problematische am Regelkonsequenzialismus ist, dass er in das entgegengesetzte Extrem verfällt und in Situationen, in denen ein Zuwiderhandeln gegen die einschlägigen Sekundärprinzipien nach Maßgabe der Primärprinzipien indiziert wäre, starr am Sekundärprinzip festhält. Die Regel, „mögen die Regeln mit dem größten Akzeptanznutzen befolgt werden,
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5. Konsequenzialistische Ethik
mag dabei auch die Welt untergehen", ist aber, wie Peter Railton (1988, 118) bemerkt, um keinen Deut plausibler als die analoge Regel für die Gerechtigkeit. Man kann das Grundproblem des Regelkonsequenzialismus auch so formulieren: Der Regelkonsequenzialismus ist ein ethischer Zwitter. Die Sekundärprinzipien werden konsequenzialistisch, die Befolgung dieser Prinzipien jedoch streng deontologisch begründet, d. h. es wird von allen weiteren Folgen der Handlung über den Aspekt der Regelbefolgung hinaus abgesehen. Die einzelne Regelbefolgung selbst wird nicht konsequenzialistisch gerechtfertigt, sie kann sogar im Einzelfall zu krassen Abweichungen vom Primärprinzip führen. Definierend für die konsequenzialistische Ethik ist jedoch, dass sie die Richtigkeit und Falschheit von Handlungen ausschließlich aus dem Wert ihrer absehbaren Folgen herleitet. Nach konsequenzialistischer Auffassung kann die Befolgung eines Sekundärprinzips insofern nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Folgen der Befolgung besser sind als die der Nicht-Befolgung. Zu den Folgen sind dabei konsequenterweise auch die (nicht-intendierten) Nebenfolgen zu rechnen, z. B. die soziale Modellwirkung, die eventuelle Schwächung der Wirksamkeit sozial wichtiger Institutionen und Orientierungen und individueller wie kollektiver Habitualisierungen. Fordert der Regelkonsequenzialist die Befolgung des Sekundärprinzips auch in solchen Fällen, in denen eine Nicht-Befolgung auch bei umfassender Folgenberücksichtigung die insgesamt besseren Folgen hätte, steht er im Grunde nicht mehr auf dem Boden des Konsequenzialismus. Ein Problem, mit dem nicht nur die regelkonsequenzialistische, sondern auch die Interpretation der Sekundärprinzipien nach dem Modell des indirekten Konsequenzialismus konfrontiert ist, ist der sich aus beiden Konzeptionen ergebende Relativismus der moralischen Richtigkeit: Für unterschiedliche Gesellschaften könnten u. U. unterschiedliche Kodizes von Sekundärprinzipien optimal oder satisficing sein, vor allem dann,
5.3 Der Utilitarismus
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wenn diese Gesellschaften mit unterschiedlichen moralischen Problemen konfrontiert sind. So kann die eine Gesellschaft etwa in besonderer Weise mit moralischen Problemen im Zusammenhang mit Macht, die andere mit Problemen der Eigentumsordnung, die andere mit Problemen der Aggressivität konfrontiert sein. Zur Bewältigung dieser Probleme sind möglicherweise unterschiedliche Normensysteme adäquat. In einer Gesellschaft von Wölfen müssen andere Normen gelten als in einer Gesellschaft von Lämmern, sofern in beiden Gesellschaften ein gleich hohes Niveau an Wertverwirklichung erreicht werden soll. Das heißt aber, dass sich für die Sekundärprinzipien möglicherweise kein universeller, sondern stets nur ein lokaler Geltungsanspruch erheben lässt. Ein universaler Geltungsanspruch kann allein für das zugrunde liegende Primärprinzip erhoben werden.
5.3 Der Utilitarismus Der Utilitarismus (von lat. utilis = nützlich) ist die am weitesten ausgearbeitete und - u. a. auch deshalb - seit etwa hundert Jahren international meistdiskutierte, aber auch umstrittenste Variante einer konsequenzialistischen Ethik. Von seinen Anfängen an als reformerische Ethik verstanden, ist für viele seiner Vertreter auch heute noch eine gewisse kämpferische Note charakteristisch. Anders als in seinen Anfängen im 18. Jahrhundert stellt sich der Utilitarismus heute allerdings nicht mehr als monolithische normative Theorie dar. Seine Geschichte ist vielmehr ein Prozess zunehmender Ausdifferenzierung, Subtilisierung und Anreicherung mit zusätzlichen Elementen. Dieser Prozess erklärt sich u. a. aus der extremen Einfachheit der utilitaristischen Ethik in ihrer klassischen, von ihrem Begründer Jeremy Bentham vertretenen Form und der Tatsache, dass diese „Stromlinienförmigkeit" mit der Komplexität der „gewachsenen" Moral nur schwer in Einklang zu bringen
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5. Konsequenzialistische Ethik
ist. Die Axiologie des Utilitarismus kennt nur einen einzigen nicht-moralischen Wert, im Utilitarismus „Nutzen" (utility) genannt. Während „Nutzen" allerdings im allgemeinen Sprachgebrauch eine relative Größe darstellt, die Nützlichkeit einer Handlung sich also nach den jeweils zu Grunde liegenden Handlungszwecken richtet, bezeichnet der Terminus „Nutzen" im Utilitarismus eine absolute Größe.28 „Nutzen" ist das Ausmaß des von einer Handlung bewirkten Glücks oder Wohlbefindens. Subjekt des Nutzens ist im Utilitarismus dabei immer das Individuum. Bereits aus diesen Bestimmungen ergeben sich einige wichtige Konsequenzen: 1. Intrinsischen Wert haben im Utilitarismus nur subjektive Zustände. Werte objektiver Art wie Wahrheit, Freiheit und Leben haben lediglich extrinsischen Wert, d. h. ihr Wert ist abhängig von dem Wert der von ihnen bewirkten subjektiven Zustände. 2. Der Utilitarismus kennt keine strukturellen Werte, d. h. Werte, die sich statt auf die Summe auf das Verteilungsmuster der Wertrealisierung beziehen, etwa die Gleichheit der Nutzenverteilung oder die Proportionalität von Nutzen und Verdienst im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit. 3. Der Utilitarismus kennt nur individuelle Werte. Alle kollektiven Werte werden als Aggregate aus individuellen Werten gedacht. Es gibt für den Utilitarismus kein „Gemeinwohl" jenseits des Wohls der einzelnen die Gemeinschaft ausmachenden Individuen. Infolge des axiologischen Monismus entfallen im Utilitarismus alle Wertinkommensurabilitäten. Im Prinzip sind die Wertfol28 Bereits Bentham hat bemerkt, das« das Wort „Nützlichkeit" und der Begriff „Nützlichkeitsprinzip" dazu geeignet sind, falsche Assoziationen zu wecken. Er selbst hat deshalb den Ausdruck „Prinzip des größten Glücks" vorgezogen.
5.3 Der Utilitarismus
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gen aller in einer Situation möglichen Handlungen auf einer Skala miteinander vergleichbar. Darüber hinaus entfallen (zumindest auf der Ebene der Theorie) alle Wertkonflikte sowie die Notwendigkeit einer Güterabwägung. Es sind vielmehr nur jeweils homogene Nutzenmengen (positive und negative) miteinander zu „verrechnen". Dies schließt allerdings nicht aus, dass nicht auch der Utilitarist bestimmte Güter (wie den Schutz eines Kernbestands an Grundrechten) so hoch veranschlagen kann, dass sie in allen real möglichen Konfliktfällen Vorrang genießen. Die Einfachheit der militaristischen Ethik gilt allerdings nur in der Theorie und nicht in der konkreten Anwendung. In der konkreten Anwendung erfordert die utilitaristische Ethik die Bewältigung eines höheren Ausmaßes an Komplexität als viele konkurrierende Ethikkonzeptionen. Dazu trägt vor allem bei, dass zumindest in seiner klassischen Version der Utilitarismus nur diejenige Handlung als moralisch richtig gelten lässt, die unter allen möglichen Handlungen absehbar das größte Übergewicht der positiven über die negativen Folgen bewirkt (vorausgesetzt, diese verlangt vom Akteur keine heroischen Anstrengungen). Richtig ist die Handlung, für die die Differenz aus der Summe des durch sie absehbar bewirkten positiven und der Summe des durch sie absehbar bewirkten negativen Nutzens größer ist als für alle anderen in der Situation möglichen Handlungen. Das Programm einer Nutzenkalkulation, die den Nützlichkeitsgehalt auch nicht-wirtschaftlicher Güter „auf Heller und Pfennig" berechnet, ist in der Geschichte des Utilitarismus allerdings nur vereinzelt aufgegriffen worden. Benthams Idee eines „Glückskalküls" ist von ihm niemals konkret ausgearbeitet worden. Vielmehr hat er in späteren Jahren empfohlen, „Glück" durch Einkommen zu messen - ein Ausweg, der angesichts der damaligen Einkommensunterschiede und des sehr unterschiedlichen Grenznutzens des Geldes auf verschiedenen Einkommensstufen kaum befriedigen kann. Allerdings haben
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5. Konsequenzialistische Ethik
die Grenznutzenschule, insbesondere Edgeworth mit seinen „Mathematical Psychics" (1881) und die sogenannte Wohlfahrtsökonomie später an die Idee eines „Glückskalküls" angeknüpft (Pigou 1920, vgl. Bohnen 1964). Zur Komplexität einer Anwendung der utilitaristischen Ethik auf konkrete Entscheidungsfragen trägt neben dem Maximierungsprinzip nicht zuletzt auch der Universalismus der utilitaristischen Axiologie bei. Der Nutzen aller von einer Handlung Betroffenen ist gleichermaßen zu berücksichtigen, wobei die Folgenbewertung unparteilich sein und im Sinne von Benthams Leitsatz „Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen" (Mill 1976, 108, sinngemäß Bentham 1838ff., Bd. 3, 459) von allen besonderen Sympathien und Loyalitäten absehen soll. Das heißt, dass der Akteur weder sich selbst noch die ihm Nahestehenden gegenüber Fremden privilegieren darf. Räumliche, zeitliche und soziale Distanz der Betroffenen führen nicht (abgesehen von der erhöhten Unsicherheit der Folgenabschätzung) zu einer Minderung ihrer moralischen Beachtlichkeit. Die in den Wirtschaftswissenschaften verbreitete „Diskontierung" (Wertminderung) eines in der Zukunft anfallenden Nutzens und Schadens wird von utilitaristischen Ethikern überwiegend abgelehnt und allenfalls aus pragmatischen Gründen zugelassen (Lumer 2001). Außerdem ist das Kriterium für die Aufnahme in den Kreis der (direkt) Betroffenen nicht die Gattungszugehörigkeit, sondern die Empfindungsfähigkeit („Pathozentrismus"), was die empfindungsfähigen Tiere einschließt und empfindungsunfähige menschliche Wesen (wie frühe menschliche Embryonen) ausschließt (Singer, P. 1994, 203 ff.). Charakteristisch für den Utilitarismus ist eine ausgeprägte Zukunftsorientierung und das Denken in langfristigen Entwicklungstendenzen. Relativ strenge Gebote der Zukunftsvorsorge ergeben sich bereits aus dem Maximierungsprinzip und dem axiologischen Universalismus mit seiner Konsequenz der Ablehnung einer Minderschätzung zukünftigen Nutzens.
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Über das Prinzip der reinen Bestandserhaltung („Nachhaltigkeit") hinausgehend fordert der Utilitarismus eine Vorsorge der Gegenwart für zukünftige Generationen auch dann, wenn anzunehmen ist, dass zukünftige Generationen, etwa dank eines vorsorgeunabhängigen technischen Fortschritts, ohnehin bessergestellt sein werden. Dies gilt zumindest dann, wenn sich gegenwärtige Vorsorgeleistungen bzw. Nutzungsverzichte in späteren Nutzenzuwächsen auswirken, die die in der Gegenwart zu erbringenden Nutzenverzichte absehbar übertreffen. Gegenwärtig wird der Utilitarismus von den meisten seiner Anhängern im Anschluss an John Stuart Mill im Sinne einer Zwei-Ebenen-Theorie vertreten, die das Primärprinzip der unparteiischen Nutzenmaximierung allenfalls für politische - etwa gesetzgeberische - Entscheidungen, aber nicht für die Alltagsmoral gelten lässt (Mill 1969 a, 7, Goodin 1995). Eine Revitalisierung hat die Zwei-Ebenen-Konzeption insbesondere durch die Zwei-Ebenen-Konzeption Richard Hares (Hare 1992) erfahren. Sie hat den Regelutilitarismus, die utilitaristische Version des Regelkonsequenzialismus (Harrod 1936, Brandt 1992) weitgehend abgelöst.
5.3.1 Varianten des Utilitarismus: Nutzensummenutilitarismus versus Durchschnittsnutzenutilitarismus Bentham verstand das Nützlichkeitsprinzip so, dass die Richtigkeit einer Handlung davon abhängt, ob sie unter den gegebenen Umständen den größten Nutzenzuwachs bewirkt. Dass in der Formel „das größte Glück der größten Zahl" zusätzlich auf die Zahl der Betroffenen verwiesen wird, ist lediglich ein (missverständlicher) Hinweis darauf, dass der Nutzen aller einzelnen betroffenen Individuen aufsummiert werden soll. Er darf nicht so verstanden werden, als stelle die Zahl der Betroffenen ein separates und zusätzliches Kriterium dar (vgl. Re-
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scher 1966, 25 f.). Dennoch verstand es sich für Bentham wie für andere Utilitaristen seiner Zeit mehr oder weniger von selbst, dass das probateste Mittel zur Vermehrung des Glücks die Vermehrung der Zahl der Menschen sei (vgl. Halevy 1928, 218 f.) Bentham führt in seiner Liste von Zuwiderhandlungen gegen das Nützlichkeitsprinzip deshalb auch solche gegen die „Bevölkerung" auf, darunter Selbsttötung, Empfängnisverhütung und Zölibat (Bentham 1948, 288 Anm.). Für die Bevölkerungspolitik bedeutet das, dass nicht nur eine Pflicht besteht, die Kette der Generationen nicht abreißen zu lassen, sondern darüber hinaus auch die Pflicht, das Fortpflanzungsverhalten der Menschen so zu beeinflussen, dass möglichst viele Menschen geboren werden (zumindest soweit sich dies mit dem langfristigen Überleben der Menschen auf einem akzeptablen Niveau und der Aufrechterhaltung der Ressourcenbasis vereinbaren lässt). Auch wenn in einer dicht bevölkerten Welt die Individuen je für sich ein weniger gutes Leben haben als in einer weniger dicht bevölkerten, wird die verminderte Qualität doch durch die größere Quantität ausgeglichen. Angesichts einer übervölkerten Welt neigen viele moderne Utilitaristen verständlicherweise dazu, diese Konsequenz des klassischen Utilitarismus als eine inakzeptable „repugnant conclusion" (Parfit 1984, Kap. 17) zu verwerfen und die beliebige Kompensation von Qualität durch Quantität entsprechend einzuschränken. Ein verbreitetes, insbesondere von John Harsanyi (1982) vertretenes Gegenmodell ist der DurchscbnittsnutzenutilitansmuS) nach dem nicht die maximale Steigerung des Gesamtnutzens („Nutzensummenutilitarismus"), sondern die Steigerung des Nutzens pro Kopf das oberste Kriterium moralischer Richtigkeit darstellt. Solange die Bevölkerung als konstant angenommen wird, fallen Nutzensummenund Durchschnittsnutzenvariante zusammen. Wird die Bevölkerung als variabel angenommen, ergeben sich jedoch stark abweichende Resultate.
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Es ist umstritten, ob die normativen Konsequenzen der Durchschnittsvariante akzeptabler sind als die der Summenvariante. Auch aus dem Durchschnittsnutzenutilitarismus lässt sich eine Pflicht zur Förderung der Fortpflanzung ableiten, nämlich für den Fall, dass mit der Geburt eines Kindes zu rechnen ist, dessen voraussichtliches Lebensglück, korrigiert um seine positiven und negativen Effekte für andere, über dem bisherigen Durchschnitt liegt. Auf der anderen Seite muss es für die Durchschnittsvariante als falsch gelten, ein Kind zur Welt zu bringen, das ein weniger gutes Leben erhoffen lässt, als es den bereits Lebenden durchschnittlich vergönnt ist. Eine Epidemie, die diejenigen Menschen dahinrafft, die gegenwärtig ein weniger als durchschnittlich gutes Leben haben, wäre nach derselben Konzeption zu begrüßen (vgl. Shaw 1999, 32). Mit diesen wenig plausiblen Resultaten wird der Durchschnittsnutzenutilitarismus seinem Anspruch, die intuitiv vorzugswürdige Alternative zu sein, nur schwer gerecht. Ist der Nutzensummenutilitarismus, auch wenn er möglicherweise auf eine „Kalkutta-Lösung" (Page 1977, 158) hinausläuft, etwa doch vorzuziehen? Darüber hinaus sprechen mehrere allgemeine quantitätsethische Gründe gegen die Durchschnittsnutzenauffassung. Zum einen muss von jedem beliebigen Gut gelten, dass es ceterisparibus besser ist, wenn mehr von ihm existiert als weniger. Ein Mehr an Glück muss besser sein, gleichgültig, ob dieses Mehr durch eine Zunahme der Lebensfreude existierender Individuen oder durch die Existenz zusätzlicher ihr Leben genießender Individuen zustandekommt. Vorausgesetzt ist dabei lediglich, dass die utilitaristische Ethik - wie jede normative Ethik mit Allgemeingültigkeitsanspruch - ihre Bewertung von Weltzuständen nicht aus der Perspektive eines einzelnen Individuums, sondern aus einer überindividuellen Perspektive trifft. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass uns die Zahl der Betroffenen immer dann nicht gleichgültig ist, wenn negative Nutzengrößen betroffen sind. Ein Unfall mit 100 Schwer-
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verletzten ist „schlimmer" als ein Unfall mit 10 Schwerverletzten, eine Hungerkatastrophe schlimmer als ein einzelner Hungernder. Was uns in moralischer Hinsicht interessiert, ist nicht der Durchschnitt, sondern die Gesamtsumme des Leidens, nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität. Von hier aus ist jedoch schwer zu sehen, wieso uns bei positiven Nutzengrößen ausschließlich der Durchschnitt interessieren soll. Die Konsequenz daraus ist eine sehr enge Definition von Übervölkerung. Übervölkerung liegt nach der Nutzensummenauffassung erst dann vor, wenn die Geburt eines zusätzlichen Menschen dazu führt, dass entweder er selbst oder ein anderer kein lebenswertes Leben mehr hat, bzw. der durch seine Geburt verursachte Ressourcenverbrauch die Chancen mindert, langfristig ein hohes Bevölkerungsniveau auf positivem Nutzenniveau aufrechtzuerhalten. Einige wenige Utilitaristen entscheiden sich dafür, diese Seite des Dilemmas zu akzeptieren (z.B. Birnbacher 1988,101 ff.). Die Mehrzahl entscheidet sich für eine Vermeidungsstrategie, indem sie die Anwendung des Nützlichkeitsprinzips im Sinne einer presupposed-persons-view auf jeweils vorausgesetzte Populationen beschränkt (z.B. Glover 1977, Kap.4, Shaw 1999, 33) und sich mit Narveson (1967, 64 ff.) darauf beruft, dass es dem Utilitarismus darum gehe, Menschen glücklich zu machen, und nicht, glückliche Menschen zu machen. Der Preis für diesen Rückzug ist allerdings hoch: Fortpflanzungsverhalten und Bevölkerungspolitik werden trotz ihrer großen Bedeutung für das langfristige Wohl und Wehe der Menschheit in einem „moralfreien Raum" belassen.
5.3.2 Glücks- versus Präferenzutilitarismus Die subjektiven Befindlichkeiten, auf die sich die Axiologie des klassischen Utilitarismus bezieht, lassen sich nicht direkt messen, sondern nur aus äußeren Verhaltensindikatoren erschlie-
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ßen. Viele Kritiker sind deshalb der Meinung, dass die Schwierigkeiten einer nicht-willkürlichen Operationalisierung des Nutzenbegriffs den Rationalitätsgewinn des Utilitarismus in Frage stellen und schlagen vor, den klassischen „Glücks-Utilitarismus" durch einen „Präferenzutilitarismus" zu ersetzen. Präferenzen bedeuten in diesem Zusammenhang nicht notwendig Vorzugsrelationen, sondern beliebige Wünsche oder Interessen, gleichgültig ob sie erfüllbar oder utopisch, konkret oder allgemein, vernünftig oder unvernünftig sind. Präferenzen können sich dabei auf beliebige Gegenstände richten: auf Weltzustände, auf eigene Zustände, aber auch auf eigene Handlungen. Man spricht gewöhnlich von „externen" Präferenzen, wenn diese auf Zustände gerichtet sind, die man nicht selbst erleben oder auf Handlungen, die man nicht selbst ausführen kann, also z.B. auf die Welt in drei Generationen oder auf die Handlungen anderer. Mit dem Präferenzutilitarismus verschiebt sich die Wertbasis des Utilitarismus grundlegend. Während es für Bentham, Mill und Sidgwick auf die Maximierung von pleasure ankam, kommt es für den Präferenzutilitaristen auf die maximale Erfüllung von Wünschen und Interessen an. Das Ziel der Moral ist nicht mehr die Herstellung bestimmter subjektiver Zustände, sondern die Herstellung bestimmter Weltzustände. Da sich Wünsche und Interessen auf Weltzustände jenseits des individuellen Erfahrungshorizonts richten können, fällt die Interessenbefriedigung nicht mehr notwendig mit einem subjektiven Erleben des Wünschenden zusammen. Im Extremfall liegt die Wunscherfüllung sogar jenseits der Erlebnismöglichkeiten jedes beliebigen Subjekts, wie bei dem Wunsch nach Intaktheit der Biosphäre über das Ende der Menschheit hinaus. Anders als für den klassischen Utilitarismus hängt der Nutzen für den Präferenzutilitarismus nicht davon ab, wie der Akteur die Erfüllung seiner Wünsche erlebt, sondern allein davon, wie intensiv er einen bestimmten Weltzustand erstrebt. Der Nutzen der Erfüllung des Wunsches wird nicht von der Intensität des
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Erlebens der Wunscherfüllung, sondern von der Intensität des Wunsches abhängig gemacht. Eine weitere Differenz zum klassischen Utilitarismus ist die Kopplung der Nutzenstiftung an einen vorausgehenden Wunsch. Während es für den „Glücksutilitaristen" gleichgültig ist, ob ein subjektives Wohlbefinden aus der Befriedigung vorher bestehender Interessen oder aus dem Streben nach ihrer Befriedigung resultiert, ist es für den Präferenzutilitaristen entscheidend, dass das erlebte Glück nicht nur erlebt, sondern auch erstrebt wird. Es scheint fraglich, ob die moderne Variante eine akzeptablere Explikation des Nutzenbegriffs bietet als die Standardtheorie. Dass wir bekommen, was wir uns wünschen, ist nicht immer und notwendig nutzenstiftend. Möglicherweise kann uns gar nichts Schlimmeres passieren, als dass alle unsere Wünsche wahr werden. Darüber hinaus sind Präferenzen vielfach kognitiv und emotional verzerrt, irrational oder selbstschädigend, so dass ihre Erfüllung nicht hält, was man sich von ihr verspricht. Ob es uns gut geht, entscheidet sich daran, wie wir unseren Zustand bewerten, solange er dauert, und nicht daran, wie intensiv wir ihn vorher erstrebt haben. Fraglich erscheint auch, ob Wohlbefinden überhaupt an eine wie immer geartete gedankliche Vorwegnahme gebunden ist. Das „Wenigste..., das Leiseste, Leichteste", das nach Nietzsche „das beste Glück macht" (Nietzsche 1966, Bd. 2, 512) ist zumeist nicht vorbedacht, sondern fällt uns als Zufallsgeschenk zu. Andererseits ist die Tatsache, dass jemand keine Verbesserung seiner äußeren Lebensumstände oder seines Gesundheitszustands erstrebt, nicht immer ein Anzeichen dafür, dass es ihm gut geht. Es kann auch ein Zeichen von Resignation sein. Darauf zielte bereits Mills Unterscheidung zwischen Glück und Zufriedenheit (Mill 1976,17). Harsanyi und andere Vertreter des Präferenzutilitarismus haben auf diese Kritik mit weitgehenden Revisionen ihres Ansatzes geantwortet. In Harsanyis Version des Präferenzutilita-
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rismus treten an die Stelle der faktischen Präferenzen (der im Verhalten manifestierten revealed preferences bzw. der durch Befragen erfassten expressed preferences) die true preferences, die mithilfe eines Idealisierungsverfahrens aus den faktischen Präferenzen erschlossen werden. Die „wahren" Präferenzen einer Person sind bestimmt als die Präferenzen, die eine Person haben würde, falls sie 1. über alle einschlägigen empirischen Kenntnisse verfügte, 2. ihre Überlegungen mit der größtmöglichen Sorgfalt anstellte und 3. sich in einer für eine rationale Entscheidung günstigen seelischen Verfassung befände (Harsanyi 1982, 55). Dieser Wechsel von den manifesten zu den „wahren" Präferenzen wird zwar den oben genannten Einwänden gerecht, führt jedoch auch dazu, dass sich die Verifikationsprobleme, die der Präferenzutilitarismus vermeiden wollte, erneut einstellen. Die „wahren" Präferenzen eines Menschen herauszufinden, scheint nicht weniger schwierig als herauszufinden, was ihn glücklich macht. Es fragt sich, ob es nicht sinnvoller wäre, statt von dem Konstrukt der „wahren Präferenzen" gleich von dem auszugehen, was jemanden (voraussichtlich) tatsächlich glücklich macht. Die Überlegung, was jemand hypothetisch (unter idealen Bedingungen) wollen würde, könnte dann wichtige Anhaltspunkt dafür bieten, was jemanden tatsächlich glücklich machen würde, ohne dass dieses Kriterium als schlechthin ausschlaggebend und unüberbietbar betrachtet werden müsste. Es könnte vielmehr immer noch zu Diskrepanzen zwischen Präferenzen und Glücksmöglichkeiten kommen. Es könnte etwa für jemanden auch dann besser (im Sinne seines Glücks) sein, weniger zu arbeiten, wenn seine „wahre Präferenz" dahin geht, mehr zu arbeiten. Sollen wir in diesem Fall mit dem Präferenzutilitaristen sagen, dass es für ihn besser ist, mehr zu arbeiten, weil er es will - auch wenn es ihm dadurch insgesamt schlechter geht? Im übrigen stellt sich die Frage, ob die Verifikationsprobleme des klassischen Utilitarismus tatsächlich so schwerwiegend
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sind, wie sie gerade von Ökonomen oft dargestellt werden.29 Zwar sind Wohlbefindenszuschreibungen und -vergleiche kaum je mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu treffen, etwa im Sinne einer strengen Messbarkeit. Aber dasselbe scheint ganz ebenso für Zuschreibungen und Vergleiche von Präferenzstärken zu gelten. Sowohl im Alltag als auch bei politischen Entscheidungen werden interpersonelle Nutzenvergleiche mit weitaus größerer Sicherheit getroffen, als es der Skeptizismus vieler Ökonomen erwarten lässt, etwa in Bereichen wie Steuerpolitik, Recht und Medizin, in denen sich hinter Begriffen wie „Zumutbarkeit", „Billigkeit", „medizinische Notwendigkeit" oder „Indikation" unterschiedliche Arten interpersoneller Nutzenvergleiche verbergen. Neben die Glücks- und die Präferenzkonzeption ist in den letzten Jahren ein dritter Ansatz getreten, der zwischen Hedonismus und Präferenzialismus einen Mittelweg einschlägt und Elemente beider Modelle miteinander verbindet. Von Benthams hedonistischem Verständnis des Nutzens als lustvollem Zustand unterscheidet sich dieses - im wesentlichen von Haslett (1990) - entwickelte „reflexiv-präferenzielle" Nutzenkonzept durch die weitergehende Rolle, die es der Bewertungssouveränität des Nutzensubjekts zugesteht (s. Abschnitt 6.3.1). Ein Problem für die reflexiv-präferenzielle Konzeption bleibt allerdings die Nutzenbewertung der inneren Zustände von Wesen, die zeitweilig oder dauerhaft nicht über die Möglichkeit der reflexiven Selbstbewertung verfügen, wie empfindungsfähige Tiere, Kleinkinder und schwer Demente. Wie soll etwa das Leiden, das leidensfähigen Tieren aus schmerzhaften oder ängstigenden Tierversuchen in der Arzneimittelfor29 Einen wirkungsmächtigen Skeptizismus in dieser Hinsicht vertrat der englische Ökonom L. Robbins. Nach Robbins verbergen sich hinter den scheinbar deskriptiven Annahmen etwa über die Übereinstimmung in den Nutzenfunktionen mehrerer Individuen normative Postulate, in diesem Fall ein Gleichheitspostulat (vgl. Robbins 1938, 640f.).
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schung erwächst, mit der Leidensminderung verglichen werden, die diese Arzneimittel voraussichtlich oder möglicherweise bei menschlichen Patienten bewirken? Da Hasletts Nutzenkonzeption auf nicht-selbstbewusste empfindungsfähige Wesen nicht anwendbar ist, das Wohl und Wehe nicht-selbstbewusstseinsfähiger Wesen nach utilitaristischer Auffassung aber nicht minder berücksichtigungswürdig ist als das selbstbewusstseinsfähiger Wesen, scheint keine andere Wahl zu bleiben, als das Wohlbefinden nicht-selbstbewusstseinsfähiger Wesen weiterhin nach ihrer mutmaßlichen Empfindungsqualität zu beurteilen.
5.3.3 Kritikpunkte am Utilitarismus und Revisionsvorschläge Die Attraktivität einer Zwei-Ebenen-Theorie, die zwischen Primär- und Sekundärprinzipien unterscheidet, erklärt sich u. a. dadurch, dass sie geeignet scheint, einigen der am häufigsten gegen den Utilitarismus seit seiner Entstehung geltend gemachten Kritikpunkten wirksam zu begegnen. Das gilt insbesondere für den Einwand der systematischen Überforderung. l. Der Einwand der Überforderung Eine Zwei-Ebenen-Theorie macht verständlich, warum auch und gerade der Utilitarist gute Gründe hat, die für die moralische Praxis erhobenen Forderungen gegenüber dem Primärprinzip abzuschwächen. Sinnvoll können für ihn auf der Ebene der Sozialmoral nur Normen sein, die Aussicht auf Annahme und Befolgung haben. Allerdings sind damit die Bedenken der Kritiker noch nicht ausgeräumt. Denn auch unterhalb der Schwelle zur Überforderung impliziert der Utilitarismus erhebliche Beschränkungen der Freiheit der Lebensplanung. Da utilitaristisch begründete Pflichten in einem gewissen Maße
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durch Situationsfaktoren und andere durch den einzelnen Akteur nicht beherrschbare Umstände bestimmt sind, ergeben sich immer wieder Situationen, in denen die unpersönlichen Forderungen der utilitaristischen Ethik mit den nicht-moralischen, aber möglicherweise für existenziell wichtig gehaltenen Werten und Idealen des Akteurs in Konflikt kommen. Die utilitaristischen Forderungen verpflichten ihn dann womöglich zu einem Handeln, das seinen ureigensten Prinzipien widerspricht. Im Sinne dieser Kritik hat Bernard Williams (1979) dafür plädiert, Gesichtspunkte der unpersönlichen Nutzenmaximierung immer dann zurückzustellen, wenn diese das Individuum in der Verfolgung seiner ureigensten Lebensprojekte beeinträchtigen. Das Individuum sollte frei sein, seine persönlichen Projekte auch dann zu verfolgen, wenn dies mit einer Erfüllung der überpersönlichen Forderungen der utilitaristischen Moral unvereinbar ist. In dieselbe Richtung weist der Vorschlag, dem Akteur gegenüber den unpersönlichen Forderungen einer utilitaristischen - bzw. jeder anderen universalistischen konsequenzialistischen Ethik - die Berufung auf „akteursrelative Gründe" zuzubilligen, die lediglich von den persönlichen Lebensprojekten des jeweiligen Subjekts abhängen (vgl. Dancy 1993). Beide Vorschläge halten dem Nutzen aus der Befolgung unpersönlicher Regeln die persönlichen Kosten entgegen, die dem Individuum aus der Befolgung dieser Regeln erwachsen. Dabei werden diese „Kosten" jedoch nicht, wie im utilitaristischen Kalkül, wiederum aus einer überpersönlichen Perspektive berechnet (und die Forderungen für die Ebene der Praxis entsprechend abgeschwächt), sondern aus der Perspektive des jeweils betroffenen Individuums. Aus utilitiaristischer Sicht ist die Aufwertung persönlicher Projekte im Zuge der Theorie der agent-relative reasons eine zweischneidige Sache. Einerseits weist dieser Ansatz auf die Grenzen hin, die utilitaristische Sekundärprinzipien beachten müssen, wenn sie angesichts der Pluralität der individuellen
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Lebensorientierungen sozial verbindliche Gebote und Verbote aussprechen und gleichzeitig jedermanns Freiheit, sein eigenes Leben zu leben, wahren wollen. Diese Freiheit ist ihrerseits ein Moment des Lebensglücks, das nicht durch ein Übermaß moralischen Drucks beeinträchtigt werden darf. Auf der anderen Seite können aber nicht alle Lebensprojekte (auch die nicht, an die sich die jeweiligen Akteure „existenziell" gebunden haben) als sakrosankt gelten. Wie weit sie zu respektieren sind, hängt wesentlich davon ab, wie weit sie ihrerseits mit moralischen Zielen verträglich sind. Schließlich können „existenzielle" Lebensprojekte auch schlicht kriminell sein. Selbst dann, wenn sich die betreffenden Lebensprojekte auf moralische Prinzipien berufen, können sie aus militaristischer Sicht schlicht inakzeptabel sein (vgl. Kagan 1989, 31). Letztlich ist der Konflikt zwischen neutralen moralischen Forderungen und persönlichen Idealen keine Besonderheit des Utilitarismus oder des Konsequenzialismus, sondern gehört zum Wesen jeder universalistischen Moral. Indem sie moralische Forderungen an qualitativ und unabhängig von den Präferenzen des jeweiligen Akteurs definierten Gütern und Werten orientiert, bedeutet das Ansinnen, moralische Normen zu befolgen, stets auch die Zumutung, nicht nur spontane Neigungen und Wertungen, sondern auch längerfristige persönliche Projekte zugunsten personen-, kultur- und möglicherweise generationenübergreifender Projekte aufzugeben. 2. Der Einwand der „moralischen Heteronomie" Ein noch schärferer Konflikt zwischen den eigenen Werten und Prinzipien und den Konsequenzen dieser Prinzipien für das eigene Handeln ergibt sich für den Utilitaristen dann, wenn das Wohlbefinden anderer von der Erfüllung nicht- oder sogar anti-utilitaristischer Prinzipien abhängt und er gemäß seinen eigenen Prinzipien gehalten ist, den Nutzen anderer aus der Erfüllung dieser Prinzipien ebenso hoch zu gewichten wie den
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Nutzen, den er selbst aus der Erfüllung utilitaristischer Prinzipien bezieht. Man kann in einem solchen Fall von „moralischer Heteronomie" sprechen: Der Utilitarist sieht sich aufgrund seiner eigenen Prinzipien genötigt, Handlungen oder Handlungsweisen zu vertreten und zu empfehlen, die nicht seinen eigenen Prinzipien, sondern denen der Mehrheit entsprechen. Im Extremfall muss er seine praktischen Empfehlungen an Prinzipien und Idealen orientieren, die er für seinen Teil rundheraus ablehnt.30 Der Utilitarist wird darin allerdings keinen eigentlichen Einwand gegen seine Position sehen. Er wird diese Heteronomie eher als eine für ihn bedauerliche, aber unausweichliche Konsequenz betrachten, der er sich nolens volens zu bequemen hat. 3. Berücksichtigung krass unmoralischer Wünsche Dieser Einwand schließt unmittelbar an den vorhergehenden an. Der utilitaristische Nutzenkalkül muss nicht nur die Befriedigung berücksichtigen die andere aus der Erfüllung nichtutilitaristischer moralischer Normen ziehen, sondern auch die Befriedigung, die andere aus der Erfüllung von Wünschen ziehen, die in so gut wie allen Moralen als unmoralisch gelten, etwa die Befriedigung sadistischer Neigungen oder die Lust an Grausamkeit. MUSS nicht, wie es G.E. Moore (1970, 285ff.) und John Harsanyi (1982, 56) vorgeschlagen haben, die Befriedigung solcher Wünsche von vornherein aus der Nutzenbewertung ausgeschieden werden? Eine Gewichtung von Formen des Lustgewinns nach ihrer moralischen Qualität ist allerdings nicht nur mit den Grundlagen der utilitaristischen, sondern jeder ideologischen Ethik unvereinbar. Moralische Bewertungen sollen sich dieser Ethik zufolge erst aus der Abschätzung der Handlungsfolgen erge30 Ein konkretes Beispiel für „moralische Heteronomie" wird diskutiert in Birnbacher 1998.
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ben, können dieser also nicht vorangehen. Wenn bestimmte Formen des Lustgewinns zu vermeiden (und möglicherweise zu verhindern) sind, dann im Rahmen einer ideologischen Ethik nicht aufgrund der intrinsischen (folgenunabhängigen) Schlechtigkeit der betreffenden Wünsche und Lüste, sondern aufgrund der Schlechtigkeit ihrer Folgen. Überdies ist zweifelhaft, ob die Befriedigung sadistischer Neigungen als solche kritikwürdig ist, solange sie sozialunschädlich etwa durch private Lektüre erfolgt. Kritikwürdig sind nicht diese Wünsche selbst, sondern ihr offenes Ausleben. Wie Sen (1988, 197) zu Recht gegen Harsanyi argumentiert hat, können sadistische Phantasien nur soweit aus konsequenzialistischen Gründen verurteilenswert sein, als sie zu Rechtsverletzungen bei anderen führen. Ihre Befriedigung kann nicht als solche verurteilenswert sein. 4. Vernachlässigung von Qualitäts- und strukturellen Werten Zwei Einwände gegen den Utilitarismus, denen sich bereits John Stuart Mill ausgesetzt sah, betreffen das Fehlen spezifischer Qualitätswerte hinsichtlich der Quellen, aus denen lustvolle Erfahrungen oder Glück bezogen werden, und das Fehlen struktureller Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit. Während Bentham - getreu seinem Diktum „Quantity of pleasure being equal, push-pin is as good as poetry" (Mill 1969b, 113, vgl. Bentham 1838ff., Bd. 2, 253) sinnliche und geistige Lust ausdrücklich gleich gewichtet, führt Mill zusätzlich eine qualitative Wertdimension ein, die es erlauben soll, „höheren" Freuden auch dann einen höheren Rang zuzuordnen, wenn sie den „niederen" an Dauer und Intensität unterlegen sind. Angelehnt an Platons Staat wird das Qualitätsurteil denjenigen überlassen, die über hinreichend vielfältige Erfahrungen verfügen, um die Qualitäten verschiedener Arten von Lust miteinander vergleichen zu können. (Mill 1976, Kap. 2). Die Indifferenz des klassischen Utilitarismus gegen strukturelle Werte
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versucht der „Gerechtigkeitsutilitarismus" Rainer W. Trapps (1988) zu überwinden. Trapp kombiniert einen präferenzutilitaristischen Theoriekern mit zwei charakteristisch nicht-utilitaristischen Werten: der Gleichheit der Güterverteilung und der Proportionalität zwischen Güterverteilung und moralischem Verdienst. Der Wert einer gesellschaftlichen Güterverteilung bestimmt sich damit nicht mehr nur nach der Nutzensumme (genauer: der aktuellen Nutzensumme vermehrt um den sich aus dieser Güterverteilung wahrscheinlich ergebenden zukünftigen Nutzen), sondern auch nach der Gleichheit der Nutzenverteilung sowie der Entsprechung zwischen Nutzenniveau und (seinerseits utilitaristisch bestimmtem) moralischem Verdienst. In der Diskussion von Trapps Theorie (vgl. Gesang 1998) ist allerdings bezweifelt worden, ob die Begründung von Prinzipien der ausgleichenden Gerechtigkeit und der Gleichheit eine so weitgehende Erweiterung der utilitaristischen Wertbasis erfordern. Einiges spricht dafür, dass sich diese Prinzipien innerhalb einer Zwei-Ebenen-Theorie auch utilitaristisch rechtfertigen lassen - als Anreizsysteme zur Verstärkung und Schwächung moralisch erwünschten oder unerwünschten Verhaltens und als Sekundärprinzipien zur Aufrechterhaltung wechselseitiger Achtung und der Selbstachtung der von Natur aus Schwächeren. Damit wird Mills Grundidee wiederaufgenommen, Gerechtigkeitsprinzipien als eine besondere Art militaristischer Sekundärprinzipien zu verstehen. Gerechtigkeitsprinzipien sind nach dieser Auffassung keine Konkurrenten des Nützlichkeitsprinzips, sondern Operationalisierungen des Prinzips der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung nach Maßgabe bestimmter anthropologischer Gegebenheiten wie der Chance einer Veränderung von Verhalten durch positive und negative Verstärker, der (evolutionär bedingten) Existenz von Vergeltungsbedürfnissen, von Neidgefühlen und eines elementaren Bedürfnisses nach Selbstachtung. Aus dieser Sicht erübrigt sich eine Anerkennung des moralischen Verdienste als
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eigenständigen Werts. Verdienstprinzipien sind vielmehr Teil eines gesellschaftlichen Anreizsystems, das zu Leistungsbereitschaft und Konformität mit anerkannten Normen ermutigt und die Aufbietung moralischer Energien zur Verfolgung gesellschaftlich erwünschter Ziele begünstigt. Außerdem sind sie Ausdrucksmittel für - in ihrer Intensität auch unter zivilisierten Bedingungen nicht zu unterschätzende - reaktive Emotionen wie Dankbarkeit und Rache. Ähnliche Überlegungen gelten für Gleichheitsprinzipien: Sie dienen primär der Reduktion von Neid und der Aufrechterhaltung der Selbstachtung der durch die „natürliche Lotterie" (Rawls) Benachteiligten - eine Funktion, die utilitaristisch desto vordringlicher ist, je stärker natürliche Ungleichheiten durch die „soziale Lotterie" verstärkt und die von Natur aus Benachteiligten zusätzlich gesellschaftlich benachteiligt werden. 5. Vernachlässigung des besonderen moralischen Gewichts negativen und geringfügig positiven Nutzens Ein auch von vielen überzeugten Utilitaristen zugestandenes Problem der utilitaristischen Ethik ist die unbeschränkte wechselseitige „Aufrechnung" von unterschiedlichen Nutzenniveaus zwischen verschiedenen Personen und zwischen verschiedenen Lebensphasen derselben Person.31 Da die moralische Qualität etwa einer gesetzgeberischen Maßnahme nach utilitaristischer Auffassung lediglich davon abhängt, ob sie den Gesamtnutzen (langfristig) erhöht, kann es nicht darauf ankommen, wie groß die Opfer sind, die den „Verlierern" zugemutet werden. Intuitiv wiegen jedoch Verschlechterungen auf negativem (wenn man als Nullpunkt den Zustand des traumlosen Schlafs definiert) und geringfügig positivem Nutzenniveau schwerer als Verbesserungen auf einem von vornherein hohen 31 Die erste Konsequenz hat insbesondere Rawls (l 975) unter dem Stichwort „separateness of persons" zum Gegenstand der Kritik gemacht.
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Nutzenniveau. Es erscheint unvertretbar, den Benachteiligten noch höhere Lasten aufzubürden, nur um den ohnehin Privilegierten ein noch üppigeres Leben zu verschaffen. Als naheliegende Korrektur bietet sich an dieser Stelle die Definition eines Nutzensockels (Rescher 1966,28 f.) an, der die Umverteilung zu Lasten der Schlechtergestellten begrenzt und gleichzeitig das Nutzenniveau angibt, dessen Erreichung bei allen verteilungswirksamen Entscheidungen Priorität genießt. Analog zum Existenzminimum oder zum „sozialen Minimum" gibt der „Nutzensockel" eine Marke an, unter die niemand fallen sollte und dessen Erreichung durch alle auch dann sichergestellt werden sollte, wenn die Nutzenniveaus der Bessergestellten (bzw. deren Chancen, höhere Nutzenniveaus zu erreichen) dadurch abgesenkt werden. Niemand, der sich unterhalb des utility floor befindet, darf schlechter gestellt werden, wenn dies lediglich dazu dient, andere oberhalb des Sockels besser zu stellen. Falls jemand unter das dadurch definierte Minimum fällt, sollte so umverteilt werden, dass mindestens das Mindestniveau bei allen gesichert ist. Mit einer solchen Korrektur wären allerdings noch nicht alle Bedenken zum Schweigen gebracht. Denn auch wenn As Nutzenniveau oberhalb des Sockels liegt, scheint eine Schlechterstellung von A zugunsten eines ohnehin bessergestellten B schwer zu rechtfertigen. Ein Ansatz, diesen Bedenken entgegenzukommen, ist der negative Utilitarismus, verstanden als eine Position, die der Verhinderung und Linderung von Leiden (negativem Nutzen) Vorrang gibt vor der Steigerung des Wohlbefindens. Allen Varianten des negativen Utilitarismus ist gemeinsam, dass sie die inter- und intrasubjektive „Aufrechnung" von negativem und positivem Nutzen bzw. von geringen mit hohen Nutzenniveaus beschränken und damit eine „Umverteilung von unten nach oben" ausschließen. Eine radikale und von ihren Konsequenzen her kaum akzeptable Variante des negativen Utilitarismus wäre die, die in der Axiologie ausschließlich negativen Nutzen berücksichtigt
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und den Wert einzelner Lebensphasen ausschließlich nach den in ihnen enthaltenen negativen Nutzenanteilen bemisst. Wenig akzeptabel scheint eine solche Theorie deshalb, weil sie impliziert, dass (da ein Leben ohne alle negativen Nutzenanteile selten sein dürfte) es besser wäre, wenn gar keine empfindungsfähigen Wesen existierten (vgl. Smart, R. N. 1958). Es wäre dann auch in jedem Fall besser, kürzer zu leben als länger, da jede zusätzliche Lebensphase leidvolle Momente mit sich bringen kann, die nach dieser Konzeption durch noch so viele glückliche Momente nicht aufgewogen werden. Akzeptabler scheint der negative Utilitarismus, wenn man ihn nicht als einen Vorschlag zur Revision der utilitaristischen Axiologie, sondern als einen Vorschlag zur Revision der normativen Theorie auffasst. Er kann dann so verstanden werden, dass er ausschließlich dazu verpflichtet, negative Nutzenzustände zu beheben bzw. geringfügig positive Nutzenzustände bis zu einer bestimmten Schwelle anzuheben, nicht aber dazu, Nutzenniveaus, die bereits über der Schwelle liegen, weiter anzuheben. Griffin (Griffin, J. 1979) hat den negativen Utilitarismus so rekonstruiert, dass er einen Lastenausgleich zwischen Besser- und Schlechtergestellten nur insoweit erlaubt, als dieser der Verringerung des Leidens (des negativen Nutzens) bzw. dem Erreichen eines bestimmten positiven Schwellenniveaus oberhalb des „Nutzensockels" dient, der allen mit Priorität gesichert werden soll. Individuen dürfen nur dann schlechtergestellt werden, wenn dadurch andere auf einem Nutzenniveau unter dem Schwellenniveau bessergestellt werden. Nicht erlaubt ist dagegen die Schlechterstellung einiger zugunsten der Besserstellung anderer, die sich bereits auf einem höheren Nutzenniveau befinden. Eine von Lumer (1997) entwickelte Alternative sieht eine mit der Höhe des erreichten Nutzenniveaus kontinuierlich abnehmenden Nutzengewichtung vor. Danach werden bei der Summierung des Gesamtnutzens einer Gruppe, einer Gesellschaft oder auch der Weltgesellschaft die negativen bzw. niedrigen Nutzenniveaus bis zu einem bestimmten
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5. Konsequenzialistische Ethik
Schwellenwert überproportional berücksichtigt. Besserstellungen auf den unteren Niveaus, z. B. in der Bekämpfung von Hunger und Seuchen, schlagen dann im Nutzenkalkül stärker zu Buche als Verbesserungen auf höheren Niveaus. Die intuitiven Vorzüge des negativen Utilitarismus in seinen verschiedenen Varianten sind allerdings mit einem gewissen Preis erkauft. Dieser Preis besteht darin, dass auch dann keine wie immer geringfügige Schlechterstellung bereits Schlechtergestellter zugelassen wird, wenn dadurch das Nutzenniveau vieler erheblich und dauerhaft erhöht wird. Es wäre danach z. B. kaum vertretbar, einen Dieb, Vergewaltiger oder Mörder hinter Gitter zu bringen, wenn dies ausschließlich dazu dient, die Sicherheit vieler anderer zu erhöhen, nicht bestohlen, vergewaltigt oder ermordet zu werden, und diese Sicherheit für diese anderen nicht derart existenzielle Bedeutung hat, dass sie sich andernfalls mit einem Nutzenniveau unter dem jeweiligen Schwellenwert abfinden müssten. 6. Mangelnde normative Differenzierung zwischen folgengleichem Handeln und Unterlassen Ein weiterer Einwand gegen die normative Adäquatheit des Utilitarismus richtet sich gegen dessen Konsequenz, folgengleiche Begehungs- und Unterlassungshandlungen der Tendenz nach gleich zu beurteilen. Gemeinhin werden jedoch folgengleiche Begehungs- und Unterlassungshandlungen moralisch deutlich unterschiedlich beurteilt: Einen anderen aktiv zu belügen wird ceteris paribus als moralisch schwerwiegender beurteilt als einen anderen wissentlich in Unkenntnis zu lassen, aktives Töten ceteris paribus als moralisch schwerwiegender als passives Sterbenlassen. Den meisten erscheint eine Politik des Sterbenlassens auch dann akzeptabler als eine Politik des aktiven Tötens, wenn die letztere dazu führen würde, dass sich die Zahl der Tötungen insgesamt vermindert. Ein Staat, der es zulässt, dass jährlich tausend Menschen durch fahrlässige Tötun-
5.3 Der Utilitarismus
239
gen im Straßenverkehr umkommen, ist den meisten sympathischer als ein Staat, der die Zahl der fahrlässigen Tötungen auf ein Zehntel reduziert, indem er fahrlässige Tötungen mit der Todesstrafe bedroht und hundert Verkehrsteilnehmer jährlich hinrichtet (vgl. Pogge 1998, 159). Selbstverständlich wird auch der (indirekte) Utilitarist ein Stück weit der geläufigen moralischen Differenzierung zwischen folgengleichem Handeln und Unterlassen entgegenkommen. Handlungsverbote sind im allgemeinen leichter zu befolgen als Handlungsgebote, und aktive Schädigungen sind im allgemeinen von sozial bedrohlicheren Motiven geleitet als das bloß passive Zulassen von Schäden. Die Befolgung des Gebots, anderen keinen Schaden zuzufügen, ist in der Regel mit weniger psychischen Kosten an moralischer Aufmerksamkeit verbunden als die Befolgung des Gebots, Schädigungen anderer zu verhindern oder anderen Hilfe zu leisten. Eine Gleichbeurteilung von Handlungen und Unterlassungen auf der Ebene der Sekundärprinzipien könnte also insofern suboptimal sein, als sie demjenigen, den sie zur Hilfeleistung verpflichtet, höhere Kosten aufbürdet als sie den potenziellen Nutznießern der Hilfeleistungspflicht Nutzen verspricht. Auf der anderen Seite bergen Regelungen, die aktive Schädigungen zulassen oder fordern, Brutalisierungsrisiken, die bei Regelungen, die Schäden in demselben oder höherem Ausmaß passiv tolerieren, nicht zu befürchten sind. Dennoch bleiben Zweifel, ob diese indirekten Folgenfaktoren hinreichen, der intuitiven moralischen Differenzierung zwischen Handlungen und Unterlassungen Genüge zu tun. Die Diskussion darum ist noch nicht abgeschlossen. Klar ist bisher nur, dass Revisionsbemühungen in diesem Punkt die utilitaristische Ethik im Kern und nicht nur an der Oberfläche treffen würden. Der Utilitarist kann die normative Äquivalenz von Handlungs- und Unterlassungspflichten nicht aufgeben, ohne die Substanz seiner ethischen Theorie preiszugeben.
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5. Konsequenzialistische Ethik
Die „nicht-klassischen" Varianten der utilitaristischen Ethik im Überblick Zwei-Ebenen-Theorie, Unterscheidung von Primärprinzip und Sekundärprinzipien, indirekter Utilitarismus (Mill, Hare) Regel- statt Handlungsutilitarismus (Harrod, Brandt) Durchschnitts- statt Nutzensummenutilitarismus (Harsanyi) Präferenz- statt Glücksutilitarismus (Harsanyi, P. Singer) Ausschluss krass moralwidriger Präferenzen (Moore, Harsanyi) Erweiterung der Axiologie um Qualitäts- und strukturelle Werte (Mill, Trapp) Negativer Utilitarismus (Griffin, Lumer)
6. Theorien des nicht-moralisch Guten In Kap. l haben wir gesehen, dass nicht-moralische Werte nicht nur für konsequenzialistische, sondern auch für deontologische Ethiken moralisch relevant sind. Da nach unserer Definition auch deontologische Ethiken partiell konsequenzialistisch aufgebaut sind, sind auch sie partiell auf eine Theorie des nichtmoralisch Guten angewiesen. Aber selbst Ethiken, die dem streng deontologischen Typus entsprechen, vertreten gewöhnlich neben der normativen Theorie eine Theorie des nicht-moralischen Guten und legen sich die Frage vor, welches Leben bzw. welche Weltzustände unter Absehung von allen moralischen Gesichtspunkten als wünschenswert gelten können. In streng deontologischen Theorien läuft dieser Theorieteil allerdings gewissermaßen leer. Anders als bei konsequenzialistischen und bei deontologischen Theorien des nicht-strengen Typs wirkt sich die Axiologie nicht auf die normative Theorie aus. Gelegentlich wird die Frage nach dem nicht-moralisch Guten gleichgesetzt mit der Frage nach dem „guten Leben" oder der „Lebenskunst". Aber die Frage nach dem „guten Leben" macht nur einen Teil der axiologischen Frage aus. Viele Axiologien nehmen neben der Qualität des Lebens auch das Leben selbst bzw. Werte außerhalb der Sphäre des Lebendigen als Werte an. Die Frage nach dem „guten Leben" im Sinne eines erstrebenswerten und gelingenden Lebens ist charakteristisch für die antike Ethik. Auch normative Fragen nach dem richtigen Handeln werden vielfach als Fragen nach dem guten Leben aufgefasst, so insbesondere bei Platon, Aristoteles und in der Stoa. Auch wenn die Unterscheidung zwischen der Frage nach dem moralisch richtigen und der Frage nach dem nicht-moralisch guten Leben vielfach anklingt, ist die strikte Trennung zwischen beiden Frage ein Spezifikum erst der neuzeitlichen Ethik. Erst in der neuzeitlichen Ethik wird das Dilemma offen aner-
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6. Theorien des nicht-moralisch Guten
kannt, dass die Ideale des moralisch guten Lebens, des Lebens von hoher moralischer Qualität, und des nicht-moralisch guten Lebens, des glücklichen, gelungenen oder erfüllten Lebens, nicht notwendig zusammenfallen und ein glückliches Leben vielfach der Moral und ein moralisches Leben vielfach des Glücks entbehrt. Das Leben des „Lebenskünstlers" ist nicht notwendig moralisch vorbildlich. Künstler wie Victor Hugo oder Picasso hatten ein in höchstem Maße erfülltes Leben, ohne durch besondere Moralität aufgefallen zu sein. Andererseits muss das Leben einer sich für andere aufopfernden Krankenschwester nicht notwendig glücklich sein. Moral bewährt sich nicht zuletzt in Belastungs- und Krisensituationen, in denen es um die Chancen, glücklich zu werden, insgesamt schlecht bestellt ist, etwa in Kriegszeiten oder in Situationen politischer Unfreiheit und Unterdrückung.
6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte
6.1.1 Intrinsische und extrinsische nicht-moralische Werte Axiologien oder Wertlehren werden gewöhnlich danach klassifiziert, welche inneren und äußeren Zustände von ihnen als intrinsische Werte, d. h. als an sich wertvolle Zustände postuliert werden. Extrinsische Werte sind demgegenüber diejenigen Eigenschaften, die intrinsische Werte aufgrund empirischer Zusammenhänge bedingen. Eine Eigenschaft ist ein extrinsischer Wert, wenn sie eine Bedingung oder ein Mittel für die Realisierung einer intrinsischen Werteigenschaft ist. Wenn Wohlbefinden ein intrinsischer Wert ist, ist z. B. Gesundheit ein extrinsischer Wert. Grundverschiedene Axiologien können hinsichtlich der von ihnen anerkannten extrinsischen Werte weitgehend überein-
6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte
243
stimmen. So fassen etwa anthropozentrische Naturethiken ausschließlich menschliche Zustände als intrinsisch wertvoll auf, andere darüber hinaus auch bestimmte Zustände natürlicher Individuen und Ganzheiten. Der Anthropozentriker schützt die Natur lediglich um des Menschen willen, der „Ökozentriker" auch um ihrer selbst willen. Trotz dieser grundlegenden Diskrepanz stimmen sie hinsichtlich vieler extrinsischer Werte überein, die elementare Voraussetzungen sowohl für das menschliche Wohlbefinden als auch für die Naturwerte des Ökozentrikers darstellen. In der Praxis des Umwelt- und Naturschutzes braucht es deshalb zwischen anthropozentrischem und nicht-anthropozentrischem Axiologen nicht zwangsläufig zu Konflikten kommen.
6.1.2 Monistische und pluralistische Axiologien Eine Reihe von Kategorien, mit denen sich Prinzipien der moralischen Handlungsbeurteilung klassifizieren lassen, lassen sich auch auf Axiologien anwenden, so insbesondere auch die kategorialen Unterscheidungen zwischen monistischen und pluralistischen Axiologien und zwischen Axiologien, für die alle nicht-moralischen Werte auf einer gemeinsamen Skala kommensurabel sind und Abwägungen zulassen, und Axiologien, für die bestimmte nicht-moralische Werte allen anderen Werten lexikographisch vorgeordnet sind. Eine Axiologie ist monistisch, wenn sie nur einen einzigen intrinsischen Wert anerkennt, pluralistisch, wenn sie eine Vielzahl unabhängiger intrinsischer Werte anerkennt, d. h. Werte, die nicht aufeinander oder auf einen einzigen obersten Wert zurückgeführt werden können. Beispiele für monistische Axiologien sind der klassische Utilitarismus (mit dem einen Gut pleasure oder happiness) und die naturethische Axiologie Paul W. Taylors (1986) (mit dem einen Gut Erreichung des individuellen Lebens-Telos). Diese Naturethik umfasst zwar ein
244
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
komplex strukturiertes System von Handlungsprinzipien und Prioritätsregeln. Diese stehen jedoch im Dienst der Realisierung eines einzigen Werts. Eine pluralistische Axiologie liegt der Gerechtigkeitstheorie von Rawls zugrunde. Anders als bei Paul Taylor lassen sich die Prioritätsregeln der normativen Theorie bei dieser Theorie nicht auf eine monistische Axiologie zurückführen. Zugleich ist Rawls' Axiologie ein Beispiel für eine Axiologie mit lexikographischer Vorordnung: Gleiche Freiheit hat bei Rawls Vorrang vor ökonomischer Gleichheit und Chancengleichheit in Bezug auf öffentliche Ämter und Positionen. Eine Abwägung des Prinzips gleicher Freiheit ist - zumindest unter bestimmten Standardbedingungen - ausgeschlossen, da diese Werte nicht auf ein und derselben Skala miteinander verrechenbar sind. Dass diese Werte inkommensurabel sind, heißt jedoch ebensowenig wie bei Normen (vgl. Abschnitt 4.4.1), dass sie deshalb auch unvergleichbar sind. Zwei Werte sind inkommensurabel, wenn es keine gemeinsame Skala gibt, auf der sie gewichtet werden und zu einer Wertsumme aggregiert werden können. Zwei Werte sind unvergleichbar, wenn sich zwischen ihnen keine wie immer geartete Priorität oder Indifferenz angeben lässt, sich als weder sagen lässt, dass der eine wichtiger als der andere, noch dass beide gleich wichtig sind. Es ist unklar, ob es plausible Belege für eine Unvergleichbarkeit in diesem Sinne gibt. Die bisher vorgelegten Versuche, schlechthin unvergleichbare Werte aufzuweisen, können jedenfalls kaum überzeugen. Allerdings wird der Ausdruck „Unvergleichbarkeit" des öfteren lediglich als alternative Formulierung für Inkommensurabilität gebraucht. So spricht etwa Kant gelegentlich von der Unvergleichbarkeit der Würde des Menschen mit allen anderen Arten von Wertschätzung. Damit scheint er jedoch lediglich sagen zu wollen, dass der Wert, der dem Menschen kraft seiner Würde zukommt, allen anderen Formen von Wert, die er auch noch besitzen mag, überlegen ist. „Unvergleichbar-
6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte
245
keit" weist hier also lediglich darauf hin, dass der höchste Wert mit anderen Werten im Sinne einer lexikographischen Wertordnung inkommensurabel ist. Andernfalls beinhaltete die Aussage einen Widerspruch, da die Einordnung des einen Werts als „höher" und des anderen als „niedriger" die Vergleichbarkeit der Werte notwendig voraussetzt.
6.1.3
Singularistische, partikularistische und universalistische Axiologien
Axiologien bewerten in der Regel bestimmte Merkmale nach rein qualitativen oder inhaltlichen Merkmalen und nicht nach der Relation, in der diese Merkmale zum Bewertenden stehen. Eine Ausnahme sind Axiologien, die man singulansüsch oder partikularistisch nennen kann, insofern sie zum Kriterium der Bewertung die Relation machen, in der das Bewertete zum Bewerter steht. Das Schema auf Seite 246 stellt einige Beispiele für singularistische, partikularistische und universalistische Axiologien gegenüber. Eine Konsequenz, die man aus dem im ersten Kapitel dargestellten Universalisierungsprinzip ziehen kann, ist die, dass sich jeder nicht-moralische Wert, der in moralische Handlungsurteile eingeht, ohne die Verwendung von Eigennamen oder indexikalischen Ausdrücken beschreiben lassen muss. Danach kann der intrinsische Wert einer Eigenschaft, die in eine moralische Norm eingeht, nicht davon abhängen, wer diese Eigenschaft hat oder wann und wo sie realisiert ist. Wenn etwa Wohlbefinden einen intrinsischen Wert darstellt, der über die Bewertung der Handlungsfolgen in moralische Handlungsurteile eingeht, dann kann es für den intrinsischen Wert des Wohlbefindens keinen Unterschied machen, wer dieses Wohlbefinden empfindet oder wann und wo dieses Wohlbefinden empfunden wird. Wenn mein Wohlbefinden moralisch
246
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
Personale Dimension
Singularismus
Egoismus
Partikularismus
Nepotismus, Nationalismus, Rassismus
Universalismus
Gleichwertigkeit aller Menschen, Menschenwürde
Räumliche Dimension
Zeitliche Dimension Generationen-
Egoismus Lokalpatriotismus, Eurozentrismus
Generationenpräferenz
zeitlicher Univers alismus
relevant ist, dann auch deins und das Wohlbefinden anderer in hundert oder tausend Jahren. Dieser Ausschluss singulärer oder partikulärer Werte kann allerdings nur für spezifisch moralische Kontexte gelten. In anderen Kontexten kann der Wert einer Eigenschaft durchaus auch von der Identität ihres Trägers oder von der räumlichen oder zeitlichen Position seiner Realisierung abhängen. So ist uns aus der Perspektive unserer persönlichen Wertschätzung unser eigenes Wohlbefinden meist sehr viel wichtiger als das Wohlbefinden anderer, das Wohlbefinden Heutiger wichtiger als das Wohlbefinden Zukünftiger und das Wohlbefinden der uns Nahestehenden wichtiger als das Wohlbefinden Fremder. Anders als G.E. Moore (1970, 152) meinte, ist eine egozentrische Bewertung von Eigenschaften also nicht eo ipso widersprüchlich. Moore war der Meinung, dass alle intrinsisch wertvollen Eigenschaften als universalistische Werte aufgefasst werden müssen. Wenn eine Eigenschaft gut ist, dann kann dieses Gut-Sein nicht davon abhängen, dass es meine Eigenschaft ist oder dass sie heute und nicht morgen realisiert wird. Wenn
6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte
247
mein Wohlbefinden jetzt gut ist, dann kann das Wohlbefinden eines anderen oder ein späteres Wohlbefinden ceteris paribus nicht weniger gut sein. Aber dies kann nur dann gelten, wenn man „gut" von vornherein im Sinne eines objektiven „gut" versteht, das Gegenstand einer überpersönlichen und perspektivenunabhängigen Bewertung ist. Aus der Perspektive eines einzelnen Individuums bzw. eines bestimmten Zeitpunkts kann das Wohlbefinden eines anderen oder ein zeitlich später eintretendes Wohlbefinden durchaus weniger wertvoll sein als das eigene oder das gegenwärtige Wohlbefinden. Fraglich ist nur, ob derartige singularistische oder partikularistische Bewertungen in spezifisch moralischen Beurteilungen vorkommen dürfen, insbesondere dann, wenn diese den Anspruch erheben, von einem überpersönlichen Standpunkt zu urteilen. Ein möglicher Ausschluss singulärer oder partikulärer Werte kann allerdings auch in moralischen Kontexten lediglich für intrinsische und nicht auch für extrinsische Werte gelten. Dass eine bestimmte Eigenschaft einen extrinsischen Wert darstellt, kann auch in moralischen Kontexten sehr wohl von Faktoren abhängen, die an ein bestimmtes Individuum oder an eine bestimmte Raum-Zeit-Stelle gebunden sind. Wohlbefinden als intrinsischer Wert kann heute von bestimmten Faktoren abhängen und morgen von anderen. Heute gilt es als extrinsischer Wert, einen Fernseher zu haben, morgen vielleicht als extrinsischer Wert, keinen zu haben. Heute gehört es zum sozialen Minimum, einen Fernseher zu haben, morgen vielleicht nicht mehr. Da intrinsische und extrinsische Werte lediglich empirisch zusammenhängen, überträgt sich der Status des intrinsischen Werts nicht zwangsläufig auf die Bedingungen und Mittel seiner Verwirklichung.
248
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
6.1.4 Aggregations- und Strukturtheorien nicht-moralischen Werts Im Gegensatz zu Aggregationstheorien postulieren Strukturtheorien nicht nur individuelle Eigenschaften wie Wohlbefinden oder Funktionstüchtigkeit als nicht-moralische Werte, sondern auch die Art und Weise, in der diese Werte in einem größeren Ganzen verteilt sind. Wichtige und von vielen Axiologien spezifisch berücksichtigte Werte sind insbesondere Gleichheit und Gerechtigkeit. Gleichheit und Gerechtigkeit als nicht-moralische Werte aufzufassen bedeutet, sie nicht nur für menschlich bewirkte, sondern auch für schicksalhaft zustandegekommene Verteilungen gelten zu lassen. Gleichheit und Gerechtigkeit gelten dann nicht als Prinzipien für menschliches Handeln, sondern als Wertqualitäten bestimmter Zustände. Dass ein Zustand „ungerecht" ist, bedeutet nach dieser Interpretation weder, dass der Zustand unrechtmäßig zustandegekommen ist, noch dass eine Verpflichtung besteht, den ungerechten Zustand zu korrigieren. Es kann ja sein, dass eine Korrektur gar nicht möglich ist oder die verfügbaren moralischen Energien überfordern würde, Dennoch scheint es nicht abwegig, ein bestimmtes Schicksal auch dann „ungerecht" zu nennen, wenn man das Schicksal damit weder zum quasi-personalen Akteur vermenschlichen noch irgend jemanden zum Ausgleich dieses Schicksals verpflichten will. Einige Ethiker bezweifeln, ob Gleichheit und Gerechtigkeit als nicht-moralische Werte (und nicht nur als moralische Prinzipien) aufgefasst werden können (z.B. Frankena 1972, 61). Dabei scheint jedoch auch eine gewisse Sprachabhängigkeit mitzuspielen. Das englische „justice" ist sehr viel eindeutiger mit menschlichem Handeln assoziiert als das deutsche „Gerechtigkeit", da „justice" u. a. auch die Respektierung von Rechten bedeutet. Da man jedoch kaum sagen kann, dass das Schicksal oder die Natur „Rechte" verletzt, wenn es A früher
6.1 Dimensionen nicht-moralischer Werte
249
sterben lässt als B, wird man in diesen Fällen kaum von „injustice" sprechen wollen. Aber warum soll eine gleichmäßigere Verteilung von Vorteilen und Lasten nur dann wertzuschätzen zu sein, wenn sie - wie bei sozialen Gütern wie Einkommen, Macht oder Status - gänzlich oder weitgehend von menschlichen Entscheidungen abhängt, und nicht auch bei weitgehend naturgegebenen Gütern wie Vitalität und physische Attraktivität? Falls eine gleichmäßigere Verteilung von Vorteilen und Lasten (bzw. eine gerechtere Verteilung im Sinne einer größeren Proportionalität zwischen Lebensschicksal und Verdienst) wünschenswert ist, scheint es willkürlich, die Beurteilung auf Fälle menschlicher Beteiligung zu beschränken.32 Bedarf es überhaupt eines eigenständigen axiologischen Gleichheitsprinzips innerhalb einer universalistischen Axiologie? Ist nicht die Tatsache, dass eine universalistische Axiologie bestimmte Eigenschaften „ohne Ansehn der Person" (und, so können wir hinzufügen, ohne Ansehn von Ort und Zeit) als intrinsische Werte auszeichnet, für sich genommen hinreichend, eine gewisse Gleichverteilung des intrinsisch Wertvollen zu gewährleisten? Dies ist offenkundig nicht der Fall. Erstens können die als intrinsisch wertvoll postulierten Eigenschaften de facto so ungleich verteilt und diese Verteilung so wenig durch moralische Anstrengungen beeinflussbar sein, dass auch heroische Bemühungen an der Ungleichheit der Verteilung nichts Wesentliches ändern können. Dies gilt in naheliegender Weise für perfektionistische Axiologien, die bestimmte Vollkommenheiten als intrinsisch wertvoll postulieren. Zweitens können 32 Auch in der Praxis des Strafrechts wird vielfach bei der Strafzumessung die „natürliche Bestrafung" berücksichtigt, die ein Straftäter zwar infolge seiner Straftat, aber doch letztlich aufgrund natürlicher Faktoren erfährt. So bleibt eine Mutter, die ihr Kind fahrlässig getötet hat und daran schwer zu tragen hat, vielfach von Strafe verschont, mit dem Argument, sie sei durch den Verlust ihres Kinds bereits „genug gestraft". Dem Verlangen nach Gerechtigkeit ist in diesem Fall also bereits durch den Zustand des gerechten Ausgleichs, nicht erst durch die Handlung des Ausgleichens Genüge getan.
250
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
die Ressourcen zur Verwirklichung des intrinsischen Werts so begrenzt (und so wenig teilbar) sein, dass es nur wenigen vergönnt ist, den intrinsisch guten Zustand zu erreichen (etwa bei knappen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten). Auch wenn die begrenzte Ressource „ohne Ansehn der Person" verteilt wird, profitieren möglicherweise nur sehr wenige. Abgesehen von diesen spezifischen Fällen gibt es aber einen viel elementareren Grund, aus dem auch eine universalistische Axiologie nicht in jedem Fall die Gleichverteilung des intrinsisch Guten anstreben muss, nämlich die aggregative Natur des von ihr anerkannten intrinsischen Werts. Solange die Axiologie nicht Gleichheit als eigenständigen strukturellen Wert anerkennt, ist für eine Axiologie, die ausschließlich aggregative Werte kennt, die Verteilung des Werts in einer Gesamtheit von Individuen grundsätzlich gleichgültig. Auch eine universalistische Axiologie, die Benthams Devise „everyone to count for one and nobody for more than one" beherzigt, wird, solange sie Gleichheit nicht als eigenständigen strukturellen Wert anerkennt, von mehreren möglichen Güterverteilungen die Verteilung mit der insgesamt größeren Summe des verwirklichten Werts vorziehen, gleichgültig, wie sich dieser Wert auf die einzelnen Individuen verteilt. Zur Illustration ein schematisches Beispiel. Es seien die folgenden vier Verteilungen eines in irgendeiner Weise quantifizierbaren intrinsischen Guts auf vier Personen A, B, C, D gegeben: A
B
C
D
Verteilung 1:
5
l
l
l
Verteilung 2 :
6
1
1
1
Verteilung 3 :
2
2
2
2
Verteilung 4 :
1
1
1
1
6.2 Subjektivistische versus objektivistische Axiologien
251
Eine rein aggregative Axiologie wird die Verteilungen l und 3 ceteris paribus als gleich gut bewerten, da sie dieselbe Summe aufweisen. Sie wird jedoch die Verteilung 2 vorziehen, da hier trotz größerer Ungleichheit ein höheres Maß an Wertverwirklichung gegeben ist. Eine rein strukturelle Axiologie wird die Verteilungen 3 und 4 als gleich gut einschätzen, da sie bei ihrer Bewertung ausschließlich das Verteilungsmuster und nicht das Ausmaß der Wertverwirklichung berücksichtigt. Eine gemischt aggregativ-strukturelle Axiologie wird dagegen - je nach Gewichtung ihrer Kriterien - entweder die Verteilung 2 oder die Verteilung 3 vorziehen.
6.2 Subjektivistische versus objektivistische Axiologien „Subjektivismus" und „Objektivismus" sind - wie überall in der Philosophie - auch in der Ethik verwirrend vieldeutige Termini. Im Zusammenhang mit Axiologien lässt sich das Begriffspaar in mindestens drei grundverschiedenen Bedeutungen verstehen. In der ersten Bedeutung eines metaethischen Objektivismus und Subjektivismus bezieht sich die Unterscheidung auf die Wertquelle, also auf die Frage „Woher kommt einer Eigenschaft ein bestimmter Wert zu"? Die Antwort des metaethischen Subjektivisten auf diese Frage lautet, dass die Wertquelle im Bewertenden liegt, die Antwort des metaethischen Objektivisten, dass sie im Bewerteten selbst liegt. Für den Subjektivisten wird der Wert der Schönheit zwar an dem Schönen geschätzt, dieser Wert hat aber seine Quelle nicht im Schönen selbst, sondern „im Auge des Betrachters". Für den Objektivisten dagegen wird der Wert der Schönheit nicht nur im Schönen selbst wahrgenommen, er ist dem Bewertenden auch durch die Schönheit vorgegeben. Das Urteil über den Wert der
252
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
Schönheit reagiert mit seiner Wertschätzung auf einen im Schönen selbst liegenden Wert.33 In der zweiten Bedeutung eines axiologischen Objektivismus und Subjektivismus betrifft die Unterscheidung zwischen Subjektivismus und Objektivismus die Lokalisierung des von einer Axiologie postulierten intrinsischen Werts. Der axiologische Subjektivismus behauptet, dass ausschließlich subjektive Zustände bewusstseinsfähiger Wesen (Menschen und höhere Tiere) intrinsisch wertvoll sind, während die entsprechende Variante des axiologischen Objektivismus behauptet, dass es zumindest einen intrinsischen Wert gibt, der nicht der Wert eines subjektiven Zustands ist. Axiologien, die strukturelle Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit anerkennen, sind notwendig objektivistisch in diesem Sinn, aber nicht alle aggregativen Axiologien sind subjektivistisch. Auch aggregative Axiologien können objektive Werte wie Wahrheit, Schönheit und Harmonie (statt lediglich deren subjektive Gegenstücke Erkenntnisfreude, ästhetischer Genuß und Harmoniegefühl) anerkennen. Innerhalb der subjektivistischen Axiologie in diesem letzteren Sinn kann man eine weitere Unterscheidung treffen, die man erneut mit den Termini „Subjektivismus" und „Objektivismus" fassen kann, nämlich nach der Instanz, die darüber entscheidet, ob bzw. in welchem Maße die intrinsische Werteigenschaft vorliegt. In diesem dritten Sinn eines Wertungssubjektivismus bezieht sich „subjektiv" in „Subjektivismus" weder auf die Quelle noch auf die Lokalisierung des intrinsischen Werts, sondern auf das Ausmaß, in dem das Subjekt selbst aus seiner eigenen Perspektive darüber befinden kann und muss, welcher Wert seinen inneren Zuständen zukommt. Der Subjektivist in diesem dritten Sinn behauptet also nicht nur, dass ausschließlich subjektive Zustände bewusstseinsfähiger Wesen intrinsisch gut sind, sondern dass darüber hinaus der Wert die33 Statt von Wertohjektivismus spricht man bei dieser Auffassung auch von Wertrealismus.
6.3 Der Hedonismus
253
ser Zustände ausschließlich davon abhängt, wie das jeweilige Individuum diese Zustände bewertet. Die Variante des axiologischen Objektivismus in diesem dritten Sinne würde dann besagen, dass es zumindest einen Wert gibt, der zwar der Wert eines subjektiven Bewusstseins ist, dessen Ausmaß aber nicht ausschließlich davon abhängt, wie das jeweilige Subjekt diesen Bewusstseinszustand bewertet, sondern u. a. auch davon, wie andere diesen Bewusstseinszustand bewerten. Nur diese letzte Variante des axiologischen Subjektivismus gibt dem Subjekt selbst eine ausschlaggebende Rolle bei der Beurteilung des intrinsischen Werts seiner Zustände. Nach dieser Variante kann sich das Subjekt über den intrinsischen Wert seiner subjektiven Zustände nicht täuschen. Auf der Liste der Werte, die der axiologische Subjektivist in diesem Sinne anerkennt, rangieren deshalb auch Wohlbefinden und Zufriedenheit ganz oben. Denn bei der Einschätzung von Wohlbefinden und Zufriedenheit ist das Individuum in seinen Bewertungen mehr oder weniger souverän. In der Liste des Objektivisten in diesem (dritten) Sinne rangieren dagegen Werte wie Erfülltheit (eines Lebens) und - zumindest den Standarddefinitionen nach - Lebensqualität. Bei der Bewertung dieser Qualitäten ist das Individuum nur begrenzt souverän. Wie erfüllt ein Leben ist und welche Lebensqualität es aufweist, hängt nicht nur von den Bewertungen des Subjekts selbst ab, sondern auch von den Bewertungen seines sozialen Umfelds. Auch wenn diese Werte im Bereich des inneren Erlebens lokalisiert sind, liegt die Bewertung nicht gänzlich in der Hand des erlebenden Subjekts.
6.3 Der Hedonismus Der Hedonismus ist die historisch wichtigste Variante einer Axiologie, die intrinsischen Wert ausschließlich im subjektiven Erleben lokalisiert. Für den Hedonismus ist Lust, pleasure, Glück oder Wohlbefinden das einzige Gut. Der Ausdruck
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6. Theorien des nicht-moralisch Guten
„Lust" (gr. hedone) führt dabei leicht in die Irre, da er nahelegt, dass es dem Hedonisten vorrangig um körperliche oder sinnliche Lust geht. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Intrinsisch wertvoll ist für den Hedonisten Wohlbefinden, ein positiv getönter Empfindungszustand, gleichgültig, ob sich dieser aus körperlichen oder geistigen Quellen speist. Zwar unterscheiden sich die Hedonisten in ihren Meinungen darüber, welche Bedingungen diesem Wohlbefinden am förderlichsten sind (eine der häufigsten Auskünfte unter philosophischen Axiologen lautet: Philosophieren), ebenso wie in ihren Meinungen darüber, wer für die Sorge um die Verwirklichung dieses Werts primär zuständig ist (nach Meinung der antiken Hedonisten primär das Individuum, nach Meinung der modernen Sozialstaatstheoretiker primär die Gesellschaft). Aber insgesamt überwiegen doch die Gemeinsamkeiten. Kennzeichen der ethischen Hedonisten aller Zeitalter ist die große Bedeutung, die der Selbstbeherrschung und der rationalen Lebensplanung zugeschrieben wird. Das Ideal des axiologischen Hedonismus ist nicht der im Augenblick lebende Genussmensch oder der „von der Lust Überwältigte" (Platon), sondern der sein Leben bewusst gestaltende, die langfristigen Folgen abwägende und seine Impulse gezielt disziplinierende Lust-Bourgeois. Wie es dem rationalen Egoismus nicht um den Vorteil des Augenblicks, sondern um das „wohlverstandene", d. h. langfristig und quasi „nachhaltige" Eigeninteresse geht, geht es auch dem Hedonisten nicht um die Lust des Augenblicks, sondern um eine die gesamte erwartete Lebenszeit umspannende Glücksbilanz. Hedonismus hat also mehr mit Rationalität zu tun, als es das übliche Verständnis wahrhaben will. Nicht nur müssen die lust- und unlustvollen Folgen jedes einzelnen Lustgewinns kalkuliert werden, die Praxis des konsequenten Hedonisten erfordert auch den einen oder anderen entsagungsvollen Verzicht. Diese rationalen Elemente des Hedonismus sind insbesondere von Platon in seinem Dialog Protagoras, aber auch in den
6.3 Der Hedonismus
255
wenigen von Epikur überlieferten Schriften nachdrücklich hervorgehobenen worden. Perfektioniert wurde dieser Rationalismus aber erst mit Benthams Idee eines „Glückskalküls" und den daran anknüpfenden. Optimierungskalkülen der Wohlfahrtsökonomik - allerdings nicht mehr primär auf individueller, sondern auf gesellschaftlicher Basis. Auch bei Bentham übernimmt die rationale Berechnung von Lust und Unlust eine Schlüsselrolle. Bentham stellt sogar eine Liste von Faktoren auf, nach denen sich der Wert von Lust und Unlust gewissermaßen „messen" lassen soll (Bentham 1948, 30 f.): Intensität Dauer Gewissheit/Ungewissheit Nähe/Ferne Folgenträchtigkeit (Wahrscheinlichkeit, dass auf Lust Lust und auf Unlust Unlust folgt) Reinheit (Wahrscheinlichkeit, dass auf eine Lust keine Unlust folgt) Ausmaß (Zahl der Lust oder Unlust erfahrenen Personen)
Solche und andere Bemühungen um eine „Rationalisierung" von Glück können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass einer wissenschaftlich exakten Messung und rationalen Planung von Lust oder Glück enge Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen liegen zum großen Teil in der Sache selbst. Nicht nur ist schwer vorstellbar, dass eine durchgängig kalkulierende Einstellung gegenüber dem eigenen Glück der Erfahrung von Glück förderlich ist. Glück ist auch ein besonders sensibles Gut dadurch, dass es sich anders als andere Güter nicht direkt ansteuern und erreichen lässt. Man wird in der Regel nicht dadurch glücklich, dass man glücklich zu sein bestrebt ist. Dieses „Glücksparadox" ist seinerseits begründet in zwei eng miteinander verwandten Umständen: Erstens gehört es zum Glück, als Widerfahrnis und nicht als Leistung erlebt zu werden, Glück ist kein aktives Tun, sondern ein passives Empfangen.
256
6. Theorien des nicht-moralisch Guten
Ähnlich wie die meisten Gefühle kann Glück nicht direkt zum Gegenstand von Absichten gemacht werden.34 Zweitens ist Glück nicht leicht abzulösen von Glücksgütern, d. h. von Tätigkeiten, Erfahrungen und Weltzuständen, die als beglückend empfunden werden. Nur selten wird Glück als Zustand - etwa als Stimmung - erlebt, der nicht oder nur entfernt von der Realisierung anderweitiger Güter abhängt. Im allgemeinen ist die Realisierung von Glück an die Realisierung anderer Werte gebunden. Glück ist insofern ein unselbständiger Wert: Wie der Glanz auf einem Juwel lässt er sich nicht von den Glücksgütern ablösen, deren subjektiver Widerschein er ist. Das Paradoxe an der Glückslehre der Stoiker besteht genau darin, dass sie dieser ersten Eigentümlichkeit des Glücks nicht gerecht wurden und Glück als etwas im Prinzip Machbares auffassten. Nach der stoischen Glückstheorie ist Glück der Lohn der Tugend, und Tugend ist etwas, das im Prinzip jeder erfolgreich erstreben kann. Damit werden alle kontingenten Elemente aus dem Glück eliminiert und jeder zu seines Glückes Schmied gemacht. Glück wird produzierbar durch gute Gesinnungen und moralische Festigkeit. Wer nicht glücklich ist, ist es selber schuld. Denn die einzigen Übel, die das Glück gefährden können, kommen nicht von außen, sondern von innen. Nicht Krankheit, soziale Isolierung, Verlust des guten Rufs bedrohen das Glück, sondern lediglich die Schwäche, sich diesen Übeln zu beugen, statt sich ihnen entgegenzustellen und seine Würde gegen sie zu behaupten. Diese Schwäche ist im Prinzip durch eigene Willensanstrengung überwindbar. Obwohl Glück in der Regel von den Glücksgütern, an denen es haftet, nicht abgelöst werden kann, gelten diese Glücksgüter selbst dem Hedonisten lediglich als extrinsische Werte. Aus axiologischer Sicht sind sie im Prinzip ersetzbar, denn der Wert des Glücks hängt für den Hedonisten nicht von den Quellen 34 Darin kann man die sachliche Brücke zwischen „Glück" als luck und „Glück" als happiness sehen.
6.3 Der Hedonismus
257
ab, aus denen sich das Glück im Einzelfall speist. Die meisten Hedonisten sind allerdings einen Schritt weiter gegangen und haben darüber hinaus psychologische Theorien über die geeigneten oder optimalen Quellen des Glücks, also „Glücksrezepte" entwickelt, die aus heutiger Sicht durchweg den Makel aufweisen, übermäßig dogmatisch zu sein und die Vielfalt der Wege zum Glück zu unterschätzen. Viele historische Glückslehren35 verfehlen den relationalen Charakter von Glück und Unglück und die Relativität der Glücksgüter in Bezug auf die jeweilige Persönlichkeitsstruktur. Empfehlenswert sind die „Rezepte" zum Glück oft nur für Menschen, die dem jeweiligen Autor von ihren Persönlichkeit her ähnlich sind. Die Menschen von radikal anderer Struktur offenstehenden Glücksmöglichkeiten werden dagegen oft für nicht weiter beachtlich gehalten. Da insbesondere Philosophen zu den Glückslehrern gehören, weisen fast alle philosophischen Glückslehren Einseitigkeiten zugunsten intellektueller Tätigkeiten und Ziele auf. Sie sind vielfach so elitär, dass sie die Glückschancen einfacher strukturierter Menschen eklatant unterschätzen. Es ist fraglich, ob es eine allgemeine und schlechthin verbindliche inhaltliche Glückstheorie geben kann. Welche äußeren und inneren Glücksgüter einen Menschen glücklich machen, hängt u. a. davon ab, was für ein Mensch er ist und was ihm wichtig ist. Denn Glücksgüter machen nur dann und nur insoweit glücklich, als dem Subjekt an ihnen gelegen ist. Nicht jedem ist jedoch an den von den Glückslehrern empfohlenen Glücksgütern im gleichen Maße gelegen. Woran ihm gelegen ist, hängt vielmehr u. a. von seinem Charakter, seiner Erziehung und seinen Lebenserfahrungen ab. Negative Glücksgütertbeorien, die die Abwesenheit von Unruhe und Leidenschaft (Epikur) oder das Freisein von physischem und psychischem Leiden (Schopenhauer) nicht nur 35 Vgl. das in dieser Hinsicht aufschlussreiche Buch von Wolf Schneider 1981.
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6. Theorien des nicht-moralisch Guten
zur notwendigen, sondern auch zur hinreichenden Bedingung von Glück machen, werden denjenigen kaum überzeugen, der von diesen Störungen weitgehend verschont geblieben ist und der sich u. a. deshalb möglicherweise herzlich langweilt. Ihm fehlt nichts zum Glück als die Emotionen, die Epikur aus dem glücklichen Leben verbannt wissen wollte. Aber fraglich ist bereits, ob die Abwesenheit der von diesen Theorien genannten negativen Güter auch nur eine notwendige Bedingung von Glück ist. Die Erfahrung zeigt, dass das etwa von Schopenhauer für schlechthin maßgeblich gehaltene Glücksgut Gesundheit nicht in allen Fällen notwendig ist. Im Zuge eines erfolgreichen coping-Prozesses können sich die Bedürfnisse und Erwartungen eines chronisch Kranken vielfach so nahtlos an seine objektiven Lebensbedingungen anpassen, dass es ihm subjektiv besser geht als im gesunden Zustand. Ähnliches gilt für positive Glückstheorien, die neben der Abwesenheit von Leiden bestimmte Arten von erfüllenden Erfahrungen als Glücksbedingungen postulieren. Sie sind vielfach mit dem Dilemma konfrontiert, dass sie, je spezifischer sie sind, desto weniger der Erfahrung standhalten und allenfalls Tendenzen angeben können. So kann es als unbestritten gelten, dass wesentliche Glücksbedingungen durch die bekannte, auf Abraham Maslow (1943) zurückgehende Hierarchie der Grundbedürfnisse angegeben werden: - Deckung des physiologischen Grundbedarfs, Stillung von Hunger und Durst - Sicherheit, Sicherheit der Versorgung, Freiheit von Bedrohung, Geborgenheit - Zugehörigkeit, soziale Integration, persönliche Beziehungen, Sexualität - Anerkennung, Selbstachtung - Freiheit, Entfaltungschancen - Sinn, Einordnung des eigenen Handelns in übergreifende Zusammenhänge
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Aber keine dieser Bedingungen scheint im einzelnen als schlechthin notwendig oder hinreichend gelten zu können. Abgesehen von der ersten Bedingung ist ein glückliches Leben bzw. glückliche Lebensphasen ohne alle oder die meisten dieser Bedingungen zwar wenig wahrscheinlich, aber in Einzelfällen durchaus vorstellbar. Das gilt insbesondere für die von Philosophen verständlicherweise oft in den Vordergrund gestellte Komponente der Sinnerfüllung durch Einordnung des eigenen Lebens und der eigenen Lebensleistungen in einen übergreifenden, über die zeitlichen Grenzen des eigenen Lebens hinausreichenden Zusammenhang. Diese Bedingung scheint übertrieben anspruchsvoll. Menschen, die sich keinen nennenswerten Beitrag zur Erhaltung und Förderung von Kultur, Wissenschaft und Naturerhalt oder zum technischen und politischen Fortschritt zurechnen können, dürften nicht wesentlich geringere Chancen haben, glücklich zu werden. Zweifellos ist es eine Bedingung von Glück, Ziele außerhalb des eigenen Wohlbefindens zu verfolgen, die man für hinreichend lohnend hält, um seine Energien darauf zu verwenden, und die hinreichend realistisch sind, um Aussicht auf ihre Erreichung zu gewähren. Soviel folgt bereits aus dem „Glücksparadox". Aber das heißt nicht, dass diese Ziele von der weitreichenden Art sein müssen, die diese Theorien nahelegen.
6.3.1 Subjektivistische Kritik am Hedonismus: Bewertungssouveränität des Subjekts Der Hedonismus ist in zwei gegensätzlichen Richtungen mit Kritik bedacht und als unzulänglich verworfen worden. Der ersten Kritikrichtung zufolge ist er übermäßig subjektivistisch. Er lasse keinen Raum für objektive Güter außerhalb des Bewusstseins des individuellen Subjekts. Der anderen Kritik zufolge ist er nicht subjektivistisch genug. Er lasse dem Subjekt
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zu wenig Raum für sein höchstpersönliches Urteil darüber, ob und aus welchen Gründen es mit seinem Leben zufrieden oder unzufrieden ist. Diese letztere Kritik kommt vor allem von subjektivistischen Konzeptionen im dritten oben unterschiedenen Sinn, die der Bewertungssouveränität des Subjekts einen größeren Spielraum lassen, als ihn der Hedonismus gewähren kann. Der Fehler des Hedonismus besteht nach diesen Ansätzen darin, dass er Wohlbefinden als einen sensorischen inneren Zustand auffasst, der von dem Individuum als angenehm erlebt wird, ansonsten aber gänzlich unabhängig von den kognitiven Überzeugungen und Einstellungen des Individuums sein soll. Dagegen setzt der radikal-subjektivistische Ansatz (wie er genannt werden kann) die These, dass Wohlbefinden weniger von dem sensorischen Zustand abhängt, in dem sich ein Individuum befindet, als davon, wie das Individuum seinen wie immer gearteten inneren Zustand bewertet. Entscheidend für Wohlbefinden ist die auf den inneren Zustand gerichtete Bewertung und nicht die Art dieses Zustands selbst. Nach dieser - insbesondere von Haslett (1990) und Sumner (1996)36 - vertretenen - Auffassung hat Wohlbefinden eine reflexive Struktur: Nicht der fühlt sich wohl, der angenehme Empfindungen hat, sondern der mit seinem inneren Befinden zufrieden ist, wie immer dieses im einzelnen beschaffen sein mag. Dieses Zufriedensein ist dabei keine Empfindung, sondern eine beurteilende Einstellung. Auch sind nicht nur Empfindungen Gegenstand der reflexiven Bewertung, sondern alle 36 Sumner (1996,156 ff.) hat dieses Modell allerdings um eine Authentizitätsbedingung ergänzt, die bereits einen Schritt über die Theorie Hasletts hinaus bedeutet. Danach soll ein vom Subjekt als Wohlbefinden bewerteter subjektiver Zustand nur dann berücksichtigungswürdig sein, wenn diese Bewertung nicht unauthentisch in dem Sinne ist, dass sie durch äußere Faktoren (wie Indoktrinierung und Gehirnwäsche) bewirkt oder ermöglicht ist, durch die die Autonomie des Subjekts in der Wahl von Lebensoptionen nachhaltig zerstört wird.
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inneren Zustände, Akte und Dispositionen, einschließlich Gedanken, Emotionen und Einstellungen. Diese Konzeption vermag zweifellos besser als der Hedonismus der Tatsache gerecht zu werden, dass in der Regel positiv bewertete Empfindungen (wie körperliche Lustempfindungen) gelegentlich auch als Störung empfunden werden und dann das Wohlbefinden mindern statt steigern. Andererseits können in der Regel negativ bewertete Empfindungen (wie körperliche Schmerzen) gelegentlich auch positiv bewertet werden, z. B. wenn man etwas zu büßen hat. Ein weiterer Vorzug dieser Konzeption besteht darin, dass sie Wohlbefinden in stärkerem Maße von kognitiven Faktoren wie Deutungen und Erwartungen sowie vom Anspruchsniveau des betreffenden Subjekts abhängig macht. Wohlbefinden ist nicht nur eine Sache des Fühlens, sondern auch des Wissens bzw. des Fürwahrhaltens. Lustvolle oder unlustvolle Empfindungen können einen Menschen unterschiedlich stark glücklich oder unglücklich machen, je nachdem, wie sie interpretiert werden: als sinnvoll oder sinnlos, als vorübergehend oder chronisch, als Anzeichen von Besserung oder von Verschlechterung eines Zustands. Eine Konsequenz dieser Konzeption ist eine ausgeprägte Relativierung des Wohlbefindens auf je individuelle Deutungen, Erwartungen, Bedürfnisorientierungen und Ansprüche und indirekt auf die Persönlichkeitsstruktur. Wie gut es jemandem subjektiv geht, ist nicht mehr unabhängig davon, wie er seine sensorischen Zustände interpretiert und welche Erwartungen er an sein inneres Erleben stellt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich jemand als glücklich bezeichnen wird, der keine oder nur sehr wenige positive Gefühlszustände erlebt, kommt es doch nicht nur auf die Zahl und Intensität dieser positiven Gefühlszustände an (und noch weniger darauf, ob zu diesen auch ausgesprochen ekstatische gehören), sondern darauf, ob er sein Gefühlsleben auf dem Hintergrund seiner höchstpersönlichen Wertmaßstäbe als befriedigend erlebt.
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Diese Maßstäbe sind jedoch variabel. Wir können uns - mit Camus - selbst einen (hinreichend gelassenen) Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Als Lebensweisheit für den eigenen Gebrauch ist die radikal-subjektivistische Axiologie insbesondere für eingefleischte Pessimisten anziehend, da sie die Chancen auf ein wenn nicht gutes, so doch zufriedenes Leben von den äußeren Bedingungen abkoppelt, ohne der stoischen Versuchung zu erliegen, die kontingenten Elemente des Glücks gänzlich zu leugnen. Insbesondere bei Schopenhauer findet sich denn auch eine besonders plastische Formulierung dieser Konzeption: Die Zufriedenheit eines Jeden... beruht nicht auf einer absoluten, sondern auf einer bloß relativen Größe, nämlich auf dem Verhältniß zwischen seinen Ansprüchen und seinem Besitz; daher dieser Letztere, für sich allein betrachtet, so bedeutungsleer ist, wie der Zähler eines Bruches ohne den Nenner.... Jeder hat einen eigenen Horizont des für ihn möglicherweise Erreichbaren: so weit wie dieser gehen seine Ansprüche.... Daß nach verlorenem Reichthum oder Wohlstande, sobald der erste Schmerz überstanden ist, unsere habituelle Stimmung nicht sehr verschieden von der früheren ausfällt, kommt daher, daß, nachdem das Schicksal den Faktor unseres Besitzes verkleinert hat, wir selbst nun den Faktor unserer Ansprüche gleich sehr vermindern. Diese Operation aber ist das eigentlich Schmerzhafte, bei einem Unglücksfall: nachdem sie vollzogen ist, wird der Schmerz immer weniger, zuletzt gar nicht mehr gefühlt: die Wunde vernarbt. Umgekehrt wird bei einem Glücksfall der Kompressor unserer Ansprüche hinaufgeschoben, und sie dehnen sich aus: Hierin liegt die Freude. Aber auch sie dauert nicht länger, als bis diese Operation gänzlich vollzogen ist: wir gewöhnen uns an das erweiterte Maaß der Ansprüche und werden gegen den demselben entsprechenden Besitz gleichgültig. (Schopenhauer 1988, Bd. 5, 367 f.) Als sozialethische Axiologie hat dieselbe Konzeption allerdings unter Sozialreformern sehr viel weniger Anklang gefunden, da sie leicht zum Erlahmen reformerischer Anstrengungen führt.
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Denn wenn Wohlbefinden weniger von den Verhältnissen als davon abhängt, wie gut die Bedürfnisse der Menschen den Verhältnissen angepasst sind, müssen Reformbestrebungen vielfach darauf hinauslaufen, die Menschen unzufriedener zu machen, als sie es andernfalls wären, und durch die Weckung übertriebener Erwartungen zusätzliche Frustrationen zu riskieren.
6.3.2 Objektivistische Kritik am Hedonismus: Glücksgütertheorien Glücksgütertheorien lassen sich so charakterisieren, dass sie die Glücksgüter, die die axiologischen Subjektivisten als kontingente Voraussetzungen und Bedingungen von Glück und Wohlbefinden auffassen, als eigenständige Werte postulieren. Anders als für die Subjektivisten sind für sie Glücksgüter keine bloß extrinsischen, sondern intrinsische Werte. Zentrale Glücksgüter wie Gesundheit, Sicherheit, Zugehörigkeit und Selbstachtung sind für sie nicht nur kontingente Bedingungen und Indizien für ein gutes Leben, sondern machen dieses gute Leben selbst aus. Sie begründen nicht nur eine Vermutung dafür, dass derjenige, der über sie verfügt, ein gutes Leben hat, sondern belegen dies schlüssig. Eine klassische Variante der Glücksgütertheorie ist die Theorie der Eudaimonie bei Aristoteles. Allerdings muss man bei Aristoteles eher von zwei verschiedenen als von einer einheitlichen Eudaimonietheorie sprechen. Diese Theorien stehen in Aristoteles' Nikomacbischer Ethik weitgehend unverbunden nebeneinander. Die erste Form der Eudaimonie ist dann erreicht, wenn sämtliche Anteile des Menschen, einschließlich seiner vegetativen (pflanzlichen) und beseelten (tierischen) ihre vollständigste und vollendetste Betätigung finden. Am vollkommensten ist sie in der vita activa realisiert, der öffentlichen Tätigkeit des Politikers für das Gemeinwohl. Die zweite Form der Eudaimonie ist dann erreicht, wenn nicht der gesamte
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Mensch, sondern lediglich derjenige Anteil, der den Menschen als Menschen auszeichnet, die Vernunft, ungehindert und frei tätig ist. Ihre höchste Ausprägung ist die vita contemplative, das Leben des Philosophen. Dass es sich bei Aristoteles' Axiologie um eine objektivistische Glücksgütertheorie und insofern nicht mehr um eine „Glücks"-Lehre im modernen Sinne handelt, zeigt sich vor allem in den Bedingungen, die nach Aristoteles erfüllt sein müssen, um jemanden den Besitz von Eudaimonie zuzuschreiben. Diese Bedingungen sind zumindest teilweise objektiver Natur und beruhen mehr auf gesellschaftlichen Zuschreibungen als auf individuellen Bewusstseinszuständen oder Bewertungen. So kann nach Aristoteles etwa kein Einzelgänger der Eudaimonie teilhaftig werden. Eudaimonie erfordert notwendig gesellschaftlichen Umgang. Auch muss der im aristotelischen Sinn Glückliche gesund sein, gut aussehen und mit Kindern gesegnet sein. Dass sich Aristoteles' Eudaimonie nicht in subjektiven Bewusstseinszuständen erschöpft, ergibt sich bereits daraus, dass bei der politischen wie bei der philosophischen Eudaimonie die zentralen Komponenten Aktivitäten und nicht innere Zustände sind. Eudaimonie erwächst aus Handeln, nicht aus Fühlen. Lust stellt sich zwar bei „unbehinderter Tätigkeit" ein, ist aber weder das Ziel, um dessentwillen die Tätigkeit ausgeführt wird, noch dasjenige, was diese Tätigkeiten für den Menschen wertvoll macht. Glücksgütertheorien sind in der Ethik der letzten Jahre zum Teil unter unmittelbarer Anknüpfung an Aristoteles' Eudaimonie-Konzeption entwickelt worden, etwa von James Griffin (1986), Amartya Sen (vgl. Sen 1993) und Martha Nussbaum (vgl. Nussbaum 1993). Die Konzeption Nussbaums ist dabei die am weitesten ausgearbeitete und detaillierteste. Gerade deshalb ist sie am stärksten der Kritik ausgesetzt gewesen, insbesondere von Vertretern außereuropäischer Gesellschaften, die die in ihren Gesellschaften anerkannten gesellschaftlichen
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Grundgüter in Nussbaums Liste nur unzureichend repräsentiert sehen. Im Gegensatz zu Aristoteles und zu Sen, deren Axiologie primär menschlichen Tätigkeiten (functionings) intrinsischen Wert zuspricht, stehen bei Nussbaum die diesen Tätigkeiten entsprechenden Fähigkeiten (capabilities) im Vordergrund. Während es Aristoteles darauf ankam, dass physische, seelische und geistige Fähigkeiten nicht nur besessen, sondern auch ausgeübt werden, ist für Nussbaum bereits die Verfügung über diese Fähigkeiten ein intrinsischer Wert. Ein Leben kann danach im Prinzip auch dann als gut oder gelungen gelten, wenn das Individuum die entsprechenden Fähigkeiten zwar besitzt, es aber an Gelegenheit fehlt, diese Fähigkeiten zu betätigen. Allerdings zeigt eine Durchsicht der verschiedenen Listen von intrinsisch wertvollen capabilities, die Nussbaum in den letzten Jahren entwickelt hat, dass zu den von ihr als Grundgüter ausgezeichneten „Fähigkeiten" neben eigentlichen Fähigkeiten u. a. auch eine Reihe von tatsächlich gemachten Erfahrungen und ausgeübten Tätigkeiten gehören, die lediglich verbal als „Fähigkeiten" beschrieben werden. Andernfalls wäre kaum ersichtlich, warum etwa die bloße Fähigkeit, „angemessen ernährt zu sein" oder „lustvolle Erlebnisse zu haben" einen intrinsischen Wert besitzen sollte. Was wären diese Fähigkeiten wert, wenn es nicht tatsächlich etwas zu essen und zu genießen gäbe? Die folgende Beispiel einer Liste von capabilities vermag vielleicht einen Eindruck davon zu geben, wie eine moderne Glücksgütertheorie aussehen kann, die Allgemeingültigkeit anstrebt und deshalb sowohl ohne umstrittene metaphysische oder anthropologische Voraussetzungen als auch ohne Vorentscheidungen zugunsten bestimmter kulturspezifischer Werte auszukommen versucht (vgl. Nussbaum 1993, 339 f.): 1. Fähig zu sein, bis zum Ende eines vollständigen menschlichen Lebens leben zu können, soweit, wie es möglich ist;
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nicht frühzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so vermindert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. Fähig zu sein, bei guter Gesundheit zu sein; angemessen ernährt zu sein; angemessene Unterkunft zu haben; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung zu haben; fähig zur Ortsveränderung zu sein. Fähig zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erlebnisse zu haben. Fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen; fähig zu sein, zu phantasieren, zu denken und zu schlußfolgern. Fähig zu sein, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu unterhalten; diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um uns kümmern; über ihre Abwesenheit zu trauern; in einem allgemeinen Sinne lieben und trauern sowie Sehnsucht und Dankbarkeit empfinden zu können. Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen. Fähig zu sein, für und mit anderen leben zu können, Interesse für andere Menschen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen familiärer und gesellschaftlicher Interaktion einzulassen. Fähig zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben. Fähig zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen. Fähig zu sein, das eigene Leben und nicht das von irgend jemand anderem zu leben. Fähig zu sein, das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt und in seinem eigenen Kontext zu leben.
6.4 Andere objektivistische Axiologien
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6.4 Andere objektivistische Axiologien Glücksgütertheorien bilden innerhalb der objektivistischen Axiologien eine besondere Kategorie. Sie stehen in einem engen Bezug zu subjektivistischen Theorien des guten Lebens und begnügen sich vielfach damit, diese in eine objektivistische Konzeption zu „übersetzen". Auch wenn für sie Glücksgüter und nicht Glückserfahrungen im Mittelpunkt der Axiologie stehen, sind die Glücksgüter doch stets über den Begriff des Glücks definiert und fallen mehr oder weniger mit den von den Subjektivisten mehrheitlich anerkannten extrinsischen Glücksbedingungen zusammen. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich die von Glücksgütertheorien postulierten Werte durchgängig, wenn auch vielfach indirekt, auf mögliches menschliches Erleben und Handeln beziehen. Viele objektivistische Axiologen gehen jedoch weiter und postulieren intrinsische Werte jenseits der Sphäre möglichen bewussten Erlebens. Wie wir in Abschnitt 5.3.4 gesehen haben, muss bereits die Axiologie des Präferenz Militarismus diesem Typus zugerechnet werden. Wenn die Erfüllung von Wünschen oder Präferenzen als solche einen intrinsischen Wert hat, dann muss auch die Erfüllung von Wünschen einen intrinsischen Wert haben, die sich auf eine Zukunft richten, in denen diese nicht nur nicht von dem wünschenden Subjekt, sondern auch von keinem ändern Subjekt erlebt wird. Deshalb kann die Axiologie des Präferenzutilitarismus nicht mehr im eigentlichen Sinne als Glückstheorie gelten. Kein Vermächtnisgeber kann dadurch glücklicher werden, dass seine Erben seine Vermächtnisse erfüllen. Glücklicher kann er allenfalls durch den Gedanken werden, dass er auf die Erfüllung seiner Vermächtnisse vertrauen kann. In der Regel erheben objektivistische Axiologen allerdings auch gar nicht den Anspruch, mit den von ihnen postulierten Werten lediglich bestimmte Ausdeutungen von Wohlbefinden, Glück, Nutzen oder Lebensqualität zu liefern. Sie gehen viel-
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mehr gerade umgekehrt davon aus, dass sich der Gehalt weit verbreiteter Wertintuitionen nur dann angemessen erfassen lässt, wenn man über Werte im Umkreis menschlichen Erlebens hinausgeht. Einer der wichtigsten und zumal in den durch monotheistische Religionen geprägten Kulturen als vorrangig betrachteter Wert ist das menschliche Leben.
6.4.1 Menschliches Leben als intrinsischer Wert Menschliches Leben gilt in subjektivistischen Axiologien lediglich als extrinsischer Wert. Sein Wert liegt darin, dass das Leben eine notwendige Bedingung subjektiver Zustande ist. Das Tötungsverbot ist deshalb für den konsequenzialistischen Subjektivisten lediglich extrinsisch - und das heißt: indirekt - begründet. Nicht das Leben ist der zentrale Wert, sondern subjektive Werte wie Angstfreiheit, Freiheit von Todesfurcht und Vermeidung von Verlust und Verlustängsten, die entweder das Leben oder eine gesicherte Aussicht auf Weiterleben zur Voraussetzung haben. Eine objektivistische Axiologie dagegen kann das menschliche Leben auch als solches und unabhängig davon, ob es faktisch die Voraussetzung für ein wie immer geartetes Erleben ist, als intrinsischen Wert postulieren. Dieser intrinsische Wert ist womöglich auch dann zu realisieren oder aufrechtzuerhalten, wenn die Realisierung oder Aufrechterhaltung für das menschliche Erleben keinen Unterschied macht (wie etwa im Zustand irreversibler Bewusstlosigkeit), oder - je nachdem, wie der intrinsische Wert des Lebens gegenüber dem intrinsischen Wert des Erlebens gewichtet wird -, wenn ein Weiterleben für das Erleben einen Unterschied zum Schlechteren macht. Axiologien, die Leben als intrinsischen Wert annehmen, werden nicht nur im Kontext des Tötungsverbots relevant, sondern insbesondere in den Grenzbereichen der Lebenserhaltungspflicht wie Abtreibung, Embryonenschutz und Auf-
6.4 Andere objektivistische Axiologien
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rechterhaltung der Lebensfunktionen bei irreversibler Bewusstlosigkeit. Der Vertreter einer objektivistischen Axiologie wird hier in der Regel zu anderen Bewertungen kommen als der Vertreter eines axiologischen Subjektivismus, denn es geht um den Schutz bzw. die aktive Aufrechterhaltung menschlichen Lebens unter Bedingungen, unter denen aus der Nichterhaltung oder der aktiven Beendigung des Lebens in der Regel keine subjektive Betroffenheit erwächst. Allerdings wird auch der Subjektivist in diesen Fällen gewisse Bedenken geltend machen. Diese richten sich allerdings im wesentlichen auf die indirekten und symbolischen Effekte der Vernichtung oder Nichterhaltung menschlichen Lebens, insbesondere auf diejenigen, die sich durch eine allzu großzügige Praxis der verbrauchenden Forschung an Embryonen, der Abtreibung oder des Behandlungsabbruchs bei Aussichtslosigkeit auf Wiederkehr subjektiven Erlebens in ihren eigenen Lebensaussichten bedroht fühlen. Dass das menschliche Leben ein intrinsisches Gut ist, kann in zweierlei Sinn verstanden werden, einmal bezogen auf ein gegebenes Leben, das andere Mal bezogen auf die Menge des insgesamt realisierten menschlichen Lebens. Diese Varianten lassen sich in den folgenden Aussagen zusammenfassen: 1. Für ein gegebenes menschliches Leben ist es ceteris paribus besser, wenn es länger dauert als kürzer. 2. Eine Welt mit mehr Menschenleben ist ceteris paribus besser als eine Welt mit weniger Menschenleben. Die erste Position ist vor allem in der jüdisch-christlichen Tradition verankert und hat seit dem Mittelalter zu einem strengen, wenn auch nicht ausnahmslosen Verbot der Selbsttötung geführt, das erst seit der Zeit der Aufklärung in Frage gestellt wird. Danach gilt eine Verkürzung eines andernfalls längeren Lebens auch dann als Übel, wenn dadurch anderweitige Übel - etwa ein schwerer Leidenszustand - vermieden werden. Im einzelnen hängt es allerdings von der relativen Gewichtung
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der Werte Leben und Lebensqualität ab, wieweit eine Axiologie, die menschliches Leben als intrinsischen Wert sieht, Verkürzungen der Lebenszeit zugunsten der Lebensqualität als bonum statt als malum beurteilt. Während die Lebensaxiologie in der ersten Form auf breite Zustimmung stößt, dürfte die zweite Variante von vielen abgelehnt werden. Nur wenige dürften der These Albert Schweitzers37 zustimmen, dass wir, wenn menschliches Leben als ein intrinsisches Gut anerkannt wird, nicht nur verpflichtet sind, Leben zu erhalten, sondern auch Sorge dafür zu tragen, dass soviel wie möglich davon existiert. Allerdings weisen, was die synchrone und die diachrone Verwirklichung dieses Werts betrifft, die Intuitionen oft in eine entgegengesetzte Richtung: Es scheint nicht besonders wünschenswert, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt so viele Menschen wie möglich leben. Vielen erscheint es jedoch durchaus wünschenswert, dass die Menschheit als Gattung so lange wie möglich „durchhält".38 Andernfalls wäre nichts Erschreckendes oder Bedauernswertes an der Vorstellung, dass die Menschheit morgen oder übermorgen durch eine unvorhersehbare schnellwirkende Pandemic vom Erdboden verschwindet und eine Fülle von Leben und Erleben, aber kein spezifisch menschliches Leben und Erleben zurücklässt.
37 Ein bezeichnendes Zitat: „... daß dies die Wahrheit ist: daß möglichst viel Menschen leben auf der Welt: daß es einen Weltzweck gibt, der will, daß möglichst viele Menschen das Dasein erleben, und daß wir uns ihm beugen und jedes neue Menschendasein als etwas Wertvolles für die Welt ansehen, als etwas das sein soll." (Schweitzer 1986, 60) 38 Zu den möglichen Gründen, ein Ende der Menschheit zu bedauern, vgl. Birnbacher2001,367ff.
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6.4.2 Erkenntniswerte Neben dem Wert des menschlichen Lebens steht in den meisten philosophischen Axiologien ein weiterer erlebensunabhängiger Wert im Vordergrund, der Wert von Wahrheit, Erkenntnis und Realitätsnähe, jeweils verstanden als eine Korrespondenz von Denken und Sein. Während es für den axiologischen Subjektivismus gleichgültig ist, ob ein als wertvoll ausgezeichnetes subjektives Erlebtes einer wie immer gearteten erlebensunabhängigen Realität entspricht, ist die Entsprechung von Meinung und Realität für eine objektivistische Axiologie womöglich von so durchschlagender Bedeutung, dass sie der auf Illusionen basierenden Ekstase gar keinen und dem realistischen, aber sehr viel kargeren Glück der Nüchternheit allen Wert zumisst. Natürlich wird auch der axiologische Subjektivist vor wahnhaftem Glück und hysterischen Ängsten warnen - aber doch letztlich nur, weil sie durch die Erfahrung enttäuscht und als verfehlt erwiesen werden können. So wird er auch die gemeinhin vertretene negative Bewertung von Betrug, Täuschung und Verrat interpretieren, von denen der Betrogene, Getäuschte und Verratene nichts weiß und die ihn deshalb nicht subjektiv tangieren: Da Lügen kurze Beine haben, ist es vorsorglich besser, sie von vornherein negativ zu bewerten, auch wenn sie nach subjektivistischer Auffassung lediglich extrinsisch schlecht sind. Unbegründete metaphysische Überzeugungen und Glaubenshaltungen andererseits, die durch die Erfahrung nicht so leicht enttäuscht werden können, wird er nicht mit derselben Entschiedenheit kritisieren wollen, solange diese für das Individuum von eminenter subjektiver Bedeutung sind und möglicherweise sogar die Bedingung dafür sind, dass es zu irgendwelchen weiteren positiven Erfahrungen fähig ist. Nietzsches Vermutung, dass wir möglicherweise der Täuschung und Selbsttäuschung bedürfen, um unser Leben bewältigen zu können (Nietzsche 1966, Bd. 3, 844) ist für den axiologischen Subjektivisten eher
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ein Grund, Ideologien und Glaubenslehren auf- statt abzuwerten. Eine klassisch gewordene Formulierung einer Axiologie, die subjektivistisch-hedonistische mit objektivistischen Erkenntniswerten verbindet, ist die von Platon im Dialog Philebos dargelegte Konzeption des „gemischten Lebens". Platon stützt seine Argumentation dabei auf die Beobachtung, dass viele Arten von Lustgewinn nicht schlicht aus sensorischen Zuständen wie sinnlichem Behagen bezogen werden, sondern an bestimmte Überzeugungen geknüpft sind, die wahr oder falsch, begründet oder unbegründet, realistisch oder illusorisch sein können. Wir freuen uns zumeist nicht nur deshalb, weil wir uns in einem freudigen Zustand befinden, sondern wir freuen uns darüber, dass p, wobei p einen Sachverhalt bezeichnet, der bestehen oder nicht bestehen kann. Platon zufolge ist der Wert einer Freude eine Funktion sowohl ihrer subjektiven Intensität als auch ihrer objektiven Berechtigung. „Wahre" Freuden sind nur diejenigen, die auch insofern „wahr" sind, als sie keine irrtümlichen Meinungen enthalten oder voraussetzen. Die unter Bedingungen des Traums, des Wahns, des Rausches und des Irrtums genossene Lust ist „falsche Lust" und insofern auch wertmäßig minderwertig. Reine Lust ohne Erkenntnis wird - in karikierender Absicht - mit dem Dasein von „Muschel und Qualle" -, reine Erkenntnis ohne Lust mit der völligen Empfindungslosigkeit (wir würden sagen: des Computers) verglichen und verspottet (Philebos 21cff.). Beide Extreme sind falsch. Das nach Platon richtige Leben ist das, das an beidem gleichermaßen teilhat. Der Subjektivist wird sich durch das objektivistische Insistieren auf Wahrheit allerdings nur wenig beeindrucken lassen. Er wird dem Objektivisten zustimmen, dass der Wert subjektiven Erlebens nicht nur davon abhängt, was wir fühlen, sondern auch davon, was wir glauben und wissen. Aber er wird dazu neigen, dieses Wissen zu relativieren: Für den Wert unseres Erlebens ist relevant, was wir zu wissen glauben, nicht, was
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wir tatsächlich wissen. Der „Reiz der Realität" (Gesang 2000 b, 393) ist der Reiz dessen, was wir für Realität halten, nicht dessen, was wirklich real ist. Wer in einer „Erlebnismaschine" (Nozick o. J., 52) oder im Drogenrausch Lust empfindet, wird diese Lust in der Tat anders wahrnehmen als die Lust, die ein fundamentum in re hat, so wie wir ja auch reales Vogelgezwitscher anders erfahren als das von einem „mutwilligen Burschen" nachgeahmte (Kant 1902ff., Bd. 5, 302) und der angehende Pilot in einem Flugsimulator ceteris parihus weniger Angst verspüren wird als in einem realen Flugzeug. Lust oder Unlust aus realen und imaginären Quellen werden daher auch für den Subjektivisten nur selten gleichwertig sein. Aber entscheidend dafür ist nicht ihre „Wahrheit" im Sinne einer Korrespondenz mit einer erlebnisunabhängigen Realität, sondern ihre Normalität, also ihre Einbettung in einen vertrauten und eingespielten Kontext. Die Unterscheidung zwischen „natürlicher" und „künstlicher" Lust ist für ihn nicht viel mehr als eine Konvention. Ob die „normale" Lust am Schönen in irgendeiner Weise einer erlebnisunabhängigen Realität entspricht, ist aus seiner Sicht zweifelhaft, aber auch letztlich unerheblich.
6.4.3 Kosmische und Naturwerte Bei dem Wert des menschlichen Lebens und der Erkenntnis handelt es sich ebenso wie bei den strukturellen Werten Gleichheit und Gerechtigkeit um Werte, die ausschließlich im Bereich des Menschen angesiedelt sind und gerade deshalb in der platonisch-christlichen Tradition der Ethik bis in unsere Tage hinein im Vordergrund stehen. Zu den bemerkenswertesten Innovationen der seit der „ökologischen Krise" der siebziger Jahre intensiv diskutierten ökologischen oder Naturethik gehört eine Renaissance objektivistischer Axiologien nichtöder sogar anti-anthropozentrischer Art, die man vielleicht am besten mit dem Begriff „ökozentrische Werte" kennzeichnet.
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Ökozentrische Werte betreffen einerseits die Existenz und Integrität der Natur und bestimmter Naturbestandteile, andererseits bestimmte Qualitäten dieser Naturbestandteile oder auch die Vielfalt und Komplexität der Natur als ganzer. Bemerkenswert an dieser Renaissance ist die nahezu „ökologische" Vielfalt der im Rahmen der neuen Naturethik entwickelten objektivistischen Axiologien. Da es nicht leicht ist, einen Überblick zu gewinnen, sind die wichtigsten Strömungen in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Geordnet sind die verschiedenen Positionen nach den Dimensionen Reichweite und Wertkategorie: ^^Wertkatego^\ rie:
Existenz- und Integritätswerte
Qualitätswerte
strukturelle (holistische) Werte
pathozentrisch
tierisches Leben, Ursprünglichkeit
„inherent value" von höheren Tieren (Tom Regan)
Vielfalt tierischer Arten
biozentrisch
pflanzliches Leben, Unberührtheit, Wildheit
Fähigkeit, das jeweilige Lebens-Telos zu erreichen (Paul W Taylor)
Biodiversität, Integrität von Ökotopen
physiozentrisch
Ursprünglichkeit von Landschaften
Naturschönheit, Erhabenheitswerte
Gleichgewicht von Ökosystemen
Erhabenheitswerte
Harmonie, Ordnung, Symmetrie
Reichweite:\^
kosmisch
6.4 Andere objektivistische Axiologien
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Die Dimension „Wertkategorie" bezieht sich auf die Träger des jeweils zugeschriebenen Werts. Dies sind einmal die Existenz und Integrität natürlicher Systeme, bestimmte ihrer Qualitäten oder bestimmte Ganzheiten zugeschriebene strukturelle Werte. Nach der Reichweite der Axiologie unterscheidet man pathozentrische Ansätze, die objektive Werte nur im Bereich der Tiere, biozentrische, die objektive Werte im gesamten Bereich der lebendigen Natur und physiozentrische, die objektive Werte im Bereich auch der nicht-lebenden Naturbestandteile postulieren. Kosmische Werte, wie sie in der traditionellen Metaphysik angenommen werden, beziehen sich nicht nur auf die uns „nächstliegende" Natur im Sinne der Biosphäre, sondern auf das gesamte Universum.39 Die Vielfalt der Axiologien, die im Rahmen der Naturethik entwickelt worden sind, erklärt sich u. a. aus der Vielfalt der normativen Theorien und Engagements, denen diese Axiologien als Fundament dienen. Grundlage vieler Tierschutz- und vegetaristischer Positionen ist eine objektivistisch-pathozentrische Axiologie, die nicht nur - in der subjektivistischen Tradition Schopenhauers und des Utilitarismus - tierisches Leiden, sondern auch eine Lebensverkürzung bei Tieren (bzw. das Nichterreichen des Erwachsenenalters) als Unwert postuliert und damit ein entsprechendes Tötungsverbot begründet (vgl. Wolf 1993). Viele Naturschutzpositionen setzen eine biozentrische oder physiozentrische Axiologie voraus, die den Wert des Lebendigen entweder bei individuellen Pflanzen und Tieren (wie bei Paul W. Taylor 1986) oder zusätzlich bei natürlichen Ganzheiten (wie bei Aldo Leopold 1949) lokalisiert. Die Mehrzahl der Axiologien sind allerdings so angelegt, dass sie mehrere Wertkategorien miteinander kombinieren und keine so absolut privilegieren, dass Wertabwägungen im Konfliktfall 39 Dieserart Werte sind in der jüngeren Diskussion insbesondere von Nicholas Rescher unter dem Namen „ethische Werte" rehabilitiert worden (vgl. Rescher 1997,181 ff.)
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ausgeschlossen sind. Der Biozentriker Attfield etwa übernimmt die traditionelle Abstufung des Lebendigen in Menschen, Tiere und Pflanzen und ordnet ihnen axiologisch eine jeweils unterschiedliche moralische „Signifikanz" zu, allerdings ohne zugleich eine entsprechende Wertabstufung vorzunehmen (vgl. Attfield 1997, 128). Eine derartige Abstufung dürfte alltagsmoralischen Wertungen näher kommen als ein strenger Wertegalitarismus. Dennoch ist fraglich, ob die in der zeitgenössischen Naturethik dominierenden biozentrischen Ansätze dem moralischen Alltagsdenken und der unbefangenen Naturerfahrung so weit entgegenkommen, wie sie es beanspruchen. Die größere Nähe zu Alltagswertungen dürften die physiozentrischen Ansätze aufweisen, die nicht nur die lebendigen, sondern auch die nicht-lebendigen Bestandteile der Natur als Träger intrinsischen objektiven Werts gelten lassen. Es ist nicht abwegig, das Matterhorn für eine eindrucksvollere Gestaltung der Natur zu halten als irgendein Bakterium. Selbst Albert Schweitzer, der Extremist unter den Biozentrikern, kommt der physiozentrischen Position gelegentlich nahe, etwa wenn er Respekt auch vor dem „Kristall" fordert und nicht nur das im biologischen Sinne Lebendige, sondern „alles Sein" von dem „unendlichen, unergründlichen, vorwärtsstrebenden Willen" durchdrungen sieht, von dem sich die Ehrfurcht vor dem Leben ergreifen lassen soll (vgl. Schweitzer 1960, 302f.). Es versteht sich, dass alle in der obigen Tabelle aufgeführten Werte nicht nur im Rahmen einer objektivistischen Axiologie, sondern auch im Rahmen einer subjektivistischen Axiologie anerkannt werden können, wenn auch nur als „inhärente Werte" (Frankena 1979, 13), die nur soweit als wertvoll gelten, als sie von einem für sie empfänglichen menschlichen oder tierischen Bewusstsein erfahren werden. Als inhärente Werte sind Werte wie Naturschönheit oder Biodiversität gebunden an ein Bewusstsein, das für sie empfänglich ist, und entlehnen ihren Wert dem den jeweiligen Bewusstseinszuständen zugeschriebenen Wert. Aus subjektivistischer Sicht sind inhärente Werte
6.4 Andere objektivistische Axiologien
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insofern extrinsische Werte. Sie wären keine Werte, wäre nicht ihre Erfahrung intrinsisch wertvoll. Von „instrumentellen" Werten wie dem Wert der Natur als Ressource unterscheiden sich diese Wert nur dadurch, dass die Erfahrung dieser Werte so strukturiert ist, dass die Werte jeweils den Gegenständen selbst zugeschrieben werden. Auch wenn die Schönheit letztlich im Auge des Betrachters liegt, wird sie doch dem als schön erlebten Waldstück selbst zugeschrieben, während der instrumenteile Wert desselben Naturbestandteils, etwa der Wert des darin enthaltenen Holzes, nicht diesem selbst, sondern seiner Nutzung zugeschrieben wird. Dagegen schreibt der axiologische Objektivist ökozentrische Werte den natürlichen Systemen und ihren Komponenten selbst zu, d. h. unabhängig davon, ob oder wieweit sie zum Gegenstand eines bewussten Erlebens werden oder werden können: Ein Waldstück hat auch dann einen Existenz- oder ästhetischen Wert, wenn es niemanden gibt oder geben kann, der es zu Gesicht bekommt und diesen Wert in sein Erleben aufnimmt. Dabei ist es wiederum wichtig, zwischen den verschiedenen Bedeutungen von „Objektivismus" und „Subjektivismus" (s. Abschnitt 6.2) zu unterscheiden. Der axiologiscbe Objektivist ist nicht zwangsläufig auch ein metaethischer Objektivist. Er glaubt nicht notwendig an die Existenz oder auch nur an die Möglichkeit von Werten, die den Dingen selbst innewohnen und jeder Wertzuschreibung vorgegeben sind. Auch der axiologische Biozentriker oder Physiozentriker kann der Auffassung sein, dass Werte grundsätzlich Resultate von Wertzuschreibungen sind, und dass es ungereimt ist, Werte ohne bewertendes Subjekt anzunehmen. Auch die Vertreter kosmischer Werte sind nur in wenigen Fällen davon ausgegangen, dass die von ihnen postulierten Werte wahrhaft immanent sind und ohne ein metaphysisches Subjekt Gott bestehen können.
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6. Theorien des nicht-moralisch Guten
Axiologischer und metaethischer Objektivismus in der Naturethik Welcher Status kommt dem Wert einer intakten Natur oder der Biodiversität zu? Unterschiedliche Antworten: (1) Der metaethische Objektivist: Der Wert liegt in der Natur selbst. Er ist dem Menschen vorgegeben. (2) Der metaethische Subjektivist: Der Wert liegt „im Auge des Betrachters". Es gäbe ihn nicht, gäbe es kein bewertendes Subjekt. (3) Der axiologische Objektivist: Die Intaktheit der Natur ist ein intrinsischer Wert. Er ist unabhängig davon, dass sich die Intaktheit der Natur positiv auf das Erleben des Menschen auswirkt. (4) Der axiologische Subjektivist: Die Intaktheit der Natur ist ein extrinsischer Wert. Er ist abhängig davon, dass sich die Intaktheit der Natur positiv auf das Erleben des Menschen auswirkt. Es ist nicht widersprüchlich, Position (2) und Position (3) - wie etwa der Natur-Ethiker Callicott (vgl. Callicott 1989) - gleichzeitig zu vertreten.
7. Moralische Motivation und moralischer Wert 7.1 Moralischer versus nicht-moralischer Wert Anders als nicht-moralische Werturteile haben moralische Werturteile nicht Sachen und Sachverhalte zum Gegenstand, sondern Motive, Absichten, Einstellungen und Charakterzüge von Personen. Anders als nicht-moralische Werturteile beurteilen sie diese nicht danach, wie weit sie wünschenswert oder erstrebenswert sind, sondern wie weit sie sich moralisch bewährt haben oder Aussichten darauf begründen, sich bei passender Gelegenheit moralisch zu bewähren. Aus mehreren Gründen wird die Unterscheidung zwischen nicht-moralischem (axiologischem) und moralischem Wert nicht immer mit der erforderlichen Sorgfalt getroffen. Einer der Gründe ist die Tatsache, dass wir für nicht-moralische und moralische Bewertungen vielfach dieselben sprachlichen Ausdrücke benutzen. „Gut" etwa kann sich in „gutes Leben" sowohl darauf beziehen, dass ein Leben gut im Sinne von befriedigend, erfüllt oder vom Glück begünstigt ist, aber auch darauf, dass es eine hohe moralische Qualität besitzt oder in moralischer Hinsicht vorbildlich ist. Ein anderer Grund liegt darin, dass historisch wirkungsmächtige Philosophien es geradewegs darauf angelegt haben, die Unterscheidung zwischen moralischem und nicht-moralischem Wert zu relativieren oder sogar gänzlich zu nivellieren. Zu diesen gehören insbesondere die Philosophie Platons und der Stoa. Beide haben Argumente dafür vorgetragen, dass das moralisch Gute (die Tugend) nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend ist, ein Leben zu einem glücklichen und damit zu einem im nicht-moralischen Sinn guten Leben zu machen. Platon argumentiert in seinem Dialog Gorgias für die paradoxe These, Unrechttun sei „schlechter" als Unrechtleiden,
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
und als Übeltäter bestraft zu werden, sei „besser" denn als Übeltäter der gerechten Strafe zu entgehen. Mit einer Reihe virtuoser Sophismen werden sprachliche Ausdrücke wie „schön" oder „hässlich", die auch im Griechischen gleichermaßen für moralische und nicht-moralische Bewertungen verwendet werden, einmal im moralischen, ein andermal im nichtmoralischen Sinn interpretiert und beide Interpretation so durcheinandergewirbelt, dass der verdutzte Gesprächspartner des Sokrates am Ende nicht anders als zugestehen kann, dass es in der Tat „besser" im Sinne von angenehmer zu sein scheint, Unrecht zu leiden statt Unrecht zu tun, und in demselben Sinne besser, sich als Übeltäter bestrafen zu lassen als sich der Strafe zu entziehen (Platon, Gorgias, 469b-480c). Als vermittelnde Vorstellung dient Platon dabei eine „hygienische", d. h. gesundheitsbezogene Konzeption des moralisch Guten und Schlechten: Es ist für die Seele „gesünder" und insofern besser, kein Unrecht zu tun und sich im Fall des Unrechttuns bestrafen zu lassen, als Unrecht zu tun und sich der Strafe für Unrecht zu entziehen. Freilich wird dabei der ontologische Status der gesunden und kranken Seele im unklaren gelassen. Wird mit „Seele" ein metaphysisches Subjekt „hinter" dem empirischen Subjekt verstanden, muss sich die Gesundheit oder Krankheit der so verstandenen Seele nicht zwangsläufig als ein entsprechendes Wohl- oder Unwohlsein im empirischen Bewusstsein manifestieren. Eine „Krankheit" der metaphysischen Seele wäre mit dem Wohlaufsein der empirischen Seele durchaus vereinbar. Platon würde also nicht zeigen können, dass sich Übeltun für den Übeltäter nicht auszahlt. Beträfe die „Krankheit" andererseits die empirische Seele, das subjektive Befinden, wäre die Schlussfolgerung von vornherein unannehmbar, da die Erfahrung zeigt, dass es schlechten Menschen nicht zwangsläufig schlecht und guten Menschen nicht zwangsläufig gut geht. Auch die Stoiker haben moralische Tugend und gutes Leben einander anzunähern versucht. Das gute Leben im Sinne des
7.2 Eigentliche und uneigentliche moralische Motive
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moralisch richtigen, anständigen, würdigen Lebens soll nicht nur im moralischen, sondern auch im axiologischen Sinn das beste sein. Tugend und Glück werden dabei nicht nur als kausal, sondern als begrifflich miteinander verknüpft gedacht. Tugend soll nicht nur der Königsweg zum guten Leben sein, sondern mit dem Glück unmittelbar zusammenfallen. Die Identifikation von Tugend und Glück ist, nüchtern betrachtet, weitgehend Moralromantik und Ausdruck eines gelegentlich auch bei Philosophen anzutreffenden Wunschdenkens. Die Motive dafür liegen auf der Hand: Erstens die nicht nur für Philosophen, sondern für mehr oder weniger alle Menschen geltende, von dem Sozialpsychologen Melvin J. Lerner (1970) so genannte just world hypothesis, die viele unserer spontanen Reaktionen leitende Vermutung, dass es in der Welt im Grundsatz gerecht zugeht, oder, falls es in ihr evidentermaßen ungerecht zugeht, dass es eine andere Welt gibt, in der die irdische Ungerechtigkeit durch himmlische Gerechtigkeit ausgeglichen wird. Zweitens das Bedürfnis des Moralisten, den Adressaten der Moral nicht nur moralischen, sondern auch nicht-moralischen Lohn aus dem Moralisch-Sein versprechen zu können. Ein moralischer Lebenswandel lässt sich um so eher empfehlen, je überzeugender dafür argumentiert werden kann, dass sich Moral nicht nur in guten Werken, sondern auch in guten Erfahrungen auszahlt.
7.2 Eigentliche und uneigentliche moralische Motive Was genau sind die Gegenstände moralischer Werturteile? Moralische Werturteile werden vielfach ebenso wie moralische Richtigkeitsurteile auf Handlungen bezogen, aber genau genommen sind es nicht die Handlungen selbst, sondern die hinter ihnen stehenden und sich in ihnen ausdrückenden Motive, Einstellungen und Charakterzüge, die moralisch bewertet werden. Moralische Werturteile richten sich primär auf die Dispo-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
sitionen, die sich in Handlungen manifestieren, d. h. auf Neigungen, Haltungen und Bereitschaften. Das zeigt sich u. a. daran, dass jemand auch bereits dann zum Gegenstand moralischer Werturteile werden kann, wenn er bestimmte Meinungen, Gesinnungen oder hypothetische Absichten äußert, ohne diese in irgendeiner Weise in die Tat umzusetzen. Ob jemand ein guter oder schlechter, tugendhafter oder lasterhafter Mensch ist, kann sich auch in anderen Formen als den Handlungen manifestieren, um derentwillen gute Motive gut und schlechte Motive schlecht sind. Denn es ist klar, dass die Bewertung des moralischen Werts von Handlungsmotiven entscheidend von der Bewertung der moralischen Richtigkeit der Handlungen abhängt, zu denen diese Motive in der Regel führen. Tugend beweist sich in der Regel in moralisch richtigen Handlungen, Laster in der Regel in moralisch falschen, auch wenn das Tun des moralisch Richtigen nicht hinreicht, um auf moralisch wertvolle Motive, und das Tun des Falschen nicht hinreicht, um auf moralisch bedenkliche Motive zu schließen. Damit bleibt offen, welcher genaue Zusammenhang zwischen moralisch wertvollen Motiven und moralisch richtigen Handlungen besteht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Differenzierungen erforderlich sind: Motive, Einstellungen und Charakterzüge können in sehr verschiedener Weise den Zwecken der Moral zuträglich oder abträglich sein. Mindestens drei Arten von moralrelevanten Motiven müssen unterschieden werden: 1. Motive, das moralisch Richtige um seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun, also moralisch zu handeln, weil es moralisch ist, so zu handeln, 2. Motive, die in der Regel zu moralisch richtigem Handeln motivieren, ohne Motive der ersten Art zu sein, 3. Motive, die in Verbindung mit Motiven der ersten oder zweiten Art moralisch richtiges Handeln unterstützen, ohne für sich genommen zu moralischem Handeln zu motivieren.
7.2 Eigentliche und uneigentliche moralische Motive
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Motive der ersten Art kann man eigentliche moralische Motive nennen, da allein sie auf das moralisch Richtige um seiner selbst zielen. Aber von Motiven im Plural zu sprechen ist hier wenig adäquat. Auch wenn diese Motive unter vielen Namen firmieren, etwa Moralität, Gewissenhaftigkeit, Prinzipientreue, Gerechtigkeitssinn, gibt es im Grunde genommen nur ein einziges solches Motiv, nämlich den Wunsch, das zu tun, was man für moralisch richtig hält. Innerhalb der Moralphilosophie Kants, die die Existenz eines objektiv geltenden „Sittengesetzes" annimmt, wird dies Motiv „Achtung" genannt, nämlich Achtung vor diesem Gesetz. Was dieses Motiv vor anderen Motiven auszeichnet ist, dass es den Gedanken an die moralische Richtigkeit des Handelns, zu dem es motiviert, ausdrücklich enthält. Es motiviert zu bestimmten Handlungen im Namen der Moral und in keinem anderen Namen. Dabei ist der Inhalt dieser Moral ebenso gleichgültig wie ihre realen oder vermeintlichen Quellen. Die „Moral", auf die sich eigentliche moralische Motive richten, kann je nach Moralkonzeption als vorgegeben gedachtes „Sittengesetz" aufgefasst werden, aber auch als gesellschaftliche Übereinkunft oder individueller Lebensentwurf. Motive der zweiten Art können uneigentliche moralische Motive genannt werden, da sie zwar in der Regel zu moralischem Verhalten motivieren, aber nicht auf das spezifisch Moralische, sondern auf andere Merkmale des jeweiligen Verhaltens zielen. Hierzu gehören so geläufige Motiv- und Tugendbegriffe wie Mitleid, Nächstenliebe, Gemeinsinn, Solidarität, Milde, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft. Diese - typischerweise altruistischen - Dispositionen gelten, auch wenn sie nicht unmittelbar auf das Rechtmäßige oder Moralische als solches zielen, als Tugenden im moralischen Sinn, weil sie sich im allgemeinen ebenso auswirken wie eigentliche moralische Motive. Viele Moralphilosophien kennen ausschließlich uneigentliche moralische Motive. So zeichnet Hume die allgemeine Menschenliebe als moralische Tugend aus, Schopenhauer das Mitleid.
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
Uneigentliche moralische Motive mit universaler Reichweite wie Menschen- oder Nächstenliebe lassen sich am besten als Erweiterungen von Bezieh ttngstugenden verstehen. Beziehungstugenden sind als Motivkomplexe tragend für die Aufrechterhaltung und Pflege von Beziehungen und im Unterschied zu vielen uneigentlichen moralischen Motiven von lediglich partikulärer Reichweite. Das unterscheidet etwa Liebe und Freundschaft von einer uneigentlichen moralischen Tugend wie Hilfsbereitschaft. Wer die Tugend der Hilfsbereitschaft besitzt, neigt dazu, im Bedarfsfall hilfsbereit gegen jedermann zu sein, während die typischen Tugenden der Freundschaft wie Treue, Loyalität und Solidarität lediglich dazu disponieren, loyal gegenüber den Freunden zu sein. Deshalb sind Beziehungstugenden nur unter bestimmten einschränkenden Bedingungen auch moralisch tugendhaft, nämlich wenn sie nicht dazu führen, dass universelle Tugenden zu kurz kommen, wie etwa bei Nepotismus bei der Vergabe von Positionen oder bei Chauvinismus bei der diskriminierenden Behandlung von Ausländern. Noch eingeschränkter ist die moralische Relevanz der Motive dritter Art. Sie sind nur dann moraldienlich, wenn sie mit Motiven der ersten oder zweiten Art zusammengehen. Hierzu gehören Motive wie Leistungsbereitschaft, Mut, Pünktlichkeit, Beharrlichkeit, Klugheit und Selbstständigkeit, Tugenden, die gemeinhin als Sekundärtugenden bezeichnet werden. Zu den entsprechenden Untugenden gehören Faulheit, Schlampigkeit, Unzuverlässigkeit und Treulosigkeit. Für Sekundärtugenden ist charakteristisch, dass sie dem Subjekt bei der Verfolgung seiner Zwecke ganz allgemein nützlich sind und aus diesem Grund auch bei der Verfolgung seiner moralischen Zwecke. Sie garantieren von sich aus nicht die Moralität dieser Zwecke. Insofern stehen Sekundärtugenden zwischen Tugenden und bloßen Tüchtigkeiten. Sie sind keine reinen Tüchtigkeiten im Sinne von Fähigkeiten, da sie in einem gewissen Maße willentlich steuerbar sind. Sekundärtu-
7.3 Moralischer Wert und moralisches Handeln
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genden sind zumindest in einem gewissen Maße Sache des Willens, während Fähigkeiten dies in der Regel nicht sind. Man kann dem Schlampigen vorwerfen, schlampig zu sein, während man dem Unmusikalischen nicht vorwerfen kann, unmusikalisch zu sein. Man kann auch demjenigen Mutlosigkeit oder mangelnde Tatkraft vorwerfen, der von seiner natürlichen Wesensart her zu Ängstlichkeit und Passivität neigt. Die Grenze zwischen Tüchtigkeiten und Sekundärtugenden ist allerdings im einzelnen nicht immer eindeutig.
7.3 Moralischer Wert und moralisches Handeln Oben ist gesagt worden, dass moralische Werturteile primär Motive, Einstellungen und Charakterzüge zum Gegenstand haben und erst sekundär die Handlungen, in denen sich diese äußern. Das heißt u. a., dass moralisch richtiges Handeln im Einzelfall nicht hinreichend ist, die betreffende Person als moralisch gut zu qualifizieren. Die Frage, ob jemand nicht nur das moralisch Richtige tut, sondern darüber hinaus auch moralisch gut ist, lässt sich erst nach Inspektion ihrer Motive entscheiden. Ergibt diese Inspektion, dass die Person von Motiven geleitet ist, die lediglich unter den besonderen Bedingungen der Situation zu moralisch richtigem Verhalten, im allgemeinen jedoch eher zu moralisch falschem oder moralisch bedenklichem Handeln führen, erscheint es verfehlt, der Person moralischen Wert zuzuschreiben. Während moralische Richtigkeit durchaus auch einzelnen Handlungen zugeschrieben werden kann, ist für die Zuschreibung moralischen Werts („gute Gesinnungen", „Moralität", „Gewissenhaftigkeit") im allgemeinen mehr als die Kenntnis isolierter Einzelhandlungen erforderlich. Tugenden und Untugenden sind typischerweise keine Augenblicks-, sondern längerfristige Dispositionen. Allerdings können nicht nur in Einzelfällen, sondern auch über längere Zeiträume die Urteile über die moralische Rieh-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
tigkeit von Handlungen und die Urteile über die Moralität von Akteuren getrennte Wege gehen. Denn moralisch richtiges Handeln ist faktisch in hohem Maße von Motiven geleitet, die keinen Anspruch auf besonderen moralischen Wert erheben können, insbesondere von Konformismus, Angst vor Außenseitertum, Furcht vor rechtlichen Sanktionen und anderen Formen einer Orientierung an sozialen Belohnungen und Bestrafungen. Wer lediglich aus Angst vor juridischen Sanktionen das moralisch Falsche unterlässt, ist nicht besonders tugendhaft. Wer sich in einer Gesellschaft mit gut verankerten moralischen Normen und weitreichender sozialer Kontrolle anständig verhält, braucht keine besondere Moralität, konformistische Motive reichen völlig aus. Er verhält sich untadelig und tut das moralisch Richtige, weil er weiß, dass er allein so auf Zuwendung und Anerkennung rechnen kann. Wenn er sich moralisch verhält, dann aus extrinsischen und nicht aus intrinsischen Motiven. In einer weniger sittenstrengen und weniger kontrollierenden Gesellschaft würde er sich weniger moralisch verhalten. Nach dem Moralpsychologen Lawrence Kohlberg sind die moralrelevanten Motive der meisten Menschen konformistischer Natur. Auf seiner insgesamt sieben Stufen umfassenden Skala der moralischen Urteilskompetenz (vgl. die Tabelle auf Seite 287) wären sie deshalb auf den „konventionalistischen" Stufen 3 und 4, zwischen Orientierungen an der unmittelbaren oder mittelbaren Befriedigung eigener Bedürfnisse (Stufen 0 bis 3) und den eigentlichen moralischen Orientierungen (Stufen 5 und 6) zu situieren (vgl. Kohlberg/Turiel 1978, 18 f.). „Popular sanctions", wie sie Bentham genannt hat (Bentham 1948,25), sorgen dafür, dass sich die Moralität der Motive nicht unmittelbar aus der moralischen Richtigkeit von Handlungen ablesen lässt und dass auch ein ausgeprägter motivationaler Egoismus mit moralisch richtigem Verhalten bestens vereinbar ist, solange der Egoist u. a. den Wunsch hat, von negativen sozialen Sanktionen verschont zu bleiben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Sanktionen tatsächlich bestehen oder der
7.3 Moralischer Wert und moralisches Handeln
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0. Vormoralische Stufe (Was Spaß macht und spannend ist, ist gut, was mit Schmerz oder Angst verbunden ist, ist böse) 1. Orientierung an Strafe und Gehorsam 2. Instrumentell-relativistische Orientierung (Richtig ist, was eigene Bedürfnisse befriedigt) 3. Orientierung an personengegebener Zustimmung 4. Orientierung an Recht und Ordnung (als Autoritäten gesehen) 5. Legalistische oder Sozialvertrags-Orientierung (Orientierung am Recht, gesehen als Resultat gesellschaftlicher Übereinkünfte) 6. Orientierung an selbstgewählten universalen moralischen Prinzipien
Egoist an ihr Bestehen lediglich glaubt. Wer meint, nur durch moralisches Verhalten in einem Leben nach dem Tode mit einer hinreichend positiven Bilanz vor Gott zu stehen oder - im Sinne der hinduistischen Karma-Vorstellung - in einer hinreichend attraktiven Gestalt wiederverkörpert zu werden, ist nicht weniger egoistisch motiviert als derjenige, der sich ausschließlich an weltlichen Sanktionen wie den Sanktionen des Rechtssystems orientiert. Wer an ein Gericht im Jenseits oder an Seelenwanderung und Karma glaubt, hat auch als rationaler - sein langfristiges Eigeninteresse maximierender - Egoist alle Gründe, sich moralkonform zu verhalten. Auch wenn dies unter Gesichtspunkten der Zwecke der Moral besser ist, als wenn er sich moralisch falsch verhielte, verleiht ihm seine rein strategische Moral keinen moralischen Wert. Für den moralischen Wert sind die Motive entscheidend, nicht das tatsächliche Verhalten, aber auch nicht die Absichten.
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
Die Absicht, sich moralisch zu verhalten, ist für die Zuschreibung moralischen Werts ebensowenig hinreichend wie moralisches Verhalten. Auch hinter Absichten zu moralisch richtigem Verhalten können moralisch neutrale Motiven wie Konformismus und Egoismus stehen. Absichten sind löblich und verwerflich in dem Maße, in dem ihre Ausführung moralisch richtig und falsch ist. Moralische Beurteilungen von Absichten sind unmittelbar aus den moralischen Beurteilungen der entsprechenden Handlungen abgeleitet. Die Löblichkeit einer Absicht besagt jedoch nichts über den moralischen Wert ihrer Motive. Die Absicht, eine karitative Organisation mit einer großzügigen Spende zu unterstützen, besagt noch nichts über die Moralität ihrer Motive. Mit diesen kann es sich im Einzelfall auch so verhalten, dass es dem Akteur lediglich um Gewissensberuhigung oder um die Aufbesserung seiner öffentlichen Reputation geht, also um Motive, die sich nicht in der Regel in moralisch richtigem Verhalten auswirken und die deshalb weder als eigentliche noch als uneigentliche Motive gelten können. Im Einzelfall können die moralischen Beurteilungen der Motive von der axiologischen Beurteilung der Folgen der Handlungen, zu denen sie motivieren, in ähnlicher Weise abweichen wie die Beurteilungen der Handlungen nach Gesichtspunkten der moralischen Richtigkeit. Eine Handlungsweise kann - auch nach konsequenzialistischen Normen - im Einzelfall moralisch richtig sein und dennoch de facto axiologisch schlechte Folgen haben, etwa wenn ein moralisch erforderlicher Rettungsversuch misslingt und mehr Opfer fordert, als wenn er unterblieben wäre. Moralisch falsches Verhalten dagegen kann - auch nach konsequenzialistischen Normen - de facto axiologisch gute Folgen haben, etwa wenn sträflicher Leichtsinn zu einem Beinahe-Unfall führt, der andere warnt und damit ähnliche Unfälle verhindert. Ähnlich können aus „privaten Lastern" „öffentliche Wohltaten" fließen, wie es zugespitzt Bernard Mandeville in seiner „Bienenfabel" ausge-
7.4 Moralische Überzeugungen, Motive und Handeln
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breitet hat (Mandeville 1968). Der destruktive Wunsch nach Überbietung des Konkurrenten kann zum Motor wirtschaftlicher Expansion und damit zu einem Agens allgemeinen Wohlstands werden. Andererseits kann ein Akteur zwar moralisch hochmotiviert sein, aber gerade aus dem Übermaß an Motivation heraus die Sachangemessenheit und Sachdienlichkeit seines Verhaltens verkennen. Er ist aus lauter Großmut allzu großzügig, aus falscher Treue überzogen loyal, aus Prinzipienstrenge übermäßig rigide.
7.4 Moralische Überzeugungen, moralische Motive und moralisches Handeln Moralische Motive sind, wie wir gesehen haben, für moralisches Handeln (im Sinne des moralisch richtigen Handelns) weder notwendig noch hinreichend. Wie steht es mit den moralischen Überzeugungen, die moralische Motive voraussetzen? Sind diese ihrerseits für moralische Motive notwendig oder hinreichend? Stellen wir zunächst die erste Frage nach der Notwendigkeit moralischer Überzeugungen: Sind moralische Überzeugungen notwendig für moralische Motive? Für die eigentlichen moralischen Motive ist diese Frage zweifellos zu bejahen. Eigentliche moralische Motive sind in zweifacher Weise von moralischen Überzeugungen abhängig - einmal durch ihre Konstitutionsbedingungen, dann aber auch durch ihre kausale Genese. Eigentliche moralische Motive sind nicht vorstellbar ohne den Bezug auf die ihnen zugrunde liegenden moralischen Überzeugungen. Sie sind intentional auf eine bestimmte moralische Norm bezogen und lassen sich von diesen Normen gedanklich nicht ablösen. Aber auch kausal ist die eigentliche moralische Motivation mit der moralischen Überzeugung verknüpft. Die „Pro-Einstellung" (Nowell-Smith 1954, 112) gegenüber dem moralisch Richtigen, die sich in dem eigentlichen
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
moralischen Motiv manifestiert, ist zumindest teilweise durch die Tatsache bewirkt, dass der jeweilige Akteur die entsprechende moralische Überzeugung hat und das Prinzip, dass er zu befolgen motiviert ist, vertritt. Jemand wäre nicht im eigentlichen Sinne moralisch motiviert, wenn er nicht zumindest u. a. durch die von ihm vertretenen moralischen Überzeugungen (bzw. das Haben dieser Überzeugungen) motiviert wäre.40 Weniger offensichtlich ist die Antwort auf die Frage, ob das Haben moralischer Überzeugungen hinreichend dafür ist, eigentliche moralische Motive zu haben. Diese Frage wird gewöhnlich im Spannungsfeld zweier polar entgegengesetzter Positionen behandelt - des Internalismus und des Externalismus bezüglich der moralischen Motivation. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die Frage, ob moralische Überzeugungen für sich genommen hinreichend sind, jemanden zum moralischen Handeln zu motivieren, sondern lediglich darum, ob jemand, der moralische Überzeugungen vertritt, damit bereits über (eigentliche) moralische Motive zum moralischen Handeln verfügt. Auch wenn diese Frage bejaht wird, bedeutet das nicht, dass die mit dem Haben der moralischen Überzeugungen verbundenen Motive hinreichend stark sind, um die Überzeugungen in Handlungen umzusetzen. Der Internalismus behauptet, dass das aufrichtige Vertreten einer moralischen Überzeugung für sich genommen mit einem entsprechenden moralischen Motiv verknüpft ist, während der Externalismtis dies bestreitet. Für diesen bedarf es, um (eigentlich) moralisch motiviert zu sein, unabhängiger Motive. Offenkundig hängt die Frage nach der Plausibilität einer dieser entgegengesetzten Positionen davon ab, wie man das 40 Kant bezeichnet diese Kombination von begrifflich-logischer und kausaler Abhängigkeit der eigentlichen moralischen Motive von moralischen Überzeugungen treffend, wenn er davon spricht, dass die Achtung für das moralische Gesetz „durch einen intellektuellen Grund gewirkt" ist (Kant 1902 ff., Bd. 5, 73).
7.4 Moralische Überzeugungen, Motive und Handeln
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Haben einer moralischen Überzeugung auffasst. Fasst man es so auf, dass der Akteur eine moralische Überzeugung in derselben Weise hat, wie er eine Überzeugung rein deskriptiver Art hat, also analog zu Überzeugungen über das Bestehen von Sachverhalten in der Natur, ist nicht zu sehen, warum das Haben einer solchen Überzeugung von sich aus zu einem bestimmten Verhalten motivieren soll. Die bloße Einsicht in das Bestehen eines Sachverhalts kann für sich genommen keinen motivationalen Gehalt haben, also nicht von sich aus auf den Willen wirken. Es gilt vielmehr der Satz des Aristoteles: Dianoia d'aute ouden kinei, die bloße Einsicht bewegt nichts (Nikomachische Ethik 1139 a). Wenn etwas bewegt werden soll, bedarf es eines zusätzlichen volitionalen Moments, eines Moments des Wollens über das Moment des Fürwahrhaltens hinaus. Bei einer Deutung des moralischen Urteils bzw. der moralischen Überzeugung analog zu einer naturwissenschaftlichen Überzeugung ist dem Externalismus Recht zu geben. U. a. deshalb ist das sogenannte Sokratische Paradox ein Paradox. Dieses Paradox ist im Grunde eine doppeltes Paradox. Es ist ein Paradox erstens deshalb, weil es einerseits behauptet, das Wissen um Recht und Unrecht sei ein Wissen derselben Art wie das Wissen von einem naturwissenschaftlichen oder mathematischen Sachverhalt, andererseits diesem Wissen aber schon für sich genommen die Fähigkeit zuschreibt, zum moralisch Richtigen zu motivieren. Aristoteles' Diktum über die Machtlosigkeit der bloßen Einsicht kann als die angemessene Antwort auf dieses erste Paradox gelesen werden: Wie soll eine Überzeugung unabhängig von jedem Wollen motivierend wirken können? Das Sokratische Paradox ist ein Paradox aber zweitens auch deswegen, weil es behauptet, das rein intellektualistisch aufgefasste moralische Wissen sei bereits für sich genommen und unabhängig von allen weiteren Motiven zum tatsächlichen moralischen Handeln hinreichend. Wer wisse, was gut und richtig ist, könne nicht anders als das Gute und Richtige auch zu tun. Moralisches Wissen sei nicht nur eine kausal
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
notwendige, sondern eine kausal hinreichende Bedingung moralischen Verhaltens. Entsprechend sei die Tatsache, dass sich jemand nicht seinen moralischen Überzeugungen gemäß verhält, ein hinreichender Beweis dafür, dass er das moralisch Richtige nicht kenne, zumindest nicht hinreichend kenne, um davon im vollen Sinne überzeugt zu sein. Dem widerspricht aber die allgemeine Lebenserfahrung. Auch wer u. a. aufgrund seiner moralischen Überzeugungen zu moralischem Handeln motiviert ist, ist nicht immer in der Lage, diese Motive in seinem Handeln zur Geltung zu bringen. Die von einer moralischen Überzeugung ausgehende Motivation ist nicht immer stark genug, sich gegen konfligierende Motive durchzusetzen. Auch wenn der Internalismus recht hat und das Haben moralischer Überzeugungen hinreicht, um den Akteur zu moralischem Handeln geneigt zu machen, so kann es doch sein, dass weitere, nicht im eigentlichen Sinne moralische Motive wie Mitleid oder Menschenliebe oder auch nicht-moralische Motive wie die Hoffnung auf Anerkennung oder die Furcht vor Strafe hinzukommen müssen, um der Überzeugung Wirksamkeit zu verleihen. Deshalb kann aus der Tatsache, dass jemand seinen erklärten moralischen Überzeugungen nicht oder nur in geringem Maße nachlebt, nicht ohne weiteres auf die Unaufrichtigkeit dieser Erklärung geschlossen werden.41 Die faktische Befolgung ist nur eines von vielen möglichen Kriterien für die Zuschreibung moralischer Überzeugungen und moralischer Motivationen. Ebenso wichtig ist, wie der Akteur darauf reagiert, dass er sich in seinem Verhalten so wenig an seine moralischen Überzeugungen hält und ob ihn seine Willensschwäche oder mangelnde Selbstkontrolle „kalt lässt" oder ob er auf sie mit Selbstvorwürfen und Selbstermahnungen reagiert. Die externalistische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen moralischen Überzeugungen und moralischer Motivation ist allerdings immer nur so plausibel wie das 41 Hierzu tendiert Hare in Hare 1973, 100.
7.4 Moralische Überzeugungen, Motive und Handeln
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von ihr vorausgesetzte intellektualistische Verständnis moralischer Überzeugungen. Dieses Verständnis ist aber schon deshalb fragwürdig, weil moralische Überzeugungen Wertungen enthalten, die diesen Überzeugungen einen gänzlich anderen Charakter verleihen als Überzeugungen über das Bestehen von natürlichen Sachverhalten. Bewertungen gehen in moralische Überzeugungen in vielfacher Gestalt ein- als axiologische Bewertungen von Gütern, als normative Bewertungen von Handlungen oder als Bewertungen von Motiven und Dispositionen -, und diese bewertenden Elemente verbieten es, moralische Überzeugungen mit deskriptiven Überzeugungen auf eine Stufe zu stellen. Bewertungen drücken anders als rein beschreibende Überzeugungen bestimmte affektive Einstellungen gegenüber dem Bewerteten aus, im Falle einer positiven Bewertung eine Billigung, eine Präferenz, kurz: eine Pro-Einstellung. Indem eine positive moralische Bewertung eine Pround eine negative moralische Bewertung eine Kontra-Einstellung ausdrückt, enthält sie selbst bereits ein volitionales Moment, das am deutlichsten in moralischen Überzeugungen zutage tritt, die durch moralische Gebote und Verbote ausgedrückt werden. Wer der Überzeugung ist, dass ein bestimmtes Handeln geboten ist, will insoweit dieses Handeln - auch wenn er es möglicherweise unter anderen, z. B. nicht-moralischen Gesichtspunkten nicht will. Wer der Überzeugung ist, dass ein bestimmtes Handeln verboten ist, will insoweit, dass es nicht ausgeführt wird, auch wenn er es möglicherweise unter anderen, z. B. nicht-moralischen Gesichtspunkten, ausführen oder ausgeführt sehen will. Bestimmten moralischen Überzeugungen kommt also bereits deshalb ein bestimmter motivationaler Gehalt zu, weil sie für sich genommen ein Willensmoment enthalten, das in die Richtung des Inhalts der jeweiligen Überzeugung motiviert. Wer eine bestimmte Handlung oder Handlungsweise moralisch gebietet oder empfiehlt, hat damit auch ein Motiv, sie zu gegebenem Anlass auszuführen (auch wenn er sie tatsächlich
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
nicht ausführt). Wer eine bestimmte Handlung oder Handlungsweise moralisch verurteilt, hat damit auch ein Motiv, sie nicht auszuführen. Aber auch von moralischen Überzeugungen anderer Art, z. B. solcher über den moralischen Wert oder Unwert des Handelns anderer, kann man annehmen, dass sie aufgrund ihres bewertenden Gehalts auch dann eine - allerdings oft schwache - Wirkung auf den Willen des Beurteilers entfalten, wenn sie nicht bereits für sich genommen ein Willensmoment enthalten. Moralische Überzeugungen, moralische Motive und moralisches Handeln Sind moralische Überzeugungen notwendig für (eigentliche) moralische Motive? Ja, schon deshalb, weil moralische Überzeugungen in (eigentlich) moralische Motive eingehen. Sind moralische Überzeugungen hinreichend für (eigentliche) moralische Motive? Ja, aber nur solange moralische Überzeugungen so verstanden werden, dass sie ein Willensmoment enthalten. Sind (eigentliche) moralische Motive notwendig für moralisch richtiges Handeln? Nein, moralisch richtiges Handeln kann auch von nichtmoralischen Motiven geleitet sein. Sind (eigentliche) moralische Motive hinreichend für moralisch richtiges Handeln? Nicht notwendig. Moralische Motive brauchen nicht in jedem Fall stark genug zu sein, um sich gegen entgegenstehende Motive durchzusetzen.
7.5 Tugend und Tugendethik
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Damit erweist sich der Internalismus als die insgesamt plausiblere Konzeption.
7.5 Tugend und Tugendethik 7.5.1 Moralische, soziale und andere Tugenden In der Alltagssprache ist „Tugend" kein häufig verwendeter Ausdruck. In der Ethik, hat er demgegenüber in den letzten Jahrzehnten eine zunehmend wichtige Rolle gespielt. Innerhalb der Ethik werden dabei unter „Tugenden" in erster Linie bestimmte Komplexe von relativ stabilen und verhaltenswirksamen eigentlichen oder uneigentlichen moralischen Motiven verstanden. In der Ethik der Gegenwart bezieht sich der Ausdruck „Tugend" durchweg auf moralische Tugend - im Gegensatz zum antiken Tugendbegriff, aber auch zu vielen Tugendbegriffen der Philosophie der Neuzeit. Aristoteles kennt neben den ethischen die sogenannten dianoetischen Tugenden, die nicht das Handeln, sondern den Geist betreffen. Tugend (arete) ist noch nicht an die Moral gebunden, sondern bedeutet soviel wie Tüchtigkeit, Kompetenz, Vortrefflichkeit, verstanden als vollständige Entfaltung einer Fähigkeit. Aber auch die ethische Tugend ist bei Aristoteles noch nicht so eng an die Motive geknüpft wie in der nachkantischen Philosophie. Tugend bedarf nicht nur des guten Willens, sie muss sich auch im Verhalten zeigen, sie muss zur Geltung kommen. Tugend ist ein Habitus (hexis), keine bloße Haltung oder Einstellung, die im „stillen Kämmerlein" gepflegt werden kann. Darüber hinaus lässt sich Tugend nach Aristoteles nicht unabhängig von bestimmten objektiven Bedingungen wie Status und öffentlicher Sichtbarkeit des Handelns zuschreiben. Tugend kommt z. B. keinem Sklaven zu.
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
„Tugenden" im spezifisch moralischen Sinn müssen weiterhin von sozialen Tugenden im Sinne sozial wünschenswerter Verhaltensweisen und -dispositionen wie Freundlichkeit, Soziabilität, Diskretion oder Charme unterschieden werden, also von allgemein anerkannten Vorzügen einer Person, die jedoch nicht so regelmäßig zu moralisch richtigem Verhalten führen, dass sie als Komplexe uneigentlicher moralischer Motive gelten können. Viele der von Hume „virtues" genannten Charaktereigenschaften (vgl. Hume 1984 a, 188) sind von dieser Art. Soziale Tugenden sind für andere (und indirekt auch für ihren Träger) axiologisch wertvoll, machen aber keinen Teil des eigentlich moralischen Charakters aus. Umgänglichkeit, Beredsamkeit und Reinlichkeit - Vorzüge, die Hume unter „Tugenden" fasst - sind gesellschaftlich nützlich und angenehm, aber sie würden kaum als moralische Tugenden durchgehen. Allerdings fällt es nicht leicht, zwischen den verschiedenen Arten von Tugenden eine eindeutige Grenze zu ziehen. Freundlichkeit etwa kann nicht nur als soziale, sondern auch als moralische Tugend aufgefasst werden, Beredsamkeit nicht nur als soziale, sondern auch als Sekundärtugend. Was soziale Tugenden von Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit oder Klugheit unterscheidet, ist, dass sie anders als diese nicht ausschließlich wegen ihrer instrumentellen Rolle, sondern immer auch als solche geschätzt werden. Im Gegensatz zu Sekundärtugenden behalten soziale Tugenden selbst dann noch ihren axiologischen Wert, wenn sie zu moralisch schlechten Zwecken eingesetzt werden. Der Charme des Verführers und die Beredsamkeit des Betrügers behalten als solche und unabhängig von den hinter ihnen stehenden unmoralischen Absichten ihren nicht-moralischen Wert, während Klugheit, Geschicklichkeit und Risikobereitschaft den Unwert moralisch falscher Handlungen eher noch verschärfen. Bleiben wir bei der moralischen Tugend und fragen wir uns, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um jemandem Tugend in diesem Sinne zuzuschreiben. Reichen die moralischen
7.5 Tugend und Tugendethik
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Motive aus, oder muss der Tugendhafte diese Motive auch effektivieren, d. h. muss er über das richtige Wollen hinaus auch tatsächlich richtig handeln? Angesichts der weitgehenden Unbestimmtheit des alltagssprachlichen Tugendbegriffs ist es nicht ganz leicht, die Anteile von Motivation - des „guten Willens" - und den Anteil von Exekution - des richtigen Handelns - an der Tugend exakt zu bestimmen. Aber es entspricht sowohl einem in der Tugendethik verbreiteten als auch in der ethischen Tradition verankerten Sprachgebrauch, von Tugenden und Lastern nur dann zu sprechen, wenn diese auch tatsächlich gelebt und nicht nur gewollt werden. Damit jemand sich eine Tugend erwirbt, reicht das bloße Wollen nicht aus, sie muss sich auch im Handeln realisieren. Zwar ist Tugend ein Dispositionsbegriff, der auch dann zugeschrieben werden kann, wenn die Disposition nicht manifestiert wird. Aber es gehört zu den Bedingungen einer begründeten Zuschreibung dieser Disposition, dass der Tugendhafte seine Tugenden auch im Handeln bewährt. Jemand, der die besten Absichten hat, sie aber (z. B. aus Willensschwäche) nicht ausführt, ist ebensowenig tugendhaft wie der, der zwar mit den besten Absichten und aus den besten Motiven handelt, sich aber dabei so viele kognitive Fehlleistungen zu Schulden kommen lässt, dass er seine Absichten weitgehend oder vollständig verfehlt. „Tugend" ist anders als „Motiv" oder „Absicht" teilweise auch ein Erfolgsausdruck. Tugenden sind nicht nur an Kompetenzen, sondern auch an Perf ormanzen gebunden. Soviel hat Tugend mit Taugen, Tauglichkeit und Tüchtigkeit gemeinsam. Insofern sind moralisch gute Motive zwar der Kern, aber nicht das Ganze der Tugend. Der Großzügige ist nicht nur guten Willens, sondern er versteht auch effektiv großzügig zu sein. Dazu gehören Informiertheit, Tatkraft, Energie, Aufmerksamkeit, Reaktionsfähigkeit, also auch „technische" und handwerkliche Elemente. Demjenigen, der niemals Gelegenheit hatte, seine moralischen Motive unter Beweis zu stellen,
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
etwa weil er niemals in Versuchungs- oder Konfliktsituationen gerät, in denen sich seine Motive bewähren müssten, können wir auch keine Tugend zuschreiben. Er ist in Sachen Tugend - aber natürlich auch in Sachen Untugend - ein „unbeschriebenes Blatt". Die Auffassung, dass Tugend nicht nur die Fähigkeit und Bereitschaft, sondern auch die tatsächliche Ausübung des moralisch Richtigen erfordert, ist bereits ein fester Bestandteil der aristotelischen arete. Aristoteles lässt keinen Zweifel daran, dass zur Gerechtigkeit nicht nur die Fähigkeit gehört, gerecht zu handeln, sowie der Wille, gerecht zu handeln, sondern auch das gerechte Handeln selbst (Nikomachische Ethik 1129 a). Aber natürlich ist das gerechte Handeln nicht für sich genommen hinreichend. Man muss, wenn man die Tugend der Gerechtigkeit haben will, nicht nur das Gerechte tun, man muss es auch um seiner selbst willen wollen (l 137a). Beide Momente - Wollen und Ausführen - sind gleichermaßen unverzichtbar.
7.5.2 Woher kommen Tugenden? Von welchen Faktoren die Ausbildung und Aufrechterhaltung von Tugenden abhängig ist, ist eine Frage der Entwicklungsund Erziehungspsychologie und keine Frage, zu der Philosophen sehr viel Erhellendes beisteuern können. Dennoch haben es sich zumindest vor der Trennung der Disziplinen viele Philosophen nicht nehmen lassen, ihre Theorien dazu zu entwickeln, wie immer dürftig ihre empirischen Belege aus heutiger Sicht - wenn nicht gar aus der Sicht ihrer eigenen Zeit - gewesen sein mögen. Das große Spektrum von Hypothesen und Theorien lässt sich im wesentlichen nach zwei Gesichtspunkten gliedern: danach, ob sie für die moralische Tugend einen innerweltlichen oder einen außerweltlichen Ursprung annehmen, und danach, ob sie die Bedingungen moralischer Tugend
7.5 Tugend und Tugendethik
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eher in angeborenen oder in erworbenen Faktoren sehen. Zwei unter den größten Philosophen waren Anhänger der Doktrin vom übernatürlichen Ursprung der moralischen Tugend, Platon und Kant. Für Platon war nicht nur das Wissen von deskriptiven apriorischen Sachverhalten der Logik und Mathematik eine Form der Wiedererinnerung an das im unverkörperten Seelenzustand Geschaute, sondern auch das Wissen von den richtigen moralischen Prinzipien - und damit, Platons ethischen Intellektualismus gemäß, auch der Besitz moralischer Tugend. Zwar ist der Erwerb moralischer Tugend auch von der Anstrengung der Wiedererinnerung und damit von einem durch Erziehung beeinflussbaren Bemühen abhängig. Aber die entscheidende Bedingung bleibt doch, dass die Seele von Geburt an über das Wissen um das Gute verfügt. Auch bei Kant werden die Quellen der moralischen Tugend im Bereich des Übernatürlichen verortet. Während die Genese der sozialen Tugenden und der „uneigentlichen" Tugenden empirisch erklärbar sein soll, soll die eigentliche moralische Tugend, der Wille, das moralisch Richtige um seiner selbst willen zu tun, im Metaphysischen wurzeln und grundsätzlich nicht auf Anlage- und Umweltfaktoren zurückgeführt werden können. Während alle anderen Vorzüge und Schwächen eines Menschen eine natürliche Grundlage haben und aus empirischen Bedingungen erklärt werden können, soll der „gute Wille" Teil jener metaphysischen Persönlichkeit sein, die Kant zufolge die Menschen als rationale Wesen auszeichnet und bei der alle kausalen Erklärungen an ihre Grenze stoßen. Auf diese Weise verschafft Kant dem Postulat der moralischen Gleichheit aller Menschen ein metaphysisches Fundament. Während die Menschen in ihren sozialen Fähigkeiten und Qualitäten sowie in ihren „uneigentlichen" Motiven anerkanntermaßen verschieden sind, sollen sie in ihren moralischen Fähigkeiten, da sie alle an derselben „intelligiblen Welt" teilhaben, gleich sein. Auch wenn das Axiom des politischen Gleichheitsgedankens, „All men are
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
created equal", nicht auf die empirischen Fähigkeiten der Menschen zutrifft, soll es doch zumindest für ihre metaphysischen Fähigkeiten gelten. Abgesehen von der Schwierigkeit, der Idee einer körperlosen Seele (wie bei Platon) oder eines „intelligiblen Ich" jenseits von Raum und Zeit (wie bei Kant) einen Sinn zu geben, sind Theorien eines übernatürlichen Ursprungs der Tugend mit dem Problem konfrontiert, die Wirksamkeit moralischer Erziehung und Charakterbildung zu erklären. Wenn Tugend aus den metaphysischen Tiefen der Seele oder einer jenseits von Raum und Zeit liegenden „Persönlichkeit" rührt, ist nicht zu sehen, welchen Sinn moralische Erziehung und Erziehung insgesamt noch haben sollen. Entweder jemand ist - wie Platons Philosophenkönige oder wie nach Kant jedes denkende Wesen - des Wissens um das Gute teilhaftig. Dann braucht dieses latente Wissen durch Erziehung nur noch erweckt zu werden. Oder er ist es - wie Platons untere Stände - nicht und muss dazu erzogen werden, denen zu folgen, die über dieses Wissen verfügen. Für eine Erziehung, die auf moralische Motive prägend und gestaltend einwirkt, bleibt nach beiden Konzeption kein Raum. Aber auch die praktischen Konsequenzen von Kants metaphysischem moralischen Egalitarismus sind nur teilweise human. Einerseits drückt sich in ihm der „Glaube an das Gute" in jedem Menschen aus und ermutigt dazu, in den Bemühungen nicht nachzulassen, dieses Gute auch in den Verdorbensten zum Vorschein zu bringen. Andererseits belastet sie jeden einzelnen ungeachtet seiner faktischen Möglichkeiten mit einer erheblichen moralischen Verantwortung. Wenn jeder seiner Wesensnatur nach über den „guten Willen" verfügt, ihn aber nicht hinreichend aktiviert, ist jeder ungeachtet seiner besonderen Schicksale und Umstände für seine pflichtwidrigen Handlungen verantwortlich. Die Extrempositionen unter den Vertretern einer mehr oder weniger empirischen Theorie der Entstehung moralischer Tu-
7.5 Tugend und Tugendethik
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gend werden einerseits durch Schopenhauer, andererseits durch Locke markiert. Nach Schopenhauers Charakterlehre geht der gesamte und ausdrücklich auch der moralische Charakter des Menschen auf angeborenen Faktoren zurück. Das bedeutet u. a., dass eine im eigentliche Sinne moralische Erziehung chancenlos ist. Erziehung hat lediglich die Funktion, die konkrete Betätigung der ein für allemal feststehenden Charakterzüge anzuleiten und nicht auf die Zwecke, sondern auf die Wahl der geeigneten Mittel Einfluss zu nehmen, insbesondere durch die Vermittlung von Wissen darüber, „wie es eigentlich in der Welt hergeht" (Schopenhauer 1988, Bd. 6, 669). Dagegen trägt nach Locke die Erziehung die ganze Last des Erwerbs und der Pflege moralischer Tugend: „Tugend,... reine Tugend ist der schwierigste und wertvolle Teil, der in der Erziehung erstrebt werden muß" (Locke 1970,75). Auch aus dem krummsten Holz lässt sich Lockes Erziehungsoptimismus zufolge etwas moralisch Annehmbares schnitzen, da „von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind" (Locke 1970, 7). Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. Einerseits legen psychologische Befunde über teilweise überraschende Charakterähnlichkeiten bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge nahe, dass auch moralische Motive und Einstellungen zu einem Teil genetisch bedingt sind. Andererseits übersehen die Tugend-Nativisten, dass im Prozess der moralischen Erziehung mit den zunehmenden Kenntnissen über die richtigen Mittel zu den vermeintlich von vornherein feststehenden Zwecken sich im allgemeinen auch die Zwecke selbst ändern. Selbst Schopenhauer musste zugestehen, dass in demselben Augenblick, in dem sich eine Person seiner Charakterzüge bewusst wird, dieser Charakter selbst qualitativ nicht unverändert bleibt: In demselben Moment, in dem sich die Person ihres „empirischen" Charakters bewusst wird, verwandelt sich dieser in den „erworbenen" Charakter. Der einmal als solcher erkannte Charakter wird zum Gegenstand einer - begrenz-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
ten - Gestaltung und Weiterentwicklung (vgl. Birnbacher 1993).
7.5.3
Tugendethik
Tugendethiken stellen den Versuch dar, die faktisch geltende bzw. eine normativ geforderte Moral von den in ihr geltenden Tugendbegriffen her zu (re)konstruieren. Nicht Werte oder Normen werden zum Ausgangspunkt der Analyse oder Konstruktion gemacht, sondern Tugendbegriffe und Tugendkataloge. Da die meisten Tugendbegriffe nicht nur moralische Werturteile, sondern auch moralische Richtigkeitsurteile enthalten oder voraussetzen, gelingt es Tugendethiken auf diese Weise, zumindest zwei der drei Arten moralischer bzw. moralrelevanter Urteile zu erfassen. So bezeichnet etwa der Begriff Ehrlichkeit nicht nur das Motiv, ehrlich sein zu wollen, sondern er inkorporiert auch bestimmte moralische Richtigkeitsurteile wie das Urteil, dass es moralisch richtig ist, nicht zu lügen, nicht zu betrügen, seine Versprechen zu halten usw. Analoges gilt für die platonischen Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit, der Tapferkeit und der Weisheit oder für die aristotelische Lehre von der goldenen Mitte (mesotes). Tugendbegriffe bündeln eine große Vielfalt an Wert- und Richtigkeitsprinzipien und bieten damit den geeigneten Ausgangspunkt für eine synthetische, die großen Linien nachzeichnende Darstellung einer realen oder idealen Moral. Dies gilt vor allem für Moralen, für die sich bestimmte modellhafte Beispiele („moralische Virtuosen") angeben lassen, die die Forderungen der Moral exemplarisch und vollständig erfüllen. Statt von den Forderungen der Moral im einzelnen zu sprechen, genügt es dann vielfach, diese exemplarischen Beispiele für vollkommene Tugend zu beschreiben und zur Nachahmung zu empfehlen. Es fragt sich allerdings, wie weit man mit dieser ethischen Strategie kommt. Die zentrale Frage der Tugendethik lautet:
7.5 Tugend und Tugendethik
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Welche Art von Charakter sollen wir ausbilden? Welche Art von Menschen sollen wir sein? Nehmen wir an, wir könnten diese Frage beantworten - was hilft uns das für die Beurteilung der moralischen Richtigkeit von Handlungen? Die Tatsache, dass ein moralisch vorbildlicher Mensch eine bestimmte Handlung h ausführt, sagt nur wenig über die Richtigkeit oder den Wert von h. Auch wenn h die Handlung eines insgesamt tugendhaften Menschen ist, kann sie dennoch moralisch falsch sein, oder sie ist moralisch richtig, aber ihre Motive sind ohne moralischen Wert. Moralisch falsche oder bedenkliche Handlungen werden dadurch nicht gerechtfertigter, dass sie von einem ansonsten und aufs Ganze gesehen tugendhaften Menschen getan werden, noch werden moralisch neutrale Motive dadurch moralischer, dass sie die Motive eines ansonsten von moralischen Motiven geleiteten Menschen sind. Moralisch richtig oder wertvoll sind allein die typischen Handlungsweisen und Motive des Tugendhaften, also diejenigen Züge, durch die er sich von anderen abhebt. Wie können diese aber bestimmt werden, wenn moralische Richtigkeit und moralischer Wert erst durch Tugendbegriffe erklärt werden sollen? Es scheint, dass wir moralische Richtigkeits- und Werturteile bereits benötigen, um die Momente zu benennen, die bestimmte Charaktereigenschaften zu Tugenden und Lastern machen (vgl. Louden 1998,191 f.) Da wir den Tugendhaften wesentlich nur über die Richtigkeit seiner Handlungen bzw. die moralische Richtigkeit der von ihm beabsichtigten Handlungen identifizieren können, setzt jede Anwendung der Tugendethik bereits ein Richtigkeitskriterium voraus. Wir müssen wissen, worin Ehrlichkeit als Handlungsweise typischerweise besteht, bevor wir Ehrlichkeit als charakterliche Disposition identifizieren können. Auch wenn die Tugendethik die Ethik nicht von den Prinzipien, sondern von dem Gesamtkomplex von Prinzipien, Motiven und Charakterzügen her entwickeln möchte, kommt sie nicht umhin, ihrerseits Prinzipien zu etablieren, die die von ihr
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
postulierten Tugendbegriffe inhaltlich füllen. Das wäre nur dann anders, wenn Tugendbegriffe eindeutiger, verfügbarer und transparenter wären als die Begriffe des moralisch richtigen Handelns, deren konkrete Anwendung sie regulieren. Diese Voraussetzung dürfte jedoch im allgemeinen nicht erfüllt sein. Hinzu kommt, dass vielfach Tugendbegriffe von vornherein nicht ohne den Rückgriff auf Prinzipien zu charakterisieren sind. Es erscheint z. B. wenig sinnvoll, die Tugend der Gerechtigkeit ohne den Bezug auf Gerechtigkeitsprmzzpzew zu explizieren. Der Gerechte ist nicht nur jemand, der in seinen Einzelfallurteilen gerecht entscheidet, sondern jemand, der sich bei diesen Entscheidungen an übergreifenden Prinzipien orientiert. Auch wenn man sich dem Gerechtigkeitsbegriff nicht von der Seite der Prinzipien, sondern von der Seite der Motive und Tugenden her nähert, erzwingt die Natur der Sache den Bezug auf Prinzipien. Allerdings sind Ehrlichkeit und Gerechtigkeit möglicherweise irreführende, weil einseitige Beispiele. Bei anderen Tugendbegriffen, etwa Solidarität, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit ist der Bezug auf Prinzipien vernachlässigbar. Dennoch aber sind auch in diesen Fällen die Möglichkeiten einer Tugendethik, zur Klärung unserer moralischen Begriffs- und Urteilskategorien beizutragen, aus mehreren Gründen begrenzt: 1. Eine Tugendethik kann nicht erklären, warum die in Tugendbegriffe inkorporierten Verhaltensbeurteilungen moralisch richtig sind. Eine Tugendethik, die etwa Hilfsbereitschaft als Tugend postuliert, erklärt nicht, warum wir hilfsbereit sein sollen. Sie verfügt über keine Begriffe nicht-moralischer Güter wie Sicherheit, Vertrauen, Zugehörigkeit usw., die erklären können, warum Hilfsbereitschaft für eine Gesellschaft in der Regel vorteilhaft und Gleichgültigkeit in der Regel nachteilig sind. 2. Reine Tugendethiken erklären nicht, warum die Betätigung einer tugendhaften Verhaltensdisposition gelegentlich durchaus zu moralisch falschem Verhalten führen kann, wie
7.5 Tugend und Tugendethik
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etwa Ehrlichkeit unter Bedingungen, in denen Unehrlichkeit moralisch erlaubt und möglicherweise gefordert ist - es sei denn, sie relativiere ihre Tugendbegriffe auf die für sie jeweils geltenden Anwendungsbedingungen. Um Konfliktsituationen beschreiben zu können, in denen die moralische Bewertung der Verhaltensmotive und die moralische Bewertung des Verhaltens divergieren, bedarf es unabhängiger Kriterien für das moralisch Richtige über die in den Tugendbegriffen enthaltenen Kriterien hinaus. 3. Offensichtlich wird der fragmentarische Charakter der Tugendethik in Konflikt- und Dilemmasituationen, in denen nicht alle Tugenden gleichzeitig zur Geltung zu bringen sind und sich Fragen nach der Über- und Unterordnung der Tugenden stellen. Zur Bewältigung solcher Situationen scheint es unabweisbar, nicht nur über Tugenden, sondern auch über Kriterien des moralisch Richtigen und über das relative Gewicht von Werten zu sprechen, also den für diese Zwecke allzu unbestimmten Tugenddiskurs zu verlassen. Man wird z. B. einen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht dadurch lösen können und wollen, dass man in abstracto fragt, ob Barmherzigkeit die gegenüber der Gerechtigkeit höhere Tugend ist. Man wird vielmehr so vorgehen, dass man fragt, welche Entscheidung (für Gerechtigkeit oder für Gnade) unter den konkreten Bedingungen die richtige und moralisch erforderte und insofern auch gesollte ist. Die Überlegenheit oder Unterlegenheit der jeweiligen Tugend ergibt sich dann aus dem konkreten Handlungsurteil und nicht andersherum. Tugendbegriffe liefern von sich aus in der Regel keine hinreichende Orientierung für das Handeln. Um handlungsorientierend wirken zu können, müssen sie weiter ausdifferenziert werden, was nicht ohne den Bezug auf Prinzipien, Regeln und Einzelfallurteile geschehen kann. Die Tugendethik lässt sich insofern eher als eine Ergänzung als eine Grundlage der normativen Ethik verstehen (vgl. Tugendhat 1992, 232). Tugendbegriffe sind abgeleitete Katego-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
rien. Sie setzen bestimmte Konzeptionen nicht-moralischen Werts und moralischer Richtigkeit voraus, während diese ihrerseits unabhängig von Tugendbegriffen beschrieben werden können. Nicht-moralische Wert und moralische Richtigkeit begründen, warum bestimmte Verhaltensdispositionen moralisch wertvoll sind, während Tugendbegriffe von sich aus diese Konzeptionen zwar illustrieren, aber nicht begründen können.
7.5.4 Gesinnungsethik Der Ausdruck „Gesinnungsethik" wird - insbesondere in der Folge von Max Webers nicht ganz glücklicher Entgegensetzung von „Gesinnungs-" und „Verantwortungsethik" (Weber 1982, 57ff.) - vielfach missverstanden und für alle Formen einer nicht-konsequenzialistischen normsetzenden Ethik- und Moralkonzeption gebraucht. Präzise benennt der Ausdruck jedoch eine spezifische ethische Position, die in der Geschichte der Moralphilosophie nur von einer kleinen Minderheit der Autoren vertreten worden ist. Man kann diese Position dadurch charakterisieren, dass sie der moralischen Motivation nicht nur einen moralischen Eigenwert (über den Wert des moralisch richtigen Handelns, zu dem diese in der Regel führen, hinaus) zuschreibt, sondern dass sie diesen Eigenwert für so bedeutsam hält, dass sie ihn für vergleichsweise wichtiger hält als den Wert des moralisch richtigen Handelns. Dem Gesinnungsethiker ist es wichtiger, dass der Akteur die richtigen moralischen Motive hat, als dass er moralisch richtig handelt. Diese Charakterisierung der Gesinnungsethik setzt voraus, dass man den Wert der moralischen Richtigkeit eines Handeln mit dem moralischen Wert seiner Motive vergleichen kann. Sie setzt eine transkategoriale Wertdimension voraus, auf der ein moralisch richtiges Handeln aus moralisch neutralen oder moralisch verwerflichen Motiven mit einem moralisch falschen Handeln aus moralisch löblichen Motiven kommensurabel ist.
7.5 Tugend und Tugendethik
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Unter dieser Voraussetzung lässt sich der Gesinnungsethiker so beschreiben, dass für ihn der moralische Wert der Motive für die Gesamtbewertung einer Handlung bedeutsamer ist als die moralische Richtigkeit der Handlung. Für den moralischen „Gesamtwert" eines Handelns ist die Gesinnung (die Motive), aus der dieses Handeln fließt, bedeutsamer als die moralische Richtigkeit. Auf diesem Hintergrund lassen sich dann verschiedene Formen der Gesinnungsethik unterscheiden. Eine Extremform der Gesinnungsethik (die man radikale Gesinnungsethik nennen könnte) wäre die Position, dass über den moralischen Gesamtwert einer Handlung ausschließlich der moralische Wert der Motive entscheidet, die moralische Richtigkeit der Handlung selbst für die Gesamtbewertung also keinerlei Unterschied macht. Nicht-extreme Formen einer Gesinnungsethik finden sich in bestimmten Ausprägungen der christlichen Ethik, allerdings nur in der Form, dass neben der eigentlichen moralischen Motivation auch den uneigentlichen Formen der moralischen Motivation ein Eigenwert zugeschrieben wird. Die hohe Bewertung der Motive bezieht sich etwa bei Augustinus oder Calvin weniger auf das Tun des Moralischen um des Moralischen willen als auf das Tun des Moralischen aus Gottesliebe oder aus Loyalität zur Gemeinschaft der Gläubigen, also auf spezifisch religiöse Motive. Ein vielzitierter Abschnitt von Augustinus' „Gottesstaat" (19, 25) trägt die Überschrift: „Dass dort keine wahren Tugenden sein können, wo nicht die wahre Religion ist". Formen einer extremen Gesinnungsethik sind - zumindest dem Wortlaut nach - von Kant und - in der Nachfolge Kants - von Schopenhauer vertreten worden. In der Gesinnungsethik Kants wird dem Motiv der Achtung vor dem Sittengesetz (dem „guten Willen") ein höherer Wert zugesprochen als dem Handeln in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz. Nur insoweit eine Handlung nicht nur „pflichtgemäß"
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
ist, sondern darüber hinaus auch „aus Pflicht", also aus dem Motiv der Moralität heraus ausgeführt wird, kommt ihr höchster Wert zu. Und auch in diesem Fall kommt der höchste Wert nicht eigentlich der Handlung zu, sondern dem „guten Willen" (verstanden als ernsthaftes Bemühen), der sich in diesem Handeln manifestiert. Im Gegensatz zu Kant erklärt Schopenhauers Gesinnungsethik nicht ein eigentliches, sondern ein uneigentliches moralisches Motiv zum höchsten Wert, das „Mitleid". „Mitleid" ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen, im Sinne des Altruismus und der Fürsorge für andere. Wie für Kant die Gewissenhaftigkeit, ist für Schopenhauer die anteilnehmende Hinwendung zum anderen der fundamentale Wert, von dem alle anderen Werte abhängen. Obwohl beide Gesinnungsethiker über ein ausdrückliches Kriterium der moralischen Richtigkeit verfügen - Kant über den Kategorischen Imperativ, Schopenhauer über das Doppelkriterium der Gerechtigkeit und der Menschenliebe -, sind beide gleichermaßen weit entfernt davon, der Befolgung des von ihnen angegebenen Kriteriums für sich genommen moralischen Wert zuzuerkennen. Nach Schopenhauer hat die Befolgung der Gebote der Gerechtigkeit und der Menschenliebe vielmehr nur dann moralischen Wert, wenn sie aus altruistischen Motiven, also um des Wohls anderer willen erfolgt. Wer sich als Wohltäter betätigt, um gesellschaftliche Anerkennung zu finden oder einer Familientradition zu genügen, tut nichts, wovon moralisch Aufhebens zu machen wäre. Kants Theorie des moralischen Werts ist nicht so eindeutig formuliert wie die Schopenhauers und kann deshalb auf mehr als eine Weise interpretiert werden. Die erste Interpretation kann man „extremistisch" nennen. Danach hat die Befolgung des Kategorischen Imperativs nur dann moralischen Wert oder wie Kant sich ausdrückt, „eigentlichen" moralischen Wert -, wenn dieser um seiner selbst willen befolgt wird. Moralisch wertvoll sind danach ausschließlich Handlungen, die aus dem Motiv heraus ausgeführt werden, das moralisch Rieh-
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tige zu tun. Uneigentliche moralische Motive, ob universale wie Menschenliebe oder partikuläre wie Freundschaft, sind für den moralischen Gesamtwert einer Handlung irrelevant. Allein Pflichtbewusstsein und Achtung vor dem Sittengesetz stiften moralischen Wert. Nach der zweiten, nicht-extremistischen Interpretation haben für Kant auch andere als eigentliche moralische Motive einen moralischen Wert, wenn auch nur insoweit, als sie durch moralische „Reservemotive" kontrolliert werden. „Reservemotive" sind nach Patzig (1996,51) „solche, die an die Stelle eines Hauptmotivs treten könnten, wenn dies ausfiele". Danach verleihen auch die Motive der Menschenliebe und Freundschaft einer Handlung moralischen Wert, aber nur insoweit, als im Hintergrund das moralische Motiv der Gewissenhaftigkeit darauf achtet, dass die Vordergrundmotive die Grenzen des moralisch Zulässigen nicht überschreiten. Die Vorzüge dieser zweiten Interpretation sind offenkundig. Erstens ermöglicht sie es, die unbestreitbare faktische Bedeutung der uneigentlichen moralischen Motive für die Moral mit Kants berechtigten Bedenken gegen eine bedingungslose moralische Wertschätzung der uneigentlichen moralischen Motive zu vermitteln und seiner Einsicht gerecht zu werden, dass uneigentliche moralische Motive nur unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Grenzen zum moralisch Richtigen motivieren. Es lassen sich leicht Bedingungen denken, unter denen Menschenliebe zu Ungerechtigkeit (z.B. durch übertriebene Großherzigkeit), Freundschaft zu Diskriminierung (z.B. durch Nepotismus) und Solidarität zu Komplizenschaft (z. B. bei der Vertuschung von Skandalen) führen. Wenn dies verhindert werden soll, dürfen diese Motive nur an der „langen Leine" der Gewissenhaftigkeit wirksam werden. Sie dürfen zwar an die Stelle eigentlicher moralischer Motive treten, aber nur soweit diese als „Reservemotive" bereitstehen und „einspringen", sobald die Grenze des moralisch Richtigen überschritten zu werden droht. Zweitens wäre mit einer solchen Interpreta-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
tion die Spontaneität des moralischen Handelns weniger eingeschränkt. Rationale und prinzipienorientierte moralische Motive hätten lediglich eine Aufpasserfunktion, der Spielraum affektiv-arationaler altruistischer Motive wäre gewahrt. Die Kritik in Schillers Distichon „Gewissensskrupel": „Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin."
wäre gegenstandslos: Dass ein Liebesdienst aus Freundschaft erwiesen wird, schlösse seinen moralischen Wert nicht aus. Allerdings hätte Freundschaft nur dann und insoweit einen moralischen Wert, als das eigentliche moralische Motiv des Pflichtbewusstseins als notfalls begrenzender Faktor im Hintergrund bereitsteht. Handeln aus freundschaftlichen Motiven wäre nicht eo ipso von moralischem Wert, aber es schlösse einen moralischen Wert auch nicht kategorisch aus. Die Kantische Gesinnungsethik erscheint aber nicht nur in der zweiten Interpretation sehr viel akzeptabler als in der ersten, sie erscheint auch akzeptabler als die Schopenhauersche Gesinnungsethik, die ausschließlich uneigentlichen moralischen Motiven moralischen Wert zuerkennt. Denn diese Gesinnungsethik ist mit dem Paradox konfrontiert, dass ihr zufolge Handlungen aus Pflichtbewusstsein keinerlei moralischen Wert besitzen: Wer den Freunden aus Freundschaft dient, verdient höchstes moralisches Lob, wer den Freunden aus Pflichtbewusstsein dient, nicht. Beide Versionen der Gesinnungsethik teilen allerdings die zentrale Schwäche jeder radikalen Gesinnungsethik, die darin liegt, dass es für die Bewertung eines Handelns ausschließlich auf die Motive und nicht auch darauf ankommen soll, dass der moralisch Motivierte auch tatsächlich das Richtige tut. Schließlich ist zumindest hypothetisch ein guter Wille vorstellbar, der konstant das moralisch Falsche tut - schlicht dadurch, dass er zwar das Gute und Richtige will, aber bei der Umsetzung seiner Ziele in Handeln fortwährend Fehler macht, etwa
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durch unzureichende Informiertheit, mangelnden Durchblick und fehlende Voraussicht (vgl. Dörner 1989). Gute Menschen sind nicht notwendig auch gute Strategen. Gute Strategie ist jedoch in einer komplexen Welt eine Bedingung gelingender Moralverwirklichung. Die entscheidende Schwäche der Gesinnungsethik ist insofern, dass sie den Anteil kognitiver Fähigkeiten am Zustandekommen moralisch richtigen Handelns vernachlässigt. Der Wille zur Moral reicht nicht aus, um Moral zu verwirklichen. Man kann dieselbe Überlegung mithilfe des Gedankens einer moralisch perfekten Welt formulieren. Man stelle sich drei verschiedene mögliche Welten vor: In der ersten sind alle Akteure von dem aufrichtigen Willen zum Frieden beseelt und eifrig bemüht, diesen herzustellen, ohne dass es ihnen jedoch gelingt. Immer wieder werden einige Akteure zu Handlungen getrieben, die den Frieden gefährden. In der zweiten Welt sind nicht alle Akteure von derselben Friedensgesinnung. Den Friedensgesinnten gelingt es aber, die übrigen darin zu hindern, ihren unfriedlichen Motiven zu frönen. In dieser Welt herrscht tatsächlich Friede. In einer dritten Welt herrscht von vornherein Friede. Motive, die den Frieden gefährden können, sind unbekannt. Dem Gesinnungsethiker zufolge wäre die erste Welt der zweiten und dritten ceteris paribus wertmäßig überlegen. Denn eine Welt ist für ihn dann moralisch perfekt, wenn alle Akteure in perfekter Weise moralisch motiviert sind, gleichgültig, ob diese Motive auch in jedem Einzelfall zu moralisch richtigem Handeln führen. Demgegenüber hat die Erhaltung des Friedens als solche für den Gesinnungsethiker keinen moralischen Wert - oder zumindest sehr viel weniger als Friedensgesinnung und Friedensbemühung. Analog dazu vertrat Kant die Auffassung, dass Glück nur dann als Wert anzuerkennen sei, wenn sich der Mensch seines Glücks durch moralische Motive würdig erwiesen hat. Glück ist lediglich als Lohn für Moral ein Gut, nicht auch schon als solches. Eine Welt voller unglückli-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
eher Menschen, die sich um das Gute bemühen und dafür glücklich zu werden hoffen, wäre einer Welt glücklicher Menschen - paradoxerweise - vorzuziehen. Für den Konsequenzialisten ist demgegenüber eine perfekte Welt dadurch bestimmt, dass in ihr jene Güter, die in unserer Welt erst mithilfe der Moral verwirklicht werden sollen, bereits vollständig verwirklicht sind. Die moralisch perfekte Welt wäre eine Welt, in der die Zwecke und Funktionen der Moral optimal erfüllt sind. Es bedeutete aus ihrer Sicht keine Wertminderung, wenn diese Zwecke und Funktionen durch funktionale Äquivalente ebenso oder sogar besser gesichert wären als durch die Moral. Nur weil in der wirklichen Welt diese funktionalen Äquivalente nicht verfügbar sind, sind auch für den Konsequenzialisten moralische Motive, moralische Tugenden und moralische Werturteile ein unverzichtbarer Bestandteil nicht nur der faktischen, sondern jeder real möglichen Moral.
7.6 Die Herausforderung des psychologischen Egoismus Der psychologische Egoismus ist für jede Theorie moralischer Werturteile die denkbar größte Herausforderung. Denn diese Theorie bestreitet nicht nur die reale Möglichkeit eigentlicher, sondern auch die reale Möglichkeit uneigentlicher moralischer Motive. Hätte der psychologische Egoismus recht, wären sämtliche bisher diskutierten Theorien der moralischen Motivation hinfällig. Auch moralisch richtigem Verhalten lägen letztlich rein egoistische Motive zugrunde.
7.6.1 Egoismus und Altruismus Was sind „egoistische" Motive? „Egoismus" und „Altruismus" gehören zu den Ausdrücken, die in der Ethik gemeinhin
7.6 Die Herausforderung des psychologischen Egoismus
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in einem sehr viel technischeren Sinn verstanden werden als in der Umgangssprache. Zunächst wird der Ausdruck „Egoismus" in der Ethik in einer wertmäßig neutralen Weise verwendet. Zu sagen, dass jemand egoistisch handelt, denkt oder motiviert ist, besagt nicht zwangsläufig, dass dieses Handeln, Denken oder diese Art von Motivation in irgendeiner Weise bedenklich oder kritikwürdig ist. Zweitens werden anders als in der Umgangssprache in der Ethik vielfach auch negativ getönte Motive dem Egoismus und dem Altruismus zugerechnet. Wer sich selbst hasst und sich deshalb selbst schädigt, ist egoistisch motiviert, wenn auch in negativer Weise. Wer anderen Böses will, etwa aus Wut über von ihnen verübtes Unrecht, ist altruistisch motiviert, wiederum unter negativem Vorzeichen. Drittens wird in der Ethik mit „Egoismus" weder eine bestimmte Verhaltensweise noch eine bestimmte Art von Verhaltensmaxime bezeichnet, sondern eine bestimmte Art der Verhaltensmotivation. Egoistisch zu handeln bedeutet, von Motiven geleitet zu sein, die auf das eigene Selbst zielen, altruistisch zu handeln, von Motiven geleitet zu sein, die auf andere zielen. Das bedeutet, dass sich Egoismus nicht in jedem Fall in egoistischem Verhalten und Altruismus nicht in jedem Fall in altruistischem Verhalten ausdrückt. Wer egoistisch motiviert ist und gleichzeitig ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung hat, wird sich hüten, seine Mitmenschen durch krass egoistisches Verhalten abzustoßen. Er wird sich vielmehr um ein Verhalten bemühen, mit dem er sich anderen genehm macht, u. a. durch ein gewöhnlich als „altruistisch" gedeutetes Verhalten wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft. Auf der anderen Seite können altruistische Motive zu einem scheinbar egoistischen Verhalten führen, wie etwa dann, wenn sich ein Wissenschaftler altruistische Ziele setzt (wie etwa die Befreiung der Menschheit von einer bisher nicht beherrschbaren Krankheit), diese aber nur dadurch erreichen kann, dass er sich in sein Labor zurückzieht und sich für die Anliegen anderer
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weitgehend unansprechbar macht, also ein gemeinhin als „egoistisch" gedeutetes Verhalten zeigt. Eine einfache, aber dennoch klärende Abgrenzung von Egoismus und Altruismus hat Bernard Williams (1978,260) vorgeschlagen. Danach ist ein Motiv egoistisch, wenn es die Form hat: „Ich will, dass ich...", wobei das „dass ich..." die letzten Zwecke bezeichnet, die ein Akteur mit seiner Handlung verfolgt. „Letzte" Zwecke sind dabei Zwecke, die selbst nicht mehr durch andere Zwecke motiviert sind. Altruistisch ist ein Motiv von der Form: „Ich will, dass N...", wobei N eine vom Akteur verschiedene Person benennt und das „dass N..." die letzten Zwecke bezeichnet, die ein Akteur mit seinen Handlungen verfolgt. Ob ein Motiv egoistisch oder altruistisch ist, hängt diesem Analysevorschlag nach ausschließlich von seinem intentionalen Fokus ab. Ist es auf mich selbst gerichtet, ist es egoistisch, ist es auf einen anderen gerichtet, ist es altruistisch. „Auf mich selbst gerichtet" darf dabei allerdings nicht zu eng verstanden werden. Ein Motiv ist Williams' Vorschlag zufolge nicht nur dann egoistisch, wenn es sich auf gegenwärtige oder zukünftige Zustände richtet, die ich selbst erlebe oder die ich in der Zukunft erleben werde, sondern auch auf Zustände, die mithilfe des Ausdrucks „ich" beschrieben werden, ohne dass sie von mir erlebt werden, z.B. auf meinen Nachruhm nach meinem Tod oder darauf, nicht unwissentlich von anderen getäuscht oder betrogen zu werden. Auch der Wunsch, noch nach hundert Jahren gelesen zu werden, ist ein egoistischer Wunsch - auch wenn ich selbst von der Erfüllung dieses Wunsches, wie man sagen könnte, nichts habe als den unsicheren Vorgeschmack. Deshalb sind egoistische Wünsche und Motive nicht notwendig hedonistisch, sondern können auch asketische Inhalte annehmen. Der Extremfall eines asketischen Egoismus ist Herostrats Brandstiftung am Artemistempel von Ephesos, aus dem Motiv heraus, möglichst lange erinnert zu werden.
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Entsprechendes gilt für den Altruismus. Nicht nur derjenige ist altruistisch motiviert, dessen Streben sich auf Zustände eines anderen richtet, die diesem erlebnismäßig zugänglich sind (wie das tätige Mitleid), sondern auch derjenige, dem es um das Schicksal des anderen geht, ohne dass dieses Auswirkungen auf das Erleben des anderen hat oder auch nur in seine Lebenszeit fällt. Wie das Interesse an dem eigenen Nachruhm egoistisch, ist das Interesse am Gedenken oder Nachruhm des anderen altruistisch. Weiterhin ist für diesen Analysevorschlag der Zusatz „letzte Zwecke" unerlässlich. Andernfalls müssten wir ein Motiv auch dann als egoistisch bezeichnen, wenn die selbstbezogenen Zwecke lediglich ein Mittel zu altruistischen Zwecken darstellen, wie etwa dann, wenn jemand reich werden will, um seinen Reichtum daraufhin seinen Kindern zu vermachen. „..., dass ich reich werde" würde in diesem Fall nicht die letzten, sondern nur die vorletzten Zwecke bezeichnen. Diese letzten Zwecke sind nicht egoistischer, sondern altruistischer Natur. Dafür ist allerdings erforderlich, dass der Zweck „..., dass ich meinen Kindern etwas hinterlassen kann" für den jeweiligen Akteur tatsächlich den letzten Zweck ausmacht. Der Wunsch, den Kindern möglichst viel Geld zu vererben, darf nicht selbst wiederum egoistisch motiviert sein, wie etwa dann, wenn dieser Wunsch seinerseits von der Überlegung geleitet ist, von den Kindern im Alter besser behandelt zu werden, nach dem Tod mit Bewunderung erinnert zu werden oder in den Himmel zu kommen. Eine wichtige und weitreichende Konsequenz aus Williams' Vorschlag ist, dass Egoismus und Altruismus zusammen die Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Ein Handeln, das nicht egoistisch motiviert ist, ist deshalb noch nicht altruistisch motiviert, und ein Handeln, das nicht altruistisch motiviert ist, ist deshalb noch nicht egoistisch motiviert. Ein großer Teil unserer tagtäglichen Handlungen sind durch Wünsche motiviert, die sich weder auf uns selbst noch auf andere richten, sondern
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auf sachliche Zwecke. Der Zweck unseres Handelns liegt dabei weder in der Bewirkung oder Förderung eigener noch in der Bewirkung oder Förderung fremder Zustände, sondern in der Beförderung einer objektiven Sache (wie der Wahrheit), der Verfolgung nicht-personenbezogener Ideale (wie künstlerischer Perfektion) oder der Erhaltung eines nicht-personalen Guts (wie einer möglichst ursprünglichen Natur). Menschliche Zwecke sind nicht auf die Sphäre des Menschen beschränkt. Auch un- und überpersönliche Zwecke können zu Verhaltensmotiven werden. Man denke etwa an die in den letzten Jahrzehnten bedeutsam gewordenen biozentrischen Motive innerhalb der ökologischen Moral - die Aufrechterhaltung der natürlichen Vielfalt um ihrer selbst willen - oder an die historisch bedeutsamen religiösen Motive etwa zur Erhaltung und Expansion kirchlicher Institutionen. Sachbezogene Motive sind eine dritte Kategorie neben Egoismus und Altruismus. Die dieser Kategorie zuzuordnenden Motive lassen sich nur unter Inkaufnahme gravierender Unplausibilität auf egoistische oder altruistische Motive zurückführen. Freilich sind die Übergänge gelegentlich fließend und die Zuordnungen zweifelhaft. Motive, die sich auf Tiere oder auf personal vorgestellte überirdische Wesen (Götter, Geister, Engel) richten, nehmen eine Zwischenstellung ein. Soweit sie sich auf menschenähnliche Wesen beziehen, kann man sie vielleicht den altruistischen zurechnen. Dagegen müssen die eigentlichen moralischen Motive, also Pflichtbewusstsein, Gewissenhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn usw. den sachlichen Motiven zugerechnet werden. Der Wunsch, moralgemäß zu handeln, ist weder egoistisch noch altruistisch - auch dann nicht, wenn die jeweils angezielte Moral eine ausgeprägt altruistische Orientierung besitzt. Offenkundig wird die sachbezogene Richtung eigentlich moralischer Motive vor allem dann, wenn die jeweils zugrunde liegende Moral nur bedingt altruistisch orientiert ist, wie etwa bei Moralen mit eigenständigen Prinzipien der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit. Der
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Wunsch, einen Mörder angemessen zu bestrafen (das Motiv, ihn „sühnen" zu lassen) ist im Rahmen einer solchen Moral weder egoistisch noch altruistisch, sondern sachlich motiviert. Es ist weder in jedem Fall rückführbar auf einen egoistischen Wunsch nach Befriedigung eines Vergeltungsbedürfnisses noch auf einen altruistischen Wunsch nach Prävention zukünftiger Verbrechen. Analoges gilt für den Wunsch nach Gleichverteilung der Einkommen. Er ist im Rahmen einer Moral, die Gleichverteilung als intrinsischen Wert betrachtet, weder rückführbar auf einen egoistischen Wunsch nach Befriedigung eines „Gerechtigkeitsbedürfnisses" noch auf einen altruistischen Wunsch nach der Minimierung von Neid und Diskriminierung. Wenn sachbezogene Motive im Alltagsleben vielfach „egoistisch" genannt werden, dann deswegen, weil sie sich ähnlich wie egoistische Motive auswirken, nämlich in einem Mangel an Altruismus. Wer sich Kunst oder Wissenschaft ergibt, entzieht sich den Bedürfnissen anderer oft nicht weniger als ein erklärter Egoist. Im allgemeinen entzieht er sich sogar noch stärker, da seine sachlichen Ideale weniger als egoistische dazu angetan sind, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.
7.6.2 Varianten des psychologischen Egoismus Psychologischer Egoismus bedeutet, dass letztlich alle altruistischen und sachbezogenen Motive fälschlicherweise als solche gelten, in Wahrheit aber auf egoistische zurückgeführt werden können. Dass es zu dieser grandiosen Verkennung der wahren Sachlage kommt, erklärt der psychologische Egoist dabei zumeist wiederum mit den Mitteln seiner eigenen Theorie: Es schmeichelt unserem Egoismus, uns selbst altruistische und sachliche Motive zuzuschreiben. Statt uns als die Egoisten zu sehen, die wir sind, passen wir das innere Bild unserer Motive unserem übersteigerten Selbstbild an. Wir machen uns Illusio-
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nen über unsere Motive, weil egoistisch zu sein unserem Egoismus schlecht bekommt. Der psychologische Egoismus ist in der Geschichte der Ethik insbesondere in der spezifischen Gestalt des moralpsychologischen Egoismus vertreten worden: Alle vermeintlich eigentlichen und uneigentlichen moralischen Motive sind letztlich egoistische Motive. Große Namen gehören zu dieser Tradition: Hobbes, La Rochefoucauld, Nietzsche, Freud. Bentham und Mill, die Begründer des Utilitarismus, standen dem psychologischen Egoismus zumindest zeitweilig nahe. Bentham erwartete die Befolgung der utilitaristischen Moral weniger von genuin moralischen Motiven wie Pflichtbewusstsein und Gewissenhaftigkeit als von dem Wunsch, äußeren Sanktionen wie staatlichen und göttlichen Strafen, sozialer Ablehnung und Meidung sowie den widrigen natürlichen Folgen von Pflichtverletzungen zu entgehen. Mill betonte im Gegensatz dazu die Rolle innerer Sanktionen (einschließlich moralischer Gefühle wie Würde und Stolz), ging aber in seinem sogenannten „Beweis" für den Utilitarismus (Mill 1976, Kap. 4) dennoch von der Arbeitshypothese aus, jeder strebe ausschließlich nach seinem eigenen Glück. Bei universalistischen normativen Theorien stellt sich allerdings regelmäßig die Konsistenzfrage: Ist der moralpsychologische Egoismus auf der deskriptiven Ebene mit der universalistischen Theorie auf der normativen Ebene vereinbar? MUSS es nicht zumindest einige geben - etwa Politiker, Juristen, Kirchenführer, Erzieher -, die das Sanktionensystem aus nicht ausschließlich egoistischen Gründen aufrechterhalten oder weiterentwickeln? Auch wenn alle egoistische Gründe haben, den Regeln zu folgen, müssen dann nicht zumindest die Regelsetzer - soweit und solange sie Regeln setzen - von anderen als rein egoistischen Motiven geleitet sein? Einen eingeschränkten moralpsychologischen Egoismus haben sogar Gesinnungsethiker wie Kant und Schopenhauer vertreten. Beide tendieren zum psychologischen Egoismus,
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wenn auch nur soweit der Mensch der empirischen Welt angehört. Innerhalb der empirischen Welt ist der Mensch durchweg egoistisch motiviert. Lediglich die moralische Motivation (bei Kant die „Achtung vor dem Gesetz", bei Schopenhauer das „Mitleid") macht eine Ausnahme. Dies aber nur dank eines überempirischen, transzendenten Ursprungs: Wie ein von Gott gesandtes Wunder durchbricht das moralische Motiv die Naturgesetzlichkeit des Egoismus. Moralpsychologische Egoisten machen sich die Sache gelegentlich übergebührlich einfach, indem sie statt für den moralpsychologischen Egoismus für zwei schwächere Thesen argumentieren, die von der These des moralpsychologischen Egoismus unterschieden werden müssen, nämlich: 1. Alle eigentlichen und uneigentlichen moralischen Motive sind das Resultat von Lernprozessen. 2. Allen eigentlichen und uneigentlichen moralischen Motive liegen unbewusste egoistische Motive zugrunde. Beide Aussagen sind mit der Anerkennung der Existenz eigentlicher und uneigentlicher moralischer Motive vereinbar. Die erste Aussage ist mit der Anerkennung moralischer Motive vereinbar, da diese nicht impliziert, dass bereits das Kleinkind über moralische Motive verfügt. Der moralpsychologische Egoist ist auch dann widerlegt, wenn es genuin moralische Motive gibt, die sich (wie etwa John Stuart Mill annahm) erst durch Erziehungsprozesse herausbilden. Danach ist moralische Motivation nicht angeboren (wie es etwa Hume für die Motive der Menschenfreundlichkeit und der Sympathie annahm), sondern ein Produkt von Kultivierung und Sozialisation. Moralische Motive aber bereits deshalb als „eigentlich oder im Kern egoistisch" abzutun, weil sie sich erst aufgrund von Konditionierungsprozessen aus ursprünglich egoistischen Motiven entwickeln, liefe auf eine Verwechslung von Entstehungs- und Geltungsbedingungen, auf einen „genetischen Fehlschluss" hinaus.
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Zu einem „genetischen Fehlschluss", der voreilig von den Entstehungsbedingungen einer Theorie, These oder Norm auf deren Geltung, Wert und Wahrheit schließt, neigt auch Nietzsches Theorie der Moralentstehung aus dem Ressentiment, dem Hass der Schwächeren auf die Stärkeren. In seiner psychologisch-historischen Spekulation „Zur Genealogie der Moral" (Nietzsche 1966, Bd. 2, 761-900) entwickelt Nietzsche die Hypothese, dass die Moral auf eine Erfindung der Schwachen und Unterdrückten zurückgeht, mit der diese die Stärkeren und insbesondere ihre Unterdrücker durch moralische Beschämung zu schwächen versuchen. Die Moral ist ein Trick, der es den Schwächeren erlaubt, sich über die Stärkeren zu erheben und damit die bestehende Wertordnung aus den Angeln zu heben. Moral ist eine Art „verkehrte Welt": Die stolzen, grausamen und herrschsüchtigen Aristokraten stehen in der moralischen Hierarchie ganz unten, die ohnmächtigen, schwachen, geknechteten „Sklaven" ganz oben. Das Mittel dazu ist eine Art manipulativer „Begriffspolitik", die Umdefinition von Schwäche als Verdienst, von Ohnmacht als Güte, von ängstlicher Niedrigkeit als Demut, von Feigheit als Geduld und von Unfähigkeit zur Rache als Verzeihung. Die Motive der Schwächeren sind dabei ebenso egoistisch wie die Motive derer, über die sie schließlich die Macht erringen. Letztes Motiv ist der „Wille zur Macht": Mithilfe der Moral erhöhen sich die Erniedrigten, indem sie die sich selbst Erhöhenden erniedrigen. Die erfolgreich Gezähmten „zähmen" ihrerseits ihre Herren, u. a. (da es ihnen an realer Macht fehlt) durch mythische Konstruktionen wie die „ewigen Höllenstrafen", denen keiner, und insbesondere keiner der Mächtigen, entgeht. Auch die zweite Aussage ist mit der Anerkennung moralischer Motive vereinbar. Die These des moralpsychologischen Egoismus bezieht sich auf bewusste Motive und nicht auf die möglichen unbewussten Faktoren, durch die diese ihrerseits erklärt werden können. Genau darin besteht die von ihm ausgehende Provokation. Die Möglichkeit, moralische Motive auf
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der Ebene des Bewusstseins auf der Ebene des Unbewussten durch egoistische Triebwünsche zu erklären, hätte dagegen nichts vergleichbar Provozierendes. Denn niemand muss sich seine unbewussten Regungen zurechnen. Zu behaupten, dass unegoistische Wünsche deshalb, weil sie durch unbewusste egoistische Wünsche verursacht sind, ihrerseits „eigentlich" egoistische seien, liefe wiederum auf einen genetischen Fehlschluss hinaus. Zu den „bewussten Motiven", auf die sich der (moral)psychologische Egoismus bezieht, sollten allerdings nicht nur diejenigen Motive gerechnet werden, die aktuell im Bewusstsein vorhanden sind, sondern auch diejenigen Motive, die über Prozesse der Selbstbeobachtung und Selbstbefragung für den Akteur eruierbar sind. Wird etwa ein scheinbar altruistisches Verhalten auf mögliche egoistische Motive hin „hinterfragt", reicht es für einen Akteur nicht aus, sich lediglich auf die Motive zu berufen, die ihm im Zusammenhang mit dem betreffenden Verhalten akut bewusst waren. Er muss sich vielmehr auf eine Motivanalyse einlassen, die sich hypothetischer Alternativszenarien bedient und fragt, ob er sich auch dann so verhalten hätte, wie er sich verhalten hat, wenn bestimmte Nebenfolgen, die egoistische Wünsche befriedigen, nicht zu erwarten gewesen wären. Angesichts des zu vermutenden Vorherrschens sozialkonformistischer Neigungen muss der Verteidiger genuin moralischer Motive insbesondere zeigen können, dass die moralischen Motive, die er moralischen Akteuren zuschreibt, auch dann wirksam geworden wären, wenn sie den gesellschaftlich geltenden Erwartungen nicht entsprochen hätten und nicht durch den egoistischen Wunsch nach Zuwendung und Anerkennung erklärt werden können. Die überzeugendste Kritik am psychologischen Egoismus (die sich ausdrücklich gegen Hobbes und La Rochefoucauld richtet) ist von Joseph Butler, einem anglikanischen Bischof des 18. Jahrhunderts geliefert worden (Butler 1970). Butler unterstellt dem psychologischen Egoisten eine Fehlargumenta-
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tion, deren einzelne Schritte man mit der folgenden Abfolge von Aussagen rekonstruieren kann: (1) (2) (3) (4)
Alle wollen nur das, was sie wollen. Alle wollen nur das, was ihren Interessen entspricht. Alle wollen stets nur die Befriedigung ihrer Interessen. Alle wollen stets nur ihre Befriedigung.
In dieser vermeintlichen „Herleitung" des psychologischen Egoismus steht am Anfang eine Tautologie, am Ende eine Aussage, die zwar mit dem psychologischen Egoismus nicht identisch ist, aber diesen doch immerhin impliziert. Wenn Aussage (4) zutreffen würde, gälte nicht nur der psychologische Egoismus, sondern eine spezifisch hedonistische Version, nach der man nicht nur ausschließlich selbstbezogene Wünsche haben kann, sondern nach der sich diese Wünsche auch stets auf eigene - als befriedigend erlebte - Erlebniszustände richten. Dass eine so starke Aussage aus einer Tautologie herleitbar sein soll, ist von vornherein unplausibel. Aber wo liegt der Fehler? Ableitungslücken finden sich an mindestens zwei Stellen. Die erste befindet sich zwischen Aussage (2) und Aussage (3) und beruht auf der Konfusion zwischen zwei verschiedenen Arten von Willensstrebungen: Willensstrebungen, die sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, und Willensstrebungen, die sich auf die Befriedigung dieser Willensstrebungen beziehen. Wenn ich ein Interesse an etwas Trinkbarem habe, so will ich das Getränk. Diese Willensrichtung ist jedoch nicht identisch mit der Willensrichtung, die auf die Befriedigung des Durstgefühls zielt. Das Durstgefühl selbst liegt zwar dem Wunsch nach etwas Trinkbarem zugrunde, ist aber nicht Gegenstand des Wunsches nach Trinkbarem. Es hat vielmehr - anders als das auf den Gegenstand direkt zielende Interesse - eine reflexive Struktur. Der psychologische Egoismus nimmt an, dass alle unsere Wünsche selbstbezogen sind. Tatsächlich ist jedoch der größte Teil unserer Wünsche sachbezogen und unmittelbar auf den Gegenstand gerichtet.
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Man kann das u. a. daran sehen, dass derjenige, dem man ein Interesse an der Befriedigung seiner Interessen zuschreibt, über weitergehende begriffliche Fähigkeiten verfügen muss, als derjenige, dem man ein Interesse an der Sache selbst zuschreibt. Dieser Umstand kann etwa bei kleinen Kindern oder bei Tieren bedeutsam werden. Einem kleinen Kind kann man ein Interesse an etwas Trinkbarem zuschreiben, ohne ihm gleichzeitig ein Interesse an der Befriedigung seines Interesses an Trinkbarem zuschreiben zu müssen. Möglicherweise verfügt es noch gar nicht über das in der Zuschreibung von reflexiven Interessen implizierte Selbstbewusstsein. Die zweite Lücke befindet sich zwischen Aussage (3) und Aussage (4), die ein jeweils unterschiedliches Verständnis des mehrdeutigen Ausdrucks „Befriedigung" voraussetzen. In Satz (3) bezieht sich „Befriedigung" auf den Sachverhalt, durch den der betreffende Wunsch erfüllt wird. In Satz (4) bezieht sich „Befriedigung" auf ein bestimmtes subjektives Erleben des Wünschenden, nämlich das Erleben, das die Erfüllung seines Wunsches in ihm auslöst. Wie wir bereits gesehen haben, können sich jedoch Wünsche und Interessen auf Sachverhalte richten, die vom Wünschenden selbst gar nicht erlebbar sind, z. B. zukünftige Sachverhalte außerhalb der eigenen Lebensspanne. Also folgt auch aus der Annahme, dass alle stets nur die Befriedigung ihrer Interessen wollen, nicht, dass alle stets nur ihre Befriedigung wollen.
7.6.3 Die Rolle von Sanktionen Butlers Argumentation gegen eine quasi „logische" Form des psychologischen Egoismus (die diesen aus einer logischen Tautologie herleiten zu können meint) ist freilich noch keine Widerlegung des allgemeinen psychologischen Egoismus, und selbst wenn diese gelänge, wäre damit der moralpsychologische Egoismus noch nicht widerlegt, der speziell die Möglich-
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keit von eigentlichen und uneigentlichen moralischen Motiven in Abrede stellt. Lässt sich der moralpsychologische Egoismus überhaupt schlüssig widerlegen? Die Sachlage ist für uns Heutige immer noch in dasselbe Dunkel gehüllt wie sie es zu Butlers und Kants Zeiten war. Für Kant war die Frage, ob eigentlich moralische Motive verhaltenswirksam werden können, eher eine Sache des Glaubens als des gesicherten Wissens. Wiederholt äußert er sich skeptisch, ob die Motivanalyse jemals dahin gelangt, moralische und egoistische (und, wie wir über Kant hinausgehend, ergänzen müssen: altruistische) Motive auseinanderzusortieren und ihre jeweilige Beteiligung an dem Zustandekommen einer Handlung zu bestimmen. Bezeichnend ist etwa die folgende Passage der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich aus moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfüng gar nichts antreffen, das außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln, in der That aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die gemeinen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werthe die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Principien derselben, die man nicht sieht. (Kant 1902 ff., Bd. 4, 407).
Bis heute ist es, soweit ich sehe, nicht gelungen, Versuchsanordnungen zu ersinnen, die die Frage des moralpsychologischen Egoismus empirisch zu entscheiden erlauben. Stets las-
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sen sich die Ergebnisse sowohl in einem egoistischen wie auch in einem nicht-egoistischen Sinne deuten. Wer gewissenhaft handelt, kann so beschrieben werden, dass er sein Verhalten dem anpasst, was er für moralisch richtig hält (nicht-egoistische Deutung), aber auch so, dass er angesichts der moralischen Überzeugungen, die er sich zu eigen gemacht hat, ein gutes Gewissen behalten will (egoistische Deutung). Wer altruistisch handelt, kann so beschrieben werden, dass er seinen altruistischen Motiven folgt (nicht-egoistische Deutung), aber auch so, dass er angesichts der Ich-Ideale, die er sich zu eigen gemacht hat, seinen persönlichen Idealvorstellungen nicht untreu werden möchte (egoistische Deutung). Streitpunkte zwischen moralpsychologischen Egoisten und ihren Gegnern sind vor allem Fälle, in denen sich ein Akteur von sogenannten inneren Moralsanktionen zum Handeln motivieren lässt, wie etwa dann, wenn für die Einhaltung einer moralischen Norm äußere Sanktionen wie Strafe, Rufschädigung, soziale Isolierung, Liebesverlust wegfallen - z. B. dann, wenn der Akteur sicher ist, dass seine Zuwiderhandlung unentdeckt bleibt. Welche Motive bringen jemanden dazu, seinen Prinzipien auch dann treu zu bleiben, wenn er weder äußere negative Sanktionen für eine Zuwiderhandlung noch äußere positive Sanktionen für Prinzipientreue zu erwarten hat? Naive moralpsychologische Egoisten wie Platons Glaukon (Platon, Staat, 359 ff.) tendieren in dieser Frage zu der Antwort: „keine". Für Glaukon, so wie er von Platon dargestellt wird, ist es mehr oder weniger selbstverständlich, dass er, mit Gyges' unsichtbar machendem Ring beschenkt, den König entmachten und die Königin zu seiner Geliebten machen würde. Subtilere moralpsychologische Egoisten tendieren zu der Antwort: „£a depend", nämlich von den zu erwartenden inneren Sanktionen. Auch der durch und durch egoistische Akteur möchte den Schuldgefühlen entgehen, die ihm die Verletzung seiner Grundsätze voraussichtlich einbringen, sowie deren Folgelasten, etwa der Schwächung seiner Selbstachtung, die
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Störung seines Seelenfriedens und die Befangenheit im Umgang mit anderen. Viele Regelverletzungen „lohnen" sich letztlich nicht, auch wenn sie unentdeckt bleiben. Gelassenheit und innere Zufriedenheit sind nur zusammen mit einem reinen Gewissen vorstellbar, Schuld dagegen - nach Schiller - der Übel allerschlimmstes. Für den moralpsychologischen Anti-Egoisten zäumt diese Sichtweise das Pferd vom Schwänze auf: Gelassenheit und Seelenruhe stellen sich erst im Gefolge eines reinen Gewissens her, sind aber nicht selbst Ziel der Normbefolgung. Ein gutes Gewissen ist der Lohn der Tugend, nicht ihr Zweck. Wenn ich mein Wort halte, obwohl es mir schwerfällt, oder die Wahrheit sage, obwohl die Unwahrheit bequemer wäre, so nicht deshalb, weil ich kalkulierend meine späteren Schuldgefühle gegen das gegenwärtige Ungemach aufrechne, sondern schlicht deshalb, weil ich es für richtig und erforderlich halte. Die Differenz ist subtil, aber dennoch substanziell. Tugendhat fragt an einer Stelle seiner Vorlesungen über Ethik: „Halte ich mein Versprechen, weil ich die Person achte, oder weil ich mich andernfalls schämen oder verachten würde? Man könnte sagen, beides ist so gut wie identisch." (Tugendhat 1993, 123). Ist es das wirklich? In manchen Situationen kalkulieren wir, in anderen nicht. Wenn es uns wirklich wichtig ist, kalkulieren wir nicht. Nicht die Angst vor Schuldgefühlen las st uns vor dem moralisch Verwerflichen zurückweichen, sondern die Ablehnung des Verwerflichen selbst.
7.6.4 Egoistische Gründe für die Moral Hat der eingefleischte Egoist - im Sinne eines Menschen, der sich ausschließlich von egoistischen Motiven leiten lässt- einen Grund, sich mit der Moral, die er verschmäht, anzufreunden und sich moralische Motive, über die er definitionsgemäß nicht verfügt, zu eigen zu machen?
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Die Frage klingt befremdlich. Gegen sie könnte gesagt werden, dass sie Motive fälschlicherweise wie Handlungen behandelt und so tut, als könnte man sich bestimmte Motive nicht nur wünschen, sondern ebenso willentlich zu eigen machen, wie man bestimmte Handlungen willentlich ausführt. Man könne sich jedoch zwar entscheiden, moralisch zu bandeln^ aber nicht, moralische Motive zu haben. Entweder man ist bereits moralisch motiviert oder man ist es nicht. Aber gegen diesen Einwand ist eine Verteidigung zur Hand: Auch wenn Motive nicht direkt erstrebt werden können, so können sie doch möglicherweise indirekt erstrebt werden, z.B. durch Gewöhnung, Selbstermahnung oder Umgang mit ähnlich motivierten Menschen (man denke an die beträchtlichen Übereinstimmungen in den Bedürfnissen von Ehepaaren). Ein solcher Prozess wäre ein Vorgang der Selbsterziehung oder Selbsttherapie. Es ist durchaus vorstellbar, dass man sich aus egoistischen Motiven auf einen Prozess einlässt, der am Ende zu nicht-egoistischen Motiven führt. So wie man nach Pascal möglicherweise dadurch gläubig wird, dass man in die Kirche geht, könnte man auch aus egoistischen Gründen hoffen, moralische Motive zu entwickeln, z. B. indem man den Umgang mit moralisch motivierten Freunden pflegt oder sich in Situationen begibt, von denen man weiß oder erwartet, dass sie der Ausbildung moralischer Motivationen günstig sind. Die Frage ist also durchaus sinnvoll. Lohnt es sich für einen Egoisten, moralische Normen soweit zu internalisieren, dass sie für ihn mit moralischen (eigentlichen oder uneigentlichen) Motiven verknüpft sind? Gibt es überzeugende egoistische Gründe für die Tugend? Es ist schwer, als Egoist glücklich zu werden. Der Egoist wird, wie bereits Bischof Butler wusste, gut daran tun, in sich zumindest ein Minimum an altruistischen Motivationen auszubilden und persönliche Beziehungen von einem rein kalkulierenden Homo-oeconomicus-Denken auszunehmen (vgl. Butler 1970, 102). Erst dann, wenn er in Beziehungen investiert,
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ohne auf einen kurzfristigen Gegenwert zu hoffen, wird er auch das Glück erfahren können, das stabile Beziehungen vermitteln und damit seine eigentlichen Ziele erreichen. Er muss gewissermaßen danebenzielen, wenn er treffen will. Er muss das Kalkulieren aus Kalkül aufgeben. Intensive stabile Beziehungen sind kaum denkbar ohne starke uneigentliche moralische Motive, zumindest solche partikulärer Art. Schwieriger scheint es, den Egoisten davon überzeugen, dass es für ihn lohnt, nicht nur partikuläre - z. B. auf den jeweiligen Beziehungspartner zielende -, sondern darüber hinaus auch universelle uneigentliche und eigentliche moralische Motive zu entwickeln. Ein gelegentlich vorgebrachtes Argument dafür, dass auch der Egoist der Moral etwas abgewinnen wird, lautet, dass dem Egoisten an den Chancen einer für ihn fruchtbringenden Kooperation mit anderen gelegen sein muss, dass sich diese ihm aber nur dann eröffnen, wenn er als Kooperationspartner hinreichend geschätzt wird. Der Schlüssel zu dieser Wertschätzung ist jedoch die Moral: dem Moralischen wird vertraut, er gilt als zuverlässig, insbesondere dann, wenn die Moral bei ihm so stark emotional verankert ist, dass sie sich ohne besondere Anstrengung gegen egoistische Kalküle behauptet.42 Bei einem moralischen Menschen muss man weniger als bei anderen auf der Hut vor Lug und Trug sein, braucht von ihm keine Untreue, keine ungerechtfertigten Aggressionen und keine unfairen Übergriffe zu gewärtigen. Ein Akteur, der als homo oeconomicus die Kooperationschancen berechnet, auf die er - etwa als Unternehmer, Wissenschaftler oder Politiker - angewiesen ist, wird deshalb auch ohne anfängliche moralische Motive die Vorzüge der Moral schätzen lernen und versuchen, zum homo sociologies oder politicus zu mutieren (vgl. Baurmann 1996, Teil III). 42 Vgl. Robert H. Frank (1992, 19): „Wenn es... darauf ankommt, Vertrauen zu wecken, kann es sehr vorteilhaft sein, wenn man dafür bekannt ist, leicht rot zu werden."
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Ein anderes Argument besagt, dass es für den Egoisten schlicht eine Entlastung bedeutet, wenn er die moralischen Motive auch innerlich annimmt, die er nach außen demonstrieren muss, um in einer überwiegend moralisch orientierten Gesellschaft nicht als eigensüchtig aufzufallen. „Kluge Leute glauben zu machen, man sei, der man nicht ist, ist gemeinhin schwerer, als der zu werden, als der man erscheinen möchte", sagt Lichtenberg (1974, 103). Darüber hinaus muss sich der amoralistische Egoist fragen, ob er auf die Potenziale moralischer Normen zur Sinnstiftung verzichten will. Auch wird ihm der gesamte Bereich moralischer Emotionen verschlossen bleiben. Alle diese Argumente haben Gewicht. Es fragt sich dennoch, ob sie ausreichen, um den amoralistischen Egoisten zu überzeugen. Es könnte sein, dass das Leben des Amoralisten sehr viel besser ist als sein Ruf und dass ihn die angeführten Argumente ebenso wenig beeindrucken wie die Argumente des Religiösen den überzeugten Religionsfeind. Auch die Religion öffnet Kooperationschancen und Erlebnisdimensionen, auf die der Areligiöse verzichten muss. Dennoch wird der überzeugte Ketzer auf diese in aller Regel gern verzichten. Das gilt erstens für die Dimension der sozialen Anerkennung. Sicher wird der Amoralist auf einen Teil der sozialen Anerkennung des moralisch Motivierten verzichten müssen. Aber dies wird ihm um so leichter fallen, je mehr er über anderweitige Mittel verfügt, sich Anerkennung zu verschaffen z. B. durch Leistung, Intelligenz, Kreativität und persönliche Attraktivität. Die Unfairness der Situation, dass er sich an die Prinzipien nicht gebunden fühlt, an die sich andere gebunden fühlen, und dass er weniger moralischen Druck und weniger Gewissensbisse spürt als andere, kann für ihn kein Grund sein, seine Denkweise zu ändern. Möglicherweise wird er als jemand, der das Einhalten von Verträgen und Versprechen nicht als moralisch verpflichtend betrachtet, auf Kooperationsmöglichkeiten verzichten müssen. Aber er wird in seinem eigenen
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Interesse, also aus Klugheit und Kalkül, darauf bedacht sein, solche Verpflichtungen einzuhalten. Auch der Schaden, den seine Selbstachtung erleiden wird, ist alles andere als sicher. Selbstachtung kann nur dann durch Mangel an Moral beeinträchtigt sein, wenn Moral von vornherein dazugehört. Da Selbstachtung jedoch zu großen Teilen abhängig ist von der Achtung, die jemand durch andere erfährt, ist diese möglicherweise durch die Achtung gesichert, die andere dem Egoisten aufgrund anderweitiger Qualitäten entgegenbringen. Auch die zweite Argumentation ist nur bedingt gültig. Selbstverständlich wird der Amoralist vielfach zur Heuchelei von Emotionen gezwungen sein, die er nicht empfindet. Aber wie belastend das für ihn ist, hängt von dem Ausmaß der sozialen Kontrolle in der jeweiligen Gesellschaft ab. In einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft wird sich diese auf ein Minimum der Loyalität zu den tragenden gesellschaftlichen Werten und die Einhaltung von Normen der politischen Korrektheit beschränken. Auch die Sinnfindungsdimension kann nicht letztlich entscheidend sein. Denn dem Egoisten stehen anderweitige Möglichkeiten der Sinnfindung und andere Erlebnisdimensionen offen, z. B. im Bereich der Ästhetik oder der Wissenschaft. Warum sollen ihm Kunst und Wissenschaft nicht wichtiger sein können als die Moral? Von vielen Künstlern, Wissenschaftlern und Führungskräften vermuten wir, dass sie nicht deshalb so produktiv sind, wie sie es sind, weil sie so hohe moralische Ideale haben, sondern weil sie so hohe Ich-Ideale haben und den inneren Bildern von ihrer eigenen Größe gerecht werden wollen. Es ist kaum zu bezweifeln, dass sie daraus, dass sie ihre Ziele tatsächlich erreichen, eine beträchtliche Erfüllung ziehen, vor allem wenn es ihnen zusätzlich gelingt, sich aufgrund ihrer Leistungen gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Alles in allem haben wir deshalb wenig Grund zu der Vermutung, dass die Moral so lebenswichtig ist, dass auch der verstockteste Egoist von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugt werden kann.
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7.7 Der ethische Egoismus Der ethische Egoismus - gelegentlich auch „verallgemeinerter Egoismus" genannt - ist im Gegensatz zum psychologischen Egoismus keine (moral-)psychologische, sondern eine genuin normative und darüber hinaus universalistische Theorie. Man kann dabei zwischen einer starken und einer schwachen Form unterscheiden. In ihrer starken Form postuliert sie eine universale Verpflichtung zur Maximierung des eigenen Wohls oder der eigenen Vollkommenheit, in ihrer schwachen Form eine universale Berechtigung zur Maximierung des eigenen Wohls oder der eigenen Vollkommenheit. In der starken Form ist der ethische Egoismus nur selten (mit der berühmten Ausnahme Nietzsches) zur Grundlage einer Moralphilosophie gemacht worden. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Probleme, mit denen diese Variante konfrontiert ist. Ein erstes Problem ist die Wahrscheinlichkeit, mit der derjenige, der einen universalen Egoismus vertritt, in einen „performativen Selbstwiderspruch", d. h. einen Widerspruch zwischen dem Inhalt und der Ausführung einer moralischen Forderung verwickelt wird. Wer sich für verpflichtet hält, ausschließlich sein eigenes Wohl zu maximieren, kann in der Regel kein Interesse daran haben, andere zur Maximierung ihres Wohls zu ermuntern. Dies müsste er jedoch, wenn er als moralischer Ratgeber in Anspruch genommen wird und seinen Prinzipien treu bleiben will (vgl. Frankena 1972, 39). Folgt er seinen Prinzipien, muss er dem ändern im Sinne von dessen Eigeninteresse raten. Andererseits verpflichten ihn dieselben Prinzipien, seine eigenen Interesse im Auge zu behalten. In der weitgehend von Prinzipien des verallgemeinerten Egoismus bestimmten internationalen Politik ist dieses Dilemma allgegenwärtig. Zweitens hat der verallgemeinerte Egoismus im starken Sinn die paradoxe Tendenz, aus jedem Interessenkonflikt einen
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Normenkonflikt zu machen. Jedes auf einen eigenen Vorteil gerichtete Interesse wird nicht nur zu einem Recht, sondern zu einer Pflicht. Aus Sicht des ethischen Egoisten hat jede von zwei Konfliktparteien nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihren jeweiligen Vorteil zu suchen. Weniger problematisch ist eine „Pflicht zur Selbstliebe", wenn sie als sekundäres oder als Teilprinzip verstanden wird. Eine sekundäre, d. h. abgeleitete Pflicht zur Selbstliebe postuliert Kant mit dem Argument, dass nur von dem, der sein eigenes Wohl nicht vernachlässigt, Pflichtbewusstsein zu erwarten ist (Kant 1902 ff., Bd. 4,399). Die Verpflichtung zum Egoismus steht hier im Dienst der Bereitschaft, dem obersten Moralprinzip, dem Kategorischen Imperativ, Folge zu leisten. Nicht nur als abgeleitete, sondern als eigenständige Pflicht wird die Selbstliebe bei Butler postuliert. Sein eigenes wohlverstandenes Eigeninteresse zu verfolgen, wird als integraler, wenn auch nachgeordneter Teilbereich der Moral anerkannt. Der Egoismus ist weniger der Feind als der Verbündete der Moral. Als rationale Verhaltenssteuerung verspricht die Selbstliebe ein gewisses Maß an Kontrolle über die für den Akteur wie für andere potentiell schädlichen Leidenschaften. Sie steht allerdings ihrerseits unter der Herrschaft des Gewissens als oberster moralischer Instanz (Butler 1970, Kap. 1-3,11). Einen Teilbereich der Moral macht die Verpflichtung zur Selbstliebe schließlich auch bei Bentham aus. Sie ist Teil der Verpflichtung, das größte Glück der größten Zahl zu verwirklichen. Aus der militaristischen Grundnorm folgt für Bentham eine Verpflichtung nicht nur zur Selbsterhaltung, sondern auch zur Selbstbeglückung. Auch die von zahlreichen deontologischen Ethiken postulierten Pflichten gegenüber sich selbst, die nicht die Förderung des eigenen Wohls zum Inhalt haben, lassen sich terminologisch der starken Form des ethischen Egoismus zuordnen. Denn auch bei diesen Pflichten geht es darum, in der jeweils eigenen Person bestimmte Werte zu verwirklichen. Dabei stehen traditionell einerseits Integritäts-Werte wie Leben und körper-
7.7 Der ethische Egoismus
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liehe Unversehrtheit, anderseits Vollkommenheitswerte wie die Entwicklung von Fähigkeiten im Vordergrund. So postuliert etwa Kant nicht nur eine Pflicht zur Selbsterhaltung - mit einem strengen Selbsttötungsverbot - und ein Verbot der Selbstverstümmelung und des Verkaufs von Körperteilen, sondern auch eine Verpflichtung zur Selbstvervollkommnung im Sinne der Entwicklung von Begabungen und Fähigkeiten und ein Verbot der Selbstversklavung, das sich als ein Verbot der Selbstberaubung von Freiheits- und Entwicklungsmöglichkeiten interpretieren lässt. Einige von diesen selbstbezogenen Pflichten lassen sich als sekundäre altruistische Pflichten interpretieren, aber längst nicht alle. Ein abgeleitetes Verbot der Selbstverstümmelung etwa lässt sich nur für solche Fälle begründen, in denen dadurch anderen wichtige Leistungen vorenthalten werden, ein Verbot der Selbsttötung nur für solche Fälle, in denen andere durch eine Selbsttötung geschädigt werden. Ein solches indirekt begründetes Verbot findet man in der Tat bei Seneca oder bei Diderot. Bereits Hume (1984b, 97 f.) hat allerdings darauf hingewiesen, dass solche Schäden zu selten sind, um daraus eine universelle indirekte Pflicht zur Selbsterhaltung abzuleiten. Die schwächere Form des ethischen Egoismus, die die unbeschränkte Verfolgung des eigenen Wohl oder der eigenen Vollkommenheit lediglich erlaubt, ist mit den Schwierigkeiten der starken Variante nicht in der gleichen Weise konfrontiert, auch wenn sie verbreiteten Auffassungen von einem altruistischen Kerngehalt der Moral wenig entspricht. Die Erlaubnis, die Interessen anderer auch dann unberücksichtigt zu lassen, wenn sich diese in extremer Not befinden, ist mit einem so verstandenen Kerngehalt kaum zu vereinbaren. Plausibel ist ein schwacher ethische Egoismus allenfalls für gesellschaftliche Teilsysteme wie das Marktsystem, das es jedem Marktteilnehmer freistellt, ausschließlich seine eigenen wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. In diesem Fall ist die Geltung des schwachen ethischen Egoismus allerdings auf das Verhalten inner-
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7. Moralische Motivation und moralischer Wert
halb eines durch gesellschaftliche Normen gesicherten institutionellen Rahmens beschränkt. Fraglich ist jedoch, ob sich die Setzung und Aufrechterhaltung dieses Rahmens ihrerseits mit einem ethischen Egoismus rechtfertigen lassen. Darüber hinaus fragt sich, ob der schwache ethische Egoismus nicht jeweils nur für die Starken eine attraktive Position sein kann. Nur sie können sich, da sie auf die Solidarität anderer weniger angewiesen sind, den ethischen Egoismus „leisten". Die Schwächeren werden demgegenüber bereits aus egoistischen Gründen ein Interesse daran haben zu verhindern, dass die Stärkeren ihren Egoismus zum ethischen Prinzip überhöhen.
8. Die Sprache der Moral 8.1 Drei Konzeptionen der Bedeutung moralischer Urteile: Deskriptivismus, Emotivismus, Präskriptivismus Der „linguistic turn" in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat auch in der Ethik zu einer ausgedehnten Beschäftigung mit den für die Moral eigentümlichen Sprachformen geführt. Wegweisende Untersuchungen zur Sprache der Moral stammen insbesondere von G.E. Moore (1970), C.L. Stevenson (1944) und R. M. Hare (1972). Dabei beschränken sich längst nicht alle Untersuchungen auf eine bloße Phänomenologie der sprachlichen Tatbestände. Viele sprachanalytische Ethiker - und insbesondere die gerade genannten Autoren - ziehen aus ihren semantischen Analysen weitreichende metaethische und teilweise normativ-ethische Konsequenzen. So besteht ein enger Zusammenhang zwischen Moores sprachanalytischen Untersuchungen des Ausdrucks „gut" und seinem ethischen Intuitionismus, zwischen Stevensons emotivistischer Analyse moralischer Argumentationen und seinem ethischen Relativismus und zwischen Hares präskriptivistischer Deutung moralischer Handlungsurteile und seinem Versuch, mithilfe eines Identifikationsmodells zu einer metaethischen Begründung des Utilitarismus zu kommen. Dem Leser des 21. Jahrhunderts vermittelt die Lektüre dieser Untersuchungen nicht nur einen Eindruck von der Fruchtbarkeit sprachanalytischer Methoden für die Ethik, sondern vielfach auch den einer gewissen dogmatischen Einseitigkeit und insbesondere dessen, was Wittgenstein als eine der „Hauptursachen philosophischer Krankheiten" diagnostiziert hat, die einseitige Diät an Beispielen: „Man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen" (Wittgenstein 1984, 458 [§ 593]). Dieser Eindruck entsteht, weil viele dieser meta-
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8. Die Sprache der Moral
ethisch-semantischen Theorien behaupten, die Eigentümlichkeiten der Bedeutung moralischer Urteile durch jeweils einen einzigen ihrer Aspekte erfassen zu können: den deskriptiven, expressiven und präskriptiven Aspekt. Viel spricht jedoch dafür, dass sich die Vielfalt der moralischen Sprachverwendungen nur durch alle drei Aspekte zusammengenommen erfassen lässt. Man kann die drei Aspekte, auf die sich die miteinander konkurrierenden Hauptkonzeptionen beziehen, in Gestalt des auf den Psychologen und Sprachwissenschaftler Karl Bühler zurückgehenden sogenannten „Bühler-Dreiecks" darstellen und ihnen dann die drei Hauptschulen der Semantik der Moral, den Deskriptivismus, den Emotivismus und den Präskriptivismus zuordnen. Den von Bühler unterschiedenen drei Hauptfunktionen der Sprache: Darstellung
Ausdruck
Appell
entsprechen dann die drei Haupttheorien der Bedeutung moralischer Urteile: Deskriptivismus
Emotivismus
Präskriptivismus
8.2 Modelle der Objektivierung moralischer Urteile
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Alle drei Theorien heben jeweils verschiedene Aspekte der Sprache der Moral hervor. Keiner dieser Aspekte kann jedoch als für sich genommen erschöpfend gelten.
8.2 Deskriptivismus: Modelle der Objektivierung moralischer Urteile „Deskriptivismus" bezeichnet weniger eine einzige geschlossene Theorie als eine Gruppe von Theorievarianten, denen die Auffassung gemeinsam ist, dass moralische Urteile primär und typischerweise deskriptive Bedeutung haben, also in derselben Weise als Beschreibungen gemeint und verstanden werden wie andere beschreibende Sprachverwendungen auch. Man unterscheidet üblicherweise zwischen naturalistischen und nichtnaturalistischen Varianten des semantischen Deskriptivismus. 1. Der naturalistische Deskriptivismus behauptet, dass moralische Urteile als deskriptive Urteile nicht-moralischer Art analysiert werden können, z. B. als anthropologische (psychologische oder humanbiologische), metaphysische oder theologische deskriptive Urteile.43 Danach sind moralische Urteile semantisch nichts anderes als Urteile, die etwas über Wesenseigentümlichkeiten des Menschen, über das Bestehen metaphysischer Ordnungsstrukturen oder über den Willen Gottes aussagen. Moralische Urteile werden aufgefasst als Urteile, die das Bestehen von Sachverhalten konstatieren, die primär nicht in die Zuständigkeit der Ethik, sondern anderer wissenschaftli43 Die Redeweise von „Naturalismus" ist historisch bedingt: G. E. Moore verwendet in Moore 1903 einen umfassenden Begriff von Naturalismus, nach dem auch metaphysische Ethiken als naturalistisch gelten, wenn sie moralische Prädikate wie „moralisch gut" aus Prädikaten wie „von Gott geboten" oder „dem intelligiblen Selbst entsprungen" ableitbar halten. Die sachlich richtige Anregung von Brink (1989,22, vgl. auch Brandt 1959,71), bei „naturalistischen" Ethiken metaphysischer Art besser von „Supernaturalismus" zu sprechen, hat sich nicht durchgesetzt.
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8. Die Sprache der Moral
eher Disziplinen fallen - der Psychologie, der Biologie, der Metaphysik oder der Theologie. Moralische Urteile sind von wissenschaftlichen Urteilen letztlich nicht zu unterscheiden. Sie sind lediglich wissenschaftliche Urteile einer besonderen Art. Die am häufigsten vertretene Variante des naturalistischen Deskriptivismus ist dabei eine Position, die moralische Urteile als Urteile über moralische Empfindungen oder Urteilstendenzen des jeweiligen Autors eines moralischen Urteils auffasst. Wer eine Handlung h billigt, sagt danach nichts anderes, als dass er, der Urteilende, die Handlung h billigt oder geneigt ist, die Handlung h zu billigen. Das Urteil beschreibt die mit ihm ausgedrückte Billigung (vgl. Stevenson 1944, 20ff.). Die Schwäche des naturalistischen Deskriptivismus in den Augen seiner Gegner besteht darin, dass er dem wertenden Charakter moralischer Urteile unzureichend gerecht wird. Der naturalistische Deskriptivismus missversteht die Beziehung zwischen dem moralischen Urteil und der darin ausgedrückten Bewertung als eine Beschreibungsbeziehung: Das typische moralische Urteil drückt eine bestimmte Bewertung aus, aber beschreibt sie nicht. Noch beschreibt sie irgendwelche andere Sachverhalte, aus denen eine Billigung oder Missbilligung folgt. Wer eine Handlung als moralisch geboten oder pflichtgemäß oder einen Menschen als moralisch vorbildlich beurteilt oder bestimmte moralische Forderungen erhebt, betätigt sich als Moralist oder Ethiker, nicht aber als Moralpsychologe oder Metaphysiker, der bestimmte Sachverhalte wertneutral verbucht oder Hypothesen über das Bestehen bestimmter Sachverhalte aufstellt. Damit soll nicht geleugnet sein, dass eine ganze Reihe von sprachlichen Ausdrucksmitteln, derer wir uns in der Moral bedienen, u. a. auch deskriptive Bedeutungsbestandteile haben. Wenn wir jemanden „großzügig", „geizig", „infam", „grausam" oder „mildtätig" nennen, tun wir mehr als ein Verhalten oder dessen Motive lediglich zu billigen oder zu missbilligen. Wir beschreiben sein Verhalten oder seine Motive auch. Alle
8.2 Modelle der Objektivierung moralischer Urteile
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diese Ausdrücke - man spricht von „dichten Begriffen" (thick concepts) - beschreiben bestimmte Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften, die auch zum Gegenstand wissenschaftlicher, etwa psychologischer Beschreibungen werden können. Entscheidend ist nur, dass diese deskriptiven Bedeutungselemente die Bedeutung dieser Ausdrücke nicht erschöpfen. Diese Ausdrücke drücken gleichzeitig eine positive oder negative Bewertung aus, in diesem Falle eine Bewertung moralischer Art.44 Diesem bewertenden Moment wird der naturalistische Deskriptivismus nicht gerecht. Noch offenkundiger ist das diesbezügliche Defizit des naturalistischen Deskriptivismus bei der Analyse von Ausdrücken ohne nennenswerten oder ohne jeglichen deskriptiven Gehalt, die ebenfalls in moralischen Urteilen häufig vorkommen, auch wenn sie für moralische Urteile nicht spezifisch sind. Hierzu gehören Ausdrücke wie „gut", „soll", „sollte", „verwerflich", „vorbildlich" usw. Diese Ausdrücke drücken in moralischen Urteilen bestimmte Bewertungen aus, ohne jedoch etwas über die Eigenschaften zu besagen, aufgrund derer die Bewertung dem bewertenden Subjekt angemessen scheint und ohne die Kriterien offenzulegen, die den Bewertenden zu seinem Urteil bestimmen. Während ein Ausdruck wie „grausam" etwas über die Art der Handlungsweise besagt, die in den Augen des Bewertenden die moralische Missbilligung rechtfertigt, sind diese Ausdrücke in deskriptiver Hinsicht so wenig festgelegt, dass sie sich auf alle möglichen Gegenstände und nach beliebigen Maßstäben anwenden lassen. Das Gesagte gilt jedoch für einige dieser Ausdrücke, z. B. „gut", „schlecht", „richtig", „falsch", „angemessen", „unangemessen" usw. nur mit signifikanten Einschränkungen. Diese Einschränkungen betreffen Kontexte, in denen moralische Beurteilungsausdrücke wie „gut" und „schlecht" zusammen mit 44 Analoge „dichte Begriffe" finden sich in der Ästhetik, im Recht und in der Etikette.
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8. Die Sprache der Moral
Rollenbegriffen verwendet werden. Zusammen mit Rollenbegriffen ändern diese Ausdrücke ihre semantische Funktion und besagen, dass der Träger einer bestimmten Rolle diese Rolle und die damit verknüpften Verpflichtungen vollständig oder angemessen ausfüllt oder nicht ausfüllt. Wer von einem „guten" Vater oder einem „guten" Lehrer spricht, wird in der Regel nicht so verstanden, dass er über einen Vater oder Lehrer spricht, der darüber hinaus auch noch gut im moralischen Sinne ist. Er wird vielmehr so verstanden, dass ein Vater oder Lehrer die für Väter oder Lehrer charakteristischen Rollenpflichten in ausgezeichneter Weise erfüllt. In der Kombination mit Rollenbegriffen nehmen diese ansonsten deskriptiv „leeren" bewertenden Ausdrücke deshalb eine deskriptive Bedeutung an, die wesentlich von den in der betreffenden Gesellschaft herrschenden Rollennormen abhängt. Was mit einem „guten Vater" oder einem „guten Lehrer" gemeint ist, hängt davon ab, wie die Rollennormen im einzelnen bestimmt sind. So kann ein „guter Vater" in der einen Gesellschaft anders deskriptiv charakterisiert sein als ein „guter Vater" in einer anderen. Auch hier ist jedoch offenkundig, dass die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks wie „guter Vater" oder „guter Lehrer" sich nicht in den deskriptiven semantischen Komponenten erschöpft. Diese Ausdrücke beschreiben nicht nur bestimmte Verhaltensweisen von Vätern und Lehrern, sondern sie bewerten sie auch. Wer von „guten Vätern" oder „guten Lehrern" spricht, beschreibt damit nicht bestimmte Rollennormen, sondern identifiziert sich mit ihnen. Deshalb lässt sich eine Redeweise wie „guter Einbrecher" im allgemeinen nur als ironisch verstehen, etwa als augenzwinkernder Hinweis auf die saubere handwerkliche Leistung (vgl. Duncan-Jones 1966). Auch in seinen konventionalisierten Verwendungen im Zusammenhang mit Rollenbegriffen behalten „gut" und „schlecht" ihre wertende Bedeutungskomponente. Ein klassisch gewordenes Argument gegen den naturalistischen Deskriptivismus ist Moores Argument der „offenen Fra-
8.2 Modelle der Objektivierung moralischer Urteile
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ge" (Moore 1970, 46). Es besagt, dass auch dann, wenn alle deskriptiven Eigenschaften einer Sache, einer Person oder einer Handlung, die mit dem Ausdruck „gut" (mit)gemeint werden, vollständig aufgezählt worden sind, sich immer noch die Frage „ist es auch wirklich gut?" sinnvoll stellen lässt. Ein analoges Argument lässt sich für andere moralisch (oder axiologisch) bewertende Ausdrücke anführen: Noch so viele deskriptiv-naturalistische Charakterisierungen vermögen den Bedeutungsgehalt bewertender Ausdrücke nicht zu erschöpfen. Es bleibt ein irreduzibel bewertendes Element, das keiner noch so umfassenden naturalistischen Beschreibung äquivalent ist und für das der naturalistische Deskriptivist keine Erklärung hat. Der nicht-naturalistische semantische Deskriptivismus ist diesen Gegenargumenten in sehr viel geringerem Maße ausgesetzt. Ihm zufolge haben typische moralische Urteile zwar eine ausschließlich beschreibende Bedeutung, diese beschreibende Bedeutung ist jedoch von der beschreibenden Bedeutung wissenschaftlicher, metaphysischer oder theologischer Urteile spezifisch verschieden. Moralische Urteile lassen sich zwar als deskriptive Urteile verstehen, aber nicht als deskriptive Urteile von der Art, wie sie typischerweise in den Wissenschaften getroffen werden. Moralische Urteile sind vielmehr deskriptive Urteile sui generis. Der nicht-naturalistische Deskriptivist behauptet, dass moralische Urteile typischerweise so gemeint und verstanden werden, dass sie moralische Sachverhalte beschreiben, dass diese Sachverhalte dabei jedoch nicht so vorgestellt werden, dass sie auf irgendwelche nicht-moralischen Sachverhalten zurückgeführt werden können. Moralische Sachverhalte sind vielmehr eigenständige Sachverhalte, die nicht mit den von den Wissenschaften beschriebenen Sachverhalten zusammenfallen, aber trotzdem eine beurteilerunabhängige Realität haben. Richtig zu handeln, gut zu sein, sich moralische Verdienste erworben zu haben werden danach nicht anders als im wissenschaftlichen Realismus als objektive, zur Natur der Dinge ge-
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8. Die Sprache der Moral
hörende Eigenschaften aufgefasst, die unabhängig von dem moralischen Urteil bestehen und durch das moralische Urteil lediglich mehr oder weniger adäquat und vollständig gespiegelt werden. Der nicht-naturalistische Deskriptivist ist nicht notwendig der Auffassung, dass diese beurteilerunabhängige moralische Realität tatsächlich existiert. Er ist als semantischer Deskriptivist nicht automatisch auch ein ethischer Realist, der die tatsächliche Existenz beurteilerunabhängiger moralischer Sachverhalte postuliert. Der Grund ist klar: Als semantischer Deskriptivist interessiert er sich nicht dafür, was wirklich existiert, sondern für das, was moralische Urteile ihrer Bedeutung nach als existierend unterstellen. Er analysiert die Bedeutungen moralischer Ausdrücke und nicht die Realität. Er interessiert sich für die Ansprüche, die moralische Urteile erheben, nicht dafür, ob diese Ansprüche auch zu Recht bestehen. Die nicht-naturalistische Variante des Deskriptivismus hat zweifellos viel für sich. Sie steht in einem natürlichen Passungsverhältnis zu dem von vielen (wenn auch nicht allen) Ethiken postulierten Anspruch moralischer Urteile auf Allgemeingültigkeit. Diesen Anspruch zu erheben, bedeutet, sich in seinen moralischen Beurteilungen nicht auf subjektive Meinungen und persönliche Vorlieben zu berufen, sondern auf etwas Objektives und Vorgegebenes, das subjektiver Willkür entzogen ist und unabhängig von dem hie et nunc geäußerten moralischen Urteil besteht. Das gilt nicht nur für moralische Richtigkeits- und Werturteile, sondern selbst noch für moralische Forderungen. Wer etwas moralisch fordert, fordert gewissermaßen stellvertretend für eine als objektiv bestehend gedachte - wie immer im einzelnen charakterisierte - Instanz. Er erhebt diese Forderung nicht im eigenen Namen, sondern im Namen „der Gesellschaft", „der Moral", „des Sittengesetzes" oder „Gottes". Moralische Forderungen lassen das, was sie fordern, so erscheinen, als läge diese Forderung „in der Sache selbst", in der Struktur der Wirklichkeit oder in einer über-
8.2 Modelle der Objektivierung moralischer Urteile
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menschlichen, der Verfügung des Menschen entzogenen Realität. Wer die Sprache der Moral spricht, spricht nicht nur mit eigener Stimme. Er leiht seine Stimme einer un- und überpersönlichen Bewertungsperspektive. Er stellt sich auf einen Standpunkt, von dem aus er im Namen einer Instanz jenseits seiner eigenen Person und ihrer Zufälligkeiten spricht: die „Natur der Dinge", ein überzeitliches „Naturrecht", ein „Sittengesetz", als objektiv bestehend gedachte „Wertgesetzlichkeiten" oder ein als verlässliche moralische Richtschnur gedachter consensus gentium, ein räumlich und zeitlich übergreifender Konsens. Diesem immanenten Zug moralischer Urteile zur Objektivität entspricht die Art und Weise, in der moralische Wertungen vom moralischen Subjekt erfahren werden. Auch hier gibt es Faktoren, die es so erscheinen lassen, als habe die moralische Bewertung ihren Ursprung nicht so sehr in dem jeweils urteilenden Subjekt, sondern im Gegenstand des Urteils selbst: Moralische Urteile sind dem Subjekt, psychologisch betrachtet, typischerweise gegeben. Es entscheidet sich in der Regel nicht dafür, so und so zu urteilen, sondern sein Urteil drängt sich ihm auf und ist für ihn nur in engen Grenzen disponibel. Moralische Urteile sind einer willentlichen Steuerung nur indirekt und nur in engen Grenzen zugänglich. Ähnlich wie Sinneseindrücke und Wahrnehmungsurteile, aber auch wie ästhetische Beurteilungen sind moralische Weitüberzeugungen und Prinzipien Phänomene, die wir zum größten Teil in uns vorfinden - als „Intuitionen", die sich ohne Absicht und Zutun in uns bilden und denen wir ein Stück weit passiv und rezeptiv gegenüberstehen - auch dann, wenn diese Resultat längeren Überlegens und Abwägens sind. Was wir von anderen moralisch fordern, ist weitgehend dasselbe, was wir von uns selbst fordern, aber was wir von uns selbst fordern, ist meist nichts anderes, als was - wie wir meinen - eine überpersönliche Instanz, eine „Werttatsache" von uns fordert. Der Dezisionismus, nach dem bestimmte moralische Urteile als Entscheidungen und sogar als willkürliche Entscheidungen
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8. Die Sprache der Moral
aufgefasst werden müssen, findet in der Phänomenologie der Moral nur wenig Bestätigung. Wenn wir moralisch urteilen, tun wir dies in der Regel nicht willkürlich. Wir versuchen vielmehr, der objektiven moralischen Situation gerecht zu werden, die moralisch relevanten Aspekte eines Falls sorgfältig zu erfassen und ein der Sachlage angemessenes Urteil zu finden. Insofern ist es auch moralpsychologisch kein Zufall, dass moralische Urteile vielfach so formuliert werden, als liege die Autorschaft des Urteils nicht bei dem jeweiligen Sprecher, sondern in einer sprecherunabhängigen objektiven Quelle. Der moralisch Urteilende äußert sich so, als sei er lediglich der Repräsentant einer überpersönlichen Forderung. Er „objektiviert" sein moralisches Urteil. Ähnlich wie der Richter auf das Gesetz beruft sich der moralisch Urteilende nicht auf sein höchstpersönliches Urteil, sondern auf eine objektiv bestehende Norm. Die typische Form eines moralischen Urteils ist nicht „Ich halte h für geboten", sondern „h ist geboten", nicht „Ich fordere, dass h", sondern „h ist gefordert". Man muss dem nicht-naturalistischen Deskriptivismus zugestehen, dass er diese objektivierenden Aspekte moralischer Urteile besser erfasst als alle konkurrierenden semantischen Theorien. Fraglich ist nur, ob sich der semantische Gehalt moralischer Urteile und der in sie eingehenden moralischen Ausdrücke in dem Bezug auf eine (reale oder vermeintliche) moralische Realität erschöpft. Das moralische Urteil tut mehr, als auf einen wie immer gedachten Sachverhalt hinzuweisen. Es drückt zugleich auch eine bestimmte Einstellung des Urteilenden aus. Insofern greift auch der nicht-naturalistische Deskriptivismus letztlich zu kurz.
8.3 Emotivismus Für den Emotivismus steht der expressive Gehalt, der Ausdruckscharakter moralischer Urteile im Vordergrund. Eine
8.3 Emotivismus
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Handlung als moralisch richtig oder eine Person als moralisch gut zu bezeichnen, ist für ihn primär Ausdruck einer momentanen oder länger anhaltenden Einstellung, und zwar einer wertenden, einer Pro- oder Kontra-Einstellung. Ähnlich wie der Terminus „Naturalismus" (der, wie wir gesehen haben, sich keineswegs nur auf „natürliche", sondern auch auf metaphysische Sachverhalte beziehen kann), gibt auch der Terminus „Emotivismus" zu Missverständnis Anlass. Ihm liegt es fern anzunehmen, dass es sich bei den von ihm in den Vorgrund gerückten Pro- und Kontra-Einstellungen um Emotionen im Sinne von Gefühlswallungen handelt. Was hier „Emotion" genannt wird, ist eher eine emotional getönte Einstellung als eine voll ausgebildete Emotion, die sich in Erregungszuständen und ihren physiologischen Begleiterscheinungen sowie in einem entsprechenden Ausdrucksverhalten manifestiert. Die Einstellungen, auf die der Emotivismus verweist, sind in den meisten Fällen keine „violent passions", sondern „calm passions", „ruhige Affekte" im Sinne Humes (1973, Buch II, 155), d. h. emotionale Einstellungen, die - im Gegensatz zu vielen nicht-moralischen Affekten wie Zorn, Rache, Neid oder Begierde - im allgemeinen in gelassener und sachlicher Weise geäußert werden. Dass moralische Gefühle und Einstellungen (ähnlich wie ästhetische Gefühle und Einstellungen) in der Regel „ruhiger" sind als nicht-moralische Gefühle und Einstellungen, hängt auch mit ihrer spezifischen Überperspektivität zusammen. Anders als persönliche Affekte sind moralische Einstellungen unpersönlicher. In sie geht in stärkerem Maße als in persönliche Affekte Überlegung, Reflexion und Verallgemeinerung ein. Äußerungen des gerechten Zorns - also einer spezifisch moralischen Emotion - sind nicht immer, aber doch typischerweise „ruhiger" als Äußerungen von nicht moralisch motiviertem Zorn. Insofern darf der Emotivismus - verstanden als eine Theorie der moralischen Sprache - nicht als ein Irrationalismus missverstanden werden, der leugnet, dass für moralische Überzeu-
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8. Die Sprache der Moral
gungen Gründe und Argumente relevant sind. Nicht alle, aber doch die allermeisten emotivistischen Konzeptionen lassen Raum für moralisches Begründen und Argumentieren, so etwa auch die emotivistische Konzeption Stevensons, der nicht abstreitet, sondern gerade hervorhebt, dass sich viele moralische Dispute durch Gründe beilegen lassen, z.B. durch die Klärung strittiger Tatsachenaussagen (vgl. Stevenson 1974). Allerdings haben die semantischen Emotivisten (einschließlich Stevensons) nicht immer konsequent unterschieden zwischen semantischen Aussagen darüber, wieweit moralische Urteile Pro- oder Kontra-Einstellungen ausdrücken und insofern einen emotiven semantischen Gehalt haben, und psychologischen Aussagen darüber, wieweit die in den Bedeutungen enthaltenen emotiven Gehalte beim Sprecher vorliegen oder nicht. Es ist ja durchaus möglich, dass jemand einen sprachlichen Ausdruck verwendet, der von den sprachpragmatischen Konventionen her eine negative Einstellung ausdrückt, etwa „ungerecht", „grausam" „unmenschlich" usw., ohne die sprachlich ausgedrückte Emotion oder Einstellung tatsächlich zu besitzen. Wir müssen unterscheiden zwischen der linguistisch-semantischen Frage nach dem emotiven Sinn moralischer Ausdrücke und der Frage nach den sich im Sprecher tatsächlich abspielenden psychologischen Prozessen. Immerhin wird man sagen können, dass ein Sprecher die von ihm verwendeten sprachlichen Ausdrücke falsch gebraucht, wenn er die sich in diesen manifestierten Einstellungen nicht einmal in rudimentären Formen hat. Möglicherweise simuliert er diese Einstellungen nur, oder er kennt sich in der von ihm verwendeten Sprache nicht aus. Jedenfalls unterstellen wir dem moralisch Urteilenden, dass er „hinter seinen Urteilen steht" und für sein eigenes Verhalten die daraus folgenden Konsequenzen zieht. Wir unterstellen dem moralisch Urteilenden ein gewisses Maß an Motivation im Sinne dieser Urteile. Jemand, der fortgesetzt anders handelt, als er von seinen moralischen Urteilen her handeln müsste, weckt berechtigte
8.3 Emotivismus
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Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Urteile bzw. daran, ob er den Inhalt seiner Urteile richtig versteht, es sei denn, die Abweichung zwischen Sprechen und Handeln lässt sich als Willensschwäche erklären, z.B. bei starken widerstreitenden Neigungen oder Emotionen. Insgesamt ist der Emotivismus ein willkommenes Antidot gegen deskriptivistische Einseitigkeiten. Er weist darauf hin, dass selbst dann, wenn es so etwas wie Werttatsachen moralischer Art gäbe und moralische Urteile so aufgefasst werden könnten, dass sie diese (richtig oder falsch) beschreiben, diese Beschreibungen doch keine „reine" Beschreibungen wären. Sie wären nicht nur Beschreibungen, sondern gleichzeitig Manifestationen affektiv getönter Einstellungen mit einem irreduzibel expressiven Moment. Die Einseitigkeit des Emotivismus besteht seinerseits darin, dass er dieses Moment absolut setzt und damit die inhärent „deskriptiven" Aspekte moralischer Urteile vernachlässigt, die deren Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit unterfüttern. Anders als bei nicht-moralischen Werturteilen kann das emotive Moment von moralischen Urteilen nicht für sich allein stehen. Während das Werturteil „das ist gut", als nicht-moralisches Urteil verstanden, in der Tat nichts anderes sein kann als die Äußerung einer wie immer gearteten positiven Einstellung, geht der Gehalt desselben Urteils, als moralisches Urteil verstanden, weit darüber hinaus. Als moralisches Urteil verstanden, drückt das Urteil nicht nur einen Akt der Billigung aus, sondern behauptet das Bestehen eines Sachverhalts, der im Prinzip von jedem anderen (bzw., nach partikularistischer Lesart, von jedem anderen Angehörigen der betreffenden Wertegemeinschaft) eingesehen werden kann. Zwar handelt es sich beidemal um einen Ausdruck individueller Bewertung. Aber während die nicht-moralische Bewertung schlicht Ausdruck einer persönlichen Vorliebe sein kann, erhebt die moralische Bewertung zumindest den Anspruch, Spiegelung eines über den Horizont des individuellen Subjekts hinausreichenden objektiven Sachverhalts zu sein.
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8. Die Sprache der Moral
Wären moralische Urteile bloße Gefühlsäußerungen, wäre nicht erklärbar, warum ihnen die Autorität zugebilligt wird, die ihnen faktisch zugebilligt wird und warum ihnen über ihren Ausdruckscharakter hinaus eine unübersehbare appellative und handlungsleitende Funktion zukommt. Diese appellative und handlungsleitende Funktion moralischer Urteile wird insbesondere im Präskriptivismus zum Thema gemacht.
8.4 Präskriptivismus Der Präskriptivismus geht in seiner Charakterisierung moralischer Urteile von einem Modell aus, das sich insbesondere durch die Kantische Ethik der Tradition der Ethik eingeprägt hat: das moralische Urteil als moralischer Imperativ, d. h. als eine Äußerung, die - auf verschiedenen Stufen der Allgemeinheit - zu einem bestimmten Verhalten auffordert. Das „Urbild" moralischer Urteile ist für den Präskriptivismus nicht das Urteil, das Handlungen als moralisch richtig oder falsch beurteilt, sondern das Urteil, das zu einem bestimmten Handeln auffordert: Es appelliert an den Adressaten des Urteils, die im Urteil geforderte Handlung oder Handlungsweise auszuführen oder das im Urteil genannte Prinzip zu befolgen. Als Adressat der Forderung kann dabei entweder ein einzelner anderer, eine Gruppe von anderen, alle anderen (die Menschheit) oder auch das Forderungssubjekt selbst figurieren. Ähnlich wie der Emotivismus besagt auch der Präskriptivismus primär etwas über die Semantik sprachlicher Ausdrücke und nicht über die mentalen Akte oder Zustände dessen, der diese Ausdrücke verwendet. Wenn der Präskriptivist die appellative Funktion und handlungsleitende Kraft der moralischen Sprache durch deren präskriptive Bedeutungsgehalte erklärt, dann behauptet er nicht, dass diese Funktionen oder Einflüsse unter allen Umständen auch in der Intention des Spre-
8.4 Präskriptivismus
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chers liegen oder von diesem gewollt sind. Wie es inauthentische moralische Gefühle gibt, gibt es auch inauthentische (z.B. rein strategisch eingesetzte) moralische Imperative. Paradigmatisch für moralische Forderungen sind für den Präskriptivismus Verpflichtungsurteile, Gebote und Verbote. Verpflichtungsurteile, ob fremd- oder selbstadressiert, stellen besonders nachdrückliche Forderungen dar und erheben einen besonders ausgeprägten Verbindlichkeitsanspruch. Sie haben überdies auch ihrer sprachlichen Oberflächengestalt nach zumeist die „Imperativische" Form, die Kants Ethik der Moral als ganzer unterstellt und werden typischerweise grammatisch als Imperative formuliert. Aber zu sagen, dass Verpflichtungsurteile paradigmatisch für moralischen Forderungen sind, heißt bereits zugestehen, dass es auch nicht-paradigmatische Formen moralischer Präskriptionen gibt, und in der Tat erkennen die meisten Präskriptivisten bereitwillig an, dass moralische Präskriptionen auch eine sehr viel schwächere und weniger dezidierte Form annehmen können, etwa als moralische Ratschläge oder Empfehlungen. In der Tat versteht der Hauptvertreter des Präskriptivismus in der Ethik des 20. Jahrhunderts, Richard M. Hare, den Ausdruck „präskriptiv" in einem ausgesprochen schwachen Sinn, nicht als „auffordernd", sondern als lediglich „commendatory", also „empfehlend" (z. B. in Hare 1972, Kap. 5). Auch wenn die Präskriptivisten ihre Theorie in der Regel an Beispielen diskutieren, in denen es um Verpflichtungen und Pflichten geht, gestehen sie durchaus zu, dass es ein ganzes Spektrum von präskriptiven moralischen Sprachverwendungen gibt, die sich in der Rigorosität und „Absolutheit" der erhobenen Forderungen unterscheiden. Bereits mit Kants Unterscheidung zwischen „strengen" (vollkommenen) und „nachlasslichen" (unvollkommenen) Pflichten war eine solche Differenzierung implizit zugestanden worden. Anders als der Deskriptivismus (in seiner nicht-naturalistischen Form) und der Emotivismus leidet der Präskriptivismus unter dem Makel, dass er nicht auf den ersten Blick zu über-
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8. Die Sprache der Moral
zeugen vermag. Zweifellos ist der präskriptivistische Analyseansatz zutreffend für moralische Urteile mit den Ausdrücken „sollen" und „nicht sollen", „sollte" und „sollte nicht", „darf nicht", „geboten" und „verboten" usw. Aber ebenso zweifellos gibt es eine ganze Reihe charakteristisch moralischer Sprachverwendungen, die diese Ausdrücke nicht enthalten und auch in keiner anderen plausiblen Weise als präskriptiv rekonstruiert werden können, etwa Erlaubnisurteile, moralische Werturteile oder moralische Bewertungen supererogatorischer Handlungen. Wer etwas als moralisch erlaubt bezeichnet, verwendet zwar mit dem Ausdruck „erlaubt" einen Ausdruck, der als Negation eines präskriptiv zu deutenden „verboten" aufgefasst werden kann. Dennoch bekommt das Erlaubnisurteil dadurch nicht als ganzes einen präskriptiven Charakter.45 Es schreibt weder etwas vor noch empfiehlt es etwas. Einen Menschen als zuverlässig, großzügig oder gütig zu beurteilen, bedeutet sicherlich, ein charakteristisch moralisches Werturteil zu fällen. Aber es nicht offenkundig, dass mit einem solchen Urteil auch eine Handlungsverpflichtung oder auch nur eine Handlungsempfehlung gegeben wird. Eine heroische Tat aufopferungsvoll, nobel oder bewundernswert zu nennen, bedeutet sicherlich, sie in einer spezifischen Weise als moralisch hochwertig zu kennzeichnen, aber es bedeutet in der Regel nicht, irgendjemanden (einschließlich des Urteilenden selbst) dazu aufzufordern oder ihm zu empfehlen, bei passender Gelegenheit ebenso zu handeln. Dem Präskriptivisten stehen angesichts dieser Anfangs-Unplausibilität seiner Theorie prinzipiell zwei Wege offen: erstens, die Reichweite seiner Theorie ein Stück weit zu relativieren, oder, zweitens, den von ihm behaupteten „empfehlenden" Charakter moralischer Urteile nicht auf Handlungen, sondern auf Einstellungen zu beziehen. 45 Auch wenn das von Hare (1973, 37 Anm.) überraschenderweise behauptet wird.
8.4 Präskriptivismus
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Der erste Weg ist von Hare beschriften worden, der zweite von Stevenson. Hare hat sich - auch infolge massiver Kritik - dagegen verwahrt, dem präskriptivistischen Analyseansatz einen totalen Erklärungsanspruch zu unterstellen. In Freiheit und Vernunft (1973,101 f.) stellt er klar, dass „der inhaltliche Teil der präskriptivistischen These besagt, daß es präskriptive Verwendungsweisen dieser Wörter [wie „sollte"] gibt und daß sie für deren Bedeutung wichtig und zentral sind", geht also nicht einmal so weit zu behaupten, dass ein für moralische Urteile so charakteristischer Ausdruck wie „sollte" immer und notwendig präskriptiv verwendet werden muss. So eingeschränkt, dürfte die präskriptivistische These auch für die meisten Deskriptivisten und Emotivisten annehmbar sein. Der zweite Weg besteht darin, die präskriptive Kraft moralischer Urteile nicht darin zu sehen, dass sie zu etwaigen in dem Urteil genannten Handlungen, sondern dass sie zur Übernahme der in dem Urteil zum Ausdruck kommenden Prooder Kontra-Einstellung auffordern. Sie empfehlen nicht in allen Fällen, in bestimmter Weise zu handeln, sondern sie empfehlen, gegenüber einer Handlung, einem Motiv oder einer Person eine bestimmte Sichtweise oder Einstellung einzunehmen. Der präskriptive Gehalt moralischer Urteile und der in ihnen charakteristischerweise vorkommenden sprachlichen Ausdrücke ist nach dieser Auffassung primär ein suggestiver oder persuasiver Gehalt: Der Gesprächspartner soll durch moralische Urteile dazu bewogen werden, die Billigung, die der Sprecher durch eine positive, und die Missbilligung, die er durch eine negative Bewertung einer Handlung, eines Motivs oder einer Person ausdrückt, zu teilen, und zwar auf eine indirekte Weise. Weder die Einstellung des Sprechers noch die zu bewirkende Einstellung des Adressaten werden im Urteil direkt thematisiert. Dieses bezieht sich lediglich auf den bewerteten Gegenstand und ermöglicht gerade dadurch die mit ihm explizit oder implizit intendierte Einstellungsänderung. Indem „der ethische Satz die Aufmerksamkeit des Hörers nicht auf
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8. Die Sprache der Moral
seine Einstellungen, sondern auf das Objekt der Einstellung konzentriert", vermag er suggestiver auf die Überzeugungen des Adressaten einzuwirken, als wenn er diese ausdrücklich zum Gegenstand machte (Stevenson 1974,130). Kann zumindest für diese schwächere präskriptivistische Theorie ein universeller Geltungsanspruch begründet werden? Zweifellos gelingt es der schwächeren Version besser als der stärkeren, dem suggestiven Gehalt moralischer Erlaubnis- und Werturteile gerecht zu werden. Auch moralische Urteile, die ein Verhalten weder vorschreiben noch verbieten, sondern lediglich in einer bestimmten Weise bewerten, können zu etwas auffordern, nämlich dazu, die im Urteil ausgedrückte Bewertung zu übernehmen. Offensichtlich passt dieser appellative Gehalt bestens zu dem - vom nicht-naturalistischen Deskriptivisten betonten - Geltungsanspruch moralischer Urteile: Wer ein moralisches Urteil äußert, behauptet nach der Auffassung des Deskriptivismus das Bestehen eines Sachverhalts. Damit muss jedoch für das moralische Urteil dasselbe gelten, was auch für deskriptive Behauptungen gilt, nämlich dass sie an den Hörer appellieren, das Urteil zu übernehmen und die Dinge ebenso zu sehen. Und offensichtlich spricht nichts dagegen, einen derartigen Appellcharakter selbst noch Urteilen über supererogatorische Handlungen zuzusprechen, die durch diese Urteile nicht gefordert, sondern lediglich bewertet werden. Wenn diese Urteile zu etwas auffordern, dann nicht zu einem entsprechenden Handeln, sondern nur zur Übernahme der entsprechenden Bewertung als der richtigen, angemessenen und gültigen Bewertung. Die „schwache" Version des Präskriptivismus erklärt zudem, warum gelegentlich gerade moralische Urteile, die eine rein deskriptive Bedeutung zu haben scheinen, besonders erfolgreich darin sind, anderen bestimmte moralische Einstellungen nahezubringen und deswegen insbesondere in der politischen und juristischen Rhetorik zum Einsatz kommen. Gerade indem Urteile wie „All men are created equal", „Die Würde des Menschen ist unantastbar" oder „Tie-
8.4 Präskriptivismus
353
re sind keine Menschen" von der grammatischen Oberfläche her als rein deskriptive Aussagen erscheinen, entfalten sie eine beträchtliche Suggestivkraft. Indem sie den Anschein von Trivialitäten erwecken, laden sie zur Anerkennung ein und wirken dadurch in einem schwachen Sinne präskriptiv. Dennoch ist fraglich, ob selbst noch die abgeschwächte präskriptivistische Analyse wirklich alle Verwendungsweisen der moralischen Sprache trifft. Nicht alle Verwendungsweisen der moralischen Sprache sind kommunikative Verwendungsweisen. Selbstadressierte moralische Redeweisen sind nicht notwendig appellativ oder persuasiv. Es gibt z.B. die Situation, in der man mit sich selbst moralisch „zu Rate geht" und sich über zeitlich zurückliegende eigene oder fremde Handlungen ein Urteil bildet. Wenn man über seine vergangenen Taten und Untaten ins Nachdenken kommt, wird die sprachliche Formulierung der einmal gefundenen Meinung in der Regel keine appellativen, persuasiven, geschweige denn präskriptiven Momente aufweisen. Es geht ja nicht notwendig darum, Vorsätze für die Zukunft zu fassen oder sich selbst durch Selbstermahnung gegen innere Widerstände zu einer bestimmten Sichtweise zu stimulieren. Vielfach geht es schlicht darum, überhaupt erst ein durchdachtes und abgewogenes Urteil über sich und andere zu gewinnen.
9. Gibt es moralisches Wissen? Gegenstand der Metaethik sind nicht nur Fragen nach der Bedeutung und Funktionsweise der für moralische Kontexte charakteristischen sprachlichen Ausdrücke, sondern darüber hinaus auch ontologische und erkenntnistheoretische Fragen der Moral. Ontologische Fragen richten sich auf die Seinsweise eventueller moralischer Wahrheiten und eventueller moralischer Entitäten (Werte, Pflichtprinzipien, Sittengesetz), erkenntnistheoretische Fragen auf die mögliche Erkennbarkeit moralischer Wahrheiten oder Entitäten und auf die zu ihrer Erkenntnis führenden Erkenntnismethoden. Sieht man einmal von der ebenfalls zur Metaethik gehörenden Analyse moralischer Argumentationsformen ab, kann man insgesamt von drei Hauptfragestellungen der Metaethik sprechen. Das folgende Schema gibt die wesentlichen hinsichtlich dieser drei Fragestellungen vertretenen Positionen wieder: Semantik der Moral
Ontotogie der Moral
Erkenntnistheorie der Moral
Deskriptivismus
Realismus
Kognitivismus
Emotivismus
Relativismus
Nonkognitivismus
Präskriptivismus
Es ist nicht unwichtig, Fragen der Semantik der Moral, der Ontologie der Moral und der Erkenntnistheorie der Moral begrifflich auseinanderzuhalten. Denn auf dem Hintergrund einer weitgehend unübersichtlichen Terminologie werden vielfach semantische Positionen mit erkenntnistheoretischen und erkenntnistheoretische mit ontologischen konfundiert. So wird etwa von vielen Autoren der Name „Nonkognitivismus" nicht nur für Theorien verwendet, die - wie es dem Wortsinn
9. Gibt es moralisches Wissen?
355
entspricht - die Erkennbarkeit moralischer Wahrheiten leugnen, sondern zugleich auf Theorien, die darüber hinaus auch die Existenz solcher Wahrheiten leugnen, also nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern zugleich auch eine ontologische These behaupten. Für Verwirrung hat auch John L. Mackies Benennung seiner eigenen ontologischen Position - der Leugnung der Existenz moralischer Wahrheiten - als „ethischer Skeptizismus" (Mackie 1981, 11) gesorgt. Diese Benennung ist unglücklich, da man in der Erkenntnistheorie gemeinhin von Skeptizismus nur dann spricht, wenn die Existenz von Sachverhalten vorausgesetzt wird, die man erkennen oder nicht erkennen kann. Von einem Skeptizismus etwa hinsichtlich des Wissens über Fremdpsychisches spricht man gemeinhin nur dann, wenn angenommen wird, dass Sachverhalte im Bereich des Fremdpsychischen bestehen oder zumindest bestehen können. Mackie leugnet jedoch gerade, dass es moralische Sachverhalte geben kann, d. h. dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Deshalb ist seine Position primär eine ontologische und nur sekundär eine erkenntnistheoretische Position (vgl. Kutschera 1982, 48). Damit ist schon angedeutet, dass nicht jede Position in diesem Schema unabhängig von jeder anderen vertreten werden kann. Bedeutungsanalyse der moralischen Sprache, ethische Ontologie und ethische Erkenntnistheorie lassen sich nicht vollständig voneinander trennen. So ist offensichtlich, dass der Kognitivismus die Existenz der moralischen Sachverhalte voraussetzt, deren Erkennbarkeit er behauptet. Wenn moralische Sachverhalte nicht bestehen und moralische Aussagen nicht wahr oder falsch sind, können sie auch nicht erkannt werden. In anderer Hinsicht sind die Positionen in höherem Maße als vielfach angenommen voneinander unabhängig,. So sind alle unter „Semantik" aufgeführten Positionen mit allen unter „Ontologie" und „Erkenntnistheorie" aufgeführten Positionen vereinbar. Nicht nur der semantische Deskriptivist, auch der semantische Emotivist oder Präskriptivist kann die Exis-
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9. Gibt es moralisches Wissen?
tenz moralischer Tatsachen und deren Erkennbarkeit bejahen, ohne sich in einen Widerspruch zu verwickeln. Kants Ethik mangelt es nicht an Widersprüchen, aber zu diesen gehört nicht die Tatsache, dass Kant als Semantiker der Moral eine präskriptivistische, als Ontologe der Moral eine realistische und als Erkenntnistheoretiker der Moral eine kognitivistische Position vertrat. Es ist nicht widersprüchlich, den grundlegenden Tatbestand der moralischen Sprache in Imperativen (Forderungen) zu sehen und gleichzeitig sowohl die Existenz moralischer Tatsachen (des „Sittengesetzes") als auch deren Erkennbarkeit (mittels der „praktischen Vernunft") zu postulieren. Ebensowenig ist es widersprüchlich, mit Max Scheler in semantischer Hinsicht einer emotivistischen Analyse zuzuneigen und gleichzeitig in ontologischer Hinsicht sowohl Realist zu sein (es gibt moralische Sachverhalte, z.B. die Rangfolge der Werte) als auch Kognitivist (die Rangfolge der Werte ist durch Intuition erkennbar). Auf der anderen Seite braucht ein semantischer Deskriptivist weder die Erkennbarkeit moralischer Urteile noch ihre Wahrheitsfähigkeit zu behaupten. So hat John L. Mackie eine deskriptivistische semantische Konzeption zusammen mit einer in ontologischer Hinsicht relativistischen und in erkenntnistheoretischer Hinsicht nonkognitivistischen Konzeption vertreten, ohne damit einen Widerspruch zu begehen. Mackie vertritt eine von ihm so genannte „Irrtumstheorie", nach der moralische Urteile ihren Anspruch auf Objektivität systematisch und notwendig überziehen. Danach hat der (nicht-naturalistische) Deskriptivismus, verstanden als eine semantische Theorie, recht, wenn er auf den in der Semantik moralischer Urteile liegenden Anspruch auf Objektivität hinweist. Dieser Anspruch hat Mackie zufolge aber kein fundamentum in re, sondern bleibt systematisch unerfüllt. Da es keine moralischen Wahrheiten gibt (bzw. nicht geben kann), kann der in der Semantik moralischer Urteile liegende Anspruch nicht erfüllt werden (vgl. Mackie 1981, 39 f.). Mackies Redeweise von
9.1 Gibt es moralische Wahrheit? Der ethische Realismus
357
„falsch" und „Irrtum" ist allerdings ihrerseits missverständlich. Mit der „Falschheit" moralischer Urteile verbinden wir die Vorstellung einer normativen Falschheit: Wenn das moralische Urteil „Steuerbetrug ist moralisch vertretbar" falsch genannt wird, dann erwarten wir, dass derjenige, der es für falsch hält, die dazu kontradiktorische Aussage für wahr hält, in diesem Fall die Aussage „Steuerbetrug ist moralisch falsch". Diese Art moralischer Falschheit ist von Mackie aber gerade nicht gemeint. „Falsch" sind vielmehr alle moralischen Urteile als solche, nämlich indem sie den Anschein erwecken, es gebe so etwas wie moralische Sachverhalte, nach denen sich ihre Wahrheit und Falschheit bemisst.
9.1 Gibt es moralische Wahrheit? Der ethische Realismus Für den ontologischen Relativisten sind moralische Urteile weder wahr noch falsch. Heißt das, dass moralische Urteile für ihn hinsichtlich ihres Wahrheitswerts „unbestimmt" sind? Offensichtlich nicht, denn dies würde voraussetzen, dass Wahrheit und Falschheit von moralischen Urteilen prinzipiell aussagbar sind. Für den ontologischen Relativisten sind die Begriffe „wahr" und „falsch" jedoch auf moralische Urteile grundsätzlich nicht anwendbar. Wie kommt es dann aber zu der verbreiteten Vorstellung, dass es wie im Bereich der deskriptiven Aussagen auch im Bereich evaluativer und normativer moralischer Aussagen (und, darüber hinaus, im Bereich axiologischer Aussagen) Tatsachen gibt, die durch Bewertungen und Forderungen mehr oder weniger adäquat widergespiegelt werden? Wie kommt es zu der Vorstellung, dass eine Handlung nicht deshalb moralisch richtig ist, weil wir sie billigen, sondern dass wir sie billigen, weil sie objektiv moralisch gut ist, dass also zwischen der Billigung und der objektiven moralischen Richtigkeit der Handlung eine
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9. Gibt es moralisches Wissen?
Art Korrespondenzverhältnis besteht? Der Relativist wird als erste und vorläufige Antwort darauf verweisen, dass der metaethische Realismus keine willkürliche Erfindung ist, sondern in einer ganzen Reihe von Denkmodellen enthalten ist, die das moralische Denken traditionell in hohem Maße prägen. Diese Denkmodelle kann man aus antirealistischer Sicht als Modelle der Objektivierung kennzeichnen. Sie konstruieren eine moralische Realität von objektiv bestehenden Gesetzen, Prinzipien, Rechten oder Werten unabhängig von den Wertsetzungen und Wertüberzeugungen der jeweils Urteilenden. Nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis der Moral haben diese Modelle einen festen Platz. Sie fungieren als (tatsächliche oder scheinbare) Grundlage für den Anspruch moralischer Urteile auf Autorität und Verbindlichkeit und tragen neben anderen Faktoren - wie der persönlichen Autorität des Urteilenden - in entscheidendem Maße zu deren handlungsleitender Wirkung bei. Man kann ähnlich wie bei den Varianten des semantischen Deskriptivismus auch bei den Modellen der Objektivierung zwischen naturalistischen und nicht-naturalistischen Modellen unterscheiden. Naturalistische Modelle der Objektivierung lokalisieren moralische Realitäten in bestimmten empirischen oder metaphysischen Tatsachen, nicht-naturalistische in moralischen Tatsachen sui generis: Naturalistische Modelle einer moralischen Realität
Nicht-naturalistische Modelle einer moralischen Realität
Moralische Tatsachen als empirische Tatsachen: Naturgesetze, Evolution, anthropologische Gegebenheiten, der consensus gentium.
Moralische Tatsachen als Tatsachen sui generis: Naturrecht, Sittengesetz (Kant), Wertgesetzlichkeiten (Scheler)
Moralische Tatsachen als metaphysische Tatsachen: der Wille Gottes
9.1 Gibt es moralische Wahrheit? Der ethische Realismus
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Die Auffassungen über die Seinsweise moralischer Tatsachen stehen mit den Theorien moralischer Erkenntnis in einem so engen Zusammenhang, dass man sie nicht getrennt voneinander diskutieren kann. Dies hängt damit zusammen, dass es keine Theorie der Existenz moralischer Tatsachen oder Entitäten gibt, die nicht auch die wie immer geartete Erkennbarkeit dieser Tatsachen oder Entitäten vertritt. Zwar ist auch die pure Existenzbehauptung moralischer Tatsachen ohne die Eröffnung einer wie immer gearteten Zugangsmöglichkeit eine Option. Diese Option besteht aber nur in der Theorie. In der Ethik gibt es keine „negative Theologie", die die Existenz eines höheren Wesens behauptet, aber leugnet, dass es möglich ist, die Beschaffenheit dieses Wesens (abgesehen von einigen negativen Merkmalen) zu erkennen oder zumindest begründete Vermutungen über sie anzustellen. Ethische Ontologie und ethische Erkenntnistheorie hängen noch in einer weiteren Hinsicht zusammen: Die Bereitschaft, das objektive Bestehen moralischer Sachverhalte anzuerkennen, ist teilweise davon bestimmt, wieweit die innerhalb der ethischen Erkenntnistheorie postulierten Methoden erfolgreich sind und zu einem gesicherten Bestand an ethischem Wissen führen. Je verfügbarer, verlässlicher und konsensfähiger die zur Verifikation moralischer Urteile eingesetzten Erkenntnismethoden sind, desto größer ist die Bereitschaft, die mit diesen Methoden gewonnenen Ergebnisse als moralische Wahrheiten anzuerkennen. Wieweit diese Bedingung erfüllt ist, hängt wesentlich von dem Ausmaß ab, in dem die konkrete Anwendung dieser Erkenntnismethoden zu übereinstimmenden und replizierbaren Resultaten führt. Im Hintergrund steht das Modell der Wissenschaft: Für diese sind standardisierte Zugänge definiert, die in der scientific community und darüber hinaus anerkannt sind und deren Inanspruchnahme durch unterschiedliche Beurteiler unabhängig von deren jeweiligen Erwartungen, Weltanschauungen oder Wertungen zu denselben Resultaten führen. Gäbe es in der
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9. Gibt es moralisches Wissen?
Moral so etwas wie einen vergleichbaren Kanon anerkannter Methoden und führte die Anwendung dieser Methoden durch unterschiedliche Beurteiler zu denselben Ergebnissen, wäre das zwar kein zwingender, aber doch ein starker Grund für die Annahme moralischer Tatsachen. Die Modelle einer Realität moralischer Tatsachen entsprechen im wesentlichen den erkenntnistheoretischen Modellen eines Zugangs zu moralischen Wahrheiten: Modelle moralischer Realität
Modelle moralischer Erkenntnis
Moralische Tatsachen als empirische Tatsachen: Naturgesetze, Evolution, anthropologische Gegebenheiten, der consensus gentium.
Moralische Erkenntnis als empirische Erkenntnis (empirische Form des metaethischen Naturalismus)
Moralische Tatsachen als metaphysische Tatsachen: der Wille Gottes (religiöse Moralbegründung)
Moralische Erkenntnis als metaphysische Erkenntnis (metaphysische Form des metaethischen Naturalismus)
Moralische Tatsachen als Tatsachen sui generis: Naturrecht, Sittengesetz (Kant), Wertgesetzlichkeiten (Scheler)
Moralische Erkenntnis als intuitive Erkenntnis (Intuitionismus)
9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik „Naturalismus" ist eine etablierte, aber im Grunde in doppelter Hinsicht irreführende Bezeichnung. Erstens besagt der Ausdruck „Naturalismus", im Zusammenhang der Metaethik verwendet, nicht, dass Tatsachen über die Natur zum Ausgangspunkt moralischer oder ethischer Überlegungen gemacht
9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik
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werden. Er besagt vielmehr, dass der Versuch gemacht wird, moralische Konsequenzen aus deskriptiven Aussagen, gleich welcher Art, logisch zwingend abzuleiten. Zu diesen deskriptiven Aussagen gehören nicht nur Tatsachen oder Theorien über die Natur, sondern auch anthropologische Tatsachen und Theorien, insbesondere über menschliche Bedürfnisse und Verhaltenstendenzen, aber auch Tatsachen und Theorien der Metaphysik und der Theologie. Der metaethische Naturalismus hat also keinen besonderen Bezug zur Natur als Quelle moralischer Normen und Werte. Zweitens wird der metaethische Naturalismus, der die Ableitbarkeit moralischer Normen aus deskriptiven Tatsachen oder Theorien behauptet, leicht verwechselt mit dem normativ-ethischen oder kurz: ethischen Naturalismus, der behauptet, dass bestimmte Strukturen und Verfahrensweisen der Natur den Maßstab für menschliches Handeln vorgeben bzw. dass das Kriterium des moralisch Richtigen darin zu sehen sei, der Natur - in einer der vielen Bedeutungen dieses Ausdrucks - zu folgen oder diese nachzuahmen. Anders als für den metaethischen Naturalismus ist für den ethischen Naturalismus der Bezug auf die Natur zentral. Anders als der metaethische Naturalismus ist der ethische Naturalismus darüber hinaus eine aus vielerlei Gründen außerordentlich populäre, wenn auch zumeist implizit bleibende Grundlage vieler moralischer Alltagsargumentationen46, der sich in der philosophischen wie in der theologischen Ethik in vielerlei Ausprägungen wiederfindet. Seit Epikur ist etwa der ethische Hedonismus wiederholt mit dem Hinweis auf die natürliche Beschaffenheit und Herkunft des Menschen zu begründen versucht worden: Da alle Lebewesen nach Lust streben, könne Lust kein Übel sein. Insbesondere in der katholisch-moraltheologischen Tradition 46 So heißen im Englischen sexuelle Perversionen - ungeachtet ihres natürlichen Vorkommens - traditionell „unnatural vice".
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9. Gibt es moralisches Wissen?
wird die Verwerflichkeit des Suizids oder abweichender Sexualpraktiken wie Homosexualität vielfach mit deren Unnatürlicbkeit begründet: Suizid, abweichendes Sexualverhalten oder die Nutzung der modernen Möglichkeiten der Familienplanung und der Reproduktionsmedizin seien u. a. deshalb verwerflich, weil sie (tatsächlich oder vermeintlich) in der außermenschlichen Natur nicht vorkommen oder der „natürlichen Bestimmung" der Fortpflanzung nicht entsprechen. Dieserart ethischer Naturalismus muss sorgfältig vom metaethischen Naturalismus unterschieden werden, da er in der Regel nicht den Anspruch erhebt, moralische Urteile allein mit logisch-semantischen Mitteln aus deskriptiven Aussagen über die Natur ableiten zu können. Das Natürliche ist für den ethischen Naturalismus ein Kriterium für das moralisch Richtige, er postuliert Natürlichkeit als normatives Beurteilungsprinzip. Aber nur wenige Varianten des ethischen Naturalismus tun den weiteren Schritt, das Natürliche mit dem moralisch Richtigen logisch äquivalent zu setzen (vgl. Birnbacher 1991 a). Kennzeichnend für den metaethischen Naturalismus ist die Auffassung, dass moralische Sachverhalte entweder identisch sind mit Sachverhalten, die auch in den Wissenschaften und in der Metaphysik beschrieben werden, oder aus solchen Sachverhalten logisch folgen, und dass moralische Erkenntnis nicht wesentlich verschieden ist von wissenschaftlicher oder metaphysischer Erkenntnis. Moralbegründung ist danach eine Sache der Wissenschaft, einschließlich der Metaphysik als Wissenschaft vom Übersinnlichen. Auch die zur Ermittlung der moralischen Wahrheiten einzusetzenden Methoden sind keine anderen als die für den jeweiligen Bereich zuständigen Wissenschaften. Genau dies macht den ethischen Naturalismus für viele, die sich auf die Suche nach einer verlässlichen Moralbegründung begeben, in hohem Maße attraktiv. Angesichts des jahrhundertealten Streits um die Grundlagen der Moral verspricht der Naturalismus eine Patentlösung: Zur Erkenntnis moralischer
9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik
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Wahrheiten bedarf es keiner anderen Erkenntnisquellen als derjenigen, aus der auch die positiven Wissenschaften bzw. die metaphysischen Theorien schöpfen. Da moralische Urteile mithilfe logischer Operationen aus Tatsachenbehauptungen ableitbar sein sollen, erübrigt sich eine spezifisch moralische Erkenntnisart und eine besondere Metaethik, die deren Strukturen und Kriterien festlegt. Gegen den metaethischen Naturalismus sprechen allerdings gewichtige Argumente. Das gewichtigste Argument ist Humes Argument, dass sich mit den Mitteln der Logik aus rein deskriptiven Aussagen keine normativen Aussagen ableiten lassen: die These der Unmöglichkeit der Ableitbarkeit eines Sollens aus einem Sein (Hume 1973, Bd. 2, 211 f.). Eine noch so große Menge zutreffender Aussagen über empirische oder metaphysische Sachverhalte erlaubt es nicht, daraus eine Gebotsoder Verbotsnorm abzuleiten. Im Anschluss an dieses Argument hat G.E. Moore (1903) mit dem sogenannten Argument des „naturalistischen Fehlschlusses" dieselbe Einsicht auf eine breitere Basis gestellt. Moores Argument besagt, dass nicht nur keine normative Aussage, sondern auch keine andere Art von bewertender Aussage aus rein deskriptiven Prämissen mit logischen Mitteln ableitbar ist. Damit ein bewertende Aussage ableitbar ist, muss mindestens eine der Prämissen ebenfalls bewertend sein. Das bedeutet, dass nicht nur moralische, sondern auch nicht-moralische Werturteile aus bloßen Tatsachenaussagen nicht ableitbar sind. Moores These vom „naturalistischen Fehlschluss" ist sowohl für moralische als auch für nicht-moralische Werturteile und Normen weithin anerkannt. Psychologisch entspricht ihr die spezifische Differenz von rein beschreibenden und bewertenden Überzeugungen. Bewertende Überzeugungen haben anders als rein beschreibende Überzeugungen einen affektiven Gehalt. In ihnen drücken sich affektiv getönte Einstellungen, Einschätzungen und Gestimmtheiten aus. Wer eine bewertende Aussage äußert, drückt damit eine wie immer näher be-
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9. Gibt es moralisches Wissen?
stimmte Pro- oder Kontra-Einstellung zum Gegenstand seiner Äußerung aus. Es besteht allerdings Anlass zu der Vermutung, dass sich nicht nur Moore selbst, sondern ebenso viele andere, die sich des Arguments des „naturalistischen Fehlschlusses" bedient haben, die Reichweite dieses Arguments überschätzen. Dieses Argument ist nämlich strenggenommen nur unter zwei Bedingungen anwendbar: 1. wenn die versuchte Ableitung eines Gut-Seins oder eines Sollens aus einem Sein den Anspruch erhebt, rein deduktiv zu sein, und wenn 2. die Prämissen, aus denen die Ableitung erfolgt, rein deskriptiv verstanden werden. Bei vielen Argumentationen, die beanspruchen, ein Sollen aus einem Sein abzuleiten, ist jedoch eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, so dass sie durch das Argument vom naturalistischen Fehlschluss nicht getroffen werden. Dies gilt bereits für die von Moore selbst des naturalistischen Fehlschlusses bezichtigten Autoren Mill, Spencer und Kant. Mill hat zwar versucht, einen „Beweis" für den Utilitarismus zu führen, der sich wesentlich auf das natürliche Glücksstreben des Menschen beruft. Aber er hat diesen „Beweis" ausdrücklich nicht als streng logischen Beweis - als „Beweis im gewöhnlichen und populären Sinn" (Mill 1976, 8) verstehen wollen, sondern als „Erwägungen,... die geeignet sind, den Geist entweder zur Zustimmung oder zur Verwerfung der Theorie zu bestimmen" (Mill 1976, 9), d. h. als bloßes Plausibilitätsargument. Mill hätte sich dem Vorwurf, einen naturalistischen Fehlschluss begangen zu haben, nur ausgesetzt, wenn er beansprucht hätte, einen strengen deduktiven Beweis vorzulegen. Ähnliches gilt für Kant. Moore wirft Kant vor, dass er die Verpflichtung, im menschlichen Handeln der Stimme der Vernunft und nicht der Stimme der Neigungen zu folgen, aus der metaphysischen Behauptung herleite, dass der Mensch nicht nur der Welt der Erscheinungen, also der Natur, sondern gleichzeitig einer höheren, nur denkbaren Welt angehört, über
9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik
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die wir nichts Näheres sagen können. Aber auch hier ist fraglich, ob Kant sein Argument, dass der Mensch deshalb dem Sittengesetz gehorchen müsse, weil dies einer ursprünglicheren und tieferliegenden Seinsschicht stamme als die Neigungen (Kant 1903, Bd. 4, 453), als ein streng deduktives Argument versteht. Nur dann wäre es ein naturalistischer Fehlschluss. Man kann Kants Argument auch als ein bloßes Plausibilitätsargument verstehen, mit dem der normative Vorrang einer Orientierung des Handelns an der praktischen Vernunft statt an den Neigungen nicht im strengen Sinn bewiesen, aber doch immerhin motiviert wird: Wenn die Natur - einschließlich unserer natürlicher Neigungen - Kants Metaphysik zufolge bloße Erscheinung ist, der eine (uns nur in Spuren erfassbare) übersinnliche Realität zugrunde liegt, dann sollten wir unser Handeln primär nach den Gesetzen dieser „wahren" Welt und nicht nach den Gesetzen der Erscheinungswelt ausrichten. Während es bei Mill und Kant fraglich ist, ob die erste Bedingung der Anwendbarkeit des Arguments des naturalistischen Fehlschlusses erfüllt ist, ist bei dem evolutionären Ethiker Spencer fraglich, ob die zweite Bedingung erfüllt ist. Wenn Spencer argumentiert, dass das „höher evoluierte Verhalten" als das „bessere", das „weniger evoluierte" als das „schlechtere" gelten müsse, so kann das, muss aber nicht im Sinne der Ableitung eines Werturteils aus reinen Tatsachenurteilen interpretiert werden. Es kann auch so interpretiert werden, dass das „höher Evoluierte" von vornherein in einem wertenden Sinne - als das wertmäßig Bessere - und das „weniger Evoluierte" als das wertmäßig Schlechtere verstanden wird. Es sind allerdings auch Versuche unternommen worden, die These von der Unableitbarkeit eines Sollens aus einem Sein in Frage zu stellen. Der bekannteste Versuch stammt von John Searle (1964), der eine Sequenz von Aussagen aufstellt, von der er dreierlei behauptet: 1. Die Ausgangsaussage sei eindeutig deskriptiv, 2. die abschließende Aussage sei eindeutig normativ, und 3. jede Aussage außer der ersten werde durch die ihr
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9. Gibt es moralisches Wissen?
vorhergehende Aussage logisch impliziert. Die vier Aussagen lauten (in der Fassung bei Mackie 1981, 82): (1) Jones äußerte die Worte: „Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen." (2) Jones versprach, Smith fünf Dollar zu zahlen. (3) Jones ging die Verpflichtung ein, Smith fünf Dollar zu zahlen. (4) Jones ist verpflichtet (steht unter der Verpflichtung), Smith fünf Dollar zu zahlen. (5) Jones soll Smith fünf Dollar bezahlen. Die erste Aussage ist zweifellos eindeutig deskriptiv, die fünfte eindeutig normativ. Soweit ist Searle zuzustimmen. Wie steht es aber mit der Ableitbarkeit der Aussagen aus der jeweils vorgehenden? Gelegentlich ist die Ableitbarkeit bereits von (1) aus (2) bezweifelt worden. So ist etwa behauptet worden, (2) folge aus (1) schon deshalb nicht, weil der Begriff „Versprechen", soweit er nicht in einem Zitat vorkommt, ein gewisses engagiertes Interesse für die Institution des Versprechens ausdrückt, das in der Aussage (1) nicht enthalten sei (Flew 1964, 31). Zweifellos kann man die Verwendung von „Versprechen", ebenso wie die Verwendung von „verpflichtet sein" in Satz (3) so interpretieren, dass sie jeweils die Akzeptierung und Billigung der aus der Institution des Versprechens folgenden Verpflichtung beinhalten. Es fragt sich aber, ob man diese Interpretation vertreten muss. Alternativ könnte man sowohl (2) als auch (3) als rein deskriptive Aussagen auffassen und den Bruch erst zwischen Aussage (3) und Aussage (4) lokalisieren (vgl. Hudson 1965, 193). Deutlich ist jedenfalls, dass das in (4) Beschriebene über das in den Aussagen (1) bis (3) Beschriebene wesentlich hinausgeht. Die Beschreibung einer moralischen Institution mit den für sie kennzeichnenden Verpflichtungen ist eine Sache, die Akzeptanz und Billigung dieser Institution eine andere.
9.2 Der metaethische Naturalismus und seine Kritik
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Man kann die Institutionen des Versprechens und Versprechenhaltens aus einer externen (Beobachter-)oder einer internen (Teilnehmer-)Perspektive beschreiben. Versteht man die Beschreibung als eine externe, sozialwissenschaftlich-distanzierte Beschreibung ist die Ableitung von (4) offensichtlich ungültig, da (4) bereits eine Identifikation mit der beschriebenen Institution beinhaltet. Aus der externen Perspektive besteht nicht einmal eine Prima-facie-Verpflichtung im Sinne der in Aussage (1) beschriebenen Institution. Denn insoweit diese Institution lediglich beschrieben wird, drücken die Aussagen (1) bis (3) weder aus, dass der Urteilende sie in irgendeiner Weise für verbindlich hält, noch dass er sie ablehnt. Der Urteilende verwendet lediglich die Beschreibungsmittel, die diejenigen, die die Institution anerkennen, zu ihrer Beschreibung verwenden. Wenn er in (3) von dem Eingehen einer Verpflichtung spricht, dann zwar unter Bezugnahme auf das Selbstverständnis derer, die diese Institution anerkennen, aber nicht so, dass er diesem Selbstverständnis beitritt. Versteht man die Beschreibung der Institution andererseits als interne Beschreibung, d. h. als eine Beschreibung aus der Perspektive dessen, der die beschriebene Institution akzeptiert, ist die Ableitung von (4) aus (3) (bedingt) gültig, gleichzeitig kann jedoch (3) nicht mehr als rein deskriptiv aufgefasst werden. Denn (4) ist aus (3) nur dann logisch ableitbar, wenn die Verpflichtung zum Versprechenhalten in (3) bereits eingebaut gedacht wird. Die Ableitung ist allerdings auch in diesem Fall nur bedingt gültig, da auch derjenige, der die Institution des Sich-Verpflichtens durch Versprechen akzeptiert, nicht der Meinung zu sein braucht, dass jedes Versprechen gehalten werden muss, bzw. dass jemand, der ein Versprechen abgegeben hat, unter allen Bedingungen dazu stehen muss. Er kann z. B. das Bestehen der Verpflichtung von konfligierenden anderweitigen Verpflichtungen oder von dem Ausmaß der mit der Erfüllung des Versprechens verbundenen Belastungen abhängig machen. Für diesen Beurteiler folgt aus der Tatsache des Ver-
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9. Gibt es moralisches Wissen?
Sprechens allenfalls eine Prima-facie-Verpflichtung, aber keine strikte Pflicht zur Einhaltung des Versprechens. Wenn etwa ein Mafioso einem anderen verspricht, einen bestimmten N umzubringen, so würde aus dieser Sicht für den versprechenden Mafioso immer noch eine Prima-facie-Verpflichtung bestehen, dieses Versprechen zu halten, aber eben nur insoweit es sich um ein Versprechen handelt. Der Unwertgehalt der versprochenen Handlung würde den Unwertgehalt des nicht gehaltenen Versprechens weit überwiegen, so dass alles in allem nicht nur keine Verpflichtung zur Erfüllung des Versprechens besteht, sondern gerade umgekehrt eine Verpflichtung, das Versprechen nicht zu halten. Searles Versuch einer Infragestellung von „Humes Gesetz" gilt aus diesen und anderen Gründen in der Metaethik allgemein als widerlegt. Damit ist freilich nicht gezeigt, dass sich nicht doch Ausnahmen finden lassen, die es fraglich erscheinen lassen, ob man von der These von der Unableitbarkeit eines Sollens aus einem Sein als von einem „Gesetz" sprechen kann. Eine Ausnahme von „Humes Gesetz" wird gelegentlich in der Tatsache gesehen, dass es möglich scheint, aus einem Nicht-Können ein Nicht-Sollen zu folgern. So wird vielfach die Auffassung vertreten, dass aus der Aussage „N kann die Handlung h nicht ausführen" aufgrund ausschließlich logischer Überlegungen die Aussage „N ist nicht verpflichtet, h auszuführen" folgt: Ultra posse nemo tenetur. Nehmen wir an, es wäre so, dass Nicht-Können die Verpflichtung, h auszuführen, tatsächlich aufhebt. Wäre damit eine normative Aussage aus einer rein deskriptiven logisch herleitbar? Das hängt davon ab, ob man eine Aussage, die eine Verpflichtung negiert, als eine normative Aussage auffassen soll. Für diese Auffassung spricht, dass aus der Negation einer Verpflichtung im allgemeinen eine Erlaubnis folgt: Wenn N nicht verpflichtet ist, h zu tun, ist es ihm freigestellt, nicht-h zu tun bzw. h zu unterlassen. Erlaubnisurteile dieser Art werden jedoch gewöhnlich zusammen mit Verpflichtungs- und Ver-
9.3 Andere Formen des metaethischen Naturalismus
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botsurteilen als normative Urteile aufgefasst. Ein weiterer Grund, die Negation einer Verpflichtung als normativ aufzufassen, besteht darin, dass aus der Negation einer Verpflichtung ihrerseits Verpflichtungen herleitbar sind, z. B. die Verpflichtung, N für den Fall, dass er h nicht ausführen kann, nicht zu tadeln oder in anderer Weise zu sanktionieren. Aus der Negation der Verpflichtung scheint sich also zumindest eine Unterlassungspflicht herleiten zu lassen. Das sollte jedoch ein Grund sein, auch die Negation der Verpflichtung selbst als eine normative Aussage zu werten. Angreifbar scheint jedoch die These, dass (nach Kants berühmtem Diktum) Sollen Können impliziert. Denn es erscheint ohne weiteres möglich, dass eine Handlung auch dann geboten ist, wenn der Aufgeforderte oder einer der Aufgeforderten nicht in der Lage ist, sie auszuführen. Es ist im allgemeinen durchaus sinnvoll zu sagen, dass N verpflichtet ist, eine Schuld zurückzuzahlen, auch wenn er zahlungsunfähig ist und den entsprechenden Betrag nicht auftreiben kann. Er ist dann möglicherweise nicht verantwortlich dafür, dass er das Gebotene unausgeführt lässt. Aber die Befreiung von der Verantwortung befreit ihn nicht von der Verpflichtung.
9.3 Andere Formen des metaethischen Naturalismus
9.3.1 Konsens und Kohärenz als Quellen moralischer Wahrheit Eine verbreitete Form des metaethischen Naturalismus geht dahin, moralische Wahrheiten mit dem Bestehen eines consensus gentium, einer Übereinstimmung aller Beurteiler - bzw. aller verständigen Beurteiler - über eine moralische Frage gleichzusetzen. Ontologisch gesehen bestehen moralische Wahrheiten nach dieser Auffassung nicht in Wahrheiten über die Natur
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9. Gibt es moralisches Wissen?
oder über metaphysische Entitäten, sondern in einer quasi sozialwissenschaftlichen Tatsache: Sobald über irgendeine moralische Frage ein zeitlich und räumlich universaler Konsens besteht, existiert eine moralische Wahrheit, auf die man sich als Urteilender berufen kann. Erkenntnistheoretisch gesehen ist nach dieser Auffassung die Suche nach moralischen „Universalien" - verstanden als die Suche nach moralischen Bewertungen, die sich in allen Moralen finden, die jemals existiert haben und jemals existieren werden - der Königsweg zu tragfähigen und verlässlichen moralischen Prinzipien. Die Frage nach dem im objektiven Sinne moralisch Richtigen wird zu einer Frage der Sozialwissenschaften. Diese Konzeption erscheint wenig akzeptabel. Denn offenkundig ist sie mit der These des naturalistischen Fehlschlusses nicht vereinbar: Ein universaler Konsens ist eine Tatsache und nichts anderes als eine Tatsache. Als eine solche kann sie jedoch allenfalls ein Kriterium für das objektiv moralisch Wahre sein, d. h. ein guter und möglicherweise entscheidender Grund, eine Norm als wahr zu behaupten. Die Wahrheit der Norm ist jedoch in diesem Fall aus dem Bestehen des Grundes nicht streng logisch ableitbar. Aus der Tatsache, dass alle der Meinung sind, dass p, lässt sich ableiten, dass ein guter Grund oder ein Kriterium für die Annahme, dass p, gegeben ist. Es lässt sich jedoch nicht ableiten, dass p. Der individuelle Beurteiler ist nicht gezwungen, angesichts des universellen Konsenses, dass p, p anzunehmen. Auch wenn das Bestehen eines universellen Konsenses darüber, dass p, für ihn ein guter Grund für die Annahme von p ist, kann es für ihn anderweitige Gründe geben, die gegen die Annahme von p sprechen - z. B. die Verfügbarkeit einer guten Erklärung dafür, dass alle anderen einer Täuschung hinsichtlich p erlegen sind. Auch Kohärenz ist eine untaugliche Basis für eine naturalistisch verstandene moralische Wahrheit. Die Tatsache, dass ein System moralischer Normen in besonderer Weise kohärent, d. h. homogen, einheitlich und geschlossen ist, lässt keinen
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Schluss auf seine Wahrheit zu, sondern verhält sich gegenüber Wahrheit und Falschheit indifferent. Darüber hinaus können zwei Normensysteme gleichermaßen kohärent sein, sich dennoch aber nicht nur in Einzelheiten, sondern fundamental widersprechen - so dass eine angenommene Äquivalenz von Wahrheit und Kohärenz die paradoxe Folge hätte, dass beide Systeme gleichermaßen wahr wären. Kohärenz mag eine berechtigte Forderung an das Normensystem eines „reifen" Individuums sein. Als Grundlage eines metaethischen Naturalismus ist sie jedoch offensichtlich ungeeignet.
9.3.2 Starke religiöse Moralbegründung Unter einer starken religiösen Moralbegründung wird hier der Versuch verstanden, moralische Urteile aus bestimmten deskriptiven metaphysischen Aussagen abzuleiten, die typischerweise Teil religiöser Glaubenslehren sind. Dazu gehören insbesondere Aussagen über das, wozu die von der jeweiligen Religion anerkannten Autoritäten (Gott, Götter, Heilige, heilige Schriften) den Menschen bzw. bestimmte Menschen (Angehörige der jeweiligen Glaubensgemeinschaft, Priester, Würdenträger) moralisch verpflichten. Eine starke religiöse Moralbegründung ist nach dieser Definition eine Variante der metaphysischen Form des metaethischen Naturalismus: Bestimmte moralische Urteile und Forderungen werden als gültig aufgefasst, weil sie aus bestimmten deskriptiven Aussagen über metaphysische Entitäten ableitbar sind. Ableitbarkeit wird dabei als logisch-deduktive Ableitbarkeit verstanden. Das moralische Urteil folgt zwingend aus der jeweils zugrunde liegenden metaphysischen Aussage. Die häufigste Form einer starken religiösen Moralbegründung in diesem Sinne ist der religiöse Voluntarismus: Was moralisch richtig ist, ist ausschließlich abhängig von Gottes Willen. Moralische Normen sind Forderungen Gottes an den
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Menschen. Das Richtige ist richtig, nicht weil es an sich richtig ist und deshalb, weil es an sich richtig ist, von Gott gefordert wird, sondern es ist richtig, weil Gott es so will. Die Quelle der Geltung moralischer Urteile wird analog zur Quelle der Geltung positiver Rechtssätze aufgefasst: Das moralisch Richtige ist richtig, weil es willentlich als richtig gesetzt worden ist. Eine religiöse Moralbegründung in diesem Sinne muss sorgfältig unterschieden werden von einer anderen Auffassung, nach der lediglich die Existenz moralischer Urteile von der jeweils angenommenen religiösen Entität abhängig ist, nicht aber ihr Inhalt. Viele Theisten nehmen an, dass die Annahme der Existenz Gottes eine Bedingung dafür ist, dass es überhaupt so etwas wie die Moral gibt, nehmen aber nicht an, dass Gott frei ist, den Inhalt der Moral willkürlich zu bestimmen. Ohne Gott gäbe es keine Moral und keine moralischen Wahrheiten, aber wie diese Wahrheiten im einzelnen beschaffen sind, ist von Gottes Wollen unabhängig, Nach dieser Auffassung ist Gottes Allmacht in einem entscheidenden Punkt begrenzt. Er kann nicht willkürlich über moralische Richtigkeit und Falschheit und moralischen Wert und Unwert entscheiden, sondern ist denselben moralischen Maßstäben unterworfen, denen auch Menschen unterworfen sind. Wie Gott zwar bewirken kann, dass es überhaupt so etwas wie Mathematik gibt, er aber nicht bewirken kann, dass zwei plus zwei fünf ist, kann Gott dieser Auffassung nach zwar bewirken, dass es überhaupt so etwas wie moralische Wahrheiten gibt, nicht aber, dass das, was an sich richtig ist, falsch, und das, was an sich falsch ist, richtig ist. Eine religiöse Moralbegründung in diesem engen Sinn begegnet einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit ist der metaethische Naturalismus, den sie voraussetzt, die These, dass sich aus deskriptiven Aussagen- etwa über den göttlichen Willen - normative Aussagen - etwa über moralische Pflichten - ohne weitere normative Prämissen ableiten lassen. Eine derartige Ableitung ist nach Humes These
9.3 Andere Formen des metaethischen Naturalismus
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von der Unableitbarkeit eines Sollens aus dem Sein unmöglich. Moralische Pflichten ließen sich aus Aussagen über den göttlichen Willen nur dann ableiten, wenn diese eine normative Prämisse von der Art „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" hinzugefügt würde. Diese weitere Prämisse müsste jedoch, wenn ein logischer Zirkel vermieden werden soll, unabhängig von Gottes Willen begründet werden. Da ihre Wahrheit zur Ableitung von Pflichten aus Gottes Willen vorausgesetzt werden muss, kann sie nicht ihrerseits mit Gottes Willen begründet werden. Eine weitere Schwierigkeit hat die religiöse Moralbegründung (im definierten Sinn) gemein mit anderen Formen metaphysischer Moralbegründung: die Ungewissheit, ob die von dieser Begründung vorausgesetzte metaphysische Entität existiert. Die Überzeugungskraft metaphysischer Moralbegründungen steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit ihrer Existenzannahmen, und wegen ihres ausgeprägt anthropomorphen Gottesbildes haben insbesondere theistische Religionen in diesem Punkt eine deutlich geringere Anfangswahrscheinlichkeit als philosophische Konstruktionen wie Platons Idee des Guten oder Kants intelligibles Selbst. Je anthropomorpher eine Gottesvorstellung, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich bei ihr um eine Projektion handelt, bei der menschliche Züge in die Natur Gottes hineingedeutet werden. Auf der anderen Seite kann aber gerade ein religiöser Voluntarismus auf den Anthropomorphismus nicht verzichten: Gottes Wille kann plausiblerweise nur dann moralisch verbindlich sein, wenn es sich bei Gott um ein Wesen handelt, dem so etwas wie ein „Wille" zugeschrieben werden kann. Ein moralischer Gesetzgeber ist nur als Person (oder allenfalls als Gruppe von Personen) denkbar, nicht als Idee, Prinzip, Urkraft oder Weltformel.
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9.3.3 Schwache religiöse Moralbegründung Will eine religiöse Moralbegründung dem Vorwurf der Verletzung von „Humes Gesetz" bzw. des naturalistischen Fehlschlusses entgehen, ist sie gut beraten, eine von zwei Strategien einzuschlagen: Entweder gänzlich darauf zu verzichten, moralische Normen aus spezifisch religiösen Glaubensannahmen herzuleiten und sich zur Begründung dieser Normen auf anderweitige Instanzen wie Vernunft, Intuition oder Gewissen zu berufen, oder sich zwar auf religiöse Glaubensannahmen zu berufen, diese - analog zum ethischen Naturalismus - jedoch lediglich als Kriterium und nicht als schlechthin zwingende Normquelle aufzufassen. Bei der ersten Option handelt es sich strenggenommen um keine eigentliche religiöse Moralbegründung, denn die Quelle, aus der die Begründung moralischer Urteile bezogen wird, ist in diesem Fall keine spezifisch religiöse Quelle, sondern eine, die auch Areligiösen zur Verfügung steht. Eine solche „autonome" religiöse Ethik hat der katholische Moraltheologe Alf ons Auer vertreten: Die Inhalte der Moral werden nach dieser Auffassung rein weltlich und unabhängig von allen spezifisch religiösen Glaubenslehren gewonnen und lediglich nachträglich in einen spezifisch religiösen Sinnhorizont eingebettet und mit spezifisch religiösen Zusatzmotivationen versehen. Da Gott nach dieser Auffassung dieselben - unabhängig von seinem Willen begründeten - moralischen Überzeugungen vertritt wie der einzelne Gläubige, kann sich dieser in einem partnerschaftlichen Verhältnis zu Gott sehen, in dem Gott und Mensch mit dem Ziel der Verwirklichung derselben moralischen Werte zusammenarbeiten (vgl. Auer 1984,177). Aus der Verbundenheit mit Gott gewinnt der Gläubige keine spezifischen moralischen Ziele, sondern lediglich zusätzliche Motivationen, die gemeinsamen Ziele zu verfolgen: „Das christliche Proprium des Sittlichen liegt... nicht in neuen, nur dem Gläubigen zugänglichen Verhaltensnormen, sondern in der Inte-
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grierung des natürlich-sittlichen (autonomen) Handelns in den Vollzug seiner religiösen Verbundenheit mit Gott." (Auer 1984,178) Im Gegensatz zur ersten kann man im Fall der zweiten Option durchaus von einer genuin religiösen Moralbegründung sprechen, da hier der göttliche Wille bzw. der Wille einer anderen religiösen Autorität zum Kriterium des moralisch Richtigen gemacht wird. Diese Option hat darüber hinaus den Vorzug, den naturalistischen Fehlschluss zu umgehen und damit gegen elementare metaethische Kritik immun zu sein. Das gelingt ihr, indem sie die Beziehung zwischen deskriptiven Aussagen über Gottes Wille und normativen Aussagen über unsere Pflichten nicht als eine deduktiv-logische Beziehung auffasst, sondern als eine Beziehung, die erst durch die Setzung einer zusätzlichen Prämisse hergestellt wird, nämlich der Prämisse, dass Gottes Wille das Kriterium von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht sein soll. Wie der ethische Naturalist postuliert, dass die Natur den Maßstab abgeben soll, an dem sich menschliches Handeln orientieren soll, postuliert der religiöse Ethiker, der eine nicht-naturalistische (und insofern „schwache") religiöse Moralbegründung vorschlägt, dass der Wille Gottes den Maßstab abgeben soll für menschliches Handeln. Beidemal kann diese zusätzliche Prämisse nicht aus den deskriptiven Prämissen hergeleitet werden. Dass die Menschen der Natur folgen sollen, kann seinerseits nicht wieder aus einer Tatsache der Natur hergeleitet werden. Um eine Verpflichtung zu begründen, der Natur zu folgen, bedarf es vielmehr einer zusätzlichen normativen Prämisse, die besagt, dass wir die Natur als Autorität anerkennen sollen. Ebenso kann die Tatsache, dass Gott im ersten Gebot des mosaischen Dekalogs fordert, dass die Menschen ihm folgen, nicht für sich genommen begründen, dass die Menschen ihm folgen sollen. Dies kann nur durch eine zusätzliche Prämisse begründet werden, die besagt, dass die Menschen Gottes Willen folgen sollen und deshalb auch seinem Gebot, ihm zu folgen.
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9. Gibt es moralisches Wissen?
Die schwache religiöse Moralbegründung ist über den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses erhaben. Sie ist allerdings einer Reihe anderer Einwänden ausgesetzt, die teils mit denen gegen den ethischen Naturalismus vorgebrachten identisch sind, teils über diese hinausgehen. Viele der Einwände, die John Stuart Mill in seinem Essay „Natur" gegen den ethischen Naturalismus erhoben hat (Mill 1984), gelten analog für die religiöse Ethik. Der wichtigste Kritikpunkt ist die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des jeweils postulierten Kriteriums: der Natur bzw. Gott zu folgen. Fasst man „Natur" im Sinne des Ganzen des innerweltlich Seienden auf, bzw. sieht man alles in der Welt Geschehende als vorausgesehene und gewollte Folge der göttlichen Schöpfungshandlung, müsste noch die verbrecherischste Handlung als naturgemäß bzw. als gottgefällig gelten. Soweit der Mensch Teil der Natur ist, kann er nicht anders als den Naturgesetzen gehorchen, und soweit er Teil der Schöpfung ist, kann er nicht anders als dem Willen des Schöpfergottes entsprechend handeln. Versteht man unter „Natur" bzw. unter dem von Gott Gewollten andererseits die Naturseite des Menschen - etwa seine von Erziehungs- und Kultivierungsprozessen unabhängigen Anlagen und Motivationen -, ist eine Orientierung an der Natur bzw. an dem Gottgewollten aus anderen Gründen zweifelhaft: Moral ist eine Kulturleistung und kein Instinkt, auch wenn sie auf natürlichen Anlagen aufbaut. Wäre nur die „Naturausstattung" des Menschen gottgewollt, nicht aber deren kulturelle Sublimierung und Ausdifferenzierung, wäre zweifelhaft, ob irgendein Aspekt der Moral als gottgewollt gelten könnte. Eine dritte Schwierigkeit sind die Ungewissheiten in der Identifizierung der Absichten und Zwecke hinter dem Walten der Natur bzw. dem Walten Gottes: Lässt die Geschichte des Wirkens der Naturkräfte bzw. des Einwirkens Gottes in die Schöpfung überhaupt so etwas wie eine einheitliche und verlässliche Richtung erkennen? Gibt es überhaupt eine Grundlage dafür, der Natur (bzw. dem Schöpfer) so etwas wie erkennbare Zwecke zuzu-
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schreiben, die dann vom Menschen übernommen werden können? Wenn aber angesichts der Uneinheitlichkeit dieses Wirkens zwischen den verschiedenen realen oder scheinbaren „Zwecken" in der Natur eine Auswahl getroffen werden muss, nach welchem Kriterium soll das geschehen? Je nachdem, welches Kriterium angelegt wird, ergeben sich gänzlich verschiedene ethische Konsequenzen. In der nachdarwinschen Ära haben sich „rechte" Sozialdarwinisten wie Spencer auf die Phänomene von Verdrängungswettbewerb in der Natur berufen, „linke" wie Kropotkin auf die Phänomene von sozialem Zusammenhalt und Solidarität mit den Schwächeren. Ähnlich wie die Bilder von Naturgewolltheit stehen sich auch die Bilder von Gottgewolltheit unversöhnlich gegenüber. Technikskeptische Theologen sehen in denselben Atomkraftwerken Akte schöpfungswidriger menschlicher Hybris, in denen andere - wie etwa Teilhard de Chardin - konsequente Fortschreibungen der ursprünglichen Schöpfungszwecke gesehen haben. Es ist klar, dass sich die Auswahl der jeweils als den der Natur entsprechenden oder als gottgewollt interpretierten Zwecke dabei nicht wiederum nach moralischen Kriterien richten kann, wenn ein logischer Zirkel vermieden werden soll. Die Auswahl muss unabhängig von moralischen Prinzipien erfolgen, da diese durch die Berufung auf die Natur bzw. auf Gott erst begründet werden sollen. Dieselbe Überlegung lässt sich auch ganz unabhängig von der Frage nach der Auswahl des geeigneten Natur- und Gottesbilds anstellen. Der Versuch, moralische Normen mit Berufung auf die Natur oder auf Gott zu begründen, kann die Autorität der moralsetzenden Instanz nicht ihrerseits mit moralischen Argumenten begründen. Eine jede solche Begründung würde zirkulär, da sie von den Setzungen dieser Instanz, deren Autorität sie erweisen will, Gebrauch machen muss. Warum der Natur oder Gott Folge geleistet werden soll, entzieht sich im Rahmen des ethischen Naturalismus und der schwachen religiösen Moralbegründung einer moralischen Begründung.
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Wenn moralische Normen ihre Verbindlichkeit erst durch die Übereinstimmung mit der Natur oder dem Willen Gottes erhalten, lassen sich die Zwecke oder der Wille Gottes nicht ihrerseits mit moralischen Kriterien auf ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptabilität beurteilen. Solange die Geltung moralischer Maßstäbe ausschließlich darauf beruht, dass die Natur oder Gott sie so gewollt hat, muss die Autorität des göttlichen Willens vorgängig zu den Inhalten seines Willens anerkannt sein. Welche nicht-moralischen Gründe könnten diese moralische Autorität begründen? Das faktisch am häufigsten verwendete Kriterium dürfte das Kriterium der Macht sein: Wir sollten uns den Zwecken der Natur bzw. dem Willen Gottes unterwerfen, da diese die mächtigsten denkbaren Autoritäten sind, an die wir uns halten können. Aber ist diese Begründung plausibel? Sich an den Willen dessen zu halten, der über die größte Macht verfügt, ist zwar psychologisch verständlich, da man gewissermaßen die stärksten denkmöglichen Bataillone auf seiner Seite weiß. Aber es fragt sich, ob Macht auch ein Legitimationsgrund dafür sein kann, dem Willen des Mächtigen zu folgen. Macht ist angesichts seiner Sanktionsfähigkeit ein Motiv, dem Mächtigen moralische Autorität zuzuschreiben. Es kann aber kaum ein Grund sein, diese Autorität anzuerkennen. Die Tatsache, dass ein Machthaber Belohnungen für den Fall verspricht, dass seinen Weisungen, seinem Willen oder seinen Überzeugungen Folge geleistet wird, ist ein überzeugendes Motiv, aber kein besonders überzeugender Grund, diese Weisungen für berechtigt zu halten. An diesem Punkt ist möglicherweise der Vergleich mit dem positiven Recht hilfreich. Die Bereitschaft, gesetzeskonform zu handeln, braucht nicht in moralischen Gründen begründet zu sein, sie kann auch schlicht aus Furcht vor den Konsequenzen liegen. Aber weder die Tatsache, dass ein Gesetz faktisch gilt, noch die Tatsache, dass seine Befolgung mit positiven und seine Verletzung mit negativen Sanktionen belegt ist, besagt irgend etwas über das moralische Recht oder Unrecht dieses Gesetzes
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Parallelen zwischen der Kritik am ethischen Naturalismus und der Kritik an der (schwachen) religiösen Moralbegründung im Anschluss an J. St. Mill Begründung des moralisch Richtigen mit Bezug auf Zwecke der Natur
Begründung des moralisch Richtigen mit Bezug auf den Willen Gottes
Die Existenz eines Natursubjekts, dem Zwecke zugeschrieben werden können, ist unzureichend gesichert.
Die Existenz eines Gottes, dem ein „Wille" zugeschrieben werden kann, ist unzureichend gesichert.
Nicht nur moralisch richtiges, auch moralisch falsches Handeln ist Teil der Natur.
Nicht nur moralisch richtiges, auch moralisch falsches Handeln ist Teil der gottgewollten Schöpfung.
Ein Kriterium dafür, was in der Natur naturgewollt und was von der Natur lediglich als notwendiges Übel in Kauf genommen wird, ist der Natur selbst nicht zu entnehmen.
Ein Kriterium dafür, was in der Schöpfung gottgewollt und was von Gott lediglich als notwendiges Übel in Kauf genommen wird, ist der Schöpfung selbst nicht zu entnehmen.
Eine Identifizierung des von der Natur Gewollten und deshalb moralisch Richtigen nach moralischen Kriterien liefe auf einen logischen Zirkel hinaus.
Eine Identifizierung des von Gott Gewollten und deshalb moralisch Richtigen nach moralischen Kriterien liefe auf einen logischen Zirkel hinaus.
oder über die moralische Autorität des Gesetzgebers. Diese Autorität ist nur dann akzeptabel, wenn sie legitimiert ist, entweder durch die moralische Qualität der Gesetze, die sie erlässt, oder durch die moralische Qualität der Verfahren, die zu seiner Einsetzung geführt haben. Auch die Tatsache, dass der Mensch ein Geschöpf der Natur bzw. - nach monotheistischer Auffassung - Gottes ist, ist kein
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guter Grund, die Zwecke der Natur oder den Willen Gottes für sakrosankt zu halten. Haben etwa aus der Sicht der Kinder die Eltern in moralischen Fragen schon deshalb Recht, weil sie sie erzeugt haben? Auch für diesen Begründungsversuch gilt, dass die faktische Abhängigkeit des Erzeugten von seinem Erzeuger keine Legitimationsgrundlage für eine normative Abhängigkeit schafft. Für die schwache religiöse Moralbegründung kommen allerdings noch mindestens zwei Schwierigkeiten hinzu, die für den ethischen Naturalismus nicht in derselben Weise gelten: 1. die bereits erwähnte Ungewissheit, ob die in Anspruch genommene religiöse Autorität existiert, und 2. die durch die Vielfalt der religiösen Doktrinen bedingte Vielfalt an Gottesbildern. Da sich die führenden monotheistischen Religionen bei ihrer Moralbegründung im wesentlichen nicht auf natürlich-theologische, sondern auf offenbarungstheologische Quellen berufen, wird das von Gott Gewollte in der Hauptsache nicht aus der Natur, sondern aus heiligen Texten erschlossen. In diesen liegt es jedoch nur selten in eindeutiger Gestalt vor. Nicht nur schreiben unterschiedliche Religionsgemeinschaften auf der Grundlage abweichender vermeintlicher Offenbarungen demselben Gott unterschiedliche Willensrichtungen zu. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften ist der Wille Gottes vielfach kontrovers. Schon die christlichen Quellen schreiben dem einen Gott eine solche Vielfalt wechselseitig unvereinbarer Charaktereigenschaften zu (Gott als eifersüchtiger Tyrann, als gerechter Richter, als barmherziger Vater), dass etwa bereits innerhalb der christlichen Religion jede Aussage darüber, welches Verhalten Gott von den Menschen erwartet, Ergebnis eines prekären Auslegungs- und Auswahlprozesses ist. Stellt Gott Gnade und Barmherzigkeit über Gerechtigkeit und Vergeltungsprinzip oder verhält es sich genau andersherum? Gilt die Bergpredigt mit der Aufforderung zur Feindesliebe oder gelten die Bücher Samuel mit der Aufforderung zum Völkermord? Ist der christliche Gott ein Gott der
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Milde oder der Strenge? Entsprechend unterscheiden sich die Vorstellungen vom göttlichen Gericht: Nach der einen bekommt jeder seine „gerechte" Strafe, nach der anderen kann auch der ärgste Sünder auf Barmherzigkeit rechnen - sei es bedingungslos oder - mit Luther - unter der Bedingung des Glaubens.
9.4 Der Intuitionismus 9.4.1 Intuitionen und Intuitionismus Der Ausdruck „Intuition" ist in der Moralphilosophie der letzten fünfzig Jahre einem Inflationierungsprozess ausgesetzt gewesen, der dazu geführt hat, dass das, was in der Ethik gegenwärtig „Intuition" genannt wird, mit dem herkömmlichen Begriff der Intuition wenig gemein hat. „Moralische Intuitionen" sind diesem Sprachgebrauch nach nichts anderes als Vormeinungen, Anmutungen und andere Arten vortheoretischer moralischer Überzeugungen. So verstanden, spielen moralische Intuitionen für die Ethik eine ähnliche Rolle wie semantische Intuitionen für die sprachwissenschaftliche Beschreibung von Bedeutungen. Wie die semantischen Intuitionen das Material der Bedeutungsanalyse und Explikation sind moralische Intuitionen das Ausgangsmaterial der rekonstruktiven wie der konstruktiven normativen Ethik. Intuitionen in diesem Sinne haben nichts mit den „Intuitionen" zu tun, auf die sich der „Intuitionismus" als Theorie moralischer Erkenntnis beruft. Der Intuitionismus behauptet nicht, dass es Intuitionen im Sinne vortheoretischer moralischer Überzeugungen gibt - das wäre trivial -, sondern dass es moralische Intuitionen gibt, die einen Erkenntniszugang zu moralischen Wahrheiten eröffnen. Kennzeichen der vom Intuitionismus postulierten Intuitionen ist, dass sie nicht nur
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subjektiv evident sind, d. h. vom jeweiligen Subjekt als evident erlebt werden, sondern dass sie auch objektiv evident sind, d. h. dass ihre subjektive Evidenz der adäquate Ausdruck ihrer subjektunabhängigen Wahrheit oder Gültigkeit ist. Der Kerngehalt des Intuitionismus lässt sich in drei Thesen zusammenfassen: 1. Ethischer Realismus: Es gibt moralische Wahrheiten. Die Ausdrücke „wahr" und „falsch" sind auf moralische Urteile anwendbar. 2. Ethischer Kognitivismus: Die Wahrheit und Falschheit moralischer Urteile ist der menschlichen Erkenntnis zugänglich. Wahrheitskriterium ist die Evidenz, die moralische Wahrheiten für den Urteilenden mit sich führen. 3. Spezifische These des Intuitionismus: Der Erkenntniszugang zu moralischen Wahrheiten ist weder empirischer noch begrifflicher, sondern quasi anschaulicher Art. Die Erkenntnis der Wahrheit intuitiv gewisser moralischer Urteile oder Prinzipien ist unmittelbar und beruht nicht auf logischer Ableitung. Es gibt zahlreiche Varianten des ethischen Intuitionismus. Man kann sie im wesentlichen nach zwei Dimensionen unterscheiden: einerseits danach, wie sie den Vorgang der Intuition näher charakterisieren und welche psychischen Vermögen sie daran beteiligt sehen, zweitens danach, auf welcher Ebene moralischer Urteile sie die von ihnen postulierte intuitive Erkenntnis ins Spiel bringen: auf der Ebene des Einzelfalls, auf der Ebene der Prinzipien „mittlerer Reichweite" oder auf der Ebene der Grundprinzipien. Rationalistische Intuitionisten - wie etwa John Locke und Thomas Reid - interpretieren die moralische Intuition als eine Art Vernunfteinsicht ohne wesentliche Gefühlsbeteiligung und konstruieren das intuitive Erfassen moralischer Wahrheiten analog zur unmittelbaren und nicht auf Ableitung beruhenden Erkenntnis elementarer analytischer Wahrheiten in
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Logik und Mathematik. Die Stimme des Gewissens ist hier eine Stimme der Vernunft. Andere Intuitionisten fassen die moralische Intuition als eine Art Sinneswahrnehmung auf. Dieses Bild der Intuition wurde insbesondere in der von Shaftesbury begründeten englischen Tradition der moral-sense-Theonen des 18. Jahrhunderts entwickelt. Wie die Sinneserfahrung im nicht-moralischen Sinne soll der moral sense eine Erkenntnis subjektunabhängig bestehender moralischer Sachverhalte ermöglichen und intersubjektiv verbindliche moralische Bewertungen von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht, Tugend und Laster erlauben. Rationale Momente sind an dem Erfassen dieser objektiven Unterschiede nur in dem Maße beteiligt, in dem sie auch bei Wahrnehmungsurteilen auf der Grundlage von Sinneseindrücken beteiligt sind. Die Grenze zu den Gefühlstheorien der Intuition ist fließend. Eine Gefühlstheorie der Intuition hat in der phänomenologischen Ethik des 20. Jahrhunderts Max Scheler vertreten. Nach Scheler sind dem menschlichen Fühlen eine Reihe von moralischen und nicht-moralischen Werten vorgegeben, deren objektiv bestehende Rangunterschiede gefühlsmäßig - er nennt diese Feststellung „Vorziehen" - erfasst werden können. „Vorziehen" kann entweder durch einen durch einen Prozess des bewussten Abwägens dieser Wertqualitäten erfolgen, aber auch automatisch und quasi instinktiv, etwa in der Gestalt eines „ ,enthusiastischen' Sichdahingebens an den höheren Wert" (Scheler 1966, 107). Die zweite Unterscheidungsdimension betrifft das Allgemeinheitsniveau, auf der die jeweils als intuitiv einsehbar behaupteten moralischen Normen angesiedelt werden. Für kasuistische Intuitionisten - Aristoteles kommt dieser Position nahe - ist intuitive moralische Erkenntnis stets die Erkenntnis der Richtigkeit und Falschheit singulärer Handlungen. Nicht allgemeine Prinzipien, sondern deren Instanziierung in konkreten Situationen ist der eigentliche Gegenstand moralischer
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Intuition. Intuitionisten der mittleren Ebene behaupten die intuitive Einsichtigkeit von Prinzipien der mittleren Allgemeinheitsstufe, der axiomata media. Zu den Vertretern dieser Position gehört die große Gruppe von Ethikern, die bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien (etwa das Vergeltungsprinzip oder das Prinzip der Gleichverteilung) für evident und intuitiv erkennbar halten. Zu den Intuitionisten der Basisebene, die die obersten oder letzten Prinzipien für intuitiv begründbar halten, gehört Henry Sidgwick. Sidgwick vertrat die Auffassung, dass das militaristische Prinzip der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung, also ein Prinzip auf höchster Allgemeinheitsstufe, durch Intuition als wahr erkannt werden könne. Obwohl das Kennzeichen des Intuitionismus die Behauptung der Möglichkeit einer unmittelbaren moralischen Erkenntnis ist, besteht auch für den Intuitionisten ein großes Betätigungsfeld für indirekte moralische Erkenntnis, z. B. durch Schlussfolgerungen aus als intuitiv als wahr erkannten Prinzipien und andere intellektuelle Operationen. Für den kasuistischen Intuitionisten ergeben sich allgemeine Beurteilungsgesichtspunkte und Prinzipien erst aus der quasi induktiven Verallgemeinerung von Einzelfallintuitionen. Wie sich die Gesetzeshypothesen eines Wissenschaftlers an den konkreten Einzelphänomenen bewähren müssen, die unter die Hypothese fallen, müssen sich die Prinzipien des kasuistischen Intuitionisten an den von ihm als objektiv evident postulierten Einzelfall-Intuitionen messen lassen. Allgemeine moralische Urteile sind deshalb für den kasuistischen Intuitionisten stets nur vorläufig gültig, d. h. solange sie nicht durch entgegenstehende Einzelfälle falsifiziert sind. Wenn etwa Lügen moralisch unzulässig ist, dann nicht, weil es eine moralische Intuition gibt, nach der Lügen als solches moralisch bedenklich ist, sondern weil es eine Reihe von Einzelfallintuitionen gibt, die konkrete Akte des Lügens in ihrem jeweiligen situativen Kontext als moralisch unzulässig erweisen.
9.4 Der Intuitionismus
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Bei den Intuitionisten der mittleren Ebene stellt sich die Sachlage anders dar. Da sie von der intuitiven Einsehbarkeit bestimmter allgemeiner Prinzipien ausgehen, bedürfen sie keiner induktiver Verfahren, um diese allererst zu gewinnen. Sie bedürfen jedoch zusätzlicher Gewichtungs- bzw. Einzelfallintuitionen, um auch in Fällen, in denen diese mittleren Prinzipien miteinander konfligieren, ihren Anspruch auf intuitive Erkenntnis aufrechtzuerhalten. Bei Scheler soll dies von der als intuitiv erkennbar postulierten Rangordnung der Werte geleistet werden, bei David Ross von der als evident postulierten Einzelfallintuition. Erst diese - zusätzliche - Intuition entscheidet darüber, welchem der ihrerseits intuitiv gewonnenen Prima-facie-Pflichten im Konfliktfall Vorrang gebührt. Den größten Anteil übernehmen logische Ableitungen, Folgenkalküle und andere nicht-intuitive Verfahren bei den Vertretern der dritten Position, des Intuitionismus der Basisebene. Da hier lediglich das Grundprinzip intuitiv abgesichert ist, spielen Intuitionen sowohl auf der Ebene der mittleren Prinzipien als auch auf der Ebene der Einzelfallurteile keine Rolle mehr. Vielmehr wird das als intuitiv gesichert geltende Grundprinzip auf Einzelfälle in derselben deduktiven Weise angewendet wie in nicht-intuitionistischen Theorien auch. Für den Fall, dass intuitiv richtige Prinzipien bei fehlerfreier Anwendung zu unannehmbar scheinenden Ergebnissen für den Einzelfall führen, zählt ausschließlich die Prinzipienintuition.
9.4.2 Missverständnisse des ethischen Intuitionismus Wie ist der Intuitionismus als ethische Erkenntnistheorie zu beurteilen? Bevor wir uns diese Fragen vorlegen, ist zunächst der ethische Intuitionismus gegen einige Missverständnisse und auf diese zurückgehende unberechtigte Kritiken in Schutz zu nehmen.
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1. Vielfach wird dem Intuitionismus vorgeworfen, dass er das moralische Urteil als eine Art Wahrnehmungsurteil auffasst und damit ein entscheidendes Merkmal moralischer Urteile verfehlt. Er beziehe das moralische Urteil einseitig auf die wahrnehmbaren Aspekte einer Handlung, einer Handlungsweise oder eines Charaktermerkmals und vernachlässige damit die nicht anschaulich gegebenen, für die moralische Beurteilung aber so relevanten Faktoren wie das in der Vergangenheit liegende Vorverhalten, die in der Zukunft liegenden Handlungsfolgen und die in der Regel nicht sinnlich erfassbaren Motive und Absichten des Akteurs. Das moralische Urteil greife zu kurz - so kann man diese Kritik auf den Punkt bringen -, wenn es sich nicht darauf bezieht, was man weiß, sondern darauf, was man sieht. Diese Kritik ist unberechtigt, da die Intuitionisten in der Regel nicht davon ausgehen, dass man moralische Eigenschaften analog zu den Eigenschaften verstehen kann, die man bei Wahrnehmungsurteilen durch bloßes „Hinsehen" oder „Hinhören" ermitteln kann. Auch wenn „Intuition" sich sprachlich von intueri (lat. sehen, schauen) herleitet und ursprünglich soviel wie „Anschauen" bedeutete, ist der Intuitionist doch keineswegs darauf verpflichtet, den Intuitionsvorgang als Wahrnehmungsvorgang zu deuten. Er kann vielmehr das Ergebnis der Intuition wesentlich auch von den einem Beurteiler verfügbaren Zusatzinformationen über eine Handlung, eine Situation oder einen Akteur abhängen lassen. Deshalb sind intuitionistische Theorien auch keineswegs auf eine streng deontologische normative Ethik festgelegt, die die einzelne Handlung ausschließlich nach ihrem allgemeinen Charakter und nicht etwa auch nach ihren Folgen oder Motiven beurteilt. 2. Eine verbreitete Kritik am Intuitionismus lautet, dass moralische Eigenschaften von Handlungen und Personen deswegen nicht intuitiv erkannt werden können, weil sie unbeobachtbar sind.
9.4 Der Intuitionismus
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Dieses Argument verkennt, dass der Intuitionist moralische Eigenschaft zwar für unbeobachtbar, aber deshalb nicht für grundsätzlich unzugänglich hält. Auch ästhetische Eigenschaften sind im strengen Sinne „unbeobachtbar", sie sind aber deshalb ebenfalls nicht gänzlich unzugänglich. Es bedarf des richtigen Blicks und der geeigneten Sensibilität, um diese Eigenschaften zu erfassen. Beobachtungsgabe allein genügt nicht. 3. Ein weiterer Einwand besagt, dass der Intuitionist auf eine bestimmte metaphysische Deutung moralischer Urteile festgelegt ist. Er müsse die von ihm postulierten „Wertverhalte" in einer spezifisch metaphysischen Weise deuten, etwa im Sinne einer Substanzialisierung von Werten oder im Sinne einer Theologie gottgegebener Normen. Eine Substanzialisierung von Werten ist in der Tat von Nicolai Hartmann vorgenommen worden, der Werte ontologisch als Quasi-Dinge - den platonischen „Ideen" entsprechend und nicht als bloße Sachverhalte aufgefasst hat (vgl. Hartmann 1926, 108). Danach haben moralische Werte die Existenzform von metaphysischen Gegenständen (wie Gott, Engel und Geister) und nicht die Existenzform von Sachverhalten, die auch ohne die Existenz von Gegenständen bestehen können (wie Naturgesetze oder mathematische Wahrheiten). Aber diese von Anfang an umstrittene Variante des ethischen Intuitionismus ist wenig repräsentativ. Für die Mehrzahl der sogenannten „Wertethiker" existieren Werte entweder nur als „Geltungen" analog zu Natur- oder mathematischen Gesetzen oder als unselbständige Entitäten, d. h. als Eigenschaften, die substanzielle Entitäten als Träger voraussetzen. Auch theologische Deutungen - wie die Deutung der „Stimme des Gewissens" als „Stimme Gottes", der bestimmte „angeborene moralische Ideen" in die Seele des Menschen eingesenkt hat - finden sich zwar gelegentlich in der intuitionistischen Tradition, sind aber kein Wesensmerkmal des Intuitionismus. Moderne Intuitionisten wie Nicolai Hartmann lehnen theologische Deutungen der Intuition sogar ausdrücklich ab.
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4. Gegen den Intuitionismus wird häufig eingewandt, dass er den emotiven und motivationalen Gehalt moralischer Urteile nicht angemessen zu erfassen vermag. Er sei auf einen ethischen Intellektualismus festgelegt, der moralische Erkenntnis auf kognitive Prozesse der Quasi-Wahrnehmung von Wertsachverhalten reduziert und nicht erklären kann, wie von diesen Prozessen Handlungsmotivationen ausgehen können. Diese Kritik übersieht, dass der Gegenstand der Erkenntnis für den Intuitionismus zwar ein Sachverhalt ist, aber ein Sachverhalt besonderer Art. Gegenstand der moralischen Erkenntnis ist ein genuin moralischer Sach- oder Wertverhalt, der sich von allen Sachverhalten, die Gegenstand der Wissenschaft sind, dadurch unterscheidet, dass er seiner Art nach normativ oder evaluativ strukturiert ist. Im Gegensatz zum metaethischen Naturalisten sieht der Intuitionist die von ihm postulierten objektiven „Wertverhalte" als Sachverhalte sui generis, die nicht mit den von deskriptiven Disziplinen wie der Wissenschaft oder der Metaphysik beschriebenen Sachverhalten verwechselt werden dürfen. Dass eine Handlung „grausam" ist und deshalb unterlassen werden sollte, ist kein möglicher Gegenstand einer wissenschaftlichen Beschreibung. Es ist aber sehr wohl ein möglicher Gegenstand moralischer Intuition. Andererseits enthält die Charakterisierung einer Handlung als „grausam" ein emotives und motivierendes Moment. 5. John L. Mackie hat gegen den Intuitionismus den Einwand erhoben, er stelle sich eine unmögliche Aufgabe. Da moralische Eigenschaften in Bezug auf deskriptive Eigenschaften supervenient seien, müsse der Intuitionist annehmen, dass ein Akt der Intuition drei Dinge auf einmal leistet: die Erkenntnis der deskriptiven Eigenschaften einer Handlung oder einer Person, die Erkenntnis der sich daraus ergebenden moralischen Eigenschaften und die Erkenntnis der „geheimnisvollen Beziehung zwischen diesen beiden Arten von Eigenschaften" (Mackie 1981, 48).
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Es ist jedoch fraglich, ob die Beziehung zwischen deskriptiven und evaluativ-normativen Eigenschaften für den Intuitionisten so sehr viel „geheimnisvoller" sein muss als für den Nicht-Intuitionisten, der bestimmte Handlungen „auf einen Blick" als „grausam" oder „großzügig", d. h. sowohl in ihren deskriptiven als auch in ihren evaluativen Eigenschaften erfasst. Auch derjenige, der seinen evaluativen oder partiell evaluativen Urteilen keinen Erkenntnisgehalt zuschreibt, erfasst die deskriptiven und evaluativen Eigenschaften „auf einen Blick", als gestalthafte Ganzheiten. Deshalb ist die Tatsache, dass der Intuitionist - soweit er, wie das in der Regel der Fall ist, die Supervenienz evaluativer auf deskriptiven Eigenschaften anerkennt - sich auf diese ganzheitliche Wahrnehmung bezieht, kein spezifisches Argument gegen seine Theorie. Wenn seine Theorie kritisierbar ist, dann nicht wegen des Bildes einer „ganzheitlichen" Erfassung deskriptiver und evaluativer Sachverhalte, das sie voraussetzt, sondern wegen des metaethischen Realismus: dass es sich bei dieser Erfassung um die Erfassung real bestehender Sachverhalte handelt, die unabhängig von den subjektiven Evidenzerlebnissen der Beurteiler bestehen und sich in diesen lediglich widerspiegeln.
9.4.3 Kritik am Intuitionismus Der entscheidende Kritikpunkt am Intuitionismus ist aus der Sicht seiner Gegner nicht das Bild von moralischer Erfahrung, das er entwirft - diesem Bild stimmen die meisten Kritiker zu -, sondern die Deutung dieser Erfahrung als Erfahrung von etwas real und unabhängig von dieser Erfahrung Bestehendem. Was sie bezweifeln, ist nicht die für den Intuitionismus charakteristische Analogisierung von moralischen Urteilen mit Wahrnehmungsurteilen und das Bild von moralischen Eigenschaften als etwas evident Gegebenen, sondern die Deutung dieser subjektiven Evidenzerlebnisse als Spiegelungen einer subjektunab-
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hängig bestehenden Realität. Gegenstand der Kritik ist, kurz gesagt, nicht die Moralpsychologie des Intuitionismus, sondern der von ihm vorausgesetzte ethische Realismus. Die Argumente gegen den ethischen Intuitionismus fallen deshalb weitgehend zusammen mit den Argumenten gegen den ethischen Realismus insgesamt. 1. Das Hauptargument gegen den ethischen Realismus ist die Paradoxie der Idee einer moralischen Wahrheit, die unabhängig von jedem moralisch Urteilenden besteht. Wir können uns leicht vorstellen, dass das Gesetz der Gravitation, verstanden als eine Gesetzmäßigkeit der Natur, unabhängig von jedem Theoretiker besteht, der es als Gesetzesaussage im Rahmen einer physikalischen Theorie formuliert. So nehmen wir an, dass das Sonnensystem bereits lange vor Newton durch die Gravitationsgesetzlichkeiten zusammengehalten wurde. Dass jedoch ein „Sittengesetz" (wie bei Kant) oder eine „Hierarchie der Werte" (wie bei Scheler) unabhängig von jedem Subjekt bestehen können soll, das dieses Gesetz setzt oder die entsprechende Wertabstufung vornimmt, ist wenig plausibel. Die Annahme der Existenz von moralischen Prinzipien oder Werten ohne ein Subjekt, das diese in Geltung setzt und unterhält, steht in dem dringenden Verdacht, eine Hypostasierung - eine ungerechtfertigte Verdinglichung - zu sein. Werte ohne Bewerter und moralische Gesetze ohne Gesetzgeber scheinen ebenso paradox wie Zwecke ohne Zwecksetzer. 2. Gäbe es moralische Wahrheiten in demselben Sinne, in dem es Wahrheiten über die Natur gibt, wäre es möglich, dass sich alle Beurteiler auf Ewigkeit über diese Wahrheiten täuschen. Während es aber durchaus denkbar ist, dass ein Sachverhalt hinsichtlich der natürlichen Außenwelt besteht und alle faktisch existierenden Subjekte sich darüber täuschen, scheint diese Möglichkeit für moralische Wahrheiten, falls es solche gibt, nicht so leicht denkbar. Der Gedanke liegt nahe: Falls es so etwas wie eine moralische Realität gibt, sollte sie sich schon lange in Gestalt eines dauerhaften Konsenses niedergeschlagen
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haben, ähnlich wie sich die physikalischen Alltagstheorien, die ohne besondere Hilfsmittel zu erwerben sind, in Gestalt eines dauerhaften Konsenses niedergeschlagen haben. 3. Der Gedanke real existierender moralischer Wahrheiten ist schwer vereinbar mit der faktischen Vielfalt und Wandelbarkeit moralischer Werte und Normen. Wie kann der Intuitionist glaubhaft machen, dass seine subjektive Evidenz ein hinreichender Grund ist, die objektive Evidenz und damit die Wahrheit des von ihm postulierten moralischen Urteils zu behaupten, wenn er sich das Ausmaß klarmacht, in dem moralische Wertungen historisch und interkulturell variieren? Dieses bereits von den antiken Sophisten gegen die Annahme einer setzungsunabhängigen und „von Natur aus" bestehenden Moral gewendete Argument hat seine Schlagkraft auch heute noch nicht eingebüßt. Was zwischen den Zeiten und den Kulturen variiert, ist weniger der Bestand an Werten und Normen als vielmehr ihr relatives Gewicht und die ihnen jeweils zugeschriebene Rangfolge. Nicht die Listen von Werten und Normen unterscheiden sich, sondern die Plätze, die diese Werte und Normen auf den Listen einnehmen. Das führt dazu, dass für ein und dasselbe Prinzip in unterschiedlichen Kulturen und Perioden ganz unterschiedliche Ausnahmen zugelassen werden. So lässt sich ein moralisches Tötungsverbot - aus naheliegenden Gründen - für alle Kulturen und alle Zeiten nachweisen. Ebenso unterscheiden alle Kulturen zwischen Mord einerseits und legitimer Tötung andererseits (vgl. Rippe 1993, 151). Es finden sich jedoch große Unterschiede in den Bedingungen, die als Berechtigung zu Ausnahmen gelten, etwa Notwehr, rituelle Tötungen, Tötung von Fremden, Tötung im Krieg, zur Verhinderung von Unheil für die Gemeinschaft, als Strafe, als Rache oder die in vielen Kulturen erlaubte Tötung auf Befehl des Häuptlings oder Königs. Auch wenn es überall ein Tötungsverbot gibt und gegeben hat, erlaubt die Verschiedenheit der jeweils geltenden Ausnahmebedingungen nicht, vom Tötungsverbot als
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einem echten Universale zu sprechen, das in allen Kulturen in gleicher Weise besteht (vgl. Taylor 1973, 99 ff.). Die historische und kulturelle Diversität moralischer Normen ist für den ethischen Realismus in allen seinen Varianten eine ernste Herausforderung. Bei deskriptiven Aussagen über die äußere Realität besteht ein hohes Maß intersubjektiver Übereinstimmung, zumindest bezüglich des Wahrheitswerts alltäglicher Erfahrungsaussagen. Diese Übereinstimmung ist bei Wertaussagen nicht gegeben. Außerdem lassen wir uns über Erkenntnisse über die äußere Realität, die wir nicht selbst gemacht haben, gern belehren, sehr ungern aber über Wertungen, die nicht unsere eigenen sind. Die Beschreibungen anderer werden problemlos in das eigene Weltbild integriert, nicht aber die Wertungen anderer. Diversität der Moralen ist ein Problem für den ethischen Realisten aus dem einfachen Grund, dass wenn es überhaupt moralische Wahrheit gibt, es nur eine moralische Wahrheit geben kann und zwei miteinander unvereinbare Normen nicht zugleich wahr sein können. Der Intuitionist muss deshalb, wenn er aus seiner subjektiven Evidenz auf die Wahrheit des entsprechenden moralischen Urteils schließt, behaupten, dass alle, die diesem Urteil nicht zustimmen können, einer „Werttäuschung" (Scheler 1966, 58) erliegen. Und dieses Urteil wird er auch dann aufrechterhalten müssen, wenn diejenigen, die andere Urteile als evident erleben, bei ihren moralischen Urteilen mit derselben Sorgfalt vorgehen, in gleicher Weise alle Aspekte eines Falls bedenken und über dieselbe Intelligenz und Sensibilität verfügen. Der einzige Ausweg, den die Verschiedenheit der moralischen Überzeugungen dem Intuitionisten lässt, ist, nicht jede subjektive Evidenz gelten zu lassen, sondern diese auf ihre jeweilige Verlässlichkeit hin zu bewerten. Er bedarf zusätzlicher Kriterien dafür, wessen Evidenzen als Indizien moralischer Wahrheit gelten können. Welche Kriterien kommen dafür in Frage?
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Einige Intuitionisten liefern sich an dieser Stelle dem Einwand der Zirkularität aus, indem sie sich zur Definition der maßgeblichen Evidenzen auf moralische Kriterien berufen und damit bestimmte moralische Urteile als gültig voraussetzen, deren Gültigkeit erst mithilfe der Definition ermittelt werden müsste. Eine solche Zirkularität liegt immer dann vor, wenn die von bestimmten Autoritäten vertretenen moralischen Prinzipien erkenntnistheoretisch privilegiert werden, diese aber ihrerseits nach moralischen Kriterien ausgewählt werden. So hat David Ross etwa die These vertreten, die Intuitionen derjenigen könnten als Kriterium objektiver moralischer Wahrheit dienen, die hinreichend „wohlerzogen" sind oder eine hinreichende „geistige Reife" erreicht haben (Ross 1930, 12, 29, 41). Ähnlich hat sich bereits Aristoteles vielfach auf die Urteile der „Rechtschaffenen" oder „Tugendhaften" berufen. Aber auch wenn diese Kriterien hinreichend präzisiert würden, um die entsprechenden moralischen Autoritäten zu identifizieren, bliebe das Problem der Zirkularität: Die Überzeugungen dieser Autoritäten können nur dann einen berechtigten Anspruch auf objektive Wahrheit erheben, wenn sie zu Recht als Autoritäten gelten können. Dafür müssen aber die Prinzipien, nach denen sie bestimmt werden, ihrerseits objektiv wahr sein. Andere Kriterien zur Auszeichnung bestimmter subjektiver Evidenzen erscheinen auf den ersten Blick vielversprechender, sind aber auf den zweiten Blick ebenfalls nicht problemlos: 1. Das Kriterium der Wohlinformiertheit: Die Verschiedenheit der Moralauffassungen könnte schlicht auf einem unterschiedlichen Informationsniveau beruhen. Manche Kulturen sind weniger aufgeklärt als andere. Dieses Kriterium dürfte jedoch bereits für die heutige Welt nicht hinreichen. So werden auch in durchaus aufgeklärten Gesellschaften unterschiedliche Ausnahmen vom Tötungsverbot gemacht, etwa bei der Todesstrafe oder bei der Tötung aus Rache.
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2. Das Kriterium der unterschiedlich entwickelten moralischen Urteilskraft. Der Intuitionist könnte versucht sein, die subjektiven Evidenzen abweichender Beurteiler dadurch zu relativieren, dass er ihnen ein weniger weit entwickeltes moralisches Urteilsvermögen zuschreibt: Während sich der Intuitionist einen „fortgeschritteneren" Stand des moralischen Bewusstseins zubilligt, sind Kulturen, Epochen und Individuen mit abweichenden Werteordnungen möglicherweise erst noch „auf dem Weg" zur Wahrheit. Ihr moralisches Urteilsvermögen ist noch nicht „ausgereift". Dieser Rettungsversuch des moralischen Kognitivismus angesichts der Vielfalt der Moralen scheitert an den Schwierigkeiten, Unterschiede in der „Ausgereiftheit" der moralischen Urteilskraft unabhängig von bestimmten moralischen Wertsetzungen (und damit ohne logischen Zirkel) festzustellen. Zweifellos kann der „Ausreifungsgrad" der moralischen Urteilskraft nicht schlicht durch die zeitliche Position der jeweiligen Periode bestimmt werden, da dies ein lineares Fortschrittsmodell der Annäherung an die moralische Wahrheit voraussetzen würde, das seinerseits nur schwer zu begründen ist. Es bedarf zeitunabhängiger Kriterien. Welche kommen dafür in Betracht? Gerade in Kulturen, die sich selbst als moralisch „fortgeschritten" verstehen (wie die westliche Kultur der Gegenwart) finden wir einen beträchtlichen moralischen Pluralismus, der eine Auszeichnung bestimmter Evidenzen als verlässlich nicht ohne weiteres zulässt. Gleichermaßen aufgeklärte, informierte, sensible und differenzierte Beurteiler kommen aufgrund unterschiedlicher Prägungen und Traditionshintergründe zu grundverschiedenen Einschätzungen. „Moralische Experten" lassen sich nicht zirkelfrei identifizieren. Auch unter den „Ethik-Experten", die sich in besonderer Weise auf das Geschäft der Moralphilosophie verstehen, finden sich unüberbrückbare Gegensätze in den moralischen Orientierungen. Offensichtlich liegt es nicht an Unterschieden in der Informiertheit, der Intelligenz oder der moralischen Sensibilität, wenn
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sich Ethiker moralisch nicht verstehen, sondern an individuellen Mentalitäten und Erziehungseinflüssen. Eine von diesen unterschiedlichen Evidenzen - wie es der Intuitionist tun muss - als die wahre auszuzeichnen, erscheint gewagt. 4. Ein weiteres Argument gegen den ethischen Realismus ist die ausgeprägte Abhängigkeit moralischer Evidenzen von kulturellen Traditionen, gesellschaftlich vorherrschenden Denkmustern und anderen erlernten Faktoren. Die Tatsache, dass zwischen den moralischen Auffassungen von Eltern und Kindern eine erhebliche Übereinstimmung besteht, während die moralischen Auffassungen in verschiedenen Familien weit auseinandergehen, lässt sich eher durch Erziehungseinflüsse erklären als durch das Bestehen einer objektiven moralischen Realität, die von den einen, aber nicht von den ändern adäquat erfasst wird. Man denke etwa an hartnäckige moralische Streitfälle wie die Beurteilung der Selbsttötung oder der Abtreibung: Könnte es wirklich so sein, dass eine der möglichen Antworten auf diese Streitfragen objektiv die richtige ist, und dass sich alle, die anderer Meinung sind, schlicht irren? Die Tatsache, dass sich trotz intensiver Bemühungen um diese Probleme zwischen den Individuen, aber auch zwischen den Kulturen bisher keine Einigkeit hat erzielen lassen, spricht eher für eine prinzipielle Offenheit dieser Fragen und dafür, dass die bisherigen Antworten eher auf unterschiedliche und im Zeitverlauf wechselnde Traditionen und Denkweisen zurückzuführen sind als auf eine angemessenere oder unangemessenere Erfassung einer vermeintlich realen moralischen Beschaffenheit dieser Handlungen. Neben diesen metaethischen Argumenten spricht auch ein gewichtiges moralpragmatisches Argument gegen den ethischen Intuitionismus: die Gefahren, die vom ethischen Intuitionismus und seiner Selbstzuschreibung eines objektiv gesicherten Anspruchs auf Allgemeingültigkeit für den Umgang mit abweichenden Überzeugungen drohen. Da sich der Intuitionist im Besitz der Wahrheit wähnt, fühlt er sich eher berech-
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tigt, die abweichenden Auffassungen anderer nicht nur nicht anzuerkennen, sondern diese auch aktiv zu unterdrücken - es sei denn, das Gebot der Toleranz gehöre für ihn seinerseits zu den intuitiv evidenten Prinzipien. Nowell-Smith hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es kein Zufall ist, dass die meisten moralischen Fanatiker zugleich Intuitionisten sind. Für sie liegt die moralische Wahrheit oftmals so offen zutage, dass sie sich Vertreter abweichender moralischer Meinungen nur als Menschen vorstellen können, die sich dem Offenkundigen lediglich aus Eigensinn oder Böswilligkeit verschließen: The objectivist... necessarily attributes his opponent's denial of the truth to wilful perversity; and, holding as he does that in spite of his denials his opponent must really see the truth all the time, he realises that what his opponent needs is not argument but castigation. For arguments cannot convince a man who already sees the light. The objective theory, so far from minimising the use of force to settle moral conflicts, can be, and constantly has been used to justify it. It is no accident that religious persecutions are the monopoly of objective theorists. (Nowell-Smith 1954, 46f.)
Freilich: dass nahezu alle Fanatiker Intuitionisten sind, impliziert nicht, dass alle Intuitionisten Fanatiker sind. Intoleranz ist keine notwendige Konsequenz des ethischen Intuitionismus. Auch der Intuitionist kann die Verpflichtung anerkennen (und sogar als objektiv wahr interpretieren), die Vertreter abweichender Meinungen nicht umzubringen, nicht mundtot zu machen und nicht an der Propagierung ihrer Auffassungen zu hindern. Wenn er ihnen dies Recht zugesteht, dann allerdings nur im Sinne eines „Rechts auf Irrtum". Denn kein Weg führt daran vorbei, dass er die Vertreter abweichender und damit objektiv falscher Auffassungen als Irrende oder Fehlgeleitete betrachten muss. Auf der anderen Seite zwingt allerdings auch ein ethischer Nonkognitivismus und Relativismus nicht zu uneingeschränkter Toleranz. Auch der ethische Nonkognitivist kann
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sich für berechtigt halten, seine Prinzipien - auch dann, wenn sie keine „objektive" Fundierung haben - mit Festigkeit und Konsequenz zu vertreten und sich den Propagandisten abweichender moralischer Auffassungen zumindest dann entgegenzustellen, wenn diese darangehen, die (aus seiner Sicht anzuerkennenden) Rechte anderer zu verletzen.
9.5 Der ethische Relativismus Der ethische Relativismus ist - ähnlich wie der ethische Egoismus - eine theoretische Auffassung und keine praktische Lebenseinstellung (vgl. Wolf/Schaber 1998,27). Der ethische Relativist ist der Überzeugung, dass die Begriffe der Wahrheit und Falschheit auf moralische Urteile nicht anwendbar sind und deshalb bereits die Frage nach den wahren moralischen Urteilen ebenso verfehlt ist wie die Frage, welche von zwei miteinander unvereinbaren moralischen Urteilen als „wahrer" gelten kann oder der Wahrheit „näherkommt". Solange keine Wahrheit für moralische Urteile definiert ist, ist auch keine „Nähe zur Wahrheit" definiert. Diese theoretische Position zwingt den ethischen Relativisten aber nicht dazu, bestimmte praktische Auffassungen zu vertreten, die gemeinhin mit dem Relativismus verknüpft werden: die Neigung zu ausgeprägter Toleranz etwa oder die Neigung, die Moral im Sinne des existenzialistischen Dezisionismus als Resultat einer existenziellen „Entscheidung" zu sehen. Auch wenn der ethische Relativist die Selbstzuschreibung eines wie immer gearteten „höheren Wissens" als Anmaßung ablehnt, neigt er deshalb nicht zwangsläufig zu einer toleranteren Einstellung gegenüber abweichenden Moralsystemen als der Intuitionist. Wie tolerant und wie intolerant er ist, hängt weniger von seinen metaethischen als von seinen normativen Positionen ab. Diese bestimmen darüber, zu welchem Umgang mit den Vertretern abweichender Moralvorstellungen er sich
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verpflichtet oder berechtigt sieht. Nichts schließt aus, dass auch ein theoretischer Relativist seine Prinzipien mit Entschlossenheit gegen Kritik und Infragestellung verteidigt und anderen ansinnt, die von ihm vertretenen Prinzipien zu übernehmen. Ebensowenig ist der theoretische Relativist zur Übernahme einer dezisionistischen Moralauffassung gezwungen. Der Gegenbegriff gegen den ethischen Kognitivismus ist nicht der Dezisionismus, sondern der Doxismus, die Auffassung, dass es sich bei moralischen Überzeugungen um Formen eines Glaubens oder Fürwahrhaltens handelt, die - anders als in der Theorie der Erkenntnis deskriptiver Aussagen - nicht die Vorstufen zu einem Wissen sind, sondern bereits die Endstufe: ein Glauben ohne die Möglichkeit des Wissens.
9.6 Zwischen Realismus und Relativismus: die Minimalethik Bisher sind wir von einer strikten Dichotomic zwischen metaethischem Realismus und metaethischem Relativismus ausgegangen. Diese Dichotomic ist allerdings zu grob, um alle Positionen angemessen zu kategorisieren. Eine wichtige Theorie, die zwischen den Gegensätzen, bzw. mit einem Bein in der einen, mit dem anderen in der anderen steht, ist die Minimalethik. Sie behauptet einen moralischen Realismus und die Möglichkeit moralischen Wissens lediglich für einen Kernbestand moralischer Normen, während sie für alle Normen, die nicht zum Kernbestand gehören, auf einen Anspruch auf Wahrheit und Wissen verzichtet. Wir haben die Minimalethik bereits im 2. Kapitel kennengelernt als einen Versuch, eine begrenzte Zahl von moralischen Normen aus der Vielzahl verschiedener Moralsysteme herauszudestillieren und damit universal konsensfähige Bezugspunkte für die moralische Debatte zu gewinnen. Anders als andere
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„phänomenologische" Ansätze verbindet die Minimalethik das Programm einer deskriptiven Bestandserfassung allerdings mit dem ehrgeizigeren Programm einer schlechthin unangreifbaren Begründung intersubjektiv gültiger Normen, nämlich mit Bezug auf das aufgeklärte Eigeninteresse jedes beliebigen Akteurs. Sie behauptet für den von ihr herausgestellten Minimalbestand moralischer Normen eine schlechthin objektive Geltung, indem sie zu zeigen unternimmt, dass jeder Akteur bereits aufgrund seiner Interessenlage starke Gründe hat, diese Normen zu akzeptieren. Im Anschluss an Thomas Hobbes, dem historisch wirkungsmächtigsten Minimalethiker, hat insbesondere Bernard Gert in wiederholten Anläufen versucht, eine Theorie zu entwickeln, nach der ein Kernbestand „moralischer Regeln" als für jeden verbindlich ausweisbar sein soll. Den „moralischen Regeln", von denen Gert meint, dass sie jeder akzeptieren muss, steht dabei ein „kontroverser Moralbereich" gegenüber, für den eine solche zwingende Begründung nicht zu leisten ist und in dem über die Akzeptierung von moralischen Normen gestritten werden kann und muss. Gerts Begründungsidee ist es zu zeigen, dass es für jeden einzelnen rational ist, bestimmten moralischen Normen zuzustimmen. Rationalität ist dabei über den Gegenbegriff der Irrationalität definiert: Alle Überzeugungen sind rational, die für jemanden mit genügender Intelligenz und genügendem Wissen (das hinreicht, um überhaupt moralischen Normen unterworfen zu werden), nicht irrational sind. „Irrational" sind Überzeugungen, die anderen wahren Überzeugungen offensichtlich widersprechen. Der erste Schritt in Gerts Argumentationen besteht darin, dass er diesen bewusst weiten Rationalitätsbegriff für Überzeugungen auf Bedürfnisse und Handlungen überträgt. Das Ergebnis dieser Übertragung ist, dass Bedürfnisse und Handlungen immer dann „rational" sind, wenn sie nicht derart sind, dass sich der Akteur mit ihnen grundlos selbst schädigt. So ist es z. B. eindeutig irrational, sich selbst zu töten oder töten zu
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9. Gibt es moralisches Wissen?
lassen, Leid zugefügt zu bekommen, verletzt zu werden, der Freiheit beraubt zu werden oder hinsichtlich der eigenen Lebenschancen oder der Lebensqualität schlechter gestellt zu werden. Selbstverständlich kann es Gründe geben, aus denen man sich solche Schädigungen selbst zumutet oder zumuten lässt, z. B. um sich für andere aus altruistischen Gründen aufzuopfern. Aber solange solche besonderen Gründe nicht vorliegen, ist es irrational, sich diese Schädigungen zuzufügen oder ihre Zufügung zu wünschen. Mit der Irrationalität selbstschädigender Wünsche und Handlungen ist ein Fundament gelegt, auf dem sich das ethische Minimum aufbauen lässt. Dieses rein negative Fundament ist zweifellos tragfähiger als ein positives Fundament, da wir uns über die zu vermeidenden Übel gewöhnlich eher einig sind als über positive Werte. „Übel" werden von Gert so definiert, dass sie mit den Gegenständen irrationaler Bedürfnisse zusammenfallen: Übel sind Tod, Schmerzen, Invalidität, Verlust von Freiheit, Beschränkung von Chancen und Entzug von Lust. Von diesen Übeln kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass sie jeder für sich selbst vermeiden möchte. Deshalb hat auch jeder ein unmittelbares Interesse daran, dass andere moralische Regeln befolgen, nach denen die Zufügung dieser Übel verboten ist. Diese Regeln sind die bereits oben genannten zehn: Du sollst nicht töten. Du sollst niemandem Schmerzen zufügen. Du sollst niemanden zum Invaliden machen. Du sollst niemanden seiner Freiheit oder seiner Chancen berauben. Du sollst niemanden seines Vergnügens berauben. Du sollst niemanden täuschen. Du sollst deine Versprechen halten. Du sollst nicht betrügen. Du sollst dem Gesetz gehorchen. Du sollst deine (Rollen-)Pflichten erfüllen.
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Diese zehn „moralischen Regeln" haben mit den Geboten des alttestamentarischen Dekalogs nicht nur die Zahl gemeinsam, sondern vor allem auch die unbeschränkte Allgemeinheit: Beide gelten „ohne Ansehen der Person" für jeden, der fähig ist, sie zu befolgen. Der entscheidende Unterschied zu den Geboten des Dekalogs ist, dass Gerts Regeln nicht ausnahmslos gelten, sondern Ausnahmen zulassen. Sie gelten nur prima fade. Eingeschränkt wird ihre Geltung insbesondere durch eine zweite Kategorie von moralischen Normen, die moralischen Ideale, die sich in zwei Hinsichten von den moralischen Regeln unterscheiden: Sie sind weniger verpflichtend, d. h. sie ge- und verbieten nicht, sondern empfehlen nur. Und sie zielen anders als die „moralischen Regeln" nicht darauf, Übel nicht zu verursachen, sondern Übel zu verhindern oder zu mildern. Damit ist die Verbindlichkeit der moralischen Regeln erheblich eingeschränkt. Die Zufügung von Übeln ist nicht mehr in jedem Fall verboten, sondern Übel dürfen zugefügt werden, wenn dies notwendig scheint, um die Interessen Dritter zu schützen. Dafür, in welchen Fällen solche Verletzungen legitim sind, gibt Gert allerdings keine genauen Kriterien an. Sie sollen der Einzelfallabwägung vorbehalten bleiben (vgl. Gert 1983, 182). Nur in einem Punkt ist er sich ganz sicher: Moralische Regeln dürfen niemals um einer dritten Art von Normen willen verletzt werden, die Gert Militaristische Ideale nennt und die dazu auffordern, das Gute zu befördern. Verletzungen der moralischen Regeln sollen nur soweit erlaubt sein, als sie notwendig sind, Schaden an elementaren Interessen zu verhindern oder abzumildern, nicht aber, um Güter jenseits der Schädigungsschwelle zu verwirklichen.47 47 Gert lässt es offen, ob die „moralischen Ideale" ihrerseits mit Bezug auf militaristische Ideale verletzt werden dürfen. Immerhin gesteht er dem Staat das Recht zu, zugunsten militaristischer Ideale sogar moralische Regeln zu verletzen. Dieses Recht soll aber nicht für Individuen gelten.
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9. Gibt es moralisches Wissen?
Wie kann Gert zeigen, dass die Anerkennung seiner moralischen Regeln im Interesse jedes einzelnen Akteurs liegt? Der entscheidende Begründungsschritt besteht darin, dass Gert behauptet, jeder müsse ein Interesse daran haben, dass alle anderen diese Regeln in Bezug auf ihn selbst (sowie in Bezug auf die ihm Nahestehenden) einhalten und dass jeder deshalb ein Interesse daran haben muss, diese Regeln öffentlich zu vertreten, und zwar nicht nur in Bezug auf ihn selbst und die ihm Nahestehenden, sondern in Bezug auf alle möglichen Betroffenen: „Der rationale Mensch wird befürworten, dass die moralischen Regeln von allen im Hinblick auf alle - ohne egozentrische Ausnahmen - befolgt werden sollen (es sei denn, er könnte ihre Verletzung öffentlich befürworten)" (Gert 1983, 138). Obwohl der einzelne Akteur ein unmittelbares Interesse lediglich an dem Schutz seiner eigenen Person und der ihm Nahestehenden hat, soll er doch im Interesse dieses Schutzes öffentlich dafür eintreten müssen, dass alle die moralischen Regeln in Bezug auf allen anderen befolgen. In der Tat erscheint diese Ausweitung unvermeidlich, um den erwünschten Schutz effektiv zu sichern: Wer würde eine Regel befolgen wollen, die speziell den jeweiligen Akteur und die ihm Nahestehenden schützt, ohne alle anderen gleichermaßen zu schützen? Welchen Grund hat der Akteur selbst, die moralischen Regeln zu befolgen? Da sich der Akteur lediglich an seinen Interessen orientiert, hat er nur dann einen direkten Grund, eine moralische Regel zu befolgen, wenn diese Befolgung auch seinen Interessen dient. Die Befolgung der moralischen Regeln wird aber des öfteren nicht in seinem Interesse liegen. Statt direkter Gründe hat jeder Akteur aber wichtige indirekte Gründe - vor allem den, die Glaubwürdigkeit seiner öffentlichen Vertretung der moralischen Regeln nicht zu untergraben. Da er ein Interesse daran hat, dass andere diese moralischen Regeln (zumindest ihm und den ihm Nahestehenden gegenüber) aufrichtig befolgen, wird er darauf achten müssen, für sich
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selbst nur dann Ausnahmen zuzulassen, wenn er diese öffentlich vertreten kann und jedem anderen einzuräumen bereit ist. Zwischen den ersten fünf und den letzten fünf Regeln besteht eine signifikante Differenz: Eine Verletzung der Regeln 6 bis 10 braucht im Gegensatz zu einer Verletzung der ersten fünf Regeln nicht in jedem Fall zu einer Schädigung zu führen. Eine Täuschung kann wohltun, das Nichthalten eines Versprechens unschädlich sein und die Nichteinhaltung eines Gesetzes oder einer Rollennorm gesellschaftlich nützlich. Warum sind dennoch auch diese Regeln durch das Eigeninteresse legitimiert? Gerts Antwort hierauf lautet, dass die Praxis des Nicht-Täuschens, des Versprechenhaltens, des Nicht-Betrügens usw. als solche geschützt werden muss, und zwar letztlich wieder im eigenen Interesse. Jeder einzelne hat einen Grund, den Übeln zu entgehen, die mit der Übertretung dieser Regeln verbunden sind (und wünscht dasselbe den ihm Nahestehenden). Deshalb wird er ihre Einhaltung öffentlich vertreten, mit Ausnahme der Fälle, in denen er ihre Verletzung öffentlich vertreten zu müssen glaubt (wie etwa im Falle des gegen Regel 9 verstoßenden zivilen Ungehorsams). Die Praxis des Nicht-Täuschens usw. lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn demjenigen, der im Eigeninteresse täuschen möchte, kein Recht eingeräumt wird, die Regel nur aus der Überlegung heraus zu verletzen, dass sie voraussichtlich niemandem schadet. Gerts Minimalethik liefert nur ein unvollständiges Kriterium für die Beurteilung einer Handlung als moralisch richtig oder falsch. Eine Handlung ist nach dieser Minimalethik immer und nur dann moralisch richtig, wenn alle rationalen Menschen sie öffentlich befürworten würden. Sie ist immer und nur dann moralisch falsch, wenn kein rationaler Mensch sie öffentlich befürworten würde. In allen „gemischten" Fällen ist keine Entscheidung möglich - sie fallen in den „kontroversen Moralbereich". Da alle moralischen Regeln grundsätzlich Ausnahmen zulassen, entscheidet sich der Umfang der auf die-
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se Weise ableitbaren moralischen Richtigkeitsurteile danach, welche Verletzungen von allen öffentlich befürwortet würden. Ist eine solche Ausnahme einmal definiert, ist es dann sogar moralisch falsch, die Regel zu befolgen. Von ähnlichen Ausgangspunkten aus und mit ähnlichen Argumenten hat Norbert Hoerster (1983) versucht, eine Reihe basaler moralischer Normen zu begründen: das Tötungsverbot, das Verbot der Lüge, die Garantie des wirtschaftlichen Existenzminimums, den Schutz der körperlichen Unversehrtheit, ein gewisses Maß an Bewegungs- und Handlungsfreiheit, den Schutz des Privateigentums an Konsumgütern und die Pflicht zur Einhaltung von Versprechen und Verträgen. Nach Hoerster hat jedermann ein größeres Interesse daran, dass diese Normen ihm gegenüber eingehalten werden, als daran, diese Normen zu übertreten (wobei allerdings Ausnahmen zugestanden werden, z. B. Fanatiker, die im Dienste eines Ideals lieber töten als überleben). Jeder einzelne hat ein Interesse daran, dass die entsprechenden moralischen Gebote kategorisch gelten, auch wenn sie für jedes Individuum lediglich in einem hypothetischen Imperativ fundiert sind, nämlich dem Wunsch, von entsprechenden Handlungen anderer verschont zu bleiben. Wie Gert bezieht dabei auch Hoerster neben den egozentrischen Interessen des Akteurs dessen Interesse an dem Schutz der ihm persönlich Nahestehenden ein: Auch der male chauvinist kann rationalerweise kein Interesse daran haben, dass entsprechende Normen gesellschaftlich anerkannt werden, da er ein Interesse daran haben muss, dass seine Töchter und Enkelinnen vor Übergriffen geschützt werden. Auch ein Hasser von Minderheiten kann rationalerweise kein Interesse daran haben, minderheitenfeindliche Normen öffentlich zu vertreten, da er möglicherweise Söhne oder spätere Freunde hat, die von diesen Normen betroffen wären. Über Gert hinausgehend betont Hoerster allerdings nicht nur, dass jeder ein Interesse daran hat, diese Normen in einer allgemeinen Form zu vertreten, sondern dass jeder auch ein Interesse daran hat,
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diese Normen durchzusetzen, d. h. Druck auf die Normbefolgung aller anderen auszuüben. Auch wenn minimalethische Normenbegründungen in ihrer Reichweite eng begrenzt sind und die von ihnen begründete Normen zu elementar sind, um irgendeine faktische moralische Kontroverse zu entscheiden, wird man ihnen ein hohes Maß an Überzeugungskraft nicht streitig machen können. Falls eine „Letztbegründung" moralischer Normen überhaupt möglich ist, ist die Minimalethik zumindest auf dem besten Wege, eine solche zu liefern.
10. Moralbegründung ohne Erkenntnis anspruch Die Minimalethik lässt dem ethischen Relativismus einen großen Spielraum. Kann dieser Spielraum weiter eingeengt werden? Lassen sich unter relativistischen Voraussetzungen moralische Urteile überhaupt noch begründen? Zweifellos, denn Begründungen sind auch in anderen Bereichen zumeist keine absoluten, zwingenden oder „Letzt"begründungen. Begründungen hängen in der Regel von Voraussetzungen ab, die innerhalb des jeweiligen Begründungszusammenhangs nicht begründet werden und auch außerhalb dieses Zusammenhangs nicht „letztbegründet" werden können. Gründe haben - wie Wittgenstein in Über Gewißheit (§253) sagt - ein Ende: Am Grunde des begründeten Glaubens liegt „der unbegründete Glaube". Die Leugnung der Möglichkeit einer „Letztbegründung" ist weniger dramatisch, als es zunächst scheint. Als dramatisch wird sie nur der empfinden, der in der Ethik eine Sicherheit verlangt, die er auch in anderen philosophischen Disziplinen vernünftigerweise nicht erwarten kann. Nüchtern betrachtet, stellt sich die Situation in der Ethik jedenfalls nicht viel anders dar als in anderen normativen Wissenschaften, etwa der Rechtswissenschaft oder der Ästhetik. Begründungen sind in der Ethik stets Begründungen, bei denen weder die Begründungsprinzipien - die Grundsätze, nach denen begründet wird - noch die Voraussetzungen - die Prämissen, am denen begründet wird - über jeden Zweifel erhaben sind. Begründungen in der Ethik sind nahezu immer „schwache" Begründungen. „Schwache" Begründungen unterscheiden sich von starken dadurch, dass sie keine zwingenden, sondern lediglich Plausibilitätsgründe liefern. Zwingende Gründe lassen einem rational Denkenden keine Wahl. Sie haben die Struktur: Wer a sagt,
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muss - solange er weiterhin als rational gelten will - auch b sagen. Plausibilitätsgründe dagegen lassen eine Wahl. Sie zwingen nicht, sondern machen nur dazu geneigt, dem Begründeten zuzustimmen. Ist eine „schwache Begründung", wie Kutschera (1999, 50) meint, eine contradictio in adjecto* Heißt „begründen" stets soviel wie „als wahr ausweisen", so dass wer die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile leugnet, auch ihre - wie immer „schwache" - Begründbarkeit leugnen muss? Zweifellos sind wir auf diesen kognitivistischen Begriff von „begründen" nicht festgelegt. Man kann von Begründungen auch ohne Erkenntnisanspruch sprechen - etwa auch dann, wenn bestimmte moralische Urteile aus anderen Urteilen hergeleitet werden, die bereits anerkannt sind oder als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden können. Auch müssen die Prinzipien, nach denen begründet wird, nicht über jeden Zweifel erhaben, sondern lediglich innerhalb des jeweiligen Kontexts anerkannt sein. Welche Plausibilitätsgründe können in einer „schwachen Begründung" moralischer Normen zur Geltung kommen? Im folgenden werden einige Begründungskriterien in Gestalt eines Fragenkatalogs dargestellt, der so geordnet ist, dass die Voraussetzungshaltigkeit der Begründungskriterien von Stufe zu Stufe zunimmt, die am weitestgehenden anerkannten also am Anfang, die am wenigsten anerkannten am Ende stehen: 1. Wird die vorgeschlagene Norm dem Universalisierungsprinzip gerecht? 2. Ist ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit glaubwürdig? 2.1 Ist der Standpunkt, von dem aus sie urteilt, hinreichend unparteiisch"? 2.2 Berücksichtigt sie die Interessen aller von ihr Betroffenen"? 3. Ist sie hinreichend kohärent - sowohl in sich als auch im Hinblick auf andere, bereits als verbindlich anerkannte Normen?
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
Die in diesen Fragen enthaltenen Begründungskriterien sind zunächst nichts anderes als Ausschlussbedingungen: Sie schließen bestimmte Kandidaten für akzeptable moralische Normen aus, ohne den Urteilenden positiv auf eine bestimmte Norm festzulegen. Sie engen den Spielraum des Vertretbaren ein, ohne bereits ein bestimmtes Urteil als „richtig" oder „angemessen" auszuzeichnen. Auch als Ausschlussbedingungen verstanden sind diese Kriterien ersichtlich nicht zwingend. Sowohl der Amoralist als auch der Vertreter einer Stammesmoral oder einer fundamentalistisch-religiösen Gruppenmoral wird sich durch diese Kriterien nicht sonderlich beeindrucken lassen. Gegen denjenigen, der das „Sprachspiel" der Moral insgesamt nicht akzeptiert, können diese Kriterien nichts ausrichten. Und auch der ethische Partikularist wird bereits das erste und basale Kriterium der Universalität nicht akzeptieren wollen. Zwingend kann man mit bestimmten Merkmalen des Moralbegriffs wie dem Universalisierungsprinzip erfolgreich nur gegen jemanden argumentieren, der den entsprechenden Moralbegriff bereits teilt. Der ethische Partikularist wird sich deshalb dem Ansinnen, sich den Konsequenzen eines für ihn von vornherein nicht akzeptablen Moralbegriffs zu unterwerfen, erfolgreich widersetzen können. Damit werden metaethisch begründete Kriterien jedoch weder in der Theorie noch in der Praxis bedeutungslos. Immerhin existiert in der Theorie nicht erst seit der Aufklärung, sondern bereits seit Sokrates, d. h. in der gesamten Tradition der Ethik des Abendlands, über den Moralbegriff ein Nahezu-Konsens. Dieser betrifft insbesondere die zwei mit moralischen Urteilen verknüpften Formen von Allgemeinheit: das Universalisierungsprinzip und den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Auch in der Praxis ist die Berufung auf Allgemeingültigkeit alles anders als unwichtig, Versuche, das Verhalten anderer mithilfe moralischer Urteile zu steuern, beziehen gerade aus ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit beträchtliche motivationale
10.1 Universalisierungsprinzip
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Kraft. Zumindest dann, wenn er über keine anderweitigen Sanktionsmöglichkeiten (wie den Ausschluss aus der Gruppe oder den Abbruch der Beziehungen) verfügt, wird sich der Urteilende auf die allgemeine Gültigkeit und Einsichtigkeit seiner Urteile berufen müssen, wenn er den Adressaten seiner moralischen Urteile zu entsprechenden Umorientierungen im Denken, Handeln und Fühlen bewegen will.
10.1 Universalisierungsprinzip Auch wenn die argumentative Kraft dieses Prinzips von einem bestimmten Vorverständnis von Moral abhängt, so geht sie doch möglicherweise sehr viel weiter, als es auf den ersten Blick scheint. Dieses Prinzip schließt alle moralischen Urteile aus, die der Urteilende nicht bereit ist, nicht nur auf Fremde, sondern auch auf sich selbst und Personen, die ihm nahestehen, anzuwenden, sofern diese dieselben urteilsrelevanten allgemeinen Merkmale aufweisen. Immerhin fordert dieses Prinzip, von anderen nichts zu verlangen, was man nicht auch von sich selbst verlangt und anderen keine Rechte vorzuenthalten, die man für sich selbst oder seine Nahestehenden fordert oder in Anspruch nimmt. Der logische Universalisierer sitzt gewissermaßen im logischen Glashaus und muss sich überlegen, ob die Steine, die er auf andere wirft, ihn selber treffen können. Nach dem Universalisierungsprinzip sind rein numerische Unterschiede für moralische Beurteilungen irrelevant, und zwar nicht deswegen, weil sie mit der Logik von Beurteilungsprädikaten wie „richtig" oder „gut" unvereinbar wären, sondern weil sie mit den für die Moral spezifischen Verwendungsweisen dieser Prädikate unvereinbar sind. Von ihrer eigenen Logik her können „richtig" und „gut" durchaus auch so verwendet werden, dass numerische Unterschiede ins Gewicht fallen, z. B. wenn mit ihnen persönliche Vorlieben zum Ausdruck gebracht werden sollen. Es ist alles andere als logisch
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
fehlerhaft, die Tatsache, dass man selbst das große Los zieht, für „besser" zu halten als die Tatsache, dass es ein anderer zieht. (Man bezahlt für eine Lotterie gewöhnlich nicht, damit irgendwer gewinnt.) Auch persönliche Wertschätzungen (z.B. Liebe oder Freundschaft) beziehen sich charakteristischerweise nicht auf bestimmte Eigenschaften eines Menschen, sondern auf das Individuum als solches. Deshalb spielen hier numerische Unterschiede durchaus eine Rolle. Irrelevant sind numerische Unterschiede lediglich in Kontexten, in denen diese Ausdrücke in einem spezifisch moralischen Sinn verwendet werden. Auch wenn das Universalisierungsprinzip die Einnahme bestimmter normativer Standpunkte nicht streng unmöglich macht, macht es sie doch zumindest in der Praxis vielfach unglaubwürdig. So muss z.B. der Rassist behaupten, dass er unter der Annahme, dass er selbst der diskriminierten Rasse angehört, dieselbe Behandlung für sich für angemessen hält, die er für Angehörige der betreffenden Rasse für angemessen hält. Er muss sich also zu dem verstehen, was Hare (1973,125) „Fanatismus" genannt hat: die Akzeptierung der Konsequenzen der eigenen Position für den Fall, dass er selbst zu den Benachteiligten gehört. Allerdings muss er diese Konsequenzen nicht in jedem Fall ernst nehmen. Als rationaler Egoist z. B. wird er diese Konsequenzen nur insoweit ernstnehmen, als er realistischerweise erwarten muss, von ihnen betroffen zu sein. Rein hypothetische Konsequenzen werden ihn nicht beeindrucken. Der rationale Egoist, der gleichzeitig ein male chauvinist ist, hat wenig Grund, sich von der Vorstellung ängstigen zu lassen, dass falls er eine Frau wäre, er ebenso behandelt würde, wie Frauen von ihm behandelt werden. Er wird sich vielmehr sagen, dass es für ihn einfach nicht realistisch ist, in die Lage einer Frau zu geraten. Ähnliches gilt für Angehörige anderer Rassen, Religionen und späterer Generationen. Der Rassist, der religiöse Fanatiker, der „Zukunftsvergessene" - sie alle werden dem Universalisierungsprinzip Genüge tun können, ohne ihre
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
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Grundsätze aufgeben zu müssen. Solange man eine Maxime allein am Maß des Universalisierungsprinzips misst, wird man es sich als rationaler Egoist leisten können, nur jeweils diejenigen Faktoren in die Formulierung der eigenen Moralprinzipien einfließen zu lassen, die einen selbst betreffen. Die Goldene Regel verfängt nicht, weder in der negativen noch in der positiven Form. Weder die Regel „Was Du nicht willst, das man Dir tu, tue auch anderen nicht" noch die Regel „Was Du willst, das man Dir tu, tue auch anderen" wird denjenigen zu einer Überzeugungs- oder Verhaltensänderung bewegen, der sich ausrechnet, überwiegend in der Position des Täters statt der des Opfers zu sein. Dass es erforderlich ist, zumindest auch diejenigen Faktoren in die Formulierung der eigenen Grundsätze einzubeziehen, die darüber entscheiden, wie andere von den eigenen Moralprinzipien faktisch betroffen sind, lässt sich erst unter Hinzuziehung des Kriteriums des Allgemeingültigkeitsanspruchs plausibel machen.
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch Der Allgemeingültigkeitsanspruch fordert von moralischen Normen, dass sie im Prinzip jedem Verständigen gegenüber rechtfertigbar sind. Glaubwürdig ist dieser Anspruch nur, wenn die moralische Norm an Fähigkeiten appelliert, die von jedem beliebigen anderen, der durch die Norm gebunden werden soll, erwartet werden können. Insbesondere müssen moralische Normen demjenigen gegenüber rechtfertigbar sein, der von ihnen in negativer Weise betroffen ist, z. B. indem ihm Verzichte und Opfer zugemutet oder moralische und andere Sanktionen über ihn verhängt werden. Das kann nur gelingen, wenn die Begründungen dieser Normen an Instanzen appellieren, über die auch der negativ Betroffene verfügt, etwa Vernunft und Mitgefühl.
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
Was ist damit von moralischen Normen (bzw. ihren Begründungen) gefordert? Mindestens vier Bedingungen sollten erfüllt sein: 1. Sie dürfen sich nicht auf Autoritäten berufen. 2. Sie dürfen sich nicht von bestreitbaren metaphysischen Annahmen abhängig machen. 3. Sie müssen von einem Standpunkt der Unparteilichkeit aus getroffen werden. 4. Sie müssen die Interessen aller von ihr Betroffenen berücksichtigen. Erstens wird, wer eine moralische Norm mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit äußert, sich nicht auf Annahmen stützen können, die er nur durch die Berufung auf Autoritäten begründen kann, etwa durch die Berufung auf Tradition und Herkommen, auf kulturelle Selbstverständlichkeiten oder auf etablierte, aber nicht von allen akzeptierte religiöse Glaubenssätze. Er kann nicht erwarten, dass ein beliebiger Adressat die von ihm herangezogene Autorität akzeptiert. So verstanden ist der Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Urteile ein recht starkes Ausschlussprinzip: Es schließt insbesondere alle rein religiösen Moralbegründungen aus und damit eine der historisch ältesten und verbreitetsten Begründungsmuster. Wenn moralische Normen, die für Theisten gelten, auch für Atheisten gelten und für alle gleichermaßen einsehbar sein müssen, dann kann zur Begründung moralischer Normen nicht die christliche oder irgendeine andere religiöse Tradition herangezogen werden. Wie will man auf diese Weise Menschen überzeugen, die - wie Max Weber - von sich sagen, dass sie auf religiösem Gebiet schlicht „unmusikalisch" sind, ohne dass sie deshalb insgesamt kognitiv beeinträchtigt wären? Zweitens wird der Allgemeingültigkeitsanspruch unglaubhaft durch metaphysische Begründungen für moralische Normen, von denen nicht angenommen werden kann, dass sie für
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
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jeden Verständigen nachvollziehbar sind. Man wird seine moralischen Normen nicht auf Wertannahmen gründen wollen, die nur auf dem Hintergrund bestimmter metaphysischer Vorannahmen akzeptabel oder auch nur verständlich sind. Niemand wird etwa einem Adressaten gegenüber eine bestimmte Reinheitsnorm damit begründen wollen, dass dieser andernfalls sein „Seelenheil" gefährdet - in einem Sinn, der die Annahme einer Fortexistenz der Seele über den leiblichen Tod hinaus voraussetzt. Selbstverständlich impliziert diese letzte Bedingung Begrenzungen der Normenbegründung nur insoweit, als sich bestimmte Wertannahmen ausschließlich durch Rekurs auf metaphysische Hypothesen begründen lassen. Viele Wertannahmen, die de facto metaphysisch begründet werden, lassen sich jedoch auch ohne den Rekurs auf Metaphysik begründen. So kann man sich etwa für die von Hans Jonas (1979) im Rahmen seiner erklärtermaßen metaphysischen Theorie der Zukunftsverantwortung postulierten Werte - wie den der Erhaltung einer kulturell hochstehenden menschlichen Zivilisation durchaus auch weniger metaphysikhaltige Begründungen vorstellen.
10.2.1 Unparteilichkeit Die sich aus dem Merkmal des Allgemeingültigkeitsanspruchs ergebenden Anforderungen an moralische Urteile reichen aber noch weiter. Sie umfassen alles, was Hume als das besondere Kennzeichen des moral point of view bezeichnet hat: dass er etwas anspricht, was in jedem verständigen Menschen vorausgesetzt werden kann. Eine Bedingung dafür ist Vorurteilslosigkeit, Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit. Der „moralische Standpunkt" ist ein unparteiischer Standpunkt, der weder die räumliche und zeitliche noch die genealogische und soziale Distanz als Unterscheidungsmerkmal für eine morali-
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
sehe Differenzierung gelten lässt. Wenn wir moralisch urteilen, urteilen wie als unparteiische Normgeber, gleichsam aus der Gottesperspektive und ohne Rücksicht auf zeitliche, geographische und emotionale Nähe und Ferne. Es wäre ein klarer Fall von Voreingenommenheit, die physisch Näheren gegenüber den physisch Ferneren, die späteren gegenüber den gegenwärtigen, die eigenen gegenüber den fremden Kindern nicht nur in den Affekten, die man ihnen gegenüber empfindet, sondern auch in den moralischen Normen, die man ihnen gegenüber anerkennt, zu privilegieren. Wie weit die Anforderungen der Unparteilichkeit über die des Universalisierungsprinzips hinausgehen, kann man an der Diskussion um die „Diskontierung", der Abwertung zukünftigen Nutzens und Schadens, wie sie in den Wirtschaftswissenschaften verbreitet ist, zeigen. Eine Minderschätzung zukünftigen Nutzens (im Vergleich zu gegenwärtigem Nutzen) um seiner zeitlichen Position willen (die sogenannte „reine Zeitpräferenz") ist mit dem Universalisierungsprinzip nicht schlechthin unvereinbar. Zwar hat Hare - der entschiedenste Verfechter des Universalisierungsprinzip in der neueren Ethik - diese Unvereinbarkeit vertreten (vgl. Hare 1992, 159 f.), aber es gibt gute Gründe, seiner These nicht zuzustimmen. Eine Unvereinbarkeit bestünde nur, wenn sich die zeitliche Position eines Sachverhalts lediglich durch ein Datum beschreiben ließe. Ein Datum wäre so etwas wie ein Eigenname der zeitlichen Position und damit dem Universalisierungsprinzip nach unzulässig. Aber statt eines Datums könnten zur Kennzeichnung der betreffenden späteren Zeitpunkte auch relationale Begriffe wie „zur Generation der (jeweiligen) Enkel gehörig" verwendet werden. Wer Nutzen und Schaden in einer ferneren Zukunft aus Gründen reiner Zeitpräferenz abwerten möchte, könnte seine Abwertung auch ohne die Verwendung von Datumsangaben ausdrücken, etwa indem er das Prinzip vertritt, den Nutzen der jeweils eigenen Enkel und aller Späterlebenden gegenüber dem Nutzen der je-
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsansprach
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weils eigenen und der Generation der jeweils eigenen Kinder zu diskontieren. Eine derartige Maxime würde dem Universalisierungsprinzip genügen. Ihre verallgemeinerte Form könnte etwa lauten: Jeder sollte den Nutzen der Generation seiner Enkel und aller nachfolgenden Generationen, aber nicht den Nutzen der Generation seiner Kinder diskontieren dürfen. Danach darf der Autor dieser Maxime den Nutzen seiner Enkel diskontieren, nicht aber den seiner Kinder. Seine Kinder sind verpflichtet, ihre Kinder so zu behandeln, wie er selbst sich verpflichtet, seine eigenen Kinder zu behandeln. Dieses Prinzip ist „neutral" zwischen den Generationen, ohne streng unparteiisch zu sein. Jede Generation behandelt die Generation ihrer Kinder, wie sie der Generation ihrer Eltern zugesteht, sie selbst zu behandeln. Dennoch behandelt sie nicht alle Generationen gleich, denn jede darf den Nutzen der späteren Generationen diskontieren und sich und die unmittelbar nachfolgende Generation auf Kosten der Späteren privilegieren. Trotz der Vereinbarkeit mit dem Universalisierungsprinzip erscheint eines derartige „neutrale" Selbstprivilegierung in einem moralischen Kontext problematisch: Die Bedingung der Unparteilichkeit ist verletzt. Der Standpunkt der Moral bezeichnet eine Position, auf die sich alle verschiedenen persönlichen Perspektiven einigen können, "wie soll sich aber von diesem Standpunkt aus eine Privilegierung der Gegenwart oder der unmittelbaren Zukunft rechtfertigen lassen? Es wäre ein klarer Fall von Parteilichkeit, die Gegenwart gegenüber der Zukunft zu bevorzugen und damit gegebenenfalls die von gegenwärtigem Handeln und Unterlassen am stärksten Betroffenen zu vernachlässigen. Das klassische Modell der Unparteilichkeit des moralischen Standpunkts ist das von Adam Smith entwickelte Gedankenkonstrukt des idealen Beobachters. Der „ideale Beobachter" schwebt bei Adam Smith wie Gottvater über seinen Geschöpfen und ist allen gleich nah. Er hat sich emanzipiert von den
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
„natürlichen Täuschungen der Selbstliebe" und dem „natürlichen Auge des Geistes", dem „Gegenstände groß oder klein erscheinen, nicht so sehr ihren wirklichen Maßen entsprechend, als vielmehr entsprechend der größeren oder geringeren Entfernung ihres Standortes" (Smith 1977, 200 ff.). Seine Bewertungen sind überperspektivisch und unparteiisch - jedenfalls soweit man davon absieht, dass Smith dem idealen Beobachter eine ganz bestimmte, nämlich subjektivistische Axiologie unterstellt. Mit Richard Brandt (1959, 173) kann man Smiths Idee des „idealen Beobachters" durch die folgenden Bedingungen rekonstruieren: 1. Der ideale Beobachter muss erwachsen, gesund und nicht psychisch gestört sein (Bedingung der Urteilsfähigkeit). 2. Er muss über die Handlungen, ihre Hintergründe und Umstände sowie über ihre Konsequenzen umfassend informiert sein (Bedingung der Informiertheit). 3. Er muss bei seinem Urteil seine Fähigkeit zur Empathie, seine Intelligenz und seine lebhafte Vorstellungskraft einsetzen. Er muss in einer gelassenen Stimmung sein, d. h. er muss von Affekten wie Ärger, Angst, Kummer, Euphorie oder Depression frei sein. Außerdem muss er möglichst unparteiisch urteilen (Bedingung der Unparteilichkeit). Kann dieses Modell bestimmte moralische Urteilsweisen ausschließen? Kann es bestimmte Urteilsweisen auszeichnen? Es wird auf jeden Fall bestimmten Parteilichkeiten ausschließen, z. B. zugunsten bestimmter Gruppen, denen der Beurteiler angehört oder mit denen er sympathisiert. Fraglich ist, ob das Modell des idealen Beobachters auch eine bestimmte Moraltheorie gegenüber anderen auszeichnet, sobald man einmal von den spezifischen Bedingungen absieht, mit denen dieses Modell von seinem „Erfinder" Smith verknüpft wird. Man könnte es sogar als besonderen Vorzug dieses Modells bezeichnen, den moralischen Standpunkt mög-
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
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liehst frei von weitergehenden normativen Festlegungen zu illustrieren. Anders als bei Smith beabsichtigt, enthält das Modell selbst kein Präjudiz für eine bestimmte ethische Theorie, auch nicht für eine Theorie der umfassenden unparteiischen Interessenberücksichtigung. Sie lässt Raum für strukturelle Prinzipien wie Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit und für interessenunabhängige Werte wie die von objektivistischen Axiologien postulierten ästhetischen oder naturethischen Werte.
10.2.2 Umfassende Interessenberücksichtigung Ein weiteres Prinzip, das aus dem Allgemeingültigkeitsanspruch mit einiger Plausibilität, wenn auch nicht zwingend hergeleitet werden kann, ist das Prinzip der umfassenden Interessenberücksichtigung. Danach kann die Wahl einer moralischen Norm nicht davon absehen, wie sich die Annahme und Befolgung der Norm auf das Wohlbefinden der von ihr - als Akteure oder Beteiligte - Betroffenen auswirkt. Für eine solche Berücksichtigung sprechen zwei Argumente: 1. Man wird vernünftigerweise von jemanden nur dann etwas fordern können, wenn man dessen Interessen in dem, was man fordert, mitberücksichtigt. Andernfalls wäre das Ansinnen, moralisch zu handeln, ein bloßer Herrschaftsakt. Das heißt nicht, dass die Interessen des jeweiligen Adressaten einer moralischen Norm für den Inhalt dieser Norm ausschlaggebend sein müssen - das können sie nicht sein, wenn die Norm den Adressaten zu etwas verpflichtet, was diesen zur Hintanstellung seiner Interessen zugunsten der Interessen anderer zwingt. Aber es ist unplausibel, von dem Adressaten einen moralisch begründeten Verzicht auf die Befriedigung seiner Interessen zu verlangen, wenn diese Interessen nicht auch in irgendeiner - wie immer marginalen - Weise in der ihm angeson-
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
nenen Norm mitbedacht sind. Da dies für alle potenziellen Adressaten eines moralischen Urteils gilt, sollten die Interessen aller potenziellen Adressaten Berücksichtigung finden. 2. Wer moralische Ansprüche an jemand anders erhebt, wird nur dann erwarten können, dass dieser die Ansprüche für sich akzeptiert, wenn dies der Verwirklichung eines Werts dient, den er selbst als solchen anerkennt. Vieles spricht jedoch dafür, dass es nur einen Wert gibt, für den die Annahme berechtigt ist, dass sie von jedem beliebigen Adressaten einer moralischen Norm akzeptiert wird, nämlich den Wert des subjektiven Wohlbefindens bzw. des Erlebens von subjektiv als positiv bewerteten Bewusstseinszuständen. Nicht viel mehr als dieser Elementarwert kann Anspruch darauf erheben, von jedem beliebigen Verständigen akzeptiert zu werden. Dass es grundsätzlich besser ist, dass jemand sich - seiner eigenen Einschätzung nach - besser als schlechter fühlt, ist eine so elementare Wertannahme, dass sie allen axiologischen Systemen in Vergangenheit und Gegenwart ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen zugeschrieben werden kann. Zugleich scheint es die einzige Wertannahme zu sein, in der so heterogene Wertlehren wie die subjektivistischen und objektivistischen, asketischen und hedonistischen, minimalistischen und maximalistischen übereinstimmen. Während über den intrinsischen Wert von Tugend, Würde, Gerechtigkeit, Harmonie und Schönheit ein unauflöslicher Dissens besteht, ist die Annahme, dass das, was ein Subjekt an sich selbst und unabhängig von den Folgen als positiven Bewusstseinszustand empfindet, deshalb auch objektiv etwas Positives ist, gemeinsamer Besitz aller jemals vorgeschlagenen Axiologien. Akzeptiert man das Prinzip der umfassenden Interessenberücksichtigung, bedeutet das, dass damit eine rein deontologische Ethik, die gänzlich von der individuellen Betroffenheit bestimmter Individuen absieht, als ernstzunehmende Option ausgeschlossen werden muss. Allerdings ist von diesem Prinzip nur die Extremform der deontologischen Ethik betroffen,
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
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die oben „streng" genannt worden und in der Geschichte der Ethik nur selten vertreten worden ist. Während das Modell des „idealen Beobachters" lediglich die Bedingung der Unparteilichkeit erfüllt, erfüllen die folgenden Modelle einer idealen Prinzipienwahl zusätzlich die Bedingung der umfassenden Interessenberücksichtigung: 1. das Modell des „Schleiers des Nichtwissens" (Harsanyi, Rawls), 2. das Modell der imaginären Identifikation mit allen Betroffenen (Hare). 3. das Modell der sukzessiven imaginären Identifikation mit allen Betroffenen (C. I. Lewis), Das Modell der Prinzipienwahl hinter einem „Schleier des Nichtwissens" sichert die Unparteilichkeit der Wahl durch die Bedingung, dass der Wählende über seine innere und äußere Lage unwissend ist und seine Wahl unter der Bedingung treffen muss, dass alle Möglichkeiten (in bestimmten empirisch vorgegebenen Grenzen) mit der gleichen Wahrscheinlichkeit realisiert werden. Das Motiv der Wahl ist dabei die Maximierung des eigenen Wohls. Der Wählende muss sich in diesem Modell fragen, welche Norm er für sich selbst wollen kann, wenn er sich sowohl in der günstigsten als auch in der allerungünstigsten Position befinden könnte. Er muss zwischen den Normen, die aus jeder der einzelnen möglichen Positionen heraus optimal scheinen, einen Kompromiss finden, mit dem er aus der Sicht jeder möglichen Position „leben kann" - als Gesunder und als Kranker, als Junger und als Alter, als Armer und Reicher usw. Die Modelle der imaginären Identifikation mit allen von der zu beurteilenden Norm Betroffenen sind dem Modell des Schleiers des Nichtwissens verwandt, gehen aber ein Stück weit darüber hinaus. Nach dem zweiten Modell muss der Wählende seine Wahl unter der Maßgabe treffen, dass er das Schicksal aller von der jeweiligen Norm faktisch Betroffenen
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
teilt und deren Identität übernimmt. Er wählt diejenige Norm, die ihm nach dieser Maßgabe das größte Wohl verspricht, d. h. eine Norm, für die das Verhältnis zwischen hypothetischer positiver und negativer eigener Betroffenheit möglichst günstig ausfällt. Das dritte Modell unterscheidet sich vom zweiten lediglich durch den zeitlichen Aspekt. Der Urteilende wird aufgefordert, sich mit den verschiedenen von der zu prüfenden Normen betroffenen Individuen nacheinander zu identifizieren, wodurch deren Zahl in stärkerem Maße als in den beiden ersten Modellen in die Urteilsfindung eingeht. Man kann dieses Modell so ausgestalten, dass es für den Wählenden günstiger erscheint, sich mit 1000 Glücklichen zu identifizieren als mit lediglich 10 Glücklichen, und ungünstiger, sich mit 1000 Unglücklichen zu identifizieren als mit 10 Unglücklichen. Es ist dann eher geeignet, Prinzipien zu begründen, die (wie der Nutzensummenutilitarismus) quantitativen Aspekten Bedeutung zumessen. Im Gegensatz zum Modell des „Schleier des Nichtwissens" sind die Identifikationsmodelle allerdings mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit konfrontiert: der Schwierigkeit, dass eine vollständige Identifikation eines Wählenden mit den von einer bestimmten Norm Betroffenen an Grenzen der Denkbarkeit stößt. Verliert das Ich des Wählenden durch eine vollständige Identifikation mit den Betroffenen nicht jede Substanzialität? Wie kann es es selbst bleiben, wenn es nicht nur - im Sinne eines „Rollentauschmodells" - die Rollen der jeweils Betroffenen übernehmen soll, sondern auch deren Präferenzen, Werte, Normen und Ideale? Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu umgehen, besteht darin, sich in der Imagination nur jeweils so viele Präferenzen der Anderen zuzuschreiben, wie für das Resultat des Gedankenexperiments relevant sind, und dabei zumindest einen Teil der eigenen Persönlichkeit, soweit sie mit den Präferenzen der anderen vereinbar ist, beizubehalten. So ist z. B. oft das Geschlecht, das Alter oder die Familienzugehörigkeit der Betrof-
10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
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fenen für das Ergebnis des Gedankenexperiments irrelevant, so dass auf sie bei der imaginären Identifikation verzichtet werden kann. Die relevanten Faktoren der anderen Betroffenen lassen sich jedoch in der Regel in den Rahmen der eigenen Persönlichkeit „einbauen". Wenn der Wählende etwa im Zusammenhang mit den Normen der Zukunftsverantwortung überlegt, wie er aus der Perspektive späterer Generationen sein gegenwärtiges umweltrelevantes Verhalten beurteilen würde und sich dafür mit einem repräsentativen Individuum aus der Generation der Enkel identifiziert, wird er sich ausschließlich diejenigen Merkmale der Enkel zuschreiben müssen, die für diese Frage relevant sind. Er muss sich lediglich fragen, wie es für ihn wäre, als Enkel mit den Altlasten der Generation seiner Großeltern fertig werden zu müssen. Der semantische Gehalt des „ihn" kann dabei durch so viele für den Wählenden charakteristischen Eigenschaften gefüllt werden, dass er seine Identität behält, auch wenn er im Zuge des Gedankenexperiments seine zeitliche Position ändert. Alle drei Modelle einer umfassenden Interessenberücksichtigung werden dem Prinzip der Unparteilichkeit nur soweit gerecht, als die Interessen der jeweils anderen Betroffenen aus deren eigener Perspektive beurteilt werden. Wenn die Wahl unparteiisch ausfallen soll, darf sich der Beurteiler nicht nur mit den Rollen und den Erfahrungen, sondern er muss sich auch mit den Präferenzen und Werten aller übrigen Betroffenen identifizieren. Andernfalls würde er in die Falle laufen, auf die George Bernard Shaws Parodie auf die Goldene Regel hinweist: „Do not do unto others as you would be done by them. Their tastes might be different." In der Tat liegt eine der entscheidenden Schwächen der Goldenen Regel darin, dass sie in jeder einzelnen ihrer Anwendungen ausschließlich von den Präferenzen des jeweiligen Akteurs ausgeht und allein diese zum Maßstab von Gut und Richtig macht. Solange jedoch der Beurteiler seine eigenen Präferenzen, Wertvorstellungen und Ideale in die imaginäre Identifikation mit den anderen Betrof-
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
fenen „mitnimmt", ist nicht ausgeschlossen, dass die gewählte Norm seine eigenen Geschmacksrichtungen und Ideale privilegiert und damit Momente von Parteilichkeit in die Wahl einfließen. Das Prinzip der Unparteilichkeit schließt ebensowenig wie das Kriterium der umfassenden Interessenberücksichtigung ein, dass die Interessen der Betroffenen strikt gleichgewichtet werden. Es lässt durchaus Privilegierungen zu, allerdings nicht zugunsten der Interessen des jeweiligen Beurteilers, sondern nach Maßgabe der jeweils zu beurteilenden Norm. So könnte ein Identifikationsmodell so ausgestaltet werden, dass diejenigen Interessen, die der zu beurteilenden Norm krass entgegengesetzt sind, bei der imaginären Identifikation abgewertet oder vernachlässigt werden, wie etwa die Lust an Grausamkeit im Falle einer hedonistischen Axiologie oder das Interesse an unfairen Vorteilen für sich selbst im Fall einer Gerechtigkeitsnorm. Oder man könnte - einen Gedanken Mackies aufgreifend (vgl. Mackie 1981,122) - die Interessen derjenigen bevorzugen, die genau diejenigen moralischen Prinzipien vertreten, die sich bei einer Anwendung des Modells der Identifikation als akzeptabel herausstellen. Allerdings wird es selten vorkommen, dass sich bei der Anwendung der Identifikationsmodelle eine vorgeschlagene Norm als aus der Perspektive aller Betroffenenperspektiven gleichermaßen akzeptabel erweist. Lediglich von den elementaren Grundbedürfnissen kann angenommen werden, dass sie von allen von einem Prinzip Betroffenen gleichermaßen geteilt werden. Gefragt ist im Identifikationsmodell - anders als in der Minimalethik - nicht nach einer Norm, die von allen Standpunkten aus akzeptabel ist, sondern nach einer Norm, die einen möglichst allen Standpunkten gerecht werdenden Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Standpunkten schafft, ohne dass dies Prinzip mit irgendeinem dieser Standpunkte vollständig übereinstimmen muss. Die „richtige" Norm ist das Ergebnis einer imaginären Verhandlung zwi-
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10.2 Glaubwürdiger Allgemeingültigkeitsanspruch
sehen allen beteiligten Standpunkten. Wie das Ergebnis einer Verhandlung muss sie nicht exakt den Wünschen irgendeiner der beteiligten Parteien entsprechen. Das folgende Schema stellt noch einmal vergleichend die Merkmale der vier Unparteilichkeitsmodelle und einige ihrer Merkmale dar: Welche Merkmale können berücksichtigt werden?
Idealer Beobachter
Schleier des Nichtwissens
Identifikation mit allen Betroffenen
Sukzessive Identifikation mit allen Betroffenen
strukturelle Werte
ja
ja
nein
nein
objektive Werte
ja
nein
nein
nein
Zahl der Betroffenen
ja
nein
nein
ja
Alle vier Modelle sind mit einem Spektrum verschiedener ethischer Konzeptionen vereinbar, und zwar jede mit einem etwas unterschiedlichen Spektrum. Am offensten ist in dieser Hinsicht das Modell des idealen Beobachters, am stärksten festgelegt das (nicht-sukzessive) Identifikationsmodell. Nur im Modell des „idealen Beobachters" lassen sich neben subjektivistischen auch objektivistische Werte berücksichtigen. Das Modell des „Schleier des Nichtwissens" ist geeignet zur Begründung struktureller Werte, etwa solcher der Verteilungsgerechtigkeit, da es bei der Normenwahl unterschiedliche Risikohaltungen zulässt. So wird bei Rawls z.B. ein nicht-utilitaristisches, libertäres und stärker egalitaristisches Normensystem über die Annahme abgeleitet, dass die im „Urzustand"
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10. Moralbegründung ohne Erkenntnisanspruch
Wählenden das Risiko eines extrem schlechten Abschneidens minimieren. Demgegenüber sind die Identifikationsmodelle nicht nur auf eine subjektivistische Axiologie, sondern auch auf eine aggregative Ethik festgelegt, da sie wesentlich auf dem Abgleich der Interessenbefriedigung der Betroffenen beruhen. Benthams Devise „Everyone to count for one and nobody for more than one" erfüllen sie allerdings nur, soweit sie - was nicht notwendig der Fall sein muss - von einer Gleichgewichtung aller einzelnen Betroffenheitsperspektiven ausgeht.
10.3 Kohärenz Kohärenz wird hier als Kriterium verstanden, das sowohl die innere (interne) als auch die äußere (externe) Kohärenz umfasst. Innere Kohärenz ist geeignet als Plausibilitätskriterium eher für ganze Normensysteme als für einzelne Normen, während äußere Kohärenz auch einzelne Normen betreffen kann. Innere Kohärenz bedeutet zunächst Konsistenz, also Widerspruchsfreiheit, darüber hinaus aber auch Einheitlichkeit und Stimmigkeit: Für ein moralisches Normensystem besagt das Kohärenzkriterium, dass es möglichst „aus einem GUSS" sein sollte. Äußere Kohärenz bedeutet, dass sich eine Norm in ein gegebenes Normensystem zwanglos und harmonisch einpasst und dieses Normensystem dadurch insgesamt nicht an Einheitlichkeit verliert. So problematisch Kohärenz als Kriterium moralischer Wahrheit ist (vgl. Abschnitt 9.2.1), so plausibel ist es als Kriterium der Akzeptabilität einer Moral oder einer Ethik. In der Ethik ist das Kriterium der Kohärenz in einem besonderen Sinne unverzichtbar, da diese zumeist nicht nur eine theoretische Vereinheitlichungs- und Systematisierungsfunktion, sondern auch eine praktische Orientierungsfunktion übernimmt. Anders als in kognitiven Theorien soll die Theorie nicht nur explanativ und heuristisch fruchtbar sein, sie soll auch hand-
10.3 Kohärenz
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lungsleitend und motivierend wirken. Das kann sie jedoch nur, wenn sie an die Stelle des „Flickenteppichs" der durch vielerlei Traditionen bedingten faktischen Verhaltensnormen ein einheitlicheres und systematischeres Bild setzt. Das Kohärenzkriterium konkurriert dabei ähnlich wie bei wissenschaftlichen und metaphysischen Theorien mit dem Kriterium der inhaltlichen Adäquatheit. Wie eine wissenschaftliche Theorie „die Phänomene retten" muss und sich nicht beliebig vieler Hilfshypothesen bedienen darf, um widerspenstige Erfahrungsdaten wegzuerklären, darf auch eine ethische Theorie das Kohärenzkriterium nicht absolut setzen und um der bloßen Einheitlichkeit willen inhaltlich unplausible Konsequenzen in Kauf nehmen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen muss man allerdings über die Leichtigkeit staunen, mit der viele gegenwärtigen Moralphilosophen das Kohärenzkriterium aufgeben und unter dem Stichwort „moralischer Pluralismus" nicht nur die faktische Erreichbarkeit, sondern bereits das Ideal einer einheitlichen ethischen Theorie in Frage stellen. An die Stelle von Einheitlichkeit und Kohärenz, die nicht einmal mehr als regulative Ideen eine Rolle spielen sollen, sollen vielfach reine Kasuistik, postmoderner Eklektizismus oder die „pragmatische" Anpassung der ethischen Argumentation an die in den jeweiligen Anwendungskontexten faktisch akzeptierten Argumentationsformen treten. Eine Reihe zeitgenössischer Ethiker ist der Auffassung, dass wir uns damit anfreunden sollten, in unterschiedlichen Anwendungskontexten - z. B. in Bezug auf die Behandlung von Menschen einerseits, von Tieren andererseits, oder in Bezug auf soziale Verteilungsgerechtigkeit einerseits, internationale Verteilungsgerechtigkeit andererseits - ganz unterschiedliche Prinzipien zur Geltung zu bringen, ohne uns um deren Vereinbarkeit oder deren Fähigkeit, sich in eine einheitliche Theorie integrieren zu lassen, zu kümmern. Aber was der faktischen Moral billig, sollte der Ethik deshalb nicht bedingungslos recht sein. Unter den vielen Aufga-
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ben der Ethik ist die Aufgabe der Systematisierung und Harmonisierung von Normen, Prinzipien, Werten und Urteilen - entweder, als rekonstruktive Ethik, in einem deskriptiven, oder, als normsetzende Ethik, in einem konstruktiven Sinne -, sicher die, über die bei allem moralischen und ethischen Pluralismus immer noch am ehesten Konsens bestehen dürfte.
Glossal Altruismus (nach Auguste Comte [1798-1857]) Selbstlosigkeit. Im Gegensatz zum Alltagssprachgebrauch werden in der Ethik hauptsächlich Handlungsmotive und Einstellungen und nicht Handlungen als altruistisch gekennzeichnet. Altruistisch ist ein Motiv genau dann, wenn es auf das Wohl (oder Wehe) eines oder mehrerer anderer zielt. -*· Egoismus. Amoralisch/Amoralismus Einstellung, die keine moralischen Normen oder Pflichten anerkennt. Der Amoralist lehnt es ab, eigenes oder fremdes Handeln unter moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen oder sein Handeln an moralischen Verbindlichkeiten zu orientieren. Anthropozentrismus -*· Axiologie, die nicht-moralische Werte ausschließlich im menschlichen Bereich anerkennt. -» Biozentrismus, Pathozentrismus, Physiozentrismus. Axiologie Theorie, die bestimmte Sachverhalte als wünschenswert oder nicht wünschenswert kennzeichnet bzw. (nicht-moralischen) Werten ein bestimmtes Gewicht oder einen bestimmten Rang in einer Wertordnung zuweist. Biozentrismus -» Axiologie, die nicht-moralische Werte im gesamten Bereich des Lebendigen (einschließlich der Pflanzenwelt) anerkennt. -» Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Physiozentrismus.
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Deontologische Ethik (nach C. D. Broad [ 1887-1971]) Wichtigster Typ einer normsetzenden normativen Ethik neben der -» konsequenzialistischen Ethik. Deontologische Ethiken beurteilen die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen nicht ausschließlich aufgrund der (abzusehenden) Handlungsfolgen, sondern darüber hinaus oder ausschließlich aufgrund bestimmter Merkmale der Handlungen selbst.
Deskriptivismus Metaethische Theorie, nach der moralische Urteile primär und typischerweise beschreibende Bedeutung haben. -» Emotivismus, Präskriptivismus. Dezisionismus Theorie, nach der (bestimmte) nicht-moralische und moralische Urteile regellos und willkürlich getroffen werden bzw. getroffen werden sollen oder müssen. Diese Urteile beruhen auf einem Akt willkürlicher Wahl, der Dezision. Diskursethik Variante der -» Verfahrensethik, nach der die moralische Urteilsbildung durch eine rationale und von Herrschaftsbeziehungen freie Diskussion erfolgen soll, bei der alle Teilnehmer gleiche Chancen haben, ihre Auffassungen (und evtl. Interessen) zur Geltung zu bringen. Durchschnittsnutzenutilitarismus Variante des -*· Utilitarismus, nach der der zu maximierende nicht-moralische Wert der durchschnittliche Nutzen aller von einer Handlung Betroffenen ist. -> Nutzensummenutilitarismus.
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Emotivismus Metaethische Theorie, nach der moralische Urteile primär und typischerweise expressive (die gefühlsmäßigen Einstellungen des Sprechers ausdrückende) Bedeutung haben. -*· Deskriptivismus, Präskriptivismus. Egoismus Analog zum -» Altruismus werden in der Ethik hauptsächlich Motive und Einstellungen und nicht Handlungen als egoistisch gekennzeichnet. Egoistisch ist ein Motiv genau dann, wenn es auf das Wohl (und Wehe) des jeweiligen Akteurs zielt. Ethik/Moralphilosophie Philosophische Disziplin, die sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen der Moral und den mit ihnen zusammenhängenden Theoriefragen beschäftigt. Die Ethik gliedert sich in die Teilgebiete -> Metaethik, -»· Normative Ethik und -» Moralpragmatik. Externalismus In der Theorie der moralischen Motivation die Auffassung, dass moralische Überzeugungen keine zu einem entsprechenden Handeln motivierende Rolle übernehmen oder übernehmen können. Dem Externalismus zufolge stammt die zu moralischem Handeln erforderliche Motivation gänzlich aus anderen Quellen als der moralischen Überzeugung selbst. Extrinsischer Wert Wert, der einer Sache oder einem Sachverhalt nicht an sich (-> intrinsischer Wert), sondern aufgrund des Werts der mit ihnen als Folgen oder Begleitumstände verknüpften Sachen oder Sachverhalte zukommt.
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Genetischer Fehlschluss Fehlschluss von bestimmten Merkmalen der Entstehungsbedingungen einer Sache, Aussage oder Norm auf Merkmale der Sache, Aussage oder Norm selbst. Ein genetischer Fehlschluss wird in der Ethik z. B. dann begangen, wenn aus der Tatsache, dass moralische Überzeugungen in der Kindheit zunächst aus egoistischen Motiven angenommen werden, gefolgert wird, dass sie deswegen auch von Erwachsenen aus egoistischen Motiven akzeptiert und befolgt werden. Gesinnungsethik Typ von normsetzender normativer Ethik, nach dem die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen hauptsächlich oder gänzlich von der moralischen Qualität der Handlungsmotive (der „Gesinnung") abhängt. Goldene Regel Eine der am häufigsten verwendeten Argumentationen der Alltagsmoral und ein Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen. Man unterscheidet eine negative („Was du nicht willst, dass andere dir tun, tue auch keinem anderen") und eine positive Form („Was du willst, dass andere dir tun, tue auch anderen"). Hedonismus Axiologie, nach der lustvolles Erleben den einzigen nicht-moralischen Wert ausmacht. Holismus Axiologie, nach der nicht nur Individuen, sondern auch Ganzheiten wie Nationen oder Ökosysteme nicht-moralischer Wert zukommt.
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Hypothetischer Imperativ In der Ethik Kants eine Forderung, die bestimmte (zweckmäßige oder optimale) Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke des Adressaten der Forderung empfiehlt, z. B. „Ehrlich währt am längsten". Indexikalischer Ausdruck Sprachlicher Ausdruck, dessen Bezugsgegenstand mit dem jeweiligen Äußerungskontext wechselt, z. B. „Ich", „mein Freund", „hier", „in diesem Land", „vor zwei Jahren" usw. Intentionalismus Typ von normsetzender normativer Ethik, nach dem die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung hauptsächlich oder gänzlich von der moralischen Qualität der mit der Handlung beabsichtigten Folgen abhängt. Internalismus In der Theorie der moralischen Motivation die Auffassung, nach der moralische Überzeugungen eine zu einem entsprechenden Handeln motivierende Rolle übernehmen oder übernehmen können. -» Externalismus. Intrinsischer Wert Wert, der einer Sache oder einem Sachverhalt „an sich" und nicht nur aufgrund seiner Verknüpfung mit bestimmten Folgen oder Begleitumständen zukommt. -» Extrinsischer Wert. Intuitionismus In der Ethik Variante des -> Kognitivismus, nach der die Wahrheit moralischer Urteile auf dem Wege einer nicht-sinnlichen Anschauung (Intuition) erkennbar ist. Nach intuitionistischer Auffassung ist moralische Erkenntnis unmittelbar und beruht nicht auf logischer Ableitung.
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Kasuistik In der Ethik Variante der -> Verfahrensethik, nach der moralische Einzelfallurteile durch Vergleich mit anderen Einzelfallurteilen und die Bildung von Analogien und Disanalogien getroffen werden bzw. getroffen werden sollen. Kategorischer Imperativ In der Ethik Kants 1. eine Forderung, die im Gegensatz zu -> hypothetischen Imperativen bestimmte Handlungen unabhängig von den Zwecken des Adressaten fordert, 2. das diesen Forderungen, soweit sie berechtigt sind, zugrunde liegende allgemeine Prinzip. Kognitivismus Metaethische Theorie, nach der moralische Erkenntnis möglich ist. Kognitivisten vertreten die Auffassung, dass moralische Urteile aufgrund bestimmter Kriterien in einer intersubjektiv verbindlichen Weise als wahr oder falsch beurteilt werden können. -» Nonkognitivismus. Kohärenztheorie Variante der -» Verfahrensethik, die eine zunächst ungeordnete und möglicherweise widersprüchliche Menge von moralischen Urteilen in ein geordnetes, widerspruchsfreies und in sich einheitliches Moralsystem überführt. Konsenstheorie In der Ethik Variante der -» Verfahrensethik, die die Annahme einer moralischen Norm von der Zustimmung aller von der Norm Betroffenen abhängig macht. Konsequenzialistische Ethik/Konsequenzialismus (nach G. E. M. Anscombe [1919-2001]) Wichtigster Typ einer normsetzenden normativen Ethik neben der -» deontologischen Ethik. Konsequenzialistische Ethiken beurteilen die mo-
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rausche Richtigkeit und Falschheit von Handlungen ausschließlich aufgrund der (abzusehenden oder abgesehenen) Handlungsfolgen.
Lexikographische Vorordnung Analog zum Lexikon, in dem alle mit A beginnenden Wörter vor den mit B beginnenden Wörtern angeordnet sind, ordnet ein Wert- oder Normensystem mit lexikographischer Vorordnung einen Wert oder ein Prinzip A anderen Werten oder Prinzipien vor, indem es alle Sachverhalte, die A verwirklichen, allen Sachverhalten, die A nicht verwirklichen, vorzieht, unabhängig davon, ob und in welchem Maße sie andere Werte oder Prinzipien verwirklichen. Maxime Individuelle Verhaltensregel, die sich ein Akteur selbst gibt. Maximen sind für alle Situationen einer bestimmten Art formuliert (etwa „Sag im Zweifelsfall lieber die Wahrheit"), beanspruchen Geltung aber jeweils nur für den einzelnen Akteur. Menschenwürde In der Ethik Bezeichnung für eine Reihe von elementaren moralischen -» Rechten und Ansprüchen, die dem Individuum allein aus seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung erwachsen. Zu den aus der Menschenwürde fließenden Rechten werden gemeinhin das Recht auf Leben, das Recht auf ein Minimum an Handlungsfreiheit und das Recht, vor Verfolgung und grausamer Behandlung verschont zu werden, gerechnet. „Menschenwürde" wird daneben auch auf die Gattung Mensch als ganze angewendet und bezieht sich dann auf den besonderen Rang des Menschen innerhalb des Ganzen der Natur.
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Metaethik Teilbereich der Ethik, der sich mit semantischen, ontologischen und erkenntnistheoretischen Fragen der Moral beschäftigt. Gelegentlich wird zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff von Metaethik unterschieden, Nach dem engeren Begriff gehören zur Metaethik lediglich die Analyse der moralischen Sprache und der für die Moral charakteristischen Argumentationsweisen. Nach dem (hier zugrunde gelegten) weiten Begriff gehören zu den Gegenständen der Metaethik auch Fragen nach der möglichen Existenz moralischer Sachverhalte (-» Realismus, -*· Relativismus) und ihrer Erkennbarkeit (-> Kognitivismus, -» Nonkognitivismus). Minimalethik Normsetzende normative Ethik, die beansprucht, bestimmte zentrale Moralnormen („Minimalmoral") als allgemein verbindlich ausweisen zu können, bevorzugt unter Hinweis auf das Interesse, das jeder Einzelne an der Geltung dieser Normen haben muss. Monismus In der Ethik die Auffassung, dass es nur ein einziges moralisches Prinzip (Prinzipienmonismus) bzw. einen einzigen nicht-moralischen oder moralischen Wert (Wertmonismus) gibt oder geben sollte, aus dem alle anderen Prinzipien und Werte hergeleitet werden können. -> Pluralismus. Moralpragmatik Teilgebiet der Ethik, das sich mit Fragen der Anwendung moralischer Normen befasst, z. B. mit Fragen der Umsetzung moralischer Normen in und durch rechtliche und politische Institutionen und der pädagogischen Normvermittlung (Werterziehung).
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Naturalismus, ethischer Auffassung, dass bestimmte natürliche Gegebenheiten dem Menschen als moralische Orientierung dienen sollen, etwa im Sinne der bewussten Nachahmung natürlicher Prozesse. Der ethische Naturalismus ist nicht auf den -» metaethischen Naturalismus verpflichtet und begeht nicht notwendig einen -> naturalistischen Fehlschluss, da er nicht auf die Behauptung festgelegt ist, moralische Normen ließen aus Aussagen über die Natur logisch ableiten. Naturalismus, metaethischer 1. Variante des ->· Deskriptivismus, nach der sich moralische Urteile auf nicht-moralische Sachverhalte innerhalb oder außerhalb der natürlichen Welt beziehen. 2. Variante des -» metaethischen Realismus, nach der die Wahrheit oder Falschheit moralischer Urteile als die Wahrheit oder Falschheit bestimmter nicht-moralischer empirischer oder metaphysischer Aussagen analysiert werden kann. Naturalistischer Fehlschluss (nach G.E: Moore [1873-1958]) Fehlschluss oder unschlüssiges Argument, das beansprucht, eine bewertende (evaluative) oder vorschreibende (normative) Aussage aus einer Menge rein beschreibender (deskriptiver) Aussagen logisch abzuleiten. Nonkognitivismus Metaethische Theorie, nach der moralische Erkenntnis unmöglich ist. Nonkognitivisten vertreten die Auffassung, dass es keine hinreichend verlässlichen Kriterien gibt, um moralische Urteile in intersubjektiv verbindlicher Weise als wahr oder falsch beurteilen zu können. -» Kognitivismus. Vielfach wird der Ausdruck „Nonkognitivismus" auch für den -» Emotivismus verwendet.
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Normative Ethik Teilbereich der Ethik, der sich mit den inhaltlichen Aspekten der Moral und mit den in moralischen Normen enthaltenen Wertsetzungen beschäftigt. Die normative Ethik ist nicht notwendig „normativ" in dem Sinne, dass sie selbst Normen aufstellt. Neben der normsetzenden Ethik gehört auch die -> rekonstruktive Ethik zur normativen Ethik. Nutzensummenutilitarismus Variante des -» Utilitarismus, nach der der zu maximierende nicht-moralische Wert die Summe der Nutzen aller von einer Handlung Betroffenen ist. Pathozentrismus Axiologie, die nicht-moralische Werte im gesamten Bereich des Empfindungsfähigen (einschließlich der empfindungsfähigen Tiere) anerkennt. -» Anthropozentrismus, Biozentrismus, Physiozentrismus. Perfektionismus -» Axiologie, die bestimmte moralische und nicht-moralische (z. B. künstlerische oder intellektuelle) Fähigkeiten als-* intrinsische Werte postuliert. Physiozentrismus Axiologie, die nicht-moralische Werte im gesamten Bereich der Natur anerkennt. -» Anthropozentrismus, Biozentrismus, Pathozentrismus. Pluralismus „Pluralismus" hat in der Ethik eine Vielzahl von Bedeutungen. Er bezeichnet einerseits die Tatsache, dass in einer Gesellschaft bzw. weltweit eine Reihe verschiedener und miteinander teilweise unvereinbarer Moralen koexistieren. Er kann aber auch die Forderung bedeuten, diese Vielfalt an Moralen zu erhalten
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oder zu fördern. In der normativen Ethik wird „Pluralismus" als Gegenbegriff zu -* Monismus verwendet und bezeichnet die Eigenschaft eines Normen- oder Wertsystems, mehrere grundlegende Normen oder Werte zu postulieren, von denen keine auf eine der anderen oder auf eine übergreifende Grundnorm zurückgeführt werden kann. Präskriptivismus Metaethische Theorie, nach der moralische Urteile primär und typischerweise auffordernde (appellative) Bedeutung haben. -» Deskriptivismus, Emotivismus. Primärprinzip (nach J. St. Mill [1806-1873]) Im Rahmen der -* Zwei-EbenenTheorie eine -» Sekundärprinzipien zugrunde liegendes und zumeist nur in der ethischen Analyse ausdrücklich zum Gegenstand der Betrachtung gemachtes moralisches Prinzip. Prima-facie-Pflichten (nach W. D. Ross [l 877-1940]) Wörtlich „Pflichten auf den ersten Blick". In der -» deontologischen Ethik Beurteilungsprinzipien für Handlungen, die unter mehrere verschiedene Pflichtprinzipien fallen und deren moralische Richtigkeit oder Falschheit ermittelt wird, indem die beteiligten Pflichtprinzipien gegeneinander abgewogen werden. So ergibt sich etwa die Pflichtgemäßheit oder Pflichtwidrigkeit einer „barmherzigen Lüge" aus einer Abwägung der Prima-facie-Pflicht zur Wahrhaftigkeit und der Prima-facie-Pflicht zur Barmherzigkeit. Principlism Auf Tom L. Beauchamp und James F. Childress zurückgehende ursprünglich für die Medizinethik formulierte Variante der rekonstruktiven Ethik, die den konsensfähigen Kerngehalt der Moral mithilfe von „Prinzipien" zu erfassen versucht, die
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ähnlich wie -» Prima-facie-Pflichten in der konkreten Moralanwendung gegeneinander abgewogen werden müssen.
Rechte, moralische Moralisch begründete Ansprüche an andere, von ihnen in bestimmter Weise (nicht) behandelt zu werden oder von ihnen bestimmte Leistungen zu erhalten. Moralischen Rechten entsprechen auf der Seite anderer individuelle oder kollektive moralische Pflichten (vollkommene Pflichten). Jemandem ein moralisches Recht zuzuschreiben, hat vielfach eine advokatorische Funktion, d. h. der das Recht Zuschreibende macht sich zum Fürsprecher des Rechtssubjekts und fordert von anderen, ihren Pflichten gegenüber dem Rechtssubjekt nachzukommen. Realismus, metaethischer Theorie, nach der es moralische Tatsachen gibt, die dem Geltungsanspruch moralischer Urteile entsprechen oder nicht entsprechen. Moralische Urteile sind danach wie Aussagen über die Außenwelt wahr oder falsch. Der metaethische Realismus wird vielfach auch als „ethischer" oder „moralischer Realismus" bzw. als „ethischer Objektivismus" bezeichnet. ->· metaethischer Relativismus. Rekonstruktive Ethik Variante der normativen Ethik, die sich darauf beschränkt, tatsächlich geltende bzw. weithin anerkannte moralische Normen zu rekonstruieren, d. h. in systematischer und übersichtlicher Form zu beschreiben. Relativismus, metaethischer Theorie, nach der es keine moralische Tatsachen gibt, die dem Geltungsanspruch moralischer Urteile entsprechen oder nicht entsprechen. „Wahr" und „falsch" sind deshalb auf moralische Urteile nicht anwendbar. Der metaethische Relativismus wird
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vielfach auch als „metaethischer Subjektivismus" bezeichnet. -» metaethischer Realismus. Satisficing-Prinzip (nach H.A. Simon [1916-2001]) Ein Prinzip, mit der nicht die vollständige, sondern lediglich die weitgehende Erfüllung einer Norm, z. B. der Verwirklichung eines bestimmten Werts, gefordert wird. Sekundärprinzip (nach J. St. Mill [1806-1873]) Im Rahmen der -» Zwei-EbenenTheorie eine in der sozialen Praxis geltende moralische Norm. Sekundärprinzipien werden vielfach auch als Praxisnormen oder sozialmoralische Normen bezeichnet. -» Primärprinzip. Supererogatorische Handlungen Handlungen von hoher moralischer Qualität, die über das moralisch Geforderte bzw. Forderbare hinausgehen, z. B. Akte heroischer Selbstaufopferung. Supervenienz Verhältnis eines Merkmals B zu einem Merkmal A, bei dem Merkmal B beim Auftreten von Merkmal A regelmäßig „dazukommt" (superveniert). In der Ethik wird von Supervenienz hauptsächlich im Zusammenhang mit der Beziehung wertender zu beschreibenden Ausdrücken gesprochen. Moralische Handlungsurteile verhalten sich in der Regel supervenient in Bezug auf Handlungsbeschreibungen, d. h. in ihren deskriptiven Merkmalen übereinstimmende Handlungen werden (auf dem Hintergrund einer bestimmten Moral) in der Regel auch moralisch gleich bewertet. Teleologische Ethik Hauptvariante der -> konsequenzialistischen Ethik, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlun-
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gen ausschließlich nach der nicht-moralischen Qualität der (abzusehenden oder abgesehenen) Handlungsfolgen bemisst. Tugendethik Richtung der -* normativen Ethik, die die Inhalte einer Moral mithilfe der von dieser Moral positiv bewerteten Einstellungen und Verhaltensdispositionen (Tugenden) beschreibt. Große Teile der antiken Ethik (Platon, Aristoteles), der Ethik des 18. Jahrhunderts (Britische Moralisten) sowie der zeitgenössischen Ethik lassen sich der Tugendethik zuordnen. Universalisierungsprinzip Metaethisches Prinzip, nach dem es für moralische Handlungsurteile kennzeichnend ist, keine Faktoren zu berücksichtigen, die sich ausschließlich durch Eigennamen oder -» indexikalische Ausdrücke ausdrücken lassen.
Utilitarismus Variante des Konsequenzialismus, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen danach bemisst, wie weit sie dazu beiträgt, das Wohlbefinden aller von ihr Betroffenen zu maximieren. Verfahrensethik/prozedurale Ethik Spielart der normsetzenden Ethik, die statt inhaltlich charakterisierter moralischer Normen und Werte bestimmte Verfahren postuliert, mit denen moralische Prinzipien aufgefunden, erzeugt oder geprüft werden sollen. Werturteil, nicht-moralisches/axiologisches Bewertendes Urteil, das einen inneren (psychischen) oder äußeren (physischen) Sachverhalt (Zustand, Ereignis, Prozess) als unter anderen als moralischen Gesichtspunkten wünschenswert oder nicht wünschenswert kennzeichnet. Nicht-morali-
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sehe oder axiologische Werturteile werden gelegentlich auch als „außermoralische" Werturteile bezeichnet.
Werturteil, moralisches Bewertendes Urteil, das Handlungen, Absichten, Motive, Einstellungen, Charakterzüge, Handlungsdispositionen und Personen als moralisch gut oder schlecht, lobens- oder hassenswert, moralisch vorbildlich oder verabscheuungswürdig usw. kennzeichnet. Wiener Kreis Zusammenschluss von Philosophen, Naturwissenschaftlern und Mathematikern empiristischer Orientierung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, dem u. a. Moritz Schlick, Otto Neurath und Rudolf Carnap angehörten. Der „Logische Empirismus" des Wiener Kreises lässt ausschließlich analytische Aussagen (Logik, Mathematik) und Aussagen mit empirisch überprüfbarem Gehalt (empirische Wissenschaften) als sinnvoll gelten. Moralische Urteile werden dementsprechend nicht als Aussagen, sondern als expressive Äußerungen aufgefasst. Zwei-Ebenen-Theorie Theorie, die zwischen den in der sozialen Praxis geltenden moralischen Normen (-» Sekundärprinzipien) und den ihnen zugrunde liegenden (idealen) moralischen Prinzipien (-» Primärprinzipien) unterscheidet. Die Sekundärprinzipien werden dabei als Hilfsprinzipien aufgefasst, die die Primärprinzipien unter Realbedingungen kognitiver und motivationaler Beschränkungen verwirklichen.
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Literaturnachweise
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Literaturnachweise
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Namenregister
Alston, W. P. 10 Anscombe, G. E. M. 114, 432 Apel, K.-O. 86 Aristoteles 66 f., 71, 73, 83,107, 109,162, 241,263,291, 295, 298, 383, 393, 440 Attfield,R. 276 Auer,A. 374 f. Augustinus 307 Barth, K. 107 Baurmann, M. 328 Beauchamp, T. L. 77, 79, 82 f. 437 Beauvoir, S. de 110 Bentham,]. 217 ff.,221 f., 225, 228,233,250,255,287,318, 324, 332, 424 Bergson, H. 58 Berkenhoff, H.-A. 17 Birnbacher, D. 109, 204, 224, 232,270, 302, 362 Bohnen, A. 220 Brandt, R.B. V, 198, 207, 221, 240, 337, 416 Brink, D. O. 337 Broad, CD. 22,113,428 Buddha 53 Butler, J. 321 ff., 327, 332 Bühler, K. 336 CallicottJ.B. 278
Calvin,]. 307 Camus, A. 262 Carnap, R. 441 Childress, J. B. 77, 79, 82 f., 437 Comte, A. 427 DancyJ. 39,230 Descartes, R. 28 Diderot, D. 333 Dörner,D. 311 Duncan-Jones, A. 340 Edgeworth, F.Y. 220 Elster,]. 70 Epikur 4, 50,255,257 f., 361 Feinberg,]. 131 Fichte,].G. 41,105 Fletcher,]. 107 Flew, A. 366 Foot, P. 23 Frank, R. H. 328 Frankena, W. K. VI, 42,48,104, 248,276,331 French, P.A. 18 Freud, S. 318 Gandhi, M. 53 Gert, B. 77 ff., 82 f., 107, 399 ff. Gesang, B. 39,234,273 Gide, A. 109 Glover, J. 224
454 Goethe,J.W. 48 Goodin,R.E. 221 Griffin, D. R. 16 Griffin, J. 237,240,264 HabermasJ. 2,100 ff. Halevy,E. 222 Hare, R. M. 40,105,130,221, 240,292,335,349ff., 410,414, 419 Harrod,R.F. 221,240 Harsanyi,J. C. 222,226 f., 232 f., 240, 419 Hartmann, N. 387 Haslett,D.W. 228,260 Heidegger, M. 110 Herostrat 314 Hobbes,T. 87,318,321,399 Hoerster, N. 81, 97,151,154, 404
Hudson, W. D. 366 Hugo, V. 242 Hume, D. 24 ff., 48, 58,283, 296, 319, 333, 345, 363, 372, 413 Jesus 53,192 Johnson, C. D. 207 Jonas, H. 413 Jonsen, A.R. 94 Kagan, S. 231 Kant, I. 20, 26, 50, 60, 68, 76, 121,127,129,134 ff., 154,160, 185,244,273,283,290,299 f., 307 ff., 311,318, 332 f., 348 f., 356,358,364f., 369, 373,390, 431 f.
Namenregister
King, M. L. 53 Kleist, H. von 21 Kohlberg, L. 286 Kropotkin, P. 377 Kutschera, F. von 179, 355, 407 La Rochefoucault, F. 318, 321 Leopold, A. 210,275 Lerner, M.J. 281 Lewis, C.I. 419 Lichtenberg, G. C. 329 Locke, J. 301,382 Louden, R. B. 303 Lumer, C. 220,237,240 Luther, M. 381 Lyons, D. 81 MackieJ.L. 41,111, 355 f., 366, 388, 422 Mandeville, B. 289 Maring, M. 18 Maslow,A.A. 258 Merkel, R. 167 Mill, J. S. 194, 220 f.,225 f., 233f.,240,318f.,364f.,376, 379,437,439 Mohammed 53 Moore, G. E. 232,240,246,335, 337, 340, 363 f., 435 Narveson, J. 224 Neumaier, O. 18 Neurath, O. 441 Newton,!. 26,390 Nietzsche, F. 58,110,192, 226, 271,318,320,331 Norton, B.C. 104 Nowell-Smith, P. 289, 396
455
Namenregister
Nozick,R. 187,273 Nussbaum, M. C. 264 ff. Ott,K. 102 Page, T. 223 Parfit, D. 222 Pascal, B. 327 Patzig, G. 309 Pence, G.E. 168 Perelman, C. 70 Picasso, P. 242 Pigou,A.C. 220 Platon 233,241,254,272,279f., 299 f.,325, 373, 440 Pogge,T. 239 Railton,P. 216 Rawls, J. 78, 87,94 ff., 101,165, 235, 244, 419 Regan, T. 274 Reid, T. 382 Rescher, N. 221 f.,236,275 Rippe, K.P. 149,391 Robbins, L. 228 Ross, W. D. 129,159 ff.,385, 393, 437 Sartre, J.-P. 110 Schaber,?. 397 Scheler, M. 356, 358, 383, 385, 390, 392 Schiller, F. 310,326 Schlick, M. 58,441 Schmidt, V. H. 70 Schmitt, C. 109 f. Schneider, W. 257
Schopenhauer, A. 26, 66, 68 f., 83,164 f., 257 f., 262,275,283, 301,307 ff., 318 Schweitzer, A. 53,166,171,270, 276 SearleJ.R. 365,368 Sen, A. 187,201,233,264 Seneca 333 Shaftesbury, A. 383 Shaw, G.B. 421 Shaw, W. H. 184,190,223 f. Sidgwick,H. 58, 66, 69 f.,83, 174,195 f.,225, 384 Simmel, G. 28,112 Simon, H. H. 439 Singer, M. G. 154 ff. Singer, P. 220,240 Skorupinski, B. 102 Smart, J.J.C. 206 Smart, R. N. 237 Smith, A. 58, 65,414, 416 f. Sokrates 280,408 Spencer, H. 364 f., 377 Spinoza, B. de 3 Stevenson, C. L. 335, 338, 346, 351 f. Stevenson, R. L. 109 Sumner, L.W. 260 Taylor, P. W. 243 f., 274 f., 392 Teilhard de Chardin, P. 377 Toulmin, S. 92 Trapp, R.W. 116, 181, 234,240 Tugendhat, E. 305,326 Turiel,E. 286 Veatch, R. M. 168
456
Walker, A. D. M. 9 Wallace, G. 9 Walzer, M. 70, 72 f. Weber, M. 306,412
Namenregister
Whiteley, C. H. 9 Williams, B. 81,230,314 Wittgenstein, L. 64 f.,335, 406 Wolf,J.-C. 275,397
Sachregister
Akteursrelativität 39,200 f., 230 f. Allgemeingültigkeit 22 f., 24 ff., 411 ff. Altruismus 312 ff. Amoralität 9 Anspruchsrechte 131 Argument der „offenen Frage" 340 f. Autonomie 26 Axiologie 243 ff.
Beziehungstugenden 284 Bringschuld 191 f. Deskriptivismus 337ff. Dezisionismus 108 ff. dichte Begriffe 339 Diskontierung 189, 414 f. Diskursethik 99 ff. Diversität 391 ff. Doppelwirkungslehre 179 ff. Durchschnittsnutzenutilitarismus 221 ff. Egoismus, ethischer 331 ff. Egoismus, psychologischer 312ff Emotion 8 Emotionen, moralische 10 Emotivismus 344 ff. Erkenntniswerte 271 ff.
Erlebnismaschine 273 Erwartungssicherheit 206 Ethik l ff. Ethik, deontologische 48 ff., 113ff. Ethik, konseqenzialistische 114 ff.,173 ff. Ethik, normative 58 ff. Ethik, rekonstruktive 64 ff. Ethik, ideologische 48 ff. Ethikkomitees l Ethikkommissionen l Eudaimonie 263 f. Expertise, moralische 394 Externalismus 290 ff. Fairness 157 Faustregeln 212 Freiheitsrechte 130 Funktionen moralischer Normen 43 Gedankenexperiment 86 f. genetischer Fehlschluss 320 Gerechtigkeit 70 ff.,248 ff. Gerechtigkeitsutilitarismus 234 f. Gesellschaftsvertrag 87 f. Gesinnungsethik 306 ff. Gewissen 105 ff. Gleichheit 248 ff. Glücksgüter 256 ff.
458 Glücksgütertheorien 263 ff. Glücksutilitarismus 224 ff. Grammatik 65 f. Gruppenmoral 36 Handlungsbezug 2 ff. Handlungsfolgen 122 ff., 177 ff. Handlungskonsequenzialismus 211 ff. Handlungssicherheit 205 Handlungsurteile, moralische 46 ff. Handlungsutilitarismus 204 Hedonismus 253 ff., 361 Heteronomie, moralische 231 f. Hilfeleistung 153 f. Ideale, moralische 30, 39 idealer Beobachter 415ff indexikalische Ausdrücke 34 Individualethik 3 Inkommensurabilität 243 ff. Intentionalismus 179 ff. Internalismus 290 ff. Intuitionismus 381 ff. Kasuistik 90 ff. Katagorischer Imperativ 13 6 ff. Kategorizität 20 ff. Kognitivismus, ethischer 382 Kohärenz 5, 369 ff., 424ff. Kohärenztheorien 89 ff.,90 ff. Kollektive 17 ff. Kommensurabilität 164 Kommunitarismus 28 Kompromiss 169 Konsens 102 ff., 369 ff. Konsenstheorie 99 ff.
Sachregister
Konsequenzialismus, indirekter 212 ff. Konsequenzialismus, nicht-teleologischer 186 ff. Konsistenz 93 Konvergenzhypothese 104 Leben 268 ff. Leistungsfähigkeit 202 f. lexikographische Vorordnung 163 f. Lüge 127,146 ff. Maximierung 189 Menschenwürde 75 ff., 140, 165 f. Mesotes 67 f. Metaethik 58 ff., 335 ff. Minimalethik 398 ff. Mitleidsethik 308 Moral Iff. Moralbegründung, religiöse 371 ff. moralisch ideale Welt 119 ff. Moralkritik 60 f. Moralpragmatik 62 f. Moralsoziologie 70 Motive, moralische 281 ff. Nächstenliebe 192 f. Naturalismus, ethischer 362 ff., 376 ff. naturalistischer Fehlschluss 363 ff. Naturalismus, metaethischer 3 60 ff. Naturethik 273ff, Normkonflikt 160 ff.
459
Sachregister
Nutzen 218 ff., 228 f. Nutzensummenutilitarismus 221 ff. Objektivierung 341 ff. Objektivismus 251 ff. Partikularismus 23, 27 ff. Perfektionismus 249 f. Pflichten, absolute 128 ff. Pflichten, unvollkommene 131 Pflichten, vollkommene 131 Phänomenologie 5 7 f.,64 Plausibilitätsgründe 407 ff. Präferenzutilitarismus 224 ff., 267 Präskriptivismus 348 ff. Prima-facie-Pflichten 129, 160 ff., 171 Primärprinzipien 194 ff. Principlism 79 ff. Prinzipienmonsimus 133 ff. Prinzipienpluralismus 133 ff.
Sekundärtugenden 284 f., 296 Singularismus 36 Situationsethik 107 f., 117 Sokratisches Paradox 291 Sozialethik 3 Sterbehilfe 179 f. Strafe 121 Subjektivismus 251 ff. Supererogation 15, 209 Supervenienz l Systematizität 5 Tiere 17 Tötungsverbot 152 f. Tugend 295 ff. Tugendethik 295 ff., 302 ff. Überforderung 4, 201 ff., 229 ff. Überlegungsgleichgewicht 97 ff. Ungewissheit 184 Universalisierung 35 ff., 117, 409 ff. Universalismus 23, 245 ff. Unparteilichkeit 413 ff. Unterlassen 5, 238 f. Utilitarismus 217 ff. Utilitarismus, negativer 236ff.
Rationalität 5 Realismus, ethischer 357ff., 382 Rechte, moralische 130 ff. Rechtsnormen 8, 53 ff. Regelkonsequenzialismus 212 ff. Relativismus 8 Relativismus, ethischer 397ff. Rolle 200 f.,340
Verallgemeinerungsprinzip, hypothetisches 154 ff. Verfahrensethik 84 ff. Vorrangigkeit (overridingness) 40
Sanktionen 11 f., 54 f., 323 ff. Satisficing 190 f. Schuld 171 f. Sekundärprinzipien 194 ff.
Wahrheit, moralische 357 ff. Werte, extrinsische 242 Werte, intrinsische 242 Werte, moralische 279 ff.
460
Werte, nicht-moralische 279 ff., 285 ff. Werttäuschung 392 Werturteile, axiologische 47 ff. Wertkonflikt 159 f.
Sachregister
Widerfahrnisse 15 Willensfreiheit 16 Wissen, moralisches 354 ff. Zwei-Ebenen-Theorie 221