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German Pages 363 [364] Year 2005
de Gruyter Studienbuch
Svend Andersen
Einführung in die Ethik 2., erweiterte Auflage
Unter Mitwirkung von Niels Grenkjaer, Kees van Kooten Niekerk, Troels N0rager, Lars Reuter Übersetzt aus dem Dänischen von Ingrid Oberborbeck
w DE
G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018425-7 Bibliografische Information Der Deutschen
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Thomas Müntzer G m b H , Bad Langensalza Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin
Zu Gedenken an Knud E. Logstrup
Vorwort Diese erweiterte Ausgabe der Einführung in die Ethik baut auf der 2003 erschienenen dritten Ausgabe des dänischen Buches auf. Die Erweiterungen verdankt es vier jetzigen und ehemaligen Kollegen der Fachgruppe für Ethik und Religionsphilosophie an der theologischen Fakultät der Universität Aarhus. Niels Gronkjaer schrieb die Abschnitte über Piaton und Augustin neu, Lars Reuter verfasste die Abschnitte über die Scholastik und Spinoza und gestaltete die Darstellung der neueren katholischen Moraltheologie neu. Troels Norager überarbeitete die Abschnitte über Freud und die Entwicklungspsychologie und fügte den neuen Abschnitt über die Ethik der kognitiven Semantik hinzu. Schließlich hat Kees van Kooten Niekerk die Darstellung der Soziobiologie überarbeitet und den Abschnitt über Maclntyre ergänzt. Alle vier haben außerdem das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert. Ihnen allen sei mein herzlicher Dank für die vorbildliche kollegiale Zusammenarbeit ausgesprochen. Trotz der Erweiterungen hat das Buch seine Identität bewahrt. Es ist nach wie vor kein Lehrbuch im engen Sinne einer „theologischen Ethik". Gerade in der Ethik kann es sich kein Theologe leisten, sich nur innerhalb der Grenzen seines eigenen Faches zu bewegen. Man muss sich vielmehr notwendigerweise auch mit der Moralphilosophie als theoretischem Ausdruck einer säkularen Ethik auseinandersetzen. Das Buch versucht deshalb, gleichermaßen in die theologische und philosophische Ethik einzuführen. Es wäre übrigens zu hoffen, dass der eine oder die andere Philosophin eine ähnliche Verpflichtung fühlt, sich über theologische Ethik als Vertreterin christlicher Moral informieren zu lassen. Der Ursprung des Textes im skandinavischen Raum wird sich kaum verleugnen lassen. Dies hat wohl unter anderem eine stärkere Einbeziehung angelsächsischer Literatur bewirkt, als das sonst in deutschen theologischen Lehrbüchern üblich ist. In dem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass ich mich bei Literaturangaben und Zitaten der angelsächsischen Vorgehensweise angeschlossen habe.
VIII
Vorwort
Beim Verfassen und Ubersetzen des Buches habe ich von vielen Seiten wertvolle Hilfe bekommen. Besonderer Dank gilt meiner Frau Ingrid Oberborbeck, die wieder maßgeblich an der Übersetzung mitgearbeitet hat. Und auch diesmal hat Herr Rolf Langfeldt, Bibliotheksleiter der theologischen Bibliothek der Universität Kiel, bei der Auffindung deutschsprachiger Literatur seine Hilfsbereitschaft gezeigt. Schließlich gilt den beteiligten Mitarbeitern des Verlages mein herzlicher Dank. Aarhus, im Mai 2005
Svend Andersen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Kapitel 1. Was ist Ethik?
VII 1
1.1 Ethik als kritische Reflexion 1.2 Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände 1.3 Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion 1.4 Ethik, Anthropologie und Metaphysik 1.5 Theologische und philosophische Ethik 1.6 Ethische Theorien in der Geschichte Literatur zu Kapitel 1
1 5 7 10 14 16 17
Kapitel 2. Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
19
2.1 Das „vor-ethische" Denken 2.2 Piaton 2.3 Aristoteles 2.4 Die Stoa (und Epikur) Literatur zu Kapitel 2
20 21 32 46 51
Kapitel 3- Biblische Ethik
52
3.1 3.2 33
Was ist biblische Ethik? Alttestamentliche Ethik Neutestamentliche Ethik 3-3.1 Die Ethik in der Verkündigung Jesu 3.3.2 Ethik bei Paulus 3.4 Zusammenfassend über biblische Ethik Literatur zu Kapitel 3
52 54 65 67 73 79 80
Kapitel 4. Die Ethik in der Synthese zwischen biblischem und griechischem Denken
81
4.1 Die „Hellenisierung" des Christentums 4.2 Ethische Themen der frühen Kirche 4.3 Die lex naturalis bei Thomas von Aquin Literatur zu Kapitel 4
82 84 89 101
X
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 5. Die Ethik Luthers
102
5.1 5.2 5.3 5.4
104 108 110
Gottesverhältnis und Ethik. Das Gesetz Gesetz und Evangelium Glaube und Werke Das weltliche Regiment und der politische Gebrauch des Gesetzes 5.5 Die lex naturalis 5.6 Das Problem des dritten Gebrauchs des Gesetzes 5.7 Die Unfreiheit des Willens 5.8 Die lex naturalis bei Melanchthon 5.9 Max Webers These über den Kapitalismus und die protestantische Ethik Literatur zu Kapitel 5
124 127
Kapitel 6. Ethik und Moderne
129
6.1 Zwei Motive der Renaissance (Pico und Machiavelli) 6.2 Vertragstheorien (Hobbes und Rousseau) 6.3 Vernunft und Gefühl (Spinoza) 6.4 Moralisches Gefühl (Hume) Literatur zu Kapitel 6
130 135 142 146 151
Kapitel 7. Die Ethik Kants
153
7.1 Die Vertragstheorie bei Kant 7.2 Kritik der praktischen Vernunft 7.3 Der kategorische Imperativ 7.4 Der Mensch als Zweck 7.5 Liebe und Achtung 7.6 Achtung und moralisches Gefühl 7.7 Ethik und Religion 7.8 Die Kritik Hegels an Kants Ethik Literatur zu Kapitel 7
155 157 159 162 164 166 168 170 172
Kapitel 8. Liberalismus und Utilitarismus
173
8.1 ökonomischer Liberalismus 8.2 Sozialethischer Liberalismus 8.3 Utilitarismus Literatur zu Kapitel 8
173 179 182 187
Kapitel 9- Subjektivität und Ethik
189
9.1
189 191 195
Schleiermacher 9.1.1 Philosophische Ethik 9.1.2 Theologische Ethik
112 115 118 120 121
Inhaltsverzeichnis
XI
9-2
Kierkegaard 9-2.1 „Allgemeine" Ethik 9-2.2 Suspension des Ethischen 9.2.3 Nächstenliebe Literatur zu Kapitel 9
201 202 207 209 215
Kapitel 10. Ethik-Kritik
216
10.1 Nietzsches Auseinandersetzung mit der Sklavenmoral 10.2 Freuds Psychoanalyse als Ethik-Kritik 10.3 Darwin und die moderne Soziobiologie 10.4 Die Herausforderung der Ethik-Kritik Literatur zu Kapitel 10
216 222 227 234 235
Kapitel 11. Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
237
11.1 Intuitionismus (Moore und Scheler) 11.2 Emotivismus (Ayer) 11.3 Theorien der ethischen Rationalität 11.3-1 Präskriptivismus (Hare) 11.3.2 Diskursethik (Habermas) 11.3-3 Theorie der Gerechtigkeit (Rawis) 11.4 Kritik der ethischen Rationalität 11.5 Ethik der Interdependenz Literatur zu Kapitel 11
237 241 243 243 247 251 254 264 274
Kapitel 12. Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
276
12.1 Ethik der Schöpfungsordnungen (Althaus) 12.2 Dialektisch-theologische Offenbarungsethik (Barth) 12.3 Dialektisch-theologische Ordnungsethik (Brunner) 12.4 Dänische Schöpfungsethik (Logstrup) 12.5 Protestantische Ethik in den USA 12.6 Katholische Moraltheologie 12.7 Neuere Tendenzen in der theologischen Ethik Literatur zu Kapitel 12
277 280 286 291 298 303 313 324
Kapitel 13. Abschließende Übersicht
327
13.1 Grundpositionen theologischer Ethik 13-2 Grundprobleme philosophischer Ethik 13-3 Theologische und philosophische Ethik Literatur zu Kapitel 13
327 330 338 342
Personenregister
343
Sachregister
345
Kapitel 1. Was ist Ethik? 1.1 Ethik als kritische Reflexion In diesem Kapitel wird der Versuch gemacht einzukreisen, was unter Ethik zu verstehen ist. Es bietet sich an, zu diesem Zweck vom Wort selbst auszugehen. Die Bezeichnung „Ethik" leitet sich her vom griechischen Adjektiv ethikos, das abgeleitet ist von ethos·, „gewöhnlicher Wohnort", „Gewohnheit", „Brauch". Als Name für eine philosophische Beschäftigung wird Ethik zuerst von Aristoteles (384-322) verwendet. Deshalb wollen wir von Aristoteles' Aussagen ausgehen und versuchen, auf diesem Hintergrund unsere eigene vorläufige Bestimmung des Begriffes zu finden. Über Sokrates sagt Aristoteles: (Er) behandelte ethische Fragen (ja ethika), nicht die Natur in ihrer Ganzheit; und bei den ethischen Fragen suchte er als erster nach dem Allgemeinen und nach Definitionen (Metaphysik; 987b, l). 1
Zwei Dinge sind hier wichtig: (i) Seine Beschäftigung mit Sitte und Brauch unterschied Sokrates von den frühen griechischen Denkern, den so genannten Natuiphilosophen (z.B. Thaies und Heraklit), deren primäres Thema die Natur in ihrer Ganzheit, also der Kosmos war; (ii) Sokrates begnügte sich nicht damit herauszufinden, was das Gute in jedem einzelnen Fall ist, sondern fragte nach dem Guten im Allgemeinen, indem er es reflektierend untersuchte. Über eben diesen Grundbegriff der Ethik, das Gute, sagt Aristoteles selbst, dass er in der politischen Wissenschaft zu behandeln sei. Und weiter: In der Auffassung der Begriffe Lobwürdigkeit und Gerechtigkeit ( ü kala kaJ ta dikaia) gibt es große Uneinigkeit. Manchmal werden sie als bloße Konventionen (nomo monoii) angesehen ohne reale Existenz in der Natur der
1
Zur Ait der Verweise auf Aristoteles' Werke siehe nächstes Kapitel S. 32.
2
Was ist Ethik? Dinge iphyset). Die gleiche Unsicherheit knüpft sich an den Begriff des Guten (tagatha), da es oft vorkommt, dass gute Dinge schlechte Konsequenzen haben (Nikomachische Ethik; 1094b, 14-18).
Man kann das, was Aristoteles hier sagt, auf folgende Weise umschreiben. Unter Ethos im Sinne von Gewohnheit soll das verstanden werden, was Menschen tun, weil es als das Richtige oder Gute angesehen wird. Jedoch kann Unsicherheit und Diskussion darüber entstehen, was das Richtige bzw. Gute ist. Und wenn eine solche Unsicherheit entsteht, erhebt sich eine Reihe fundamentaler Fragen: Ist das Gute mit der Beschaffenheit und Natur der Wirklichkeit selbst gegeben oder beruht es auf einem menschlichen Beschluss bzw. einer Vereinbarung? Es ist anscheinend diese grundlegende Unsicherheit über die menschliche Handlungsweise, die wiederum den Hintergrund für die Ethik als theoretisches, philosophisches Unternehmen bildet. Wir können nun von Aristoteles' Überlegungen her folgende vorläufige Bestimmung geben: Ethik ist eine kritische Reflexion über unsere Vorstellungen von der richtigen oder guten2 menschlichen Handlungsweise bzw. Lebensführung. Eine solche Reflexion liegt anscheinend besonders nahe, wenn nicht mehr selbstverständlich ist, was gut ist.3
Wenn Aristoteles recht hat in der Annahme, dass Ethik als kritische Reflexion besonders dann notwendig wird, wenn die Auffassung des-
Die Formulierung erweckt den Eindruck, als hätten „richtig" und „gut" immer dieselbe Bedeutung. Das kann auch der Fall sein, ist es jedoch nicht ohne weiteres. Wie wir sehen werden, ist „gut" ein sehr komplexer Begriff. Nur eine seiner Bedeutungen entspricht der von „richtig" und zwar etwa im Sinne von „mit einer ethischen Vorstellung übereinstimmend". Bei anderen Bedeutungen von „gut" ist gerade der Gegensatz zu „richtig" entscheidend. Es wird manchmal versucht, „Ethik" so zu definieren, dass der Begriff sich klar von „Moral" unterscheidet. Dafür gibt es keine sprachliche Grundlage, da das Wort „Moral" aus dem lateinischen mos stammt, das mit ethos der Bedeutung nach stark verwandt ist: Auch mos bedeutet „Gewohnheit", „Verhalten" u.a. (vgl. „O tempora, ο mores"). Die technische Bezeichnung philosophia moralis ist von M. Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) eingeführt worden. Ich gehe in diesem Buch davon aus, dass es keinen präzisen Unterschied gibt zwischen den Begriffen „Ethik" und „Moral".
Ethik als kritische Reflexion
3
sen, was gut und böse ist, nicht mehr zweifelsfrei feststeht, dann ist es für uns heute nahe liegend, den Begriff der Ethik in Zusammenhang mit der aktuellen Gesellschaftsdebatte über Ethik zu betrachten. Ethik wurde ja in diesen Jahren zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte, und zwar nicht nur in Europa, sondern mehr oder weniger in der ganzen Welt. Diese „Hochkonjunktur" verdankt die Ethik besonders der Entwicklung innerhalb der medizinischen Wissenschaft und der so genannten biomedizinischen Technologie. Es lässt sich feststellen, dass diese Diskussion genau die Fragen aufwirft, die Aristoteles nennt: Ist das Gute von Natur aus gegeben, oder beruht es auf menschlicher Annahme und Vereinbarung? Die Ethikdebatte ist Ausdruck dafür, dass wir durch die biomedizinische Entwicklung gezwungen werden, uns darauf zu besinnen, was gut und was nicht gut ist. Zunächst richtet sich dies auf konkrete Fragen über Gut und Böse. Sie können jedoch nicht zufrieden stellend beantwortet werden, wenn wir uns nicht auch darauf besinnen, was die Grundlage ist für die Aussage, etwas sei gut oder etwas anderes sei nicht gut oder böse bzw. falsch. Dafür, dass die biomedizinische Entwicklung für die ethischen Überlegungen die genannten Folgen hat, gibt es mehrere Gründe. Erstens bedeuten die neue wissenschaftliche Einsicht und die entsprechende Technologie neue Möglichkeiten menschlichen Handelns. Damit wird der Mensch vor Entscheidungen gestellt, für die die ethische Tradition (der „Brauch") keine Anweisungen enthält. Das mögen einige Beispiele veranschaulichen: An einer schwangeren 37-jährigen Frau wird eine Fruchtwasseroder Plazenta-Untersuchung vorgenommen. Sie zeigt eine Chromosomabweichung des Embryos, „Trisomie 21" oder auch „DownSyndrom" genannt. Nun stehen die Frau und der Vater vor der Wahl: Soll eine Abtreibung vorgenommen werden, oder setzen sie ein behindertes Kind in die Welt? Diese Art des präzisen Wissens um die Eigenschaften eines ungeborenen Kindes und die ethische Wahl, die dieses Wissen beinhaltet, waren einfach unbekannt für Menschen früherer Epochen. Eine andere Frau hat Probleme damit, Kinder zu bekommen: Es können in ihrem Körper Eier reifen, sie ist jedoch auf Grund einer Gebärmutterkrankheit nicht imstande, schwanger zu werden. Sie und
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Was ist Ethik?
ihr Mann wünschen sich jedoch ein Kind, dessen biologische Eltern sie sind. Sie unterziehen sich deshalb einer so genannten In-vitroFertilisation („Retortenbefruchtung")· Das befruchtete Ei wird in eine andere Frau eingepflanzt, die das Kind austrägt und es nach der Geburt den Eltern übergibt. Auch diese Handlung, eine so genannte Leihmutterschaft, die durch die biotechnologische Entwicklung möglich gemacht wurde, ist neu im Verhältnis zu Möglichkeiten früherer Zeiten. Sie wirft unter anderem eine rein rechtliche Fragestellung auf: Wer ist die Mutter des Kindes, die Frau, von der das Ei stammt, oder die Frau, die das Kind geboren hat? Der biologische Begriff der Mutterschaft ist hier aufgeteilt, indem man sowohl von einer genetischen als auch von einer gebärenden Mutter sprechen kann. - So viel zur Veranschaulichung dessen, was die medizinische Wissenschaft und die biotechnologische Entwicklung an neuen Formen menschlichen Handelns mit sich bringen. Diese Entwicklung und die Debatte, die ihr gefolgt ist, gibt uns zweitens ein klares Bild einiger entscheidender Merkmale einer modernen Gesellschaft wie der dänischen oder der deutschen. Unsere moderne Gesellschaft ist: -
-
säkularisiert: Christentum und Religion prägen nicht mehr wie in früheren Zeiten eine selbstverständliche, allgemein gültige, umfassende Lebensauffassung, die auch die Einstellung zu ethischen Fragen bestimmt; pluralistisch: Der frühere Platz des Christentums wird von einer Mannigfaltigkeit verschiedener Lebensauffassungen eingenommen, z.B. von diversen „Ismen" wie Humanismus, Sozialismus, Naturalismus, Materialismus, Atheismus. Als Folge gibt es verschiedene und oft einander widerstreitende Auffassungen davon, was ethisch gut und böse ist.
Es scheint jedoch nicht möglich, sich mit dem Pluralismus abzufinden. Viele Menschen reagieren unmittelbar auf die biomedizinische Entwicklung mit Aussagen wie: „Wir können diese Entwicklung nicht ungestört weiterlaufen lassen. Einige ihrer Möglichkeiten wollen wir nicht. Wir müssen Grenzen setzen für das, was zulässig ist!" Eine ähnliche Auffassung müssen Politiker in mehreren europäischen Ländern gehabt haben, als sie während der letzten Jahre verschiedene Formen
Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände
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von Ethikkommissionen eingerichtet haben. So wurde vom dänischen Parlament 1987 die Gründung eines „Ethischen Rates" beschlossen. Damit gaben die Politiker zu erkennen, dass die Nutzung der medizinischen Wissenschaft und der biotechnologischen Möglichkeiten durch politische und rechtliche Rahmen begrenzt werden sollte. Das heißt, man geht davon aus, dass es Grenzen für das Zulässige geben muss, die durch Gesetze bestimmt sind und die für alle Bürger gelten. Die biomedizinische Entwicklung zwingt uns sozusagen dazu, den Pluralismus in Frage zu stellen. Aber gibt es eine gemeinsame ethische Grundlage, von der aus wir uns orientieren können, wenn wir die technologische Entwicklung in einer säkularisierten Gesellschaft steuern wollen? Das ist eine der grundlegenden Fragen, um die es in der Gesellschaftsdebatte geht. Es wird somit deutlich, dass die konkrete und aktuelle Ethikdebatte eng mit ethischer Reflexion und Überlegung zusammenhängt. Das Gesagte gilt nicht nur für die Debatte über die biomedizinische Technologie. Die ethische Fragestellung ergibt sich genauso grundlegend, wenn Menschen mit verschiedenen moralischen Normen zusammenleben sollen. Wenn verschiedene Kulturen zusammentreffen, stoßen unterschiedliche Normen aufeinander. Auch die Debatte über Emigranten- und Flüchtlingspolitik ist deshalb eine Ethikdebatte. Die häufige Erwähnung von Ethik in den Medien darf natürlich nicht zu der Auffassung verleiten, dass Ethik in erster Linie ein öffentliches Anliegen sei, das mit den großen Problemen der Gesellschaft zusammenhängt. Ethik drängt sich auch in banaleren Zusammenhängen auf. Kann ich mir erlauben, mein Kind eine Stunde später als verabredet vom Kindergarten abzuholen? Habe ich eine Studentin verletzt, als ich mit ihr ihre Examensarbeit besprach?
1.2 Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände Wie die genannten Beispiele zeigen, kommen unsere Vorstellungen von der rechten Handlungsweise und von Gut und Böse oft in der Sprache zum Ausdruck. Das Ethische äußert sich in bewertenden Wendungen wie „Was du getan hast, war gut (großzügig, verwerflich,
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Was ist Ethik?
bösartig, rücksichtslos usw.)". Bewertende Sätze werden jedoch auch in anderen Zusammenhängen als in ethischen angewandt. Zum Beispiel können wir sagen: „Van Goghs Sonnenblumenbild ist ein gutes Gemälde". Normalerweise unterscheidet man zwischen solchen wertenden Sätzen oder Werturteilen auf der einen Seite und beschreibenden (deskriptiven) Sätzen auf der anderen. Ein beschreibender Satz könnte zum Beispiel lauten: „Van Goghs Sonnenblumenbild wurde im Jahre 1890 gemalt". Bei deskriptiven Sätzen spielt der Begriff Wahrheit eine entscheidende Rolle. So kann der Sinn des angeführten Satzes auf folgende Weise wiedergegeben werden: „Es ist wahr, dass van Goghs Bild ...". Mit deskriptiven Sätzen ist also normalerweise ein Wahrheitsanspruch verbunden. Das bedeutet jedoch, dass wir ihnen intersubjektive Gültigkeit zuerkennen. Ein Satz, der wahr ist, ist nicht nur wahr für mich, sondern wenn er wahr ist, ist er wahr für alle.4 Es liegt nahe, den Unterschied zwischen deskriptiven und wertenden Sätzen so zu bestimmen, dass mit den Letztgenannten kein Wahrheitsanspruch verbunden ist. Die Frage ist dann, ob bei wertenden Sätzen von einer anderen Form der intersubjektiven Gültigkeit gesprochen werden kann. Davon gehen wir offenbar bei ethisch bewertenden Sätzen aus. Wenn wir sagen: „Er benahm sich verwerflich", setzen wir durch den Sprachgebrauch voraus, dass wir in unserer Beurteilung Recht haben. In der sprachlichen Äußerung der Bewertung liegt auch die Möglichkeit, dass wir, falls wir uns irren, darüber belehrt werden können, worin unser Fehler besteht. Über diese Fragen herrscht allerdings in der ethischen Theorie keine Einigkeit. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die ethische Beurteilung die Form „X ist gut/böse" hat. Es können dann an der Stelle des „X" verschiedene sprachliche Ausdrücke eingesetzt werden. Damit zeigt sich, dass wir verschiedene Dinge zum Gegenstand ethischer Bewertung machen können. Die wichtigsten können schematisch auf folgende Weise dargestellt werden:
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Man kann allerdings oft die Wendung hören „Das ist für mich wahr". Hier wird entweder das Wort „wahr" in einer sich selbst widersprechenden Weise benutzt, oder es wird in einem anderen Sinn verwendet als in dem mit den deskriptiven Sätzen verknüpften.
Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion
Formulierung der ethischen Bewertung
Gegenstand der Bewertung
„Einen anderen Menschen zu töten ist böse." „Der Diktator des Balkans ist böse. „Hilfsbereitschaft ist gut." „Die Ehe ist gut."
Handlung Person Eigenschaft Institution
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1.3 Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion Es scheint so zu sein, dass wir ethische Bewertungen auf der Grundlage von Normen vornehmen, d.h. Regeln des Typus „Du sollst immer die Wahrheit sagen". Welchen Status haben solche Normen? Woher stammen sie? Was ist die Grundlage ihrer Gültigkeit7 Hier stoßen wir wieder an Aristoteles' Frage, ob das Gute nomo oder physei bestimmt ist: Sind die ethischen Normen durch die Wirklichkeit selbst gegeben - eine im Voraus bestehende Bedingung menschlichen Lebens oder haben Menschen sie zu einem Zeitpunkt beschlossen, so dass sie immer wieder geändert werden können? Kurz gesagt: Worauf gründen sich unsere ethischen Bewertungen? Der Anlass für diese Fragen, nämlich unsere Unterscheidung zwischen deskriptiven und bewertenden Sätzen, ist ein guter Ausgangspunkt, um einige gängige Unterscheidungen zwischen verschiedenen Formen ethischer Reflexion vorzustellen: Deskriptive Ethik beschreibt, nach welchen Normen eine gegebene Gruppe von Menschen de facto lebt oder sich orientiert. Als Beispiel kann genannt werden: „Mitglieder der katholischen Kirche betrachten Abtreibung nach pränataler Diagnostik als falsch". Man kann auch von deskriptiver Ethik reden, wenn Sozialwissenschaftler die moralische Einstellung größerer Bevölkerungsgruppen durch Umfragen u.ä. untersuchen. Metaethik ist eine Form ethischer Reflexion, die wie die deskriptive Ethik keine Stellung bezieht. Sie umfasst die Analyse der grundlegenden Begriffe, die in ethische Bewertungen eingehen, wie „gut", „sollte", „Norm" usw. Eine andere Hauptfrage der Metaethik betrifft die Möglichkeit der vernünftigen Begründung ethischer Urteile. Die letztere Fragestellung soll etwas näher erläutert werden. Wenn man Ethik grundsätzlich als Handeln auf Grund von Normen betrachtet, kann
Was ist Ethik?
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man sagen, die Begründung der Richtigkeit einer Handlung bestehe im Verweis auf die befolgte Norm, etwa die schon genannte „Man soll immer die Wahrheit sagen". Fragt man weiter nach der Begründung der Norm, kann man auf eine höhere, d.h. allgemeinere Norm verweisen und letzten Endes auf ein ethisches Prinzip. So ließe sich die genannte Norm dadurch begründen, dass sie unter das Prinzip „Man soll keinem anderen Menschen Schaden zufügen" eingeordnet werden kann. Diesem Gedankengang folgend kann man das ethische Begründen folgendermaßen schematisch darstellen: Man darf keinem anderen Menschen Schaden zufügen. Lügen ist ein Zufügen von Schaden. Man soll immer die Wahrheit sagen. Wenn ich NN ρ sage, lüge ich. Ich darf NN nicht ρ sagen.5 Deontische Logik (von to deon - Pflicht, Schuldigkeit) ist eine Untersuchung der logischen Beziehungen, die zwischen ethischen Sätzen bestehen können. Sie ist im Grunde eine tiefer greifende Untersuchung besonderer Fragen der Metaethik. Man kann z.B. die Norm „Man soll immer die Wahrheit sagen" logisch so analysieren, dass ein „normativer Operator" es ist geboten (O: obligatorisch) mit dem Satz dass alle die Wahrheit sagen verbunden wird. Er lässt sich daher formalisiert als
Die angeführte praktische Begründung hat anscheinend dieselbe Struktur wie die in den Naturwissenschaften übliche. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Alle materiellen Körper weiten sich bei Erwärmen aus. Die Bretter des Fußbodens sind erwärmt worden. Die Bretter des Fußbodens haben sich ausgeweitet. Da eine solche Begründung eine vernünftige Tätigkeit ist, scheint die aufgezeigte Parallelität das Vorliegen sowohl einer theoretischen wie einer praktischen Vernunft zu bezeugen. - Ich habe das Vorhergehende hypothetisch formuliert, weil es eine der Fragen der Metaethik ist, ob Begründungen ethischer Urteile tatsächlich diese Struktur haben, ja ob sie sich überhaupt rational begründen lassen. Zu den Fragen der Metaethik siehe im Übrigen Frankena 1973, Kapitel 6.
Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion
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„O(A)" wiedergeben. Der Satz „alle sagen die Wahrheit" lässt sich anhand der so genannten Prädikatenlogik weiter analysieren und formalisieren: x(Fx) („für alle χ gilt: χ sagt die Wahrheit"). Die Struktur der Norm „Man soll immer die Wahrheit sagen" lässt sich also so darstellen: xO(Ax). Auf der Grundlage einer solchen Formalisierung können dann logische Beziehungen zwischen normativen Sätzen untersucht werden.6 Normative Ethik ist im Unterschied zu den beiden vorhergehenden eine Form der ethischen Überlegung, die eine Stellungnahme beinhaltet, etwa in Gestalt einer Verteidigung oder eines Abweisens von bestimmten Normen. Zum Beispiel kann folgende Überlegung normativ genannt werden: „Es ist verwerflich, nach einer pränatalen Diagnostik abzutreiben, denn es ist eine Übertretung der fundamentalen Norm, dass man einen anderen Menschen nicht töten darf'. Eine Position der normativen Ethik kann sich jedoch letzten Endes nicht mit der Behauptung von Normen begnügen, sondern muss auch darlegen, worin die Gültigkeit dieser Normen begründet ist. Wenn sie diesen umfassenden Charakter hat, kann man die normative Ethik eine ethische Theorie nennen. Prinzipielle Ethik ist - wie der Ausdruck schon sagt - eine Überlegung über das Grundlegende, Fundamentale in der Ethik. Es ist beispielsweise eine prinzipielle ethische Frage, ob alle Normen auf eine einzige Grundnorm bzw. ein Prinzip zurückgeführt werden können. Eine solche Grundnorm könnte das Gebot der Nächstenliebe oder die so genannte Goldene Regel sein („Was du wünschst, dass andere dir tun, das tue du auch anderen"). Eine weitere prinzipiell-ethische Frage ist, ob die Goldene Regel als Norm denselben Sinn hat wie das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Materialethik hingegen ist eine Untersuchung konkreter ethischer Fragen. Als Beispiel können wir das bereits Genannte anfuhren: pränatale Diagnostik mit nachfolgender Abtreibung. Die Materialethik wird oft in verschiedene Bereiche unterteilt, wie etwa medizinische Näheres zur deontischen Logik findet sich z.B. in Kutschera 1973· Neben dem normativen Operator „O" rechnet Kutschera mit „V" (es ist verboten, ...) und JE" (es ist erlaubt, ...).
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Was ist Ethik?
Ethik (bzw. Bioethik), Sexualethik, Arbeitsethik, Wirtschaftsethik, politische Ethik usw. Ein moderner Ausläufer der Materialethik wird im Englischen „applied ethics" genannt. Neue Bereiche innerhalb dieser „angewandten Ethik" sind „business ethics" und „computer ethics". Eine materialethische Untersuchung muss nicht notwendigerweise normativ sein. Man kann sehr wohl untersuchen, welche grundlegenden ethischen Begriffe mit einem konkreten Problem verbunden sind bzw. welche grundlegenden Normen sich auf ein konkretes Problem beziehen lassen, ohne eine ethische Bewertung vorzunehmen. Individualethik beschäftigt sich mit ethischen Fragen, die sich für den einzelnen Menschen erheben: Was sollte ich in dieser oder jener Situation tun? Was ist für mich die rechte Art und Weise, mein Leben zu führen? Die individualethischen Fragen sind primär an die nahen Beziehungen zwischen Menschen im Bereich der Familie und der Freundschaft gebunden. Jedoch können sie auch im Verhältnis zu „Professionellen" (Sozialarbeitern, Therapeuten, Ärzten, Pastoren) entstehen. Sozialethik beschäftigt sich hingegen mit ethischen Fragen, die sich zwischen Menschen innerhalb größerer Gemeinschaften ergeben. Um wieder eines der aktuellen Beispiele zu nennen: Wie sollte sich die Gesellschaft gegenüber Immigranten verhalten? Diese Frage kann natürlich nicht vollständig getrennt werden von der Frage: „Wie sollte ich mich gegenüber Immigranten verhalten?" Sie ist jedoch eine andere Frage, übrigens eine materialethische. Die Sozialethik beinhaltet jedoch auch prinzipiell-ethische Probleme wie z.B. das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und individueller Freiheit.
1.4 Ethik, Anthropologie und Metaphysik Zu den von der aktuellen Debatte hervorgerufenen Fragen gehört diejenige, ob das Gebiet der Ethik mit den Problemen der verschiedenen menschlichen Lebensbereiche ausgeschöpft ist. Hat Ethik nur mit Gut und Böse im Verhältnis zwischen Menschen untereinander zu tun? Oder haben wir Menschen auch ein ethisches Verhältnis zu anderen Lebewesen oder Dingen? Zum Beispiel zu Tieren und überhaupt zur nicht-menschlichen Natur, hierunter zu unserer Umwelt?
Ethik, Anthropologie und Metaphysik
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Die Frage, inwieweit wir Menschen ein ethisches Verhältnis zur übrigen Natur haben, wirft eine noch grundlegendere Frage auf: Was für ein Wesen ist der Mensch eigentlich? Was unterscheidet uns z.B. von den (übrigen) höheren Tieren? Die traditionelle europäische Ethik kann anthropozentrisch (Menschen-zentriert) genannt werden, indem sie in der Regel den Gedanken enthält, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt zwischen dem Menschen und der übrigen Natur. In dieser scharfen Unterscheidung liegt eine bestimmte Auffassung des Menschen, eine bestimmte Anthropologie oder ein bestimmtes Menschenbild. Eine ethische Auffassung wird letzten Endes immer zusammenhängen mit oder begründet sein in einer bestimmten Auffassung dessen, was und wer der Mensch ist. Dass es sich so verhält, sehen wir, wenn wir für einen Augenblick zurückkehren zu der Frage danach, welches der Gegenstand der ethischen Beurteilung ist. Unter diesen Gegenständen fanden wir sowohl Handlungen als auch Personen. Bei näherer Überlegung wird deutlich, dass es einen engen Zusammenhang zwischen genau diesen beiden Begriffen gibt. Eine Handlung hat ein Subjekt und dieses Subjekt - der Handelnde oder Agierende - ist eine Person. Es knüpfen sich bestimmte andere Begriffe an den Begriff des Handlungssubjektes. Auf diese Begriffe werden wir später eingehen, sie seien jedoch schon hier kurz genannt. Die Ausführung einer Handlung kann eine physische Bewegung beinhalten, aber dies ist noch nicht hinreichend, um von einer Handlung zu reden. Wenn eine Person z.B. auf einer Brücke den Halt verliert und ins Wasser stürzt, liegt nicht eine Handlung vor, sondern „nur" ein Ereignis oder eine Begebenheit. Springt die Person hingegen hinunter, um sich das Leben zu nehmen, ist von einer Handlung die Rede. Der Unterschied besteht darin, dass im letzteren Fall bei der Person eine Intention vorliegt, d.h. eine Art von Absicht oder Vorsatz. Es ist somit die Intention der Person, welche den Unterschied ausmacht, ob ein Unfall passiert (Ereignis) oder ob jemand einen Selbstmordversuch unternimmt (Handlung). An eine Handlung knüpft sich außerdem eine Motivation. Das kennen wir aus der rechtlichen Terminologie und aus dem Kriminalfilm: Die Polizei und das Gericht versuchen herauszufinden, was das Motiv für ein Verbrechen war. Die Angabe des Motivs ist die Antwort
Was ist Ethik?
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auf die Frage: „ Warum hat NN dieses und jenes getan?" Es ist wichtig, dieses „Warum" des Motivs zu unterscheiden von dem, was man das „Warum" der Ursache bzw. der Kausalerklärung nennen könnte. Auf die Frage „Warum hat NN versucht, Selbstmord zu begehen?" kann man antworten: „Er war zutiefst deprimiert und hatte den ganzen Tag ununterbrochen getrunken". Damit gebe ich eine kausale Erklärung, im Prinzip in gleicher Weise, wie wenn ich das Tropfen eines Wasserhahns mit einer verschlissenen Dichtung erkläre. Wenn ich jedoch einen Vorgang ausschließlich kausal erkläre, betrachte ich ihn nicht als eine Handlung, sondern eher als Verhalten. Die Motivation für den Selbstmordversuch könnte hingegen sein, dass NN die Diagnose „unheilbar krank" gestellt worden ist und dass er nicht wünscht, ein schmerzerfülltes Leben zu leben. Wie dieses Beispiel zeigt, kann die Motivation einen sehr verschiedenen Charakter haben. Sie kann rein gefühlsmäßig (emotional) sein, kann aber auch auf einer vernünftigen Überlegung beruhen, also rational sein. Ein weiterer Begriff, der in den Zusammenhang mit Handlung gehört, ist Konsequenz. Die Konsequenzen einer Handlung sind die Folgen, die sich aus ihr ergeben. In diesem Zusammenhang kann man sehr wohl den Begriff der Ursache anwenden und sagen, dass Konsequenzen die Begebenheiten sind, deren Ursache eine Handlung ist. Die Konsequenzen davon, dass NN Selbstmord verübte, können z.B. sein, dass seinen Verwandten und Freunden eine große Sorge zugefügt wird. Ist eine Konsequenz intendiert, kann man sie Ziel der Handlung nennen. Die Begriffe, die sich an das Phänomen Handlung knüpfen, können schematisch auf folgende Weise veranschaulicht werden: Intention Subjekt
Handlung —> Konsequenz
Motiv Es wird sich später zeigen, dass es hinsichtlich der Grundlagen der Ethik eine wichtige Trennlinie gibt zwischen Theorien, die entscheidendes Gewicht auf die Motivation einer Person und auf die Handlung selbst legen, und Theorien, die die Wichtigkeit der Konsequenzen der Handlung betonen.
Ethik, Anthropologie und Metaphysik
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Der Unterschied zwischen Ereignis und Handlung zeigt, dass wir die Handlungen anderer durch eine Form der Deutung auffassen. Diese richtet sich gegen die Intention der Person und ermöglicht eine Handlungsbeschreibung, d.h. eine Antwort auf die Frage „Was tut NN?'. In die Deutung kann auch ein Erkennen der Motivation des Handelnden gehören, also eine Antwort auf die Frage „ Warum tut NN das?". Deutung und Handlungsbeschreibung sind natürlich die Voraussetzung dafür, dass wir eine ethische Bewertung vornehmen können. Diese versucht, die Frage zu beantworten: „Ist NN's Handlung das richtige, das zu tun ist?" Wenn wir die letztgenannte Frage negativ beantworten, können wir einer Person Vorwürfe machen über das, was sie getan hat. Wir sagen dann, dass wir die Person zur Rechenschaft oder Verantwortung ziehen. Doch scheint das vorauszusetzen, dass das Subjekt der Handlung eine Person mit freiem Willen ist. Hätte es denn Sinn, eine Person zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie keine freie Entscheidung hatte bzw. keine Möglichkeit, anders zu handeln? Wir stehen hier vor einem der klassischen Probleme innerhalb der Anthropologie, sowohl der theologischen als auch der philosophischen. Traditionell unterscheidet man zwischen zwei widerstreitenden Auffassungen: dem Determinismus, der die Unfreiheit oder Vorausbestimmtheit oder Gebundenheit des Willens behauptet, und dem Indeterminismus, der dagegen die Freiheit des Willens verficht. Dieses Problem soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vorläufig soll es nur anschaulich machen, wie unlöslich eine ethische Grundposition verknüpft ist mit einer anthropologischen Auffassung oder einem Menschenbild. Das Problem vom Menschenbild der Ethik kann formuliert werden in der Frage, ob wir, wenn wir ethisch handeln, in Wirklichkeit die Menschen sind, die wir zu sein glauben. Wir glauben, dass wir freie, verantwortliche Subjekte sind. Der Determinismus behauptet, dass wir in Wirklichkeit nicht frei und verantwortlich sind, dass wir also einer Illusion unterliegen. Für diesen Gedankengang können verschiedene Ausformungen gefunden werden. Er kann psychologisch begründet werden: Was du als verantwortliches Liebesverhältnis zu einem anderen Menschen ansiehst, ist in Wirklichkeit eine Auswirkung deiner kindlichen Abhängigkeit von Vater und Mutter. Oder er kann biologisch begründet werden: Was du als eine verantwortliche
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Was ist Ethik?
Handlung der Nächstenliebe interpretierst, ist in Wirklichkeit eine Folge einer biologisch-genetischen Gesetzmäßigkeit. Auf diese beiden Gedankengänge gehen wir im Kapitel 10 näher ein. Die letztgenannten Überlegungen zeigen, wie die ethische Menschenauffassung in ein umfassenderes Verständnis der Wirklichkeit eingeht. Man kann hier von einer Deutung der Wirklichkeit reden oder auch den traditionellen Ausdruck Metaphysik gebrauchen. „Metaphysik" ist die Bezeichnung für die philosophische Untersuchung der grundlegendsten Begriffe und Zusammenhänge, die die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit prägen. Wenn ich beispielsweise behaupte, dass der Mensch einen freien Willen hat, habe ich damit gesagt, dass nicht alles in der Natur - von der der Mensch ein Teil ist - einer strengen gesetzmäßigen Vorherbestimmung unterworfen ist. Und wenn ich umgekehrt behaupte, dass alles, was wirklich ist, aus Stoff oder Materie besteht, habe ich damit gesagt, dass der Mensch keine immaterielle Seele haben kann. Beide Behauptungen sind metaphysische Aussagen. Und letztlich gibt es keine ethische Theorie ohne metaphysische Voraussetzungen.
1.5 Theologische und philosophische Ethik Der Zusammenhang zwischen ethischer Grundauffassung, Anthropologie und Metaphysik leitet über zur Frage, was der Unterschied zwischen theologischer und philosophischer Ethik ist. Auf beide können wir unsere Beschreibung der Ethik als kritische Reflexion über die Vorstellungen von Gut und Böse anwenden. Und sowohl in der Theologie als auch in der Philosophie finden wir die verschiedenen Formen der kritischen Reflexion, die wir erwähnt haben (normative, deskriptive, prinzipielle Ethik usw.). Aber natürlich gibt es einen Unterschied zwischen den Reflexionen der theologischen und der philosophischen Ethik. Es wird die Meinung vertreten, der wesentlichste Unterschied bestehe darin, dass die theologische Ethik von einer im Voraus gegebenen Auffassung vom rechten menschlichen Handeln ausgehe, nämlich derjenigen, die in der Bibel, in kirchlichen Bekenntnissen oder anderen autoritativen Dokumenten enthalten ist. Diese Sichtweise geht, anders formuliert, davon aus, dass die Theologie von vornherein da-
Theologische und philosophische Ethik
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ran gebunden ist, eine bestimmte normative Ethik zu verfechten. Das ist jedoch bestenfalls eine Vereinfachung. Diese Sichtweise setzt ja unter anderem voraus, dass feststeht, welche Auffassung vom rechten Handeln verfochten werden soll. Demgegenüber kann behauptet werden, dass es für die Reflexion der theologischen Ethik ein bestimmtes Hauptthema gibt. Wir können es auf folgende Weise formulieren: Theologische Ethik ist die kritische Reflexion über diejenige Auffassung vom rechten menschlichen Handeln, die dem christlichen Glauben innewohnt.
Im Unterschied dazu ist philosophische Ethik nicht durch eine solche vorgegebene Aufgabe gebunden. Sie ist in ihrer Kritik prinzipiell radikaler, als es die Theologie sein kann. Letzten Endes kann in der Philosophie gar nicht vorausgesetzt werden, dass es Sinn macht, zwischen richtigem und falschem menschlichen Handeln zu unterscheiden. Wir können deshalb versuchsweise ihre grundlegende Aufgabe folgendermaßen formulieren: Philosophische Ethik ist eine kritische Reflexion über die Frage, ob es Sinn macht, eine allgemeinmenschliche (etwa vernunftbegründete) Unterscheidung zu treffen zwischen guter bzw. richtiger und böser bzw. falscher menschlicher Handlungsweise - und darüber, worin diese Unterscheidung gegebenenfalls begründet ist.
Trotz dieses Unterschiedes ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die theologische Ethik die philosophische berücksichtigen muss. Die philosophische Reflexion stellt diejenige Grundlage der Ethik, welche das Thema der Theologie ist, in Frage. Die Philosophie spiegelt damit die Tatsache wider, dass wir in einer Kultur leben, in der auch nichtreligiöse und antireligiöse Deutungen der Wirklichkeit und des Menschenlebens möglich sind. Es gehört zur Aufgabe der Theologie, diese Herausforderung anzunehmen und zu fragen, ob eine Begründung der Ethik aus dem christlichen Glauben heraus vereinbar ist mit der kritischen Analyse der Philosophie. Als theologische Disziplin stellt die Ethik- zusammen mit der Religionsphilosophie - einen Teil der Systematischen Theologie dar. Ihr drittes Fach ist die Dogmatik, die Untersuchung der christlichen Glaubenslehre. Es ist selbstverständlich, dass die theologische Ethik
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Was ist Ethik?
nicht vollkommen von der Dogmatik getrennt werden kann. Wenn die theologische Ethik das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und menschlichem Handeln untersucht, dann muss sie sich einen Begriff davon machen, was christlicher Glaube ist. Es ist die Aufgabe der Dogmatik, einen solchen Begriff herzustellen. Die Unterscheidung zwischen Ethik und Dogmatik ist also Ausdruck einer theologischen Arbeitsteilung.7
1.6 Ethische Theorien in der Geschichte Dieses Buch ist sowohl eine Einführung in theologische als auch in philosophische Ethik. Wie schon angedeutet, gehören diese beiden Formen der ethischen Reflexion untrennbar zusammen - jedenfalls vom theologischen Gesichtspunkt aus gesehen. Dass es sich so verhält, wird deutlich, wenn man sich mit ethischen Theorien von einem historischen Blickwinkel aus beschäftigt. Die Darstellung ist deshalb historisch aufgebaut. Das darf nicht als Ausdruck der Meinung verstanden werden, man könne Begriffe, Theorien und Zusammenhänge nur von ihren historischen Voraussetzungen her verstehen. Es wäre dogmatisch anzunehmen, dass unser Verständnis und unser Denken vollständig bestimmt sind von der Tradition, in der wir stehen. Auf der anderen Seite kann sich die ethische Reflexion nicht damit begnügen, Analyse von Begriffen und Argumentationsformen zu sein. Für die Theologie ist das unmöglich, da der christliche Glaube einen historischen Ausgangspunkt hat. Im dänischen Zusammenhang ist die Frage nach den Konsequenzen des christlichen Glaubens für das menschliche Handeln geschichtlich auf konkrete Weise definiert, da wir in einem Land leben, das mehr als 450 Jahre hindurch von einem evangelisch-lutherischen Verständnis des Christentums geprägt wurde. Darauf muss die theologische Ethik natürlich Rücksicht nehmen. Diese Tatsache ist für die Auswahl des in den folgenden Kapiteln dargestellten Stoffes mitbe-
Die Bemerkungen zur Einordnung der Ethik innerhalb der Systematischen Theologie sind Ausdruck der in Dänemark und den übrigen skandinavischen Ländern üblichen Einteilung.
Literatur zu Kapitel 1
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stimmend gewesen. Die Auswahl will zum Nachdenken anregen über die Frage: Kann auf lutherischer Grundlage eine Ethik formuliert werden, die sich auf dem Niveau der Bedingungen für das Denken am Anfang des 21. Jahrhunderts befindet' Literatur zu Kapitel 1 Die Literaturangaben am Ende der einzelnen Kapitel enthalten normalerweise die im jeweiligen Kapitel erwähnten Werke neben Vorschlägen zur weiteren Lektüre. Dieses erste Literaturverzeichnis umfasst jedoch allgemeine Werke zur Ethik, und zwar sowohl der theologischen als auch der philosophischen. Es kann daher vorkommen, dass hier auftretende Werke auch in späteren Kapiteln erwähnt werden. Handbücher Herz, Α., Korff, W., Rendtorff, T., Ringeling, H. (Hrsg.) (1993): Handbuch der christlichen Ethik. Aktualisierte Neuausgabe. Freiburg, Basel, Wien. Rotter, H., Virt, G. (Hrsg.) (1990): Neues Lexikon der christlichen Moral. Innsbruck, Wien. Singer, P. (Hrsg.) (1993): A Companion to Ethics. Oxford. Geschichtliche Darstellungen Arrington, R.L. (1998): Western Ethics. An Historical Introduction. Oxford. Maclntyre, A. (1967): A Short History of Ethics. London. Maclntyre, A. (1984): Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert. 3- Aufl. 1995. Meisenheim. Moeller, B. (1987): Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen. Pförtner, St.H. (1988): Ethik in der europäischen Geschichte. Bände I-II. Stuttgart. Röhls, J. (1999): Geschichte der Ethik. 2. Aufl. Tübingen. Textsammlungen Birnbacher, D., Hoerster, N. (Hrsg.) (1976): Texte zur Ethik. München. Gill, R. (1985): A Textbook of Christian Ethics. Edinburgh. Darstellungen der theologischen Ethik Frey, C., Dabrock, P., Knauf, S. (1996): Repetitorium der Ethik für Studierende der Theologie. 2. Aufl. Waltrop. Furger, F. (1985): Ethik der Lebensbereiche. Freiburg, Basel, Wien. Furger, F. (1988): Einführung in die Moraltheologie. Darmstadt. Gustafson, J. (1979): Protestant and Roman Catholic Ethics. London.
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Was ist Ethik?
Gustafson, J. (1981): Ethics from a Theocentric Perspective. Volume I: Theology and Ethics. Oxford. Gustafson, J. (1984): Ethics from a Theocentric Perspective. Volume II: Ethics and Theology. London. Hauerwas, S. (1983): The Peaceable Kingdom. A Primer in Christian Ethics. London. Honecker, M. (1990): Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe. Berlin, New York. Honecker, M. (1995): Grundriß der Sozialethik. Berlin, New York. L0gstrup, K.E. (1989): Die ethische Forderung. 3- unveränderte Aufl. Tübingen. O'Donovan, O. (1986): Resurrection and moral order. An outline for evangelical ethics. Leicester. Rendtorff, Τ. (1980): Ethik. Band I: Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie. Stuttgart. Soe, N.H. (1957): Christliche Ethik. Ein Lehrbuch. Zweite, bearbeitete Auflage. München. Thielicke, H.: Theologische Ethik. Bände I-III. Tübingen 1951-1958. Ulrich, G. (Hrsg.) (1990): Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben. München. Wils, J.-P., Mieth, D. (1992): Grundbegriffe der christlichen Ethik. Paderborn, München, Wien, Zürich. Darstellungen der philosophischen Ethik Apel, K.-0., Böhler, D., Berlich, Α., Plumpe, G. (Hrsg.) (1980): Funk-Kolleg Praktische Philosophie/Ethik. Band 1-2. Frankfurt/M. Baron, M.W., Pettet, P., Slote, M. (1997): Three Methods of Ethics: A Debate. Oxford. Fehige, C., Meggle, G. (Hrsg.) (1995): Zum moralischen Denken. Band 1-2. Frankfurt/M. Frankena, W. (1973): Ethics. 2nd edition. Englewood Cliffs, N.J. Frankena, W. (1972): Analytische Ethik. Eine Einführung. München. Kutschern, F. von (1973): Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen. Freiburg, München. Logstrup, K.E. (1972): Norm und Spontaneität. Ethik und Politik zwischen Technik und Dilettantokratie. Tübingen. Pieper, A. (1994): Einführung in die Ethik. Dritte, überarbeitete Auflage. Tübingen, Basel. Rachels, J. (1986): The Elements of Moral Philosophy. Philadelphia. Spaemann, R. (1986): Moralische Grundbegriffe. München.
Kapitel 2. Die Ethik im klassisch-griechischen Denken Oft wird die Behauptung aufgestellt, dass die europäische Kultur und Gedankenwelt ihre wichtigsten Quellen an zwei Orten hat, nämlich in den biblischen Schriften (und dem Christentum, welches daraus hervorging) sowie im klassischen griechischen Denken. Zumindest in der Theologie gibt es verschiedene Auffassungen davon, wie diese beiden Denktraditionen sich zueinander verhalten. Einmal werden sie als absolute Gegensätze, ein anderes Mal sowohl als übereinstimmend als auch verschieden voneinander betrachtet. Zweifellos hat jedoch auch das neuere und neueste Nachdenken über ethische Probleme in hohem Maße seine Voraussetzungen sowohl im klassisch-griechischen als auch im biblischen Denken. Wenn man die ethischen Problemstellungen der heutigen Zeit verstehen will, ist es deshalb notwendig, sich mit den Grundzügen der Ethik im klassisch-griechischen Denken und der biblischen Ethik vertraut zu machen. In diesem und dem folgenden Kapitel soll versucht werden, die Voraussetzungen dafür zu geben. „Klassisch-griechisches Denken" ist ein weiter Begriff. Erstens deckt „klassisch" einen sehr langen Zeitraum ab. Man betrachtet normalerweise Thaies (ca. 640-545 v. Chr.) als den ersten griechischen Philosophen; und man kann mit einem gewissen Recht sagen, dass klassische griechische Philosophie andauert bis hin zu den späten Stoikern, die bis etwa 200 n.Chr. gewirkt haben. Das ergibt einen Zeitraum von etwa 850 Jahren! Zweitens ist es unklar, was unter „Denken" zu verstehen ist. Es kann sich sowohl auf die eigentliche Philosophie als auch auf Literatur wie Homers epische Dichtung und die Dramen von Aischylos, Euripides und Sophokles beziehen. Gerade die Letztgenannten behandeln ja ausdrücklich ethische Probleme. Im klassisch-griechischen Denken finden wir sehr verschiedene Formen ethischer Reflexion. Im Folgenden nehme ich eine Begrenzung vor, indem ich mich überwiegend mit der ethischen Reflexion innerhalb der griechischen Philosophie beschäftige. Eine weitere Be-
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
grenzung liegt darin, dass ich mich auf die großen Gestalten der griechischen Philosophie konzentriere, nämlich Piaton und Aristoteles, mit klarem Hauptgewicht auf dem Letztgenannten. Daneben gibt es jedoch eine weitere Form von antiker Philosophie, die auf die spätere ethische Reflexion entscheidenden Einfluss gehabt hat, nämlich die Stoa. Auch auf sie müssen wir deshalb näher eingehen.
2.1 Das „ vor-ethische" Denken Wie schon erwähnt kommen unsere ethischen Urteile in der Sprache zum Ausdruck. Generell gilt, dass wir nicht über ethische Problemstellungen nachdenken können, ohne auf die eine oder andere Weise die Sprache als Ausgangspunkt zu nehmen. Hier stoßen wir jedoch auf Probleme. Erstens auf das allgemein bekannte, dass Wörter in einer Sprache (wie Altgriechisch) selten, wenn überhaupt, genau den Wörtern einer anderen Sprache entsprechen. Wir können also streng genommen niemals sicher sein, wie ethische Schlüsselbegriffe wie agathos oder arete zu übersetzen sind. Allein aus diesem Grunde sind die klassischen philosophischen Texte wie auch alle anderen klassischen Texte Gegenstand ständiger Neudeutung.1 Und zweitens kommt hinzu, dass die ethischen Ausdrücke wie „gut" oder „Tugend" auch eine nicht-ethische oder vor-ethische Bedeutung haben. Das gilt auch für die beiden griechischen Wörter, die wir auf diese Weise übersetzen. Ursprünglich scheinen sie keine spezifisch ethische Bedeutung zu haben. Agathos, „gut" kann ja ganz einfach so etwas wie „gut funktionierend" bedeuten. Und die Bedeutung von arete entspricht ursprünglich etwa der von „Tüchtigkeit". Das lässt sich z.B. bei Homer sehen. Der „gute" und „tugendhafte" Mann ist der erfolgreiche und starke Adlige und Krieger; der Kraftvol-
Es ist deshalb letzten Endes äußerst problematisch, mit Größen wie „die Philosophie Platons", „die Ethik des Aristoteles" usw. zu operieren. Obwohl man sie im Lehrbuch nachschlagen kann, muss man sich klar machen, dass es von ihnen keine endgültige Version gibt. Die Interpretation dessen, was ein Philosoph gedacht hat, ist nie abgeschlossen.
Piaton
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le, der hervorragende Eigenschaften für eine reiche Lebensentfaltung mitbringt.2 Doch gerade bei Homer kann man sehen, wie die ethische Problemstellung dabei ist, sich den Weg zu bahnen. Im 24. Gesang der Ilias wird geschildert, wie Achilles, der soeben Hektor getötet hat, um Patroklos zu rächen, die Leiche seines Widersachers rund um das Grab des Patroklos schleppt. Apollo beobachtet die Szene mit den anderen Göttern und sagt: „... wie ein Bergleu denkt er nur Wildheit ... So ist erbarmungslos der Peleid; auch selber die Scham nicht kennet er" (Verse 41-45).3 Es wird hier der Gedanke angedeutet, dass ein Mensch sich nicht immer von seinen Leidenschaften mitreißen lassen sollte. Im Unterschied zu Tieren kann der Mensch seine Leidenschaften und Affekte beherrschen. Scham bedeutet, sich zu beherrschen und Zurückhaltung zu zeigen aus Respekt vor einem anderen Wesen.4
2.2 Piaton Piaton wurde im Jahre 427 v. Chr. in Athen in eine aristokratische Familie hinein geboren. Er hatte sich auf eine politische Karriere vorbereitet, ebenso soll er sich als Dichter von Tragödien versucht haben. Sein Zusammentreffen mit Sokrates wurde jedoch ein Wendepunkt, und Sokrates' Hinrichtung im Jahre 399 gab augenscheinlich den Anstoß zu Piatons philosophischem Schriftstellertum. Piaton unternahm drei Reisen zur griechischen Kolonie auf Sizilien, um seine Theorien über das Zusammenwirken von Philosophie und Politik bei der Realisierung des Idealstaates zu überprüfen. Doch die Theorien hielten nicht stand, und die Enttäuschung darüber ist in seinen späten politischen Schriften, den Gesetzen, zu erkennen. In der Mitte der 380er Jahre gründete Piaton eine
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Wir stoßen hier wieder auf die im eisten Kapitel erwähnte Komplexität der Bedeutung von „gut". Die nicht-ethische Bedeutung, von der jetzt die Rede ist, kennen wir auch aus gegenwärtigem Sprachgebrauch. So bedeutet der Satz „Er ist ein guter Fußballer", dass jemand in einer bestimmten Sportart talentiert ist. Es ist keine ethische Aussage. Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle der Darstellung der griechischen Ethik bei Pfürtner 1988 (siehe oben S. 17). Der Respekt vor dem Verstorbenen ist ein Motiv, das auch in einem anderen klassischen Text von großer ethischer Relevanz vorkommt, nämlich in der Antigone des Sophokles.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
Akademie in Athen, in der er selbst unterrichtete. Er starb in Athen im Jahre 354 vor Chr.
Platon lebt in einer Zeit, in der sich die traditionelle altgriechische Gesellschaft allmählich in Auflösung befindet. Die gewöhnlichen Bestimmungen der Gesellschaft über richtig und falsch haben keine unmittelbare Gültigkeit mehr. In der neuen Demokratie des 5. Jahrhunderts sind es unter anderem die Erörterungen und Entscheidungen der politischen Versammlungen, die die Gültigkeit der ethischen Normen mitbestimmen. In einer gegebenen Sache kann man nicht länger ohne weiteres auf „das Gute" hinweisen. Es muss vielmehr auf Überlegungen und Argumenten eines Redners beruhen, der die Fähigkeit hat, seine Zuhörer - die politischen Versammlungen oder die Volksgerichtshöfe - davon zu überzeugen, was in einem gegebenen Zusammenhang „das Gute" ist. Was in einer solchen Situation hervortritt, steht jedenfalls in einem gespannten Verhältnis zu dem, was vorher aus einer herkömmlichen Tradition begründet war. Dieser ideengeschichtliche Umbruch kann auch so ausgedrückt werden, dass mythos von logos abgelöst wird. Wo man vorher den Menschen als ein Wesen auffasste, das von Mächten beherrscht wurde, welche die Bedeutung seines Lebens ausmachten, so ist es nun in stärkerem Maße Aufgabe des Menschen selbst, sein Leben zu beherrschen und ihm Bedeutung zu geben. Nach der mythischen Auffassung ist ein verliebter Mensch einer, der von Eros ergriffen ist, besetzt von diesem Gott oder Halbgott, während der von logos erleuchtete Mensch in höherem Maße als jemand betrachtet wird, der sich zu seiner Verliebtheit verhalten kann, der seine Gefühle korrigieren und eventuell sogar nach einem Ziel ausrichten kann, das er sich selbst gesetzt hat. Es ist Platon, der diesen Gedanke von der Bildung des Menschen formt. Logos hat mehrere Bedeutungen. Die breite Bedeutung von logos ist Sprache und Rationalität, also das, was menschliches Verständnis und Erkenntnis möglich macht und trägt. Damit wird es dem Menschen möglich, sich vom Zwang der Tradition zu befreien und vor allem von dem Zwang, die Natur als einen Organismus von Kräften aufzufassen, gegen die der Mensch kämpfen muss, um zu bestehen. Der freie Mensch lebt innerhalb der Stadtmauern. Dort, im Gespräch
Piaton
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mit anderen Menschen, lernt und erkennt man, wogegen „die Landschaften und Bäume mir wirklich nichts beibringen können", wie Sokrates am Anfang von Piatons Dialog Phaidros sagt. Piaton und seine sophistischen Widersacher akzeptieren gemeinsam den Wandel von mythos zu logos. Sie sind sich darüber einig, dass Normen nicht ohne weiteres gültig sein können, sondern dass man für sie argumentieren und von ihrer Gültigkeit überzeugt werden muss. Über Ethik kann diskutiert werden. Darum steht man vor der Aufgabe, die ethische Gültigkeit der Normen zu begründen. Die ethischen Fragen - Fragen nach dem Guten, Gerechten, Besonnenen, Mutigen usw. - sind davon abhängig, wie wir von ihnen sprechen, sie auslegen und für sie argumentieren, wie wir sie geltend machen. All das geschieht im logos. Genau in der Frage nach der Bedeutung von logos scheiden sich die Wege Piatons und der Sophisten. Diese Frage kann nicht getrennt werden von der Auseinandersetzung über die Gültigkeit der ethischen Normen. Die rhetorische Ethik der Sophisten Es ist schwierig, sich ein genaues Bild von den Sophisten zu machen. Die Quellen sind teils buchstäblich fragmentarisch, teils stammen sie zu einem großen Teil von Piaton, der die Sophisten bekämpfte. Ohne das Bild von ihnen zu verzeichnen, kann man jedoch sagen, dass sie mehr oder weniger konsequent die Auffassung verfechten, dass Ethik und Politik, die man zwar unterscheiden, aber nicht trennen kann, auf Gesichtspunkten beruhen, die von Interessen bestimmt sind. Ebenso wie Politik davon handelt, die eigenen Ansichten durchzusetzen, dreht Ethik sich darum, andere dazu zu bewegen, die eigene Meinung zu teilen. Es geht darum, die anderen zu überreden (peitheiri) und sie damit für die eigene Auffassung zu gewinnen. Eine ethische Norm ist nur gültig, wenn jemand sie so auffasst und danach handelt. Diese Aufgabe der Überredung hat nach der Auffassung der Sophisten der logos, die Sprache. Einem von ihnen, Protagoras, wird die Aussage zugeschrieben, es drehe sich darum, „den schwächeren logos stärker zu machen". Die Stärke des logos hängt davon ab, ob er wirkt. Eine durch die Sprache hervorgebrachte Meinung ist nur gültig, wenn andere sie annehmen.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
Die Sophisten entwickeln eine umfassende Theorie der Sprache, die es zum Ziel hat, den Redenden - d.h. den politischen Redner - zu einer solchen Beherrschung der Sprache zu bringen, dass er andere mit ihr beherrschen kann. Eine solche Theorie ist die Rhetorik. Man kann deshalb sagen, dass die Rhetorik die grundlegende Wissenschaft der Sophisten ist. Wenn die Sophisten gegen Bezahlung von Stadt zu Stadt zogen, um die Söhne der Bürger in Rhetorik zu unterrichten, geschah dies, um sie zu geeigneten Politikern zu machen, die imstande waren, die Volksmenge und die Volksgerichtshöfe vom „Guten" einer gegebenen Sache zu überzeugen. Das Kriterium für eine gute politische Rede ist folglich, ob sie imstande ist, die kompetenten Organe zu einem Beschluss zu bringen, der im Interesse des Redners ist. Gorgias, ein anderer Sophist, behauptet, dass ein logos wahr ist, wenn er seine eigene Wirkung hervorbringt. Die Sprache bringt die Wirklichkeit in dem Sinne hervor, dass sie die Beschlüsse und Handlungen der Menschen bewirkt und damit die Wirklichkeit erst formt. Da Ethik (Aristoteles zufolge) mit den Haltungen und Handlungen der Menschen zu tun hat, sind ethische Normen also abhängig von der sprachlichen Ausformung, in der sie geltend gemacht werden. Die Sophisten ziehen mit ihrer rhetorischen Ethik die Konsequenzen aus dieser Einsicht: Es ist die in der Sprache liegende Kraft oder Macht (dynamis), welche in der Rhetorik oder Sprachkunst voll zur Entfaltung kommt. Diese Macht ist es, die offenbar überwältigend auf Piatons Sokrates wirkt, „beinahe übernatürlich groß" (nach Gorgias 456a). Damit gibt Piaton zu verstehen, dass der sophistisch-rhetorische logos letzten Endes dieselbe Funktion hat wie der mythos·. die Menschen gefangen zu halten in einer reflexionslosen Verzauberung. Eine sophistische Rhetorik bringt nicht das Wahre hervor, sondern nur das, was aussieht wie das Wahre, was ihm ähnelt. Eigentlich kann man nicht wissen, was das Wahre ist, aber man kann daran glauben oder meinen, es zu wissen. Für die Sophisten gibt es keinen entscheidenden Unterschied zwischen Wissen iepisteme) und Glauben oder Meinen {doxa). Die Rhetorik ist auf diese Weise ein Kampf (agon) um Meinungen. Es gilt, die Zuhörer für sich zu gewinnen, und die Frage danach, wieweit ein logos rechtmäßig oder unrechtmäßig gebraucht wird, kann übersetzt werden in die Frage danach, wieweit sie sinnvoll oder nicht sinnvoll ist im Hinblick auf das Ergebnis, welches der
Piaton
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Sprecher zu erreichen wünscht. Ein sophistischer Rhetoriker wird behaupten, dass es keine absoluten Kriterien dafür gibt, welcher rhetorische logos rechtmäßig und welcher unrechtmäßig ist (nach Gorgias 456eff.). Das Wahrheitskriterium der sophistischen Rhetorik ist, ob Konsensus über einen bestimmten Gesichtspunkt geschaffen werden kann, auch in Bezug auf die Ethik. Das, womit man Menschen zur Einigkeit bringen kann, ist das Kriterium der Wahrheit des logos. Das Kriterium der Sprache liegt nicht außerhalb dessen, wovon sie spricht; das Kriterium liegt darin, ob es der Sprache gelingt, die Menschen zu verändern, sie zu beeinflussen. Piatons idealistische Ethik Piaton und sein Sokrates können eine solche Auffassung von logos nicht akzeptieren, da sie letzten Endes eine relativistische Ethik beinhaltet. Was die Sophisten zu ethischen Normen erhöhen, beruht auf außerordentlich zufälligen, interessebestimmten Zufällen. Die Frage an die Sophisten lautet beständig: Wissen sie eigentlich, wovon sie sprechen? Piaton lässt Sokrates zeigen, dass sie es eigentlich nicht wissen. Sie glauben nur, dass sie es wissen. Damit hat Piaton im Gegensatz zu den Sophisten einen abgrundtiefen Unterschied zwischen Glauben/Meinen und Wissen angezeigt. Was behaupten die Sophisten zu wissen? Was können sie? Was ist ihr Fach? Sie nehmen es auf sich, in Recht und Unrecht, also in Ethik zu unterrichten. Aber was will das heißen? Ein Arzt weiß etwas über Krankheiten und deren Heilung. Aber worüber weiß ein Rhetoriker Bescheid? Er weiß etwas davon, wie man Menschen überredet (peithein). Doch Sokrates ist nicht zufrieden. Wozu überredet der Rhetoriker? Von welchen Dingen handelt der rhetorische logos'* (Gorgias 453a ff.). Sokrates gebraucht nun seine rhetorischen Kniffe, um zu zeigen, dass die Sophisten ein Wissen über die Grundbegriffe der Ethik voraussetzen, wenn sie in der Technik der Überredung unterrichten CGorgias 459eff.). Die Sophisten haben jedoch nicht reflektiert, dass das Wissen vom Ethischen, das arefe-Wissen, von einer anderen Art ist als das Wissen über einen bestimmten fachlichen Inhalt, das tech/je-Wissen. Etwas darüber zu wissen, wie man ein Pferd beschlägt, ist
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
etwas anderes, als das Wissen vom Guten und Gerechten. Das erste kann durch direkten Anschauungsunterricht vermittelt werden, begleitet von beschreibenden Erklärungen. Das zweite - das ethische Wissen - kann Piaton und Sokrates zufolge nur durch einen Prozess der Aneignung geschehen, wo Wissen mit Erfahrung verbunden ist und wo das Thema nur durch die sprachliche Ausformung und deren Deutung zugänglich ist. „Die ethische Wirklichkeit" ist von einer anderen Art als „die technische Wirklichkeit". Das Wissen vom Guten schließt ein, dass man selbst das, was man in dieser Hinsicht weiß, in sich aufnimmt. Man wird ein guter Mensch, wenn man das Gute erkennt, und man erkennt es, während man es wird. Unter diesem idealen Gesichtswinkel gibt es keinen eigentlichen Konflikt zwischen Handlung und Erkenntnis. Das ist das Grundlegende im platonisch-sokratischen Bildungsgedanken ·, paideia. Im Gegensatz zu den Sophisten hat Piaton auf diese Weise eine abgrundtiefe Kluft zwischen einer Meinung/einem Glauben {doxa/ pistis) und einem Wissen/einer Erkenntnis {mathesis/episteme) errichtet. Episteme ist die Einsicht darin, dass das Dasein in seiner Gesamtheit und die Ethik im Besonderen in etwas Wertvollem, in dem Guten begründet ist, und diese Einsicht beruht auf einem angeeigneten Wissen, wo derjenige, der das Gute erkennt, es auch tut. Das geschieht durch eine Wiedererinnerung (anamnesis), in der der Mensch sich darauf besinnt, woher er kommt und was seine eigentliche Bestimmung ist. Damit bringt er sich in Übereinstimmung mit kosmos (der Weltordnung) und polis (der politischen Gesellschaftsordnung). Er entdeckt, dass das, was der unmittelbar vorliegenden Wirklichkeit zugrunde liegt, das wirklich Wirkliche ist und dass dieses wirklich Wirkliche auch das wirklich Wertvolle ist. Piaton begründet damit die Ethik in einer so genannten Ideenwelt, in der der Grad des Seins identisch ist mit dem Grad des Wertes. Die von ihm geformte Ontologie beinhaltet eine Teilhaftigkeit im Verhältnis zwischen der unmittelbar vorliegenden Welt, der Welt der Phänomene, und der nicht-unmittelbar vorliegenden Welt, der dahinter liegenden Welt der Ideen, gleichzeitig mit dem bestehenden Unterschied zwischen diesen Welten. Es ist die Teilhaftigkeit der Welt der Phänomene an der Welt der Ideen, die diese wirklich macht und ihr Stabilität gibt.
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Entsprechend ist die Teilhaftigkeit im Begriff bzw. in der Idee der „Gerechtigkeit" das Kriterium dafür, ob eine gegebene Handlung „gerecht" genannt werden kann. Wenn Sokrates und Piaton diskutieren, was gerecht ist, geben sie sich nicht mit der Antwort der Sophisten zufrieden: „Es ist gerecht, jedem das Seine zu geben"; „es kann gerecht sein, seinen Vater bei der Obrigkeit anzuzeigen, wenn er einen Sklaven misshandelt hat" usw. Das kleine Wort „wenn" zeigt an, dass die Sophisten „gerecht" alleine aus dem Kontext und der Situation heraus verstehen und dass das Wort von Fall zu Fall nicht dieselbe Bedeutung hat. Aber es „genügt" Sokrates nicht zu wissen, was in einer gegebenen Situation als gerecht bezeichnet werden kann. Er will wissen, was das gerechte „in sich selber" ist, welchen Inhalt die Idee des Gerechten hat. Nur kraft der Einsicht in diesen Inhalt können wir sicher sein, dass wir nicht von Situation zu Situation willkürliche und begrenzte Bewertungen von dem, was gerecht ist, vornehmen. Es muss etwas geben, das in sich selber als gerecht gelten kann, losgelöst von den Umständen der Situation, etwas, das diese Umstände transzendiert und unveränderlich ist. Sonst ist es nicht möglich, der relativistischen Ethik der Sophisten etwas entgegenzuhalten. Dieses Motiv entfaltet Piaton im Dialog Der Staat; der von einem der ethischen Grundbegriffe des griechischen Denkens, der Gerechtigkeit, handelt. Einleitend stellt einer der Gesprächsteilnehmer, Thrasymachos, die These auf, dass Gerechtigkeit das ist, was dem Starken nützt. Demgegenüber ist es Sokrates' Aufgabe, das wahre Wesen der Gerechtigkeit zu finden. Nun wird der Begriff Gerechtigkeit sowohl auf den einzelnen Menschen als auch auf einen ganzen Stadtstaat, eine Polis, angewendet. Es muss ja in der Tat eine Übereinstimmung geben zwischen den Eigenschaften von Einzelmenschen und denen von Staaten, da Staaten nichts anderes sind als Gemeinschaften von Einzelmenschen. Der Staat ist also eine Art vergrößerte Ausgabe des einzelnen Menschen. Deshalb ist es vernünftig, mit einer Untersuchung dessen, was Gerechtigkeit auf der Staatsebene ist, zu beginnen. Eine solche Untersuchung lässt sich am besten durchführen, indem man die Entstehung des Staates rekonstruiert und sieht, auf welche Weise sich das Problem der Gerechtigkeit ergibt. Die grundlegende Funktion des Staates ist es, den Menschen das gemeinsame Lösen von Aufgaben zu ermöglichen, wie z.B. die Erfül-
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lung ihrer elementaren Bedürfnisse. Deshalb ist es notwendig, dass Menschen Dinge produzieren und verkaufen, die in dieser Hinsicht notwendig sind. Da sich die Menschen aber nicht auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse beschränken können, werden Staaten expandieren und Kriege unvermeidlich. Es sind folglich Bürger nötig, deren Aufgabe es ist, den Staat nach außen hin zu verteidigen. Ein Staat braucht also in jedem Fall zwei Gruppen von Mitgliedern: Gewerbetreibende und Wächter. Die Gewerbetreibenden werden Menschen sein, deren Begierde (epithymia) vorherrscht, während es bei den Bewachern die Kühnheit (thymos) sein wird. Diese beiden Gruppen können jedoch nicht die Gesellschaft leiten. Es muss eine dritte Art Menschen geben, nämlich die Philosophen, die von Weisheit erfüllt sind und zwischen Ideen und den Phänomenen, die nur an den Ideen teilhaben, unterscheiden können. Die Weisheit {.Sophia) ist die Tugend der Herrscher-Philosophen. Entsprechend gehört der Mut ( a n d r e i a ) zu den Wächtern und die Besonnenheit ( s o p h r o s y n e ) zu den Gewerbetreibenden. Was ist nun Gerechtigkeit? Sie besteht darin, ... dass jeder, wie er Einer ist, auch nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei mischt! {Der Staat 433c).
Eine gerechte Gesellschaft ist also dort gegeben, wo die Mitglieder jedes Standes die jeweilige standesgemäße Aufgabe lösen. In einer solchen Gesellschaft werden Ordnung und Harmonie herrschen. Nun ist der Staat wie gesagt ein vergrößertes Bild des einzelnen Menschen und seiner Seele. Diese muss somit als ihre drei grundlegenden Elemente Begierde, Kühnheit und Vernunft enthalten. Die Gerechtigkeit besteht bei dem einzelnen Menschen darin, dass jeder Teil der Seele seine Funktion erfüllt. Das bedeutet konkret, dass die Vernunft über die Kühnheit herrschen muss und beide gemeinsam über die Begierde. Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, die das rechte Zusammenspiel der beiden anderen - Mut und Besonnenheit - bewirkt. Das ist Piatons Beitrag zur Tugendlehre der Antike. Die Tugenden Frömmigkeit, Mut, Besonnenheit und Gerechtigkeit können „erlernt" werden, wenn sie mit der Tugend der Weisheit verbunden sind, die der Entfaltung der Vernunft entspricht. Weisheit beruht darauf, dass die Vernunft ihren höchsten Gegenstand, die Idee des Guten, erkennt.
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Für sie gebraucht Piaton im 5. Buch des Staates das Bild der Sonne, die Ursache sowohl für das Sehen als auch für das Gesehene ist. In gleicher Weise ist die Idee des Guten Ursprung sowohl des Denkens als auch des Gedachten. Das Gute in diesem Sinne kann nicht als ethischer Begriff aufgefasst werden. Bei Piaton steht aber die Idee des Guten in Zusammenhang mit der Frage nach Beschaffenheit und Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Und dieser Frage ist die ethische Frage nach der rechten Lebensweise des Menschen untergeordnet. Man kann zusammenfassend sagen, dass Piatons Ethik davon geprägt ist, dass er ein philosophischer Verfechter eines objektiven Idealismus ist. „Idealismus" beinhaltet, dass die Realität von Ideen (unsinnliche, der Vernunft zugängliche Größen) behauptet wird. Objektiv ist Piatons Idealismus, weil Ideen seiner Auffassung zufolge eine vom Menschen unabhängige Realität haben. 5 Die Grundlage der Ethik wird also von einer objektiven, transzendenten Wirklichkeit gebildet, zu der der Mensch durch seine Vernunft Zugang hat und aus der heraus er seine Handlungen ableiten kann. Mit der Ontologie der Ideenlehre hat Piaton eine Lehre ausgeformt von dem, was ist, der Wirklichkeit im eigentlichen Sinne. Durch die Einsicht in diese Welt ist der Mensch imstande, sich über kurzsichtige Interessen zu erheben und eine allgemeine Betrachtungsweise anzunehmen, indem er Ideen anschaut und in Augenschein nimmt (idein ist eine Form von horao = ich sehe). Da diese Ontologie ihrem Wesen nach wertbestimmt ist - der Grad des Seins ist identisch mit dem Grad des Wertes - , ist die Ethik in letzter Instanz begründet in der universellsten Idee, derjenigen des Guten. Es ist diese und die anderen Ideen, an denen wir uns orientieren, wenn wir ethisch aus dem Wissen um das Ethische handeln. Im Zusammenhang mit dem Bild der Sonne heißt es, dass das Gute nicht alleine die höchste Idee ist, sondern dass es über dem Sein steht, es überstrahlt alles an Ehre und Kraft (Der Staat 509b). Einem subjektiven Idealismus begegnen wir bei Philosophen, die Ideen als mentale Größen auffassen, d.h. im Bewusstsein vorkommende Größen wie etwa Sinnesdaten, Gefühle, Vorstellungen u. ä. Einen solchen Idealismus vertreten ζ. B. David Hume und Immanuel Kant (vgl. die Kapitel 7 und 8).
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Logos ist wahr in dem Maße, wie er die Wirklichkeit der Ideen widerspiegelt. Die Ideen sind die Kriterien für seine Wahrheit. Sie sind die Wirklichkeit, über die die Sprache wahr redet, indem sie mit ihr korrespondiert. Die Deutungen der Sprache sind nicht willkürlich und wechselnd, sondern haben eine feste Grundlage in einer von der Sprache verschiedenen Wirklichkeit. Ein sophistischer Konsensus über ethische Fragen kann zwar eine Meinungsgemeinschaft ausmachen, jedoch niemals sichere Erkenntnis hervorbringen. Nur wenn die Sprache sich in einer Form entfaltet, in der sie nicht manipuliert, kann sie Medium für Erkenntnis sein. Piaton ist davon überzeugt, dass logos dieses bewirkt, wenn er sich als dialogos entfaltet. Auch der Dialog wird aus bestimmten Interessen heraus geführt, jedoch aus Interesse für die Sache, wo es nicht darum geht, den Gegenspieler auszuschalten, d.h. dass das persönliche Gegensatzverhältnis nicht im Wege sein darf. Im Dialog verbindet sich die Sprache - in ihrem Interesse für die Sache - mit der Wirklichkeit. Durch dieses sprachliche Element (dia in dialogos bedeutet „durch") hat der Mensch die Möglichkeit, ethische Einsicht zu erreichen, die auf etwas beruht, das vor der sprachlichen Deutung und ihrem überredenden Effekt liegt und von Sprache unabhängig ist. Gleichzeitig aber beruht Ethik, wie schon gesagt, nicht auf einer Beschreibung eines vorliegenden Sachverhaltes (sie ist nicht techne), sondern auf der Auslegung von Themen, die nur durch ihre sprachliche Ausformung zugänglich sind und also nur in einer Vermittlung vorliegen. Dass sie nicht direkt mitgeteilt werden können, ist der Hintergrund für die oft ironische Rede des Sokrates. Und sie können nicht ohne weiteres schriftlich festgehalten werden, welches der Grund dafür ist, dass Piaton nicht - wie die Sophisten - Reden und Abhandlungen, sondern Dialoge geschrieben hat. Nun ist die Frage, ob Piaton und Sokrates nicht auch - wie die Sophisten - von der dynamis der Sprache, ihrer überredenden Kraft, Gebrauch machen, wenn sie ihre Auffassung von den ethischen Normen darlegen. Binden sie nicht auch die anderen, die impliziert sind (die Dialogpartner und Leser), durch eine Art Zwang, um Zustimmung zu ihrer eigenen Deutung der ethischen Fragen zu erhalten? Daran ist kein Zweifel. Es ist wie mit den Gefangenen im berühmten Höhlengleichnis im Staat (5l4aff.), die gezwungen werden müssen,
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sich von dem, was sie für die Wirklichkeit halten, abzuwenden, um sich umzuwenden zur Wirklichkeit. Es ist ein mit Schmerz verbundener Prozess, so wie es weh tut, ins Licht zu schauen. Erkenntnis ist ein schmerzvoller Prozess. Deshalb muss es eine Art von Zwang geben. Doch Piaton und Sokrates sind davon überzeugt, dass die von ihnen angewandte Form von Zwang legitim ist, da sie nicht persönliche, kurzsichtige, interessenbestimmte Meinungen über die Dinge anstreben, sondern aufdecken wollen, wodurch unsere ethischen Normen in Wirklichkeit begründet sind, wenn sie Gültigkeit haben sollen. Die von Sokrates und Piaton praktizierte Überredung verursacht auf diese Weise ein Wissen, während die Überredung der Sophisten Glauben ohne Wissen hervorruft. Dieses Wissen wird teils durch die Anstrengung des Einzelnen für das Aneignen von Ideen erreicht, teils dadurch, dass die Wahrheit selbst überredet und überzeugt. Es ist keine willkürliche Überredung, und sie findet nicht statt, ohne dass der Lernende der Wahrheit nach eigener Überlegung zustimmt. Wenn die Rhetorik nicht dem Ziel dient, allgemeines Wissen und allgemein gültige Erkenntnis zu erreichen, ist sie illegitim, da sie dann missbraucht und für unrechtmäßige Ziele angewendet wird. Anders gesagt, gegenüber der relativistischen Ethik der Sophisten will Piaton Kriterien für die Unterscheidung zwischen der nützlichen Anwendung der Rhetorik und ihrem unrechtmäßigen Gebrauch aufstellen. Diese Kriterien liegen außerhalb desjenigen gegebenen Anwendungsbereiches, in welchem die Sprache Auslegungen ethischer Normen ausdrückt. Es sind Kriterien, die die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Auslegungen möglich machen. Es sind jedoch keine Kriterien, die unabhängig von Sprache geltend gemacht werden können. Sie sind, um es genau zu nehmen, in der Art und Weise zur Stelle, in der wir die Sprache gebrauchen, wenn wir von etwas sprechen, was „gerecht" und „gut" ist usw. Freie Menschen - Sophisten wie Sokratiker - sind auf diese Art, Diskussionen zu führen, angewiesen. Piaton hält mit der Ontologie der Ideenlehre daran fest, dass nicht alles der Macht der Menschen über die Wirklichkeit und übereinander überlassen ist. Er hält daran fest, dass die Menschen in nicht-willkürliche Zusammenhänge eingebunden sind, die in letzter Instanz die Grundlage für seine ethische Orientierung bilden: polls und kosmos.
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2.3 Aristoteles Zunächst einige wenige Daten über das Leben und die Schriften des Aristoteles. Er wurde 384 v. Chr. in der Stadt Stageira auf der Chalkidiki-Halbinsel in Thrakien geboren; deshalb wird er mitunter als der „Stagirit" bezeichnet. Er kam nach Athen, wo er sich der von Piaton errichteten Akademie anschloss und Piatons Schüler wurde. Zwischen 343 und 335 war er Lehrer des mazedonischen Königssohnes Alexander (später „der Große"). Er starb 322. Aristoteles' Schriften können in vier Gruppen eingeteilt werden: 1) Logik und Wissenschaftstheorie ( O r g a n o i d , 2) Naturgeschichte bzw. Naturphilosophie, 3) Metaphysik, 4) Ethik. Üblicherweise werden seine Schriften nach der Ausgabe von Immanuel Bekker aus dem Jahre 1830 zitiert. Diese bestand aus 1462 großen Seiten mit je zwei Spalten. Ein Hinweis wie 1032b, 15 bedeutet also: Seite 1032, rechte Spalte, Zeile 15 in der Bekker-Ausgabe. Weitaus die meisten anderen Ausgaben und Übersetzungen haben diese Zahl am Rande. In vier Schriften stellt Aristoteles seine Ethik dar: die Nikomachische Ethik (an Nikomachos), die Eudemische Ethik (an Eudemos), Magna Moralia und die Politik.
Das Gute Aristoteles beginnt seine Überlegungen in der Nikomachischen Ethik (Ethica Nicomachea·. EN) damit, den Begriff des Guten (t'agathon) zu betrachten. Das Gute, sagt er, ist das, wonach alles strebt. Dies ist so zu verstehen, dass alles nach einem Ziel strebt; und das von jedem Wesen Angestrebte ist das Gute für dieses Wesen. Schon diese einleitende Bestimmung verrät, dass auch bei Aristoteles die ethische Theorie eng mit metaphysischen Annahmen zusammenhängt. Ein Grundzug aller Wirklichkeit ist nach Aristoteles das teleologische Ausgerichtetsein: Alles ist seiner eigenen Seinsart zufolge darauf angelegt, ein Ziel (telos) anzustreben. Das gilt für die so genannten leblosen Dinge: Ein Stein zum Beispiel strebt danach, sich an seinem „natürlichen Ort", nämlich dem Zentrum der Erde, aufzuhalten. Folglich sucht er so nahe wie möglich an diesen Ort zu kommen, er fällt zur Erde. Dasselbe gilt für die Lebewesen, bei denen wir deutlich einen anderen Grundzug beobachten können: Lebensentfaltung bedeutet Verwirklichung ( e n e r g e m ) von etwas, was das Lebewesen als Möglichkeit oder Potenzialität ( d y n a m i s ) in sich hat. Dafür sei ein oft angeführtes Beispiel genannt: Eine Eichel ist potenziell
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(dynamei) eine Eiche; sie strebt deshalb danach, es wirklich zu werden. So weit ist „das Gute" ein nicht-ethischer Begriff. Was ist das Gute des Menschen, d.h. wonach strebt der Mensch seiner Natur zufolge? Er strebt, so Aristoteles, vielen Dingen nach. Aber es muss ein höchstes Gut geben als äußerstes Ziel menschlichen Strebens. Dieses Ziel definiert er auf folgende Weise: Das Gute des Menschen ist die Verwirklichung der Fähigkeiten der Seele
in Übereinstimmung mit der Tugend (to anthropinon agathon psyches energeia kat' areten, EN 1098a, 17f.).
Es liegt ein Zweifaches in Aristoteles' Begriff des Guten. Das spiegelt sich auch in der Bedeutung des deutschen Wortes „gut" wider. Wir können z.B. sagen: „Es wäre gut für dich, Ferien zu machen"; hier ist das Gute ein wünschenswerter Zustand, den anzustreben passend wäre. Oder wir können sagen: „Du spielst gut Klavier"; hier ist das Gute eine Art, die menschlichen Fähigkeiten zu entfalten. Anscheinend sagt Aristoteles also mit seiner Definition des menschlichen Guten: Es ist gut für den Menschen, seine Fähigkeiten auf eine bestimmte Weise zu entfalten. Menschenbild Um die aristotelische Definition des Guten zu verstehen, muss näher geklärt werden, welches die Fähigkeiten der menschlichen Seele sind. Und um das zu beantworten, sind Kenntnisse der Anthropologie Aristoteles', seines Menschenbildes, nötig. Hierbei scheint es nun, als vertrete er wie Piaton einen Dualismus, indem er zwischen Vernunft und anderen seelischen Fähigkeiten unterscheidet. Das ist jedoch ein Irrtum: Aristoteles hat gerade kein dualistisches Menschenbild. Ein entscheidender Punkt in seiner Kritik an Piaton ist im Gegenteil, dem Dualismus zu widersprechen. Aristoteles sieht - als der Naturbeobachter, der er ist - den Menschen im Zusammenhang mit der übrigen Natur. Das bedeutet konkret, dass der Mensch mit Tieren und Pflanzen Gemeinsamkeiten hat. Wie alles Lebende haben wir Menschen eine Seele {psyche). Die Seele ist nämlich das, was den Organismus überhaupt zu etwas Lebendigem macht (De Anima 412b, 5f ). Genauer gesagt hat die Seele des Menschen die beiden folgenden Fähigkeiten, die sie mit anderem Lebenden gemeinsam hat:
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das Vegetative (threptike psyche = die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen, zu wachsen und sich zu vermehren), das wir mit Tieren und Pflanzen gemein haben; das Sinnliche (aisthetike psyche), das wir mit den Tieren gemein haben.
Darüber hinaus hat die Seele des Menschen eine spezifische Fähigkeit, die sich bei anderen Lebewesen nicht findet: -
die Vernunft (nous/theoretike
psyche).6
Die besondere Vernünftigkeit des Menschen ist nun gerade die Voraussetzung dafür, dass er seine Fähigkeiten gut (oder weniger gut) entfalten bzw. sein Leben gut leben kann. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn wir näher betrachten, was Aristoteles über den Begriff der Handlung sagt. Ein Lebewesen ist aktiv, weil es sinnlich wahrnimmt. Zur sinnlichen Wahrnehmung gehören nämlich Lust (hedone) und Schmerz Uype) und damit die Fähigkeit, etwas anzustreben (dynamis orektikos). Diese Fähigkeit äußert sich z.B. im Begehren, dem Anstreben des Lustvollen. Zur Fähigkeit des Strebens gehören der Mut (thymos) und der Wille (boulesis). Damit ist angedeutet, auf welche Weise die sinnliche Seele nach Aristoteles auch die menschliche Tätigkeit antreiben kann (siehe De anima, 2. Buch). Menschliche Tätigkeit ist jedoch nicht nur in der Sinnlichkeit begründet. Auch die Vernunft kann sie antreiben, genauer gesagt die praktische Vernunft (nous praktikos). Es ist dies die Vernunft, die ein Ziel itelos) ausdenkt und dieses Ziel zur Ursache oder zum Grund Eben weil der Mensch nach Aristoteles Aspekte seiner Psyche mit anderen Lebewesen gemeinsam hat, kann er nicht als über die nicht-menschliche Natur erhaben betrachtet werden. Der Mensch ist zwar kraft seiner Vernunftseele ein besonderes Wesen, aber eben ein besonderes Lebewesen·, ein zoon logon echon. Die Anthropologie des Aristoteles ist Teil einer Naturauffassung, die hierarchisch genannt werden kann. Die Natur wird als eine Stufenfolge von Lebensformen mit immer höheren Eigenschaften gesehen. Nach Aristoteles hat es diese Lebensformen immer gegeben. Es bedeutete deshalb einen radikalen Bruch mit der aristotelischen Naturauffassung, als Charles Darwin seine Theorie über die Entwicklung der Arten vorlegte (vgl. unten Kapitel 10).
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(.arche) einer Handlung machen kann. Ich kann mir z.B. das Ziel setzen, mich immer gesund zu ernähren. Wenn ich weiß, ob eine vorliegende Nahrung gesund ist, weiß ich, ob ich sie zu mir nehmen soll oder nicht, ich kann also durch Überlegen zu einem praktischen Ergebnis kommen. Es gibt nach Aristoteles eine Strukturgleichheit zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft. In beiden Fällen zieht die Vernunft Schlüsse in Form von Syllogismen. Ein klassisches Beispiel eines theoretischen Syllogismus ist: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also: Sokrates ist sterblich. Entsprechend gibt es einen praktischen Syllogismus, für den Aristoteles selbst das folgende Beispiel gibt: Alle Formen der trockenen Nahrung sind für alle Menschen gut. Ich bin ein Mensch. Dieses Brot ist trockene Nahrung. Also: Es ist gut für mich, dieses Brot zu essen {EN 1147a, 6-9). Die praktische Vernunft schließt von einem Guten, einer Zielsetzung, auf ihre Verwirklichung in Form einer konkreten Handlung. Wir werden zu dieser Problemstellung zurückkehren, wenn wir zu Aristoteles' Lehre von den Tugenden kommen. Es ist hier die Rede von einer charakteristischen menschlichen Form des Strebens nach dem Guten, nämlich dem Streben nach demjenigen, was sich durch Handlung (Tun) verwirklicht ( t o praktikon agathori). Aristoteles verwendet hierfür den Ausdruck praxis, und damit meint er die Form menschlicher Tätigkeit, die ethisch relevant ist. Eine andere Form von Tätigkeit ist die poiesis, das Hervorbringen oder Produzieren von etwas. Die Poiesis hat ein Ergebnis, weshalb typische Beispiele von ihr die Tätigkeiten von Handwerkern und Künstlern sind. Diese beiden Formen des Produzierens sind übrigens bei Aristoteles nicht klar getrennt. Sowohl im Handwerk als auch in der Kunst bezeichnet er die Fähigkeit zum Produzieren als techne. Praxis ist demgegenüber kein Hervorbringen, sondern ζ. B. Verwirklichung der Tugenden. Bevor wir jedoch auf sie näher eingehen, müssen noch einige Bestimmungen aus der Handlungstheorie Aristoteles' erwähnt werden.
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Damit es Sinn macht, eine Person für das, was sie getan hat, zu loben oder zu tadeln, muss von einer freiwilligen („hekon) Handlung die Rede sein. Und damit eine Handlung freiwillig genannt werden kann, muss nach Aristoteles zweierlei gegeben sein: Die Ursache muss in der agierenden Person liegen, und diese muss wissen, was sie tut. So kann man mir z.B. weder vorwerfen, Majestätsbeleidigung verübt zu haben, wenn jemand mich gezwungen hat, einen Schmähbrief an Königin Margrethe II. zu schreiben, noch wenn ich eine Dame beschimpfe, ohne zu wissen, dass sie die Königin Dänemarks ist. Die Tugenden Der gute Lebensvollzug ist nun genauer gesehen die Verwirklichung der Vernunft. Diese hat nach Aristoteles zwei Formen. Zum einen kann sich die Vernunft zu demjenigen Teil der nicht-vernünftigen Seele verhalten, der für Vernunft zugänglich ist. Und zum anderen kann sich die Vernunft selbst in einer guten Weise entfalten. Dies ist die Grundlage des aristotelischen Begriffs der Tugend, und entsprechend der erwähnten Unterscheidung fallen die Tugenden in zwei Gruppen: die moralische und die intellektuelle. Um zu verstehen, wie Aristoteles den Begriff der Tugend auffasst, können wir zunächst einige Beispiele moralischer Tugenden nennen: Mut, Mäßigung, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit. Wir würden wohl heute von Charaktereigenschaften sprechen, die wir bei einigen Menschen beobachten können. Aristoteles tut das gewissermaßen auch, nur hebt er hervor, dass die Tugenden uns Menschen nicht von Natur aus gegeben sind. Sie sind keine angeborenen Anlagen (dynameis), die nur darauf warten, verwirklicht zu werden. Auch sind die Tugenden nicht einfach Gefühle (pathe). Sie gehören hingegen der Kategorie hexis an: Sie sind etwas, was man als Fähigkeiten besitzt, die durch Gewohnheit {ethos) und Erziehung eingeübt werden. Ein Grundzug der Tugenden ist nun, dass sie auf zwei Weisen entstellt werden können, nämlich durch Übertreibung oder Mangel bzw. Defekt. Mut z.B. kann entweder in Tollkühnheit (zu viel) oder Feigheit (zu wenig) entstellt werden. Anders ausgedrückt: Die Tugend ist die Fähigkeit, die Mitte zu treffen zwischen zu viel und zu wenig eines gegebenen Faktors. Dieser Faktor kann zum Beispiel ein Impuls
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der sinnlichen Seele sein, im Falle des Mutes etwa ein unmittelbarer Drang zum Tätigsein. Die Definition der Tugend lautet bei Aristoteles: Die Tugend ist eine Fähigkeit, dasjenige zu wählen (hexis proatetike), was für uns die Mitte ist, bestimmt durch die Vernunft {EN 1106b, 36).
Eine der von Aristoteles genannten moralischen Tugenden ist die Großzügigkeit (eleutheriotes). Der Faktor, auf den bezogen sie die Mitte ist, ist Geben und Nehmen dessen, was in Geld gemessen werden kann. Die entsprechende Übertreibung ist das Verschwenderischsein, während der Mangel Geiz ist. Der Großzügige gibt gern und ohne an seinen eigenen Vorteil zu denken; er gibt, weil es ganz einfach angenehm ist, eine Tugend auszuüben. Vielleicht, so meint Aristoteles, sind die Großzügigen die am meisten Geschätzten, weil sie anderen helfen und nützen. Edelmut (megalopsychia) ist die Mitte bezogen auf Ehre, indem der Edle große Anforderungen an Ehre stellt. Da aber Ehre Tugend und moralische Güte Ckalokagathia.) voraussetzt, richtet der Edle in Wirklichkeit die Forderungen an sich selbst. Er ist nicht nachtragend, sondern kann von den Untaten absehen, die andere gegen ihn begangen haben. Die Gegensätze zum Edelmut sind Geistlosigkeit und Kleinlichkeit. Es gibt nach Aristoteles auch eine auf geistvolle Unterhaltung bezogene Tugend, nämlich Schlagfertigkeit oder Witz. Der Schlagfertige kann wohl necken, aber er zügelt sich, so dass er es vermeidet, andere zu verletzen. Die Extreme dazu sind der Bajazzo und der Langweilige. In manchen Fällen macht Aristoteles auf zwei Gegensätze aufmerksam, ohne die entsprechende Tugend benennen zu können. Das gilt z.B. für den Gegensatz zwischen Gefallsucht und Querulantentum. Die rechte Mitte zwischen beiden hat jedoch viel Ähnlichkeit mit der Freundschaft, denn ein guter Freund ist imstande, mir zum richtigen Zeitpunkt zu widersprechen. Gerechtigkeit Die moralische Tugend, die Aristoteles am eingehendsten behandelt, ist die Gerechtigkeit. Er macht darauf aufmerksam, dass unter Gerechtigkeit vielerlei verstanden werden kann. Erstens kann Gerechtigkeit die zusammenfassende Bezeichnung aller Tagenden sein; in dem Falle bedeutet Gerechtigkeit ganz einfach, anderen Gutes zu tun. Zweitens
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kann Gerechtigkeit eine bestimmte Tugend bedeuten, welche die Mitte trifft in Bezug auf Faktoren wie Ehre, Geld oder Sicherheit. Die Gerechtigkeit in diesem engeren Sinne gibt es wiederum in zwei Formen, die jedoch beide durch den Begriff Gleichheit definiert sind. Die eine Form hat man später verteilende (distributive) Gerechtigkeit genannt. Sie bezieht sich auf Ehre, Besitz und andere teilbare Güter, welche Bürgern in gleichen oder ungleichen „Portionen" gegeben werden können. Die Mitte der verteilenden Gerechtigkeit ist Gleichheit im Sinne der so genannten geometrischen Proportionalität (z.B. 2:4 = 3:6). Nach Aristoteles wäre es zum Beispiel gerecht, wenn größeren Fähigkeiten größerer politischer Einfluss folgte. Die andere Form der Gerechtigkeit nennt man seither ausgleichende (kommutative) Gerechtigkeit. Sie bezieht sich auf Situationen, in denen eine Partei einer anderen Schaden zugefügt hat. Hier ist die Mitte Gleichheit im Sinne der so genannten arithmetischen Proportionalität (z.B. 3-1 = 7-5). Ein einfaches Beispiel: Ein Kind „leiht" sich ein Fünfmarkstück aus dem Portemonnaie der Mutter, die dann das Taschengeld beim nächsten Mal um den entsprechenden Betrag kürzt. Gerechtigkeit in der umfassenden Bedeutung charakterisiert Aristoteles folgendermaßen: Gerechtigkeit ist diejenige Eigenschaft, kraft derer man von jemandem sagen kann, er praktiziere Gerechtigkeit überlegt und er gebe beim Verteilen von Dingen zwischen sich und anderen oder zwischen zwei anderen nicht sich selbst zu viel des Guten und dem anderen zu wenig oder zu wenig des Üblen sich selbst und zu viel dem anderen, sondern jedem das proportional Gleiche. Entsprechend, wenn man zwischen zwei anderen Personen verteilt CSV 1134a, 1-7).
Das durchgängige Thema bei den verschiedenen Formen der Gerechtigkeit ist, dass gerecht ist, jedem das zu geben, was ihm/ihr zukommt. Freundschait/Liebe Ein Phänomen, das Aristoteles zufolge sehr eng mit der Gerechtigkeit zusammenhängt, nennt er philia. Das Wort wird oft mit „Freundschaft" übersetzt, seine Bedeutung ist jedoch sehr viel weiter und umfasst unter anderem viele Formen der Liebe. Der Einfachheit halber werde ich jedoch im Folgenden vorwiegend den Ausdruck „Freundschaft" verwenden.
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Wie wir gesehen haben, erwähnt Aristoteles die Freundschaft in Zusammenhang mit den moralischen Tugenden. Er eröffnet denn auch seine umfassende Analyse mit der Feststellung, die Freundschaft sei eine Tugend. Es wird jedoch schnell deutlich, dass es um ein Phänomen geht, das nicht ohne weiteres der Definition der Tugend als der Mitte zwischen zwei Extremen entspricht. Nach Aristoteles müssen drei Bedingungen erfüllt sein, damit eine Beziehung zwischen Menschen Freundschaft genannt werden kann. Sie müssen (i) füreinander Wohlwollen (eunoia) fühlen, (ii) sich des gegenseitigen Wohlwollens bewusst sein, (iii) für das Wohlwollen eine Ursache haben. Als Ursache des Wohlwollens - und damit Begründung einer Freundschaft - können drei Dinge dienen: das Nützliche, das Angenehme oder das Gute. Nach Aristoteles kann ich mich also mit jemandem befreunden, weil es mir nützt (vielleicht ist er/sie reich), weil es angenehm ist (er/sie ist charmant und klug) oder weil wir beide gute, tugendhafte Menschen sind. Ein zusätzlicher Unterschied, der verschiedene Arten der Freundschaft definiert, ist, ob sie zwischen gleichen oder ungleichen Parteien besteht. Aristoteles verschwendet nicht viele Worte auf die im Nutzen bzw. im Angenehmen begründete Freundschaft. In diesen Fällen wird die Freundschaft nicht auf Grund dessen gesucht, was der andere ist, sondern auf Grund dessen, was er hat. Solche Freundschaften können auch zwischen Guten und Bösen bestehen und ebenso unter Bösen. Die rechte Form der Freundschaft ist diejenige, die unter guten und tugendhaften Menschen besteht. In diesem Fall wünscht man dem Freund das Gute um seiner selbst willen. Diese Freundschaft besteht in ihrer reinsten Form zwischen gleichgestellten Personen, z.B. zwischen freien männlichen Mitgliedern eines „Klubs" (hetaireia,). Es kann jedoch eine solche Freundschaft der Güte auch dann geben, wenn die eine Partei der anderen überlegen ist, wie etwa bei den Beziehungen Vater - Sohn, Älterer - Jüngerer, Mann - Frau, Herrscher - Untertan. Einige dieser Freundschaften sind naturgegeben, indem sie in biologischen Faktoren wie der Sexualität gründen. Letzteres gilt selbstverständlich für die Beziehung zwischen Mann und Frau. Ihr Zusammenleben dient der Fortpflanzung und der Beschaffung des Lebensbedarfs. Die Freundschaft zwischen Ehepartnern kann daher nach Aristoteles auf Nutzen oder auf dem Angenehmen
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basieren. Sie kann aber auch eine echte, auf Tugend beruhende Freundschaft sein. Zu den in der Sexualität begründeten Freundschaften gehört auch das Verhältnis von Eltern und Kindern. Da die Parteien eine unterschiedliche Stellung innerhalb der Beziehung einnehmen, ist auch ihre Art, Freundschaft zu zeigen, verschieden. Eltern lieben ihre Kinder wie Teile ihrer selbst, aber auch wie eine Form des Besitzes. Kinder hingegen lieben ihre Eltern als Ursprung ihres Daseins - oder richtiger: So lieben sie ihren Vater. Aristoteles hat eine Auffassung von der Fortpflanzung, die beinhaltet, dass es streng genommen nur der Vater ist, der zur Entstehung eines Kindes beiträgt! Er kann daher sagen, dass die Liebe zum Vater die grundlegendste Form der Freundschaft innerhalb der Familienbeziehungen ist. Andererseits hebt er jedoch die Mutterliebe als die stärkere hervor, weil das Bestehen der elterlichen Beziehung hier sicherer sei und das Verhältnis zum Kind länger dauere. Wie erwähnt meint Aristoteles, die Freundschaft zwischen Kindern und Eltern - und zwischen Artgenossen — sei naturgegeben iphysei). Sie ist deshalb ein universeller Zug, den man überall findet, wo einem Menschen begegnen. Wie gesagt gibt es nach Aristoteles einen engen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Gerechtigkeit·. Wo Freundschaft herrscht, ist Gerechtigkeit eine Selbstverständlichkeit, und umgekehrt enthält die höchste Form der Gerechtigkeit ein Element der Freundschaft. Warum gibt es diesen Zusammenhang? Weil bei der Freundschaft wie im Falle der Gerechtigkeit Gleichheit νon grundlegender Bedeutung ist. Das veranschaulicht Aristoteles durch das Zitieren einer Redensart: „Freundschaft ist Gleichheit" (philotes he isotes). Dass in einer Freundschaft Gleichheit herrscht, kann mehrerlei bedeuten. Es kann bedeuten, dass Freunde an der Beziehung „gleich viel haben": Die Freundschaft ist durch Gegenseitigkeit gekennzeichnet. Das ist bei der auf Nutzen oder dem Angenehmen basierenden Freundschaft am deutlichsten. Wenn hingegen ein Verhältnis des Über- bzw. Untergeordnetseins besteht, können die Parteien nicht im strengen Sinne gleich viel leisten; hier muss die Gleichheit darin bestehen, dass der Einzelne seiner Position entsprechend zurückgibt. Eigentliche Gleichheit gibt es nur, wenn die Befreundeten wirklich gleich sind, d.h. wenn die Freundschaft auf Güte basiert. Die Freundschaft mit einem
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guten Menschen ist für mich ein Gut, aber die Freundschaft mit mir ist für den anderen ein genauso großes Gut. Freundschaft ist jedoch nicht nur eine Beziehung zu anderen; sie ist nach Aristoteles auch ein Verhältnis zu sich selbst Er behauptet, dass die Äußerungen der Freundschaft, die wir dem anderen (ho peIas) erzeigen, von denjenigen abgeleitet sind, die wir uns selbst erzeigen (ta philika pros heautori). In dem Kontext, in dem er diese Behauptung zu begründen sucht, bestimmt er die Freundschaft ein wenig anders als ursprünglich. Er sagt jetzt, zweierlei würde für die Freundschaft gelten: Ein Freund (i) wünscht und fördert das Gute eines anderen um dessen selbst willen, (ii) wünscht das Dasein des anderen und seine Aufrechterhaltung um des anderen willen. Aber genau diese beiden Züge bestimmen auch das Verhältnis des Einzelnen zumindest des Rechtschaffenen - zu sich selbst: (i) Er wünscht das eigene Gute im Sinne der Verwirklichung des besten Teiles seiner selbst; (ii) er wünscht, sein eigenes Leben aufrechtzuerhalten, insbesondere das Leben der vernünftigen Seele. Das aber bedeutet, dass der Gute sich in der gleichen Weise zu seinen Freunden verhält wie zu sich selbst; ein Freund ist wie ein anderes Selbst {ho philos alios autos). Ist es aber zulässig, sich selbst zu lieben (philein heautori)! Eine nähere Untersuchung zeigt, so Aristoteles, dass ein Mensch in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen selbstliebend sein kann. Der Ausdruck (philauton) kann einmal negativ verwendet werden, und zwar von dem schlechten Menschen, der immer sich selbst am meisten berücksichtigt, normalerweise, indem er sich den größeren Teil von Geld, Ehre und leiblichen Vergnügen vorbehält. Ein solcher Mensch ist schlecht, weil er sich der Begierde, der Leidenschaft und überhaupt dem Unvernünftigen (alogon tes psyches) hingibt. Seine Eigenliebe ist eng damit verbunden, dass er nicht die Mitte der Tugend trifft, sondern sich ins Extrem der Übertreibung bewegt. Ganz anders steht es um den Menschen, der sich bemüht, andere in der Entfaltung der Tilgenden zu überragen. Er lässt die Vernunft (nous) sein Leben beherrschen und liebt sich selbst als Vernunftwesen. Eine solche Eigenliebe hat nichts Verwerfliches; im Gegenteil, sie ist, wie wir gesehen haben, Teil der höchsten Form von Freundschaft. Nach Aristoteles ist Gegenseitigkeit ein entscheidender Zug an der Freundschaft. In diesem Punkt unterscheidet sie sich von zwei ver-
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wandten Phänomenen, nämlich dem Wohlwollen und dem Wohltun. Wohlwollen (eunoia) heißt, dass man einem anderen Gutes wünscht, ohne Gegenleistung zu erwarten. Im Unterschied zur Freundschaft kann Wohlwollen sich spontan äußern, und man kann Fremden gegenüber wohlwollend sein. Auch Wohltun (euergesia) ist eine einseitige Äußerung. Der Wohltäter hat Gefallen (agapao) an dem Empfänger der Wohltat, obwohl er keine Gegenleistung erwarten kann. Diese Asymmetrie erfordert eine Erklärung, und eine solche ist nach Aristoteles, dass der Wohltäter durch sein Handeln eine höhere Form des Lebens- und Seinsvollzugs erfährt. Wie schon erwähnt, kann es Freundschaft auch in einer Beziehung geben, die durch Über- und Untergeordnetsein geprägt ist. Wie steht es aber mit der Beziehung zwischen Herr und Sklave? Aristoteles hat zweierlei dazu zu sagen. Erstens: Es kann in diesem Fall nicht von Freundschaft die Rede sein, denn die beiden haben nichts gemeinsam; ein Sklave ist in keiner Weise ein Partner, denn er ist nichts als ein beseeltes Gerät (empsychon organoii). Aber zweitens: Obwohl man mit einem Sklaven als Sklaven keine Freundschaft haben kann, kann man mit ihm als Menschen befreundet sein. Denn Freundschaft ist im Verhältnis zu jedem Menschen möglich. Die intellektuellen Tugenden. Phronesis Die moralischen Tugenden haben, wie oben gesagt, mit der rechten Verwirklichung der nicht-vernünftigen Seele zu tun. Bei den intellektuellen Tugenden geht es hingegen um die rechte Verwirklichung der vernünftigen Seele. Wir haben gesehen, dass Aristoteles zwischen theoretischer und praktischer Vernunft unterscheidet. Dieser Unterschied bedeutet, dass es zwei Sorten intellektueller Tugenden gibt. Die erste hängt mit dem zusammen, was Aristoteles den berechnenden Teil Qogistikoti) der Vernunftseele nennt. Er ist der Praxis zugeordnet, denn Praxis setzt Überlegung (boulesis) voraus, und diese ist eine Form der Berechnung. Die Tugend, die in der optimalen Verwirklichung der berechnenden oder praktischen Vernunft besteht, nennt Aristoteles phronesis - ein sehr schwer zu übersetzender Ausdruck. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Vernunft dadurch am rechten Handeln beteiligt, dass sie die Ziele des Handelns festlegt und erschließt, in welcher Weise diese Ziele in den konkreten Situationen
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realisiert werden können. Es ist diese Fähigkeit, in der konkreten Situation die rechte Handlung zu finden, die Aristoteles phronesis nennt. Phronesis ist sowohl ein Wissen darum, was das gute Leben (eu zeri) allgemein ist, als auch die Fähigkeit herauszufinden, wie hier und jetzt das Gute verwirklicht werden kann. Die konkrete Handlung ist eben nicht etwas Allgemeines, sondern im Gegenteil etwas Einzigartiges bzw. Partikulares. Das Einzigartige kann aber nach Aristoteles nicht mit den Mitteln der Wissenschaft (episteme) erkannt werden, sondern es erfordert ein besonderes Vermögen, und dieses Vermögen ist im Falle des Handelns die phronesis.7 Somit ist phronesis ein Wissen um das Partikulare, um Einzeltatsachen. Ein solches Wissen setzt Erfahrung (empeiria) voraus, weshalb ein gewisses Alter erreicht werden muss, bevor ein Mensch phronimos sein kann. Ein mit phronesis verwandter Begriff ist synesis (Einsicht). Der Unterschied zwischen beiden Begriffen besteht darin, dass synesis die Fähigkeit ist, eine Sache zu beurteilen (Jentike), während phronesis dazu befähigt zu entscheiden, welche Handlung der Beurteilung folgen sollte. Wenn von einer ethischen Beurteilung die Rede ist, hat synesis also den Charakter der moralischen Einsicht und kommt demjenigen sehr nahe, was wir normalerweise unter Gewissen verstehen. Obwohl Phronesis zur vernünftigen Seele gehört, ist sie nicht von den moralischen Tugenden getrennt. Phronesis ist im Gegenteil auch erforderlich, um entscheiden zu können, wie Gerechtigkeit, Mut usw. in der konkreten Situation praktiziert werden sollen. Aristoteles kann deshalb sagen, dass derjenige, der die intellektuelle Tugend Phronesis besitzt, alle moralischen Tugenden besitzt. Ethik und Politik In seinem Loblied auf die Freundschaft hebt Aristoteles hervor, sie sei das Band, welches eine polis zusammenhalte. Der Grund hierfür ist, dass Freundschaft mit Gemeinschaft (koinonia) unlöslich zusammenhängt. Gemeinschaften sind die schon erwähnten natürlichen Beziehungen Mann - Frau und Eltern - Kinder, die innerhalb des Haushalts Ins Lateinische ist phronesis mit prudentia übersetzt worden, was man wiederum auf deutsch mit „Klugheit" wiedergibt. Wenn man an das ursprüngliche phronesis denkt, wäre „Urteilskraft" besser. Dieser Ausdruck ist in der Philosophie Kants genau die Fähigkeit, das Einzelne dem Allgemeinen unterzuordnen.
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(oikia) vorkommen. Gemeinschaften können jedoch auch andere Grundlagen haben, wie etwa das gemeinsame Bewältigen von Aufgaben; Aristoteles nennt als Beispiele hierfür die Gemeinschaften von Soldaten und Schiffsleuten. Für alle Gemeinschaften gilt, dass sie in den umfassenden Zusammenhang, die polis (den Stadtstaat), eingehen. Die Polis ist ein Zusammenschluss von Dörfern, die wiederum jeweils Zusammenschlüsse von Haushalten sind.8 Die Polis ist gewissermaßen - wie der Haushalt - eine natürliche Gemeinschaft, denn der Mensch ist laut einer der aristotelischen Definitionen ein soziales Lebewesen (zoon politikoii). Die Polis ist dazu da, die Ziele aller Bürger zu fördern, weshalb das Ziel der Gesetzgeber das gemeinsame Gute ist. Die Polis ist als Gemeinschaft von einer besonderen Form der Freundschaft geprägt: von der Eintracht oder dem Gemeinschaftsgefühl (homonoia). Diese Freundschaft herrscht in einem Staat, dessen Bürger gemeinsame Interessen haben, dieselbe Politik wählen und in Gemeinschaft Entschlüsse fassen. Da das Ziel der Gesetzgebung einer Polis das gemeinsame Gute ist, ist zur Erstellung guter Gesetze eine besondere Form der Phronesis erforderlich (phronesis nomothetike). Gesetze sind Zwangsmittel, die genau wie die Erziehung dazu dienen, die Tugenden als gute Angewohnheiten zu festigen. In der Rhetorik unterscheidet Aristoteles zwischen verschiedenen Arten von Gesetzen. Einmal gibt es besondere Gesetze, d.h. die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln, die jedes einzelne Volk für seine eigene Polis festsetzt. Es gibt aber auch ein allgemeines Gesetz (nomos koinos), das in der Natur begründet Ckata physin.) und daher für alle Menschen gemeinsam ist. Aristoteles weist in diesem Zusammenhang auf die Antigone des Sophokles hin, die von einem Gesetz spricht, das „weder von heute noch von Aristoteles überlegt sich, ob es Grenzen dafür gibt, wie klein und wie groß eine Polis sein kann. Er kommt zu dem Ergebnis, dass eine Gruppe von weniger als zehn Menschen noch keine Polis ausmacht und dass mehr als 100.000 nicht mehr eine Polis genannt werden können. - Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass die Gesellschaft, welche den historischen Kontext von Aristoteles' Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Politik ausmacht, von der Größenordnung her einer kleineren Großstadt entspricht. Der moderne Staat und seine spezifischen Probleme liegen außerhalb von Aristoteles' Horizont von der Weltgesellschaft ganz zu schweigen.
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gestern stammt, sondern ewig lebt" (1373b, 4ff.). Er formuliert damit die wichtige Unterscheidung zwischen dem natürlichen Gesetz und den positiven Gesetzen, eine Unterscheidung, die bis heute Gegenstand ethischer Überlegungen ist. Das höchste Glück: Theoria und Weisheit Von der berechnenden Vemunftseele ist eine weitere zu unterscheiden: die wissenschaftliche (epistemonikon). Unter Wissenschaft versteht Aristoteles die Einsicht in Dinge, die sich nicht verändern, sondern ewig und notwendig sind wie etwa die Himmelskörper und die Gottheit. Wissenschaftliche Einsicht in diesem Sinne nennt er auch theoria, und die intellektuelle Tugend, welche die optimale Verwirklichung der theoria darstellt, ist die Sophia, die Weisheit. Sie ist die höchste der Tugenden, weil sie die höchste Form menschlichen Lebensvollzugs ist. Folglich muss die Erlangung der Weisheit die höchste Gestalt des „Glücks", der eudaimonia, sein. Wir wollen kurz sehen, wie das zusammenhängt. Im letzten Buch der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles eine ganze Reihe von Argumenten dafür an, dass die theoria die höchste Form menschlicher Entfaltung ist und dass die Weisheit daher das höchste Gut des Menschen, seine eudaimonia, sein muss. Theoria ist deshalb die höchstrangige Tätigkeit, weil sie sich auf die höchsten Gegenstände, die es gibt, richtet: das Ewige und das Unveränderliche. Sie ist auch die am eindeutigsten in sich selbst ruhende (autarkes) Tätigkeit, und sie kann vom Einzelnen allein ausgeübt werden. Außerdem wird die Ausübung der Theoria um ihrer selbst willen gesucht; es gibt keinen höheren Zweck, dem sie untergeordnet sein könnte. Alle genannten Züge der Theoria können dahingehend zusammengefasst werden, dass sie die Verwirklichung des Göttlichen im Menschen ist. In seiner Darstellung der Gottheit im 12. Buch der Metaphysik zeigt Aristoteles, dass die ihr angemessene Tätigkeit das reine Denken sein muss. Die Fähigkeit des Menschen zur Theoria ist daher Ausdruck seiner Teilhabe am Göttlichen. Das zeigt sich auch darin, dass die Vernunft, die dieses Denken ausübt, ein unsterbliches Element enthält.9 In der Schrift De anima unterscheidet Aristoteles in einer berühmten und schwierigen Passage zwischen zwei Aspekten des Nous: dem passiven (pathe-
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Dass die Theoria die höchste Form menschlichen Lebensvollzugs ist, bedeutet, dass sie die Verwirklichung dessen ist, was wir im höchsten Grade selbst sind. Das Leben in der Theoria ist „das, was von Natur am meisten für jeden eigentümlich ist" (to oikeion hekasto te physei, £7V 1178a, 5ff.). 2.4 Die Stoa (und Epikur) Zunächst einige allgemeine Daten zur Stoa als philosophische Richtung. Man unterscheidet üblicherweise zwischen drei Phasen ihrer Entwicklung: 1) die ältere Stoa, vertreten unter anderem durch Zenon von Kition (334-262 v.Chr.; er unterrichtete in einem Säulenhof „stoa poikile", daher der Name) - Cleanthes von Assos (304-233) - Chrysippos von Soloi (281-208); 2) die mittlere Stoa, vertreten unter anderem durch Panaitios von Rhodos (180-110), der daran mitwirkte, die stoische Gedankenwelt in die römische Kultur hineinzuführen; 3) die späte Stoa, vertreten durch Lucius Annaeus Seneca (5 v.Chr.65 n. Chr.) - Epiktetos (50-135) - Marcus Aurelius (121-180).
Metaphysisch vertreten die Stoiker einen Monismus, d.h. eine Lehre, die der gesamten Wirklichkeit letzten Endes die gleiche Beschaffenheit zuspricht. Es handelt sich um einen raffinierten Materialismus, der behauptet, dass alles, auch die Seele des Menschen, stofflicher Art sei. Die Grundlage von allem ist die Weltvernunft Clogos10), auch sie ist stofflicher Natur; sie ist mit dem Feuer identisch, das alles durchdringt. Der Kosmos durchläuft eine unendliche Reihe von Epochen, von denen jede in einem Weltenbrand endet, in dem alles vernichtet wird, um wieder neu zu entstehen - wonach der kosmische Verlauf sich jeweils wiederholt. Der Mensch hat an dieser kosmischen Vernunft teil.
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tikos) und dem aktiven (poietikos). Anscheinend geht er davon aus, dass die aktive Vernunft unsterblich sei. Die Übersetzung von logos mit „Vernunft" ist in Wirklichkeit recht problematisch. Das Wort kommt vom Verb legein, das zwei Grundbedeutungen hat: „sammeln" bzw. „lesen" - und „sagen" bzw. „reden". Logos vereint somit Fähigkeiten wie Sammeln, Zusammenzählen, Berechnen, Überblick haben, zusammenhängende Rede führen. - Der logos der Stoa nimmt in vielerlei Hinsicht den Platz ein, den bei Aristoteles der nous hat (vgl. Pohlenz 1948, 34).
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Als Summe der stoischen Ethik wird oft der Grundsatz zitiert, der Mensch solle mit der Natur in Übereinstimmung leben. Ursprünglich ist der Gedanke der gewesen, dass man „übereinstimmend" (homologoumenos) leben soll, d.h. nach einem Logos, der mit sich selbst übereinstimmt. Es gilt mit anderen Worten, Zusammenhang und Einheit in die Lebensführung zu bringen. Später ist dann „mit der Natur" (te physei) hinzugefugt worden, da ja die Natur des Menschen der Logos bzw. seine Teilhabe an ihm ist. So kommt jedoch auch der neue Gedanke hinzu, dass der Mensch mit derjenigen Natur übereinstimmen soll, die er mit den Tieren gemeinsam hat. Übereinstimmend zu leben ist das Gute. Bei den Stoikern erfolgt eine Verschiebung im Inhalt dieses Begriffes. Sie zeigt sich im Ausdruck monon to kalon agathon, dessen Bedeutung oberflächlich gesehen „nur das Gute ist das Gute" ist. Jedoch hat agathon hier die ursprüngliche Bedeutung - entsprechend der Wendung „es ist gut für dich, dass . . . " - , während kalon das moralisch Richtige bedeutet. Der Ausdruck besagt also, dass nur das moralisch Richtige für einen Menschen gut ist. Das kann auch so formuliert werden, dass der einzige Weg zur eudaimonia die Tugend im Sinne der moralisch richtigen Lebensführung ist. Die Änderung im Begriff vom Guten bedeutet, dass jetzt ein klarer Gegensatz besteht zwischen der guten Handlung (.katorthoma) und der falschen bzw. bösen