Am Rande des Wahnsinns: Schwellenräume einer urbanen Moderne 9783205792109, 9783205787945


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Am Rande des Wahnsinns: Schwellenräume einer urbanen Moderne
 9783205792109, 9783205787945

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Kulturen des Wahnsinns (1870–1930) Band 1





Volker Hess Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.)

Am Rande des Wahnsinns

Schwellenräume einer urbanen Moderne

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Ludwig Meidner, Betrunkene Straße mit Selbstbildnis (1913) © Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main

© 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer Druck und Bindung: Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Litauen ISBN 978-3-205-78794-5

Inhalt

Volker Hess und Heinz-Peter Schmiedebach

Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne. . . . . . . . 7

Volker Hess und Sophie Ledebur

Psychiatrie in der Stadt. Die Poliklinik als Schwellenphänomen einer urbanen Moderne . . . . . . . . . 19

Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Das Schiff als Ort des Wahnsinns – Hitzschläge, Misshandlungen und Suizide von Heizern und Trimmern im transozeanischen Seeverkehr . . . . . . . 57

Beate Binder

Schwellenräume des Anderen: Zur Konstitution der sexuellen Topografie Berlins im Diskurs der Sexualwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . 81

Petra Fuchs, Wolfgang Rose und Thomas Beddies

Heilen und Erziehen: Die Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Wahnsinn und Migration. „Normal“ und „verrückt“ als Phänomene der regulierten Passage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Sabine Fastert

Antworten auf Max Nordau. Künstlerische Kreativität als Produkt psychischer Schwellenzustände in den Kunstzeitschriften um 1900 . . . . . . . . 175

Alexander Friedland und Rainer Herrn

Die Einführung der Schizophrenie an der Charité . . . . . . . . . . . . . . 207

Armin Schäfer

Franz Biberkopfs Wahnsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Inhalt

Gabriele Dietze

Skandal als Strategie – Wahn als Gehäuse. Weibliche Boheme und Sexuelle Moderne um die Jahrhundertwende . . . . . .

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Sophia Könemann und Benjamin A. Marcus

„Einunddreißig Zöpfe? Wahnsinnstaten“ – Ein Haarfetischist im öffentlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Dorothea Dornhof

„Gaukler und Fälscher, halbtolle Frauenzimmer und anspruchsvolle Wirrköpfe“ – Okkultismus, Medien und psychotischer Wahn. Okkulte Schauplätze als Schwellenraum zwischen Wissenschaft und Spektakel . . . 339

Kurzbiografien der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Volker Hess und Heinz-Peter Schmiedebach

Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne.

Was hat die sexuelle Libertinage der Berliner Bohemienne aus Künstler- und Dichterinnen mit dem Tropenkoller der Kolonialbeamten oder dem Überbordspringen der Heizer auf Überseedampfern zu tun? In welchem Verhältnis stehen die diffizilen Bemühungen der Psychiater, einen stuporösen Geisteskranken zum Sprechen zu bringen, mit den experimentellen Erzählformen eines Alfred Döblin oder einer Else Lasker-Schüler? Wie verbinden sich die Bemühungen mancher Berliner Salons, das Okkulte fotografisch zu bannen, mit den Versuchen, die ersten Symptome eines beginnenden Spaltungsirreseins öffentlich zu demonstrieren? Und was verbindet die Faszination des wahnsinnigen Künstlergenies mit der Sorge um sozial auffällige Jugendliche? Was haben der Regelverstoß, die Anomalie und der Flirt mit dem Paranormalen, die kreative Potenz, der expressionistische Aufschrei oder die neue sexuelle Ethik in jenen Jahrzehnten der Wende zum 20. Jahrhundert miteinander zu tun? Eine Antwort deutet der vorliegende Sammelband bereits im Titel an: Alle diese Phänomene sind Ausdruck typischer Dynamiken eines modernen urbanen Raumes. In ihnen äußert sich eine Vielfalt moderner Lebensweisen, deren Heterogenität bereits die Zeitgenossen als Charakteristikum einer neuen Zeit, wenn nicht sogar Epoche erlebt und begriffen haben. Und mit ihnen manifestiert sich schließlich ein historischer Prozess, der geprägt ist von Duldungen, Aushandlungen und Integration von Verhaltensweisen, die nur wenige Jahrzehnte zuvor ohne Zögern als wahnsinnig, pathologisch oder abnorm aus dem gesellschaftlichen ­Leben ausgeschlossen und asyliert worden wären: als geisteskrank in eine Irrenanstalt verbannt, als maniakalisch oder mannstoll weggesperrt, als anstößig oder wahnwitzig aus dem literarischen Korpus ausgeschlossen, oder wie auffällige Jugendliche als unbotsmäßig und vorwitzig gezüchtigt, oder gar wie Teile der Boheme als frivol, übergriffig und hemmungslos gebrandmarkt. Was einst im Zeitalter der „großen Einsperrung“ hinter großen Mauern verschwand, entwickelte sich nun zum Element des urbanen Seins: Der einstige „Wahnsinn“ bildete in den Jahrzehnten zwischen Reichsgründung und Preußenschlag eine integrale Gestaltungskomponente des urbanen Lebens und stellte ein unverzichtbares Elixier des modernen großstädtischen Lebens dar.

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Volker Hess und Heinz-Peter Schmiedebach

Wahnsinn Aus diesem Grunde nehmen die hier vorgelegten Beiträge die Herausbildung einer großstädtischen Kultur und eines modernen Lebens vom Fluchtpunkt des Wahnsinns aus in den Blick. Sie sind aus der dreijährigen Zusammenarbeit einer DFG-Forschergruppe hervorgegangen und das Resultat des Versuchs, diese historische Vielfältigkeit der entstehenden Großstadt nicht erschöpfend zu erfassen, aber in einem systematischen Zugriff zu perspektivieren. Wenn wir hierbei die Schwellenräume der Großstadt gewissermaßen vom Rande her in den Blick nehmen, so wollen wir der oben beschriebenen Mannigfaltigkeit und Verwobenheit eine eigene Aufmerksamkeit schenken, die ihrer Außerordentlichkeit wie neuen Selbstverständlichkeit gerecht wird: als Wahnsinn. Diesen traditionsreichen, aber um 1900 bereits unspezifisch verwendeten Terminus verwenden wir als heuristischen Sammelbegriff, der eine historische Vielfalt widersprüchlicher und diskontinuierlicher Prozesse einschließt. „Wahnsinn“ erschöpft sich zu dieser Zeit eben nicht mehr in einer fachwissenschaftlichen Begrifflichkeit oder in den immer neuen Versuchen der zeitgenössischen Psychiatrie, psychopathologische Zustände zu klassifizieren und zu systematisieren. Vielmehr bildete der medizinisch disziplinierte Wahnsinn nur eine Facette eines reichen Spektrums aus Sinnlosigkeit, Unsinn und Wahnwitz, der sich nach der Sprengung der Türen des Tollhauses im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Neben Psychiatern und Pädiatern hatten sich auch Psychologen, Pädagogen, Fürsorgerinnen, Kriminal- und Polizeiwissenschaftler des schillernden Begriffs angenommen und ihn für sehr unterschiedliche Lebens- und Wirklichkeitsbereiche ausdifferenziert. Aber auch außerhalb der neuen Wissenschaften, in der Philosophie, ebenso im Feuilleton und in der Kunstkritik, in den Gegenkulturen der Boheme oder in der radikalen Avantgarde der Tanzbühnen offenbarte sich der Wahnsinn in einer überraschenden Vielgestaltigkeit. Wahnsinn darf daher nicht als historischer Begriff oder fachwissenschaftlicher Terminus technicus verstanden werden. Vielmehr markieren die im Zentrum unserer Untersuchungen stehenden historischen Phänomene gerade jene Bereiche eines sozialen Verhaltens, jene kulturellen Praktiken und jenes experimentelle Wissen, die sich den disziplinierenden und normierenden Zugriffen – zumindest in Teilen – entzogen und mit ihrem Anderssein neue Grenzbereiche konstituierten. Diesen Grenzbereichen gemeinsam ist, so die zentrale These des vorliegenden Bandes, dass in den zeitgenössischen Versuchen der Differenzierung und des Auslotens von Devianz bei der Unterscheidung zwischen einem Normalen und Pathologischen das Unterscheiden selbst als Problem begriffen und als offene Frage verhandelt wurde. Wahnsinn subsumiert eine radikale Alterität, die sich nicht notwendig auf eine Pathologie oder Abnormität reduziert.

Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne.

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Am Rande Eine solche Perspektivierung „vom Rande“ entfaltet folglich eine größere Sensibilität für jene kulturellen Deutungsräume, die in einem zweiachsigen Koordinatensystem des „Normalen und Pathologischen“1 nur unzureichend dargestellt und beschrieben werden – und zwar unabhängig von dessen „protonormalistischer“ oder „flexibler“ Formatierung.2 Denn der Verzicht auf eine normativ-normalistische Reduktion lässt jene wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Techniken, Praktiken und Diskurse erkennbar werden, die teilweise neue Freiheitsgrade und Handlungsspielräume andeuten und ein multiperspektivisches Verständnis von „Verrücktheit“ und „Geisteskrankheit“ konstituieren. Diese Fokussierung stellt damit genau das in den Mittelpunkt, was als neue Qualität der urbanen Moderne imponiert. Diese neue Qualität steht im Mittelpunkt. Sie soll eben nicht auf eine – historisch nur mühsam zu fassende - gesellschaftliche und soziale Normalität bezogen werden, um sich dann erst in einem zweiten Schritt dem Spektrum vielstimmiger Dissonanzen zu nähern. Bei diesem Zugriff erscheint Wahnsinn nicht als Epiphänomen einer Industrialisierung, Verstädterung und Sozialdisziplinierung, sondern markiert die „Höhenlinien“ eines kulturellen SchwellenTerrains3, bei dessen Kartografierung und Analyse sich „Wahnsinn“ als eine sinnstiftende Zuschreibung erweist und eine der urbanen Kultur eigene Logik entfaltet. Der vorliegende Band nimmt damit jene Formen eines Andersseins als Merkmal einer Zeit in den Blick, die in der Geschichtsschreibung und den Kulturwissenschaften gerne als Experimentierfeld, Labor oder sogar als Exerzierfeld der Moderne charakterisiert wird. Die Fokussierung der Beiträge auf Grenzverletzungen und -verschiebungen verweist auf eine Offenheit des historischen Raumes, in dem laut Detlev Peukert „nahezu alle Möglichkeiten der modernen Existenz“ durchgespielt werden konnten.4 Dieses Durchspielen ging einher mit dem Ausloten und Aushandeln von allen möglichen Akteuren persönlicher und institutioneller Art. Gegen Widerstände, die mit einem breiten Spektrum von Argumenten begründet wurden, und gegen traditionelle Sichtweisen, die auf Asylierung und Ausgrenzung setzen, verständigte man sich über die aus dem urbanen Leben nicht mehr zu verdrängenden Erscheinungen. Alle diese historischen Phänomene stellen damit, so eine weitere zentrale These des vorliegenden Bandes, Elemente eines historischen Aushandlungsprozesses über jene Grenzbereiche eines nicht konformen Verhaltens dar, die bis dahin als abnorm, pathologisch und wahnsinnig abgetan wurden. 1 2 3 4

Canguilhem 1950 hat sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass „normal“ nicht notwendig „gesund“ bedeutet, und „krank“ nicht mit abnorm oder anomal gleichgesetzt werden darf. Vgl. hierzu weitergehend die Beiträge in Borck et al. 2005. Link 1997. Zum Begriff des terrain siehe Revel 1996. Peukert 2003, 266. Vgl. Boberg et al. 1984, Sachse 1990, Matejovski 2000.

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Volker Hess und Heinz-Peter Schmiedebach

Schwellenräume Solche Überlegungen schließen an jene theoretischen Modellierungen an, die in den Literatur- und Kulturwissenschaften unter dem Schlagwort des in-between oder der „Figur des Dritten“ entwickelt worden sind. Aber auch die historische Epistemologie (mit Georges Canguilhem), anthropologische Studien (Mary Douglas’ Tabu) oder soziologische Analysen des boundary management verweisen auf die zentrale Bedeutung der Unterscheidung als solcher. Jedem Vorgang des Unterscheidens ist ein Moment des Unentschiedenen konstitutiv. So sind manche Zustände weder pathologisch noch normal, weil sie „noch nicht“ diagnostiziert, beurteilt und klassifiziert worden sind oder „nicht mehr“ in eine statistische Normalverteilung fallen. Vielmehr transzendiert das damit gegebene „weder-noch“ jede Form des „noch nicht“ oder „nicht mehr“ einer binären Ordnung, denn es geht einer solchen Dichotomie nicht nur logisch und zeitlich, sondern konstitutiv voraus. Um der Eigenständigkeit des „weder-noch“ solcher Grenz- und Randzustände methodisch gerecht zu werden, stellt das vorliegende Buch das Konzept des Schwellenraums nach Victor Turner in den Mittelpunkt der Untersuchung. Seine Formulierung der Liminalität erscheint uns am ehesten geeignet, das Problem der Unterscheidung als historischen Prozess zu begreifen und als konstituierendes Moment der Moderne darzustellen, nämlich als Form einer selbstreflexiven Problematisierung. Diese Betrachtung des Liminoiden nimmt strukturelle Beharrungen ebenso in den Blick wie mentale, praktische, inkorporierte und geschlechtliche Schwellen, die sich in ihrer dynamischen Ungleichzeitigkeit und Gegenläufigkeit als unterschiedliche Schwellenterrains genauer kartografieren lassen. Zu diesem Zweck fokussieren die Beiträge vier Figurationen der Schwelle: eine topografische, eine regulatorische, eine epistemologische und eine performative. Bei der Diskussion der Beiträge zwischen den Autoren zeigte sich allerdings rasch, dass die ursprüngliche Idee, jeweils eine Figuration dieses Schwellenraumes in den Mittelpunkt eines Beitrages zu stellen, der historischen Komplexität nicht gerecht wird. Vielmehr zeigen die hier vorgelegten Beiträge deutlich, in welcher Weise regulierende Schwellen zugleich immer auch eine wissensgenerierende Funktion entfalten, auf performative Praktiken rekurrieren oder – ganz trivial – in ihrer Materialität räumlich situiert sind. Daher haben wir auf eine letztlich künstliche Darstellung idealtypischer Schwellenräume verzichtet und uns stattdessen bemüht, die Mehrdimensionalität der in den Beiträgen vorgestellten Schwellenräume aufzuzeigen – und damit zugleich auf die Interdependenzen und Verflechtungen aufmerksam zu machen. Dennoch stehen in den einzelnen Aufsätzen bestimmte Perspektiven im Vordergrund, die freilich nicht als isolierte dargelegt werden, sondern ein vielstimmiges Feld von Verflechtungen und Interdependenzen strukturieren:

Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne.

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Topografische Figurationen trennen das Innen und Außen einer Anstalt wie zum Beispiel die Einrichtung einer psychiatrischen Poliklinik. Auf einer disziplinären Ebene lassen sich topografische Schwellen bei der Abgrenzung von Wissensräumen ausmachen, auf einer institutionellen in Form von Richtlinien und Handlungsmaximen verfolgen oder eine Entsprechung im performativen Ritual formalisierter Praktiken und Routinen der Einweisung, Einkleidung, Verlegung, Entlassung und Überweisung finden. Erst solche Übergänge von einer gesellschaftlichen „Normalität“ in eine psychiatrisch definierte und institutionalisierte Krankheit generieren eine scheinbar naturgegebene Differenz zwischen dem Normalen und Abnormen einerseits und dem Gesunden und dem Pathologischen andererseits. So machen die Beiträge von Volker Hess/Sophie Ledebur und Beate Binder deutlich, wie diese Schwellenräume von einer gesellschaftlichen „Normalität“ zu einer psychiatrisch definierten und ­institutionalisierten Krankheit eine scheinbar naturgegebene Differenz zwischen dem Normalen und Abnormen einerseits und dem Gesunden und dem Pathologischen andererseits generieren. Aber auch die Schiffspassage – wie im Aufsatz von Stefan Wulf/Heinz-Peter Schmiedebach dargelegt – figuriert einen liminalen Durchgang par excellence, der nicht nur europäische Metropolen mit dem überseeischen Anderen verschränkt, sondern auch offenbart, welche besonderen topografischen Dynamiken das Schiff selbst zu einem Ort des Wahnsinns machen. Regulierende Figurationen, die in Form von Diagnosen, Gutachten, Strafverfahren, psychologischen Testverfahren, Krankengeschichten etc. institutionelle und disziplinäre Grenzziehungen vornehmen. Sie objektivieren und kartografieren menschliche Subjektivitäten auf diese Weise. Solche Schwellen sind auch in den Praktiken und Diskursen der sich im ausgehenden Kaiserreich stark entfaltenden „Psycho“-Disziplinen zu entdecken.5 An den exemplarischen Konstellationen, Schauplätzen und Techniken des Beobachtens,6 Gutachtens und Beurteilens werden solche Schwellen zwischen Wahrnehmungsveränderungen und Wissen in ihren Kodierungen und „Re-Kodierungen“ sichtbar. Diese regulatorischen Figurationen stehen in zwei Beiträgen im Mittelpunkt. Während der Beitrag von Petra Fuchs/Wolfgang Rose/Thomas Beddies die Entfaltung eines regulatorischen Arsenals im Spannungsfeld zwischen Heilen und Erziehen am Beispiel der Kinderbeobachtungsstation der Charité auslotet, zeigen Stefan Wulf/Heinz-Peter Schmiedebach in ihrem Aufsatz, wie die Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichsten Akteuren eine überraschende Vielfalt von regulierenden Figurationen in den verschiedenen ­Metropolen und Ländern gestalten können.

5 6

Rose 1998. Crary 1991.

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Volker Hess und Heinz-Peter Schmiedebach

Drittens imponieren epistemologische Figurationen, bei denen es vor allen um die Konstituierung von Denkräumen geht. Sie entstehen in oder auf der Schwelle, zwischen Auflösung einer alten Wissensordnung und der Etablierung einer neuen.7 Solche Räume sind konstitutiv für kulturelle Deutungs-, Repräsentations- und Sinnmuster des Wahnsinns im urbanen Raum. Epistemologische Schwellen werden als Störfall und Ereignis in der Ordnung des Wissens zum Gegenstand der Analyse, sie sind in ihren Figurationen narrativ, medial und material zu untersuchen. Epistemologische Schwellen entstehen zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Wissenschaft und Grenz-Wissenschaft und bilden einen konstitutiven Unschärfebereich, der die Zirkulationen des Wissens zwischen verschiedenen Räumen, Disziplinen und Ordnungen erlaubt.8 An den Grenzen des Unsichtbaren und Übersinnlichen artikuliert sich gleichermaßen der Wahnsinn als Untersuchungsgegenstand und dynamisierender Faktor der Wissensproduktion. Epistemologische Figurationen finden sich zwar in allen diesen Band ausmachenden Untersuchungen, sind jedoch besonders in den folgenden drei Beiträgen in den Vordergrund gestellt worden: Sabine Fastert erschließt die Eigen­logik des Feldes zwischen Wahn und Kreativität, das ähnlich wie im Diskurs der Psychiatrie auch in der kunsthistorischen Fachwelt keineswegs in eine klare Dichotomie von „gesund“ und „krank“ aufgeht. Alexander Friedland/Rainer Herrn legen dar, wie das an der Charité modifizierte Schizophrenie-Konzept sich nicht primär über gestörte Denkvorgänge definierte, sondern über Affektstörungen, womit das reibungslose „Funktionieren“ in der Stadt mit ihren komplexen Interaktionen, der beschleunigten Kommunikation und den differenten Produktionsbedingungen zum Prüfstein der modernen Diagnose wurde. Armin Schäfer erörtert, wie im Gegensatz zur Psychiatrie, die mit ihren rhetorischen Techniken und literarischen Verfahren auf Widerspieglung und Abbildung und der Sicherung eines prägnanten Gegenstandbezugs zielte, die spezifische Fiktionsbildung in Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ nicht Darstellung einer außerliterarischen Wirklichkeit, sondern durch eine Spannung zwischen erzählter Stadt und personaler Geschichte von Franz Biberkopf gekennzeichnet ist, die keineswegs in den Gegensatz von Montage und Fabel aufgelöst werden kann. Schließlich sind auch performative Schwellen auszumachen, in denen Darstellung und Ausagieren von Wahnsinnsmustern eine soziale und kulturelle Praxis gestalten, literarische, künstlerische, sexuelle und esoterische Revolten ausgehandelt, symbolisiert oder ritualisiert werden. Auch Anamneseerhebung, fotografische Inszenierung, Gerichtsverhandlung und klinische Demonstration bilden performative Figurationen einer medialen Artikulation und Verschränkung verschiedener Wissensfelder. Auf dem Feld der performativen Figurationen bearbeitet Gabriele Dietze die Lebenswelt, Lebenswerke und Lebensarrangements von vier 7 8

Rheinberger et al. 1997, Münz-Koenen/Schäffner 2002. Vogl 1999, Schäfer/Vogl 2004, 193.

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Bohemiennes, um eine exemplarische Diskurs-Formation zusammenzufügen, die eine dichte Beschreibung der weiblichen Sexuellen Moderne ermöglicht, in der die beschriebenen Figurationen als eine Art von Lebensstil-Rebellion betrachtet werden. Sophia Könemann/ Benjamin Marcus loten am Beispiel der von einem Zopfabschneider ausgehenden Gefahren, über die in den Zeitungen ausgiebig berichtet wurden, den Schwellenraum zwischen Justiz und Psychiatrie aus und legen dar, wie die Stadt als Schauplatz der Taten, die urbanen Menschenmengen als Orte der Versuchung wie auch als Voraussetzung für das Gelingen fungieren. Schließlich untersucht Dorothea Dornhof die performativen wie epistemologischen Figurationen des Wahnsinns am Schnittpunkt von medialer Vergnügungskultur und wissenschaftlichem Okkultismus um 1900, indem sie der Erkundung unerwarteter Präsenz und verborgener Dimensionen der Psyche und des Wissens an der nicht mehr klar zu scheidenden Grenze zwischen Science und Séance nachspürt.

Urbane Moderne Wir präferieren das Konzept des Schwellenraumes aber auch aus historiografischen Überlegungen. In der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung werden – ungeachtet der daraus abgeleiteten differenten Bewertungen – die im Mittelpunkt des Buches stehende Zeitspanne zwischen 1870 und 1930 als „Aufbruch in die Moderne“ verstanden. Sie bilden die ‚Achsenzeit‘ einer modernen Wissenschaft, in der die Erfahrungen und Deutungen der Moderne wissenschaftlich und kulturkritisch reflektiert verhandelt wurden.9 Die von den politischen Eckdaten, nämlich Vollzug der Reichsgründung, Etablierung neuer Reichseinrichtungen, Vereinheitlichung des Rechtssystems, Verschiebung des Machtzentrums und nicht zuletzt Boom der Gründerjahre und Aufstieg Berlins zur Metropole nach 1871 einerseits und Wirtschaftskrise, Preußenschlag (1932) und „Machtergreifung“ (1933) andererseits gerahmte Zeitspanne korrespondiert sowohl mit sozial- und kunsthistorischen als auch mit literatur- und mediengeschichtlichen Periodisierungen.10 Ziemlich einmütig begreift die neuere Geschichtsschreibung die sichtbar werdenden Folgen der Industrialisierung für soziale und politische Strukturen, die unmittelbaren Auswirkungen der Urbanisierung auf Individuation, Lebensstil, Selbstverständnis und alltägliche Lebensweisen als wesentliche Merkmale der neuen Zeit. Es ist somit Ziel der hier versammelten Aufsätze, diese Kulturen des Wahnsinns selbst zum Gegenstand einer interdisziplinär breit angelegten Reflexion zu machen. Dabei wollen wir weder die geschichtsphilosophische oder kulturtheoretische Frage nach dem Status der Mo9 Nitschke et al. 1990, Oexle 1996, Schwarz 1999, Goschler 2000. 10 Kittler 1985, Kaes 1993, Baxmann/Cramer 2005, Münz-Koenen/Fetscher 2006.

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derne klären oder eine neue Kulturgeschichte der Metropole schreiben.11 Uns ist die historiografische und kulturwissenschaftliche Charakterisierung dieser Epoche vielmehr hinreichend, um die Nicht-Linearität der Moderne12 als Schwellenraum und die entstehende Metropole als ihr Feld zu begreifen. Wir betrachten die Kulturen des Wahnsinns folglich weder vom Fluchtpunkt einer Modernisierungstheorie aus noch von dem ihrer dialektischen Schattenseiten. Die hier angestrebte Perspektivierung orientiert sich stattdessen an Habermas’ Diktum von der „Moderne als ‚unvollendetem Projekt’“13, Becks reflexiver Moderne14 und der Skepsis etwa eines Zygmunt Bauman, der in den Schwellenräumen einer „flüchtigen ­Moderne“ einen „Hauch von Wahnsinn“ auszumachen glaubt.15 Der Zuwachs von Bildern und medialen Repräsentationsformen ließ neue Wahrnehmungsräume des Unbekannten und ReKodierungen des Bekannten entstehen,16 die auf technologischem Wege einen dritten Raum zwischen Erkennendem und Objekt als machtvolle Figur modernen Wissens konstituierten. Mediale Darstellungstechniken und künstlerische Inszenierungen der Schwellenerfahrungen generierten wiederum in einer Dramaturgie der Zwischenwelt instabile Bilder, blinde Flecke und Materialisationen. Mit dem gemeinsamen Bezug auf die moderne Großstadt teilen sich die Beiträge dieses Sammelbandes zentrale Gegenstandsfelder, die in der entstehenden Topografie der Großstadt, ihren urbanen Netzwerken und in den Metro-Kulturen der Psyche zu finden sind. Die systematische Zusammenschau legt hierbei die Knotenpunkte frei, die als diskursive, regulative oder performative Verdichtungen des urbanen Lebens dargestellt und untersucht werden. So lassen sich, um ein Beispiel zu geben, die formularisierte Dokumentationstechnik der psychiatrischen Aufnahmestation mit den Beobachtungsprotokollen aus den okkulten Séancen, den literarischen Narrativen des Wahnsinns oder den polizeilichen Erhebungsbögen in Bezug setzen, sobald solche Aufzeichnungen auf ihre mediale Ausdrucksform hin betrachtet und als den modernen Äußerungen des Wahnsinns zugrunde liegende Kulturtechnik begriffen werden. Unser Unternehmen begreift die „Kulturen des Wahnsinns“ somit nicht als das moderne Andere der Vernunft oder gar als den Wahnsinn der Moderne, sondern als Verschränkung 11 Neben den Narrationen historischen Fortschritts waren für uns auch skeptische Zugänge wie etwa die „Dialektik der Aufklärung“ der Frankfurter Schule, aber auch der französische „Antihumanismus“ erkenntnisleitend. 12 Vgl. Eisenstadt 2000. 13 Habermas 1994. 14 Giddens 1991, Beck et al. 1993. 15 Bauman 1992, Bauman 2000. 16 Asendorf 1989, Schuller 1990, Schuller et al. 1991, Didi-Huberman 1997, Nordhofen 2001, Großklaus 2004, Pazzini et al. 2005.

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scheinbarer Anachronismen, Verwerfungen und Paradoxien. Darin manifestieren sich die Aus- und Einschlüsse, die Verschiebungen und Übertragungen auf dem Feld des Anomalen und des Absonderlichen, des Kriminellen und Verrückten, des Exaltierten und der Avantgarde bei der Entfaltung unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Wir subsumieren hierunter Phänomene, mit denen sich analog oder strukturell vergleichbare kulturelle Figurationen erfassen lassen und über den Weg der unterschiedlichen Repräsentationen und Erzeugungsformen von Wahrnehmung, Wissen, Sinngebung und Machtverhältnissen beschrieben werden können, wie dies in den Beiträgen des Sammelbandes unternommen wird. Der vorliegende Band unterscheidet sich damit von dem üblichen Format des Sammelbandes. Zwar sind einige Beiträge auf Tagungen vorgestellt worden,17 doch gehen alle hier versammelten Beiträge aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Modell des Schwellenraumes hervor, mit dem wir – als besondere Facette zu einer Theorie der Moderne – das Problem der Unterscheidung als konstituierendes Moment der Moderne zur Diskussion stellen. Ein solches Unternehmen wäre nicht im Rahmen eines üblichen Buchprojektes durchzuführen gewesen. Vielmehr wurde die intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit erst durch eine großzügige Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. So stellen nicht nur die Beiträge, sondern auch das Buch als Ganzes das Ergebnis der dreijährigen Arbeit unserer Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ (FOR 1120) dar.

Literatur Asendorf, Christoph (1989): Das Gespenst der Energie. Wahrnehmung um 1900. In: Clair, Jean et al. (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Katalog zur Ausstellung der Wiener Festwochen in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum der Stadt Wien, 27. April bis 6. August 1989. Reithalle in den ehemaligen Hofstallungen, Messepalast. Wien. Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Zürich. Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge. Baxmann, Inge/Cramer, Franz A. (2005): Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. München. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1993): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt am Main. Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (1984) Hg.: Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert. München. Borck, Cornelius/Hess, Volker/Schmidgen, Henning (2005): Einleitung. In: Borck, Cornelius et al. (Hg.): Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem. München, 7–41.

17 Siehe Schauz 2010.

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Crary, Jonathan (1991): Techniques of the observer: on vision and modernity in the nineteenth century. Cambridge, Mass., London. Didi-Huberman, George (1997): Erfindung der Hysterie. München. Eisenstadt, Samuel N. (2000): Die Vielfalt der Moderne. Frankfurt am Main Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Stanford. Goschler, Constantin (2000) Hg.: Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870–1930. Stuttgart. Großklaus, Götz (2004): Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit. Frankfurt am Main. Habermas, Jürgen (1994): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze. Stuttgart. Kaes, Anton (1993): Film in der Weimarer Republik. Motor der Moderne. In: Jacobsen, Wolfgang et al. (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, 39–100. Kittler, Friedrich A. (1985): Aufschreibesysteme 1800, 1900. München. Link, Jürgen (1997): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen. Matejovski, Dirk (2000): Metropolen: Laboratorien der Moderne. Frankfurt am Main. Münz-Koenen, Inge/Fetscher, Justus (2006) Hg.: Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900-1938). Bielefeld. Münz-Koenen, Inge/Schäffner, Wolfgang (2002) Hg.: Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800–2000. Berlin. Nitschke, August et al. (1990) Hg.: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930. 2 Bände. Hamburg. Nordhofen, Eckhard (2001): Bilderverbot. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Paderborn. Oexle, Otto Gerhard (1996): Geschichte als historische Kulturwissenschaft. In: Hardtwig, Wolfgang/ Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Kulturgeschichte heute. Göttingen, 14–40. Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (2005) Hg.: Wahn-Wissen-Institutionen. Undisziplinierbare Näherungen. Bielefeld. Peukert, Detlev J. (2003): Die Weimarer Republik: Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt am Main. Revel, Jacques (1996) Hg.: Jeux d’échelles. La micro-analyse à l´expérience. Seuil. Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina (1997) Hg.: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin. Rose, Nikolas (1998): Inventing our Selves: Psychology, Power and Personhood. Cambridge. Sachse, Carola (1990): Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie: Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung im 20. Jahrhundert. Hamburg. Schäfer, Armin/Vogl, Joseph (2004): Feuer und Flamme. Über ein Ereignis im 19. Jahrhundert. In: Schmidgen, Henning et al. (Hg.): Kultur im Experiment. Berlin, 191–211. Schauz, Desirée (2010): Historikertag 2010: Wissenschaftsgeschichte. In: H-Soz-u-Kult, 18.11.2010 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=1420&type=diskussionen, letzter Zugriff am 8.7.2011).

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Schuller, Marianne (1990): Weibliche Neurose und kranke Kultur. Zur Literarisierung einer Krankheit zur Jahrhundertwende. In: Schuller, Marianne (Hg.): Im Unterschied: Lesen, Korrespondieren, Adressieren. Frankfurt am Main, 1–45. Schuller, Marianne/Reiche, Claudia/Schmidt, Gunnar (1991) Hg.: Bildkörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin. Berlin, Münster, Zürich, Hamburg. Schwarz, Angela (1999): Der Schlüssel zur modernen Welt: Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). Stuttgart. Vogl, Joseph (1999): Poetologien des Wissens um 1800. München.

Volker Hess und Sophie Ledebur

Psychiatrie in der Stadt. Die Poliklinik als Schwellenphänomen einer urbanen Moderne

In der Geschichte des modernen Krankenhauses ist die Poli- oder Stadtklinik ein vergleichsweise neues Phänomen. In Berlin wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahezu alle Kliniken um diese Einrichtungen zur Behandlung ambulanter Patienten erweitert, um, den Mahnungen der Kliniker folgend, die praktische Ausbildung von Ärzten zu stärken. Denn die Polikliniken erhöhten den Durchsatz, wie es zeitgenössisch hieß, wissenschaftlich interessanten Materials und gaben den Klinikern reichlich Gelegenheit, just jene Patienten zu rekrutieren, die sie für ihre Forschung und Lehre zu brauchen glaubten. Diese fachhistorische Binnenperspektive wird der besonderen Funktion der Poliklinik jedoch nur unzureichend gerecht. Denn die Poliklinik diente keineswegs nur als Drehscheibe oder Scharnier für die Rekrutierung „interessanten Materials“. Vielmehr charakterisiert sie mit ihrem Angebot der ambulanten Beratung und Behandlung in mehrfacher Weise die wachsende Stadt. Dies gilt insbesondere für die Poliklinik der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. Mit ihr öffnete sich die institutionalisierte Psychiatrie – gewissermaßen in Umkehrung der „großen Einsperrung“1 – zur Stadt und wurde Teil des urbanen Lebens. Als Institution stellte die Poliklinik in doppelter Weise eine hybride Einrichtung dar. Zum einen brachte sie mit den ambulanten Patienten die Stadt ins Krankenhaus. Die Ärzte sahen sich in den poliklinischen Sprechstunden mit Beschwerden und Leiden konfrontiert, die sie bislang nicht gekannt hatten. Denn eine stationäre Aufnahme war weitgehend jenen vorbehalten, die unvermögend oder gemeingefährlich oder gar beides waren. Zum anderen brachte die Poliklinik aber auch die Psychiatrie in die Stadt, indem sie die Deutungsmacht und den Wirkungsbereich der wissenschaftlichen Psychiatrie weit in den häuslichen Lebensbereich hinein ausdehnte. Die Poliklinik diente nämlich keineswegs nur der Rekrutierung oder Nachsorge stationär behandelter Patienten. Viele wurden niemals aufgenommen, aber kamen dennoch – ambulant – in den Genuss der neuen Behandlungsweisen, mit denen das Fach an den wissenschaftlich-technischen Fortschritten partizipierte. Die Einrichtung der Poliklinik figurierte auf diese Weise einen Schwellenraum par excellence. Diesen Schwellenraum zwischen Stadt und Anstalt in seinen unterschiedlichen Facetten auszuleuchten, ist Ziel unseres Beitrages. Wir wollen hierbei den geläufigen institutionellen 1

Foucault 2001, 68–98; Blasius 1994.

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Blick wenden und nicht von den Erfordernissen und Notwendigkeiten ausgehen, mit denen die zeitgenössische Psychiatrie die Gründung der Poliklinik durchsetzte. 2 Stattdessen werden wir im ersten Abschnitt unseres Beitrages die lokale Verortung der Klinik im städtischen Raum betrachten. Hierbei ist es notwendig, die institutionelle Entwicklung des Faches mit der Berliner Stadtentwicklung eng zu führen, um den Genius loci nachzuzeichnen.3 Nicht nur topografisch bildete die Poliklinik einen hybriden Raum zwischen Stadt und Krankenhaus. Sie unterlief auch die institutionellen Grenzziehungen des Krankenhauses in Form hochgradig regulierter Einweisungs- und Aufnahmemodalitäten auf eine spezifische Weise, die im zweiten Abschnitt unseres Beitrages ausführlicher diskutiert wird. Die enge Verzahnung der vielfältigen Funktionen der Poliklinik und ihr Status als spezifisch urbane Einrichtung bieten aber nicht nur der historischen Stadtforschung, sondern auch der Wissenschaftsgeschichte ein großes Potenzial. Denn die Poliklinik lässt sich weitergehend als epistemischer Schwellenraum charakterisieren, der die Beobachtung und Kenntnis neuer Krankheitsformen vermittelte und damit die topografische Ordnung in eine Wissensordnung übersetzte. Die Techniken und Praktiken, die zur Darstellung, Stabilisierung (Dokumentation) und Vermittlung dieses poliklinischen Wissens eingesetzt wurden, erlauben auch die performative Herstellung dieses Wissensraumes nachzuzeichnen.

1. Topografischer Schwellenraum Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte die rasante Erweiterung der Stadt das einstmals vor dem Spandower Thore gelegene Armenkrankenhaus ins Weichbild der Stadt geholt (siehe Abbildung 1.1). Westlich der Dammstraße, der heutigen Friedrichstraße, entstand nach Reichsgründung das Amüsierviertel Berlins, angefangen vom Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater (heute Deutsches Theater) über den 1873 abgeschlossenen Umbau der alten Markthalle am nördlichen Spreeufer in eine 5.000 Zuschauer fassende Zirkusarena (auf Höhe der heutigen Parteizentrale der FDP) und das „Neue Theater“ am Schiffbauerdamm (heute Berliner Ensemble). Künstlern und Bohemiens dienten die Cafés und Kneipen wie das Café Lang an der Weidendammbrücke, das „Genie-Konvent“ im Café Kuhstall in der Invalidenstraße, der Ethische Klub im Franziskanerbierkeller in der Behrenstraße, das berüchtigte „Schwarze Ferkel“ in der Neuen Wilhelmstraße oder auch die Halbweltcafés am Oranienburger Tor als beliebte Treffpunkte.4 2 3 4

Vgl. hierzu Engstrom 2000 und Engstrom 2004. Vgl. hierzu Matthiesen 2008. Satyr 1906, 6, vgl. weiterhin Sprengel 1998, 126–128. Zur Rolle des „Schwarzen Ferkels“ siehe u.a. Paul 1921.

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Abb. 1.1: Berlin Friedrich-Wilhelm-Stadt

Auch vom Westen näherte sich die Stadt: Bereits Mitte des Jahrhunderts wurde die sogenannte Verbindungsbahn errichtet, der noch ebenerdig geführte Vorläufer der Stadtbahn. Ausgehend vom nördlich der Charité gelegenen Hamburger Bahnhof ging sie über den Spreebogen und führte entlang der Akzise-Mauer zum Potsdamer Bahnhof und Schlesischen Bahnhof und verband alle Berliner Kopfbahnhöfe. Zwischen 1870 und 1890 wurden die ursprünglichen Dreh- und Zugbrücken über den Spreebogen durch feste Konstruktionen ersetzt und damit die feuchten Niederungen der Panke mit dem vornehmen Westen, dem großbürgerlichen Alsenviertel verbunden.5 Wer von der Charité aus die Unterbaumbrücke 5

Der Anschluss an die alte Stadtmitte erfolgte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: 1820 wurde die Marschallbrücke zwischen Luisen- und Wilhelmstraße errichtet, 1824 folgte die Ebertbrücke (zwischen Tucholsky- und Universitätsstraße) und 1826 wurde die in England entwickelte gusseiserne Weidendammbrücke in Betrieb genommen. Erst im Kaiserreich erfolgte der Brückenschlag in den Berliner Westen: 1879 wurde die Kronprinzenbrücke an der Stelle der früheren Unterbaumbrücke errichtet, wenige Jahre später folgte mit der Moltkebrücke eine Anbindung des vornehmen Alsenviertels, das sich (auf dem Gelände des heutigen Spreebogens) bis zum Reichstag erstreckte.

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passierte, querte zunächst das Lessing-Theater, stieß dann auf das Gebäude des „Großen Generalstabs“ (wo heute das Bundeskanzleramt steht) und kam schließlich, die Moltkebrücke überquerend, zum großen Glaskuppelbau des Marine-Panoramas, der seit 1899 das Deutsche Kolonialmuseum beherbergte. Im Nordwesten führte die Sandkrugbrücke um den Humboldthafen. Dem Ausbau der Berliner Wasserwege verdankte die Charité einen entscheidenden Geländegewinn, da man zugunsten eines neuen, weiter westlich gelegenen Schifffahrtskanals den alten Schönhauser Graben zugeschüttet hatte. Auf dessen morastigen Boden waren Ende des 19. Jahrhunderts die Kinderklinik, die Infektionsbaracken und das Pathologische Institut nebst Museum errichtet worden. Auf der anderen Seite des Kanals, durch die gemauerten Viadukte der Stadtbahn getrennt, lag Berlins größter Umschlagplatz für Waren und Schwergüter, die zum An- und Abtransport der wachsenden Industriebetriebe auf Wasser und Schiene verladen wurden.6 Damit war unmittelbar nördlich der Charité der zentrale Verkehrsknotenpunkt des neuen Berlins entstanden: An den Hamburger und Lehrter Bahnhof schlossen sich nach Nordwesten die Industriegebiete Moabits, nach Nordosten das so genannte „Feuerland“ an, wo sich seit 1830 auf engstem Raum die frühindustrielle Eisenverarbeitung ballte, bevor die großen Industriebetriebe Ende des Jahrhunderts nach Moabit und Tegel umsiedelten.7 Weiter östlich befand sich vor dem einstigen Rosenthaler Tor das Scheunenviertel, in dem die nach Berlin zuziehenden Arbeiter in den eilends hochgezogenen Mietskasernen und Armenquartieren mehr schlecht als recht Unterkunft fanden. Die Stadt hatte damit das einstige Pestlazarett bis Ende des 19. Jahrhunderts gewissermaßen umarmt – von den neuen Machtzentren der Politik, des Militärs und des Großbürgertums im Süden und Südwesten, vom größten Güterumschlagplatz Berlins im Westen, von der rasch wachsenden Industrie im Nordwesten und Nordosten, dem alten Armenviertel und neuen Elendsquartieren im Osten, und schließlich von der Welt des Glamours und Glitzer, dem Bühnen- und Theaterviertel im Südosten zur Friedrichstraße hin. Das Krankenhaus lag damit im topografischen Schnittpunkt all dessen, was eine wachsende Metropole jener Jahr6

7

1708 wurde der Schönhauser Graben zur Verbindung von Spree und Panke ausgehoben, um zu Wasser zwischen den königlichen Schlössern (Charlottenburg, Mitte und Schönhausen) zu reisen. Dieser Weg wurde im 18. Jahrhundert auch für die Versorgung der Charité genutzt, höchstwahrscheinlich auch für Patiententransporte. Der Schönhauser Graben mündete in Höhe der Unterbaumbrücke (seit 1879 Kronprinzenbrücke) in die Spree. Der Schönhauser Graben wurde in den 1870er Jahren zugeschüttet, als der Humboldthafen für die Anbindung an den Berliner-Spandauer Schifffahrtskanal errichtet wurde. In der Invalidenstraße war seit dem frühen 19. Jahrhundert die Königlich Preußische Eisengießerei angesiedelt, in den späten 1820er und 30er Jahren folgten mit Franz Anton Egells, August Borsig und Friedrich Anton Pflug die ersten privaten Unternehmungen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren im Areal zwischen Invaliden-, Chaussee-, Oranienburger und Torstraße über 30 metallverarbeitende Betriebe angesiedelt.

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zehnte charakterisierte. Die Stadtentwicklung hatte das einst randständige Krankenhaus in die Mitte der tief greifenden Veränderungen des urbanen Lebens geholt. Wie wirkte sich diese neue Verortung auf das Krankenhaus aus? In welcher Weise interagierte die Institution mit der ihr zugewachsenen Nachbarschaft? Und in welcher Weise partizipierte die Medizin an der urbanen Transformation der Stadt? Eine erste Antwort gab der Große Umbau 1897–1917 der Charité zur Jahrhundertwende,8 der mit der über fast zweihundert Jahre fest gefügten Krankenhausanlage brach. Hatten sich alle Vorläuferbauten bis dahin auf die einstmals hölzerne Klappbrücke zur Spree hin orientiert, über die das größte Krankenhaus Preußens erreichbar war,9 so wurde nun die Symmetrieachse neu justiert. Von der Charitéstraße wurde der Verkehr nun über den Karlplatz und die Luisenstraße bis Unter den Linden geführt. Damit „blickte“ der Haupteingang nicht nur auf das politische Machtzentrum entlang der Wilhelmstraße. Auch das „Hinterland“ der Charité wurde in die Planungen einbezogen. Mit dem Um- und Neubau der rund 15 Funktionsbauten erhielt das Gelände eine neue Ausrichtung.10 Die Charitéstraße endete nicht mehr blind am großen Eingangstor, sondern durchschnitt „das gesamte Grundstück von der Schumannstraße bis zum Alexander-Ufer“,11 also zum Hamburger und Lehrter Bahnhof hin. Dort wurde ein Nebeneingang mit eigenem Pförtnerhäuschen geschaffen. Die Charité wurde damit auf einer langen Achse angeordnet, die vom repräsentativen Pariser Platz mit seinen großbürgerlichen Stadthäusern am Brandenburger Tor bis hin zum Verkehrsknotenpunkt zwischen Stadtbahn, Lehrter, Hamburger und Stettiner Bahnhof reichte. Für unser Argument entscheidend ist, dass sich die Planer bei dem architektonischen ReArrangement des Krankenhausraums keineswegs aus ästhetischen oder hygienischen Gründen an dieser imaginären Achse orientierten. Vielmehr hatten sie den Strom von Besuchern und Kranken im Blick, der (wie einst das Panke-Wasser im Schönhauser Graben) gezielt kanalisiert und geleitet werden sollte: Die neue Symmetrieachse der Charitéstraße diente explizit dem Ziel, den „Verkehr mit den Polikliniken den neben ihr belegenden Kliniken“ zu regeln.12 Dass die Kommunikation mit der Öffentlichkeit in die Überlegungen zur Anlage eines Krankenhauses einbezogen wurde, ist keineswegs ungewöhnlich. Bemerkenswert ist vielmehr 8 9

Beddies et al. 2010. Auch der Ende des 18. Jahrhunderts errichtete große Dreiflügelbau hatte mit seiner fast 150 m langen Vorderfront des Mitteltrakts unmittelbar an den Weg zur Unterbaumbrücke angeschlossen. 10 Dies ist noch deutlicher im ersten Entwurf des Umbaus von 1896 zu sehen, in dem die Medizinischen und Chirurgischen Universitätsklinika spiegelbildlich beiderseits einer neuen Symmetrieachse angeordnet waren, die vom Gräfe-Denkmal an der Ecke Schumann-/Luisenstraße zum Haupteingang der neuen Nervenklinik verlief (Schaper 1897). 11 Schaper 1897, 23. 12 Ebenda.

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die Art und Weise, wie die Krankenhausplaner darüber dachten. Denn üblicherweise wurde auf eine rigide Grenzziehung zwischen dem öffentlichen und dem Binnenraum der Anstalt abgehoben:13 Aufnahmereglements, Einlasskontrollen und Hausordnungen fungierten als administratives Pendant zu den dicken Mauern, die das Krankenhaus vom Stadtraum schieden. Das galt auch für die Charité. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Aufnahme mit preußischer Gründlichkeit administrativ geregelt: Vor Eintritt eines Kranken wurden im zentralen Aufnahmebüro die Personalien aufgenommen, der Einweisungsschein kontrolliert, die persönlichen Verhältnisse mithilfe eines sogenannten Vernehmungsbogens erfasst, Geld und Wertgegenstände eingesammelt, das mitgebrachte Eigentum registriert und die zivile Bekleidung in eine Anstaltswäsche eingetauscht, bevor der Patient nebst zahlreichen Formularen mit einer laufenden Aufnahmenummer inventarisiert auf die zuständige Krankenabteilung gebracht wurde.14 Dieser Aufwand wird durch den notorischen Streit mit der Kommune um freie Verpflegungstage und die zunehmende Kostenerstattung durch Gewerke- oder Fabrikkassen nicht hinreichend erklärt.15 Hinter solchen Maßnahmen verbarg sich vielmehr das Leitbild einer geschlossenen Einrichtung. Besucher wurden grundsätzlich als lästig betrachtet,16 Studentenunterricht galt als Anlass „mancherlei Störungen“, und Polikliniken waren erst recht ein beständiger Quell des Ärgernisses, weil „die Contrôle über den Besuch der Anstalt ... erheblich erschwert“ werde.17 Der Große Umbau stand hingegen für einen neuen Umgang mit dem Publikum. Statt die rigide Kontrolle weiter auszubauen, wurden die „Menschenströme“ durch ein räumliches Arrangement geführt. Kaum eine Einrichtung demonstriert diese gewissermaßen in Stein gemauerte Politik so anschaulich wie die neue Kinderklinik, die zwischen 1901 und 1903 an der südwestlichen Ecke des Charité-Geländes errichtet wurde (Abbildung 1.2). Das dreigliedrige Ensemble aus Poliklinik, Lehrgebäude und Krankenflügel verfügte über zwei Haupteingänge. Ambulanten Patienten war ein eigener Eingang in der Schumannstraße vorbehalten. Passierten die aus der Stadt kommenden Kranken den Eingang, standen sie in einer Eingangshalle, wo sie von einem aufmerksamen Pflegepersonal auf zwei Wegen der weiteren poliklinischen Behandlung „zugeführt“ wurden: Geraden Wegs in den großen Wartesaal, der unmittelbar an die Untersuchungszimmer und den Hörsaal grenzte, linker 13 14 15 16

Diese Änderung der policy übersieht die „lange Geschichte“ der Anstalt von Brink 2010. Hess 2010b. Vgl. hierzu Engstrom und Hess 2000. In den 1850er Jahren hatte man sogar „aus Sorge für den Kranken“ die sonntäglichen Besuchszeiten abgeschafft, da „sich die Zahl der Besucher an den Sonntagen und bei gutem Wetter bis in die Tausende“ steigerte (Esse 1850, 549). 17 Schreiben des Verwaltungsdirektors an das Kultusministerium vom 24. August 1871, GStA PK, Rep 76 VIII D, Nr. 121, Bl. 89.

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Abb. 1.2: Grundriss der neuen Kinderklinik der Charité, 1905

Hand in einen speziellen Wartebereich, wenn die Kinder Symptome für eine ansteckende Erkrankung zeigten. Der eine, gerade Weg führte direkt in den klinischen Flügel mit den Unterrichts- und Laborräumen, der andere endete in einem kleinen Seitenausgang zu den Infektionspavillons hinter der Klinik.18 Die Rationalität dieser räumlichen Ordnung ist offensichtlich. Zum einen wurden Kinder mit ansteckenden Infektionskrankheiten bereits beim Übertritt aus dem öffentlichen Straßenraum in die Klinik abgesondert, zum anderen Forschung und Lehre in den Mittelpunkt aller klinischen Bemühungen gestellt. Denn der Mitteltrakt mit seinen Unterrichts-, Untersuchungs- und Laborräumen im ersten Stock des Hauptflügels bildete die Passage auf dem weiteren Weg in die Krankensäle im Nordflügel, wo sich der eigentliche Eingang zur Klinik befand. Drittens schuf diese funktionale Trennung einen neuen Raum, der weder vollständig in das Krankenhaus integriert war, noch einen von ihm getrennten, eigenständigen Raum darstellte. Die Poliklinik bildete auf diese Weise ein parallel zum Strom der stationären Aufnahmen geschaltetes Element im institutionellen Mauerwerk der Charité. Wenn Eltern mit ihrem kranken Kind aus der Stadt kamen, überschritten sie wenige Meter vom Haupteingang getrennt die imaginäre Grenze zwischen dem öffentlichen Außen und dem institutionellen 18 Alternativ wurden die Kinder über einen kleinen Hintereingang ins Freie und an der Klinik vorbei zu den weiter entfernten Infektionsbaracken gebracht.

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Abb. 1.3: Entwurf für den großen Umbau der Charité (1905)

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Abb. 1.4: Ausschnitt des Lageplans der Charité mit Eingang vom Alexanderufer (1904)

Innen: Westlich lag die Türe zum Wartesaal der Poliklinik, östlich das Hauptportal für stationäre Aufnahmen. Das Beispiel dieser Einrichtung veranschaulicht das Organisationsprinzip. Auch die neurologische Poliklinik wurde 1904 im Zuge des Neubaus der Psychiatrie in den klinischen Workflow eingepasst, aber nicht dem gleichen institutionellen Zwang wie die stationäre Klinik unterworfen. So durchbrach die Nervenpoliklinik die strenge Geschlechtertrennung entlang der Symmetrieachse der Klinik und wurde im Erdgeschoss des Westflügels des Vorderhauses untergebracht. Dort schloss sie nicht nur an die Laborräume im östlichen Seitenflügel an, sondern bot zugleich die Möglichkeit, poliklinische Patienten über die Treppe und ohne einen Krankensaal passieren zu müssen, in die im ersten Stock gelegenen Unterrichtsräume­ oder in die therapeutischen Einrichtungen (Licht- und Sandbad) im Sockelgeschoss zu schleusen. Die Poliklinik war damit – erstmals in ihrer langen Geschichte – in die Nervenklinik räumlich, organisatorisch und funktionell integriert, aber nicht Teil ihrer disziplinären Ordnung. Sie war, wie der Blick auf den Lageplan der Klinik offenbart, Teil des Binnenraumes, stellte zugleich aber eine Verlängerung des öffentlichen Straßenlands dar. Denn die

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Nervenpoliklinik wurde über einen Nebeneingang erreicht, der schräg gegenüber des Pathologischen Museums und nur wenige Schritte von der neu geschaffenen Krankenhauspforte am Alexanderufer entfernt war (Abbildungen 1.3 und 1.4). Alle anderen Türen der psychiatrischen Institution lagen hinter hohen Mauern, sieht man vom Haupteingang ab, wo ein Pförtner den Ein- und Ausgang überwachte. Der Blick auf den Grundriss und Lageplan erschließt das entscheidende Argument: Besucher der Poliklinik mussten nicht denselben Weg wie die stationären Patienten nehmen. In gleicher Weise, wie die zum Alexanderufer verlängerte Charitéstraße für den „äussere[n] und innere[n] Verkehr mit dem Pathologischen Institut“ gedacht war,19 bot auch die von den institutionellen Mauern freigelassene Tür zur Poliklinik dem eiligen Besucher vom Stadt- oder Lehrter Bahnhof kommend einen raschen wie bequemen Zugang, ohne die Charité in ihrer ganzen Ausdehnung queren zu müssen. Dass dies Argument gewesen sein mag, zeigt die steigende Anzahl derjenigen, die von der Charité als auswärtige Patienten der Poliklinik geführt wurden. Von der Öffnung zur Stadt und der Anbindung an den Verkehrsknotenpunkt um den Lehrter Bahnhof dürfte um 1900 rund ein Fünftel der poliklinischen Besucher profitiert haben (siehe Tabelle 1.1), nämlich jene Patienten, die aus den Vororten oder umliegenden Kreisstädten kamen. 1877

1880

1885

1889

1891

1894

1897

1900

registrierte „Annahmen“

315

165

843

779

731

697

389

1049

Auswärtige (absolut)

25

7

40

119

156

126

106

173

7,9

4,2

4,7

15,3

21,3

18,1

27,2

16,5

Auswärtige (Anteil pro Hundert)

Tabelle 1.1: Anteil der auswärtigen Besucher der Nervenpoliklinik in ausgewählten Jahren. Die steigende Anzahl nach der Öffnung (1888/89) des Geländes zur Invalidenstraße hin ist unübersehbar. (Quelle: Jahresberichte in den Charité-Annalen, kumuliert)

Die Poliklinik öffnete sich damit zur wachsenden Stadt. Sie bot freien Zugang, lag aber hinter Anstaltsmauern, sie war Teil der Klinik, aber nicht Element ihres Gefüges, sie war der strengen klinischen Hausordnung entzogen, gehörte aber nicht dem öffentlichen Straßenland an. Die Nervenpoliklinik stellte in der Topografie des wachsenden Berlins einen hybriden Raum dar, ein räumlich organisierter Zustand des Dazwischen.

19 Schaper 1897, 23.

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2. Regulativer Schwellenraum Die Raumplanung der Nervenpoliklinik mag sich im Grundprinzip kaum von der der Kinderpoliklinik unterschieden haben. Dennoch lässt die Einrichtung der psychiatrischen Klinik ein spezifisches Moment erkennen. Die Unterbringung von Geisteskranken im Binnenraum des Krankenhauses galt keineswegs als selbstverständlich. Sie war nur als Provisorium gedacht – und das seit Ende des 18. Jahrhunderts, als man die obdachlos gewordenen Insassen des städtischen Irrenhauses notdürftig in die Charité verbracht hatte.20 Immer wieder war von einer eigenen Irrenanstalt die Rede gewesen, die nicht auf dem Gelände der Charité oder zumindest möglichst randständig errichtet werden sollte. Jeder Krankenhausdirektor bemühte sich erneut, den Wahnsinn aus der Charité zu verbannen – mit dem schlüssigen und zugleich bezeichnenden Argument, dass die zeitgenössische Behandlung der Irren ein schlechtes Licht auf die Charité werfe: Erstens biete die Unterbringung von Geisteskranken „inmitten eines öffentlichen Krankenhauses“ immer wieder Anlass für öffentliche Unruhe. Trotz aller Bemühungen der Verwaltung, „den Verkehr mit den Irren [...] abzuschneiden“,21 gäbe es immer vielfältige Gelegenheiten für „eine leichte Communication mit den Angehörigen“, womit jene Missstände der „Irrenpflege“ publik würden, die jedoch „unabänderlich“ seien. Zweitens galt der klinische Unterricht in diesem Fach als eine besondere Quelle des Ungemachs. Einerseits musste den Studenten Zugang zu den Krankensälen gewährt werden, andererseits verfolge, so wurde unterstellt, ein klinischer Lehrer der Universität nur seinen akademischen Ruf. Angesichts der Zustände würde sich jeder klinische Lehrer „fortgesetzt in Klagen ergehen“ und auf diese Weise nicht nur den Ruf der Irrenanstalt, sondern darüber hinaus den des ganzen Krankenhauses gefährden.22 Alle Bemühungen der Krankenhausverwaltung, die Irrenanstalt aus der Charité, vielleicht sogar ins weitere Umland zu verlagern, scheiterten am chronischen Geldmangel der preußischen Regierung. Auch der erste Entwurf des Großen Umbaus von 1893 sah eine Auslagerung vor: Nach Ansicht des verantwortlichen Verwaltungsdirektors Hermann Schaper sollte die Psychiatrische und Nervenklinik „natürlich auf dem eigentlichen Charité-Grundstück nicht Platz finden“. Stattdessen wollte man die ungeliebte Einrichtung auf dem Gelände des Alten Kirchhofes, also in einiger Entfernung vom Krankenhaus, nahe den Neubauten der Universität am östlichen Rand der Friedrich-WilhelmsStadt unterbringen.23 Dies scheiterte jedoch am Widerstand des zuständigen Lehrstuhlinhabers. 20 Hess 2010a. 21 Schreiben des Verwaltungsdirektors an das Kultusministerium vom 16. August 1860, GStA PK, Rep 76 VIII D, Nr. 119, o.P. 22 Ebenda, Schreiben des Verwaltungsdirektors an das Kultusministerium vom 4. September 1860. Dies war keineswegs abwegig wie beispielsweise auch Horn 1818 zeigt. 23 Schaper 1893, 1206. Auf diesem Gelände wurde später das Hygienische bzw. Physiologische Institut, das Chemische Institut und das Gerichtsmedizinische Institut (1886) mit dem Berliner Leichenschauhaus errichtet.

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Abb. 1.5: Grundriss der Psychiatrischen und Nervenuniversitätsklinik der Charité, 1905

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Stattdessen wurde die 1904 eingeweihte Nervenklinik (Abbildung 1.3) als eine der ersten Neubauten errichtet. Die Nervenklinik erhielt – auch in der räumlichen Ordnung der Anlage – eine zentrale Stellung. Statt des Displacement kam nun das bereits beschriebene ausgefeilte Arrangement zur Trennung des Patienten- und Besucherstromes zum Einsatz. Diese symbolische Raumordnung bezog auch die Poliklinik ein. Wurde Griesingers Poliklinik, die aus der Armenambulanz hervorgegangen war, noch im Hörsaal der Propädeutischen beziehungsweise II. Medizinischen Klinik abgehalten,24 so wurde die von Carl Westphal (1833–1890) im Jahre 1871 durchgesetzte Neugründung der Nervenpoliklinik in einer Baracke am Rande des Charité-Geländes angesiedelt. In den 1890ern wurde diese schließlich in das Preußische Institut für Infektionskrankheiten verlegt, das in einem Wohnhaus in der Schumannstraße einquartiert war.25 Die Unterbringung dort, vor den Toren der Charité in einem unabhängigen Forschungsinstitut, bildete den ersten Schritt der Psychiatrie auf dem Weg in die Stadt. Die Planungen für die Polikliniken beim Großen Umbau folgten erkennbar der Rationalität, dem „Laufpublikum“ einerseits den Zugang zu erleichtern, diese Patientenströme andererseits vom inneren Krankenhausbetrieb fernzuhalten. Auch der Unterbringung im Seitenflügel der Nervenklinik (Abbildung 1.5) darf man unterstellen, auf zweifache Weise die Wege von „außen“ und „innen“ zu regulieren, nämlich einen neuen Zugang zu schaffen und institutionelle Lücken in die Mauern der Anstalt zu schlagen, diesen geöffneten Bereich aber zugleich vom Binnenraum der Klinik abgegrenzt zu halten.26 24 Es bleibt schwierig sich vorzustellen, wie im Routinebetrieb eines großen Krankenhauses mit rund 800 Betten eine Einrichtung betrieben werden konnte, die wesentlich auf einen freien Zugang aus der Stadt angewiesen war. Griesinger hatte sich als Berufungszusage die Leitung der Medizinischen Poliklinik zugesichert. Diese Poliklinik geht auf das Ambulatorium zurück, das Hufeland in den Räumen der Universität im ehemaligen Kronprinzenpalais abhielt. Die Poliklinik übernahm einen Distrikt der Armenversorgung (Senator 1910, 1880). 25 Das wegen seines dreieckigen Grundrisses auch als Triangel bezeichnete Wohnhaus stand ungefähr auf dem Grund des heutigen Verwaltungsgebäudes. Zur Gründung des Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten s. Hüntelmann 2008. 26 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� In dieser räumlichen Ordnung artikulierte sich eine organisatorische Logik, die das schwierige Verhältnis zwischen Klinik und Krankenhaus regulierte. Einerseits war das Krankenhaus auf einen möglichst zielgerechten Einsatz der stets zu knappen Ressourcen bedacht, nämlich auf die Versorgung der Berliner Kranken, zu der es nach Stiftungsauftrag verpflichtet war. Mit der Kommunalisierung der Berliner Armenfürsorge wuchs die einstmals mustergültige Ordnung einer frühmodernen Mildtätigkeit (i. e. Charité) zu einem komplizierten Regelwerk (������������������������������������������� Förster 1895������������������������������� ): Ledige Schwangere wurden unabhängig von ihrem Wohnort wenige Wochen vor und nach Geburt ihres Kindes umsonst, d. h. auf Kosten des Charité-Etats aufgenommen. Die Behandlung von geschlechtskranken Dirnen wurde bis zum Verbot der Prostitution aus der sogenannten Hurenkasse bestritten, danach hatte die Stadt dafür aufzukommen. Behandlungsbedürftige Armenkranke aus Berlin wurden immer aufgenommen, ihre

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Dabei spielte der Status „geisteskrank“ eine entscheidende Rolle. Die Aufnahme der „Irren“ (so der zeitgenössische Terminus) unterlag besonderen Regeln. Nach Stiftungsauftrag hatte die Charité alle unbemittelten Berliner Geisteskranken kostenfrei zu versorgen, sofern sie heilbar waren. Diese Festlegung war dehnbar. In den 1860er Jahren mehrten sich die Klagen, dass die Charité inzwischen fast jeden Geisteskranken zu den unheilbaren zähle, während der Stadt früher nur die „ganz ungefährlichen ‚still vegitirenden Blödsinnigen“ in Rechnung gestellt worden seien.27 Auf beiden Seiten traf man zur Abwehr finanzieller Ansprüche besondere Vorkehrungen: An der Charité wurde ein spezieller Fragebogen für die einweisenden Ärzte eingeführt,28 die Stadt wiederum brachte psychisch erkrankte Arme erst ins Armenhaus, um sich über das Ausmaß und die Schwere einer Erkrankung zu versichern, bevor eine Einweisung, oftmals erst nach Wochen, in die Charité erfolgte. In der Klinik wiederum musste jede Aufnahme in die Irrenabteilung – abweichend von allen anderen Abteilungen – erst von der Krankenhausdirektion genehmigt werden, ebenso durfte kein Patient ohne deren Zustimmung entlassen werden. In diesem bürokratischen Regelwerk übernahm die Poliklinik eine dreifache Funktion. Erstens schuf sie einen administrativen Freiraum, in dem das strenge Aufnahmereglement nicht galt. Die Poliklinik kam ohne jenen Papieraufwand aus wie doppelte Krankenaktenführung, tägliche Rapporte, Wochenstatistiken oder Monatsübersichten, mit denen die Verwaltung der Charité die Ausgaben zu begrenzen suchte. Vielmehr blieb die poliklinische Behandlung kostenfrei, da sich die Kultusbehörde dem wiederkehrenden Argument der Kliniker beugte. Die ambulanten Einrichtungen galten als unentbehrlich, da sie „den stationären Kliniken [ein reiches Material] zur Verwertung“ in Forschung und Lehre zuführten.29 Zweitens unterlief die Poliklinik die institutionellen Mauern der Krankenanstalt: Wenn man poliklinische Patienten gezielt für den Aufnahmetag der Nervenklinik einbestellte, konnte man im Aufnahmebüro interessante Fälle am Zugriff der ebenfalls an diesem „Material“ interessierten Kollegen der Medizinischen Kliniken vorbei in die eigenen Krankensäle schleusen.30 Drittens

27 28 29 30

Behandlung jedoch der Stadt in Rechnung gestellt, wenn das jährliche Kontingent an freien Verpflegungstagen verbraucht war. Für Handwerker und Arbeiter hingegen hatte die Berliner Kommune seit Mitte des Jahrhunderts eine Krankenversicherungspflicht eingeführt, da ihr deren Behandlung ansonsten ebenfalls in Rechnung gestellt wurde. Ausdifferenziert wurde das Regelwerk durch beständige, gerichtsnotorische Auseinandersetzungen zwischen staatlicher Krankenhaus- und städtischer Armenverwaltung. Mit ihnen wurde zugleich das Aufnahmeverfahren immer weiter bürokratisiert: Bereits in den 1820er Jahren wurde der bereits erwähnte „Vernehmungsbogen“ eingeführt, der wiederum die Vorlage für die ersten Krankenblatt-Formulare lieferte. Magistrat der Stadt Berlin 1863, 72. Esse 1850, 534–537. Alexander 1908, 83. Zum Prinzip der „Prärogation“ siehe Hess 2000.

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ebnete die Poliklinik die Zugangshürden zu den therapeutischen Errungenschaften, da sie das neu entwickelte apparative Instrumentarium ambulanten Patienten zugänglich machte.31 Bereits bei Gründung der Poliklinik bildete die elektrotherapeutische Behandlung den „wesentlichen Teil derselben“,32 und ein beträchtlicher Teil der Patienten, über den nicht Buch geführt wurde, kam nur für solche Anwendungen. Mit der Poliklinik wurde die institutionalisierte Behandlung psychisch Kranker in die ambulante Versorgungsstruktur der Stadt eingebunden und vernetzt.33 Vielfach kamen die Hilfesuchenden aus eigenem Antrieb: In den meisten Fällen finden sich keine Hinweise auf eine Überweisung oder Atteste. Andere Klienten (etwa jeder 15.) wurden von ihrem behandelnden Arzt überwiesen oder legten Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers vor.34 Die Poliklinik konkurrierte dabei mit den niedergelassenen Nervenärzten, was zunehmend Konflikte bereitete.35 Im Gegensatz zur privat- und kassenärztlichen Behandlung beim niedergelassenen Spezialisten zog der Besuch der Poliklinik nämlich keine weiteren Kosten für die Patienten beziehungsweise deren Kostenträger nach sich.36 Die Poliklinik war jedoch alles andere als eine Armeneinrichtung. Ihre Klientel rekrutierte sich aus allen sozialen Schichten der Stadt. So findet sich in den Journalen eine bunte Mischung, die von den labouring poor (Arbeiter, Kutscher, Näherinnen, Handwerksgesellen) über die neuen Industrieberufe (Metalldreher, Maschinenarbeiter) bis in

31 Hierzu zählten neben der erwähnten Elektrotherapie mit wechselnden und konstanten Strömen insbesondere auch Licht- und Balneotherapie. 32 Westphal 1874a, hier 420. 33 Eric Engstrom hat auf die sozialprophylaktische Funktion der an vielen deutschen Universitäten um 1900 gegründeten psychiatrischen Polikliniken aufmerksam gemacht. Die Psychiatrie konnte mit diesen Einrichtungen einerseits den sozialen Nutzen ihrer Tätigkeit aufzeigen und andererseits der seit den 1890er Jahren weitverbreiteten, gegenüber der Psychiatrie äußerst kritischen Haltung ein wirksames Mittel entgegensetzen – eine Strategie, die sich mit den stark steigenden Zahlen der Konsultationen als erfolgreich erwiesen hat. Diese Poliklinik war somit ein wesentliches Element zur Überwindung der Vorurteile und Grenzen, die die psychiatrischen Institutionen von einer breiteren Gesellschaft trennte (Engstrom 2004). Die Poliklinik für Nervenkranke an der Charité war jedoch lang vor der einsetzenden Psychiatriekritik eingerichtet worden, weshalb ihre Gründung wohl eher mit der Nutzbarmachung des reichen „Patientenmaterials“ in Zusammenhang stand. 34 Vgl. hierzu das Empfehlungsschreiben von Karl Otto Naumann (1852–1925) vom 20. April 1897 für den Rechnungsrat F. B., der am 21. April 1897 in der Poliklinik behandelt wurde (BA NPK HPAC, 1896-1897, No. 46). Überweisungsschreiben (teilweise auch auf der Visitenkarte) z. B. von Dr. Solger für C. S. (15. Februar 1897, No. 1526) oder für W. B. (23. April 1897, No. 68); Visitenkarte E. M. zu No. 561 (ebenda); Schreiben von Max Levy (auf Rezept) vom 22. Oktober 1897, ebenda No. 584). Die meisten ärztlichen Überweisungen kamen aus den anderen Universitätspolikliniken. 35 Alexander 1908. 36 Diese „wohltätige Funktion“ folgte der Tradition gemäß der die Poliklinik im frühen 19. Jahrhundert noch in die kommunale Armenfürsorge integriert war.

Volker Hess und Sophie Ledebur

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die akademischen Mittelschichten (Lehrer, Ärzte und Privatdozenten) reichte.37 Zugleich stieg die Nachfrage einer poliklinischen Behandlung sprunghaft an (vgl. Tabelle 1.2).38 Wurden in den ersten Jahren zwischen 200 und 300 Patienten registriert, so stieg deren Anzahl bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf über 6.000 Besucher jährlich. Die Klage der niedergelassenen Spezialisten, dass ihnen „eine starke Erwerbsquelle entzogen“ werde, verwundert somit nicht.39 Jahr

Poliklinik

Verhältnis ambulant : stationär

Nervenklinik insgesamt

Neurologische Abteilung

Psychiatrische Abteilung

1879/80

165

0,1

983

131

852

1884/85

843

0,4

2121

169

1925

1889/90

811

0,3

2558

248

2310

1894/95

751

0,3

2547

213

2334

1900

1049

0,5

2134

259

1875

1905

2684

1,2

2231

478

1753

1910

5814

2,7

2154

464

1690

1912

6471

3,4

1909

501

1408

Tabelle 1.2: Anteil der poliklinischen Patienten im Vergleich zur neurologischen und psychiatrischen Abteilung der stationären Klinik (Quelle: Jahresberichte in den Charité-Annalen, kumuliert)

Die Poliklinik entwickelte sich damit zu einem wichtigen Element jenes städtischen Arrangements aus Arztpraxen, Polikliniken und klinischen Privatanstalten, welches sich im „medizinischen Quartier“ zwischen Reinhardt- und Luisenstraße verdichtete. Um 1900 waren 65 Nervenärzte in Berlin nebst Vororten niedergelassen, von denen allein ein knappes Drittel ihre Dienste in fußläufiger Entfernung zur Charité anbot. Nicht nur die Oberärzte der Charité- und Universitätskliniken betrieben ihre Privatpraxis in unmittelbarer Nachbarschaft, aus der sie den wesentlichen Teil ihres Einkommens bezogen. Vielmehr hatten sich auch viele Ärzte, die nicht direkt mit der Charité in Verbindung standen, dort niedergelassen, um leichter Studenten für ihre Privatkurse rekrutieren und von den günstigen Verkehrsanbindungen und der hohen Attraktivität des medizinischen Umfelds profitieren zu können. 37 ������������������������������������������������������������������������������������������������ So wurden beispielsweise am 14. Dezember 1896 der Lehrer H. S., der Bahnmeister K. H., der Kaufmann P.S., die Wirtin M. U. und der Eisenbahn-Wagenmeister E. H. behandelt (BA NPK HPAC, 1896-97, No 1357-61). 38 In den ersten Jahren wurde die Poliklinik an zwei Tagen, seit den späten 1890er Jahren an drei Tagen die Woche abgehalten (Bonhoeffer, 22). Dies erklärt aber nicht alleine den starken Anstieg nach 1905. 39 Alexander 1908, 83.

35

Psychiatrie in der Stadt Niedergelassene Nervenärzte

Anzahl

%

Insgesamt

65

100,0

Fußläufig zur Charité (Friedrich-Wilhelm-Stadt, Dorotheenstadt, Spandauer Vorstadt)

19

29,2

Friedrichstadt

3

4,6

Südliche Friedrichstadt

9

13,8

Tiergarten/Schöneberg

23

35,4

Charlottenburg

2

3,1

Andere Stadtteile bzw. Vororte

9

13,8

Tabelle 1.3: Niedergelassene Nervenärzte in Berlin und seinen Vororten um 1900 (Quelle: Reichsmedizinalkalender und Berliner Adressbuch von 1902)40

Bereits durch ihre Größe prägte die universitäre Poliklinik das psychiatrische Versorgungssystem der wachsenden Großstadt maßgeblich. Viele private Polikliniken wurden nach dem universitären Vorbild eingerichtet – allein bis 1906 war deren Anzahl über alle fachärztlichen Spezialisierungen hinweg auf über 300 angestiegen. Das Argument der Ausbildung spielte bei der Gründung einer privaten Poliklinik nur eine geringe Rolle, da deren Leiter meist nicht über eine formale Qualifikation als akademische Lehrer verfügten. Vielmehr nutzten die niedergelassenen Spezialisten das Modell der kostenfreien poliklinischen Behandlung, um ihre eigentliche Privatpraxis von Armen- und Kassenpatienten freizuhalten. Als an den akademischen Polikliniken schließlich ein wöchentlicher Kostenbeitrag (1908: 25 Pfennig) zur „teilweisen Erstattung der ... aufgewendeten Selbstkosten“ für Arzneien und Röntgenuntersuchungen sowie für Bäder, Massagen und Heißluftbehandlungen erhoben wurde, hatten viele private Polikliniken bereits ein, wie sich Vertreter privatärztlicher Praxen ereiferten, „minderwertiges Honorar“ verlangt, welches weit unter der geltenden Gebührenordnung lag.41 Solche professionspolitischen Auseinandersetzungen verweisen auf eine regulative Funktion der universitären Einrichtung innerhalb des sich ausbildenden städtischen Versorgungsnetzwerkes. So repräsentierte die Poliklinik einen Typus der ambulanten Behandlung, der sich nicht an den traditionellen Vorbildern orientierte, sondern diese durch seine institutionelle Zwischenstellung infrage stellte. Die Nervenpoliklinik war weder eine Einrichtung der Armenfürsorge (wie noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts) noch beschränkte sich ihr Angebot medizinischer Hilfe auf krankenversicherte Unterschichten. Das unterschied sie 40 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei Aissulu Unruh für die Unterstützung bei den Recherchen. 41 Pütter 1909, 28.

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Volker Hess und Sophie Ledebur

von der armen- und kassenärztlichen Praxis. Die Poliklinik selektierte aber auch nicht – wie die privatärztliche Praxis – ein zahlungsfähiges bürgerliches Publikum. Vielmehr waren diese traditionellen sozialen Differenzierungen im poliklinischen Raum nicht maßgeblich, um Rat, Hilfe und Behandlung zu erhalten. Damit soll nicht behauptet werden, dass soziale Klassengrenzen im Wartezimmer der Poliklinik keine Rolle gespielt hätten. Doch die poliklinische Behandlung sah von solchen sozialen Unterscheidungen ab. Sie machte die therapeutischen Gerätschaften ebenso wie die neuen diagnostischen Methoden und wissenschaftlichen Erkenntnisse jedem zugänglich – ohne Rücksicht auf traditionelle Formen der „Ressourcenallokation“, die für die Armenbevölkerung beispielsweise eine spezielle Armenpharmakopoe vorhielt. Aus diesem Grund muss die oft zitierte Rhetorik der klinischen Ärzte und Professoren hinterfragt werden. Natürlich wurden die Einrichtung und der kostspielige Unterhalt der Polikliniken durchgehend mit den Bedürfnissen der Forschung und Lehre legitimiert. Doch ob die Kliniker das „interessante Material“, das sie sich von der neuen Institution der Poliklinik erhofften, auch tatsächlich erhielten, ist eine offene Frage. Denn die Patienten kamen mit anderen gesundheitlichen Beschwerden und konfrontierten die Psychiater mit Problemen, die sie bis dahin nicht gekannt hatten. Eine solche Perspektive würde jedoch allein auf den Input, die Indienstnahme der städtischen Bevölkerung für Forschung und Lehre abheben, den die Öffnung der institutionalisierten Psychiatrie mit sich brachte. Doch man darf nicht außer Acht lassen, dass die Poliklinik zugleich auch klinische Erklärungsmodelle und Behandlungsmethoden aus dem Krankenhaus in die wachsende Großstadt transportierte, und das durchaus mit Erfolg, wie die wachsende Anzahl privater Polikliniken verdeutlicht.

3. Epistemischer Schwellenraum Die Metaphorik eines „Durchgangsraums“, der die Aufnahme von Patienten allein nach ­klinischen Bedürfnissen regulierte, wird der Funktion der Poliklinik nur unzureichend gerecht. An dieser neu institutionalisierten Schwelle zwischen ambulanter und stationärer Behandlung konfigurierte sich ein Wissensraum ganz eigener Wirkmächtigkeit, der gleichermaßen mit den spezifisch urbanen Problemen und den Interessen der Klinik korrespondierte. Viele der an der Poliklinik behandelten Beschwerden waren bislang der privatärztlichen Behandlung oder aber der offenen Armenkrankenpflege vorbehalten geblieben. Nun aber waren die Ärzte mit Krankheitsformen konfrontiert, die in der Klinik bislang gar nicht oder erst in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium zu beobachten gewesen waren.

Psychiatrie in der Stadt

37

Das Aufzeichnungssystem der Poliklinik gewährt einen Blick in die tägliche Praxis dieser Einrichtung.42 Im Gegensatz zur klinischen Dokumentation erfolgte die der ambulanten Kranken chronologisch fortlaufend in so genannten Bandakten. In gebundenen Büchern in Großfolio war pro Patient eine quer über die Doppelseite reichende, vier Zentimeter (und ab 1899 auf sechs Zentimeter erweiterte) hohe Zeile vorgesehen. Auf der linken Seite des Foliobandes war diese für personenbezogene Angaben wie Adresse, Alter, Beruf und eine erste Diagnose unterteilt, auf der rechten Seite konnten Krankheitsverlauf, Symptomatik und Therapie dokumentiert werden. Die Ärzte hielten sich keineswegs streng an diesen Vordruck: Der vorgegebene Platz für Notationen wurde manchmal gar nicht genutzt oder es wurden Trennstriche bei Bedarf großzügig überschrieben. In Einzelfällen findet sich die ganze Seite vereinnahmt, was ein besonderes Interesse des Schreibers an diesem Krankheitsfall vermuten lässt. Nicht selten wurden zusätzliche Zettel wie Überweisungsscheine oder Befunde apparativer Untersuchungen von Augenspiegelungen oder Laborergebnissen eingelegt oder eingeklebt, gelegentlich wurde ein pathologischer Befund durch kleine Skizzen des eintragenden Arztes veranschaulicht. Wurden Kranke von der Poliklinik direkt auf die angrenzenden neurologischen oder psychiatrischen Stationen überwiesen, so brachen die Aufzeichnungen ab, lediglich der Vermerk der stationären Aufnahmenummer weist auf den weiteren Weg der Kranken. Im Falle von Mehrfachkonsultationen in der Poliklinik erfolgten die Eintragungen abweichend von der chronologischen Ordnung. Diese Notationen wurden dann mit einer kurzen Datumsangabe versehen an der Stelle der früheren Erfassung weiter fortgesetzt.43 Bereits untersuchte und in weiterer Folge nur mehr zu ambulanten Behandlungen kommende Kranke wurden in den Bandakten erst gar nicht registriert.44 Im Vergleich zur formalisierten Aktenführung des stationären Bereichs unterschied sich der Dokumentationsstil augenfällig. Das poliklinische Aufzeichnungssystem war in mehrfacher Hinsicht weitaus flüchtiger: Erstens lassen die einzelnen Eintragungen deutlich die große Eile des Erfassens der Beobachtungen erkennen. Meist wurden die Angaben zur Anamnese in 42 Die Bandakten der Poliklinik (HPAC) sind von 1876 bis 1904 weitgehend erhalten. 43 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ab 1902 wurden die Bandakten für Männer und Frauen getrennt geführt. Eine Ausweitung der poliklinischen Aufzeichnungen erfolgte 1905 mit der Einführung von Krankenjournalen, welche analog dem stationären Gebrauch für jeden Kranken einzeln erstellt wurden. Die Journale der Poliklinik sind bis auf wenige Ausnahmen nicht überliefert und zeigen, ebenso wie die daraus hervorgegangenen Fallberichte in den Annalen der Charité, dass die neuartigen Aufzeichnungen ausführlicher als die der Bandakten waren. Vgl. dazu Borchardt 1913b, 140f. 44 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Analog dazu wurden auch bei statistischen Erhebungen der Patientenfrequenz lediglich die Neuaufnahmen erfasst. 1912 versuchte man im Gegensatz zu bis dato erfolgten Zählungen, die Gesamtzahl aller an die Poliklinik kommenden Frauen zu registrieren. Während der zwei Öffnungsstunden kamen durchschnittlich rund 40 Patientinnen zur Konsultation oder auch Behandlung (Borchardt 1913b, 134).

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unvollständigen Sätzen notiert und die Befunde nur in Stichworten oder mittels kryptischer Abkürzungen festgehalten. Das weist zweitens darauf hin, dass diese Aufzeichnungen für den kleinen Kreis der an der Klinik tätigen Ärzte bestimmt waren. Sie hielten allein die für die beteiligten Mediziner relevanten Informationen fest. Während die Krankenakten der stationären Patienten zur Kostenabrechnung oder als Behandlungsnachweis höchst akkurat geführt wurden, erinnert die poliklinische Aufzeichnung eher an ein Praxistagebuch, welches allein vom Schreiber gelesen und verwendet wurde. Die hastigen Notizen sind schwer zu entziffern, viele Stichworte und Abkürzungen machen den Eindruck, als hätten die Assistenzärzte sich nicht darum sorgen müssen, dass Externe die Bandakten je lesen müssten. Drittens sind die Aufzeichnungen auch hinsichtlich ihres diagnostischen Status flüchtig. Oft wurden nur die auffälligsten Symptome benannt, ohne dass eine Diagnose gestellt wurde.45 Im Vergleich zum formalisierten Aufschreibeverfahren des stationären Bereichs war die poliklinische Dokumentation somit sehr inhomogen und auch weniger ausführlich. Für eine am Material orientierte wissenschaftshistorische Forschung besteht der entscheidende Unterschied vor allem darin, dass die poliklinischen Aufzeichnungen weit mehr das persönliche Interesse der Schreibenden an den einzelnen Krankheitsfällen erkennen lassen als die Dokumentationspraxis in den Krankensälen. Insbesondere letzterer Aspekt lässt sich auch an den Spuren der Bearbeitung der Aufzeichnungen erkennen, nämlich wenn diese Bücher in weiterer Folge für die Forschung herangezogen wurden. Denn die heute noch archivierten Bandakten zeigen deutlich, in welcher Weise Carl Westphal, der Leiter der Psychiatrischen und Nervenklinik, die Aufzeichnungen der Bandakten für seine Forschung nutzbar machte.46 Die zahllosen Unterstreichungen und Markierungen korrelieren im hohen Maße mit seinen unmittelbar nach der Eröffnung der Poliklinik erstellten Publikationen. Beide seiner in den folgenden zwei Jahrzehnten zentralen Themengebiete stehen in einem engen Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten innerhalb des Wissensraums Poliklinik. Im Jahr 1872 veröffentlichte Westphal erstmals zur Thematik der Zwangsvorstellungen. 47 Seine Publikation zur Agoraphobie als eine überwältigende Furcht vor großen Plätzen und Straßen gilt heute noch als klassische Beschreibung dieses Krankheitsbildes.48 Dabei baute er auf Wilhelm Griesingers Schilderung eines „weniger bekannten psychopathischen Zustandes“ auf, welcher allerdings seine Beobachtung noch gar nicht näher diagnostisch benennen

45 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Zum Zeitmangel siehe Borchardt ������������������������������������������������������������������������������ 1913a��������������������������������������������������������������� , 135. Dieser zeigt sich auch an den in den Registern erkennbaren Phasen, in denen Diagnosen abwechselnd häufiger oder seltener bis gar nicht verzeichnet wurden. 46 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. dazu auch die Vorgehensweise Hermann Oppenheims zur diagnostischen Abgrenzung der traumatischen Neurose (Hess und Mendelsohn 2010, 300–304). 47 Westphal 1872. 48 Kohl, Holdorff, 2006, 202f.

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Abb. 1.6: Bandakten der Poliklinik der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, Ausschnitt 1893–1894

konnte oder wollte.49 Das mag auch daran gelegen haben, dass die dokumentierten Fälle nicht aus der Charité, sondern aus der Privatpraxis stammten. Griesinger war sich des besonderen Status solcher Beobachtungen sehr bewusst und schrieb ihnen – fern stationärer Zwänge und Umstände – eine ganz eigene Qualität zu. Denn es waren die Patienten selbst, die den Psychiater auf die Eigentümlichkeit ihrer Symptomatik aufmerksam gemacht hatten. Die Agoraphobie war folglich im doppelten Sinne eine Krankheit der Privatpraxis, für die stationäre Aufnahme zu marginal, und ohne die Einsicht der Erkrankten nicht zu erkennen. Die Fähigkeit zur Introspektion, das Vermögen, das eigene Krankheitserleben ausreichend genau verbalisieren zu können, spielte eine entscheidende Rolle für die Befunderhebung, Charakterisierung und schließlich die Definition der Agoraphobie. Westphals Erstbeschreibung 49 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Griesinger 1868–1869���������������������������������������������������������������������������� . Die Publikation basiert auf einem Vortrag in der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft, an den Griesinger eine Reihe von Reflexionen knüpfte, die auf seinen ausdrücklichen Wunsch nicht veröffentlicht werden durften (ebenda, 635).

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der „Platzfurcht“ basierte auf drei Fällen,50 von denen einer von einem Kollegen überwiesen wurde, die beiden anderen rekrutierte Westphal vermutlich wie Griesinger über die eigene Privatpraxis.51 Allen drei Erkrankten gemeinsam war, dass sie sich selbst nicht als geisteskrank betrachteten, aber sehr wohl wussten, an einer das tägliche Leben massiv beeinträchtigenden Störung zu leiden.52 Die Bandakten der Poliklinik dokumentieren Westphals Arbeit am Krankheitsbegriff. In den chronologisch geführten Aufzeichnungen finden sich zahlreiche meist farbig hervorgehobene Markierungen, die in ihrer Serialität eindeutig auf Beschwerden und Symptome von Angstzuständen verweisen. In manchen Fällen wurde auch die bereits üblich gewordene Diagnose der Agoraphobie notiert und bei einem nachträglichen Bearbeitungsvorgang mit Fettstift unterstrichen.53 Die markierten Beobachtungen finden sich wiederum in Westphals zweiter Publikation zu diesem Krankheitsbild, in der er, Griesinger folgend, betonte, dass diese psychische Störung zwar häufig vorkäme, aber kaum zur stationären Aufnahme führe. Somit handelte es sich bei der Agoraphobie auch keineswegs um eine neuartige Symptomatik, doch konzentriere sich das Phänomen auf „Privatkranke in größeren Städten“.54 Folgt man wiederum den dokumentierten Angaben aus der Poliklinik, dann beeindruckte die Agoraphobie als ein Leiden der Großstadt, als ein Gefühl der Unsicherheit „auf belebte[n] Straßen und freie[n] Plätzen“ und als ein Zustand, bei dem ein Patient „gar nicht mehr über einen freien Platz zu gehen“ versuche.55 Die Anstreichungen der Bandakten verweisen auf die Wechselwirkung von räumlichem Dispositiv und epistemischer Verfestigung. Nach der ersten Publikation wurden analoge Fälle eingehender untersucht und erkennbar detaillierter beschrieben. Die Dokumentation der einzelnen Angstsymptome erfolgte sehr gezielt: Jene zwei Aspekte, die Westphal in seiner Veröffentlichung als charakteristisch herausgehoben hatte, wie der abrupte Beginn der Erkrankung und die Abgrenzung von Schwindelzuständen, wurden umfangreich und genau notiert.56 Dabei besserte Westphal die Aufzeichnungen der Bandakten auch nachträglich aus. 50 Ob Westphal vergleichbare Fälle aus der Poliklinik kannte, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, da der erste von 1871 bis 1875 reichende Band der poliklinischen Aufzeichnungen nicht archiviert ist. 51 Zwei der Kranken konnte Westphal passager beobachten, die dritte Person sandte ihm wiederholte Male Krankheitsberichte. 52 Westphal 1872, 138f. 53 Die ersten erhaltenen Bandakten der Poliklinik stammen aus den Jahren von 1876 bis 1880. 54 Westphal 1878, 734f. 55 BA NPK HPCA, 1876–1880, No 122 (Oktober 1876). 56 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Die detaillierte Dokumentation des Fehlens von Schwindelzuständen diente gemeinsam mit der Erhebung verschiedener ophthalmologischer Befunde zur Abgrenzung eines sehr ähnlichen Krankheitsbildes, welches nur wenige Jahre zuvor vom österreichischen Neuropathologen Moriz Benedikt (1870) beschrieben wurde.

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In einem Fall von „Melancholia“ strich er die Diagnose mit blauem Stift durch und ersetzte sie mit „Grübelsucht“. Die nähere Beschreibung der Symptomatik ließ er unverändert.57 Auf diese und ähnliche Weise grenzte Westphal das neue und nunmehr eigenständige Krankheitsbild der Agoraphobie von der Hysterie und Melancholie ab. Mit der Einrichtung der Poliklinik gerieten folglich bislang nicht bekannte oder aber mangels klinischer Relevanz nicht beachtete Krankheitsbilder in den Blick der institutionalisierten Psychiatrie. Gleichzeitig wurden die psychiatrische Deutungsmacht und ihr Wirkungsbereich in die städtische Bevölkerung hineingetragen. Im Jahre 1877 veröffentlichte das Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten den Brief eines Patienten, der sich an die Zeitschrift gewandt hatte, da er sein Leiden in Westphals Beschreibung der Agoraphobie auch als Laie erkannt zu haben glaubte. Begeistert schrieb er, dass er nun endlich wüsste, woran er kranke.58 Zwei Punkte sind an dieser Episode bemerkenswert: Erstens fanden Westphals Veröffentlichungen über die scientific community hinaus Resonanz, und zweitens bot diese Krankheitsbeschreibung auch dem Laienpublikum offenbar eine sinnstiftende Deutung eines bislang unverstanden gebliebenen Leidens an der Stadt. Solche looping effects verweisen auf die wechselseitige Verschränkung von Raum und Wissen und dokumentieren zugleich die Veränderung der Beobachtung im „Zwischenraum“ der Poliklinik, aus dem die psychiatrische Forschung Anstoß für neue Erkenntnisse gewann. Mit dem Vergleich vieler ähnlicher Fälle gelang es Westphal, einzelne Symptome zu Gruppierungen zusammenzufassen. Ätiologisch ordnete er die Agoraphobie der partiellen Störung des Vorstellens zu, bei der das Moment der Angst zentral sei, aber keinen Wahninhalt darstelle, da die Betroffenen sich der Fremdartigkeit ihrer Gefühle bewusst waren. Westphal ging über die reine Deskription der Symptome weit hinaus. In seinen theoretischen Erklärungen und Deutungen der Agoraphobie in einem hirnphysiologischen beziehungsweise psychophysiologischen Modell finden sich kaum noch Spuren dieses Gefüges von Raum und Wissen. In der Korrelation „mit anderweitigen Störungen des Nervensystems, die meist erst auf besonderes Befragen zur Kenntnis kamen oder nur nebenbei von den Patienten erwähnt wurden“,59 führte Westphal nun auch sehr unspezifische neuropathische Symptome für das spezifische Beschwerdebild an. Die Poliklinik stellte für die Formierung eines solchen expliziten Wissens einen Übergangsraum dar, in dem bislang unbeobachtete Krankheiten und Symptomgruppen 57 BA NPK HPCA, 1876–1880; No 307 (Mai 1876). 58 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Anonymous, �������������������������������������������������������������������������������������� 1877.��������������������������������������������������������������������������������� Der Autor dieses Briefes nahm explizit auf Westphals Differenzierung von „Platzschwindel“ und „Platzfurcht“ Bezug. Moriz Benedikts Bezeichnung der Symptomatik als „Platzschwindel“ verortete die Kranken im Bereich der Simulanten. Westphals Beschreibung der „Platzfurcht“ als einem eigenständigen Krankheitsbild, bei dem die Angst im Vordergrund steht, ist der zentrale Grund, warum sich der Autor des Briefes von Westphal besser verstanden fühlte. 59 Westphal 1872, 138.

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erfasst, bearbeitet, definiert und dem diagnostischen Kanon zugefügt wurden. Bezieht man die topografische Perspektive mit ein, dann lässt sich dieser Schwellenraum als eigenständiger Wissensraum begreifen, der durch den seriellen Vergleich bislang unbekannter Symptome eine Korrelation zwischen psychischen Beschwerden und neuropathologischer Deutung ermöglichte. Dieser Dreischritt bildete auch den methodischen Kern eines weiteren Forschungsgebietes, des so genannten „Kniephänomens“. So bezeichnete Carl Westphal das heute als Patellarsehnenreflex bekannte neurologische Zeichen. Im Jahre 1871 war er von einem Patienten darauf aufmerksam gemacht worden, dass ein Beklopfen unterhalb der Kniescheibe zur Streckung in diesem Gelenk führe. Westphal ließ umgehend sämtliche an Bewegungsstörungen der unteren Extremitäten leidende, sowohl stationäre als auch ambulante Kranke auf diese Besonderheit hin prüfen und die Ergebnisse der systematischen Exploration in den jeweiligen Akten vermerken. Vier Jahre später publizierte Westphal eine erste diagnostische Deutung, die er auf die Tabes dorsalis bezog, der damals weitverbreiteten Rückenmarksschwindsucht.60 Drei Jahre später hielt Westphal diese Korrelation nicht nur für eindeutig belegt, sondern er erhob das Fehlen des so genannten „Kniephänomens“ zum entscheidenden diagnostischen Frühsymptom der Rückenmarksschwindsucht.61 Die poliklinischen Aufzeichnungen jener Jahre dokumentieren die systematische Untersuchung von Kranken, wenn deren Symptomatik nur den kleinsten Anhalt für eine beginnende Tabes dorsalis gab. Fehlte der Patellarsehnenreflex, so wurde vermerkt, dass „Zeichen von Tabes noch nicht vorhanden“ seien oder „vorläufig noch keine anderen Symptome von Tabes“ zu finden wären. Auch hier erweisen sich die zahlreichen Unterstreichungen von Textpassagen mit blauem Fettstift als Spuren der Suche nach den vermuteten Zusammenhängen. Es war jedoch nicht der serielle Vergleich, sondern ein Einzelfall, der den wissenschaftlichen Tatbestand endgültig bestätigen sollte. Gewissermaßen prototypisch erlaubte die spezifische Symptomatik eines einzelnen Behandlungsfalls die neuro-pathologische Beweisführung argumentativ zu schließen: Eine die Poliklinik konsultierende Frau schilderte Schmerzen in den unteren Extremitäten, die Westphal als erste, allerdings noch unspezifische Symptome der Tabes dorsalis deutete. Zugleich zeigte sich in der Augenspiegelung eine beginnende Nervenatrophie und eine ausgeprägte Pupillendifferenz, also Krankheitsphänomene, die zwar als spezifische, aber keineswegs hinreichend eindeutige Zeichen einer sich entwickelnden „Rü-

60 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Westphal 1875���������������������������������������������������������������������������������� . Dieses war unabhängig und völlig zeitgleich auch von Wilhelm Erb untersucht worden. Diesem Umstand verdankt die historische Forschung Westphals detaillierte Beschreibung seines Vorgehens. 61 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Westphal 1878b����������������������������������������������������������������������������������� , Abdruck seines Vortrages an der Berliner Medicinischen Gesellschaft vom 7. November 1877.

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ckenmarksschwindsucht“ galten. Der für Westphal interessante Aspekt dieses Krankheitsfalls bestand darin, dass das gesuchte Fehlen des „Kniephänomens“ nur einseitig nachweisbar war, da die Patientin sich, wie Westphal argumentierte, erst in einem ganz frühen Stadium ihrer Erkrankung befand.62 Westphals Suche nach einem diagnostischen Frühzeichen mag als rationaler Nachvollzug der neurologisch-psychiatrischen Forschung erscheinen. Doch der von ihm zum Beweis seiner Theorie erklärte Krankheitsfall war nicht nur im Hinblick auf den Verlauf und den Zeitpunkt des Auftretens einzelner Symptome eher untypisch. Im Unterschied zu anderen Krankheitsfällen war diese Patientin, wie die Aufzeichnungen in den Bandakten zeigen, in der Lage, ihre Symptome besonders gut zu beschreiben. Ihre ausführlichen und präzisen Schilderungen wurden nicht nur markiert und hervorgehoben, sondern auch in wörtlicher Rede in die Veröffentlichung übernommen. Die Möglichkeit einer diagnostischen Früherkennung der Tabes dorsalis, deren Zusammenhang mit der Syphilis zu diesem Zeitpunkt nur vermutet wurde, war für die klinische Praxis wie für die wissenschaftliche Forschung von großer Bedeutung.63 Einerseits versprach die frühe Diagnose bessere Behandlungsmöglichkeiten. Die rasch und einfach durchzuführende Untersuchung stellte gerade für die große Anzahl der die Poliklinik konsultierenden Kranken eine einfache Methode der differentialdiagnostischen Abklärung dar, die beispielsweise bei der Abgrenzung der Hypochondrie vom Frühstadium der Tabes dorsalis nicht einfach war. Das „Kniephänomen“ bot hierbei ein leicht durchzuführendes und vom Patienten nicht willentlich zu beeinflussendes Unterscheidungsmerkmal, welches, wie Westphal meinte, auch bei „weniger gebildete[n] Kranke[n]“, die den genauen Charakter der prodromalen Schmerzen oft nicht ausreichend genau zu schildern vermochten, diagnostisch effektiv war.64 Gerade der performative Charakter jenes „objektiven Zeichens“, das sich dem Kliniker durch eine einfache, aber vom Patienten unbeeinflussbare Reflexbewegung offenbarte, unterschied das „Kniephänomen“ von einer rein phänomenologischen Beschreibung der psychiatrischen Symptomatik. Die Sichtbarkeit und Beschreibbarkeit von Zeichen und Symptomen psychischer Krankheit war keineswegs selbstverständlich. Das Auf- und Erscheinen wurde mühsam hervorge62 BA NPK HPCA, 1876–1880; No 372 und 839. Die Aufzeichnungen in den Bandakten zeigen, dass diese Patientin wiederholte Male in die Poliklinik kam, um auf diese Symptomatik hin untersucht werden zu können. 63 Die progressive Paralyse stellte ein wichtiges Bindeglied zwischen Psychiatrie und Neuropathologie dar, da sich bei keiner anderen psychischen Erkrankung eine so klare Verbindung zwischen Symptomatik und Sektionsergebnissen ziehen ließ. Die Abgrenzung der progressiven Paralyse von der zeitgenössischen Vorstellung der „Einheitspsychose“ war ein wichtiger Schritt in der Professionalisierung der Psychiatrie. Vgl. dazu ausführlicher: Engstrom 2003, 107–110. 64 Westphal 1878, 2.

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bracht, beharrlich verfolgt, mit Fettstift markiert und in langen Serien zusammengestellt. Zeichen sichtbar machen – diese Notwendigkeit spielte für ein Lesen und Verstehen der klinischen Symptomatik eine nicht unwesentliche Rolle. Für die disziplinäre Formierung des Fachs und die angestrebte, an der Charité schließlich erfolgreiche Vereinigung der Psychiatrie mit der Neurologie in Forschung und Lehre war diese Evidenz von entscheidender Bedeutung. Der Poliklinik kam in diesem epistemologischen Gefüge eine entscheidende Funktion zu.

4. Performativer Schwellenraum Carl Westphal stellte 1880 in einer Rede zu der Psychiatrie und dem psychiatrischen Unterricht fest, „dass es sich bei den Geisteskrankheiten nicht ausschließlich um abnorme psychische Erscheinungen handle, vielmehr bilden schwere motorische Störungen, bestehend teilweise in Reizerscheinungen, in partiellen und in allgemeinen Krämpfen, theils in Lähmungen oder Coordinationsstörungen, eine Gruppe von Symptomen, deren Bedeutung und Werth den psychischen Erscheinungen gleichwerthig an die Seite zu setzen ist; ja es können unter Umständen im Verlaufe der Krankheitserscheinungen die motorischen Störungen zu einer gewissen Zeit geradezu die wichtigsten und wesentlichsten Erscheinungen darstellen.“65 Dasselbe gälte auch für die Sensibilität und die Sinne. Die klinische Beobachtung arbeite – in steter Abgrenzung zu früheren, lediglich a priori der Psychologie entlehnten Anschauungen – mit ganz anderen, nämlich naturwissenschaftlich geprägten Methoden. Ziel sei es, bestimmte psychische Erscheinungen an ihren ähnlichen Kombinationen zu erkennen. Diese Selbstdeutung und die wissenschaftlichen Legitimationsversuche der noch jungen psychiatrischen Disziplin wissen den Anfangsmoment ihrer Klassifikationsbemühungen gut zu verbergen. Denn die von Griesinger intendierte und keineswegs selbstverständliche Verbindung der Psychiatrie mit der Neurologie66 benötigte zwar keine Patienten, die einer der beiden Fachrichtungen eindeutig zugeordnet werden konnten, wohl aber die Sichtbarkeit der Zeichen. Westphal zufolge wäre die Beobachtung der psychischen Vorgänge besonders schwierig bei Kranken, die „eine Mittheilung darüber zu machen nicht geneigt oder nicht im Stande sind.“ Das Erkennen der seelischen Vorgänge bleibe diffizil, da „die Geisteskranken eben nicht, wie die Personen des Shakespeare‘schen Dramas, ihr Herz in der Hand“ tragen. 67 Mit dem Primat der Sichtbarkeit schien die Psychiatrie gegenüber der Neurologie ins Hintertreffen zu geraten. Neurologische Symptome ließen sich leicht demonstrieren, die Psych65 Westphal 1880, 25. Hervorhebung im Original. 66 Vgl. Hess und Engstrom 2001. 67 Westphal 1880, 26f. Hervorhebung im Original.

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iatrie hingegen blieb letztendlich auf die umfängliche Schilderung der Symptomatik durch die Patienten selbst angewiesen. So bot die Nervenpoliklinik für die Ausbildung der Medizinstudenten besondere Vorteile, „einmal wegen der Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit des Materials, der relativ höheren Bildung der erkrankten Bewohner einer grossen Stadt, die ein besseres Eingehen in die psychischen Vorgänge gestattet, dann aber auch weil – wie es sonst noch nirgends der Fall – bei uns die Klinik der Geisteskrankheiten mit der der Nervenkrankheiten ein einheitliches Ganzes bildet.“68 Die Poliklinik diente folglich nicht nur der Gewinnung eines unmittelbar für die Forschung und die weitergehende stationäre Beobachtung interessanten „Patientenmaterials“. Sie war zugleich auch derjenige Ort, an dem sich die Verbindung der neurologisch-psychiatrischen Wissenschaft manifestierte. Zelebriert wurde die Einheit von Psychiatrie und Neurologie in der klinischen Demonstration, im anschaulichen Unterricht für die Studierenden. Die Vorführung von Kranken zur Verdeutlichung und Vertiefung theoretischer Lehrinhalte hatte eine längere Tradition.69 Bereits Wilhelm Griesinger hatte während seiner zehnjährigen Tübinger Lehrtätigkeit psychisch Kranke in so genannten klinischen Demonstrationen gezeigt – zu einem Zeitpunkt, wie er selbst beklagte, als der klinische Unterricht „noch nirgends dem Werth der Sache entsprechend eingerichtet und anerkannt“ gewesen sei. Diese Demonstrationen dienten seiner Ansicht nach nicht zuletzt dazu, die „rein ärztliche Auffassung der Geisteskrankheiten“ vom Tätigkeitsbereich des „Irrenhausverwalters“ abzugrenzen.70 Mit Griesingers Berufung nach Berlin im Jahre 1864 wurden die Patientenvorführungen systematisch eingesetzt, um den Grundsatz von der materiellen Natur der Geisteskrankheiten zu veranschaulichen. Diese wurden als konstitutiver Bestandteil der psychiatrischen Ausbildung verstanden und fanden ihre institutionelle Grundlage in der Klinik für Nervenkrankheiten, die Griesinger eng an die von ihm vertretene Disziplin zu binden vermochte.71 Bereits zwei Jahre zuvor hatte sein Assistent (und späterer Nachfolger) Carl Westphal die ministerielle Erlaubnis erhalten, „einzelne Kranke in seinen psychiatrischen Vorlesungen vorzustellen“.72 Der Ablauf der zweistündigen Vorlesungen war bei beiden Psychiatern weit68 Westphal 1880, 24. Hervorhebung im Original. 69 Michel Foucault beschreibt die epistemologische Bedeutung der klinischen Demonstration und die Kunst von deren Inszenierung als einen wichtigen Teil der spezifisch ärztlichen Tätigkeit, welche den Beginn der Entwicklung von „absoluten Diagnosen“ hin zum Erheben von Differenzialdiagnosen markierte: Foucault 2005, 266f. und 386f. Vgl. zu Jean-Martin Charcots Erzeugung von Evidenz bei Hysterikerinnen: Didi-Hubermann 1997; Ralser 2010, 39–44. 70 Griesinger 1868, iv. 71 Westphal 1868–1869, 769. 72 Siemering und Westphal 1890, vii–viii.

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gehend gleich: In der ersten Hälfte wurden Krankheiten theoretisch erläutert und im zweiten Teil anhand eines möglichst gut passenden Falles aus der Praxis veranschaulicht. 73 Westphal meinte, er könne „den Zusammenhang des klinisch Demonstrirten wahren, ohne dass der Freiheit in der Besprechung des individuellen Falles durch ein nothwendiges Zurückgreifen auf ein Allgemeines Eintrag geschieht.“74 Pro Semester wurden etwa 80 bis 90 Kranke klinisch demonstriert. Manche dieser wurden nur kurz zur Veranschaulichung einzelner Symptome und Krankheitszeichen, andere hingegen ausführlicher gezeigt. In der Regel wurden die Patienten hierzu in den Hörsaal gebracht. Gelegentlich wurden Kranke auch an ihrem Bett oder zwecks Herstellung einer möglichst ungezwungenen Situation im Garten der Klinik besucht.75 Die Einrichtung der Poliklinik erweiterte diese Form des Unterrichts in dreifacher Hinsicht. Erstens ließ sich durch die gezielte Einbestellung poliklinischer Besucher die praktische Lehre einfacher organisieren. Zweitens stand eine größere Zahl von Patienten zur Verfügung, unter denen ein für die Demonstration als geeignet angesehener Fall ausgewählt werden konnte.76 Ein dritter Aspekt stellte die qualitative Erweiterung des „Unterrichtsmaterials“ dar. Analog der Forschung dürfte es auch in der Lehre wichtig gewesen sein, Patienten zu demonstrieren, die später „das tägliche Brot des praktischen Arztes“ ausmachen würden.77 Es sei die vorrangige Aufgabe des poliklinischen Lehrers, den Tätigkeitsbereich der stationären Krankenbetreuung zu ergänzen und „in der poliklinischen Vorlesung gerade diejenigen Untersuchungsmethoden zu pflegen, welche in der Klinik, sei es bedingt durch das vorhandene Material, oder durch die Neigung des Klinikers weniger Beachtung erfahren“ würden. Lage und Ort der ambulanten Einrichtung, aber auch die Vielzahl der zu untersuchenden Personen sollten den angehenden Arzt motivieren, seinen Blick zu schulen: „Schnell das Richtige zu erfassen“ und „schnell das Wesentliche aus der Anamnese herauszuholen“ – das stand im Mittelpunkt eines poliklinischen Unterrichts, dessen Maxime es war, das zu vermitteln „worauf sich die Untersuchung zu richten“ habe.78 Es wurden 73 Diese Aufteilung zwischen Theorie und anschaulichem Unterricht wurde von Westphal beibehalten und folgendermaßen beschrieben: „Der Patient wird in das Auditorium geführt und in der, dem individuellen Falle angemessenen Weise Krankenexamen und Untersuchung angestellt [sic]. Darauf folgt ein Vortrag über den Krankheitsfall, den ich je nach Lage der Sache den Patienten nicht selten mit anhören lasse. Das – meiner Ansicht nach viel lehrreichere –Verfahren, das Krankheitsexamen durch die Studierenden selbst, natürlich mit der erforderlichen Unterstützung, abhalten zu lassen, welches ich früher übte, habe ich leider aufgeben müssen, da […] die Neigung der Studierenden mehr und mehr dazu abnimmt.“ (Westphal 1874b, 463–465). 74 Westphal 1874b, 464. 75 Anonymus 1868–1869. Westphal bemühte sich festzuhalten, dass die klinischen Demonstrationen nie Anlass zu Missständen gegeben hätten: Westphal 1874b, 464. 76 Vgl. Tabelle 1.2. 77 Rumpf 1888, 1039. 78 Ebenda.

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nicht nur kognitives Wissen und praktische Fertigkeiten vermittelt, sondern auch eine dezidierte Haltung des Arztes im Umgang mit den ihm anvertrauten Kranken: Hier lerne er sich „schnell zurecht[zu]finden und in jedem Augenblick all sein Wissen und Können bereit“ zu stellen.79 In der Poliklinik übte der angehende Mediziner jene Fertigkeiten, die ihn für eine großstädtische Armen- oder Krankenkassenpraxis qualifizierten. Die Bedeutung des Veranschaulichens zeigt sich auch an den Vorlesungsverzeichnissen der Klinik: Die poliklinischen Demonstrationen fanden einmal pro Woche, jeweils parallel zu den Öffnungszeiten statt. Direkt im Anschluss an die Sprechstunden konnten die Medizinstudenten über die bloße Diagnostik hinaus auch die körperliche Untersuchung der Kranken praktisch einüben, wofür ein eigener, direkt neben dem Hörsaal gelegener Untersuchungsraum im ersten Stock oberhalb der Poliklinik vorgesehen war.80 Patientenvorstellungen bildeten, wie erwähnt, seit ihren Anfängen einen integralen Bestandteil der Einrichtung. Konkrete Hinweise zu deren Vornahme und Aufzeichnungen in Form teils kurzer, teils ausführlicher Einträge finden sich in den Bandakten jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts im Zusammenhang mit der allgemein zu beobachtenden ausführlicheren Dokumentationspraxis.81 Die „systematische Demonstration“ des theoretischen Wissensbestandes setzte eine hinreichend große Patientenanzahl voraus.82 Dennoch blieb das Verhältnis von Theorie und Praxis schwierig, da der Gegensatz zwischen dem demonstrierten Einzelfall und einem idealtypischen Krankheitsbild nicht ohne Weiteres, wenn überhaupt, aufzulösen war.83 Den Psychiatern war dieser immanente Widerspruch durchaus bewusst, wenn sie, wie Carl Wernicke, die Veranschaulichung der Theorie nicht allein von der „richtigen Auswahl“ geeigneter Patienten, sondern vielmehr deren richtiger Präsentation herleiteten. Dieses „demonstrare“, der demonstrative Gestus der Verfertigung eines klinischen Krankheitsbildes im Moment des Zeigens war das anspruchsvolle Ziel der klinischen Fallvorstellung: „Das Augenblicksbild, welches die Patienten [...] b[ie]ten, wird vom Dozierenden und seinen Assistenten in gemeinschaftlicher Arbeit festgestellt. Dabei handelt es sich selbstverständlich um keine reinen Fälle; selbst ein großes Material versagt in dieser Beziehung, wenn es sich um die kurze Spanne eines Semesters handelt“.84 79 Senator 1905, 1548. 80 Vgl. hierzu die Vorlesungsverzeichnisse der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin dieser Jahre. 81 Ab 1898, zeitgleich zu dieser Entwicklung an der Poliklinik wurden auch in den Akten der stationären Patienten Aufzeichnungen zu den klinischen Demonstrationen geführt. 82 Dies war keineswegs selbstverständlich: UAHUB, CD, Nr. 1038, Bl. 76. Undatierte (aus dem Jahr 1897 oder 1898 stammende) Beschwerde Friedrich Jollys über die mangelnde Zugriffsmöglichkeit der Klinik auf Kranke, die von der Armendirektion direkt nach Dalldorf überwiesen wurden. 83 Vgl. hierzu Willer et al. 2007. 84 Wernicke 1899, 1. Carl Wernicke war von 1876 bis 1878 Assistent an der Charité, ab 1885 war er Professor für Psychiatrie und Nervenkrankheiten in Breslau, 1904 wurde er nach Halle berufen.

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In den Bandakten finden sich Eintragungen zu den Patientendemonstrationen vor allem an jenen Tagen, an denen auch der Unterricht stattfand, denn der poliklinische Betrieb war nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich mit der Ausbildung koordiniert. Manche Kranke wurden gar, obwohl ihre Behandlung abgeschlossen war, eigens zur Vorlesung nochmals einbestellt, um sie den Studierenden zeigen zu können. Die Dokumentation in den Bandakten lässt unterschiedliche Gründe der Auswahl der Vorzuführenden erkennen. Entweder wurden Patienten als besonders seltene Fälle oder aber zum Zweck einer differenzialdiagnostischen Erörterung demonstriert. Bei letzterer wurden während der öffentlichen Untersuchung Schritt für Schritt die einzelnen Symptome nach Ätiologie und diagnostischer Relevanz durchgesprochen. Die klinische Demonstration bevorzugte jedoch – in der performativen Logik ihrer Veranstaltung – neurologische Krankheitsbilder. Dazu zählten die vielen dokumentierten Fälle, bei denen beispielsweise die Funktion eines einzelnen Nervs oder einer Nervenwurzel gestört war und die sich durch die Anwendung elektrischen Stroms (Faradisation oder Galvanisation) besonders schön und eindeutig demonstrieren ließen. Diese Schwelle zur Sichtbarkeit war bei neurologischen Krankheitsbildern deutlich geringer als bei psychiatrischer Symptomatik. Erstere ließen sich viel leichter, wie Karl Bonhoeffer in seiner Antrittsvorlesung 1912 betonte, mit einer „objektiven Untersuchungsmethodik“ einfangen. Im Gegensatz dazu erhielten psychiatrische Krankheitsbilder erst durch die richtige Gruppierung der subjektiven Symptome die ihnen eigene Charakteristik.85 Die Einrichtung der Poliklinik formierte somit auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Neurologie und Psychiatrie auf neue Weise. Denn die Klientel der Nervenpoliklinik war keineswegs, wie es die Bezeichnung vielleicht vermuten ließe, auf neurologische Fälle beschränkt. Doch der an den Maximen der Sichtbarkeit und Erkennbarkeit orientierte Unterricht blieb nicht ohne Folgen für das Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander. Der Unterricht selbst, die poliklinische Demonstration, war auf eine phänomenologische Sichtbarkeit ausgerichtet: Anhand der „charakteristischen Haltung nach vorne“, des „typisch schleichenden Gangs“ oder des bezeichnenden „Pillendrehens“ wurde die Diagnose einer „Paralysis agitans“ gezeigt.86 Auch das „paralytische Gebahren“87 im Falle einer Dementia paralytica ließ sich leichter demonstrieren als die affektiven oder kognitiven Störungen des 85 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Bonhoeffer 1912���������������������������������������������������������������������������������� . Hier führt er in Abgrenzung zu klinikfremden Vorgangsweisen aus: „Der Kranke erhält bei ihm [den praktischen Arzt] die Note Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie nicht wegen der charakteristischen Gruppierung der subjektiven Symptome, sondern wegen des Mankos in objektiver Hinsicht, meist nicht ohne die Nuance eines absprechenden moralischen Werturteils – Einbildung, Charakterschwäche, Uebertreibung, Simulation sind die mitschwingenden Gedanken.“ 86 BA NPK HPAC, 1899; No 374. Die Patientin war am 21. Juli des Jahres an die Poliklinik gekommen und wurde fünf Tage später poliklinisch demonstriert. 87 BA NPK HPAC, 1899; No 1004. Der Kranke war am 22. Januar 1900 an der Poliklinik und wurde am 7. Februar des Jahres poliklinisch demonstriert.

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Denkprozesses.88 Eine psychische Erkrankung wie beispielsweise die Neurasthenie ließ sich lediglich an der nur unspezifischen Reaktionsweise eines „schlechten Gangs“ erkennen.89 Auf diese Weise lieferte die poliklinische Demonstration der neurologischen Deutung psychischer Beschwerdebilder Vorschub. Sie bot den körperlichen und damit sichtbaren Regungen und Reaktionen Bühne und Evidenz. Wenn ein Nachruf Westphal rühmte, sein Ziel als Lehrer sei stets gewesen, den Studierenden „eine Reihe gut charakterisierter Krankheitsbilder vorzuführen und zunächst das Thatsächliche der Abweichung in schärfster Beleuchtung hinzustellen“, dann war auch den Zeitgenossen die Bedeutung des Performativen wohl bewusst. Einzuprägen, „was greifbar deutlich an dem Kranken gezeigt werden“ könne, war gleichbedeutend mit der Anwendung neurologischer Methoden bei der Untersuchung und Diagnose psychiatrischer Beschwerden. Denn ihre Vermittlung gebe „dem Lernenden auch auf diesem schwierigen Gebiete das sichere Gefühl persönlicher Erfahrung“.90

5. Conclusio Folgt man den Selbstdarstellungen der Psychiater, dann war die Einrichtung der Poliklinik ein strategisches Unternehmen: Mit ihrer Hilfe partizipierte die psychiatrische Klinik am „Patientenmaterial“ der Medizinischen Kliniken und sicherte sich auf diese Weise eine für Forschung und Lehre hinreichende Zahl von Patienten. Die Hinwendung zu jenen Krankheitsbildern, an denen sich zeigen lässt, dass die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit auf Störungen der Nerven und Gehirnfunktionen zurückzuführen ist, scheint diese Bewegung fortzusetzen. Dieses vor allem in den einschlägigen Selbsterzählungen gepflegte Bild erfasst die Bedeutung der Poliklinik jedoch nur ungenügend. Erst ihre Rückbindung in den städtischen Raum und das Gefüge ihrer Techniken und Praktiken zeigen, in welcher Weise die Poliklinik sowohl für das Verständnis der Stadt als auch der Entwicklung des Fachs eine entscheidende Rolle spielte. Dieses Argument lässt sich weiter differenzieren, wobei wir zwei Aspekte herausheben wollen: 1. Dass „Raum“ als Kategorie der historischen Analyse durch die Angabe seiner dreidimensionalen Ausdehnung nicht hinreichend erfasst und beschrieben wird, ist eine Binsenweisheit, wird Raum doch über jede geometrische Definition hinausgehend wesentlich durch jene Menschen und deren Handlungen bestimmt, die diesen nutzen und gestalten. So

88 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Beobachtung korrespondiert mit der Relation neurologischer und psychiatrischer Patientenvorführungen in den Fachvereinen. Vgl. dazu: Wolter 2001,73f.; Schmiedebach 1986, 27f. 89 BA NPK HPAC, 1899; No 487. Der Patient war bereits 1897 und dann wieder im August 1899 an der Poliklinik gewesen, wurde aber erst im Juni 1900 den Studierenden vorgestellt. 90 Moeli 1890, 31f.

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ist auch der Raum der Poliklinik keineswegs ausreichend beschrieben, wenn wir ihn auf jene Adnexe von Wartebereichen, Fluren und kleineren wie größeren Zimmern reduzieren, die für Sprechstunden und Unterricht genutzt wurden. Fand die Poliklinik des alten Typus traditionellerweise im größten Raum der Krankenabteilung statt, der je nach Bedarf für Vorlesungen, Operationen oder ambulatorischen Unterricht herangezogen wurde, so bildete die neue Institution der Poliklinik in mehrfacher Weise ein räumliches Ensemble, dessen Spezifität sich durch ein topografisches Arrangement von Bewegungen, Handlungen und Denkweisen erschließt. Diese stellt sich als eine Anzahl von Warte- und Untersuchungsräumen, Behandlungszimmern für physikalische Maßnahmen und den therapeutischen Einsatz von Gleich- und Wechselstrom sowie den angrenzenden Laborräumen dar, die in ihrer räumlichen Anordnung spezifisch sind – und zwar in einer, wie wir meinen, doppelten Weise: Einerseits reproduzieren sie dabei just die Absichten und Zwecke, die in die Architektur und Ausstattung material eingeschrieben wurden, und geben diesen eine historisch beschreib- und verortbare Wirkmächtigkeit. Andererseits aber produzieren sie – durch eben diese räumliche Anordnung – unvorhergesehene Effekte, nämlich diagnostische Techniken, didaktische Praktiken oder pathologische Entitäten, ebenso wie medizinische Versorgungsstrukturen, populäres Krankheitsverständnis oder coping strategies. Diese beiden Modi dürfen nicht, wie wir weitergehend behaupten möchten, prinzipiell voneinander getrennt oder gar – im Sinne einer positivistischen Realisierung oder eines sozialen Konstruktivismus – alternativ gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr wird dieses Spannungsverhältnis nur im und mit Blick auf das jeweilige Arrangement von Räumen, Praktiken und Diskursen auszuloten sein und muss als kontingentes Verhältnis dargestellt und begriffen werden. Kontingent war beispielsweise jene Überschneidung von Verkehrs- und Kommunikationswegen, in der sich das räumliche Ensemble der Poliklinik situierte. Die Poliklinik mag in der institutionellen Logik, die programmatisch seit Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten entwickelt worden war, als „Vor-Vorhof“ zum Tempel einer jeden medizinischen Wissenschaft gedacht worden sein. Konkret vor Ort – am Westhafen gelegen – positionierte sich die Berliner Poliklinik jedoch mehr als Vorhof zum „Feuerland“, als Anlaufstelle für alle jene, die an den Folgen der Arbeits- und Lebensbedingungen schwerindustrieller Produktionsprozesse litten. So mag die konzeptionelle Neufassung der Railway spine in Form einer traumatischen Neurose die neurologische Ausrichtung der Berliner Klinik reflektieren, die Logik dieses Deutungskonzeptes hingegen erschließt sich erst mit der Verortung der psychiatrischen Theoriebildung im räumlichen Arrangement von Psychiatrie, Verkehr und Industrie. In ähnlicher Weise könnte das besondere Interesse Carl Westphals an einem leicht durchführbaren und von der Kooperation des Patienten unabhängigen Untersuchungsverfahren zur Frühdiagnose der Tabes dorsalis mit der räumlichen Nachbarschaft zu jenen Ecken in der Oranienstraße

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und oberen Friedrichstraße zusammenhängen, an denen „leichte Mädchen“ allbekannt ihre Dienste feilboten. Und schließlich ist auch zu überlegen, welche Rolle es für die dramaturgische Inszenierung poliklinischer Demonstrationen gespielt haben mag, dass einen guten Steinwurf entfernt die Aufführungen im Zirkus Krembser und dem Lessing-Theater das Publikum in ihren Bann zogen. 2. Unabhängig davon, wie man die Auswirkungen und gegenseitigen Einflüsse dieses räumlichen Mit- und Zueinander fasst: Es wäre zu kurz gesprungen, die Rolle der Poliklinik auf einen Durchgangs- oder Passageraum zu reduzieren. Sicherlich entfaltete die Ambulanz eine hohe Attraktionskraft für Menschen mit sehr unterschiedlichen Leiden, die über die Poliklinik in den Lehr- und Forschungsbetrieb der Nervenklinik (als Oberbegriff für die psychiatrische und neurologische Abteilung) geschleust wurden. Die Poliklinik diente hierbei keineswegs nur als „Schleuse“, die ein „interessantes Material“ nach einer möglicherweise notwendigen Dekontamination, Reinigung und Konzentration in den klinischen Binnenraum überführte. Der Durchgang entsprach mehr einer rite de passage, in deren Zuge Leiden des industriellen Alltags und Beschwerden des großstädtischen Lebens in psychiatrische Wissensobjekte und Unterrichtsgegenstände verwandelt wurden. Weit mehr als eine Übersetzung ist die Wirkmächtigkeit dieser Verwandlung nur aus der performativen Gestaltung dieses Passageprozesses heraus zu begreifen. Natürlich hing das besondere Interesse an neurologischen Krankheitsbildern mit der Ausrichtung der Berliner Klinik zusammen, die – Griesingers berühmtem Leitspruch folgend – Geisteskrankheiten als Gehirnkrankheiten, nämlich als ein in der morphologischen Struktur lokalisierbares Geschehen begriff. Realisiert wurde diese programmatische Konzeption aber erst in einem Raum, der dieses neurologische Paradigma in doppelter Weise praktisch werden ließ: Erstens durch eine der Kassenarztpraxis gleichende Routine, die von der Rede der Patienten absah und sich stattdessen auf rasch hervorzurufende und in ihrer Performanz eindeutige Symptome und Krankheitszeichen konzentrierte. So ist es kein Zufall, dass Westphals „Kniephänomen“ bei genauerer Betrachtung eine im eigentlichen Sinne dialogische Struktur aufweist. Doch statt einer – womöglich langen und weitschweifigen verbalen Antwort – gibt nun ein unbedingter Reflex die „Antwort“ auf die drängende, zum Schwung eines Hämmerchen verkürzte Frage des untersuchenden Arztes. Zweitens fand die Poliklinik gleichzeitig – und im gewissen Sinne paradox zur entsprachlichten Sichtbarkeit der neurologischen Phänomene – für die Betroffenen die richtigen Worte für ihr bislang namenloses Leiden. Die kleine Episode des dankbaren Lesers, dem Westphals Begriff der Agoraphobie eine verständliche Deutung seiner eigenen Beschwerden gab, mag diesen performativen Akt einer Transmutation illustrieren, in dem psychisches Leiden in ein neuropathologisch gedachtes Krankheitskonzept überführt wurde. Solche Krankheitskonzepte waren weit mehr als nur ein neues Label, sondern schlossen auch eine – ebenfalls neuropathologisch

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gedachte – Behandlung mit ein. Von der Anwendung heißer Bäder und Massagen über Licht- und Wärmetherapie bis hin zur Anwendung elektrischer Ströme: Die Mehrzahl der Ratsuchenden wurden nach Diagnose und Beratung nicht stationär aufgenommen, sondern zweimal die Woche in der Poliklinik ambulant mit den neuen Verfahren behandelt, mit denen die Psychiater die neurologische Ausrichtung ihres Fachgebietes therapeutisch untermauerten. Was auf den ersten Blick wie ein konzeptioneller Zirkelschluss aussieht, mag für die Betroffenen in der Praxis der täglichen Anwendung eine ganz andere Bedeutung erhalten haben. Industrielle Revolution und urbaner Konsum waren nicht nur mögliche Ursache zahlreicher Erkrankungen, sondern zugleich Quelle ihrer Heilung – mit technisch erzeugter Licht- und Wärmestrahlung, heißem Badewasser in großen Mengen und dem Einsatz von Gleich- und Wechselströmen. Es war die gleiche industrielle Welt der wachsenden Großstadt – vor wie hinter den Türen der psychiatrischen Klinik.

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Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Das Schiff als Ort des Wahnsinns – Hitzschläge, Misshandlungen und Suizide von Heizern und Trimmern im transozeanischen Seeverkehr

Seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde in den europäischen Hafenstädten ein bis dahin völlig unbekanntes Phänomen wahrgenommen, gedeutet und verhandelt: Hunderte von Seeleuten – in erster Linie Heizer und Trimmer1 – sprangen auf offenem Meer über Bord, nachdem sie zuvor durch die unerträgliche Hitze in den Kesselräumen und Kohlenbunkern, durch inhumane Arbeitsbedingungen, Gewalt und Misshandlung in den Wahnsinn getrieben worden waren. Diese Menschen waren im Grunde genommen im wahrsten Sinne des Wortes „verheizt“ worden. Das maschinenbetriebene Schiff wurde für viele, die unter Deck arbeiteten, zum Ort des Wahnsinns, zur „Hölle auf Erden“. Der Schiffsverkehr zwischen Kontinenten, Wirtschafts- und Kulturräumen bringt im Kontext der Industrialisierung spezifische Formen psychischer Devianz hervor. Greifbar wird hier der Wahnsinn in einer klassischen Schwellenphase, der transozeanischen Schiffs-Passage. Der Wahn des sog. „niederen Maschinenpersonals“ auf See wirkte in die Heimathäfen der betreffenden Schiffe zurück und manifestierte sich hier in besonderen Diskurs- und Aktivitätsfeldern. Am Beispiel des Überseehafens Hamburg lässt sich dieses Thema besonders gut darstellen. Während des Kaiserreichs wird in der norddeutschen Hafenmetropole eine Figuration des „modernen“ Wahnsinns erkennbar, die untrennbar an die Funktion der Stadt als internationales und interkontinentales Verkehrs- und Handelszentrum gebunden ist. Die Selbstmorde und Hitzschläge der Trimmer und Heizer sind Phänomene des industriellen Wandels in der Seeschifffahrt. Sie sind markante Aspekte des Übergangs vom Segelschiff zum Dampfschiff. Im Rahmen der Darstellung dieses technischen Modernisierungsprozesses (mit seinen vielschichtigen sozialen Folgen) haben sie in der Forschung wiederholt Erwähnung gefunden. Verwiesen sei hier etwa auf die Untersuchung von Spethmann.2 Die zahlreichen Misshandlungen der Feuerleute auf den Schiffen sind in diesem Zusammenhang von

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Wir danken insbesondere Thomas Beddies und Eric J. Engstrom für ihre konstruktive Kritik und ihre anregenden Kommentare. Die Trimmer (Kohlenzieher) waren auf den Schiffen für den Transport der Kohle in die Heizräume zuständig. Daneben war es ihre Aufgabe, große Kohlenbrocken mit dem Kohlenhammer zu zerkleinern und die heißen Asche- und Schlackereste zu entsorgen. Spethmann 2002, 197–201.

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Gerstenberger und Welke3 thematisiert worden. In zwei kürzeren Beiträgen über Arbeit und Arbeitsabläufe unter Deck von Rath4 finden die brutalen Bedingungen an Bord, die Selbstmorde und Misshandlungen ebenfalls Berücksichtigung. Ausführlicher hat sich Kiupel5 in zwei Aufsätzen dem Thema der Selbstmorde von Heizern und Trimmern gewidmet. Dabei geht er detailliert auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Feuerleute sowie auf arbeitsmedizinische Fragen ein. Kiupel interpretiert das Überbordspringen im Sinne eines sozialen Protests, also als letzte Form des Widerstands, und damit als einen rationalen Akt. In ihrer Arbeit über farbige Seeleute an Bord deutscher Handelsschiffe hat sich auch Sibylle Küttner6 eingehender mit dem Themenkomplex der Selbstmorde, Hitzschläge und Misshandlungen auseinandergesetzt. Hartmut Goethe7 hat sich in einem Beitrag zur Geschichte der Schifffahrtsmedizin ebenfalls mit dem Überbordspringen der Feuerleute und den gesundheitlichen Folgen der übermäßigen Hitze in den Kesselräumen und Kohlenbunkern befasst. Bereits 1977 hat Gerdau8 in seinem Artikel „Die Ozeane von einst: Selbstmordstraßen der Trimmer“ in eher essayistischer Form das Problem thematisiert. In der Literatur sind in erster Linie der Roman „Das Totenschiff“ (1926) von B. Traven9 sowie „The Hairy Ape“ (1921/22) von Eugene O’Neill10 zu erwähnen. Darüber hinaus sei hier auch auf Kafkas Erzählung „Der Heizer“ (1913)11 mit ihren allerdings eher mittelbaren Bezügen zum Thema verwiesen. Die bisherige Erforschung und Darstellung des Themas ist primär sozial- und schifffahrtshistorisch ausgerichtet. Erkennbar wird vor allem ein starkes Interesse an der Lage von Unterschichten, an sozialer Ungleichheit und Formen von Solidarität und Widerstand, also eine eher konventionelle Perspektive der Sozialhistorie. Unser Interesse gilt demgegenüber der psychiatriehistorischen Dimension des angesprochenen Themenkomplexes. Im Fokus steht eine besondere Formation des „modernen“ Wahnsinns, die auf unterschiedlichen Manifestationsebenen betrachtet werden soll. Wir untersuchen in unserem Aufsatz den Wahn des „niederen Maschinenpersonals“ an Bord deutscher Hochseeschiffe zwischen 1880 und 1914. Wir werden versuchen, jenen Mo3 4 5 6 7 8 9 10

Gerstenberger/Welke 1996, 200–204. Rath 1986, 186–189; Rath 1988, 267. Kiupel 1983; Kiupel 1993. Küttner 2000, 66–87. Goethe 1985, 52–57. Gerdau 1977. Traven 1983; vgl. zu B. Traven: Hauschild 2009. O’Neill 1986. – Der Selbstmord des mit ihm befreundeten irischen Heizers J. Driscoll, der 1915 auf hoher See über Bord gesprungen war, veranlasste O’Neill zur Abfassung dieses Stückes, dessen Protagonist Yank zunehmend dem Wahn verfällt. (Dowling 2009, 6 u. 210; Richter 2009; Alexander 2005, 20f.). 11 Kafka 1913.

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menten nachzuspüren, in denen Heizer und Trimmer auf hoher See „außer sich“ geraten und über die Reling springen. Zu diesem Zweck stellen wir den Fall des Schraubendampfers „Sommerfeld“ der in Hamburg ansässigen Deutsch-Australischen Dampfschiffs-Gesellschaft aus dem Jahre 1891 in den Mittelpunkt des ersten Abschnitts. Er ermöglicht aufgrund seiner umfassenden Rekonstruktion im Rahmen der Untersuchungen des Hamburger Seeamts eine erste Annäherung an das Thema und eine Problematisierung der oben skizzierten Phänomene. Die langjährigen Verhandlungen über die Selbstmorde des „niederen Maschinenpersonals“ sind Gegenstand des zweiten Abschnitts unserer Arbeit. Als Grundlage dient hier die umfangreiche Akte bzw. einschlägige Materialsammlung des Hamburger Hafenarztes, einem der wichtigsten Akteure in den Auseinandersetzungen um das häufige Überbordspringen auf See. In diesem Abschnitt gilt es, einige grundlegende Strukturen des vielschichtigen Aushandlungsprozesses zwischen den beteiligten Funktionsträgern und Instanzen genauer herauszuarbeiten. In einem dritten Abschnitt soll dargestellt werden, welche Spuren der Wahn der Feuerleute auf Hochseedampfern in den psychiatrischen Krankenakten der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg hinterlassen hat. Im Fazit soll versucht werden, auf der Basis der gewonnenen Einsichten den Wahn der Heizer und Trimmer vor allem in struktureller Hinsicht näher zu definieren und zu charakterisieren. Unser Interesse gilt hier besonders den Schwellen der Wahrnehmung dieser spezifischen Formation des Wahns im Kontext von Schifffahrt, Industrialisierung und Hafenstadt.

1. Der Fall des Schraubendampfers „Sommerfeld“ aus dem Jahre 1891 Der Fall des Dampfers „Sommerfeld“ wurde Anfang 1892 vor dem Hamburger Seeamt12 und ein Jahr später vor dem Kaiserlichen Oberseeamt13 verhandelt. Die Sprüche beider Gremien wurden im 10. Band der „Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs“ 1894 publiziert.14 Die besonderen Vorkommnisse auf diesem Schiff erregten die Öffentlichkeit15 und wurden auch im Deutschen Reichstag diskutiert.16 Es folgt eine kur12 13 14 15

StAHH, 373-5I, A 1892, Nr. 14, 189–280 (23.2.1892). StAHH, 373-5I, D 1893, Nr. 1, 1–18 (24.1.1893). Entsch. Ober-Seeamt, Bd. 10 (Hamburg 1894), 379–418. In den Darlegungen des Hamburger Seeamts ist sowohl von deutschen Zeitungsberichten als auch von einem entsprechenden englischen Artikel die Rede. (Entsch. Ober-Seeamt, Bd. 10 [Hamburg 1894], 398, vgl. auch 413). 16 Noch vor den Verhandlungen vor dem Hamburger Seeamt, die am 25. Januar begannen, ging August Bebel am 15. Januar 1892 im Reichstag auf den Fall der „Sommerfeld“ ein. (Verhandl. Reichstag, Bd. 118 [1890/92], 3657f.; vgl. auch Verhandl. Reichstag, Bd. 128 [1892/93], 1176).

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ze Zusammenfassung der mehr als 30 Druckseiten umfassenden Schilderung der Ereignisse durch das Hamburger Seeamt. Die „Sommerfeld“, Baujahr 1889, verkehrte zwischen Hamburg und Australien. Sie hatte 38 Mann Besatzung, 17 davon gehörten dem Maschinenpersonal an. Schiffer war seit Frühjahr 1891 Simon Petersen. Eine künstliche Ventilation existierte nicht an Bord. Am 27. Juni 1891 befand sich das Schiff im Roten Meer. Die Temperatur- und Luftverhältnisse im Maschinenraum, im Kesselraum und in den Kohlenbunkern waren schwer zu ertragen. An diesem Tag wurde der Trimmer Jack Tyning vermisst. Er war von Bord gesprungen. Außer Tyning sprang auf der Reise auch noch der Trimmer Günther über die Reling, konnte allerdings wieder aus dem Wasser geholt werden. Ein dritter Mann mit gleicher Absicht wurde noch rechtzeitig zurückgehalten, bevor er sein Vorhaben ausführen konnte. Tyning hatte – wie auch andere Trimmer – vor seinem Selbstmord am ganzen Körper Ausschlag. Drei Feuerleuten stand bei Beendigung einer Wache zum Waschen insgesamt ein Eimer Wasser zur Verfügung. Die Klagen über schlecht zubereitetes und verdorbenes Essen waren massiv, auch von Seiten der Passagiere. Gerade das Maschinen- und Heizpersonal, das die schwerste Arbeit leisten musste, befand sich infolgedessen in einem desolaten gesundheitlichen Zustand. In Adelaide „desertierten“ – so der zeitgenössische Ausdruck – fünf Mann des Heizerpersonals. Von den neu angemusterten Leuten verweigerten drei in Singapur die Weiterarbeit. Einer von ihnen ging dort auf Veranlassung des deutschen Konsuls lieber für drei Monate in Haft als mit der „Sommerfeld“ weiterzureisen. Ein anderer setzte die Reise fort, wurde auf der Fahrt nach Port Said jedoch „geisteskrank“ – wie es wörtlich heißt – und dort abgemustert. Die gesamte Besatzung – mit Ausnahme des 1. Steuermanns – musterte nach Rückkehr des Schiffes in Hamburg ab. Am 14. August 1891 verließ die „Sommerfeld“ erneut die Hansestadt in Richtung Australien. Bereits in Antwerpen, wo die Ladung des Schiffes komplettiert wurde, „desertierten“ drei Heizer und zwei Trimmer. Daraufhin wurden fünf neue Leute angemustert. Am 31. August wurde der Trimmer Franz Bruder vermisst. Man glaubte, er sei über Bord gesprungen, fand ihn aber zwei Tage später zwischen der Ladung versteckt. In Port Said „desertierten“ zwei weitere Heizer. Am 9. September erkrankte im Roten Meer der Heizer Heinrich Struppler an Hitzschlag, am 10. September der Trimmer Johann Henning Peters. Dieser wurde vom 1. Maschinisten Fendt und dem 2. Maschinisten Siebke brutal geschlagen und misshandelt, weil er nicht mehr weiterarbeiten konnte. Sie hielten ihn für einen Simulanten. An Deck fiel er um und begann zu phantasieren. Der Schiffsarzt fand ihn dort „halblaut in verwirrter Weise betend“. Als Petersen ihn zur Rede stellen wollte, rief er nach Aussage eines anderen Zeugen im Fieberwahn: „Sarah, liebst Du mich noch?“ Wenig später starb er. Als Todesursache gab der Schiffsarzt Hitzschlag an. Der Heizer Struppler, kurz zuvor an Hitzschlag erkrankt und einige Zeit geschont, begab sich am 12. September wieder auf seine Wache. Doch er war nicht in der Lage zu arbeiten. Daraufhin wurde er vom 1. Maschinisten beschimpft und brutal zur

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Arbeit angetrieben. Am Abend starb er. Die ärztliche Diagnose lautete auch hier auf „Hitzschlag“. Am 15. September wurde der Trimmer Bruder erneut vermisst. Wieder hatte er sich versteckt. Mit Gewalt wurde er aus dem Versteck geholt. Er schaffte die schwere Arbeit nicht mehr. In seiner Verzweiflung sprang er über Bord. Dem waren Beschimpfungen und körperliche Bedrohungen vorausgegangen. Insgesamt entwichen in der Zeit vom 17. August bis 21. November von der für die „Sommerfeld“ angemusterten Mannschaft 24 Feuerleute, ein Matrose und ein Steward. Es starben drei Feuerleute und ein Steward. Als ursächlich wurden in den Verhandlungen des Falles die zur fraglichen Zeit herrschende große Hitze und die Misshandlungen angesehen. Auch der Schiffsarzt verließ vorzeitig das Schiff. Die Durchsicht der Musterrollen der „Sommerfeld“ ergab, dass mit der Übernahme der Verantwortung an Bord durch den Schiffer Petersen, der seine Besatzung äußerst roh behandelte, die „Desertionen“ begannen. Ihre Zahl erreichte eine auffällige Höhe, nachdem der 1. Maschinist Fendt an Bord gekommen war, also mit Beginn der zweiten Reise. In der Rekonstruktion der Ereignisse an Bord der „Sommerfeld“ durch das Hamburger Seeamt stehen die Arbeits- und Lebensverhältnisse einer bestimmten Gruppe von Seeleuten, nämlich des „niederen Maschinenpersonals“, im Zentrum. Die Heizer und Trimmer der „Sommerfeld“ versuchen sich auf verschiedenen Wegen den als unerträglich empfundenen Bedingungen an Bord zu entziehen. Viele fliehen während der Reise in den unterwegs angelaufenen Häfen. Einer versteckt sich wiederholt an Bord des Schiffes. Andere springen auf offener See über die Reling und ertrinken. Eine Reihe von Feuerleuten findet während der beiden Reisen den Tod. Neben dem Überbordspringen findet als Todesursache der Hitzschlag Erwähnung. Es sind vor allem zwei Faktoren, die für manchen an Bord in der Katastrophe enden: die große Hitze und die Misshandlungen durch die Maschinisten. In zwei Fällen werden durch die vernommenen Zeugen Erscheinungen psychischer Devianz beobachtet. In einem dieser Fälle ist explizit von „geisteskrank“ die Rede. Aus medizinischer Sicht unterstrich der Hamburger Hafenarzt Bernhard Nocht 17 1903 die besondere Bedeutung des Hitzschlags in dem hier skizzierten Kontext. Dabei seien es 17 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bernhard Nocht (1857–1945): 1893–1906 erster hauptamtlicher Hafenarzt Hamburgs; 1900–1930 Begründer und Direktor des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten (Hamburger Tropeninstitut, heute: Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin); 1906–1919 Leiter des gesamten Hamburgischen Medizinalwesens (seit 1912 Obermedizinalrat); 1906 Ernennung zum Kaiserlichen, 1907 zum Hamburgischen Professor; 1913 bis 1936 Vorsitzender der Deutschen Tropenmedizinischen Gesellschaft; seit 1919 Professor für Tropenmedizin an der neu gegründeten Hamburgischen Universität (1920/21 Dekan der Medizinischen Fakultät, 1926/27 Rektor der Universität); 1923 Berufung in das Hygienekomitee des Genfer Völkerbundes (Leitung der Malariakommission, 1927 Ernennung zum Vizepräsidenten der Hygienekommission); 1945 Freitod. (Wulf 2010; Wulf 1999; Mannweiler 1998, 104–108 u. 230f.; Wulf 1994, v. a. 64–75; vgl. auch Martini 1957).

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nicht immer exorbitant hohe Temperaturen, die den „gefährlichen Symptomenkomplex“ des Hitzschlags hervorriefen, sondern oftmals auch die hohe Luftfeuchtigkeit und mangelnde Luftzirkulation in den Kesselräumen und Kohlenbunkern. In dieser Hinsicht verwies er auf besondere Gefahrenregionen wie das Rote Meer oder den Golfstrom. Nocht sah einen direkten Zusammenhang zwischen dem Hitzschlag und den zahlreichen Selbstmorden unter dem „niederen Maschinenpersonal“. Seinen Ermittlungen zufolge waren in einer großen Zahl von Fällen dem Überbordspringen von Heizern und Trimmern Anfälle von Hitzschlag vorausgegangen.18 In psychiatrischer Hinsicht interessant sind die folgenden Feststellungen Nochts: In sehr vielen Fällen gehen unzweifelhaften Hitzschlaganfällen […] nervöse Unruhe, psychische Depression und Selbstmordgedanken voraus, oder sie vergesellschaften sich mit den körperlichen Symptomen des Hitzschlaganfalls. Auch in den seeamtlichen Verhandlungen stellt es sich häufig heraus, daß die Selbstmörder unter den Feuerleuten entweder gleichzeitig mit Erscheinungen leichten Hitzschlags, Zeichen psychischer, vorher nicht bemerkter Depression vor dem Ueberbordgehen zeigten oder ganz plötzlich von der Arbeit mit Anzeichen von Verwirrung an Deck eilten und in den Tod gingen. Auch die Seeämter sprechen sich in diesen Fällen dahin aus, daß diese Selbstmorde in plötzlichen Anfällen geistiger Störung infolge von Überhitzung verübt wurden, wenn auch in der Mehrzahl der seeamtlichen Sprüche Urteile über die Ursachen solcher Vorkommnisse nicht abgegeben sind.19

Nocht stellte weiterhin fest, dass den Selbstmorden nicht selten auch Misshandlungen an Bord vorausgegangen seien. Auch hier lohnt sich wiederum ein Blick in die Verhandlungen des Hamburger Seeamts. So wurde am 15. Dezember 1913 festgestellt, dass der Heizer Jenner am 21. April desselben Jahres „in anscheinend geistesgestörtem Zustand in selbstmörderischer Absicht“ über die Reling des Dampfers „Ceres“ gesprungen und ertrunken sei, nachdem er zuvor von dem 1. Maschinisten Möller „mehrfach nicht unerheblich mißhandelt“ worden war. Das Seeamt kam zu der Überzeugung, dass diese Misshandlungen mit dazu beigetragen hätten, Jenner in „geistige Verwirrung“ zu stürzen und in den Selbstmord zu treiben.20 B. Traven hat in seinem Roman „Das Totenschiff“ 1926 die Arbeit der Kohlenzieher und Heizer auf der „Yorikke“ einprägsam geschildert, die inhumanen Arbeitsverhältnisse, das unerbittliche Regime der verantwortlichen Maschinisten und die Sehnsucht nach dem Sprung ins Meer. Doch der Seemann Gerard Gale widersteht der Versuchung: „Wäre ich über die Reling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in einer Hölle sein, wo selbst die Teufel es nicht

18 Nocht 1903, 257–266; vgl. Nocht 1906, 35–41. 19 Nocht 1903, 264f. 20 Entsch. Ober-Seeamt, Bd. 21 (Hamburg 1920), 206f.

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aushalten können.“21 Das Schiff auf offenem Meer ist ein unentrinnbarer Ort. Man kann ihn nicht verlassen, ohne zu sterben. Foucault bezeichnete das Schiff als die „Heterotopie“ par excellence.22 Schiffe seien ein Stück schwimmender Raum, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert. Schiffe sind Orte, die nach eigenen Regeln funktionieren. Goffman23 zählte das Schiff zu den „totalen Institutionen“, zu jenen geschlossenen „Welten“, deren allumfassender Charakter symbolisiert wird durch die Beschränkung oder völlige Aufhebung des sozialen Verkehrs der „Insassen“ mit der Außenwelt. Diese Eigenschaft ist zum Teil direkt in die „dingliche Anlage“ dieser Institutionen eingeschrieben (verschlossene Tore, hohe Mauern, Felsen, Wasser). Die Spielarten sind vielfältig: Irrenanstalten und Gefängnisse, Kasernen und Internate, koloniale Stützpunkte und Tuberkulose-Sanatorien. Signifikant ist die Bipolarität einer größeren isolierten und kontrollierten Gruppe von Menschen, der „Insassen“, auf der einen und dem weniger zahlreichen „Aufsichtspersonal“ auf der anderen Seite. Im Fall der Dampfschiffe verlief die Grenze zwischen beiden Gruppen direkt durch die an Bord tätige Mannschaft. Das, was an Bord geschah, war lange Zeit nur sehr mittelbar und fragmentarisch einer gesellschaftlichen Kontrolle von außen unterzogen. Mit der Industrialisierung etablierte sich auch an Bord der Schiffe die „Macht“ der Maschine.24 Sie bestimmte den Rhythmus und die sozialen Interaktionen an Bord. Die Fortschritte der Technik beschleunigten den Überseeverkehr, doch in die industrialisierte Schiffs-Passage schrieb sich eine neue Form des Wahnsinns ein.

2. Der Diskurs über die Selbstmorde des „niederen Maschinenpersonals“ Der Spruch des Hamburger Seeamts im Fall des Dampfers „Sommerfeld“ und die anschließende Schilderung des „Thatbestandes“ verweisen einerseits auf die Verhältnisse und Ereignisse an Bord des Schiffes, auf einer anderen Ebene spiegeln sie grundlegende Strukturen der äußerst facettenreichen Auseinandersetzungen über das Phänomen des Überbordspringens, über die Hitzschläge und Misshandlungen an Bord transozeanischer Dampfer wider. Die Seeamts-Sprüche und -Verhandlungen sind ein wichtiger Teil dieses vielschichtigen Aushandlungsprozesses. Die Seeämter hatten einerseits die Aufgabe, „Seeunfälle“ und außergewöhnliche Ereignisse auf dem Meer und an Bord der Schiffe aufzuklären. Dies forderte die Öffentlichkeit und es lag letztendlich auch im Interesse der Reedereien. Andererseits 21 22 23 24

Traven 1983, 179. Foucault 2005, 21f. Goffman 2008, hier v. a. 15–23. Vgl. Gerstenberger/Welke 1996, 184–187.

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dienten die Seeämter in der Art der Bewertung der jeweiligen Vorfälle der Stabilisierung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in den Hafenstädten. Sie dienten den Interessen der Schifffahrtslinien. Im Fall der „Sommerfeld“ schloss dies keineswegs aus, dass man eher den Aussagen der Feuerleute glaubte als denen ihrer Vorgesetzten25, doch gleichzeitig spürt man in jedem Satz der seeamtlichen Darstellung, wie sich die mit dem Fall befassten Entscheidungsträger verbiegen, wie sie sich geradezu winden, um die notwendigen Schlussfolgerungen und Bewertungen aus dem reichen Tatsachenmaterial möglichst zu umgehen. Es ist kein Zufall, dass gleich zu Beginn des Seeamts-Spruches vom Februar 1892 festgestellt wird, dass die Ventilationsanlagen im Kesselraum der „Sommerfeld“ als durchaus genügend zu bezeichnen seien26, obwohl ja gerade das offensichtlich nicht der Fall war. Man hatte ein technisches Gutachten „bewährter Specialsachverständiger“ eingeholt. Nach Ansicht des Seeamts gab es nur wenige Schiffe, „auf denen die Ventilation des Kesselraumes günstigere Verhältnisse aufweist“ als auf der „Sommerfeld“. Aus Sicht des Seeamts bestand das Problem in den extremen Temperaturen im Roten Meer und in dem Umstand, „daß die Windrichtung mit der Fahrt des Schiffes lag, so daß kein Zug durch die Windrohre nach unten gelangen konnte“.27 Doch diese Probleme waren bekannt. Ein adäquates Ventilationssystem hätte mit ihnen fertig werden müssen. Die „Sommerfeld“ verkehrte regelmäßig zwischen Deutschland und Australien. Sie musste dabei das Rote Meer durchqueren. Sie besaß aber keine künstliche Ventilation. Das Belüftungssystem in den Kesselräumen war also ungenügend. Eine solche Schlussfolgerung durch das Seeamt hätte allerdings Interventionen provoziert, durch die die Entscheidungsautonomie der Schifffahrtslinien in Fragen der Schiffskonstruktion relativiert worden wäre. Und man befürchtete gewiss auch Forderungen nach einer Umrüstung der Schiffe, die erhebliche Kosten nach sich gezogen hätte. Beides galt es zu vermeiden. Stattdessen lenkte man die Aufmerksamkeit auf vermeintliche Unzulänglichkeiten der Seeleute. Während das Seeamt einerseits nicht bereit war, kausale Zusammenhänge zwischen den Todesfällen an Bord der „Sommerfeld“ und den systemischen Gegebenheiten in der transozeanischen Schifffahrt (Ventilation, vorgeschriebene Arbeitszeiten und -schichten, Fehlen von Ersatzleuten etc.) zu konstatieren, stellte es andererseits die „Minderwertigkeit“ und die Schwächen der Opfer in einen ursächlichen Zusammenhang mit deren Tod. Im Fall des Heizers Jack Tyning, der laut Seeamts-Spruch aus ungeklärten Ursachen „freiwillig“ über Bord ging, wird die „Hauptursache zu jenem Schritt“ in der „ungeeigneten Constitution des Mannes“ gesehen. Man beklagte, „daß es ihm an der nöthigen körperlichen und geistigen 25 Entsch. Ober-Seeamt, Bd. 10 (Hamburg 1894), 405. 26 Ebenda, 379. 27 Ebenda, 399–401.

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Widerstandsfähigkeit fehlte“.28 Im Fall des Trimmers Bruder, der sich wiederholt an Bord zu verstecken versuchte, hatte man es laut Seeamt mit einem „an sich schon verzweifelte[n] Gemüth“ zu tun, als er – durch seine Vorgesetzten in die Enge getrieben und körperlich bedroht – schließlich über Bord sprang. „Hauptmotiv jenes verzweifelten Schrittes“ sei ein Missverständnis gewesen, denn Bruder habe bei Anmusterung in Antwerpen geglaubt, dass die „Sommerfeld“ nach New York fahre. Erst unterwegs habe er erfahren, dass das Ziel Australien sei. Dieses „Mißgeschick“ habe ihn „völlig arbeitsunlustig und lebensüberdrüssig“ gemacht. Schließlich habe er Selbstmord begangen.29 Im Fall des Trimmers Peters sah man die schweren Misshandlungen nicht als „direct causal“ für dessen Tod an. Vielmehr habe Peters, so das Seeamt, „den Keim“ für seine schwere Erkrankung offenbar „bereits am Lande in sich aufgenommen“.30 Wie man sich das genau vorzustellen hat, erschließt sich aus der fraglichen Textpassage allerdings nicht. Deutlich greifbar wird jedoch das Bemühen, die Gründe für die Todesfälle möglichst außerhalb des Schiffes zu suchen bzw. die gesamte Problematik zu individualisieren. Die persönliche Prädisposition der Opfer wird in den Vordergrund der vermeintlichen Aufklärung gestellt. Hier verortet man explizit die „Hauptursachen“ für Tod, Krankheit und Wahn an Bord. Auch die massive Kritik des Seeamts an dem brutalen Verhalten der Maschinisten und der Rohheit des verantwortlichen Schiffers Petersen folgt letztendlich nur der Logik der Individualisierung. Ausgeblendet bleiben die technischen und organisatorischen Bedingungszusammenhänge der Arbeit unter Deck mit ihren schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit der Feuerleute. Das Seeamt machte unter dem Strich das extreme Klima im Roten Meer und menschliche Schwächen, vor allem auch die der Opfer, für die Todesfälle und Selbstmorde verantwortlich. Diese Argumentationsmuster verweisen auf grundlegende Strukturen in den langjährigen Verhandlungen über die Selbstmorde des „niederen Maschinenpersonals“ in den Hansestädten und auf Reichsebene. Die wichtigsten Aspekte dieser Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und professionellen Gruppen lassen sich sehr gut fassen auf Grundlage der einschlägigen Akte des Hamburger Hafenarztes Bernhard Nocht im Staatsarchiv Hamburg.31 Diese reichhaltige Materialsammlung spiegelt die grundsätzlichen Kon28 29 30 31

Ebenda, 379 u. 402. Ebenda, 407. Ebenda, 405. StAHH, 352-7I, 200. – Es handelt sich um eine mehrhundertseitige Materialsammlung, bestehend aus Briefen, Sitzungsprotokollen, Verhandlungsberichten, Statistiken, Publikationen, Berichten von Schiffsärzten, Zeitungsartikeln sowie handschriftlichen Manuskripten, Notizen und Berechnungen Nochts. Die Schriftstücke stammen aus dem Zeitraum zwischen 1884 und 1912. In Nochts Akte befinden sich nicht nur einschlägige Dokumente aus Hamburg, sondern ebenso aus Bremen. Das Material

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troversen in der Frage nach den Ursachen der Selbstmorde auf See anschaulich wider. Um wie viele Fälle aber ging es hier eigentlich? In diesem Punkt immerhin herrschte weitgehend Einigkeit. Zwischen 1888 und 1897 waren 179 Selbstmorde auf deutschen Handelsschiffen gemeldet worden. Zu dieser Zahl musste noch ein sehr großer Teil von an Bord Vermissten (162 Personen) addiert werden. Die größte Zahl an Bord vermisster Seeleute stellten – bezeichnenderweise – die Kohlenzieher.32 Man ging 1898 also in Deutschland bereits von etwa 280 bis 300 Selbstmorden aus. Welche Erklärungsansätze für das Phänomen des Überbordspringens der Heizer und Trimmer werden in diesem Aushandlungsprozess greifbar? Nicht nur die Seeämter, sondern in erster Linie die Schifffahrtslinien und die in den Hafenstädten politisch maßgebenden Senatsund Handelskreise insgesamt waren daran interessiert, das Überbordspringen der Feuerleute, ein erkennbar strukturelles Problem, so weit wie möglich zu individualisieren. Man behauptete, dass es sich bei dem „niederen Maschinenpersonal“, vor allem bei den Kohlenziehern, um körperlich und moralisch heruntergekommene Existenzen handelte, und sah die Hauptursache der Selbstmorde auf See in der vermeintlichen Minderwertigkeit des „Menschenmaterials“. Nach Meinung der Schifffahrts- und Handelskreise rekrutierte sich der größte Teil der Opfer aus gescheiterten Existenzen, die des Lebens überdrüssig waren, aus Alkoholikern und Kriminellen. In Bremen wurde diese Haltung in einem schärferen Ton vertreten als in Hamburg. Doch auch hier orientierten sich die interessierten Kreise grundsätzlich an diesem Erklärungsmodell. Die Technik des Individualisierens in der Deutung einer (arbeits-)medizinischen und psychiatrischen Problemlage diente – wie schon angemerkt – dem Ziel, das Problem zu bagatellisieren und staatliche Eingriffe in das System der Schifffahrt durch gesetzliche Bestimmungen und Kontrollen und die daraus resultierenden Kosten zu verhindern. Die See-Berufsgenossenschaft, vertreten durch ihren Vorsitzenden, den Hamburger Großreeder Carl Ferdinand Laeisz, sah die Ursachen der hohen Selbstmordfrequenz nicht im Belässt außerdem die Rolle der Reichsbehörden in der Beschäftigung mit dieser Frage gut erkennen. Die Diskussionen über die Selbstmorde der Heizer und Trimmer setzten 1883 zunächst in Bremen ein. Stellungnahmen des Hamburger Senats, der Hamburger Behörden und Institutionen (HAPAG) sind in Nochts Akte ab 1889 überliefert, nachdem sich bereits der Reichskanzler in die Diskussion eingeschaltet hatte. Im April 1897 befasste sich in Berlin die Technische Kommission für Seeschiffahrt gemäß einer Verfügung des Staatssekretärs des Innern mit den zahlreichen Selbstmorden der Feuerleute. Den Bericht über die Verhandlungen an den Staatssekretär des Innern verfasste Nocht. 1898 veröffentlichte der Vorstand der den Reedereien nahestehenden See-Berufsgenossenschaft eine eigene Dokumentation zu diesem Thema. Diese Publikation war eine grundsätzliche Kritik an dem Bericht von 1897 und in erster Linie an den Erklärungsansätzen von Nocht, der allerdings noch im selben Jahr mit einem 24-seitigen Papier darauf reagierte, in dem er die statistischen Berechnungen der See-Berufsgenossenschaft in wichtigen Punkten infrage stellte und widerlegte. 32 Bericht See-Berufsgenossenschaft 1898, 1f. u. 5.

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trieb der Schiffe selbst, sondern ganz maßgeblich in der Nordamerika-Fahrt begründet. Als besondere Problemgruppe wurden die „Überarbeiter“ angesehen. Bei ihnen handelte es sich um „unbefahrene“, d.h. mit den Tätigkeiten unter Deck nicht vertraute Migranten, die sich durch den Dienst als Kohlenzieher die Überfahrt von Amerika zurück nach Europa (oder bereits die Hinfahrt) erarbeiteten. Besonders in den USA waren die Reedereien aufgrund zahlreicher „Desertionen“ in starkem Maße gezwungen, Migranten – viele aus Osteuropa – für den Dienst unter Deck anzuheuern, um die Rückreise antreten zu können. Diese „Überarbeiter“ zeigten sich jedoch der schweren und ungewohnten Arbeit in den Kohlenbunkern und Kesselräumen oftmals kaum gewachsen. Aus Sicht der See-Berufsgenossenschaft stand die Häufigkeit der Selbstmorde unter den Feuerleuten in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Häufigkeit der „Desertionen“.33 Nocht wies demgegenüber nicht nur nach, dass die Selbstmordrate bei Schiffsreisen durchs Rote Meer und auf Ostasiendampfern höher war als auf der Nordamerika-Fahrt, sondern er nahm auch hinsichtlich der „Desertionen“ einen konstruktiven Standpunkt ein, statt sie nur zu beklagen. Er hielt es für erforderlich, dass der Ruf der Arbeit unter Deck verbessert wird: „Dann werden sich auch tüchtige Leute, die bleiben wollen und eingeschult werden können, in genügender Anzahl finden lassen. Dieser Ruf wird aber erst dann besser, wenn der Dienst des Feuermannes erleichtert, die Behandlung humaner wird und die allgemeinen Lebensverhältnisse an Bord sich günstiger gestalten.“34 Dies war eine Aufforderung an die Reedereien. In welch naiver und zugleich zynischer Weise man auf deren Seite das Problem interpretierte und zu erklären (bzw. zu verschleiern) suchte, macht eine Stellungnahme des Norddeutschen Lloyd vom Juni 1890 deutlich: Trotzdem sind leider Selbstmorde unter den Leuten vorgekommen, zum größten Theil wohl nur veranlaßt durch Mißmuth, Arbeitsscheu und moralische Verkommenheit, in welcher sich sogenannte Ueberarbeiter häufig befinden. Sobald an solche Personen die Forderung einer strengen Pflichterfüllung herantritt, sind sie Selbstmordgedanken nur allzuleicht zugänglich.35

Zwar hielt sich die Hamburg–Amerika Linie – verglichen mit der Konkurrenz in Bremen – in Wortwahl und Diktion eher zurück. Doch hob beispielsweise auch die Hamburger Handelskammer das „vielfach ungeeignete, ja verkommene Menschenmaterial (namentlich Ueberarbeiter)“ als Hauptursache „dieser immerhin bedauerlichen Erscheinung“ hervor.36 Auf 33 Ebenda, 17–20. 34 StAHH, 352-7I, 200: Nocht, Entgegnung auf den Bericht der See-Berufsgenossenschaft, 4.10.1898, 10–15, hier zit. 14f. 35 StAHH, 352-7I, 200: Norddeutscher Lloyd an Bremer Senatskommission für Schiffahrtssachen 27.6.1890, 5. 36 StAHH, 352-7I, 200: Handelskammer Hamburg an die Hamburger Deputation für Handel und

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Reichsebene ging man zwar auch davon aus, „daß die Ursachen nicht in einer mangelhaften Einrichtung der Schiffe zu suchen sind“, teilte aber bei der Beurteilung der zur Diskussion stehenden Feuerleute an Bord der Hochseedampfer nicht unbedingt den Standpunkt der Handels- und Schifffahrtskreise in den Hafenstädten: Der Mehrzahl der Selbstmörder ist bei der seeamtlichen Untersuchung von ihren Vorgesetzten und Kameraden ausdrücklich das Zeugniß ausgestellt, daß sie ordentliche Leute, dem Trunk nicht ergeben, kräftig und willig zu der Arbeit gewesen sind, bis sie durch die Hitze und den schweren Dienst – wie der gebräuchliche Ausdruck lautet – schlapp wurden. Dazu tritt zuweilen noch Seekrankheit und rohe Behandlung.37

Dass die letztere einen großen Teil der Schuld trage, so der Reichskommissar beim Seeamt Bremerhaven, sei ihm nicht zweifelhaft. Nach seiner Meinung sei durch die bislang nachgewiesenen Fälle aber nur ein Teil dieses Problems von den Behörden erfasst worden. Nicht immer seien Zeugen bereit zu sprechen, vor allem wenn sie sich mit den Tätern weiterhin auf dem gleichen Schiff befänden. Nochts Akte vermittelt nicht nur einen sehr guten Eindruck davon, wie die Selbstmorde des „niederen Maschinenpersonals“ gedeutet und verhandelt wurden, sondern auch von der Arbeitsweise eines Hafenarztes Ende des 19. Jahrhunderts.38 Es lässt sich klar nachvollziehen, wie sich Nochts Standpunkt zu dem fraglichen Problem in den 90er-Jahren herausbildete und festigte. Infolge einer weitgehend sachlichen und unvoreingenommenen Herangehensweise kam Nocht zu einer im Prinzip realistischen Einschätzung der zur Diskussion stehenden Fragen. Wiederholt äußerte sich der Hamburger Mediziner nach der Jahrhundertwende in einschlägigen Publikationen zu dem Phänomen der Selbstmorde im Schiffsverkehr.39 Nach seinen Berechnungen begingen – verglichen mit der gleichaltrigen männlichen Bevölkerung an Land – siebenmal mehr Feuerleute an Bord deutscher Dampfer Selbstmord. Bei den Kohlenziehern ergab sich sogar die zwanzigfache Häufigkeit. Demgegenüber war die Selbstmordquote des übrigen Personals auf Dampfschiffen nur unwesentlich höher als die an Land.40 Dies war für Nocht der entscheidende Punkt. Zwar räumte auch er der individuellen Widerstandskraft von Heizern und Trimmern eine nicht unmaßgebliche Bedeutung ein. Alkoholiker, Leute mit schwachem Herzen, übergewichtige und nicht an schwere Arbeit gewöhnte Menschen waren aus seiner Sicht unter Deck ungleich gefährdeter als andere. Die Schiffahrt 13.1.1890, 4. 37 StAHH, 352-7I, 200: Der Reichskommissar bei dem Seeamt Bremerhaven an den Staatssekretär des Innern von Boetticher 13.11.1889, 3f. 38 Vgl. Goethe 2002. 39 Wie Anm. 18. 40 Nocht 1903, 263.

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„persönlichen Verhältnisse“ spielten für ihn dennoch nur eine zweitrangige Rolle. Vor allem lagen ihm diskriminierende Äußerungen über die Gruppe der Heizer und Trimmer fern. Nocht vertrat den Standpunkt, daß das Unbefahrensein und der damit verbundene Mangel an Widerstandsfähigkeit mehr die Bedeutung einer sekundären, disponierenden Ursache hat, während der Wirkung des Aufenthalts und der Arbeit in den Heizräumen und Kohlenbunkern mehr die primäre Bedeutung zukommt.41

Für Nocht war die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord und vor allem die Einrichtung effektiver Ventilationssysteme unter Deck der entscheidende Punkt. Vor allem aber stand für ihn der Hitzschlag im Zentrum des eigenen Erklärungsansatzes, also ein Krankheitsbegriff anstelle moralischer und sozialer Stigmatisierung. Im medizinischen Fachdiskurs der Zeit schlossen sich beide Ansätze aber keineswegs aus. So wurden in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ die Leser 1906 über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Hitzepsychose und „moralischer Minderwertigkeit“ aufgeklärt.42 Und in einer Untersuchung über den Hitzschlag an Bord von Dampfern der Handelsflotte im Hamburger „Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene“ findet sich 1901 die Feststellung, dass „gerade die Heizer und Trimmer in moralischer Hinsicht durchschnittlich das schlechteste Menschenmaterial sind, das aus der Landbevölkerung eliminiert wird“. Zwar verschloss sich der Autor, ein Mediziner namens Schmidt aus München, im Prinzip keineswegs den dringend notwendigen Reformen, vor allem der Verbesserung der Ventilationssysteme. Doch stellte er sogleich die Interessen der von ihm nicht eben geliebten Berufsgruppe unter die der Nation. Der „Kampf ums Dasein“ verschmilzt mit der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Schiffsgesellschaften, welche im gleichen Atemzug als identisch mit den deutschen Gesamtinteressen überhaupt erachtet wird. Die Hygiene atme zu viel Liebe zum eigenen Volk, so Schmidt, als dass sie eine völlig internationale Wissenschaft sein könne. Zwar seien die Hälfte aller Hitzschläge als vermeidbar, „um nicht zu sagen verschuldet anzusehen“, doch wolle er „die Unfälle im Heizraume gern als ein notwendiges Übel betrachten, das wir beklagen, aber nicht ändern dürfen“, sofern durch die notwendigen Maßnahmen das Interesse des Ganzen gefährdet sein würde. Auf den Punkt gebracht, bedeutete dies: „Es wäre ja thöricht, ein paar tausend Menschen zu schonen, um Millionen anderen dadurch zu schaden.“43

41 Ebenda, 265. 42 Finckh 1906, 822. 43 Schmidt 1901, 271.

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3. Schiffsheizer und Trimmer in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg In der alltäglichen Praxis der Hamburger Psychiatrie spielte der Wahnsinn der Heizer und Trimmer an Bord transozeanischer Dampfer keine nennenswerte Rolle. Das Phänomen der Hitzschläge und Selbstmorde auf den Hochseedampfern blieb auf dieser wichtigen Manifestationsebene psychischer Devianz eine Randerscheinung. Wer nicht rechtzeitig „desertiert“ war, war im Meer verschwunden. Dieser Wahn „vernichtete“ im Prinzip die potentiellen Patienten und entzog sich damit gleichsam der psychiatrischen Behandlung. Aus der Irrenanstalt Friedrichsberg44, der maßgeblichen psychiatrischen Versorgungsanstalt Hamburgs während des Untersuchungszeitraumes, sind insgesamt mehr als hundert psychiatrische Akten von Heizern und Trimmern45 überliefert. Die inhaltliche Auswertung dieser Krankenakten ergab, dass bei der fraglichen Patientengruppe die progressive Paralyse und der Alkohol die vorherrschende Rolle spielten. In zwei Drittel der Fälle standen diese Aspekte im Vordergrund. In den meisten Fällen wird der städtische Raum als Lebensraum der Seeleute erkennbar. Die Verhältnisse oder besonderen Vorkommnisse an Bord von Schiffen spielten aufs Ganze gesehen demgegenüber keine signifikante Rolle. Kaum mehr als 15 Akten sind in dieser Hinsicht überhaupt relevant. Dennoch verweisen Einzelfälle sehr anschaulich auf das bisher skizzierte Problemfeld, lassen sich Spuren der Gesamtproblematik in den Krankenakten durchaus nachweisen. Einige dieser Fälle sollen nun näher betrachtet werden. Zudem wird gefragt, inwieweit der oben skizzierte Diskurs über die Selbstmorde des „niederen Maschinenpersonals“ die Haltung der Hamburger Psychiater gegenüber Heizern und Trimmern in Friedrichsberg möglicherweise beeinflusst oder bestimmt haben könnte. In den einschlägigen Friedrichsberger Krankenakten finden sich lediglich Bruchstücke der Wirklichkeit, unzusammenhängende Teile eines Puzzles, das zusammenzusetzen auf der Grundlage dieser historischen Quellen kaum möglich ist. Die ausgewählten Akten bilden nicht die Komplexität der Realität ab, sondern den Patienten und wie mit ihm umgegangen wurde. In diesen Akten werden keine arbeitsmedizinischen Untersuchungen dokumentiert oder entsprechende Deutungen vorgenommen. Die fraglichen Friedrichsberger Krankenakten enthalten zum Beispiel an keiner Stelle Begriffe wie „Hitzschlag“ oder „Hitzepsychose“. In der Anstalt findet etwas völlig anderes statt als im Büro des Hafenarztes oder in den Ver-

44 Schnitzer 1901; Weygandt 1910; Weygandt 1922; Weygandt 1928. 45 Die Friedrichsberger Krankenakten befinden sich im HKbA Hamburg. Zitiert wird in der Regel ohne Vereinheitlichung der Rechtschreibung, der Zeichensetzung und ohne Auflösung von Abkürzungen. Im Interesse einer besseren Lesbarkeit der zitierten Passagen wurden an einigen Stellen Korrekturen vorgenommen. Sie sind durch die Verwendung eckiger Klammern gekennzeichnet.

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handlungssälen der Berliner Ministerien. Die Einträge in der Akte und ihre Ordnung folgen der Logik der psychiatrischen Einrichtung bzw. der psychiatrischen Diskurse und dementsprechend werden auch die Patienten nur als auf dieser Grundlage erfasste Konstrukte sichtbar. Die Krankenakte ist das Resultat einer medizinisch-administrativen Praxis.46 Trotz dieser Einschränkungen, aufgrund derer viele der von uns aufgeworfenen Fragen nicht eindeutig zu beantworten sind, bietet das Friedrichsberger Aktenmaterial doch genug Stoff, um sich dem Thema dieses Aufsatzes weiter annähern zu können. Zwei der fraglichen Friedrichsberger Patienten äußerten sich direkt dazu, was sie beim Sprung über die Reling erlebten. Im Fall des Hamburger Heizers Max J.47 ist der folgende Dialog überliefert: Wann haben Sie zuletzt Gestalten gesehen? Das war, als ich auf dem schwedischen Dampfer fuhr, auf der Bric. Wann war denn das? Erzählen Sie mal! Das war nachts, den Monat kann ich nicht mehr genau sagen. Da war ich beim Asch[e]schieben und die Schlacken aus dem Kessel rausgenommen und über Bord geschüttet, und da sah ich meine Schwester im Wasser liegen. Und was haben Sie da gemacht? Da bin ich über Bord gesprungen. Wie kamen Sie wieder raus? Der erste Steuermann hatte die Wache und der hat das gesehen, der hat das Schiff stoppen lassen und mir einen Ring zugeworfen.

Der Heizer Johann K.48 hörte fortwährend die Stimme eines Mannes in seinem Kopf. Er forderte diesen zum Kampf. Der allerdings wollte sich nicht mit ihm schlagen: „Darauf habe ich ihn im Wasser lachen sehen, sprang über Bord um ihn zu verhauen, 3x habe ich mit ihm gefochten & kam immer wieder hoch. – Schließl. habe ich eine Ankerkette erwischt & bin wieder hochgezogen worden.“ In diesem Fall aus dem Jahre 1904 scheint (auch) übermäßiger Konsum von Alkohol – wie auch noch in zwei anderen Friedrichsberger Fällen des Überbordspringens – eine nicht unmaßgebliche Rolle gespielt zu haben. In K.’s Akte wird der Wahnsinn im Kesselraum unmittelbar greifbar: Doch es war eine s[c]hauerliche Fahrt für mich auf diesen S[c]hiff. Einmal stand ich unter den Ventilator und es fiel da was auf meinen Kopf das roch gleich Weihrau[c]h und Wasser tropfte 46 Vgl. zur psychiatrischen Krankenakte zuletzt u.a. Meier 2008; Bretthauer/Hess 2009, 415–420; zur Geschichte der Krankenakte Hess 2010. 47 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 35968. 48 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 24360.

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Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach auf meinen Kopf. Einige Tage for Hamburg sah ich einen hellen S[c]hein mitten in Feuerraum es war nachts, 3 Uhr, ich ers[c]hrak und eine Stimme [s]prach geh an Deck, ich ging auf Deck trank einen S[c]hluck Wasser und war wieder gestärkt.

K. wurde an Bord gefesselt und in eine Koje gesperrt: „[…] mir ers[c]hien da alles feuerig vor mir, ich s[c]hwitzte da fürchterlich, und sogar wie As[c]he kam es aus meinen [P]ohren, und mein Gesicht nahm eine s[c]hwärzliche Farbe an, gleich die eines Negers.“ Unter den Friedrichsberger Patienten befanden sich zwei Heizer und ein Trimmer, die dezidiert die große Hitze, der sie an Bord ihrer Schiffe ausgesetzt gewesen waren, als Ursache ihrer psychischen Erkrankung, in einem Fall auch eines Suizidversuchs anführten. Diese Fälle sind jedoch keineswegs so eindeutig, wie es vielleicht im ersten Moment scheinen mag. Der Heizer Jakob T.49 jedenfalls, der die „Hitze vor den Feuern“ ausdrücklich für seine gesundheitlichen Probleme verantwortlich machte, litt an progressiver Paralyse und starb in der Anstalt auch daran. Er nutzte 1908 eine inzwischen auch in weiteren Teilen der Öffentlichkeit bekannte Problematik als Bezugsrahmen zur Erklärung seines subjektiven Befindens, ohne sich offenbar über sein eigentliches Leiden im Klaren zu sein. Auch der Heizer August S.50 wählte dieses Erklärungsmuster, um seine psychischen Probleme einordnen zu können. Über den Grund seiner Einlieferung in die Irrenanstalt befragt, antwortete er: „Mir war die Hitze zu Kopfe gestiegen vor dem Feuer bei dem Heizen.“ Sechs Jahre, so S., habe er bereits als Trimmer und dann als Heizer auf Schiffen gearbeitet. Seine Probleme hätten auf der letzten Reise angefangen. Alles sei durcheinander gegangen: „Es war immer die furchtbare Hitze.“ Am 20. September 1913 um 4 Uhr früh war S. nach einem „ganz unbedeutenden Wortwechsel auf dem Heizerdeck“ plötzlich über Bord gesprungen. Das Schiff, der HAPAG-Dampfer „Imperator“, hatte sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht auf offenem Meer befunden, sondern im Hafen. Und S. hatte zuvor auch nicht unter Deck gearbeitet, sondern Ausgang gehabt und war betrunken und sehr erregt auf das Schiff zurückgekommen. Der Fall unterscheidet sich also ganz wesentlich vom Überbordspringen der Feuerleute auf hoher See. Auf seinen übermäßigen Alkoholkonsum angesprochen, sah sich S. zu einer Modifizierung seines Erklärungsansatzes veranlasst: „Jawohl, ich hatte viel Rotspohn getrunken und denn die große Hitze dazu, das mag mir wohl zu Kopfe gestiegen sein.“ Die Hitze spielte aber keine unmittelbare Rolle bei dem nächtlichen Vorfall im Hafen. Sie ist hier eher ein Gemeinplatz, den S. immer wieder neu zu positionieren sucht: „Jeder ginge auch mit s. Nerven zurück, der so wie er immer am Feuer gearbeitet hätte.“ In den Friedrichsberger Akten finden sich deutliche Hinweise auf Gewalt und Miss49 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 29105. 50 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 36895.

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handlungen an Bord. Der Trimmer Hermann K.51 wurde im Juni 1911 ins Hafenkrankenhaus gebracht und nach viertägigem Aufenthalt „wegen Depression und abnormen Stimmungswechsels“ nach Friedrichsberg verlegt. Dort diagnostizierte man „Dementia praecox“. Die Exploration ergab, dass K. bei der Levantelinie als Kohlenzieher angeheuert hatte. Eines Abends habe er sich nicht in sein Logis begeben, sondern hinter einem Schornstein versteckt, „aus Angst, weil ihm die Maschinisten nachliefen“. K. warf sein Hemd und sein Jacket über Bord, zerriss im Heizraum sein Zeug, irrte an Deck herum und wurde schließlich in der Schiffszimmerwerkstatt eingeschlossen. Auf Malta brachte man ihn ins Hospital. Dort blieb er drei Wochen und wurde anschließend nach Hamburg zurücktransportiert. K. hatte sich auf seinem Schiff versteckt wie der Trimmer Bruder auf der „Sommerfeld“. In einer ausführlichen Exploration ein gutes Jahr später – K. war in Hamburg wiederholt in psychiatrischer Behandlung – wurde auf diese Vorkommnisse noch einmal eingegangen.52 Auf die Frage des Arztes, weswegen er so traurig sei, antwortete K.: „Wegen der Eltern … da will ich gern mal zur See fahren, weil ein Onkel von mir davon erzählt hat und nun bin ich nach Malta ins Krankenhaus gekommen … ich meine, das ist doch nicht schön, wenn solche Leute da sind …“ Auf Nachfrage des Psychiaters, auf dessen Unterlagen verweisend: „Ja, ich bin auch mißhandelt worden, das steht wohl nicht da drin …“ Arzt: „Wo, auf dem Schiff?“ Der Trimmer: „Ja, von den Maschinisten.“ Reaktion des Psychiaters: „Da werden Sie wohl Unfug gemacht haben!“ Der Arzt wechselt das Thema. K. scheint, wie er auch an späterer Stelle noch einmal bestätigte, von den Maschinisten geschlagen worden zu sein. Zulässig war das nicht. Der Psychiater aber weist die Schuld dem Trimmer zu und nimmt damit einen gleichsam obrigkeitlichen Standpunkt ein. Der Kohlenzieher Hermann W.53, 19 Jahre alt, wurde im Juli 1902 in Friedrichsberg aufgenommen, nachdem er zuvor im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg gewesen war. Sein Vetter gab an, dass W. in Hamburg keine Arbeit gefunden und deshalb bei der HAPAG als Trimmer angemustert habe. Er sei mit dem Dampfer „Teutonia“ nach Mittelamerika gefahren und dort bereits in psychiatrischer Behandlung gewesen. Nach seiner Rückkehr wohnte er im Haus seines Vetters: „Pat. sprach zuerst garnicht; sagte dann, ‚die ganze Welt ging unter, die Häuser wackelten u. s. w.‘“ Die Frau des Vetters von W. hatte bereits im Krankenhaus St. Georg detaillierter über den Fall berichtet. W. sei an Bord der „Teutonia“ von einem anderen Trimmer „viel gepeinigt und gleich im Anfang der Reise auf Kopf und Nase geschlagen wor51 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 33622. 52 Diese Exploration fand am 14. August 1912 in der Irrenanstalt Langenhorn statt, in die K. inzwischen überwiesen worden war. Die Langenhorner Krankenakte ist Bestandteil der Friedrichsberger Akte. Die Auslassungspunkte in den Zitaten sind aus dem Original übernommen. Vgl. zur Langenhorner Anstalt: Neuberger 1910. 53 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 22641.

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den“. Seitdem sei er vollkommen still und scheu gewesen und habe mit keinem Menschen gesprochen. Und weiter: „Als er von der Reise zurück kam, sei sie erstaunt gewesen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen sei, und habe obige Angaben zum kleinen Teil von ihm, zum größeren von den Schiffsgenossen herausgebracht.“ In diesem Fall gingen Misshandlungen also nicht von den Maschinisten aus, sondern von einem anderen Trimmer. In beiden zuletzt behandelten Fällen gibt es keine direkten Hinweise darauf, dass die ausgeübte Gewalt eine Reaktion auf Arbeitsunfähigkeit oder -verweigerung war. Bei den Selbstmorden des „niederen Maschinenpersonals“ stand in allererster Linie dieser Zusammenhang im Fokus. Im Fall des Hermann K. ist dieser Kontext immerhin denkbar, bei Hermann W. zumindest nicht ausgeschlossen. In den Friedrichsberger Akten werden hinsichtlich des Wahns von Heizern und Trimmern allerdings auch Fälle von Gewalt und Misshandlung auf Schiffen erkennbar, die über diesen Zusammenhang hinausweisen. Gemeint ist die bloße Freude am Quälen und Schlagen, am Treten und Herabwürdigen des anderen. Gründe dafür finden sich immer, wie im nächsten Fall etwa die vermeintlich homosexuellen Neigungen des Opfers. Das Schiff als partiell „rechtsfreier“ Raum, den man nicht verlassen konnte, war ein besonders „geeigneter“ Ort, Menschen in die Enge zu treiben und sich auf Kosten anderer abzureagieren. Der 22-jährige Trimmer Paul B.54 hatte mit dem Dampfer „Barbarossa“ des Norddeutschen Lloyd in Bremen zwei Reisen nach New York gemacht. Nachdem er abgemustert hatte, wohnte er bei seinem Onkel in Hamburg. Der brachte ihn nach wenigen Tagen zur nächsten Polizeiwache, nachdem B. in der Nacht zuvor versucht hatte, sich die Pulsadern durchzuschneiden, und gab Folgendes zu Protokoll: Gleich bei seiner Ankunft machten sich bei ihm Zeichen von Geistesgestörtheit bemerkbar, indem er wirre Reden führte und wiederholt äußerte, daß er auf dem Dampfer von seinen Kollegen Willi R[…] und Fritz G[…], wiederholt in gröbster Weise mißhandelt worden sei und daß sie ihn auch öfters auf dem Dampfer hingeworfen und mit den Füßen getreten hätten. Da mein Neffe vor seiner Anmusterung auf gent. Dampfer völlig geistig gesund war, kann seine Geistesgestörtheit nur durch die Mißhandlung auf dem Dampfer Barbarossa entstanden sein.

B. wurde ins Hafenkrankenhaus gebracht und einen Tag später nach Friedrichsberg verlegt „wegen melancholischen Zustandes“. Dort äußerte er sich zu den Ereignissen an Bord. Er habe von der Mannschaft viel auszuhalten gehabt: Trotzdem ich willig und fleißig war, bekam ich wiederholt ganz furchtbare Schläge, mit mehrere Mann fielen sie über mich her, schleiften mich über den Fußboden von einer Stelle zur anderen,

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HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 36221.

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und jeder ließ dann in ganz unmenschlicher Weise seine Wut an mir aus. Einmal war ich fast besinnungslos, so hatten sie mich verhauen.

In diesem Fall war es der 2. Maschinist des Schiffes, der B. riet, die Vorkommnisse zur Anzeige zu bringen. Als B. das Schiff schließlich verließ, war er nicht mehr in der Lage, durch die Straßen zu gehen. Er litt unter starkem Verfolgungswahn, der ihn fast in den Tod getrieben hätte. Und noch ein letzter Fall mag hier Erwähnung finden. Der 28-jährige Bosnier Michael Sch.55 wurde am 2. August 1909 „von einem Schutzmann in Zivil“ aus dem Staatskrankenhaus in Cuxhaven nach Friedrichsberg gebracht. Etwa eine Woche zuvor war er in der Nähe von Cuxhaven, das zum Hamburger Staatsgebiet gehörte, offensichtlich auf einem Bahngleis liegend aufgefunden worden. Sch. war aus New York mit dem Dampfer „Kronprinz Wilhelm“ des Norddeutschen Lloyd zuvor in Bremerhaven angekommen. Auf dem Schiff hatte er als Trimmer gearbeitet. Er behauptete, dass er an Bord „von mehreren Maschinisten u. auch and. Leute[n] tagelang schwer mißhandelt“ worden sei und davon zahlreiche Verletzungen davongetragen habe. Da er sich an Bord des Schiffes nichts habe zu Schulden kommen lassen, müsse er annehmen, „daß der Nationalitätenhaß Schuld daran ist“. Sch. war nach Landung des Schiffes in Bremerhaven heimlich von Bord gegangen und nach Bremen gefahren, um sich zu beschweren. Als dies ohne Erfolg blieb, zog er hungrig und erschöpft von Bremen aufs Land und wurde am nächsten Tag auf besagtem Bahngleis gefunden. Auf dem Aktendeckel und dem Aufnahmebogen in Friedrichsberg wird Sch. als „Rückwanderer“ bezeichnet. Er war ein osteuropäischer Migrant, den man offensichtlich für einen „Überarbeiter“ hielt. Während man im Staatskrankenhaus Cuxhaven konstatierte, dass die Erzählungen des Patienten „nicht absurd“ und auch „nicht zusammenhanglos“ seien, bezeichnete man in Friedrichsberg, wo „Dementia praecox“ diagnostiziert wurde, einige Tage später seine in der Krankenakte ausführlich wiedergegebenen Äußerungen lediglich als „Quintessenz s. stundenlangen faseligen Geschwätzes“. Interessant daran ist, dass man auf dieser vermeintlich unzulänglichen Grundlage – zum Teil wörtlich zitierend – sehr plastisch, mit auffallender Konsequenz und über mehrere Seiten das Bild eines Mannes zeichnete, der vorsätzlich und berechnend, ja geradezu zynisch und hinterhältig betrüge und täusche und dies auch schon in seiner Heimat Bosnien getan habe. Ohne für den heutigen Betrachter sichtbare Zeichen einer Aufforderung (oder eines offiziellen Auftrags) durch interessierte Kreise, liest sich die Friedrichsberger Krankenakte des Kohlenziehers Michael Sch. wie ein Gutachten zugunsten der Bremer Reederei, des Norddeutschen Lloyd. Die Akte vermittelt an keiner Stelle den Eindruck, dass die bekannte Proble55

HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 30780.

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matik psychischer Devianz bei Trimmern und Heizern infolge Hitze und/oder Misshandlung ernsthaft in Erwägung gezogen worden wäre. Vielmehr folgt die Krankengeschichte durch die Kriminalisierung des Patienten Sch. als eines vermeintlich hinterlistigen Betrügers bekannten Mustern in der Argumentation städtischer Obrigkeit. Sie ist ein signifikanter Teil des einschlägigen Diskurses über das „niedere Maschinenpersonal“ in den Hansestädten.

4. Fazit – der „verdeckte“ Wahn Die Industrialisierung der Schifffahrt beschleunigte in revolutionärer Weise die internationale und interkontinentale See-Passage. Sie schuf in der Frühphase maschinenbetriebener Schiffe zugleich Belastungssituationen für Heizer und Trimmer, die bestimmte Formen psychischer Störungen an Bord hervorriefen. Das Schiff als „Ort“ räumlicher Übergänge war ein signifikanter Schauplatz des Wahnsinns. Erkennbar wird die Maschine als entscheidende Instanz an Bord des Hochseedampfers. Alles war darauf ausgerichtet, dass der Dampfdruck nicht fiel. Die neuen Antriebstechniken und veränderten sozialen Interaktionen auf den Schiffen riefen bei vielen Arbeitern unter Deck einen gefährlichen Symptomenkomplex hervor. Im Kontext der zahlreichen Hitzschläge und Selbstmorde von Schiffsheizern und Trimmern wird auf transozeanischen Dampfern seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts der Wahnsinn als Schwellenphänomen zwischen Leben und Tod greifbar. Wir möchten bei den Heizern und Trimmern von einem „verdeckten“ Wahn, einer dekonstruierten Formation des Wahnsinns sprechen. Um zu verdeutlichen, was darunter zu verstehen ist, soll vergleichend hier noch auf eine weitere Formation des Wahns eingegangen werden, die ebenfalls für Hamburg als Hafenmetropole erhebliche Signifikanz besitzt. Gemeint ist der „Migranten-Wahn“, den wir in diesem Buch an anderer Stelle ebenfalls behandelt haben. Was meinen die Begriffe „verdeckt“ bzw. „dekonstruiert“ im vorliegenden Zusammenhang? In der alltäglichen Praxis der Hamburger Psychiatrie spielte der Wahnsinn der Trimmer und Heizer an Bord transozeanischer Dampfer keine nennenswerte Rolle. Er war eine Randerscheinung. Suizidgefährdete Feuerleute sind im Alltag der Hamburger Psychiater die Ausnahme geblieben. Hier fehlten weitgehend Ansatzpunkte für die Entstehung spezifischer psychiatrischer Diskurse. Der Wahnsinn des „niederen Maschinenpersonals“ geht in einer sehr viel breiteren medizinischen Fachdiskussion um Hitzschläge, Hitzewirkungen und Ventilationssyteme auf bzw. unter. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass der Wahn da war, doch war sein Erkennen und medizinisches Erörtern erschwert durch den Mangel an entsprechenden Patienten und seine strategische Bedeutungslosigkeit im zeitgenössischen Diskurs. In den Seeamtsurteilen und der Akte des Hamburger Hafenarztes mit ihren zahlreichen Dokumenten wird psychische Devianz von Heizern und Trimmern an Bord transozeani-

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scher Dampfer eher beiläufig, unsystematisch und weitgehend ohne besondere Intentionen erwähnt. Der Wahnsinn unter Deck ist nicht zentral für die Wahrnehmungen und – überwiegend interessengeleiteten – Deutungen im Hinblick auf die Selbstmorde der Feuerleute. Er wird in den Hintergrund gedrängt, verschwindet hinter Verharmlosungsstrategien und Ablenkungsmanövern, juristischen Spitzfindigkeiten und schiffstechnischem Spezialwissen. Die Symptome des Hitzschlags wie auch etwaige Grenzziehungen zwischen körperlich und seelisch oder „verrückt“ und „normal“ liegen jenseits der diesen Diskurs bestimmenden Konfliktlinien. Sind Praktiken der Zuweisung von Wahn oder der Selektion von Menschen nach Maßgabe psychiatrischer Kriterien für die Kulturen des Wahnsinns insgesamt in starkem Maße konstitutiv, so erübrigen sie sich im vorliegenden Fall. Denn auf wen sollte sich solches beziehen? Die fraglichen Personen waren tot, im Meer verschwunden. Kontrollmaßnahmen und Gesetze, die sich auf sie hätten beziehen können, fehlen. Den Wahnsinn der Trimmer und Heizer muss man suchen, man muss ihn mühsam rekonstruieren, denn auf kaum einer Manifestationsebene kommt er erkennbar zum Tragen. Demgegenüber wird bei den „geisteskranken Rückwanderern“ aus Amerika eine bestimmte Formation des Wahns geradezu konstruiert. Der Wahnsinn wird zum Bezugspunkt von Wahrnehmungen, Aushandlungen, Deutungen, Entscheidungen und Abläufen. Wahnsinn wird als Selektionskriterium für unerwünschte Immigranten in den USA gesetzlich festgeschrieben. In Amerika hält man viele Einwanderer für „minderwertig“. Wahnsinn wird als ein wichtiger Hebel erkennbar, sie ab- oder ausweisen zu können. Interessengeleitet ist hier also gerade die Auseinandersetzung mit ihm, seine Differenzierung, die Suche nach psychiatrisch relevanten Symptomen. Er wird zu einem wichtigen Kriterium der Kontrollmaßnahmen auf Ellis Island. Und er ist Gegenstand immer differenzierterer Gesetze. Die vermeintliche Minderwertigkeit der Selbstmörder an Bord transozeanischer Dampfschiffe erfordert solche Mühen nicht. Sie hat sich praktisch bereits durch sich selbst erledigt. Wegen Geistesstörung oder -schwäche ab- und ausgewiesene Migranten und Migrantinnen werden auf dem Rücktransport in Hamburg und später in ihrer Heimat, wie etwa in Budapest, in eine Irrenanstalt gesperrt und als Kranke behandelt. Das Auftreten von Patienten in großer Zahl vor diesem Hintergrund führt zu einem fachlichen Diskurs, zu Publikationen und schließlich zur Konstruktion der sog. Auswanderer- oder Auswanderungspsychose. Auf keiner der hier angesprochenen Manifestationsebenen spielt der Wahn des „niederen Maschinenpersonals“ eine auch nur annähernd vergleichbare Rolle. Während der Wahnsinn der Heizer und Trimmer nur durch vereinzelte Patienten in Friedrichsberg dokumentiert ist, überstieg andererseits die große Zahl „geisteskranker Rückwanderer“ aus Amerika in einem deutlich kürzeren Zeitraum die Aufnahmekapazität der Hamburger Anstalt. Wahnsinn ist hier im Übermaß vorhanden, doch konnten bei diesem von

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Interessen bestimmten und konstruierten Wahn auch Faktoren wie etwa kulturelle Andersartigkeit leicht zu einer entsprechenden Etikettierung führen. In vielen Fällen waren Menschen betroffen, mit denen man sich überhaupt nicht verständigen konnte. In anderen Fällen entschieden Personen über „normal“ und „verrückt“, die keine Qualifikation dafür hatten. Der konstruierte Wahn strukturierte schließlich nur noch behördliche und halb-behördliche Verfahrensabläufe, war mehr Ordnungsfaktor als medizinisch relevant. Nimmt man die Schwelle der Wahrnehmung von psychischer Andersartigkeit, ihrer Zuweisung und Gestaltung zum Wahnsinn in den Blick, so wird im Vergleich zwischen dem Wahn der Heizer und Trimmer einerseits und dem „Migranten-Wahn“ andererseits eine starke Asymmetrie erkennbar. Die Schwelle hinsichtlich der Beschäftigung und Auseinandersetzung von gesellschaftlichen und professionellen Gruppen mit tatsächlichen oder vermeintlichen psychischen Devianzen bzw. die Wahrnehmung von Wahn in bestimmten gesellschaftlichen Bezügen als quasi gestaltungsbedürftiges Potential ist in den beiden hier betrachteten Zusammenhängen bzw. differenten Diskurs- und Aktivitätsfeldern sehr unterschiedlich und äußerst variabel. An beiden Formationen des Wahns lässt sich exemplarisch das fortwährende Verschieben dieser Schwelle in einem Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen beteiligten Institutionen, Behörden, Unternehmen und professionellen Gruppen verdeutlichen.

Referenzen Ungedruckte Quellen HKbA Hamburg = Historisches Krankenblatt-Archiv des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: Patientenakten der Irrenanstalt, später Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. StAHH = Staatsarchiv Hamburg: 352-7I (Hafenarzt I). 373-5I (Seeamt I), A (Sprüche des Seeamts); D (Entscheidungen des Oberseeamts). Periodika Entsch. Ober-Seeamt = Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, hg. v. Reichsamt des Innern. Hamburg. Verhandl. Reichstag = Verhandlungen des Reichstags/Stenographische Berichte. Berlin. Literatur Alexander, Doris (2005): Eugene O’Neill’s Last Plays. Separating Art from Autobiography. Athens, Ga. Bericht des Vorstandes der See-Berufsgenossenschaft betreffend Selbstmorde unter dem niederen Maschinenpersonal. Hamburg 1898.

Das Schiff als Ort des Wahnsinns

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Beate Binder

Schwellenräume des Anderen: Zur Konstitution der sexuellen Topografie Berlins im Diskurs der Sexualwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts

„Wer das Riesengemälde einer Weltstadt wie Berlin nicht an der Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend erfassen will, darf nicht den homosexuellen Einschlag übersehen, welcher die Färbung des Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen wesentlich beeinflußt.“1 Mit diesen Worten führt der Mediziner und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in seine kleine Schrift „Berlins drittes Geschlecht“2 ein, die erstmals 1904 als dritter Band der von Hans Ostwald herausgegebenen Reihe „Großstadt-Dokumente“ erschien.3 Weiter heißt es dort: Was sich in der Großstadt dem Nichtkenner verbirgt, tritt, weil es sich ungezwungener gibt, dem Kenner um so leichter entgegen. Wer gut unterrichtet ist, bemerkt auf den Straßen, in den Lokalen Berlins bald nicht nur Männer und Frauen im landläufigen Sinn, sondern vielfach auch Personen, die von diesen in ihrem Benehmen, oft sogar in ihrem Äußeren verschieden sind, so daß man geradezu neben dem männlichen und dem weiblichen von einem dritten Geschlecht gesprochen hat.4

Mit dieser Einstiegspassage umriss Hirschfeld bereits knapp das Programm seiner Schrift: Er wollte die Leser_innen mit den Orten der Homosexualität im Berlin der Jahrhundertwende vertraut machen und empfahl sich dafür als Stadtführer. Denn, das scheint mir eine zentrale Botschaft des Abschnitts, wer die Orte sehen will, an denen Homosexuelle eigene Umgangsfor1 2

3 4

Hirschfeld 1991/1904, 13. Für Kommentare und Kritik zu einer früheren Version danke ich Gabriele Dietze, Dorothea Dornhoff, Rainer Herrn und Volker Hess. Hirschfeld bezog sich mit der Bezeichnung „Drittes Geschlecht“ auf Karl Heinrich Ulrichs, der diese Formulierung 1854 erstmals im deutschen Sprachbereich einführte und dabei von männlich anmutenden Frauen auf homosexuelle Männer übertrug. Hirschfeld benutzte den Begriff für Frauen und Männer und popularisierte ihn (vgl. Herzer 1991, 154ff.). Auch die Bezeichnungen Urning bzw. Urnide, die Hirschfeld häufig verwendete, stammten von Ulrichs. In wissenschaftlichen Abhandlungen setzte Hirschfeld nach eigener Aussage vornehmlich den Begriff „Sexuelle Zwischenstufen“ ein, der nochmals eindrücklich auf den Schwellenraum verweist, der im Schreiben über Homosexualität kartiert wird (vgl. Herzer 1991, 157). Bis 1908 erschien der Band in 28 Auflagen, das heißt, es wurden etwa 28.000 Exemplare gedruckt. Zur Reihe der „Großstadt-Dokumente“ vgl. Thies 2006. Hirschfeld 1991/1904, 14.

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men und Lebensweisen hervorgebracht haben, bedarf eines spezifischen Blicks, eines „discerning eyes“, wie es der Geograf Yi-Fu Tuan genannt hat,5 das Gesten, Räume und Verhaltensweisen des beziehungsweise der Homosexuellen als spezifische Zeichensysteme im städtischen Raum zu dekodieren vermag. Erst dann öffnen sich die vielfältigen Räume des „Anderen“, Nicht-Dominanten, Ver-rückten, die sonst verborgen in der Großstadt existieren können und dies – angesichts gesellschaftlicher Stigmatisierung und strafrechtlicher Verfolgung – auch müssen. Hinweise auf Orte und Räume des Homosexuellen finden sich auch in anderen Schriften von Magnus Hirschfeld. Nicht nur in diesem dezidiert auf Berlin bezogenen Buch nutzte er das Verfahren, Beobachtungen über (Homo-)Sexualität in der Stadt zu lokalisieren, sondern auch in seinen sexualwissenschaftlichen Abhandlungen, etwa in dem Band „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes“6. Wenn mit Henri Lefebvre Raum nicht als bloßer Container sozialen Handelns verstanden wird, sondern als stets vorläufiges Ergebnis des Zusammenspiels von Raumpraktiken (spatial practices), Raumrepräsentationen (representations of space) und repräsentiertem Raum (representational space),7 dann können auch Hirschfelds Schriften als Beitrag zur Herstellung von Raum verstanden werden. Sie stellen eine Raumrepräsentation dar, durch die eine spezifische Wahrnehmung des Berliner Stadtraums erzielt werden sollte. Oder anders formuliert: Hirschfeld stellte mit seinem Unternehmen, homosexuelle Praktiken und Lebensweisen im urbanen Raum sichtbar werden zu lassen, eine Beziehung zwischen Raum und Sexualität her und trug so dazu bei, die sexuelle Topografie8 Berlins zu kartieren. Mit dem Begriff der „sexuellen Topografie“ möchte ich das Wechselverhältnis von Raum und Sexualität, die im (städtischen) Raum verankerten Praktiken und Vorstellungen des Sexuellen fassen, von denen Homosexualität eine Facette bildet. Wird die Stadtlandschaft wieder mit Henri Lefebvre als symbolische Textur verstanden, deren Gewebe aus materiellen, imaginären und performativen Bestandteilen, aus der Anordnung und Gestaltung von Straßen, Plätzen und Gebäuden, aus temporären Inszenierungen sowie alltagskulturellen Praktiken, aus Kartierungen, Abbildungen und Abhandlungen, historischen Erzählungen und utopischen Entwürfen zusammengesetzt ist, dann kann die sexuelle Topografie der Stadt entsprechend als räumliches Arrangement gesehen werden, das sich aus der Lokalisierung von sexuellen Praktiken, Fantasien und Wissensbeständen, dem Reden über Sexualität und den damit verbundenen Lebensweisen und Alltagspraktiken in der Stadt wie nicht zuletzt einer verräumlichten Vorstellung von Moral herausbildet.9 5 6 7 8 9

Tuan 1977, 192. Hirschfeld 2001/1914. Lefebvre 1991/1974, bes. 38ff. Zum Begriff der Sexuellen Topografie siehe auch Schlör 2004, 220, der allerdings diesen Begriff nicht theoretisiert. Vgl. Schlör 2004, 220.

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Das Stichwort Moral führt mich zu einem zweiten Ansatzpunkt für die Interpretation der sexualwissenschaftlichen Texte. In den Darstellungen klingen auch normative, das heißt moralisch fundierte Einschätzungen von Personen, Praktiken sowie gesellschaftlichen Zuständen und Problemlagen an. So finden sich etwa Hinweise auf Prostitution (weibliche, männliche, mann-männliche), die mit Vorstellungen von sexueller Libertinage, Dekadenz und Perversion verbunden wurden; es wurde die Frage nach individueller Schuld oder gesellschaftlicher Verantwortung aufgeworfen, und es wurden Formen wie Folgen gesellschaftlicher Stigmatisierungen beschrieben, die in Zusammenhang mit sexueller Devianz und sexuellen Pathologien gebracht wurden. Diese Anspielungen und Andeutungen zeigen zunächst an, dass Hirschfelds Schriften in übergreifende gesellschaftliche Diskurse eingebunden sind. Der Sexualwissenschaftler bezog sich auf Vorurteile und Generalisierungen, die zeitgleich über „konträre Sexualempfindungen“ kursierten.10 Zugleich müssen die Texte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um die tief greifenden Auswirkungen von Urbanisierung und Modernisierung gelesen werden, in denen der moralische Zustand der Gesellschaft einen zentralen Bezugspunkt bildete und die – zwischen Faszination und Kontrollwünschen changierend – auf neue urbane Phänomene reagierten, etwa auf Vergnügungsformen und Konsumgewohnheiten.11 So stand die Kartierung der sexuellen Topografie der Großstadt in enger Verbindung zur Verhandlung von deren moralischer Ordnung. Um diesen Zusammenhang von Topografie und moralischer Ordnung in den Blick zu nehmen, schlägt Tom Creswell den Begriff der „moralischen Geografie“ vor.12 Mit diesem Konzept fordert Creswell dazu auf, das – normierend wirkende – Set von Vorstellungen, Regeln und Erwartungen in seiner räumlichen und zeitlichen Spezifik zu rekonstruieren. Der Begriff der Moral bezieht sich dabei auf das, was zu einem spezifischen Zeitpunkt als gut, richtig und wahr gilt, entweder zur Verhandlung steht oder als nicht zu hinterfragender Common Sense angesehen wird.13 Werden die Veröffentlichungen zum „(homo-)sexuellen Berlin“ aus dieser Perspektive betrachtet, können sie als Beitrag zur Verhandlung der moralischen Geografie der Stadt gelesen werden – eben als ein Versuch, städtischen Raum in spezifischer Weise mit einer moralischen Ordnung zu verbinden beziehungsweise als moralische Ordnung zu konstituieren.

10 Vgl. etwa Dannecker 1983, 13; Weber 2008. 11 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Hiervon zeugen polizeiliche Untersuchungsberichte und pseudodokumentarische Literatur über Prostitution ebenso wie populäre Führer in das „erotische Berlin“, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziert wurden. Vgl. hierzu Schlör 1994, 162ff. 12 Vgl. Cresswell 2007. 13 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Cresswell 2007, 128. Das Konzept der moralischen Geografie, das auf Raum und Prozesse der Verräumlichung fokussiert, argumentiert im Sinne von Paul Rabinows „Anthropologie der Vernunft“ (Rabinow 2004).

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Die Konzepte „sexuelle Topografie“ und „moralische Geografie“ werden mir im Folgenden als Analyserahmen dienen, wenn ich mich der Führung von Magnus Hirschfeld in das homosexuelle Berlin überlasse. Ich bin neugierig darauf, wohin er mich geleiten wird, doch mehr noch interessiert mich das Wie der Führung respektive des Schreibens über die sexuelle Topografie der Stadt. Ich werde daher die Beschreibungen selbst, ihre Struktur und Argumentationsweise in den Mittelpunkt stellen und danach fragen, wie Hirschfeld die Wahrnehmung homosexuell kodierter Räume in Berlin formatieren wollte. Mit Blick auf den Zusammenhang von Raum und Sexualität werde ich die Schilderungen des (homo-)­sexuellen Berlins auf die Normen und Ordnungsvorstellungen hin befragen, die in sie eingelassen sind. An welchen Vorstellungen von Urbanität und Stadt setzt Hirschfelds Schilderung an und wie wird vor diesem Hintergrund das „Andere“ (in) der Stadt lokalisiert und umrissen? Welche Grenzen werden bei der Führung markiert und wie werden die Schwellenräume des Verrückten und Nicht-Normalen abgesteckt? Und nicht zuletzt interessiert mich, mit welchen Assoziationen, Gefühlen und Bewertungen diese Räume betreten beziehungsweise verbunden werden.

Im Schwellenraum zwischen homosexuellem Wissen und grossstädtischen Geheimnissen: Hirschfelds Schreiben über Homosexualität und Stadt Wenn ich Hirschfelds Schilderungen von Berlin im Folgenden dazu nutzen will, den Diskurs um Stadt, Sexualität und Moral zu erschließen und damit Momente der Herstellung und Verschiebung von sexueller Topografie und moralischer Geografie zu rekonstruieren, so ist es zuvor notwendig, die vorliegenden Texte genauer zu charakterisieren. Die Schriften Hirschfelds markieren in mehrfacher Hinsicht einen Schwellenraum. Erstens entstanden das sexualwissenschaftliche Handbuch und insbesondere der Band der Großstadt-Dokumente am Schnittfeld von zwei sich formierenden Bewegungen, die – bei aller Überschneidung – in je eigener Weise zur Verschiebung von Wissensordnungen beitrugen: der Sexualwissenschaft auf der einen Seite als Feld der wissenschaftlichen Wissensproduktion und auf der anderen Seite der Homosexuellenbewegung als Feld, das mit Bewegungswissen gesellschaftspolitisch Einfluss nehmen wollte. Als Wissenschaftler und Autor befand sich Hirschfeld in der doppelten Rolle des Beobachters wie Agenten beider Bewegungen. Diese doppelte Verankerung strukturiert Hirschfelds Beschreibungen von Menschen, Praktiken und Räumen. Als Wissenschaftler war er an der umfassenden Erfassung und Klassifikation des Phänomens Homosexualität interessiert, wobei ihn die Überzeugung leitete, dass homosexuelles Begehren angeboren und also eine Spielart der Natur ist. Entsprechend zielten Hirschfelds politische Aktivitäten auf die Entkriminalisierung und Entpathologisierung von

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Homosexualität. Diese Ziele verfolgte er durch Interventionen in den öffentlichen Diskurs, etwa in Form von Aufklärungsbroschüren, durch seine Gutachtertätigkeit vor Gericht wie auch durch die Initiierung von Gesetzesreformen im Rahmen des von ihm mit gegründeten Wissenschaftlich Humanitären Komitees.14 Seine Schriften sind somit als Teil einer von ihm verfolgten Politik der Sichtbarkeit zu verstehen. Diese kann aufgrund ihrer Ambivalenzen selbst als Schwellenraum verstanden werden, ist sie doch angesiedelt zwischen der Kritik dominanter Ordnungsvorstellungen und deren grundsätzlichen Anerkennung. Mit dem Ziel, gesellschaftliche Zuordnungen zu ver-rücken – eben aus dem Bereich des Pathologischen und Kriminellen in den Bereich gesellschaftlicher Akzeptanz –, argumentierte Hirschfeld einerseits mit seinem Konzept der sexuellen Zwischenstufen jenseits der binären Ordnung von Männlichkeit und Weiblichkeit, andererseits blieb er an bürgerlichen Vorstellungen des Normalen orientiert, wie später noch genauer zu zeigen sein wird. Die Politik der Sichtbarkeit hat aber noch einen weiteren Effekt. Trotz aller Einzelbelege und bei aller systematisierenden Differenzierung stellte Hirschfeld Homosexuelle als eine gemeinsamen Interessen folgende „Spezies“ dar. Zwar machte er darauf aufmerksam, dass die Gruppe der „Konträrsexuellen“ aufgrund der großen Zahl nicht in Gänze zu überblicken sei, dennoch weisen diejenigen, die dazu zählen, so viele Gemeinsamkeiten auf, dass sie von ihm in einem kollektiven „sie“ zusammengefasst werden konnten.15 Hirschfeld betonte zwar: Trotzdem ich selbst viele tausend homosexuelle Männer und Frauen gesehen habe, kenne ich, wenn ich einmal ein urnisches Lokal aufsuche, um ärztlichen Kollegen Homosexuelle zu zeigen, unter den Anwesenden nur 5–10 (gegen 10 %), oft noch weniger; es hat mich oft in Erstaunen gesetzt, wie viel neue Gesichter man immer wieder an jenen Plätzen findet.16

Doch nahm er diese Beobachtung nicht zum Anlass, seine eigene Repräsentationspraxis zu reflektieren, sondern allein als Beleg für die große Zahl Homosexueller, die in Berlin lebten.17 Der Modus, den Hirschfeld für seine Darstellung nutzte, erinnert dabei auffällig an den ethnologischer Schriften: Wie im ethnologischen Schreiben „fremde Kulturen“ durch textuelle Strategien geschaffen wurden,18 so wurde auch die Vorstellung „der Homosexuellen“ durch Praktiken des Beschreibens hervorgebracht.19 Dabei argumentierte Hirschfeld selbst aus der widersprüchlichen Position eines „Halfies“, wie sie von Lila Abu-Lughod charakterisiert wor14 Vgl. z.B. Herzer 1992, Kotowski und Schoeps 2004. 15 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Die Identität von Homosexuellen kann somit vollständig aus der Perspektive des Sexuellen erschlossen werden, vgl. hierzu auch Eder 2009, 159ff. 16 Hirschfeld 2001/1914, 486. 17 Z.B. Hirschfeld 2001/1914, 469. 18 Vgl. hierzu grundlegend Clifford und Marcus 1986; Berg und Fuchs 1995. 19 Zur Vielfalt der Erzählweisen von Homosexualität vgl. Weber 2008.

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den ist:20 Als homosexuell begehrender Mann „stört“ er die objektivierende medizinische wie auch die soziologische Darstellung des „Anderen“, die er in seinem Handbuch unternimmt.21 Die Position des Dazwischen autorisierte ihn in den Augen seiner Zeitgenossen und delegitimierte ihn zugleich. Sie wurde als epistemisches Privileg gesehen, zugleich aber als nicht objektiv und damit unwissenschaftlich zurückgewiesen. So bekannte beispielsweise der Sexualwissenschaftler und Kollege Iwan Bloch, dass ihn die Angaben seiner „doppelt sachverständigen Kollegen“ – nämlich der homosexuell begehrenden Ärzte und Neurologen – dazu geführt hätten, sich in seinen „Anschauungen über das Wesen der originären (angeborenen, d.V.) Homosexualität zu berichtigen.“22 Andererseits nahm Albert Moll diese Position Hirschfelds zum Anlass, ihm die Rolle eines „objektiven Wahrheitssuchers“ abzuerkennen, nicht nur weil Hirschfeld „Agitation und Wissenschaft“ verwechsle, sondern auch weil seine „problematische Natur“ ihn angreifbar mache.23 Diese ambivalente Position des Dazwischen ist somit auch Ausdruck der Restriktionen, denen das Schreiben über Sexualität und deren als deviant klassifizierte Formen unterworfen war. Um das Wie des Schreibens über Raum und Sexualität genauer zu fassen, genügt es nicht, die Position des Autors zu bestimmen. Es ist auch notwendig, die Schriften selbst mit ihren jeweiligen Entstehungskontexten und Textformaten genauer zu charakterisieren. Zwar sind einige Textteile identisch,24 doch während das in erster Linie für ein Fachpublikum verfasste sexualwissenschaftliche Handbuch eine Fülle von Belegen und Beschreibungen in ein umfassendes Bild der Homosexualität zu integrieren suchte, wurde das an ein breites Publikum gerichtete Großstadt-Dokument vor allem durch immer neue Impressionen und implizite Bezugnahmen auf den öffentlichen Diskurs geleitet. Beide gehören zu verschiedenen Genres mit je eigenen Regeln der Darstellung und Formen der Rezeption. Die Großstadt-Dokumente stehen in der Tradition der „Geheimnis-Literatur“, die sich mit Eugène Sues „Les Mystères de Paris“ von 1842 sowie Edgar Allen Poes „The Man of the Crowd“ von 1840 zunächst in Frankreich und England, kurze Zeit später auch in Deutsch20 Abu-Lughod 1991. 21 Hirschfeld widmete der Homosexualität „als soziologischer Erscheinung“ im zweiten Hauptteil zwei Kapitel, von denen eines auf „Gruppenleben und Sammelstätten homosexueller Männer und Frauen“ und eines auf „Bündnisformen homosexueller Männer und Frauen“ eingeht. Hirschfeld 2001/1914, Kap. 31, 675ff. bzw. Kap. 32, 700ff. Hirschfeld folgt in seiner Darstellung einem weiten Begriff von Soziologie, der neben statistischen Daten auch ethnologische Berichte umfasst, mit denen Hirschfeld zu belegen sucht, dass Homosexualität ein ubiquitäres Phänomen ist; vgl. Hegemöller 2001, xxv. 22 Bloch 1909, 569. 23 Dannecker 1983, 8f. 24 Gelegentlich zitiert sich Hirschfeld auch selbst: vgl. z.B. Hirschfeld 2001/1914, 679f.

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land etablierte. In mehreren Folgen in der Zeitung publiziert, führte Sues melodramatische Romanhandlung in sozialpolitischer Absicht in die Randzonen der städtischen Gesellschaft.25 Wie er machten sich auch andere Kundschafter auf, die „unbekannten Flecken ‚auf der Landkarte des Großstadtdschungels‘ zu erforschen“, nicht zuletzt, so Joachim Schlör in seiner Kulturgeschichte der Großstadtnacht, „um das Gelände und die dort wohnenden ‚Barbaren‘ für die schließliche Eroberung durch die Zivilisation vorzubereiten.“26 Sie reagierten auf die raschen Veränderungen von Stadt und Stadtgesellschaft mit ihren neuen technischen In­ frastrukturen, (massen-)kulturellen Vergnügungsformen und Einrichtungen städtischer Verwaltung.27 Doch insbesondere die sozialen Randzonen der Gesellschaft weckten die Neugier und regten viele Autor_innen aus dem bürgerlichen Milieu an, Erkundungsreisen in unbekannte Areale der Stadt zu unternehmen.28 Rolf Lindner hat auf die große Nähe gerade dieser Berichte zur (ethnologischen) Reiseliteratur hingewiesen, galt doch die „Andersartigkeit der zu beobachtenden Realität“ in beiden Fällen „als nicht mehr diskutierte Voraussetzung der Forschungsreise“29. Geleitet durch Metaphoriken von Dschungel und Nacht führte der Weg zu den „dunklen“, geheimnisvollen und zum Teil auch gefährlich erscheinenden Seiten der Stadt und zu den „Anderen“ der eigenen – bürgerlichen – Gesellschaft: etwa in Obdachlosenasyle und Arbeitshäuser, in Slums und Fabriken – und eben auch, wie die Reihe der Großstadt-Dokumente zeigt,30 an Orte devianter Sexualität, zu Prostitution und Homosexualität, in Bordelle und Animierkneipen, ins Varieté und zum erotisch aufgeladenen Tingel-Tangel. Hirschfeld nutzte dieses Genre der Großstadtbeschreibung vornehmlich, um den Blick auf Homosexualität (neu) zu formieren und die Einordnung von Homosexualität im Zwischenraum von Normalität und Devianz beziehungsweise Pathologie zu verschieben. Indem er die Rolle des Führers in die homosexuellen Räume der Stadt übernahm, wollte er davon überzeugen, dass Praktiken und Orte der Homosexuellen weitgehend „harmlos“ sind, sich in bürgerliche Vorstellungen von Anstand und angemessenem Verhalten in der Öffentlichkeit fügen und moralischen Ansprüchen genügen. Während der Fokus in den Großstadt-Dokumenten ganz auf die Stadt, vor allem den öffentlichen bzw. halböffentlichen Raum, auf Menschen, Orte und Veranstaltungen gerichtet war, wollten die sexualwissenschaftlichen Abhandlungen und Handbücher, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, Sexualität und sexuelle Praktiken über den (Um-)

25 26 27 28 29 30

Vgl. Thies 2006, 99ff. Schlör 1994, 118. Vgl. Geisthövel und Knoch 2005, insbesondere die Einleitung, 9–14. Vgl. Lindner 1997; Wietschorke 2008. Lindner 2004, 34. Eine Liste der erschienenen Titel ist zu finden in Thies 2006, 118f.

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Weg als pathologisch klassifizierter Praktiken und Einstellungen31 erfassen. Die Wissensproduktion über Sexualität wurde im 19. Jahrhundert maßgeblich von Medizinern und Psychi­ atern bestimmt.32 In psychiatrischen Handbüchern und Abhandlungen zur Sexualtheorie wurden als abweichend klassifizierte Formen der Sexualität vermessen, beschrieben und auch in gesellschaftlichen Räumen verortet. Das 19. Jahrhundert markiert hier, das haben in Anschluss an Foucault verschiedene Autoren gezeigt,33 einen grundlegenden Wandel von einem primär moralisch-religiös unterlegten Umgang mit sexuellen Verhaltensweisen hin zu einem Diskurs der Bürokratisierung, Verrechtlichung und Medikalisierung sexueller Identitäten, die in spezifischen Körpern verankert wurden: Im Schreiben über Sexualität wurden Begehren, (Körper-)Praktiken und begehrende Subjekte in Einklang gebracht.34 Dabei stellten die frühen sexualwissenschaftlichen Schriften einen Schwellenraum zwischen moralischer und medikalisierter Argumentation dar, indem sie wechselnd auf das einzelne Subjekt und seine Veranlagung und gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen fokussierten.35 Auch die Einordnung zwischen Normalität und Pathologie changierte: Während etwa der Psychiater Carl Westphal 1851 homosexuelles Begehren als „moralischen Wahnsinn“ pathologisierte,36 beharrte Magnus Hirschfeld auf der Normalität homosexuellen Begehrens. Zugleich beschäftigte ihn wie auch Iwan Bloch die Heilbarkeit dieser Form der „Abweichung“. Weiterreichend wurde die Frage der Degeneration mit Formen von als pathologisch wahrgenommenen Sexualitäten diskutiert. So brachte etwa Richard von Krafft-Ebing deviante Formen der Sexualität mit veränderten Lebensbedingungen der Moderne in Zusammenhang, bezeichnete sie aber dezidiert nicht als „psychische Entartung oder gar Krankheit“.37 Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch beziehen kulturelle und gesellschaftliche, vor allem rechtliche Bedingungen in ihre Überlegungen ein, um Handeln wie auch Selbstbilder ihrer Patient_innen zu erläutern.38 Doch indem sie auf dem Angeborensein von spezifischen Begehrensformen beharrten, betonten sie zugleich den überzeitlichen, allgemeinmenschlichen Charakter von Sexualität. Mit diesen Hinweisen können die Verästelungen der sexualwissenschaftlichen Diskurse nur angedeutet werden. Festhalten möchte ich, dass bei allen Kontroversen und Wider31 32 33 34 35 36 37 38

Hegemöller 2001, xi. Weber 2008, 87ff.; Kaufmann 2010, 207, sowie grundlegend Foucault 1997. Als Überblick zur Forschung über Deutschland siehe Dickinson und Wetzell 2005; Walter 2004. Vgl. Johnson 2007, 123. Vgl. auch Sigusch 2008, 184ff. Westphal 1870; vgl. auch Walter 2004, 150. Vgl. Sigusch 2008, 180, sowie Walter 2004, 154ff. So wurde die Debatte um Homosexualität zunehmend durch die Frage bestimmt, ob die moralische wie faktische Verurteilung (§ 175) gerechtfertigt ist oder ob gleichgeschlechtliches Begehren als angeboren, als ererbte Veranlagung und daher als jenseits individueller Verantwortung anzusehen ist.

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sprüchlichkeiten den Versuchen, Sexualität zu erfassen und zu beschreiben, gemeinsam ist, dass sie auf empirischen Daten und Beobachtungen, auf eingesammelten Fallgeschichten, aufgezeichneten biografischen Erzählungen und Beobachtungen von Veranstaltungen, Lokalitäten und Einzelpersonen basierten. Auch Hirschfeld berief sich auf Gewährsmänner,39 die mit biografischen Erzählungen Zeugnis von ihrem Begehren ablegten; er beschrieb Begegnungen auf öffentlichen Veranstaltungen, die ihn zu weiteren Besuchen in Privatwohnungen führten;40 er nutzte Fotografien als Grundlage für weiterführende Erkundungen;41 und ergänzend zog er Zeitungsberichte, Gedichte, Briefe sowie andere Dokumente heran.42 Wie Philippe Weber formuliert: „Die Sexualpathologie lässt sich so als Disziplin denken, die ihr Wissen in dichtem Austausch mit Patienten und Subkulturen generieren und wirken ließ.“43 Sexualwissenschaftliches Wissen (ent-)stand im Interaktionsraum unterschiedlicher Akteursgruppen,44 es war dabei zugleich eingebettet in topografische Ordnungen, durch die Sexualitäten ihren Ort erhielten. Vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen wie textuellen Regulierungen möchte ich im Folgenden eine Lesart von Hirschfelds Ausführungen über Homosexualität anbieten, die von der Frage nach seinen Vorstellungen von Großstadt und Urbanität geleitet wird.

39 Explizit so genannt in Hirschfeld 1991/1904, 84. 40 Vgl. beispielsweise Hirschfeld 1991/1904, 22f. 41 Hirschfeld 1991/1904, 22. 42 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Iwan Bloch schreibt zu seinem Vorgehen: „In den Jahren 1905 und 1906 habe ich mich fast ausschließlich mit dem Problem der Homosexualität beschäftigt und Gelegenheit gehabt, eine sehr große Zahl echter Homosexueller, sowohl Männer als auch Frauen, zu sehen, zu untersuchen und während längerer Zeit zu Hause und in der Oeffentlichkeit zu beobachten, ihre Lebensweise, ihre Gewohnheiten, Anschauungen, ihr ganzes Tun und Treiben, auch im Verhältnis zu den nicht homosexuellen Personen gleichen und anderen Geschlechts kennen zu lernen.“ Bloch 1909, 541. Joachim Schlör kennzeichnet die kleine Gruppe von Sexualforschern dadurch, dass sie weitgehend ohne Scheu aus „dem reichhaltigen folkloristischen Schatz der menschlichen ‚Nachtseiten‘“ berichteten, Schlör 1994, 197. 43 Weber 2008, 35. 44 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Dickinson und Wetzell 2005, 299; Eder 2009; Oosterhuis 2000. Ebenso wie die zeitgleich entstehenden sozialreformerisch motivierten Berichte über städtische Unterschichten auf direkten Interaktionen und Befragungen sowie teilnehmender Beobachtung basieren (Wietschorke 2008), so beruhen auch die hier betrachteten Kartierungen der sexuellen Topografie der Stadt auf Erkundungen, eigener Anschauung und gesammelten Daten von „Betroffenen“, die weitgehend unverändert in die Schriften aufgenommen wurden. Auch deshalb konnten die Passagen als Belege für die frühe Existenz homosexueller Räume und Praktiken genutzt werden, siehe beispielsweise Berlin Museum 1984; Dobler 2003; Sonntags Club 2009.

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Vom Wesen der grossen Stadt: Urbanitätsvorstellungen und sexuelle Topografie In Übereinstimmung mit dem sexualwissenschaftlichen Diskurs45 seiner Zeit ging Hirschfeld von der Ubiquität des Sexualtriebs aus, der als gestaltende Kraft auch das urbane Leben bestimmt: Wenn es aber Abend wird und sich anderen Welten die Sonne neigt, mischt sich mit dem Hauch der Dämmerung ein Hauch, der suchend und sehnend aufsteigt aus Millionen irdischer Wesen, ein Teil des Weltgeistes, den manche den Geist der Unzucht nennen, und der doch in Wahrheit nur ein Bruchstück der großen gewaltigen Triebkraft ist, die, so hoch wie Nichts und so niedrig wie Nichts, unablässig gestaltet, waltet, bildet und formt.46

Vorstellungen von Unzucht, verbunden mit Dekadenz, Verfall und Entartung, letztlich mit Bildern vom Untergang von Kultur und Zivilisation47 bilden zeitgenössische Bezugspunkte, vor der Hirschfeld die Stadt als Möglichkeitsraum beschrieb.48 Hirschfeld positionierte sich explizit im zeitgenössischen Großstadtdiskurs: Insbesondere im Anfangskapitel des Bandes „Berlins drittes Geschlecht“ skizzierte er die Großstadt als einen Ort, der es dem Einzelnen erlaube, unkontrolliert von seinen Mitmenschen zu leben. Die Stadt mache es erst möglich, „Anders als die Andern“49 zu sein. Eben weil „die Leute oft im Vorderhaus“ nicht wissen, „wer im Hinterhaus wohnt, geschweige denn, was die Insassen treiben“, könnten hier „diejenigen, welche von der Mehrzahl in nicht erwünschter Form abweichen“, weitgehend unbehelligt ihren Interessen und Neigungen nachgehen.50 Der urbane Charakter Berlins wurde für ihn dabei besonders in der Gegenüberstellung zur Provinz greifbar: „Das ist ja gerade das Anziehende und Merkwürdige einer Millionenstadt, daß das Individuum nicht der Kontrolle der Nachbarschaften unterliegt, wie in den kleinen Orten, in denen sich im engen Kreise die Sinne und der Sinn verengern.“ Und, so führte er diesen Gegensatz weiter aus, indem er Begehren und Sexualität relativ offen benannte: „Während dort leicht verfolgt werden kann und eifrig verfolgt wird, wann, wo und mit wem der Nächste gegessen und getrunken hat, spazieren und zu Bett gegangen ist“, bleibe dies alles in Berlin den Nachbarn verborgen.51 Gerade aus 45 Zentral ist die Biologisierung des Sexuellen, wie sie in Anschluss an Darwin sich durchsetzte, vgl. Weber 2008, 85ff. 46 Hirschfeld 1991/1904, 117f. 47 Vgl. grundlegend Bergmann 1970. 48 Vgl. Korff 1987; Korff 1985. 49 ������������������������������������������������������������������������������������������������ So der Titel eines 1919 unter Mitwirkung von Hirschfeld erschienenen Aufklärungsfilms zu Homosexualität und die Auswirkungen des § 175 auf männliche Homosexuelle; vgl. Steakley 2007. 50 Hirschfeld 1991/1904, 13. 51 Hirschfeld 1991/1904, 13.

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der Perspektive von Homosexuellen ist die Stadt als Raum der Möglichkeiten gekoppelt an eine emotionale Erfahrung der Befreiung: „Man hat Homosexuelle aus der Provinz, die sich zum ersten Mal in solchen Lokalen (der Homosexuellen, d.V.) aufhielten, in tiefer seelischer Erschütterung weinen sehen.“52 Julie Abrahams weist in ihrer Studie „Metropolitan Lovers“ darauf hin, dass neue Darstellungen von Homosexualität just zu dem Zeitpunkt veröffentlicht wurden, als „the ‚crisis‘ represented by the modern city became a settled conviction“.53 Demgegenüber scheint mir in den deutschen sexualwissenschaftlichen Schriften die Verbindung nicht primär durch kulturpessimistische Einschätzungen bestimmt. Vielmehr werden Ambivalenzen sichtbar, die wiederum auf den Schwellenraum aufmerksam machen, in dem um 1900 der Diskurs um Stadt und Sexualität situiert ist. Es ist ein politisiertes Feld, eben weil Sexualität in moralische Diskurse eingebunden ist und zum zentralen Topos gerade in den Auseinandersetzungen wurde, in denen die durch Urbanisierung und Modernisierung ausgelösten Transformationen thematisiert und kritisiert wurden. Grundsätzlich sind Imaginationen der Großstadt durchdrungen von Vorstellungen der nicht erlaubten, übermäßigen, pervertierten Sexualität: Der Mythos der „Hure Babylon“ wurde „in vielen Variationen und unterschiedlichen Wertungen [...] mit dem Wachstum und der Kulmination der zivilisatorischen Probleme in den Großstädten verbunden.“54 Insbesondere die nächtliche Stadt bildet, so Elisabeth Bronfen, ein „Gegenlager zum gewöhnlichen Alltäglichen“,55 sie galt um 1900 (und gilt zum Teil bis heute) als Ort sexueller Praktiken aller Art. Die Großstadtnacht war damit auch zentraler Topos in der Verhandlung von Sittlichkeit, mit dem Geschlechterverhältnisse ebenso wie Sexualitäten in Verbindung gebracht wurden.56 Diese ambivalenten, zwischen Faszination und Beunruhigung changierenden Einschätzungen des Urbanen sind auch in Hirschfelds Schriften präsent. Etwa wenn er auf die Gefahr hinweist, die die Anonymität und das großstädtische Spiel der Identitäten mit sich bringt. Denn: „Die Leichtigkeit, in einer Stadt von 2 ½ Millionen Einwohnern unsichtbar zu versinken, unterstützt sehr jene Spaltung der Persönlichkeit, wie sie auf sexuellem Gebiet so häufig vorkommt.“ 57 So sind „der Berufs- und Geschlechtsmensch, Tag- und Nachtmensch (...) oft zwei Persönlichkeiten in einem Körper, der eine stolz und ehrbar, sehr vornehm und gewissenhaft, der andere von Allem das Gegenteil. Das gilt für Homosexuelle ebenso wie für Normalsexuelle.“58

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Hirschfeld 1991/1904, 74. Abraham 2009, 84. Bergius 1986, 102. Bronfen 2008, 383. Vgl. Schlör 1994, 162ff. Hirschfeld 1991/1904, 21. Hirschfeld 1991/1904, 21.

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Letztlich überwogen jedoch in Hirschfelds Einschätzung die positiven Seiten des anonymen Miteinanders. Damit korrespondiert seine Argumentation mit der seines Zeitgenossen Georg Simmel, der in seinem 1903 in Dresden gehaltenen Vortrag das individualisierende Potential der Großstadt hervorhob.59 Bei Simmel ist es nicht allein das Individuum, das in dieser Sicht auf die Stadt in seinem eigenen Recht erst zutage treten kann, vielmehr erlaube Urbanität Steigerungsformen des Individuellen, indem sie zur „geistigen Individualisierung seelischer Eigenschaften“ veranlasse: Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze kommen [sic], greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt – für viele Naturen schließlich noch das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Selbstschätzung und das Bewusstsein einen Platz auszufüllen, für sich zu retten.60

Diese Beschreibung der Stadt findet sich auch in Hirschfelds Schilderungen besonders auffälliger „Weltstadt-Typen“.61 Mit der Bemerkung, „wer Originale sucht, von denen sehr zu Unrecht behauptet wird, sie seien in der Großstadt ausgestorben, im Tiergarten sind sie reichlich zu finden“62, flocht Hirschfeld in seine Darstellung der Prostitution im Tiergarten kurze biografische Porträts ein, die besonders eindringlich die Illusion eines gemeinsamen Gangs durch die Stadt heraufbeschwören: „Seht Ihr die Alte dort mit den vier Hunden am Neuen See?“ Und „seht Ihr dort die ausgedörrte, gekrümmte Gestalt im struppigen Graubart?“63 Über sie alle wusste Hirschfeld Details zu berichten, die Respekt für die – oberflächlich betrachtet – schrullig und absonderlich wirkenden Personen einfordern. Hirschfeld schilderte die Stadt jedoch nicht nur als Raum, in dem vieles möglich und zu finden ist, sondern machte zugleich darauf aufmerksam, dass das Urbane durch gesellschaftliche Normen reguliert wird. Insbesondere die strafrechtliche Verfolgung mann-männlicher Sexualität durch den § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs zeichnete laut Hirschfeld maßgeblich für pathologische wie kriminelle Erscheinungen im Feld der Homosexualität verantwortlich.

59 60 61 62 63

Simmel 1903. Simmel 1903, 202. Rudolf Presber: Weltstadttypen, nach Hirschfeld 1991/1904, 74f. Hirschfeld 1991/1904, 119. Hirschfeld 1991/1904, 119.

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So ist die Schilderung der Stadt durchwoben von Erzählungen über biografische Tragödien, die durch gesellschaftliche Stigmatisierung und strafrechtliche Verfolgung entstanden. Hirschfeld machte überdeutlich, dass aus der Notwendigkeit, vorwiegend versteckt zu leben, eben auch Einsamkeit, Verzweiflung und nicht selten selbst Selbstmord folgten. 64 Vehement klagte er das „Erpressertum“ an, das unter Ausnutzung des § 175 agiere.65 Solche Passagen zeigen eindrücklich, dass Hirschfelds Buch „Berlins Drittes Geschlecht“ nicht einfach an einer Stadtbeschreibung gelegen war. Vielmehr wollte er in die Sichtweisen seiner Zeitgenoss_innen intervenieren. Ihm lag daran, die der Wahrnehmung sexueller Phänomene in der Stadt immanenten Klassifikations- und Bewertungsschemata zu verschieben, und so forderte er seine Leser_innen respektive Begleiter_innen zu einer Veränderung von Sichtweisen auf städtische Räume und Stadtbewohner_innen auf. Mit dem Wissen um Möglichkeiten wie Regulierungen sollten sie Empathie für diejenigen entwickeln, die aufgrund herrschender Normierungen unter den Bedingungen ständiger „Entdeckung“ leben müssen. Eben weil Hirschfeld seine Texte in den Dienst seiner politischen Ziele, nämlich die Anerkennung des „Dritten Geschlechts“, stellte,66 nahm das Narrativ des Normalen einen so breiten Raum ein. Immer wieder betonte Hirschfeld, dass Orte, Veranstaltungen und Personen „ganz normal“ seien und es „wie bei Normalsexuellen“ zugehe. Das Bemühen, von der „Harmlosigkeit“ homosexueller Menschen und Praktiken zu überzeugen,67 hatte dabei zur Folge, selbst normierend die „Angemessenheit“ homosexuellen Agierens zu formatieren. Diese Repräsentationsstrategie hatte auch den Effekt, dass Erotik, Begehren und sexuelles Handeln in den Schilderungen fast ganz in den Hintergrund traten. Oder anders formuliert: Hirschfeld folgte in seinen Schilderungen dominanten bürgerlichen Vorstellungen, dem von ihm bezeichneten „natürliche[n] Scham- und Sittlichkeitsgefühl“, das das Handeln auch von Homosexuellen 64 Am eindrücklichsten sind hier die Schilderungen von Weihnachten (Hirschfeld 1991/1904, 57–63): Beim Fest der Liebe und Familie verdichtet sich der Widerspruch zwischen der Ächtung von Homosexuellen (auch durch die eigene Familie) und dem Bedürfnis nach Achtung. Zudem verwies Hirschfeld auf Polizeiberichte, in denen die Ursache für einen Selbstmord – nämlich die „homosexuelle Veranlagung“ – meist unbenannt bleibe (1904, 61f., 68). 65 Dies sind auch zentrale Themen in dem erwähnten Film „Anders als die Anderen“ (1919); vgl. Fußnote 45. 66 Gerade weil Hirschfeld für die Abschaffung des § 175 und gegen gesellschaftliche Stigmatisierung von Homosexuellen eintrat, war er in der Lage, so differenziert über die homosexuelle Topografie Berlins zu berichten. Aufgrund seiner wissenschaftlichen wie politischen Position wurde er ersucht, an „Gesellschaften gleichsam als Ehrengast beizuwohnen, und wenn ich auch nur einen kleinen Teil dieser Anforderungen annehme, so haben sie mir doch einen genügenden Einblick in das gesellige Leben der Berliner Urninge verschafft.“ Hirschfeld 1991/1904, 48. 67 Insbesondere das Konzept des „Päderasten“, das häufig synonym für homosexuelle Sexualpraktiken benutzt wurde, versuchte er zu korrigieren, vgl. z.B. Hirschfeld 1991/1904, 98.

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im öffentlichen Raum bestimme.68 Nur als Reaktion auf diffamierende Darstellungen und also um des politischen Ziels willen, diejenigen Homosexuellen gesellschaftlich zu inkludieren, die den Regeln öffentlichen „Anstands“ folgten,69 bezog Hirschfeld auch „Intimes“ ein: Ich würde diese Frage (der Öffentlichkeit sexueller bzw. „päderastischer“ Akte, d.V.) ihres intimen und privaten Charakters wegen überhaupt nicht in den Kreis meiner Betrachtungen gezogen haben, wenn sie nicht von den Verfechtern einer falschen Moral immer wieder als Hauptsache in den Vordergrund gezerrt würde.70

Von der feinen Unterscheidung von moralisch akzeptablem versus verwerflichem Handeln und der Amalgamierung von Normalität lebt der Schwellenraum, der in der Schilderung homosexueller Räume in der Stadt sichtbar wird.

Öffentliche Privatheit, deviante Normalität: Grenzziehungen und Blickregime Seine Erzählung bleibt, wie gesagt, weitgehend an bürgerlichen Normen orientiert. So auch dort, wo Hirschfeld die Versammlungen und Gemeinschaftsbildungen von Homosexuellen in den Mittelpunkt rückte. Für die Existenz einer homosexuellen Topografie machte Hirschfeld zunächst das „natürliche“ und damit „allgemeinmenschliche“ Bedürfnis nach Umgang mit Gleichgesinnten verantwortlich. Wenn auch die Mehrzahl der Homosexuellen in selbstgewählter Einsamkeit lebt, die nirgends so erreichbar ist, wie in weltstädtischer Menschenfülle, oder aber sich ausschließlich einer einzigen Person widmen (sic), so ist doch die Zahl derer ebenfalls groß, die mit anderen homosexuellen Personen gesellschaftliche Fühlung und Aussprache suchen.71

Hirschfeld entwarf ein Bild ‚devianter Normalität‘. Darauf deuten auch die beiden Bemerkungen hin, mit denen er in seiner sexualwissenschaftlichen Abhandlung in das Kapitel über das soziale Leben von Homosexuellen einleitete. Dort betonte er zum einen, dass bei Homosexuellen Freundschaft und sexuelle Beziehungen nicht notwendig in eins fallen: „Auf allen diesen Veranstaltungen tritt die eigentliche Sexualität genau so zurück wie in den entsprechenden normalsexuellen Kreisen. Das Bindemittel ist lediglich das aus der Gemeinschaft der Lebens-

68 69 70 71

Vgl. etwa Hirschfeld 1991/1904, 14. Vgl. hierzu auch Rubin 2003. Hirschfeld 1991/1904, 100. Hirschfeld 2001/1914, 678.

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schicksale sich ergebende Gefühl der Zusammengehörigkeit.“72 Zum anderen hob er hervor, dass Homosexuelle nicht wie ein „Geheimbund“ agierten.73 Damit kennzeichnete er Homosexualität als einen Modus städtischer – und damit moderner74 – Vergemeinschaftung, die auf gemeinsamen Identitäten, Erfahrungen und Gefühlszuständen basiert, durch die Zugehörigkeiten hergestellt und reguliert werden. Daß manche Restaurationen, Hotels, Pensionate, Badeanstalten, Vergnügungslokale, trotzdem sie jedermann offenstehen, fast ausschließlich von Urningen besucht werden, wird weniger merkwürdig erscheinen, wenn man bedenkt, daß viel weniger scharf gekennzeichnete Gruppen in Berlin ihre Lokale haben, die fast ganz von ihnen existieren.75

Sexualität, in der bürgerlichen Gesellschaft der Sphäre des Privaten zugerechnet, wird als Moment beschrieben, das auch den (semi-)öffentlichen Raum der Stadt strukturiert. Doch Homosexualität – und das öffentliche Sichtbarwerden homosexueller Vergemeinschaftung – unterläuft und verschiebt aus dieser Perspektive die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem. Dies korrespondiert mit der Feststellung, dass, wie es George Chauncey formuliert, „privacy could only be had in public“.76 Denn, erläuterte Hirschfeld – und widerspricht dabei in dem Versuch, Orte öffentlicher Sexualität zu erklären, ein Stück weit seiner Darstellung des anonymen großstädtischen Miteinanders – die „Verfolgung der Homosexuellen“ bewirke, daß der Urning im Gegensatze zu dem Heterosexuellen seine Privatwohnung nach Möglichkeit vom sexuellen Verkehr freihält, einerseits um das Geheimnis seines Namens zu wahren, andererseits um sich nicht in seinem Hause hinsichtlich seiner Neigung verdächtig zu machen. Er ist daher in viel höherem Maße als der Normale darauf angewiesen, zur sexuellen Entspannung außerhalb seines Hauses gelegene Stätten aufzusuchen.77

So bleibt Hirschfelds Schilderung zunächst dieser für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven Dichotomie von privat und öffentlich verhaftet – auch wenn, wie Gill Valentine argumentiert, „this cultural dichotomy (...) locating sexuality in private rather than public space, is […] based on the false premise that heterosexuality is also defined by private sexual acts and is not expressed in the public arena.“78 Basierend auf dieser „falschen Voraussetzung“ 72 Hirschfeld 1991/1904, 69. 73 Hirschfeld 2001/1914, 675f. 74 ������������������������������������������������������������������������������������������ „Homosexuelle Existenzweisen“ wurden daher auch als „Vorwegnahme“ der modernen urbanen Lebensform interpretiert, vgl. Henning Bech (1997): When men meet. Homosexuality and Modernity, Cambridge, zitiert nach Walter 2004, 130. 75 Hirschfeld 1991/1904, 69f. 76 Chauncey 1996, sowie Chauncey 1994. 77 Hirschfeld 2001/1914, 691f. 78 Valentine 1997, 285.

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beschrieb Hirschfeld Homosexualität einerseits als Moment der Transgression eben dieser Ordnung. Andererseits bestätigte er die Dichotomie, indem er sie in seinen Schilderungen zum Bewertungsmaßstab werden ließ. Hirschfeld markierte die Räume, in denen er seine Leser_innen führte, nicht so sehr durch Exzess und Skandal, sondern betonte eher deren Reguliertheit: Denn trotz ausgelassener Fröhlichkeit werde der Rahmen des Schicklichen an keiner Stelle durchbrochen. Damit hat seine Beschreibung der sexuellen Topografie auch den Effekt, die Hegemonie der heterosexuellen Norm zu bestätigen. Seine Schilderung geht mit dem Befund konform, dass „studies of sexuality have always been about policing, enforcing and variously re-inscribing the hegemonic status of heterosexuality“.79 Auch wenn es aufgrund der Quellenlage nicht möglich ist, genauer zu bestimmen, was in den von ihm geschilderten Räumen „wirklich“ geschah, machen Hirschfelds Beschreibungen zumindest auf widersprüchliche Effekte von Taktiken wie Politiken der (Un-)Sichtbarkeit aufmerksam.80 Das Narrativ der devianten Normalität funktionierte wohl gerade deshalb, weil Homosexualität im städtischen Raum nicht auf den ersten Blick erkennbar war. An mehreren Stellen schrieb Hirschfeld, dass der „Normal-Sexuelle“ oder „Uneingeweihte“ sich „wundern“ würde beim Anblick der „fein gekleideten Herren“ oder des „vergnügten Miteinanders“, dass es sich um gleichgeschlechtlich begehrende Menschen handle. An derartige Einschätzungen schließt sich notwendig die Frage an, wie das Erkennen von Homosexuellen untereinander funktionierte – eine Frage, auf die auch Hirschfeld detailliert einging81: Er antwortete zunächst topografisch, indem er etwa auf spezifische Orte hinwies, etwa auf Badeanstalten, in denen häufig „die Badediener“ die „Vermittlung homosexuellen Verkehrs als ergiebiges Nebengeschäft betreiben“, oder auf „Massage-Institute“ und Hotels, die als diskrete Orte der sexuellen Begegnung fungierten; zudem strich er die zentrale Bedeutung öffentlicher Bedürfnisanstalten für mann-männliche homosexuelle Kontakte heraus. Der wichtigste Ort für die „Anknüpfung vorübergehender sexueller Beziehungen“ sei jedoch die Straße, wobei sich „die Begegnungen zwischen homosexuellem Angebot und Nachfrage“ ähnlich wie bei Heterosexuellen abspielten.82 Visualität und das geheime Wissen um Zeichen und Codes bilden die Grundlage des wechselseitigen Erkennens. Wichtiger als eindeutige Gesten und Zeichen seien Blicke für die Kontaktaufnahme: „Der ein Abenteuer suchende Urning bemerkt eine ihm zusagende 79 Johnson 2007, 122. 80 Insofern scheint mir auch die Feststellung von Joachim Schlör, dass „die homosexuelle Topographie Berlins, als Teil einer umfassenderen sexuellen Topographie der Stadt, von der Durchdringung des städtischen Geländes mit Begierde, mit Sehnsucht, mit Angst und Kontrolle“ berichtet, zu kurz gegriffen (Schlör 2004, 225). Zu den Dilemmata von Politiken der Sichtbarkeit vgl. Schaffer 2008. 81 Diese Frage wird auch diskutiert von Bloch 1909, 569ff., der sich in weiten Teilen auf Hirschfelds „Berlins Drittes Geschlecht“ bezieht. 82 Hirschfeld 2001/1914, 692.

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männliche Person; er trachtet sich ihr bemerkbar zu machen, sieht sie an, bleibt stehen, sieht sich um und wartet, ob der andere auf diese Zeichen reagiert.“83 Dies wie auch kurze Notizen auf Anschlagsäulen, wo Homosexuellen „mit Bleistift nur dem Eingeweihten verständliche Zeichen und Zeitbestimmungen hinkritzeln“, verweisen auf die mehrfache Kodierung des öffentlichen Raums, dessen sich überlagernde Zeichensysteme Stadtbewohner_innen in vielfacher Weise zur Orientierung und Raumaneignung dienen. Diejenigen, die die homosexuelle Topografie für die Befriedigung des eigenen Begehrens nutzen wollten, mussten dabei den schmalen Grat gehen, sich partiell zu offenbaren und zugleich für stigmatisierende Zuschreibungen und/oder strafrechtliche Zugriffe unsichtbar zu bleiben. Es musste einerseits die Kontaktaufnahme (an)erkannt und andererseits das „ehrlich“ gemeinte Angebot von einem Erpressungsversuch unterschieden werden. Hirschfelds Schilderung fügt sich damit in Überlegungen, die in – vor allem männlichen – homosexuellen Umgangsweisen eine Grundform genuin städtischer und damit moderner Vergemeinschaftungsformen und Selbstentwürfe sehen. So hat Henning Bech die „homoerotische Praxis, die erotischen Signale, die sozialen Techniken der Kontaktaufnahme und die subkulturellen Vergesellschaftungsformen“ als Antwort auf die generellen Herausforderungen der modernen Stadt interpretiert.84 Von homosexuellen Kreisen ausgehend, seien die „Loslösung von traditionsgebundenen Formen der Partnerschaft und der Familie, individuell bestimmte sexuelle und emotionale Beziehungen und der innovative Gebrauch der vergleichsweise anonymen kommunikativen Verkehrsformen der Städte“ zu universalen urbanen bzw. „modernen“ Praktiken von Sexualität und Intimität geworden. Jane Rendell wiederum betont, dass sich aus der Perspektive des männlichen „ramblings“, des Umherstreifens auf der Suche nach (sexuellem) Vergnügen, die Stadt in spezifischer Weise erschließt: „Rambling rethinks the city as a series of spaces of flows of movement rather than discrete architectural elements.“85 Das Laufen im urbanen Raum – Michel de Certeau hat es mit dem Sprechakt verglichen – bringt die Stadt im Prozess ihrer Aneignung hervor.86 Selbstinszenierung geht dabei Hand in Hand mit der Beobachtung eben dieser Inszenierungspraktiken: Im steten Wechselspiel entsteht, das machen auch Hirschfelds Beschreibungen deutlich, Urbanität und verbinden sich äußere Stadtwerdung mit Formen der „inneren Urbanisierung“.87

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Hirschfeld 2001/1914, 693. Zitiert nach Walter 2004, 133, der sich auf Bloch 1909 bezieht. Rendell 1998, 76. Vgl. de Certeau 1988, 179ff. Korff 1985.

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Das feine Spiel der Unterscheidungen: Soziale Distinktion und sexuelle Topografie Hirschfelds Schilderung respektive Führung durch Berlin ist vornehmlich an der Vielzahl wie Vielfalt der Orte orientiert, an denen sich homosexuelle Lebensweisen manifestierten. Größe und Diversität der Stadt bedingen auch, so könnte dieses Narrativ zusammengefasst werden, Fülle wie Verschiedenheit homosexueller Lokalitäten, Gruppen und Veranstaltungsformen.88 „Das gesellige Leben der Urninge untereinander pulsiert in Berlin in mannigfaltiger Gestaltung, sowohl in geschlossenen, als auch in allgemein zugänglichen Zirkeln ungemein lebhaft.“89 Als Treffpunkte und Anlaufstellen wies Hirschfeld neben Privatwohnungen Räume des Konsums und des Vergnügens aus: Restaurants, Cafes, Parks – vor allem den zentral gelegenen Tiergarten –, daneben, wie bereits angeklungen, Badeanstalten und Hotels. Verbote und Geheimhaltungsgebote machten es unmöglich, „die genaue Zahl solcher Wirtschaften“ zu ermitteln, doch Hirschfeld schrieb: „Ich kenne in Berlin zurzeit 38 ‚homosexuelle Lokale‘“ und berief sich dabei nicht nur auf eigene Erkundungen, sondern auch auf Berichte anderer. Hirschfelds Beschreibungen bleiben eher im Allgemeinen, sodass wenig über die genauen Orte von Lokalen und Veranstaltungen zu erfahren ist. Den Fokus der Erzählung bilden Praktiken der Raumnutzung: Der Text gliedert sich in Formen der Geselligkeit, verweist auf die Vielgestaltigkeit und Vielfältigkeit der Räume und kehrt so das Prozessuale und Temporäre der sexuellen Topografie heraus – eben weil „alle paar Jahre ein Wechsel zu beobachten“ ist.90 Die genaue Zahl solcher Wirtschaften ist schwer zu ermitteln, da einige sich sehr geheim halten, sie schwankt auch sehr, da wegen Konzessionsschwierigkeiten viele urnische Restaurants oft ihre Besitzer und urnische Besitzer wiederum ihre Lokale wechseln ...91

Hirschfeld führte seine Leser_innen nicht in einen Stadtteil oder gar in eine einzelne Straße, sondern kreuz und quer durch die Stadt. Es entsteht der Eindruck, dass überall, in den besser gestellten Vierteln ebenso wie in den Arbeiterquartieren, Orte und Treffpunkte für und von Homosexuellen existierten, auch wenn sie sich im Zentrum der Stadt, namentlich in der Friedrichstadt, konzentrierten. Jede dieser Wirtschaften hat noch ein besonderes Gepräge; in der einen halten sich mehr ältere, in einer anderen mehr jüngere, wieder in einer anderen ältere und jüngere Leute auf. Fast alle 88 89 90 91

Zur Berliner homosexuellen Topografie vgl. Berlin Museum 1984; Dobler 2003; Sonntags Club 2009. Hirschfeld 1991/1904, 47. Hirschfeld 1991/1904, 72. Hirschfeld 2001/1914, 682.

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sind gut besucht, an Sonnabenden und Sonntagen meist überfüllt. Wirte, Kellner, Klavierspieler, Coupletsänger sind fast ausnahmslos selbst homosexuell.92

Hirschfeld beschrieb – wie andere Autoren auch – die homosexuelle Topografie Berlins vor der Folie einer sozial segregierten Stadt. Die Schilderungen verweisen von der Ausstattung bis zum Programm auf soziale Distinktionspraktiken, die Hirschfeld zwar mit bürgerlichem Differenzblick, zugleich mit großer Empathie, wenn auch gelegentlich mit folkloristisch exotisierendem Duktus nachzeichnete. Betont wird, dass es „Lokale für alle Gesellschaftsschichten [gab], hochelegant ausgestattete Bars, in denen der geringste Satz für eine Konsumation eine Mark ist, bis hinunter zu den kleinbürgerlichen Kneipen, wo das Glas Bier zehn Pfennige kostet.“93 Er selbst besuchte die Versammlung in den „Sälen eines der vornehmsten Berliner Hotels“94 ebenso wie eine kleine „Vorortskneipe“, in der ein Geburtstagsfest mit Kartoffelsalat und Würstchen gefeiert wurde; und während man dort über Wagner-Opern parlierte, gab hier „der Sohn des Wirtes die Gassenhauer des Tages auf dem Klavier zum besten“ und „Herr Schwan geborene Hilde“ parodierte die „Barfußtänzerin“ Isadora Duncan zur Belustigung der Gäste.95 Hirschfeld folgte einem üblichen Narrativ der Stadt, das diesen Differenzblick zum Leitmotiv machte und differente Habitusformen als zentrales raumprägendes Moment herausstellte. Die Fahrt respektive den Gang durch soziale Räume der Stadt veranschaulicht besonders eindrücklich ein von Hirschfeld in Gänze zitierter Zeitungsartikel von Rudolf Presber, in dem „Weltstadttypen“ entlang sozialer Grenzlinien vorgestellt wurden. Ausgetretene und klitschige Stufen kontrastieren da mit sauber gescheuerten Treppen, das Orchestrion mit dem Klavier. Die „feinen Restaurants“ werden in diesem Narrativ ex negativo von Lokalen der städtischen Unterschichten abgegrenzt und zugleich mit einschlägigen Sauberkeitsstandards als Grenzmarkern gekoppelt: Keiner spuckt auf die Dielen, keiner hat einen Zahnstocher zwischen den Zähnen, keiner säubert sich die Ohren oder kratzt sich am Bein, wie wir’s den ganzen Abend über schauernd genossen. Ein paar würdige alte Herren, ein paar ausrasierte Sportstypen, ein paar Künstler mit gebrannten und gelegten Locken. Dem Harmlosen mag hier zunächst wenig auffallen. Vielleicht nimmt’s ihn nur Wunder, daß auch der zweite Sänger – Sopran singt.96 92 93 94 95 96

Hirschfeld 1991/1904, 74. Hirschfeld 2001/1914, 683. Hirschfeld 1991/1904, 50. Hirschfeld 1991/1904, 53. Rudolf Presber „Weltstadttypen“, Feuilletonartikel ohne nähere Angabe zitiert in Hirschfeld 1991/ 1904, 75. Vgl. auch Paul Näcke (1904): Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin. In: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminialistik 15, zitiert nach Hirschfeld 1991/1904, 165–194.

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Hirschfeld übernahm diesen Modus der Beschreibung kommentarlos und zeichnete damit Berlin als sozial differenzierte Konsum- und Vergnügungslandschaft, über die das Gitter einer homosexuell kodierten Raumordnung gelegt ist. Die umgekehrt wirksame und mit Gefühlen der Erregung verbundene Distinktion des „nicht so, wie in den Arbeitervierteln“ scheint aber mehr zu sein als nur dramaturgischer Effekt einer Reise durch die sozialen Räume der Stadt. Herausgehoben wurde auf diese Weise auch, dass es sich im Fall der Homosexualität eben nicht um eine „soziale Frage“ handelt, da es dieses „Phänomen“ in allen Gesellschaftsschichten gibt und es also nicht durch soziale Lagen hervorgerufen wird. Zugleich machte Hirschfeld deutlich, dass die soziale Ordnung der Stadt durch die sexuelle Topografie auch irritiert wurde, da homosexuell kodierte Räume sich gegenüber sozialen Grenzziehungen als durchlässiger erwiesen. Vielfach beschränken sich dieselben (die Gesellschaften der Homosexuellen, d.V.) auf eine bestimmte soziale Schicht, auf gewisse Stände und Klassen, doch werden die Grenzen schon um der Freunde willen bei weitem nicht so streng innegehalten, wie dies bei Normalsexuellen üblich ist. Mancher Urning würde nichts so übel nehmen, als wenn man seinem Freunde, und sei er noch so einfachen Herkommens, die gesellschaftliche Ebenbürtigkeit absprechen würde.97

Allerdings ist auch diese Beobachtung durch einen bürgerlichen Blick bestimmt. Sind es doch vor allem sozial besser gestellte homosexuelle Männer, die über soziale Grenzen hinweg agieren können – etwa mit Hilfe von Techniken der Camouflage: Ich kannte einen urnischen Rechtsanwalt, der, wenn er abends sein Bureau im Potsdamer Viertel oder eine Gesellschaft seiner Kreise verlassen hatte, seine Stammkneipe im südlichen Teil der Friedrichstadt aufsuchte, eine Kaschemme, in der er mit dem Revolverheini, dem Schlächterhermann, dem Amerikafranzl, dem tollen Hunde und anderen Berliner Apachen die halben Nächte spielend, trinkend und lärmend verbrachte.98

Der folkloristisch-exotisierende Duktus, mit dem die Besucher der „Kaschemme“ beschrieben wurden, zeugt eindrücklich von der sozialen Distanz des Beobachters. Zugleich wird deutlich, dass soziale und sexuelle Topografie mit punktuell je eigenen Effekten aufeinander bezogen waren und jeweils spezifische Inklusions- und Exklusionsmechanismen hervorbrachten beziehungsweise solchen unterlagen.

97 Hirschfeld 1991/1904, 47f. 98 Hirschfeld 1991/1904, 21.

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Unterwanderte Geschlechterskripte, stabilisierte Geschlechterordnung Auch wenn Hirschfelds Schriften streckenweise unhinterfragt von der Beobachtung männlicher Homosexueller dominiert werden, wies der Autor auch immer wieder auf geschlechtliche Kodierungen hin. Er beschrieb, dass „vielfach (...) die homosexuellen Männerlokale auch von urnischen Frauen frequentiert [werden], für die es aber auch separate Lokale gibt, doch sind diese seltener“99, und führte an anderer Stelle aus, dass manche Lokale, „wie beispielsweise das Bülowkasino in Berlin (...), außer von homosexuellen Herren von homosexuellen Damen, meist Freundinnen, besucht“ wurden.100 Diese geschlechtlichen Differenzierungen, die in die homosexuelle Topografie eingelassen sind, verweisen auf einen weiteren Schwellenraum, der sich zwischen den hegemonialen dichotom aufeinander bezogenen Skripten von Männlichkeit und Weiblichkeit aufspannt. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Stellen, an denen Handeln im öffentlichen Raum subtil als Geschlechterrollen überschreitend beschrieben wird. So bemerkte Hirschfeld, dass sich „urnische Damen“ vielfach in Konditoreien träfen, namentlich einer im Norden der Stadt, wo sie „Kaffee trinken, plaudern, Zeitungen lesen, Skat und mit Vorliebe Schach spielen“.101 Solche weiblichen Grenzüberschreitungen stießen offenbar relativ schnell an gesellschaftliche Konventionen, denn, führte Hirschfeld an anderer Stelle aus, charakteristischerweise geht es in den homosexuellen Frauenlokalen im allgemeinen etwas derber zu, wie in den analogen Männerkneipen, so waren die Vorträge in einem Berliner Frauenlokal so obszön, daß die Vortragende, genannt ‚der Leutnant‘, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verklagt und mit Gefängnis bestraft worden ist.102

In diesen Schilderungen zeigt sich geschlechtliche Kodierung als Ordnungsfaktor der moralischen Geografie der Stadt. Geschlechterskripte mit ihren hegemonialen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit strukturieren die Beschreibungen, sie informieren die Darstellung von effeminierten homosexuellen Männern103 wie auch von homosexuellen Frauen, deren Performanz als männlich gedeutet wird. Sie bilden auch an den Stellen die Folie, an denen Hirschfeld die größere Tendenz von Frauen zu Häuslichkeit und Privatisierung beschrieb: „fast jede“ sei froh eine „‚feste‘ Freundin“ zu haben, „mit der zusammen sie sich dann möglichst 99 100 101 102 103

Hirschfeld 2001/1914, 685. Hirschfeld 2001/1914, 683. Hirschfeld 1991/1904, 72. Hirschfeld 2001/1914, 685. Hirschfeld 1991/1904, 80: „ein Schnattern und Plappern, ein Lachen, Juchzen und Kreischen in so verwirrendem Durcheinander (...), daß einem männlichen Gast angst und bange werden kann“.

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von jeder Öffentlichkeit zurückzieht.“104 Denn, so Hirschfeld, obwohl „homosexuelle Frauen unbeanstandeter leben“, da sie nicht von strafrechtlicher Verfolgung bedroht waren, sei „ihre Scheu, für ‚so‘ gehalten zu werden, ebenso groß (...) wie die ihrer männlichen Kollegen“.105 Wie in der differenzierenden Beschreibung von weiblichen und männlichen Homosexuellen und ihren je eigenen Praktiken die Geschlechterordnung einerseits aufrecht erhalten, andererseits nachhaltig infrage gestellt wird, so fließen auch in die Darstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren Vorstellungen angemessener Geschlechtsdarstellung ein, um sie zugleich zu unterlaufen. Hirschfeld schilderte mehrere Begegnungen mit jungen Frauen und Männern, die ihre Geschlechterperformanz im Übergang vom öffentlichem zum privaten Raum wechselten.106 Selbst ihm sei es nicht immer möglich, diese Personen eindeutig zu lesen. Wenn er nach dem „wahren Geschlecht“ suche, fühle er sich irritiert und zugleich – als Forscher und Mediziner – herausgefordert. So begegnete er einer Frau bei einer Veranstaltung, die ihm durch ihre „tiefe Stimme und ihre männlichen Bewegungen“ auffiel, und nahm Kontakt zu ihr auf. Bei einem Besuch wurde er damit konfrontiert, dass sie „in ihrer Häuslichkeit vollkommen als Mann lebte“. An diese Episode eigener Irritation schloss er an: „[E]s war eine wackere Person, die den Kampf mit dem Leben tapfer aufgenommen, manche Heirat, durch die sie ‚gut versorgt‘ worden wäre, abgelehnt hatte, weil sie ‚keinen Mann betrügen‘ wollte.“107 In der gesamten Schilderung von Begegnung und Person, in der deutlich Forderungen der ersten Frauenbewegung108 wiederzufinden sind, wird die wechselseitige Durchdringung und Hervorbringung von Raum, Geschlecht, Sexualität und sozialer Position sichtbar, die das Lesen von Räumen zur komplexen Interpretation werden lassen. Das Kartieren scheint maßgeblich durch den Blick des Betrachters bestimmt: Im Scharfstellen auf Sexualitäten wird die „Devianz“ der sexuellen Identität zur Erklärungsfolie für Biografie und Handeln in toto, das komplexe Wechselverhältnis zwischen Geschlechterordnung und Heteronormativität auf die gesellschaftliche Stigmatisierung von Homosexualität reduziert und der Zusammenhang von Geschlecht und Sexualität in seiner Raum strukturierenden Macht letztlich naturalisiert. Dieses wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Klassifikations-, Wahrnehmungsund Bewertungsschemata wird noch deutlicher an den Stellen, an denen Hirschfeld gleichge104 Hirschfeld 2001/1914, 685. 105 Hirschfeld 2001/1914, 685. 106 Hirschfeld 1991/1904, 22f. Solches Doppelleben medikalisiert Hirschfeld im Sinne einer „gespaltenen Persönlichkeit“. 107 Hirschfeld 1991/1904, 24. 108 Die erste Frauenbewegung formierte sich Ende des 19. Jahrhunderts und forderte Gleichberechtigung für Frauen, insbesondere das Wahlrecht, freie Bildung und Recht auf Erwerbstätigkeit. Vgl. grundlegend Gerhard 2009.

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schlechtliche Paare und die Interaktion zwischen homosexuellen Männern beziehungsweise Frauen beschrieb. In den meisten Kneipen geht es durchaus anständig zu, in vielen ist der Ton ein solcher, daß der Fremde, der sich zufällig einmal in ein solches Lokal verirrt, nicht vermuten kann, daß er sich zwischen lauter Gleichgeschlechtlich-Empfindenden befindet. In anderen Restaurants allerdings lassen feminine Urninge ihrem weiblichen Wesen ungehemmt die Zügel schießen, oft in so ausgelassener Weise, daß sich nicht nur Heterosexuelle, sondern auch virilere Homosexuelle dadurch abgestoßen fühlen.109

Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Überlagerung von Geschlecht und Sexualität liefern die Beschreibungen von Tanzveranstaltungen. „Urningsbälle“ waren laut Hirschfeld „in ihrer Art und Ausdehnung eine Spezialität von Berlin“.110 Sie werden in allen sexualwissenschaftlichen Schriften ausführlich geschildert.111 Hirschfeld beschrieb unter anderem das bunte Treiben eines Neujahrsballs, einer Veranstaltung von über 800 Personen, die er „mit einigen ärztlichen Kollegen besuchte“. Er hob das Nebeneinander unterschiedlicher Bekleidungsvorlieben hervor und verwies insbesondere auf Praktiken des Crossdressings: „Nicht wenige wirken in ihrem Aussehen und ihren Bewegungen so weiblich, daß es selbst Kennern schwer fällt, den Mann zu erkennen.“112 Von einer analogen Veranstaltung für Frauen wusste er zu berichten, dass sich „ein großer Teil in Herrenkostüm“ eingefunden habe.113 Er zitierte einen Augenzeuginnenbericht, in dem das Eigenartige und Befremdliche, dennoch Anziehende der „in bunten Farben schillernde(n) fröhlichen Schar“ plastisch zutage trete.114 Auch wenn die Grenzen eines „Kostümfestes vornehmer Art“ in den Augen Hirschfelds nicht überschritten wurden, stellte doch der Tanz einen Moment der Transgression dar: Eine andere Urningskneipe, die wir betreten, besteht aus vier ziemlich großen Zimmern. Es ist schwer, Platz zu finden. Im zweiten und vierten Raum stehen Klaviere, in dem einen trägt ‚die Engeln‘ die neuesten Lieder vor, in dem andern wird getanzt, nicht Mann und Weib, sondern Mann und Mann. Sie tanzen mit sichtlicher Hingebung; der weibliche Teil schmiegt sich schmachtend dem männlichen Partner an; die schlechte Musik materialisiert sich förmlich in ihnen; wenn der Klavierspieler abbricht, scheint es, als ob sie aus melodientrunkener Tonseligkeit zu rauher Wirklichkeit erwachen.115 109 110 111 112 113 114 115

Hirschfeld 2001/1914, 683. Hirschfeld 1991/1904, 103; sowie Hirschfeld 2001/1914, 685. Hinweise finden sich auch in anderen Schriften, etwa Ostwald 1992/1906, 63; Bloch 1909, 573f. Hirschfeld 1991/1904, 104, auch zitiert in Hirschfeld 2001/1914, 686. Hirschfeld 2001/1914, 686. Hirschfeld 2001/1914, 686; Hirschfeld 1991/1904, 111. Hirschfeld 1991/1904, 78.

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Die Gegenüberstellung von zeitlich begrenzter Anerkennung und Geborgenheit auf der einen und der rauen Wirklichkeit gesellschaftlicher Stigmatisierung auf der anderen Seite fügt der homosexuellen Topografie ein Moment der Zeitlichkeit ein. Zugleich zeigen die Beschreibungen der solchermaßen entrückten Paare die Wirksamkeit heteronormativer Vorstellungen. Bei Iwan Bloch ist zu lesen: Ich erinnere mich einer graziösen Sylphide, die am Arm ihres Tänzers durch den Saal schwebte – das ist der richtige Ausdruck – ihr feines Gesichtchen während des Tanzes recht zierlich an die Schulter des Mannes lehnte und mit den strahlenden schwarzen Augen übermütig kokettierte. Ich hielt sie allen Ernstes für ein Weib, bis ich belehrt wurde, daß es ein – Friseur sei. Bei anderen in weiblicher Tracht erschienenen Urningen erleichterte ein kräftiger – Schnurrbart die Diagnose.116

Was hier als „Diagnosehilfe“ beschrieben wurde, erhielt bei Hirschfeld einen Anstrich des Skandalösen: „Am geschmacklosesten und abstoßendsten wirken auf den Bällen der Homosexuellen die ebenfalls nicht vereinzelten Herren, die trotz eines stattlichen Schnurrbartes oder gar Vollbartes ‚als Weib‘ kommen.“117 Performative wie körperliche Praktiken, mit denen hegemoniale Geschlechterordnungen verschoben werden sollten, provozierten Ambivalenzen auch bei denjenigen, die den Schwellenraum zwischen Pathologischem und Normalität weiten wollten. Gerade die Bewertungen zeigen zudem, wie dicht moralische Ordnungen mit Gefühlslagen verwoben sind. Das Unterlaufen von sexuellen, geschlechtlichen und sozialen Grenzen, die in den urbanen Raum eingeschrieben sind, stößt an in Körper eingeschriebene Regulierungen, erzeugt Scham, Ekel und Abwehr. Diese physisch-psychischen Reaktionen sind verknüpft mit verräumlichten moralischen Ordnungen und machen damit auf die moralische Geografie aufmerksam.

Politiken der Anständigkeit, Grenzen der Transgression Zwar wollte Hirschfeld „andere“ Lesarten der Stadt bieten und mit diesen hegemoniale Deutungen der sexuellen Topografie verschieben. Doch seine Darstellung orientierte sich an bürgerlichen Vorstellungen von Ordnung, Anstand und Angemessenheit. Dies wird vor allem an den Stellen deutlich, an denen Sexualität jenseits ihrer Koppelung mit Liebe in den Blick genommen wurde, insbesondere beim Blick auf mann-männliche Prostitution.118 Um Prostitution zu thematisieren, führte Hirschfeld seine Leser_innen beispielsweise in den Tiergarten. Er stellte den zentralen Stadtpark Berlins als offenen Raum nicht nur für Liebespaare

116 Bloch 1909, 574. 117 Hirschfeld 1991/1904, 106. 118 Zum besonderen Status mann-männlicher Prostitution vgl. Lücke 2008.

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dar, die hier einen Platz für den Austausch von Intimitäten fänden, sondern schilderte ihn auch als Ort der Prostitution, denn „neben der hohen, der unveräußerlichen geht die niedere, käufliche Liebe einher.“119 Für Hirschfeld war Prostitution fester Bestandteil der urbanen Landschaft, dabei beschrieb er sie durchgehend mit sozialreformerischem Blick als Teil der „sozialen Frage“ und grenzte Sexarbeit damit deutlich von anderen Formen nicht-normativer Sexualität ab. In den Blick genommen wurden die Sexarbeiter_innen, während die in der bürgerlichen Sexualmoral verankerten Ursachen für die Aufrechterhaltung des Systems Prostitution nicht thematisiert wurden. Nur in Andeutungen treten „Freier“ in Erscheinung, etwa bei der Schilderung einer Rundbank, auf der in den Stunden vor Mitternacht an dreißig Prostituierte und Obdachlose dicht nebeneinander sitzen, manche sind fast eingeschlafen, andere johlen und kreischen. Sie nennen diese Bank die ‚Kunstausstellung‘. Dann und wann kommt ein Mann, steckt ein Wachsstreichholz an und leuchtet die Reihe ab.120

Hirschfeld war der Überzeugung, dass Prostitution und deren Lokalisierung „eine unmittelbare Folge der durch die Verfolgung der Homosexuellen geschaffenen Verhältnisse sind“121, und forderte offen dazu auf, diese Erscheinung aus dem Stadtraum zu verbannen. Trotz der ans Pittoreske grenzenden Darstellung ließ er keinen Zweifel daran, dass er diese Facette der sexuellen Topografie am liebsten aufgehoben sehen wollte: Sowohl die weibliche wie die männliche Prostitution bedrohen durch ihr böses Beispiel nicht nur die öffentliche Sittlichkeit, nicht nur die öffentliche Gesundheit (...), sondern auch in hohem Maße die öffentliche Sicherheit. Prostitution und Verbrechertum gehen Hand in Hand; Diebstähle und Einbrüche, Erpressungen und Nötigungen, Fälschungen und Unterschlagungen, Gewalttätigkeiten jeder Art, kurz alle möglichen Verbrechen wider die Person und das Eigentum sind bei dem größten Teil der männlichen Prostituierten an der Tagesordnung ...122

Das Thema Prostitution verdeutlicht an moralische Ordnungen gebundene Bewertungen der sexuellen Topografie der Stadt. Als Maßstab dienten Hirschfeld bürgerliche Konzepte der ‚wahren Liebe‘ und des ‚echten Begehrens‘. Damit offenbart sich die Politik der Sichtbarkeit, die Hirschfelds Schriften leitet, nochmals besonders eindrücklich in ihrer doppelten Gebundenheit: Zwar war die Stadtführung in erster Linie dazu bestimmt, die Normalität homosexueller Identitäten und Praktiken zu betonen und damit Argumente gegen die anhaltende Pathologisierung wie Kriminalisierung von Homosexuellen zu liefern. Doch zugleich griff 119 120 121 122

Hirschfeld 1991/1904, 118. Hirschfeld 1991/1904, 118. Hirschfeld 2001/1914, 691. Hirschfeld 1991/1904, 123.

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Hirschfeld selbst normierend und regulierend in die (homo-)sexuelle Topografie ein, indem er hegemonialen Vorstellungen des „Anständigen“ und Legitimen folgte und in seiner Publikationstätigkeit auch folgen musste.123 Doch obwohl der Stadtführer Hirschfeld dem „Anderssein“ Grenzen setzte, die in bürgerlichen Moralvorstellungen und dominanten Geschlechterskripten fundiert waren, wurde er für sein relativ offenes Schreiben über Prostitution aus bürgerlichhomosexuellen Kreisen kritisiert: Die bloße Erwähnung von Prostitution, ebenso wie von effeminierter Männlichkeit, im Zusammenhang mit Homosexualität erschien einigen – bürgerlichen – Protagonisten der homosexuellen Emanzipationsbewegung als schädlich für „die eigene Sache“.124 Doch letztlich bemühte sich auch Hirschfeld, Räume der Homosexualität und der Prostitution – zumindest diskursiv – möglichst weitgehend zu trennen. Immer wieder betonte er die „Prostitutionsfreiheit“ von homosexuellen Lokalen und Veranstaltungen. Die Räume vor allem der mann-männlichen Prostitution sind nicht nur, so das Hirschfeldsche Narrativ, ein marginaler Teil der homosexuellen Topografie der Stadt, beide Raumordnungen – die der Homosexualität und die der Prostitution – sind nicht deckungsgleich.

Die homosexuelle Topografie als Schwellenraum des Anderen Im Verlauf seiner Wanderung führte Hirschfeld seine Leser_innen durch die homosexuelle Stadt und verband Orte und Menschen, Praktiken und Codes durch seine Narration zu einer homosexuellen Topografie Berlins. Er unterrichtete seine Leser_innen davon, wie und wo homosexuelle Lebensweisen sich Räume in der Stadt geschaffen haben. Dabei war es sein primäres Ziel, Empathie und Verständnis dort zu erzeugen, wo im herrschenden Diskurs Ekel und Abscheu dominierten. In seiner Erzählung der Stadt verband Hirschfeld sexualwissenschaftliche Interessen mit politisch-emanzipatorischen Zielen: Die Texte sind darauf ausgerichtet, sowohl das „Wesen“ der Homosexualität und der ihr zugeordneten sexuellen wie sozialen Praktiken zu fassen und diese dabei zu entpathologisieren und zu entkriminalisieren. Er tat dies, indem er den Blick für homosexuell kodierte Räume und die homosexuelle Topografie öffnete. In seinem Bestreben, von der „Normalität“ homosexueller Praktiken zu überzeugen, machte Hirschfeld Raum prägende wie strukturierende Momente von Homosexualität sichtbar. In seiner Schilderung homosexueller Räume zeigte Hirschfeld eindringlich, dass diese durch gesellschaftliche Vorurteile und rechtliche Bestimmungen nachhaltig strukturiert sind, und unterstrich immer wieder das doppelte Gesicht dieser gesellschaftlichen Regulierung. Der Zwang, sich vor Stigmatisierung und Kriminalisierung zu schützen, führte auf der Seite der „Betroffenen“ einerseits zu psychischen Deprivationen und machte sie erpressbar. Ande123 Herzer 1991, 150. 124 Keilson-Lauritz 2005, 88.

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rerseits stifteten die Taktiken des Umgangs mit Verboten und Stigmatisierungen spezifische – „moderne“ – Formen der Vergemeinschaftung, brachten Orte und Praktiken des Miteinanders hervor, die dominante Ordnungsvorstellungen und sozialräumliche Grenzziehungen zumindest teilweise unterliefen und/oder überschritten. Hirschfelds Führung durch die Stadt war auf Verborgenes und auf Taktiken der sichtbaren Unsichtbarkeit fokussiert, wobei er den Schwellenraum zwischen Anerkennung und Ächtung, zwischen Akzeptanz und Kritik als Raum diverser Lebensweisen wie als Raum devianter Normalität sichtbar machte. Dabei folgte auch Hirschfeld in ambivalenter und widersprüchlicher Weise Exklusionsmechanismen und markierte Grenzen, etwa wenn er illegitime sexuelle Praktiken, unangemessenes Auftreten und „obszönes Verhalten“ kritisierte, damit Homosexualität normierte, entsprechend die sexuelle Topografie formatierte und die Stadtgesellschaft entlang unhinterfragt akzeptierter bürgerlicher Wertordnungen bewertete. Der Schwellenraum, der sich mit der empathischen Begehung der homosexuellen Topografie Berlins öffnete, zeigt sich hier als tief verankert in den normierenden Strukturen des Geschlechterverhältnisses wie der sozialen Ordnung der Stadt. Im Effekt operieren die Texte in widersprüchlicher Weise an der Schnittstelle von sexueller Topografie und moralischer Geografie, indem sie Kritik und Stabilisierung von im Raum verankerten normativen Ordnungen zugleich bedienen. Doch obwohl das Narrativ von Hirschfeld an Stabilisierung und Normierung orientiert ist, entfalten die Texte einen performativen Selbstwiderspruch. Denn das Sichtbarmachen der homosexuellen Topografie lässt diese auch und gerade in ihrer Fremdheit reizvoll und inte­ ressant erscheinen. Die Stadtführung lädt über den Augenblick der Lektüre zu Grenzgängen und Flanerien in nächtliche Zonen des urbanen Vergnügens ein. Die Beschreibungen schmücken den Schwellenraum aus und stärken ihn gegen normalisierende Zugriffe. Die vielen eingestreuten Passagen von nächtlichen Stadterkundungen, seien es die anderer oder Hirschfelds eigene Berichte, führen eine Praxis des Schauens und Sich-Einlassen auf das Unbekannte in der eigenen Stadt vor, die zur Nachahmung einlädt. Die Texte votieren so – in Teilen gegen ihre elaborierte Absicht der Befriedung – für den Erhalt und Ausbau des metropolitanen Spektakels und plädieren für die potentielle Unendlichkeit des Schwellenraums, der sich trotz regulierender Ordnungen und dominanter Normierungen in der Stadt entfaltet hat. Hirschfeld öffnete insofern den Schwellenraum homosexueller Begegnungskultur und ermöglichte einen Zutritt zu den gleichermaßen spektakulären wie verbotenen Zonen urbanen Vergnügens.125 Diese Einladung konnte vor allem deshalb ausgesprochen werden, und die Texte konnten so überzeugend wirken, weil sie auf „authentischen“ Zeugnissen beruhen und das Terrain des (verbotenen) Sexuellen aus erster Hand schildern. Damit bestätigte und 125 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Wie Gabriele Dietze in diesem Band zeigt, hat die Boheme der 1920er-Jahre von diesen skandalisierten Zonen reichlich Gebrauch gemacht und sie als Vehikel genutzt, Geschlechtercodes zu verschieben.

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bediente Hirschfeld – wie die Sexualwissenschaftler _innenund Autor_innen der GroßstadtDokumente generell126 – die Überzeugungskraft des Authentischen, das sich etwa zeitgleich in der Sozialreportage, der Ethnologie und Stadtforschung als Paradigma wissenschaftlicher Forschung und Beschreibung gesellschaftlicher Realitäten durchzusetzen begann.127 Der Wunsch nach Authentizität128, nach Fakten, die aus direkter Anschauung gewonnen werden, verbindet um die Jahrhundertwende die sexualwissenschaftlichen und medizinischen Handbücher mit den Großstadt-Dokumenten beziehungsweise den sexualwissenschaftlichen mit dem journalistischen und letztlich dem ethnografischen Blick auf die Stadt.129

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Petra Fuchs, Wolfgang Rose und Thomas Beddies

Heilen und Erziehen: Die Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité

Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist der medizinische, pädagogische und fürsorgerische Umgang mit „psychopathischen“ Berliner Kindern und Jugendlichen in der Zeit der Weimarer Republik. Im Fokus steht dabei der Übergangsbereich von fraglicher Gesundheit zu sicher zu konstatierender Erkrankung. Dieser Bereich soll als Schwellenraum begriffen und auf die sich im Berlin der 1920er-Jahre komplex ausgestaltende Infrastruktur zur Beobachtung, Behandlung und Betreuung verhaltensauffälliger Kinder bezogen werden. Der Schwellenraum schließt sowohl den Übergang von der „geistigen Gesundheit“ zur „Geisteskrankheit“ als auch die gegenläufige Bewegung von der „Störung“ in die „Normalität“ ein. Seit dem Ende der 1880er-Jahre hatte die Psychiatrie – hauptsächlich in Abgrenzung zur Pädagogik – verstärkt Einfluss auf das Feld der Beurteilung und der Behandlung auffälliger Kinder und Jugendlicher genommen; dabei erfolgte immer häufiger die Zuordnung „schwieriger“ Mädchen und Jungen zur Krankheitseinheit der „Psychopathie“.1 Mit der Übernahme in die „Pädagogische Pathologie“ Ludwig Strümpells (1812–1899) im Jahr 1892 war das von Julius Ludwig August Koch (1841–1908) eingeführte Psychopathiekonzept zum zentralen Paradigma der sich formierenden Kinder- und Jugendpsychiatrie geworden,2 während in die Erwachsenen-Psychiatrie die „Psychopathie“-Lehre „als bloße Kenntniserweiterung“ aufgenommen wurde.3 Theodor Ziehen (1862–1950),4 Direktor der Psychiatrischen und Ner1 2 3 4

Eine „sozialhistorisch-ideengeschichtlich und wissenssoziologisch orientierte“ Untersuchung dieses Vorgangs fehlt bisher (Fegert 1986, 128). Strümpell 1892, VIII; Koch 1891–1893. Kuhn 2003, 104. Der Neurologe, Psychiater, Psychologe und Philosoph Georg Theodor Ziehen gilt als Verfasser der zweiten grundlegenden Arbeit zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland nach Hermann Emminghaus (Ziehen 1902, 1904, 1906). Von 1904 bis 1912 leitete er die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité. Schon in seiner Jenaer Zeit (1886–1900) arbeitete er eng mit prominenten (Heil-)Pädagogen zusammen, darunter Wilhelm Rein und Johannes Trüper. Im Trüper’schen Heim „Sophienhöhe“ für erziehungsschwierige Kinder war Ziehen als Konsiliararzt tätig. Seit 1907 stand er in regem Austausch mit der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge (DZJ) in Berlin und unterstützte deren Engagement zur Zusammenarbeit von Psychiatrie und Jugendfürsorge in Bezug auf „psychopathische“ Kinder und Jugendliche. An der 1913 erfolgten Gründung des ersten Heilerziehungsheims für ausschließlich „psychopathische Knaben“ in Templin (Provinz Brandenburg) wirkte er aktiv mit.

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venklinik der Charité, sah in den „psychopathischen Konstitutionen die häufigste, praktisch weitaus wichtigste Geistesstörung des Kindesalters“.5 Gemeinsames Merkmal der zahlreichen, im Detail unterschiedlichen Definitionen des Psychopathiebegriffs war die Betonung des Übergangscharakters, die Beschreibung eines zwischen dem „Normalen“ und dem Psychopathologischen liegenden Grenzgebietes.6 Nach Ziehen handelte es sich bei Kindern mit „psychopathischen Konstitutionen“ um solche, die keine ausgeprägte Geisteskrankheit, vor allem auch keinen Schwachsinn (…) zeigen, bei denen aber doch zahlreiche krankhafte seelische Erscheinungen namentlich auf dem Gebiete des Gefühlslebens vorliegen. Willensschwäche, heftiger Stimmungswechsel, starke unbeherrschte Affekte lassen in ihnen gesellschaftsfeindliche Neigungen zur Entwicklung gelangen, die sie ohne rechtzeitiges Eingreifen fast ausnahmslos dem Verbrechen, dem Landstreichertum, der Prostitution in die Arme treiben oder dem Irrsinn anheim fallen lassen.7

Als Indikatoren dienten Symptome, die den Rahmen dessen sprengten, was man bei Kindern und Jugendlichen zu tolerieren bereit war: „übermäßiges“ Lügen, Stehlen, Fernbleiben von der Schule, Fortlaufen, motorische Unruhe, Gewalttätigkeit, unsoziales Verhalten, Masturbation, Homosexualität und homosexuelle Prostitution (Jungen), „Frühreife“ und heterosexuelle Prostitution (Mädchen).8 Die Phänomene des Übergangs, häufig markiert durch Disziplinierungs- und Ordnungsmaßnahmen, konnten auf Seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen geradezu als Einbruch und Dekompensation ihres Alltags erlebt werden. Auf der anderen Seite wurden sie von Fürsorgeeinrichtungen in Interventionsstrategien bürokratisiert, durch Regelwerke institutionalisiert sowie nicht zuletzt als psychiatrische Symptomatiken medizinisch konzeptualisiert. Vor diesem Hintergrund können auch die Aushandlungsprozesse der beteiligten Fachgebiete (Psychiatrie, Pädagogik, Fürsorge) als Schwellenphänomene an den Grenzen der Disziplinen verstanden und analysiert werden. Im Folgenden sollen – ausgehend von der „Kinderbeobachtungsstation“ (KBS) der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité – beispielhaft spezifische Einrichtungen, Strukturen und Maßnahmen der „Psychopathen-Fürsorge“ als Regulierungs- und Diskursivierungsformen im urbanen Setting abgesteckt und beschrieben werden.

5 6 7 8

Ziehen 1906, 23f. Vgl. z.B. Homburger 1926; Koch 1891–1893; Schneider 1923; Stelzner 1911; Strohmayer 1910. Ziehen 1912, 3. Vgl. etwa Ziehen 1912; Schneider 1923; Thiele 1929. Ebenso die Krankenblätter und Krankenakten „psychopathischer“ Kinder und Jugendlicher der Poliklinik und der Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité.

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Abb. 4.1: Lage der Kinderbeobachtungsstation in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité

Dabei wird (1.) davon ausgegangen, dass „psychopathische“ Kinder und Jugendliche für Eltern, Erzieher und Ärzte eine Herausforderung nicht nur als Grenzgänger eines Bereichs zwischen „Normalität“, Verhaltensauffälligkeit und seelischer Erkrankung, sondern auch als „Passagiere“ des Transitraums Adoleszenz darstellten.9 Wie noch zu zeigen sein wird, war der Umgang mit devianten Mädchen und Jungen an der KBS von einem flexiblen Normalitätsbe9

Vgl. für die Adoleszenz Gennep 2005, 70–114, für die „Psychopathie“ Kramer 1921, 1.

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griff ebenso geprägt wie von einer pluralistischen Auffassung von Reifung. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Ausdrucksformen beider Phänomene als deckungsgleich angesehen wurden und damit die diagnostische Klärung einer fraglichen „Psychopathie“ wesentlich vom Zeitpunkt, von der Dauer und von der Intensität der Symptome abhängig gemacht werden musste. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag insbesondere mit der Frage, in welcher Weise sich die Schwellenräume „Psychopathie“ und „Adoleszenz“ im Sinne einer „Breite des Normalen“ in den Quellen abbilden und voneinander abgrenzen lassen.10 Weiterhin wird (2.) vorausgesetzt, dass es in der urbanen Moderne zu einer Pluralisierung von Übergangsphasen (Schwellenräumen) in der Individualentwicklung gekommen ist, die – gerade auch in der Reifezeit – zunehmend subjektiv und erlebnisbedingt geprägt war.11 Städtische Lebenswelten stellten sich in diesem Zusammenhang als Gegenentwürfe zum Leben in ländlich geprägten Gebieten dar, die angesichts der „Folgen der Enge und Stagnation des Zweitrangigen, der Intoleranz, des Sich-Aufspielens, des unentrinnbaren kollektiven Zwangs, der scheinheiligen Beobachtung und verborgenen Tyrannei“ kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten boten.12 Gleichzeitig besaßen Rituale in der Großstadt keine ausreichende Bindungskraft mehr, um verlässlich und allgemeingültig die Transition zwischen zwei Zuständen – hier vom Jugend- zum Erwachsenenalter – mit „klar definierten, sozialstrukturbedingten Rechten und Pflichten“ zu regeln.13 Von untergeordneter Bedeutung ist dabei zunächst, ob die Vielgestaltigkeit individueller Übergangsphänomene tatsächlich mit einer Vervielfältigung ritueller Formen oder einer grundsätzlichen Entritualisierung einer säkularisierten Metropolenkultur verbunden war. Entscheidend ist, dass Initiationsriten, wie beispielsweise der Schulabschluss, die Konfirmation oder das Eintreten in ein Lehr- oder Dienstverhältnis ihre allgemeinverbindliche Bedeutung verloren,14 und dass der Übergang vom Status des Kindes zu dem des Erwachsenen zunehmend als Prozess wahrgenommen wurde, weniger jedoch als ein an einen bestimmten Akt gebundenes Ereignis.15 Bestimmten in vormodernen Gesellschaften traditionelle Autoritäten der Familie, der Kirche, der ständischen Körperschaften den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter, so 10 Wir können auf die Akten der Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité zurückgreifen, denen zu einem Teil die heilpädagogischen Einzelfallakten des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen beigefügt wurden; zusätzlich sind elf heilpädagogische Einzelfallakten des Vereins überliefert. Daneben steht uns das Diagnosebuch der KBS von 1921 bis 1945 zur Verfügung. 11 Vgl. Erdheim 1991, 81f. sowie Wiedenmann 1991, 65. 12 Mitscherlich 1996, 142. 13 Turner 2005, 94. 14 Herlyn 1999. 15 Dudek 2002, 334; Agamben 2004; Krüger 2010.

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diversifizierten und anonymisierten sich die daran beteiligten Kräfte im Zuge der Modernisierung und einer Versachlichung der Beziehungen.16 Als Regulations- und Aufsichtsinstanzen sittlicher Ordnung fungierten zunehmend Organe der Administration und der Rechtsprechung, der Medizin und der Pädagogik in ihren jeweiligen institutionellen Ausprägungen.17 Vor diesem Hintergrund kann die Konstruktion des schwer erziehbaren, des „psychopathischen“ Kindes und Jugendlichen auch als Versuch verstanden werden, den Übergang zum Erwachsensein aus der Präventionsperspektive als öffentliche Aufgabe in der modernen, in der urbanen und in der industrialisierten Gesellschaft zu regulieren und möglichst störungsfrei zu gestalten. In der Beurteilung „psychopathischer“ Kinder und Jugendlicher kam es zu einer Überschneidung der beiden Übergangsbereiche „normaler“ Reifung und gradueller Abweichungen von der „Normalität“. Dabei implizierte das Verständnis vom Kind und Jugendlichen einen prozesshaften Ablauf der Entwicklung,18 den der Neurologe und Psychiater Franz Kramer (1878–1967)19 wie folgt beschrieb: Bei den Kindern erweist sich die Abgrenzung vom Normalen als besonders schwierig, (…) Harmonie bildet sich im Laufe der individuellen Entwicklung heraus, um erst bei der völligen Reifung des Menschen erreicht zu werden. Die elementaren Triebmechanismen sind im Jugendalter stärker und selbständiger wirksam und werden in geringerem Grade willensmäßiger beherrscht, als bei dem Erwachsenen. Eine Unterbrechung erfährt die Entwicklung in der Pubertätszeit, wo das neu erwachende Triebleben Unruhe und Disharmonie hineinbringt. Erst nach Ablauf dieser kritischen Zeit wird die endgültige Reifung allmählich erreicht. Hier kann nur eine umfangreiche Erfahrung lehren, was noch in der Breite des Normalen liegt.20

16 Simmel 1957, 237. 17 Lindner 2004, 127. Lindner bezieht sich hier auf: Park 1925, 1–46. 18 Vgl. etwa Stier 1913, 420; Thiele 1929, 232. 19 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Franz Kramer folgte 1912 seinem Lehrer Karl Bonhoeffer von Breslau an die Berliner Universitätspsychiatrie. Ab 1913 führte er dort, wie bereits zuvor in Breslau, psychiatrische Untersuchungen an straffällig gewordenen Jugendlichen durch. In diesem Zusammenhang arbeitete er eng mit der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge zusammen und setzte damit die seit 1907 praktizierte Kooperation von Psychiatrie und Jugendfürsorge fort. 1919 übernahm Kramer den Vorsitz der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ). Ein Jahr zuvor, 1918, zählte er zu den Mitbegründern des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen (DVFjP) und ab 1923 war er Mitherausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung. Von ihrer Gründung 1921 bis 1935 leitete Kramer die Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. 20 Kramer 1930, 578.

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Jegliche Klassifizierung hatte unter diesem Vorbehalt zu erfolgen, da „Krankheit“ wie „Kindlichkeit“ im Zuge biologischen und sozialen Heranreifens verschwinden konnten. Allerdings galt die Annahme, dass solche spontanen Heilungen bzw. Reifungen nur selten und ausschließlich bei leichteren Formen der „Psychopathie“ auftraten. Aus der kritischen Beobachtung sowohl der Adoleszenz wie auch der „Psychopathie“ erwuchsen Einflussmöglichkeiten, die sich aus dem „unfertigen“ geistigen Entwicklungsstand eines jungen Menschen ebenso ergeben konnten wie aus der großen „Milieuempfindlichkeit“ einer „psychopathischen Konstitution“.21 Therapeutisch sollte die Beeinflussung auf der Verhaltensebene ansetzen und ein „positives“ Milieu schaffen. Insbesondere für die Vertreter eines „multilateralen Paradigmas“, die neben der Anlage auch prä- und perinatale Schädigungen, Traumatisierungen und vor allem Umwelteinflüsse als Ursachenkomplex für die Entstehung von „Psychopathien“ in Betracht zogen, ergab es sich von selbst: Die Heilung insbesondere Kinder und Jugendlicher mit „unfertiger psychopathischer Konstitution“ hatte durch Erziehung zu erfolgen.22 Durch frühzeitiges, vom Arzt veranlasstes und kontrolliertes (heil-)pädagogisches Handeln sollten die Beeinflussungspotenziale Heranwachsender genutzt und die Entwicklung auffälliger Kinder zu auffälligen Erwachsenen verhindert werden.23 Nur bei rechtzeitiger und gezielter Beeinflussung durch „Ärzte und Pädagogen […] in gemeinschaftlichem Wirken“ bestünden gute Entwicklungsmöglichkeiten für diese Kinder und Jugendlichen.24 Im Folgenden wollen wir exemplarisch die Praxis von Heilen und Erziehen im klinischen Alltag der KBS verdeutlichen. Anhand der Patientenakten eines neunjährigen Jungen und einer 17-jährigen Jugendlichen lässt sich eine große Spannbreite auffälligen Verhaltens zwischen den Polen „normaler“ Erziehungsschwierigkeiten am Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein auf der einen und psychischer Auffälligkeit auf pathologischer Grundlage auf der anderen Seite beleuchten. Dabei fokussieren wir in der ersten Fallgeschichte stärker auf nosologische und ätiologische Konzepte, in der zweiten eher auf den Austausch zwischen (Heil-)Pädagoginnen und Medizinern. Wir nehmen diese heuristische Trennung vor, um zunächst den Umgang mit den Phänomenen Psychopathie (Fall Otto) und daran anschließend Adoleszenz (Fall Elisabeth) zu rekonstruieren. Die Auswahl der Fälle wurde auch aus Gründen der geschlechts- und altersspezifischen Darstellung vorgenommen. Schließlich erzählen wir zwei Lebensgeschichten, um die Orientierung Kramers und seiner langjährigen Kollegin, der Sozialpädagogin Ruth von der Leyen (1888–1935),25 an den Be21 22 23 24 25

Thiele 1929, 232. Vgl. etwa Ziehen 1912, 20f.; Thiele 1929, 223; Kramer; von der Leyen 1934, 305–422. Kölch 2002, 19. Ziehen 1912, 4, 8, 11. Ruth von der Leyen hatte 1913 eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Wohlfahrtspflegerin an der Sozialen Frauenschule in Berlin absolviert. Im Anschluss übernahm sie die Leitung der Abteilung

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dürfnissen des einzelnen Kindes, an seinen Fähigkeiten und Ressourcen zu verdeutlichen und zu würdigen.

1. Ein „Kerl, dem alles glücke“ – Otto Der 1912 im Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg geborene Otto war Sohn eines Schlachters; seine Mutter starb kurz nach der Geburt. Das Kind wurde zunächst von der Großmutter versorgt, knapp einjährig in ein Waisenhaus und schließlich bis zu seinem dritten Lebensjahr in Pflege gegeben. Schon in dieser Zeit war Otto, wie es anamnestisch heißt, durch „Gefräßigkeit“, Unsauberkeit und „Zappeligkeit“ aufgefallen.26 Die Pflegemutter hatte ihn daher gewöhnlich am Stuhl festgebunden, wenn sie die Wohnung verließ, von einer Adoption nahm sie Abstand. Als sich der Vater 1915 erneut verheiratete, kehrte Otto in die Familie zurück, zu der jetzt auch ältere Schwestern und ein Bruder gehörten. Mit acht Jahren fiel der Junge in der Schule wegen „maßloser Ungezogenheit“ und Gleichgültigkeit „gegen alle Ermahnungen und Belehrungen“ auf. Der Schularzt verwies die Stiefmutter an den Psychiater Ewald Stier (1874–1962),27 dessen knappes Gutachten Otto als „degenerativen Psychopathen (schmutzig, schadenfroh, roh, homosexuell)“ mit „schwerster Belastung“ auswies. 28 Die Charakteristika der Psychopathie des sogenannten brutal-egoistischen Typs waren von Stier erstmals beschrieben worden und umfassten u.a. Brutalität und Rücksichtslosigkeit, Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz und Strafen, Selbstbezogenheit und sexuelle Frühreife.29 Da Stier Fürsorgeerziehung für unerlässlich ansah,30 wandte sich der Schulrektor an das Jugendamt, das

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Jugendgerichtshilfe der DZJ. Diese Tätigkeit begründete ihr Interesse für die Probleme jugendlicher Kriminalität. 1917 war sie Geschäftsführerin der DVJJ und der 1919 gegründeten Unterkommission „Jugendgericht und Arzt“. 1918 gründete sie gemeinsam mit Kramer und anderen den DVFjP, dessen Geschäftsführerin sie bis zu ihrem Tod 1935 war. Ab 1923 war sie Mitherausgeberin und Schriftleiterin der Zeitschrift für Kinderforschung. Die Gründung der KBS 1921 ging auf ihre Initiative zurück. Zu von der Leyen vgl. Berger 1999, 11; Kramer 1935, 307; Die Frau 1935/36, 113f. HPAC, KBS 20, Otto W., Angaben der Stiefmutter vom 10.06.1921, o.Bl. Ewald Stier war ab 1910 als Assistenzarzt und 1912 als Stabsarzt an der Poliklinik für Nervenkranke der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité tätig (Charité-Annalen 1910, Verwaltungsbericht, 9; Laehr 1912, 12). 1917 habilitierte er. Schon vor Beginn des Ersten Weltkrieges engagierte sich Stier in der Psychopathenfürsorge der DZJ. Von 1913 bis 1923 hatte er die psychiatrische Aufsicht über das DZJ-eigene Heilerziehungsheim für „psychopathische Knaben bis zu 14 Jahren” in Templin. Das Heim wurde 1918 vom DVFjP übernommen und ging 1921 in Trägerschaft der Stadt Berlin über. Noch 1938 war Stier als Beisitzer im Vorstand des DVFjP aktiv (LAB, Pr. Br. Rep. 030-04 Polizeipräsidium Berlin – Vereine Nr. 540, Bl. 8). HPAC, KBS 20, Otto W., heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 498, Schreiben vom 26.01.1921, o.Bl. Stier 1913, 421. Die Fürsorgeerziehung war eine Maßnahme der öffentlichen Zwangserziehung, die ergriffen werden

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seinerseits Kontakt mit der Beratungsstelle des ‚Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen‘ aufnahm, einer 1918 gegründeten privaten Fürsorgeinitiative unter Leitung Ruth von der Leyens. Von dieser Schaltstelle aus wurde die bis in das Jahr 1935 andauernde Betreuung des Jungen gelenkt. Ausgangspunkt war im Sommer 1921 ein knapp dreimonatiger Aufenthalt Ottos auf der im März d.J. eingerichteten Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité unter Leitung von Franz Kramer. Er veranlasste die Aufnahme, nachdem er Otto bei einer poliklinischen Untersuchung vorläufig als „brutal-egoistischen Psychopathen“ diagnostiziert hatte.31 Diese Zuordnung korrespondiert in augenfälliger Weise mit den plastischen Beschreibungen der Stiefmutter, wonach Otto sich beim Essen gierig zeigte, Tiere quälte, mitleidlos sowie bereits geschlechtlich interessiert war.32 Kramer, der diese Form der Psychopathie eher auf umwelt- denn auf anlagebedingte Faktoren zurückführte, war trotz allem optimistisch hinsichtlich der Einwirkungsmöglichkeiten auf Otto: Tatsächlich beobachten wir das geschilderte Verhalten ganz vorwiegend bei Kindern, die, vor allem in den ersten Lebensjahren, unter ungünstigen Milieubedingungen aufgewachsen sind. Zumeist sind es uneheliche Kinder, solche, die in wechselnden Pflegestellen untergebracht waren. Werden diese Kinder rechtzeitig unter günstige Erziehungsbedingungen gebracht, so verändert sich ihr Verhalten meist in grundlegender Weise (…).33

Mit der Aufnahme Ottos auf die KBS folgte Kramer einem Procedere, das sich im Rahmen der bereits seit 1907 bestehenden Berliner Praxis der Zusammenarbeit von Psychiatrie und Jugendfürsorge herausgebildet hatte: Es sah die stationäre Beobachtung vor, wenn eine poliklinische Vorstellung und Untersuchung für die „Beratung und Erziehung (…) unter heilpädagogischen Gesichtspunkten im Wege der offenen, halboffenen und geschlossenen Fürsorge“34 nicht ausreichte. Der Aufenthalt auf der auch als „Beobachtungsheim“ bezeichneten Station der Charité, einer Einrichtung des DVFjP, die in Kooperation mit der Psychiatrischen und Nervenklinik geführt wurde,35 sollte klären, „inwieweit ein solcher Junge in günstigerer Um-

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sollte, wenn die elterliche Gewalt missbraucht wurde oder der Vormund versagte. Seit 1900 (BGB) war die Fürsorgeerziehung nicht mehr unmittelbar an das Begehen einer Straftat gebunden, sondern konnte „zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens“ auch präventiv angeordnet werden (vgl. Blumenthal 1930, 231). Vgl. Kramer 1930, 582. HPAC, KBS 20, Otto W., Angaben der Stiefmutter vom 10.06.1921, o.Bl. Kramer 1928, 582. Kramer 1928, 350 und 351f. Von der Leyen 1928, 476f. Vgl. auch HPAC, KBS 7, Annemarie S., heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 360. Lotte Nohl schreibt am 24. Januar 1921 an die Mutter des Kindes: „In der Charité wird jetzt ein Beobachtungsheim für unsere Kinder eingerichtet.“

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gebung die Schwierigkeiten weiter macht, über die bisher geklagt worden sind (sic!).“36 In enger Zusammenarbeit zwischen der psychiatrisch-klinischen Station und dem DVFjP, im interdisziplinären Austausch von Psychiatrie und Heilpädagogik, erfolgte eine knapp dreimonatige Beobachtung als Voraussetzung für die „diagnostischen Feststellungen und [die] Erprobung des zweckmäßigen therapeutischen und heilpädagogischen Weges.“37 Die klinische Diagnose des Stationsarztes Rudolf Thiele (1888–1960)38 wich im Falle Ottos schließlich deutlich von der ursprünglichen Beurteilung ab: „Die Beobachtung ergab an psychopathischen Zügen vor allem gesteigerte Reizbarkeit, Lebhaftigkeit und Überempfindlichkeit.“39 Für die „sexuellen Handlungen“ fanden sich auf der Station keinerlei Anhaltspunkte. Vergleicht man die ärztliche Diagnose und die in der Akte abgelegten „Berichte der Erzieherin“, so wird deutlich, dass Thiele sich an den Beobachtungen der Jugendleiterin des DVFjP orientierte, die „dem Arzt das für eine Diagnose unerlässliche Beobachtungsmaterial über das Verhalten der Kinder“ lieferte: „Sie schafft die pädagogische Atmosphäre, innerhalb der sich insbesondere die psychopathischen Kinder freier als in der Krankenhausatmosphäre entwickeln, und dadurch sicherer beurteilt werden können.“40 Demnach zeigte sich der Junge auf der Station empfindsam und litt darunter, „wenn die andern Kinder nicht nett mit ihm sind (…). Mit den Kleinen ist er behutsam und zart, sie mögen ihn gern und er hat Freude an ihnen.“41

36 HPAC, KBS 20, Otto W., heilpädagogische Einzelfallakte, Ps.V. 498, Bericht des DVFjP [von der Leyen] vom 19.08.1921 an das Landesarbeitsamt Berlin, o.Bl. 37 Kramer 1928, 352. 38 �������������������������������������������������������������������������������������������� Prof. Dr. phil. Dr. med. Rudolf Thiele wurde mit seiner Approbation im November 1920 als außerplanmäßiger Assistenzarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité eingestellt. Als Stationsarzt übernahm er von März 1921 bis 1929/30 die Leitung der KBS. Auf Anregung Bonhoeffers habilitierte Thiele sich mit einer Arbeit zur Encephalitis epidemica, in die seine dort gemachten Erfahrungen und Untersuchungen einflossen (Thiele 1926). 1924 übernahm er die „ständige psychiatrische Beratung und Aufsicht“ über das Heilerziehungs- und heilpädagogische Erholungsheim des DVFjP Schloß Ketschendorf bei Fürstenwalde an der Spree (von der Leyen 1927, 323). 1927 dehnte sich seine Tätigkeit auf das Lehrlingsheim für schwererziehbare schulentlassene Mädchen des DVFjP aus (von der Leyen, Marcuse 1928, 476). Zum 17.02.1933 wechselte Thiele als Oberarzt in die Wittenauer Heilstätten der Stadt Berlin, 1935 übernahm er die ärztliche Leitung der Städtischen Heilanstalt Herzberge. In den Jahren 1949 bis 1957 war er selbst Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité (vgl. UAHUB, UK-Personalia-T-32). 39 HPAC, KBS 20, Otto W., Eintrag vom 20.08.1921 [Thiele], o.Bl. 40 Barch, R 4901, Nr. 1355, Bl. 357. 41 ������������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, KBS 20, Otto W., II. Bericht ���������������������������������������������������������������������� der Jugendleiterin [Lotte Nohl], Eintrag vom 9.8.1921, im Original hervorgehoben, o.Bl.

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Abb. 4.2: Bericht der Jugendleiterin, 1921

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Die Beobachtung der Heilpädagoginnen zeigte, dass „seine Empfindsamkeit, seine körperliche und geistige Undiszipliniertheit, sein Sichgehenlassen“ in seiner Konstitution begründet lagen.42 Im September 1921 wurde Otto aus der KBS entlassen, doch blieb er unter Aufsicht des DVFjP, dessen heilpädagogisches Konzept darauf abzielte, die Kinder und Jugendlichen dauerhaft zu befähigen, „die Schwierigkeiten, die ihnen ihre Anlage bereitet, zu erkennen und zu lernen, diese Schwierigkeiten so weit zu überwinden, daß sie ihren Lebensweg nicht stören.“43 Nicht „Heilung“ im Sinne der Elimination von Krankheitssymptomen lag dem zugrunde, vielmehr ging es darum, „psychopathische“ Kinder und Jugendliche im Sinne einer Ermächtigung zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen: Wir suchen in der Erziehung des psychopathischen Kindes nicht mehr ausschließlich nach seinen Wertmöglichkeiten um der Allgemeinheit willen, sondern wir suchen nach den Glücksmöglichkeiten des Einzelnen. Wir haben als Hauptziel nicht mehr das der Fürsorge: ‚nützliches Glied der Gesellschaft‘, sondern wir haben das Ziel der Erziehung: Erwecken und Befreien der vorhandenen Kräfte zur Benutzung für die Entfaltung des eigenen Lebens.44

Die praktische Durchführung der Begleitung Ottos und seiner Familie oblag der Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP und wurde in Form einer ländlichen „Erholungsfürsorge“ fortgesetzt. Das Konzept befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem Versuchsstadium45 und basierte auf dem die gesamte Arbeit bestimmenden Topos „schädigender Einflüsse des Lebensraums Großstadt“ auf Kinder und Jugendliche. Die Großstadt, so die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge bereits 1910, verdoppele die Gefahren für die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung des Kindes:46 Wohnungselend, Ernährungsmängel, Schmutz – in der weiteren Bedeutung auch „Schmutz und Schund“ – und uneheliche Geburt wurden dafür verantwortlich gemacht, dass die überwiegende Mehrzahl verwahrloster Kinder sich aus der (groß-)städtischen Bevölkerung rekrutierte.47 Die Schlussfolgerung für die entstehende Jugendfürsorge um die Jahrhundertwende hatte damit klar auf der Hand gelegen:

42 HPAC, KBS 20, Otto W., heilpädagogische Einzelfallakte, Ps.V. 498, Bericht des DVFjP [von der Leyen] vom 19.08.1921 an das Landesarbeitsamt Berlin, o.Bl. 43 Von der Leyen 1925, 47. 44 Von der Leyen 1929, 152, Hervorhebung im Original. 45 Vgl. dazu von der Leyen 1927, 94–109. 46 Barch R 3001, Nr. 6082, Bl. 81f., Druckschrift: Leitsätze für die Konferenz der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge am 16.2.1910 zum Thema: Wie sorgen wir für die aufsichtslose Schuljugend in der schulfreien Zeit? 47 Kurt Schneider zit. n. Lemke 1928, 371.

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Wenn wir das entsetzliche sittliche Elend verfolgen, das in den Großstädten mit der Massenanhäufung der Bevölkerung durch die Mischung der Geschlechter, der Kinder und Erwachsenen, der Anlieger und Schlafburschen entsteht, dann befinden wir uns vor dem allergrößten Schaden unserer Zeit, und ihn zu beheben, muß unsere allergrößte Aufgabe sein.48

Zur Ausschaltung der negativen Milieufaktoren und als „gesunde“ Alternative zum Leben auf der Straße galt die „Verpflanzung“ der Großstadtjugend in eine ländliche Umgebung als angezeigte Maßnahme. Die Auswahl geeigneter Stellen zur Unterbringung schulpflichtiger Jungen „auf dem Lande zu leichtester ländlicher oder häuslicher Beschäftigung“ erfolgte in der Regel in Absprache mit den Fürsorgerinnen der jeweiligen Kreis- bzw. Landesarbeitsämter.49 Auch der 8-jährige (!) Otto wurde in einer Landpflegestelle untergebracht, von der man erwartete, dass er dort „ausgefüllt beschäftigt und zur Arbeit angehalten wird, wo man aber nicht ungeduldig wird und versteht ihn zu nehmen“.50 In seinem Fall scheiterte diese Maßnahme allerdings kläglich: Der zum Pfleger bestellte Landwirt genügte den Anforderungen in keiner Weise, und der Junge kehrte ausgezehrt sowie unter Erfrierungen und Krätze leidend vorzeitig in seine Familie zurück. Die Eltern, die sowohl für die Kosten des dreimonatigen Charité-Aufenthaltes hatten aufkommen müssen als auch Pflegegeld für die Unterbringung auf dem Lande entrichteten, beschwerten sich bei Ruth von der Leyen: „Für diese Qual und die Arbeit, die der Junge hat machen müssen, sollen wir nun noch schweres Geld zahlen, das ist doch unverlangbar.“51 Von der Leyen nahm sich zwar der Beschwerde an, hielt die Rücknahme des Jungen aus der Pflegestelle aber offenbar für nicht gerechtfertigt; vielmehr bemühte sie sich, der Stiefmutter „die Verantwortung klar zu machen, den Jungen aus den Verhältnissen herauszunehmen und wieder in die Grossstadt zu reissen.“52 Eine weitere Unterbringung erübrigte sich in Ottos Fall, da die Erziehungsschwierigkeiten spürbar nachließen. Die Stiefmutter führte das auf die einschneidende Erfahrung „fern von zu Hause“ zurück: „Es ist ihm jetzt erst klar geworden ‚am schönsten ist’s bei Muttern‘“.53 Um 48 Barch R 3001, Nr. 6082, Bl. 193, Druckschrift: Fuchs-Tübingen, Tätigkeitsbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge für 1911: 13.12.1911 Konferenz des Berliner Ausschusses „Die Gefahren des Berliner Straßenlebens für unsere Jugend“, 33. 49 Von der Leyen 1923, 42. 50 HPAC, KBS 20, Otto W., II. Bericht der Jugendleiterin, Eintrag vom 9.8.1921. 51 Ebd., heilpädagogische Einzelfallakte, PS.V. 498, Schreiben [des Vaters] vom 24.11.1921 an R. von der Leyen, o.Bl. 52 Ebd., vereinsinterner Bericht von Lotte Nohl, datiert vom 29.11.1921, o.Bl. 53 Ebd., handschriftlicher Bericht von Hilde Classe, betr. die „Ermittlung“ vom 1.12.1921, o.Bl.

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Abb. 4.3: Schreiben des Vaters von Otto W. an Ruth von der Leyen, 1921

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die schulischen Versäumnisse einzuholen, unterstützte der DVFjP ihre Überlegung, Otto eine Klasse wiederholen zu lassen. Obwohl der medizinisch-psychiatrische Zugriff mit der Diagnosestellung und Entlassung Ottos aus der KBS beendet war, und auch die konkrete heilpädagogische Einwirkung mit dem fatalen Landaufenthalt als abgeschlossen gelten konnte, bestellte der Verein den Jungen noch über mehrere Jahre regelmäßig in die Beratungsstelle des DVFjP ein und blieb auch „in engster Verbindung“ mit der Familie; wiederholt kam es zu Hausbesuchen. Die Eltern reagierten auf diese fürsorgliche Belagerung seitens des Vereins, die im Übrigen ausführlich dokumentiert wurde, zunächst beflissen, dann jedoch zunehmend unwillig und ablehnend. 1926 brachte der Vater den 14-jährigen in einer Lehrstelle als Fleischer unter; die Ausbildung beendete er – nicht ganz ohne Schwierigkeiten – im Oktober 1929, verdiente sein Geld in den folgenden Jahren jedoch in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen, „bummelt[e]“ auch zu Hause herum, bis sein Vater ihn schließlich bei der Schutzpolizei in Brandenburg unterbringen konnte. Ottos ausgeprägtester Charakterzug, gab der Vater im Rahmen des letzten dokumentierten Hausbesuches im Mai 1932 – und mehr als 10 Jahre nach dem ersten Kontakt – gegenüber dem Jugendleiter Martin Winter an,54 wäre eine optimistische Leichtsinnigkeit:55 „Er wäre ein Kerl, dem alles glücke, der nie etwas richtig ernst nehme.“56 Die heilpädagogische Einzelfallakte endet im Juli 1935, Otto war inzwischen 23 Jahre alt, erst zu diesem Zeitpunkt galt der Fall für den DVFjP als „erl.[edigt]“.57 An der Fallgeschichte Ottos lässt sich der Umgang mit deviantem kindlichen Verhalten von ersten „Auffälligkeiten“ bis hin zur (Rück-)Überführung in die „Normalität“ nachzeichnen. Ausweislich der Aufzeichnungen in der Akte dürften als Ursache der Störungen vor allem die familiären Umstände gegolten haben. Die Einschätzung Ruth von der Leyens hinsichtlich der familiären Schwierigkeiten tritt insofern besonders hervor, als sie an dem Instrument des Landaufenthalts – also der Herausnahme aus der Familie – festhielt, obwohl Otto in der ungeeigneten Pflegestelle erkennbar Schaden genommen hatte. Der intensive und über

54 Lebensdaten unbekannt; Martin Winter war der einzige männliche Jugendfürsorger des DVFjP und vermutlich ab 1927 mit der Einführung der staatlichen Anerkennung für männliche Wohlfahrtspfleger nach dem Erlass des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 4. April 1927 in der Beratungsstelle für Heilerziehung als pädagogischer Mitarbeiter tätig. In Kooperation mit Ruth von der Leyen betreute er vorwiegend die schulpflichtigen Jungen und schulentlassenen männlichen Jugendlichen. Im Rahmen der Spielnachmittage leitete er u.a. mehrere Klubs, die sich explizit an Jungen richteten (von der Leyen 1931, 638, 651). Zur Öffnung des Berufes für Männer vgl. Paulini 2007, 78. 55 HPAC, KBS 20, Otto W., heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 498, Bericht über den Hausbesuch vom 25.05.1932, 1 (RS). 56 Ebd. 57 Ebd., Vermerk auf dem Akteneinband.

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Abb. 4.4: Bericht über den letzten Hausbesuch (Auszug), 1932

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lange Jahre gepflegte Kontakt des DVFjP ist im Übrigen Indiz dafür, dass sich die heilpädagogische Beeinflussung nicht allein auf das „psychopathische Kind“ bezog, sondern kontrollierend auch auf die Familie ausdehnte. Auf die „friendly visitors“ reagierte die Familie schließlich unwillig.58 Die Bewegung aus dem Schwellenraum der „Psychopathie“ hin zu einer als flexibel verstandenen „Normalität“ als Folge der natürlichen Entwicklung Ottos scheint hier, unterstützt durch die Eltern, innerhalb der angesprochenen „Breite des Normalen“ verlaufen zu sein. Der Fall kann so auch als Beispiel für die Ambivalenz heilpädagogischen Wirkens gelten, das „zur Entwicklung therapeutischer Überlegungen und Maßnahmen ebenso bei[trug], wie zur Pathologisierung kindlichen Verhaltens.“59

2. „… das Richtige für sie treffen“ – Elisabeth Während sich im Fall Ottos, eines kindlichen „Psychopathen“, die vorbeugende Fürsorge im Sinne der Jugendhilfe als ausreichend herausstellte, um die weitere Entwicklung günstig zu beeinflussen, wurden im Fall Elisabeths, einer jugendlichen „Psychopathin“, einschneidende Maßnahmen der heilenden Fürsorge (Schutzaufsicht, Fürsorgeerziehung und Jugendgerichtshilfe) ergriffen, um ein weiteres Abgleiten des gefährdeten und auffällig gewordenen Mädchens in Kriminalität und Verwahrlosung zu verhüten.60 Elisabeth wurde 1904 als drittes Kind eines Friseurs und dessen Ehefrau in Berlin-Neukölln geboren.61 Bereits während der Schulzeit beging sie – geduldet, vielleicht auch angestiftet vom Vater – kleinere Diebstähle: Sie habe das [gestohlene, d. Verf.] Geld nur zum Teil für sich verwandt, das übrige dem Vater gegeben, der es annahm. Die Mutter habe auch davon gewußt und stets gewarnt; ‚sei aber doch froh gewesen, wenn sie ihr das Geld gebracht habe‘. Sie sei dann alle Tage auf Taschendiebstähle ausgegangen.62

58 Zit. nach Lindner 2004, 47. 59 Kölch 2002, 217. 60 Zum gestuften Modell der Berliner Fürsorge für „geistig abnorme Kinder und Jugendliche“ vgl.: Fünf Jahre Landesjugendamt Berlin; 1925–1930, o.J. [1930], 21ff. 61 Zu Elisabeth konnten folgende Quellen ausgewertet werden: die Einzelfallakte des DVFjP, die in zwei Bänden vorliegt (HPAC, Einzelfallakten des DVFjP, Ps.V. 800, Elisabeth S., Bd. 1: 1921–1926 und Bd. 2: 1926–1935); des Weiteren wurde die Fallgeschichte von Franz Kramer 1927 publiziert, wobei er sowohl auf den heutigen Bd. 1 der DVFjP-Akte als auch auf – bislang verschollene – Akten der Jugendgerichtshilfe und Krankenakten über zwei Aufenthalte Elisabeths auf der KBS zurückgreifen konnte (Kramer 1927, Fall Erna A., 50–64). 62 Kramer 1927, 53 (zit. aus der Krankenakte, Eintrag v. 18.1.1922).

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Abb. 4.5 und 4.6: Elisabeth, Konfirmationsbild, 20. März 1919 und Ehepaar S. [1930]

Die fortgesetzte Kleinkriminalität führte zur Einweisung Elisabeths in eine Fürsorge­ erziehungsanstalt;63 der Versuch, sie nach Abschluss der Volksschule als Hausmädchen „auf dem Lande“ unterzubringen, schlug wegen erneuter Diebstähle fehl.64 In ihrem 15. Lebensjahr, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kam Elisabeth dann erstmals mit der Berliner Jugendgerichtshilfe in Berührung, ihre Betreuerin war Ruth von der Leyen.65

63 Kramer 1927, 52. 64 Ebd. 65 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. Die Berliner Jugendgerichtshilfe war 1908 von der DZJ zur Unterstützung der neu entstandenen Jugendgerichte gegründet worden. Sie vermittelte zwischen den Gerichten und den Vereinen und Organisationen, die so genannte Helfer/innen stellten. Die Jugendgerichtshelfer/innen ermittelten für den zuständigen Richter die Lebensumstände der Angeklagten, beobachteten die Hauptverhandlung, bei der sie sich auch als Wahlverteidiger/innen melden konnten und übernahmen im Anschluss die Betreuung (Schutzaufsicht) der Jugendlichen (Reinecke 2008, 2). Zur Jugendgerichtsbewegung siehe auch: Fritsch 1999; Kraft 2004 sowie Pieplow 2000.

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Die Sozialpädagogin traf auf schwierige Familienverhältnisse: Elisabeths Mutter arbeitete als Reinemachefrau, ihr Vater bezog eine Invalidenrente und verdiente als „Musiker auf Tanzböden“ etwas dazu, eine Tätigkeit, bei der ihn Elisabeth oft begleitete.66 Ruth von der Leyen sah in dem Vater die wesentliche Ursache für die kriminelle Auffälligkeit Elisabeths, zumal dieser das Mädchen offenbar sexuell missbrauchte: Dem aufnehmenden Arzt in der KBS berichtete Elisabeth, der Vater habe wiederholt sexuelle Attacken auf sie unternommen […]. Wenn er im Bett gelegen, habe er sie aufgefordert, zu ihm ins Bett zu kommen oder ‚ihm dran zu spielen‘. […] Der Vater habe sie sehr gebeten, aber nicht bedroht, habe öfter gesagt, ‚er könne doch nicht dafür, das sei bei ihm krankhaft‘. […] Die Äußerungen über ihren Vater kosten sie starke Überwindung.67

In ähnlicher Weise nimmt von der Leyen auf dieses Geschehen Bezug. Der Vater habe dem Mädchen, „wie sie 14 Jahre alt war, unsittliche Anträge gestellt … und damit wohl ihr gesamtes Triebleben stark und frühzeitig erweckt“.68 Wegen fortgesetzter Diebereien wurde Elisabeth zu Gefängnisstrafen verurteilt, für die zunächst zwar noch Strafaufschub gewährt wurde,69 doch beschloss Ruth von der Leyen durch die „Herausnahme“ – so der zeittypische Begriff der Jugendfürsorge – ihres Schützlings aus der Familie der weiteren Entwicklung eine neue Richtung zu geben.70 Im Oktober 1920 wurde sie in das Mädchenheim Charlottenburg des Vereins Jugendheim unter der Leitung der Sozialpädagogin Anna von Gierke (1874–1943) aufgenommen und besuchte dort eine Fortbildungsklasse.71 Man stellte sie unter besondere Aufsicht und „bewußte erzieherische Einwirkung“ einer Mitarbeiterin des Heims.72 Von einer krankhaften Grundlage ih66 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Der Vater war auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Vgl. HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, DVFjP an Bezirksamt Mitte, Abt. Jugendgerichtshilfe, 5.4.1922, o.Bl. 67 Kramer 1927, 54 (zit. aus der Krankenakte, Eintrag vom 18.01.1922). 68 �������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. Vgl. auch ebenda: von der Leyen an Erna Schmidt (Hauptwohlfahrtsstelle Königsberg/Preußen), 27.1.1922, o.Bl. 69 Kramer 1927, 50f. (zit. aus Akten der Jugendgerichtshilfe). Mit der Einführung speziell für jugendliche Straftäter zuständiger Gerichte wurde auch die Forderung der Jugendgerichtsbewegung nach einer milderen Urteilspraxis gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht berücksichtigt, die mit dem Entwicklungspotential jugendlicher Delinquenten begründet wurde. Dazu gehörte auch die Möglichkeit der „bedingten Begnadigung“, d.h. des Aufschubs verhängter (Gefängnis-) Strafen, zum Zweck der Bewährung (vgl. Müller 1930, 362). 70 „Elisabeth kam, nachdem ich einmal die Ungünstigkeit der häuslichen Verhältnisse festgestellt hatte, als Schülerin in das Jugendheim von Anna von Gierke“ (HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann [Nordhausen], 18.2.1922, o.Bl.). 71 Hohenbild 1990. Zum Jugendheim Charlottenburg vgl. auch Allen 2000, 300–304. 72 �������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nord-

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res Fehlverhaltens war zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede; Elisabeth befand sich noch im Bereich „normalen“, nicht-pathologischen Verhaltens und sollte durch das Erlernen eines Berufes auf den Eintritt in die Welt der Erwachsenen vorbereitet werden.73 Ein Vorhaben freilich, bei dem Rückschläge nicht ausblieben: Sie stahl erneut und „kaufte sich für das Geld Näschereien“.74 Die ausdrückliche Erwähnung des Verwendungszwecks zeigt, dass ihr Verhalten wiederum als Ausdruck fehlender Reife gewertet wurde. In ihrem Strafregister hatten sich inzwischen fünf Monate Gefängnis angesammelt, deren Vollstreckung Ruth von der Leyen nunmehr beantragte, da man „Elisabeth die Folgen ihrer Verfehlung vor Augen führen müsste.“75 Im Normalitätskonzept der Sozialpädagogin spielte die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln eine wesentliche Rolle; und solange die Jugendliche, bezogen auf ihre „geistige Konstitution“, die Grenze des (medizinisch) „Normalen“ noch nicht überschritten hatte, hatte sie mit Bestrafung zu rechnen. Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe kam Elisabeth im September 1922 als Lehrmädchen für den Beruf der Kinderpflegerin76 in das bei Königsberg/Pr. gelegene Kinderheim Blumenau.77 Sie sollte „dauernd unter pädagogischer Leitung“ stehen,78 zugleich wollte von der Leyen das Mädchen aus der Großstadt entfernen und dem Einfluss „geheimer Miterzieher“79 entziehen: „Elisabeth weiß auch, dass in ihrem Grossstadtkindsein, in ihrer Freude am Tanzen, am Lustigsein, eine Gefahr für sie liegt, und tatsächlich halte ich sie auch in sittlicher Beziehung nicht für ganz ungefährdet.“80 hausen), 18.2.1922, o.Bl.; ebenda, Bd. 2, von der Leyen an das Amtsgericht Berlin-Mitte, 24.10.1931; Kramer 1927, 51 (Zitat). 73 Die von der bürgerlichen Frauenbewegung angestrebte (materiell) selbständige Existenz von Frauen war nur durch berufliche Qualifikation zu realisieren, insofern war die Berufsausbildung von Frauen zentral für das Erreichen der Gleichberechtigung; die Ausbildung in Haushaltsberufen und in der Pflege und Erziehung von Kindern war gleichzeitig aber auch eine Vorbereitung auf die Ehe. Vgl. z.B. Frevert 1986; Nave-Herz 1997. 74 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl., ebenso Kramer 1927, 51. Nasch- und Genusssucht wurden zeitgenössisch auch als Zeichen der erhöhten Triebhaftigkeit verwahrloster Kinder und Jugendlicher gedeutet, die neben Stehlen, Lügenhaftigkeit und Heuchelei insbesondere bei Mädchen mit Beginn der Pubertät zu Prostitution führe (vgl. Voigtländer 1922, 6, Schmidt 2002, 112). 75 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. 76 Zu den differenzierten Berufsausbildungsmöglichkeiten für Mädchen vgl. Herrmann 1930, 88. 77 Kramer 1927, 51. 78 Ebd. 79 Loewenberg 1906. 80 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl.

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Der Aufenthalt auf dem Land, das Ideal einer vorindustriellen Lebensweise war dabei „die regulative Idee“ zahlreicher zeitgenössischer Erziehungsmodelle, mit denen einer „Gefährdung und Verwahrlosung“ durch die urbane, industriell geprägte Gesellschaft begegnet werden sollte.81 Für eine Deutung der Schwierigkeiten Elisabeths in medizinischer Hinsicht finden sich weiterhin keine Hinweise. Erst ein Ereignis, das den Aufenthalt in Blumenau abrupt beendete, veränderte die Beurteilung ihres Verhaltens grundlegend. Nach einer Auseinandersetzung mit der Fürsorgerin beging Elisabeth einen Suizidversuch und überschritt damit die Schwelle von „normalem“ zu „krankhaftem“ Verhalten.82 Selbstmorde bzw. Selbstmordversuche von Kindern und Jugendlichen waren in der zeitgenössischen Wahrnehmung eng mit dem Komplex „Geisteskrankheit“ verbunden. Sowohl grundlegende medizinische Arbeiten zur Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters als auch Publikationen, die sich an ein breiteres Publikum richteten, stellten diesen Zusammenhang her.83 Markiert wird der grundlegende Wandel durch die Aufnahme des Mädchens auf die Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité am 14. Januar 1922. Er spiegelt sich aber auch regulativ innerhalb der Fürsorge wider: Die Jugendgerichtshilfe gab den „Fall“ an den DVFjP ab, Elisabeth wurde von einer „verwahrlosten“ zu einer „psychopathischen“ Jugendlichen, die juristisch zu beurteilende Delinquenz trat hinter der psychiatrisch zu betrachtenden Devianz zurück. Das „Psychopathie“-Konzept bot die Möglichkeit, anlagebedingte Fehlfunktionen des Gehirns als Ursachen für abweichendes Verhalten und Erziehungsprobleme in Betracht zu ziehen, die zu ermitteln originäre Aufgabe der Medizin war. Der Aufenthalt Elisabeths auf der KBS zur Feststellung solcher pathologischen Ursachen war demnach für von der Leyen ein logischer Schritt, der durch die institutionelle Verbindung zur Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité leicht zu arrangieren war. Bezeichnenderweise verschob sich im Zuge des Klinikaufenthalts der Fokus der Aufmerksamkeit der Fürsorgerinnen – neben von der Leyen war auch ihre Kollegin Charlotte Nohl (1893–?)84 81 Gräser 1995, 129. 82 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. Vgl. auch Kramer 1921, 1. 83 „Völlig normale Fälle von Kinderselbstmorden sind jedenfalls selten. In den meisten der als normal betrachteten Fälle liegt wenigstens die Mitwirkung einer psychopathischen Konstitution oder einer Debilität vor.“ (Ziehen 1917, (Zitat) 244; vgl. auch 240, Aufstellung psychiatrischer und statistischer Arbeiten, die sich mit Kinderselbstmorden beschäftigen). Vgl. ebenfalls Strohmayer 1910, 38, 114, 225, 280; Scholz 1911, 181–227; Scholz 1912, 306–321; Klieneberger 1914, 26f. 84 Die Hortleiterin Charlotte Nohl war die ältere Schwester der Kindergärtnerin, Jugendleiterin und Begründerin des Schulkindergartens, Hildegard Marie Nohl (1895–1992) und die Halbschwester des Pädagogen und Philosophen Hermann Nohl (1879–1960) (Berger o.J., letzter Zugriff: 8.12.11). Mit den sogenannten Spielnachmittagen leitete Lotte Nohl die erste Einrichtung der halboffenen

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eingebunden – auf die starken Stimmungsschwankungen Elisabeths.85 Die Nicht-Ärztinnen von der Leyen und Nohl hielten diese Erscheinungen für manisch-depressive Episoden und verorteten Elisabeth damit innerhalb des diagnostischen Spektrums Psychopathie noch näher an der Grenze zur Geisteskrankheit als die beteiligten Mediziner. Denn Karl Bonhoeffer, der das Mädchen in einer klinischen Demonstration vorstellte,86 Rudolf Thiele, der als Stationsarzt der KBS für die Begutachtung Elisabeths verantwortlich war,87 und später auch Franz Kramer, der die Einschätzungen seiner Kollegen uneingeschränkt wiedergab,88 sahen in Elisabeth vorrangig eine „haltlose Psychopathin“, für deren „sehr häufig vorkommende Verstimmungszustände … sich fast stets ein äußerer, erlebnismäßiger Grund (also eine exogene Ursache, d. Verf.) wahrscheinlich machen“ ließ. Sie bezweifelten den endogenen Charakter ihrer Verstimmungen und lokalisierten ihren Zustand näher am Bereich des „Normalen“. Trotz dieser unterschiedlichen Einschätzungen kamen Pädagoginnen wie Ärzte zu einer positiven Prognose für Elisabeth. Dabei schien der Fokus der Mediziner stärker auf der Annahme einer quasi von selbst verlaufenden, bio-sozialen Reifung zu liegen,89 während die Strategie der DVFjP-Vertreterinnen sich mehr auf eine gezielte pädagogische Einflussnahme richtete, um Elisabeths Stärken zu fördern, und sie zu befähigen, mit ihren Schwächen umzugehen.90 Bezeichnend ist ein Aktenvermerk Ruth von der Leyens aus der Zeit von Elisabeths

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Fürsorge des DVFjP. Seit dem 1. Juni 1919 war sie als pädagogische Referentin des Vereins tätig und führte zugleich dessen Heilerziehungsheime (von der Leyen 1931, 636). Ihre Tätigkeit auf der KBS ist in zahlreichen Berichten der Erzieherin in den Krankenakten dokumentiert. 1934 fungierte Lotte Nohl als stellvertretende Vorsitzende des von Ruth von der Leyen gegründeten Vereins für Heilerziehung, zugleich führte sie ein kleines Heilerziehungsheim für maximal fünf Kinder in Berlin-Marienfelde. Sie war Mitglied in einer Reihe von Organisationen der NSDAP und noch 1938 stellvertretende Vorsitzende und Schriftführerin des DVFjP (LAB, Pr. Br. Rep. 030-04, Nr. 540, Bl. 8). Vgl. HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte, Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl.; ebd., Nohl an Kurt Isemann (Nordhausen), 26.2.1922, o.Bl. Wir danken Alexander Friedland für den Hinweis, dass im Rahmen von klinischen Demonstrationen die jeweiligen Fälle wahrscheinlich von Bonhoeffer selbst vorgestellt wurden. Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Alexander Friedland und Rainer Herrn in diesem Band. Entsprechend lässt sich auch von der Leyens Aussage interpretieren, „Herr Geheimrat Bonhoeffer hält Elisabeth für …“ (HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl.). Vgl. HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, Elisabeth an von der Leyen am 10.4.1922, o.Bl. Kramer 1927, 55f. (zit. aus der Krankenakte, Eintrag v. 8.2.1922). Ebd. HPAC, Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl.: „… was mir das soviel Wichtigere ist, …: dass Elisabeth sehr genau weiß, wo ihre Schwächen liegen und dass ihr Wesen, wenn auch in manchesmal unverständlicher Weise, fast darum bittet, hilf mir über meine

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KBS-Aufenthalt, in dem ein ganz anderes Bild der Jugendlichen entworfen wird als in den Berichten aus Königsberg. Dort hatte man resignierend festgestellt: Meiner Ansicht nach können wir Menschen diesem Menschenkind nicht helfen – da gehört eine höhere Macht dazu. In ihr sind zuviel schlechte Regungen, die das wenig Gute vollkommen überwuchert haben. Fast möchte ich sagen: sie ist einfach krank, nennt es psychopathisch, oder wie ihr wollt, normal ist sie nicht.91

Dagegen notierte von der Leyen nach mehreren Begegnungen mit Elisabeth: Das Mädel war … angeregt, lustig, vertrauensvoll, kindlich, gefiel mir besonders gut. … [Sie] hat ein ausgesprochenes Gefühl für Kultur, für Räume, für Farben, für Anmut, für eine gewisse Traulichkeit … Bei allem kam ihr starkes Bedürfnis nach Bildung zum Vorschein.92

Dabei war sie sich durchaus darüber im Klaren, dass ihre Beobachtungen nur einen Teil der Persönlichkeit Elisabeths beschrieben, und sie teilte inzwischen die Einschätzung ihrer Königsberger Kollegin über die krankhafte Grundlage für das abweichende Verhalten der Jugendlichen.93 Die Empathie von der Leyens für ihre „Klientin“ beschränkte sich jedoch nicht auf Mitleid:94 Gerade weil sie die „geistige Konstitution“ als Ursache der Schwierigkeiten Elisabeths ansah, mussten nun andere Hilfsmaßnahmen ergriffen werden, um „das Richtige für sie zu treffen“.95 Sie sollte sowohl eine Berufsausbildung erhalten als auch heilpädagogisch beeinflusst werden. Auf der KBS war aufgefallen, „dass ihre Stärke darin liegt, unsere schwierigsten Kinder zu erziehen“;96 die frühere Orientierung auf einen Beruf im pflegerischerzieherischen Bereich schien also richtig gewesen zu sein. Im Weiteren sollte es nun darum gehen, die Ressourcen der Jugendlichen zu fördern.97 Vor die Wahl gestellt, eine Ausbildung Schwächen hinwegzukommen.“ Ähnlich HPAC, Ps.V. 800, Bd. 1, Nohl an Kurt Isemann (Nordhausen), 26.2.1922, o.Bl. Vgl. auch von der Leyen 1925, 47. 91 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Erna Schmidt (Hauptwohlfahrtsstelle Königsberg/Preußen) an von der Leyen, 12.2.1922 sowie Bericht über Elisabeth aus einem Brief von Erna Schmidt an Hilde Classe, o.D. (Abschrift vom 4.2.1922), o.Bl. 92 Ebd., Aktenvermerk „Elisabeth S.“ von Ruth von der Leyen, 17.2.1922, o.Bl. 93 Ebd., von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. 94 Ebd., Bericht über Elisabeth aus einem Brief von Erna Schmidt an Hilde Classe, o.D. (Abschrift vom 4.2.1922), o.Bl.: „Sie ist einfach in meinem Herzen u. ich empfinde das stärkste Mitleid.“ 95 Ebd., von der Leyen an Erna Schmidt (Hauptwohlfahrtsstelle Königsberg/Preußen), 27.1.1922, o.Bl. 96 Ebd., Aktenvermerk „Elisabeth S.“ von Ruth von der Leyen, 17.2.1922 sowie Nohl an Kurt Isemann (Nordhausen), 26.2.1922, o.Bl. 97 „Dagegen habe ich das Gefühl, dass in dem Mädel unbedingt ein Wille steckt, der immer stärker zu Tage gefördert und gekräftigt werden kann …“ (HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl.).

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Abb. 4.7: Vermerk Ruth von der Leyens über Elisabeth, 17. Februar 1922

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in einem Hortnerinnen-Seminar in Berlin zu absolvieren oder in das Jugendsanatorium Dr. Isemann in Nordhausen am Harz zu wechseln, bevorzugte Elisabeth Nordhausen, und es scheint, dass ihre Wünsche den letzten Ausschlag gegeben hatten.98 Das private Heilerziehungsheim des Neurologen und Psychiaters Kurt Isemann (1886– 1964), das dieser gemeinsam mit seiner Frau, der Heilpädagogin Hedwig Isemann (geb. Schmidkunz, 1889–1942) leitete,99 nahm psychisch und physisch behinderte Kinder und Jugendliche auf und diente damit als „Auffangbecken“ für „soziale Grenzfälle“; zugleich war es aber auch „eine pädagogische Reformstation und eine Einrichtung wissenschaftlicher Arbeit.“100 Mit der Kinderbeobachtungsstation der Charité war man über eine ähnliche Einschätzung hinsichtlich der Multifaktorialität der Ursachen psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verbunden, die sich gegen die „Überbewertung konstitutioneller Gegebenheiten“ wandte; hinzu kam ein auf Empirie fußender Zugang sowohl bei der Erforschung als auch bei der Behandlung der „Psychopathie“, die in enger Zusammenarbeit von Medizin und Pädagogik erfolgen und auf den Prinzipien „Individualität, Durchlässigkeit, und Selbständigkeit“ beruhen sollte.101 Für Elisabeth „das Richtige zu treffen“, erwies sich indes auch im reformpädagogisch orientierten Nordhausener Jugendsanatorium als schwierig. Ihr Verhalten, Diebstähle, schließlich zwei weitere Selbstmordversuche führten dazu, dass der Aufenthalt in Nordhausen beendet wurde.102 Kurt Isemann hielt es für zweifelhaft, „ob ein innerlich so kranker Mensch Kinder anvertraut bekommen sollte. Ich rate Ihnen, wenn Sie nichts Besseres wissen, sie einfach zur Hausarbeit heranzuziehen und das Ziel nicht zu hoch zu stecken.“ 103 Elisabeth

98 Vgl. ebd., Nohl an Kurt Isemann (Nordhausen), 26.2.1922, o.Bl. 99 Zum Jugendsanatorium Dr. Isemann siehe Liehr-Langenbeck 1970; Blechle 2002, 243–262 sowie Blechle 2005. 100 Blechle 2002, 246f. 101 Vgl. für Isemann Blechle 2002, 247, 253–259 sowie Blechle 2006, 7; für den DVFjP: von der Leyen 1923, 44 sowie von der Leyen 1931, 626. Das besondere Verhältnis zwischen dem DVFjP und dem Jugendsanatorium Dr. Isemann fand seinen Ausdruck später auch darin, dass die Nordhausener Einrichtung eines von vier ausgesuchten Heilerziehungsheimen wurde, an denen ein Teil der praktischen Ausbildung im Rahmen eines vom DVFjP veranstalteten einjährigen Lehrgangs zur Psychopathenfürsorge durchgeführt wurde (von der Leyen 1931, 666). 102 ��������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, Jugendsanatorium Isemann (Hedwig Isemann) an DVFjP, 6.5.1922, o.Bl., ebenda, Jugendsanatorium Isemann (Kurt Isemann) an DVFjP, 25.8.1922 (Abschrift), o.Bl. Siehe auch Kramer 1927, 57. 103 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, K. Isemann (Nordhausen) an Lotte Nohl, 15.9.1922, o.Bl.

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fuhr nach Berlin,104 wo sie Aufnahme im Mädchenschutzhaus fand.105 Vermutlich wurde ihr die Unterkunft durch den DVFjP vermittelt, der über enge Beziehungen zur Wohlfahrtsstelle beim Berliner Polizeipräsidium verfügte. Deren Leiterin, Margarete Dittmer (1872– ?),106 war zuständig für die Bearbeitung von Gesuchen für einen der 14 Plätze im Mädchenschutzhaus.107 Man vermittelte Elisabeth eine Arbeitsstelle in einer Mützenfabrik;108 in dem Zustand „äußerer Selbständigkeit“ schien sie sich zunächst sehr wohl zu fühlen, „war glücklich über den eigenen Verdienst, gab das Geld sehr schnell aus“.109 Arbeitsstelle und Unterkunft boten jedoch keine langfristige Perspektive: bereits im November 1922 äußerte Elisabeth daher den Wunsch, nach Nordhausen zurückzukehren, weil sie wisse, „daß sie bei Isemanns am meisten lernen kann“.110 Die Rückkehr erfolgte schließlich mit dem „Stempel des Zöglings“, da die ambivalente Stellung Elisabeths als Angestellte und gleichzeitig zu betreuende Person für das Scheitern des ersten Aufenthaltes mitverantwortlich gemacht wurde.111 Die Festlegung der jungen Frau auf den Status eines Zöglings ermöglichte trotz

104 Ebenda, Lotte Nohl an K. Isemann (Nordhausen), 11.9.1922, ebenda, K. Isemann (Nordhausen) an Lotte Nohl, 15.9.1922, o.Bl., ebenda, Lotte Nohl an Elisabeth S., 20.9.1922, o.Bl. Siehe auch Kramer 1927, 57f. 105 Das Mädchenschutzhaus in Berlin-Niederschönhausen wurde vom Deutsch-Evangelischen Frauenbund getragen. Seine Aufgabe bestand in der unentgeltlichen Aufnahme und Erziehung gefährdeter obdachloser Mädchen (vgl. Zentrale für private Fürsorge 1921/22, 71). 106 Margareta Dittmer, genannt Margarete, leitete vor 1907 die Waisenhauskommission des DeutschEvangelischen Frauenbundes in Hannover. Auf Anregung des Bundes und der DZJ wurde 1909 im Polizeipräsidium Berlin die „Wohlfahrtsstelle für Jugendliche“ eingerichtet, wo Dittmer seit dem 1. Juli 1909 als erste „Fürsorgedame“ (Polizeiassistentin) tätig wurde. Im Zentrum der Tätigkeit stand die Betreuung der jugendlichen und minderjährigen Gefährdeten, insbesondere die Fürsorge für die von der Sittenpolizei wegen Verdachts der gewerbsmäßigen Prostitution aufgegriffenen Mädchen und Frauen. Diese Stelle ging 1927 in der Weiblichen Kriminalpolizei auf. Dittmer war zusätzlich als Dozentin an verschiedenen Bildungseinrichtungen von Fürsorgeorganisationen tätig und führte den Vorsitz mehrerer berufsständischer Vereine für Fürsorgerinnen. Ihre enge Zusammenarbeit mit dem DVFjP und der KBS an der Charité spiegelt sich in den überlieferten Krankenakten wider (vgl. Erkens 1930, 551–554 und, unter Auslassung der geschlechtsspezifischen Aspekte ihrer Tätigkeit, Reinicke 1998, 143–144). 107 Ruth von der Leyen hatte Margarete Dittmer 1912/13 im Rahmen eines Ausbildungspraktikums in der Wohlfahrtsstelle des Polizeipräsidiums kennengelernt und arbeitete, insbesondere seit der Gründung des DVFjP, eng mit ihr zusammen (vgl. Berger 1998, 360). 108 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, Lotte Nohl an das Landesberufsamt Berlin, 15.12.1922, o.Bl. 109 Ebenda, Vermerk vom 20.10.1922, o.Bl.; Kramer 1927, 58. 110 Ebenda, Vermerk vom 20.11.1922, o.Bl. 111 ����������������������������������������������������������������������������������������������� HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, K. Isemann an den DVFjP, 9.12.1922 (Abschrift), o.Bl.

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weiterer Vorkommnisse erstmals eine kontinuierliche heilpädagogische Betreuung. Die Verhaltensauffälligkeiten wurden nunmehr unter dem Krankheitsbegriff „Psychopathie“ subsumiert und als Symptome wahrgenommen, die im Schutzraum des Jugendsanatoriums nicht sanktioniert wurden. Am 12. Juni 1924 wurde Elisabeth in dem kurz zuvor eröffneten Heilerziehungsheim des DVFjP in Wilhelmshagen bei Berlin aufgenommen.112 Das Ziel des Heimwechsels nach einem längeren „ruhigen“ Zeitabschnitt als Zögling in Nordhausen bestand darin, „sie erneut einer Berufstätigkeit zuzuführen und den Übergang von der Unselbständigkeit zur Selbständigkeit zu mildern“.113 Darüber hinaus versprachen sich Ruth von der Leyen und Lotte Nohl vermutlich die Möglichkeit einer direkten Kontrolle der jungen Frau mit entsprechender Einflussnahme. Tatsächlich führte die größere Nähe dazu, dass die Schwelle für das Eingreifen der DVFjP-Sozialpädagoginnen deutlich herabgesetzt wurde. Aufgrund verschiedener Vorkommnisse, die sich ihrem Charakter nach kaum von entsprechenden Ereignissen in Nordhausen unterschieden, kam Elisabeth nach knapp vierwöchigem Aufenthalt in Wilhelmshagen am 9. Juli 1924 zum zweiten Mal zur stationären Beobachtung in die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité.114 Ihr Zustand wurde weiterhin als „psychopathische Konstitution vom Typ der Haltlosen“ bezeichnet, lediglich der Grad der Störung wurde als stärker angesehen, weil sie „Wünschen, Trieben und affektiven Anregungen … nicht die nötigen Hemmungen“ entgegensetze, „selbst in einem Milieu, das so günstig wie möglich für sie gestaltet ist.“115 Da jedoch „ein eigentlicher ethischer Defekt“ nicht vorliege, sie „Einsicht in die mangelnde Moral ihrer Diebstähle usw.“ zeige, sei die Prognose „nicht ungünstig: die Einsicht entwickelt sich vielleicht weiter, das Intellektuelle ist ja gut entwickelt.“116 Angesichts dieser Einschätzung kann vermutet werden, dass der Klinikaufenthalt weniger diagnostischen Fragestellun112 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, Rose Vogel, vermutlich die pädagogische Leiterin in Wilhelmshagen, an Lotte Nohl, 13.6.1924, o.Bl.; ebenso Kramer 1927, 58f. Zum Wilhelmshagener Heim siehe von der Leyen 1927, 327f. 113 Kramer 1927, 58. 114 Ebenda, Rose Vogel an Lotte Nohl, 7.7.1924, o.Bl., ebenda, L. Gaebel (Wilhelmshagen) an Lotte Nohl, 8.7.1924 sowie Vermerk von Nohl auf der Rückseite vom 10.8. [7.?] 1924, o.Bl. Siehe auch Kramer 1927, 59. Kramer berichtet, dass Elisabeth erneut auf die KBS aufgenommen wurde. Im Diagnosebuch der Station gibt es jedoch keinen Hinweis auf eine zweite Aufnahme. Stattdessen erscheint Elisabeth unter dem genannten Datum im Aufnahmebuch der benachbarten Frauenstation (vgl. HPAC, Psychiatrie Frauen (Pf 1), Lfd. Nr. 178, Aufnahme-Nr. 2085). Faktisch dürfte es so wie bei ihrem ersten Klinikaufenthalt gewesen sein, dass sie sich tagsüber in der KBS aufhielt und nachts auf der Frauenstation schlief (vgl. HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Erna Schmidt (Hauptwohlfahrtsstelle Königsberg/Preußen), 27.1.1922, o.Bl. 115 Kramer 1927, 60 (zit. aus der Krankenakte). 116 Kramer 1927, 60.

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gen diente, als vielmehr eine Möglichkeit war, die gespannte Situation in Wilhelmshagen durch die zeitweilige Herausnahme Elisabeths aufzulösen.117 Anfang August 1924 kehrte Elisabeth nach Wilhelmshagen zurück, wo sie ohne größere Schwierigkeiten bis November desselben Jahres blieb. Der Bericht der dortigen leitenden Ärztin, Erna Lyon (1885–?) problematisiert erneut den nicht vollzogenen Übergang der jungen Frau ins Erwachsensein.118 Dabei tritt der Aspekt der „Psychopathie“ wieder vollkommen in den Hintergrund zugunsten einer Einschätzung, die auf „Unreife“ hinausläuft: Wenn es ihr Spaß macht, will sie als erwachsen gelten (…). Die Pflichten eines Erwachsenen möchte sie aber nicht gern tragen (…). Die Kinder haben auch gar keinen Respekt vor ihr, betrachten sie als eins von ihnen. Dabei hat sie das Verlangen nach einer ernsten geregelten Tätigkeit u. wirtschaftlicher Selbständigkeit.119

Diesem „Verlangen“ entsprach die Vermittlung eines Heim- und Ausbildungsplatzes beim Verein Jugendschutz in Berlin ab November 1924.120 Nach weiteren Fehlschlägen wurde sie im Juli 1926 in einem geschlossenen Heim des Diakonievereins Arbeiterinnenfürsorge in Stühlingen/Baden untergebracht, wo sie sich „durch Fabrikarbeit den eigenen Lebensunterhalt … verdienen“ musste.121 Dort blieb sie bis 1929; danach wiederholte sich das beschriebene Muster: Der DVFjP versuchte die junge Frau an ein selbstständiges Leben he-

117 Dass als „Ausweichort“ eine psychiatrische Krankenstation und nicht eine andere heilpädagogische Einrichtung genutzt wurde, verdankte sich einerseits den exzellenten Beziehungen des DVFjP zur Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité und andererseits der Tatsache, dass Hilde Classe auf der Station arbeitete, die offenbar den größten persönlichen Einfluss auf Elisabeth hatte. 118 Über Erna Lyon ist wenig bekannt. Sie stammte aus Hamburg und war jüdischer Herkunft. Im Juli 1922 erlangte sie ihre Approbation. 1923 leitete sie das Heilpädagogische Erholungsheim des DVFjP für jugendliche Psychopathen in Gernrode/Harz (Lyon 1924). Nach der Schließung Gernrodes aufgrund finanzieller Schwierigkeiten teilte sie sich kurzzeitig die ärztliche Leitung der Nachfolgeeinrichtung in Osterode bei Ilfeld/Südharz mit Kurt Isemann. Von 1924, dem Jahr ihrer Niederlassung als Allgemeinärztin, bis 1929 übernahm sie die ärztliche Betreuung des Heilerziehungsheims Wilhelmshagen bei Erkner, das 1929 vom DVFjP an die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost überging. Ihre [letzte] Wohnadresse war Hamburg; mit dem 30. September 1938 galt ihre „Bestallung erloschen“ (Barch, RAR, Karteikarte Lyon, Erna). 119 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, Bericht von Dr. Erna Lyon (leitende Ärztin in Wilhelmshagen), o.D. [September 1924], o.Bl.; zit. bei Kramer 1927, 59. 120 Kramer 1927, 60. Der Verein Jugendschutz arbeitete offenbar eng mit dem DVFjP zusammen (vgl. Archiv für Wohlfahrtspflege 1927, 29). 121 Kramer 1927, 64. Siehe auch HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 2, Diakonieverein Arbeiterinnenfürsorge Stühlingen [E. Philippi] an von der Leyen, 21.10.1931, o.Bl.

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ranzuführen, sie „berufsfähig zu machen“.122 Nach einem Aufenthalt in einer Anstalt der geschlossenen Fürsorge folgte der Wechsel in eine halboffene, (heil-)pädagogisch betreute Wohnform (Heim), jeweils gekoppelt mit Arbeits- bzw. Ausbildungsangeboten, und danach der Versuch, außerhalb solcher Institutionen zu leben und zu arbeiten. Phasen gut funktionierender Integration wechselten dabei mit Episoden ausgeprägter Devianz bzw. Delinquenz, die letztendlich an den Anfangspunkt zurückführten. Nach 16-jähriger Betreuung durch den DVFjP, der im Erlernen eines Berufes den Schlüssel dazu sah, Elisabeth einen „Halt im Leben“ zu geben,123 und ihre als krankhaft angesehenen Verhaltensauffälligkeiten zu beherrschen, hatte sie noch immer keinen Berufsabschluss. Trotzdem war sie in der Wahrnehmung ihrer Umwelt inzwischen sicher kein Kind und keine Jugendliche mehr, war also – fast unmerklich – „erwachsen“ geworden, wenn auch in einer sehr prekären Form, die sich kaum von ihrer Adoleszenz unterschied: Elisabeth arbeitete in verschiedenen Stellen als Haushaltshilfe, die sie teils selbst aufgab, weil sie sich „todunglücklich“ fühlte oder die ihr wegen aufgedeckter Diebstähle gekündigt wurden, musste deshalb auch eine viermonatige Gefängnisstrafe absitzen, zuletzt hatte sie Aussicht auf eine Anstellung als Kinderfrau in Berlin.124 Der Kontakt zwischen Elisabeth und dem DVFjP wurde während der gesamten Zeit von beiden Seiten aufrecht erhalten; noch im letzten überlieferten Dokument ihrer Akte, einem Brief an Lotte Nohl und Hilde Fries-Klasse, versicherte sich die inzwischen 31-jährige Elisabeth eines offenbar von beiden Pädagoginnen gemachten dauerhaften Gesprächsangebotes.125 Darin dürfte der eigentliche „Erfolg“ der Regulierungsbemühungen um Elisabeth gelegen haben: dass sie in der Lage war, sich in schwierigen Situationen Rat und Hilfe zu holen. Anders als bei Otto spielte im Fall Elisabeths die soziale Lage als Ausgangspunkt der Misere eine wesentliche Rolle; das Mädchen trug mit seinen Diebstählen sogar zum Unterhalt der Familie bei. Hohe Bedeutung wird auch ihrer Anwesenheit bei den Auftritten des Vaters als Musiker auf Tanzvergnügungen zugeschrieben. Beide Phänomene wurden offenbar als Ausdruck urbaner Massenkultur gewertet und als medizinisch-pädagogische Herausforderung genommen. Tatsächlich wären die Taschendiebstähle und die Tätigkeit im Amüsiergewerbe anderswo so wohl nicht möglich gewesen; der Taschendiebstahl kann geradezu als Merkmal der Urbanität gelten, indem zur Begehung der Tat ein enger physischer Kontakt zwischen Protagonisten mit zumeist großer sozialer Distanz geradezu unvermeidlich ist. Als weiterer Topos 122 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 1, von der Leyen an Mädchen- und Frauenheim Bretten/Baden, 31.10.1925, o.Bl. 123 Ebenda, Vermerk vom 7.5.1926, o.Bl. 124 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte Ps.V. 800, Bd. 2, Elisabeth an Lotte Nohl und Hilde FriesClasse, o.D. (1935/36), o.Bl. 125 Ebenda.

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der „Gefährdung durch die Großstadt“ kann schließlich die vorgebliche sexuelle Frühreife des Mädchens gelten, die mit der offensichtlichen Missbrauchserfahrung kombiniert wird. Trotz dieser Probleme wurde von den Ärzten für Elisabeth zunächst ein sozialer „Gesundungsprozess“ prognostiziert, der sich dann freilich über einen sehr langen Zeitraum erstreckte und durch zahlreiche Rückschläge gekennzeichnet war. Indem Elisabeth die Rolle des Kindes und die damit verbundenen Zuschreibungen (Unselbstständigkeit, Unterordnung unter Autoritäten) verlassen, ihren neuen Status als Erwachsene (Berufstätigkeit und Eigenverantwortlichkeit) jedoch noch nicht erreicht hatte, können die (heil-)pädagogischen Bemühungen um sie als ein über Jahre gestreckter „Augenblick in und außerhalb der Zeit“ gedeutet und das Abb. 4.8: Elisabeth S., 1935 Mädchen als ein „Übergangswesen, noch ohne Ort und Position“ in der Welt der Erwachsenen aufgefasst werden.126 Bemerkenswert ist der hohe Reflektionsgrad Ruth von der Leyens, die das Mädchen mit gleichbleibender Empathie und nicht nachlassendem Engagement begleitete und dabei nach eigener Einschätzung in einen Kardinalfehler der Pädagogik zurückfiel, den sie für sich überwunden geglaubt hatte: „Der grosse Vorwurf, den ich auch mir nicht ganz ersparen kann, ist der, dass man wohl angesichts ihrer dauernden Begehen der Diebstähle [sic!], (…) sich noch zu stark moralisierend eingestellt hatte (…).“127 Schon Ludwig Strümpell hatte in seinem 1890 erstmals erschienenen Buch über die pädagogische Pathologie den Standpunkt vertreten, dass Ursachen abweichenden Verhaltens ohne moralische Wertung zu betrachten seien: „Nicht bloß die körperlichen Zustände des Kindes, sondern auch die jeweiligen Inhalte, Formen und Richtungen seiner geistigen Entwickelung können unabhängig von jeder Wertschätzung, nur nach ihrem tatsächlichen Dasein und Zustandekommen aufgefaßt und untersucht werden.“ 128 Anknüpfend an die von Strümpell vertretene Auffassung einer unvoreingenommenen, „wissenschaftlichen“ Herangehensweise sah Ruth von der Leyen eine „vorurteilslose, nicht wertende und immer zur Beobachtung bereite Erziehung“ als notwendig an, „um das psychische Grundbild des Kindes klären zu helfen.“129

126 Turner 2005, 96 und 102. 127 HPAC, heilpädagogische Einzelfallakte, Ps.V. 800, Elisabeth S., Bd. 1: 1921–1926, von der Leyen an Kurt Isemann (Nordhausen), 18.2.1922, o.Bl. 128 Strümpell 1910, 2. 129 Von der Leyen 1929, 151; von der Leyen 1923, 123.

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3. Heilen und Erziehen: Die Kinderbeobachtungsstation als Möglichkeitsraum In der Metropole wird „Psychopathie“ nicht nur maßgeblich im Rahmen urbaner Lebenszusammenhänge erfahren, sie wird in der Entstehung und im Verlauf auch klar auf die Stadt, ihre „Versuchungen“ und Gefährdungen zurückgeführt. Und auch bei der Behandlung oder Beeinflussung „psychopathischer Konstitutionen“ spielen die sozioökonomischen Verhältnisse der Stadt ebenso eine Rolle wie die nur hier anzutreffende räumliche Nähe und Dichte diverser Versorgungseinrichtungen. Bemerkenswert ist für den vorliegenden Zusammenhang, dass sich bei der Betreuung „psychopathischer“ Kinder trotz der topografischen Schwellen, die die beteiligten Institutionen (Klinik, Erziehungs- und Gerichtshilfe, Beratungsstelle und Fürsorgeamt, ambulante Vor- und Nachsorge) voneinander und von der Stadt abgrenzten, eine Unterscheidung zwischen dem Drinnen und Draußen nicht eindeutig treffen lässt. Ebenso wenig ist eine exakte Grenzziehung zwischen den beteiligten Disziplinen (Psychiatrie, Pädagogik, Fürsorge) und ihren Wissensräumen sowie zwischen den Konzepten von Psychopathie und Adoleszenz möglich. Vielmehr ist von einem topografischen und epistemologischen Schwellenraum par excellence auszugehen, in dem sich abgestufte sozialpsychiatrische und sozialpädagogische Maßnahmen zu einem dichten Netzwerk komplementärer Beratungs-, Fürsorge- und Behandlungseinrichtungen miteinander verwoben. Innerhalb dieser Topografie stellt die KBS den institutionalisierten Ausdruck einer bereits vor dem Ersten Weltkrieg praktizierten und schon mit einer gewissen Routine betriebenen Zusammenarbeit zwischen Jugendfürsorge und Psychiatrie im Bereich der Psychopathenfürsorge dar. Wie am Beispiel dieser Institution belegt werden konnte, verband sich mit der neuen räumlichen Ordnung auch die Entstehung eines Denkraums, indem auf der KBS Ärzte und Heilpädagoginnen in einem Bereich bewusst herbeigeführter disziplinärer Unschärfe zusammenarbeiteten. Die nosologische und prognostische Unsicherheit um die Entstehung und den Verlauf psychopathischer Erscheinungsbilder eröffnete hier einen nicht zuletzt empirisch geprägten Wissensbereich, in dem psychische Auffälligkeiten differenziert, neu kombiniert und bewertet wurden, ohne sich dabei zunächst hinsichtlich der üblichen Opposition von „normal und anomal“, „gesund und krank“ festzulegen. Insbesondere von der Leyen und Kramer plädierten für die bewusste Wahrnehmung der „Breite des Normalen, der fließenden Übergänge zwischen normal und abnorm, der unendlichen Verflochtenheit von Anlage, Erlebnis und Umwelt im Leben jedes Kindes, das einer ergänzenden und ersetzenden Erziehungshilfe bedarf […].“130 130 Von der Leyen 1931, 626.

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141 Abb. 4.9: Personal der KBS, erste Reihe links Franz Kramer, daneben Ruth von der Leyen

Ihre Materialisierung erfuhren diese Bemühungen in einem weiteren, dem regulierenden Schwellenraum, in dem ein modernes Verständnis „psychopathischer“ Krankheitsbilder entwickelt und dauernd über die Prozeduren der Befunderhebung, Aktenführung und erzieherischen Beeinflussung vermittelt wurde. Als Diagnosen, psychiatrische Gutachten, (heil-) pädagogische Beobachtungsberichte etc. fanden diese Ergebnisse – wie an den Beispielen von Otto und Elisabeth beschrieben – Eingang in die Akten und objektivierten auf diesem Weg menschliche Subjektivitäten. Die regulierende Funktion dieses Schwellenraums lag dabei teilweise jenseits der bis dahin üblichen Praktiken, die vorrangig auf Disziplinierung und soziale Brauchbarkeit abzielten. Das Berliner Versorgungskonzept für „psychopathische“ Kinder und Jugendliche umfasste in der Zeit der Weimarer Republik eine ganze Reihe von Angeboten, die darauf abzielten, devianten und delinquenten Mädchen und Jungen ein Leben in geschlossenen Einrichtungen zu ersparen und ihnen statt dessen auf dem Wege der heilpädagogischen Begleitung ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dabei trat in der demokratisch verfassten Weimarer Republik auch eine stärkere Achtung der gesetzlich garantierten Rechte des Kindes hervor. Im Kontext der Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité beruhte die Umsetzung dieser handlungsleitenden Vorgaben auf einer multiprofessionell und interdisziplinär geprägten, von öffentlichen (kommunalen) und freien Institutionen gleichermaßen getragenen Versorgungsstruktur. Als eine den Einrichtungen des DVFjP zugerechnete Institution erfüllte die Kinderbeobachtungsstation – vermittelt auch über die angeschlossene Poliklinik131 – einerseits einen 131 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Zur Rolle der Poliklinik als topografischer Schwellenraum vgl. den Beitrag von Volker Hess und So-

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Versorgungsauftrag, ihre wesentliche Funktion bestand jedoch in der wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen „psychopathischer Konstitution“, ihrer heilpädagogischen Beeinflussung und Vorbeugung. Die Verbindung von Krankenversorgung und Wissenschaft als Merkmal einer Universitätsklinik prägte die Situation auf der Station, indem die Beobachtungsresultate zwar bezogen auf den Einzelfall, über längere Zeiträume hinweg aber auch für das Kollektiv der Kinder ausgewertet wurden. Von der psychiatrischen Versorgungseinrichtung KBS und den dort arbeitenden und forschenden Menschen gingen vor diesem Hintergrund auch Vorschläge zu einer Verbesserung der Versorgungsstruktur für deviante Kinder und Jugendliche aus, die darauf abzielten, für eine angeblich wachsende Zahl „psychopathischer“ Mädchen und Jungen mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu wagen. Das hier entwickelte Modell von Heilen durch Erziehen legte seinen Schwerpunkt auf die Unterstützung der Selbststeuerung bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Dies lässt sich durchaus als Vorgriff auf heutige sozialpädagogische Konzepte („Empowerment“) verstehen.132 Die Aktivitäten von Psychiatern dehnten sich dabei über die Klinikgrenzen hinaus aus, Pädagoginnen und Fürsorgerinnen wirkten umgekehrt in die Klinik hinein, um so eine zuverlässige und kontinuierliche psychiatrisch-heilpädagogische Betreuung und Begleitung auch über längere Zeiträume möglich zu machen. Bemerkenswert ist, dass im Fall der KBS die Ärzte nicht zwangsläufig aufgrund ihres professionellen Status als dominierend in Erscheinung treten. Es entsteht vielmehr der Eindruck einer engen gleichberechtigten und wechselseitigen Zusammenarbeit mit Pädagoginnen und Fürsorgerinnen, die im Interesse der auffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen von der Anerkennung der jeweiligen Kompetenzen und Aufgabengebiete getragen war. Es ist nicht leicht zu beurteilen, inwieweit diese idealtypisch anmutende interdisziplinäre Kooperation auf der KBS sich der besonderen personellen Konstellation verdankt, die durch phie Ledebur in diesem Band. 132 ������������������������������������������������������������������������������������������� Der aus der amerikanischen Gemeindepsychologie stammende Begriff geht auf den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Julian Rappaport zurück. Er bezeichnet Strategien und Maßnahmen, die geeignet sind, den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften zu erhöhen und es ihnen zu ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten und zu gestalten. Empowerment bezeichnet sowohl den Prozess der Selbstbemächtigung als auch die professionelle Unterstützung der Menschen. Im Vordergrund stehen die Stärkung (noch) vorhandener Potenziale und die Ermutigung zum Ausbau dieser Möglichkeiten. Empowerment im sozialpädagogischen Handlungsfeld versucht also Menschen bei der (Rück-)Gewinnung ihrer Entscheidungs- und Wahlfreiheit, ihrer autonomen Lebensgestaltung zu unterstützen und sie zur Weiterentwicklung zu motivieren (Rappaport 1984; 2000). Der Begriff wird aber auch für einen erreichten Zustand von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung verwendet; in diesem Sinn wird im Deutschen Empowerment gelegentlich auch als Selbstkompetenz bezeichnet (vgl. z.B. Herriger 1997, Hermes 2006; Keupp 1997).

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die enge Zusammenarbeit Ruth von der Leyens und Franz Kramers gegeben war. Sicher aber ist, dass die langjährige Tradition der Beschäftigung mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen war. Karl Bonhoeffer, der schon während seiner Zeit als Direktor der Königlichen Psychiatrischen und Nervenklinik in Breslau die Kooperation von Psychiatrie und freier Jugendfürsorge gefördert hatte, baute diesen Ansatz als Nachfolger Theodor Ziehens und in engem Austausch mit der DZJ und dem DVFjP in Berlin weiter aus. Mit Kramer, der ihm 1912 aus Breslau an die Charité gefolgt war, hatte er einen jungen, an der Materie interessierten und bereits erfahrenen Mitarbeiter an seiner Seite, der für die Entfaltung der interdisziplinären Bemühungen um „psychopathische“ Kinder und Jugendliche in Ruth von der Leyen offensichtlich eine kongeniale Ergänzung fand. Franz Kramer als urban geprägter, emanzipierter Arzt jüdischer Herkunft verkörperte den Typus eines weltoffenen, demokratischen, zivilen Psychiaters, dem die Voreingenommenheit seiner am „Moralismus der Mittelmäßigkeit“ leidenden Kollegen wohl weitgehend fehlte. Ruth von der Leyen repräsentierte eine der emanzipierten Persönlichkeiten aus dem Spektrum der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich in pragmatischer Weise, mit einem hohen Maß an persönlichem Engagement und großer Offenheit der Kinder und Jugendlichen mit ihren individuellen Schwierigkeiten annahm. Mit Blick auf „das schwierige, das konfliktreiche, gefährdete, verwahrloste, kriminelle Kind“ vertraten die Heilpädagogin und der Mediziner einen milieu-theoretisch orientierten Ansatz. In der Weimarer Republik waren also Denkmodelle und Praktiken einer aufklärerischen Erziehungspolitik wirksam, die im Nationalsozialismus durch die auf politischem Wege herbeigeführte Dominanz biologistischer und eugenischer Auffassungen in diesem Wissenschaftsbereich brutal abgeschnitten wurden. Aus der Sicht des heutigen Diskurses zur Genese des Nationalsozialismus erscheinen nicht-biologistische Konzepte von vornherein als marginal. Begreift man die Zeit zwischen 1919 und 1930 jedoch als epistemologischen Schwellenraum, in dem unterschiedliche Wissensbestände mit offenem Ausgang in Konkurrenz zueinander standen, werden solche Ansätze und damit auch die Leistungen derjenigen, die sie vertraten, in ihrer zeitgenössischen Bedeutung wahrgenommen. Hatten Franz Kramer und Ruth von der Leyen im Zeitraum der Weimarer Republik noch bedeutenden Einfluss auf den Umgang mit „psychopathischen“ Kindern und Jugendlichen und den fachwissenschaftlichen Diskurs, so bewirkte der Nationalsozialismus nicht nur einen biografischen Bruch, sondern auch das Ausschalten ihrer antizipierenden theoretischen Position innerhalb der „scientific community“.

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Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Wahnsinn und Migration. „Normal“ und „verrückt“ als Phänomene der regulierten Passage

In den Jahren 1900 bis 1914 wurden Hunderte von sog. „geisteskranken Rückwanderern“1 in die Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg2 – die zentrale psychiatrische Versorgungsinstitution der Hansestadt – eingeliefert. Bei dieser Patientengruppe handelte es sich zum allergrößten Teil um Migranten und Migrantinnen, die über den Transithafen Hamburg3 nach Amerika ausgewandert, dort jedoch von den US-Behörden als psychisch krank oder minderwertig eingestuft und deshalb entweder schon auf Ellis Island abgewiesen oder nach bereits erfolgter Immigration wieder aus den USA abgeschoben worden waren. Verantwortlich für die Rückbeförderung dieser Menschen in ihre meist osteuropäischen Herkunftsländer4 war die Hamburg–Amerika Linie (Reederei HAPAG), mit der sie nach Amerika gereist waren. Nach Landung in Hamburg wurde ein großer Teil von ihnen vorübergehend in die Friedrichsberger Anstalt eingewiesen. Rund 450 einschlägige Krankenakten aus Friedrichsberg sind in Hamburg überliefert.5 Die zahlreichen und vielfältigen Beziehungen des Überseehafens Hamburg in fast alle Teile der Welt wirkten auf sehr unterschiedlichen Ebenen in die Hansestadt zurück und verdichteten sich hier zu besonderen Aktivitäts- und Diskursfeldern. Durch die Aufnahme der in Amerika ab- und ausgewiesenen Migranten in die Hamburger Anstalt, die Wahrnehmung und Deutung sowie die Behandlung der Rückwanderer-Patienten durch Hamburger Ärzte und Psychiater, durch die städtischen Behörden sowie die Hamburger Reederei HAPAG manifestierte sich in der Hafenmetropole eine spezifische Figuration des Wahnsinns. Die urbane 1 2 3 4 5

Wir danken insbesondere Beate Binder und Eric J. Engstrom für ihre konstruktive Kritik und ihre anregenden Kommentare. Weygandt 1912; Weygandt 1911; Weygandt 1910, 123; Buchholz 1909, 109–112; vgl. außerdem Epstein 1914; Halbey 1911/12. Schnitzer 1901; Weygandt 1910; vgl. außerdem Weygandt 1922; Weygandt 1928. Just 1988; Brinckmann/Gabrielsson 2008. Vgl. zur osteuropäischen Amerikawanderung: Morawska 1989; Morawska 1995; Nugent 1995a, 83–94; Nugent 1995b. Die Friedrichsberger Rückwanderer-Akten befinden sich im HKbA Hamburg. Zitiert wird ohne Vereinheitlichung der Rechtschreibung, der Zeichensetzung und in der Regel auch ohne Auflösung von Abkürzungen. Offensichtliche Schreibfehler werden unter Verwendung eckiger Klammern korrigiert. Eine gute Einführung in die „Materialität“ der Friedrichsberger Akten gibt Sammet 2006.

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Moderne als ihr Bezugsrahmen verweist hier nicht allein auf den Binnenraum der Stadt, sondern auf transkontinentale Zusammenhänge. Die Industrialisierung veränderte die Mobilität und ermöglichte Massentransporte. Sie führte in den USA zu einer Erhöhung der Nachfrage nach europäischen Arbeitskräften, zugleich aber auch zu gesellschaftlichen Krisenerscheinungen. Sozialer Identitätsverlust und wachsender Klassenantagonismus brachten in den Vereinigten Staaten einen wirkmächtigen Bedrohungsdiskurs hervor, der sich maßgeblich auf die Massenimmigration aus den strukturschwachen Ländern Ost- und Südosteuropas bezog und zu immer restriktiveren Einwanderungsgesetzen und -kontrollen führte. Dabei spielten eugenische Standpunkte und rassistische, vor allem antisemitische Haltungen eine maßgebende Rolle.6 Im Rahmen der gesundheitlichen Kontrollsysteme der transatlantischen Migration sowohl in den USA als auch in Europa werden besondere regulatorische Schwellenräume greifbar, in denen der „Migranten-Wahn“ oder „Wahn des Migranten“ – wie wir diese Figuration nennen möchten – seine spezifischen Ausformungen erhielt. Durch diese begriffliche Koppelung soll das Durchlaufen differenter kultureller, sprachlicher und politischer Räume als konstitutiver Zusammenhang für die Entstehung und Gestaltung dieser besonderen Formation des Wahns hervorgehoben werden. Die gesundheitlichen Kontrollsysteme der transatlantischen Migration sind Teil eines aufwendigen Apparates zur Regulierung von Wanderungsbewegungen großer Menschenmassen. Sie sind entscheidende Regulative der Mobilität zwischen Europa und den USA. Die US-amerikanische Grenzstation Ellis Island und Hamburg als einer der wichtigsten europäischen Aus-, aber auch Rückwandererhäfen waren im vorliegenden Zusammenhang die entscheidenden „points of passage“. Sie stehen im Zentrum dieser Untersuchung. Beide Orte sind Schnittpunkte verschiedener nationaler und kultureller Systeme. Sie markieren nicht nur räumliche Übergänge, sondern zugleich die Umwandlung von Reisenden in Migranten, in transitorische Wesen, für die eine jeweils eigene Rechts- und Gesundheitsordnung Gültigkeit hatte. An beiden Orten kamen besondere medizinische und

6 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. in erster Linie Lüthi 2009; Kraut 1995; Just 1988. – Über 80 % der Friedrichsberger Rückwanderer-Patienten, die durch Krankenakten belegt sind, waren aus Österreich-Ungarn, Russland und Rumänien. Ein sehr großer Teil dieser Patienten waren polnische Migranten. Sie kamen aus Galizien und Russisch-Polen. Relativ wenige Patienten aus dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn kamen aus „Deutschösterreich“. Neben den Galiziern waren die meisten aus Ungarn, aus Böhmen und Mähren oder Kroatien. Insgesamt waren nach unseren Berechnungen nur 15,4 % der Friedrichsberger Rückwanderer-Patienten Deutsche. Die Quote aller Auswanderer über Hamburg aus Österreich-Ungarn und Russland lag während des Untersuchungszeitraumes jährlich in der Regel sogar zwischen 85 % und 95 %, der Anteil deutscher Migranten, die in Hamburg nach Amerika ausgeschifft wurden, lediglich zwischen 5 % und 10 %. (Jahresber. Ausw. 1900–1914, Tabellen „Ziel der Auswanderung“ im Berichtsanhang „Tabellarische Übersichten“).

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psychiatrische Beurteilungskriterien und -techniken zum Tragen. Infolge der regulatorischen Interventionen staatlicher wie auch nicht-staatlicher Instanzen in den Migrationsprozess wird in den Quellen ein „eigensinniges“ Changieren des Wahns als eines breit konnotierten Selektionskriteriums greifbar, dessen diagnostische Bezugspunkte nur zum Teil psychiatrische oder medizinische Relevanz besaßen. Ziel dieses Aufsatzes ist es, am Beispiel ausgewählter Friedrichsberger Rückwanderer-Fälle den Verlauf und die Strukturen der Krankheitszuschreibung, d.h. den Aushandlungs- und Entscheidungsprozess zwischen „verrückt“ und „normal“ in seiner jeweiligen Besonderheit zu problematisieren und durch gezielte Fokussierung auf den regulatorischen Schwellenraum den „Wahn des Migranten“ mit der ihm eigenen Unbestimmtheit und Unschärfe möglichst deutlich sichtbar zu machen. Im Mittelpunkt stehen drei Friedrichsberger Patienten-Akten, die uns in besonderer Weise geeignet erscheinen, die Schwelle zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit in ihrer jeweiligen Spezifik im Kontext der entsprechenden regulatorischen Bedingungen, Normen und Handlungen darzustellen und aus den Regulativen der Mobilität abzuleiten.

1. Ellis Island als „Vorraum“ der Hamburger Psychiatrie – Der Fall des Friedrichsberger Patienten Fedor D. aus Galizien Der Hamburger Rückwanderer-Patient Fedor D.7, Mitte 20, aus Galizien8 – „1,47 m gross, grazil gebaut, in leidlichem Ernährungszustande“, wie die körperliche Untersuchung ergab – war laut Polizeiakte am 25. August 1910 mit dem HAPAG-Dampfer „Cleveland“ von Hamburg nach New York gefahren. Bereits einen Monat später, am 25. September, war er wieder zurück in Hamburg. Ein Zwischendeck-Steward brachte ihn direkt von Bord der „President Lincoln“ in die Friedrichsberger Anstalt. In seiner Krankenakte heißt es: Nach Angabe des Begleiters ist D. in New-York von der Behörde die Landung verweigert, weil er nur ein kleines, nichtssagendes Bürsch[s]chen ist. Zwecks Rückreise auf 1 andern Dampfer der H.A.L. gebracht, entwich er durchs Fenster (Bullauge), um auf diese Weise an Land zu kommen. Seine Tat war aber sofort bemerkt u. als man D. wieder aus dem Wasser heraus gefischt hatte, wurde er bis zur Abfahrt eines andern D[ampfers] in 1 Krankenhaus untergebracht.

7 8

HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 32538. In D.s Krankenakte heißt es: „Der Kranke stammt aus Galizien und ist nur der polnischen Sprache mächtig.“ Als Herkunftsort wird auf dem Aktendeckel und dem Aufnahmebogen „Mikalow, Zemplin Com. Ungarn“ angegeben. Die nordungarische Verwaltungseinheit (Komitat) Zemplin grenzte direkt an Südgalizien. Verwiesen wird hier also primär auf Galizien als Kultur- und Sprachraum und nicht auf die territoriale Einheit im strengeren Sinne.

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Auf der Rückreise sei er dann „als Kranker behandelt, in eine Zelle eingeschlossen u. bewacht“ worden. Während der Überfahrt habe er sich ruhig verhalten, gut gegessen, aber wenig geschlafen. D. habe viel geweint, „angeblich darüber, daß er wieder zurück mußte“. Der Schiffsarzt überwies D. wegen „Geistesgestörtheit“ nach Friedrichsberg. Die wenigen überlieferten Informationen über D.s Verhalten an Bord scheinen das zwar kaum zu rechtfertigen, doch wie viele seiner Kollegen leitete der Schiffsarzt der „President Lincoln“ den Abgeschobenen (und die Einschätzung der US-Behörden) lediglich weiter an die dafür vorgesehene Instanz, die Irrenanstalt. Die Friedrichsberger Rückwanderer-Akten enthalten keine Schriftstücke der US-Behörden, aus denen sich die genaueren Gründe oder Einzelheiten zu den jeweiligen Ab- und Ausweisungen der betroffenen Migranten entnehmen lassen. Wenn von amerikanischer Seite überhaupt Angaben gemacht wurden, die über den Hinweis „insane“ hinausgingen, waren sie sehr allgemeiner Art und sind dann auch nur abschriftlich überliefert. In vielen Krankenakten – wie auch im Fall des Fedor D. – werden die entsprechenden Umstände (meist in knapper Form) auf den Aufnahmebögen vermerkt, in vielen Akten allerdings auch dort nicht explizit erwähnt. Hier kann jedoch oftmals der entsprechende Kontext über den weiteren Inhalt der Akte erschlossen werden. Mitunter erkannte man in der Hamburger Anstalt lediglich an einzelnen Kleidungsstücken, dass ein eingelieferter Patient in den Vereinigten Staaten bereits in einer Irrenanstalt gewesen sein musste. Eindeutiger – als allein auf der Ebene der Krankenakten – lassen sich die Zusammenhänge aus der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur erschließen. Die Ausführungen der Psychiater Weygandt9 und Epstein10, die in ihren Anstalten in Hamburg-Friedrichsberg und Budapest-Angyalföld (hier nach Rückkehr ungarischer Migranten aus Hamburg und Bremen) unmittelbar mit diesem Patientenkontingent befasst waren, lassen jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es sich bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der als „Rückwanderer“ bezeichneten Patienten um Menschen handelte, die man aus den USA abgeschoben hatte, weil man sie für geistig krank oder nicht vollwertig hielt. Nur wenige dieser Patienten und Patientinnen waren sog. „freiwillige Rückwanderer“, die während der Seepassage an Bord ihres Schiffes erkrankt oder auffällig geworden waren. Im Fall von Fedor D. spielt die auf Ellis Island unterstellte psychische Devianz, auf die auch nur aus seiner Internierung „als Kranker“ an Bord der „President Lincoln“ und aus der Einlieferung in die Hamburger Irrenanstalt (direkt von Bord des Schiffes) mittelbar geschlossen werden kann, eine sekundäre Rolle. Der primäre Impuls, D. die Einreise in die USA zu verweigern, war dessen körperliche Konstitution, seine geringe Körpergröße und sein graziler Körperbau. Eine solche Konstellation ist in den Friedrichsberger Rückwanderer9 Weygandt 1912. 10 Epstein 1914.

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Akten singulär. Was steckt hinter dieser eigenwilligen Geschichte? Hat sie sich überhaupt so zugetragen? Die Schilderung der näheren Umstände von D.s Abschiebung stammt von einem Zwischendeck-Steward, der zum Teil lediglich weitergegeben hat, was auch ihm nur erzählt worden sein kann. Es wäre gewiss aufschlussreich, die entsprechende US-Akte Fedor D.s heranzuziehen. Doch die konnte in den amerikanischen Archiven nicht nachgewiesen werden.11 Allerdings steht eine Reihe anderer historischer Quellen zur Verfügung, die eine Annäherung an diesen Fall ermöglichen. Am 21. Dezember 1909 setzte sich das Hamburger Fremdenblatt unter der Überschrift „Einwanderungs-Schikanen in Newyork“ kritisch damit auseinander, dass die US-Behörden immer neue Vorwände für die Zurückweisung potentieller Immigranten fänden, um die Einwanderung so weit wie möglich zu beschränken.12 Es seien neuerdings Ablehnungen erfolgt, weil angeblich die Muskeln einwanderungswilliger Europäer nicht kräftig genug entwickelt waren. Fortan solle es auf Ellis Island bei jedem Einwanderer eine Prüfung der Muskeln geben. Diese „ungeheuerlichen“ Nachrichten, so wird berichtet, hätten einen Leser des Fremdenblatts veranlasst, Nachforschungen anzustellen. Die Recherche habe ergeben, dass die geschilderte Praxis so wohl nicht bestünde, sondern dass es sich um die Anwendung einer seit langem geltenden Bestimmung des amerikanischen Einwanderungsgesetzes handelte, nach der die Behörden berechtigt seien, Personen zurückzuweisen, die in ihrer gesamten körperlichen Entwicklung zurückgeblieben seien und den Eindruck erweckten, nicht selbst für sich sorgen zu können. Der Autor des Zeitungsartikels hielt nun diese Bestimmung für ebenso kritikwürdig wie die vermeintliche „Muskelprüfung“, weil man bei der Beurteilung der körperlichen Gesamtkonstitution, so meinte er, letztlich „ganz nach Laune verfahren“ könne. Den Interessen der Vereinigten Staaten sei doch in ausreichendem Maße damit gedient, dass die Landung von Personen unterbunden werden könne, die ansteckende oder ekelerregende Krankheiten haben oder geisteskrank sind: Wenn aber nicht einmal eine Krankheit vorliegt, sondern der Eingewanderte kerngesund ist, dann darf er nicht der Gefahr ausgesetzt sein, als „Schwächling“ zurückgewiesen zu werden – schon ganz abgesehen davon, daß die Leistungsfähigkeit des einzelnen nicht nach dem äußeren Eindruck beurteilt werden kann.

Dem Schreiber dieser Zeilen lag das Schicksal der betroffenen Auswanderer gewiss am Herzen. Doch das Fremdenblatt ergriff hier zugleich auch, ja wahrscheinlich in erster Linie Par11 Anfrage an U.S. Citizenship and Immigration Services/U.S. Department of Homeland Security, ­Washington, D.C. vom 13.11.2007; Antwortschreiben vom 11.3.2008 mit negativem Bescheid. 12 Hamb. Fremdenbl. 21.12.1909, 21.

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tei für die Hamburg–Amerika Linie als eines der führenden Unternehmen der Hansestadt, für das solche Bestimmungen und Praktiken nur eines bedeuteten: Sand im Getriebe des einträglichen Geschäfts, das der transatlantische Personenverkehr darstellte. Bereits am 1. Dezember 1909 hatte das Fremdenblatt getitelt: „Auswuchs des amerikanischen Nationalismus“. Kritisiert wurde die „Überspannung des ‚nationalen Prinzips‘“ in den USA, das überzogene Schutzbedürfnis der Amerikaner vor einer „Verseuchung durch minderwertige Eindringlinge“.13 Die Begriffe „kleines, nichtssagendes Bürschchen“ in der Krankenakte des Fedor D. und „Schwächling“ in dem zitierten Fremdenblatt-Artikel vom 21. Dezember 1909 entsprechen sich in der zugrunde liegenden regulatorischen Technik. Hier wurden einwanderungswillige Europäer selektiert und abgewiesen, die zwar nicht krank, aber in ihrer körperlichen Verfassung in den USA unerwünscht waren. Im „Book of Instructions for the Medical Inspection of Immigrants“ wurde bereits 1903 – neben nachweislich psychisch oder körperlich kranken Migranten – eine Personengruppe näher definiert, die auszusondern den Einwanderungsärzten des United States Public Health Service auf Ellis Island ebenfalls zur Pflicht gemacht wurde: Those who present some disease or defect, physical or mental, which may be regarded as conclusive or contributory evidence to justify the exclusion, by the proper immigration officers, of the person in question as an alien „likely to become a public charge“.14

Das zu diesem Zeitpunkt gültige US-Einwanderungsgesetz schrieb u.a. vor, „idiots“, „insane persons“ und „persons suffering from a loathsome or a dangerous contagious disease“ die Einreise in die Vereinigten Staaten zu verweigern. Die ebenfalls im Gesetz festgeschriebene Kategorie „likely to become a public charge“, auf die sich die oben zitierte Textpassage bezog, verwies darüber hinaus auf „all diseases and deformities which are likely to render a person unable to earn a living“.15 Neben Krampfadern, schlechten Augen, Herzproblemen oder Senilität wurde auch eine „poor physique“ im Kontext von „manual labor“ als Abweisungsgrund aufgeführt.16 Die „poor physique“ war in den Vereinigten Staaten ein zentrales Thema im Normsetzungsprozess der nächsten Jahre.17 Sie diente als Sammelbegriff für eine große Bandbreite körperlicher Erscheinungen, die man im Sinne einer mangelhaften physischen Entwicklung interpretierte. Dazu gehörten auch die Muskelentwicklung und die Körpergröße. Entspre-

13 14 15 16 17

Hamb. Fremdenbl. 1.12.1909, 1f. Book of Instructions 1903, 5. Ebenda, 10. Ebenda, 12. Lüthi 2009, 261–274; zuletzt Dolmage 2011, 32–34.

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chende Einstufungen nahmen auf Ellis Island im Laufe der Jahre deutlich zu, ohne dass eine genaue Nosologie zugrunde lag. Dieser definitorischen Unschärfe des Begriffs „poor physique“ entsprach auf einer anderen Ebene die Unbestimmtheit des unterstellten Zusammenhanges mit der Fähigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. In Wirklichkeit ging es auch um wesentlich mehr, nämlich um die Angst vor einer Vererbung der „poor physique“, also um eugenische Aspekte. Die Mütter und Väter zukünftiger Generationen sollten anders aussehen als Fedor D. Man fürchtete in Amerika eine Schwächung des „Volkskörpers“ durch vermeintlich minderwertige Einwanderer. Eine vom Standard abweichende körperliche Konstitution wurde also nicht allein aus ökonomischen Gründen („likely to become a public charge“) als Problem empfunden, sondern vor allem auch deshalb zu einem wichtigen Kriterium der Aussonderung, weil man darin eine Gefahr für die „Kraft“ der amerikanischen Nation sah. Vor diesem Hintergrund dürfte noch ein anderes körperliches Merkmal D.s, das in seiner Friedrichsberger Akte festgehalten wurde, auf Ellis Island nicht eben von Vorteil gewesen sein. Seine Genitalien, so liest man dort, seien „im Verhältnis zum Körper ziemlich gross“. Im US-Einwanderungsgesetz von 1907 heißt es in Section 2: That the following classes of aliens shall be excluded from admission into the United States: All idiots, imbeciles, feeble-minded persons, epileptics, insane persons, and persons who have been insane within five years previous; persons who have had two or more attacks of insanity at any time previously; paupers; persons likely to become a public charge; professional beggars; persons afflicted with tuberculosis or with a loathsome or dangerous contagious disease; persons not comprehended within any of the foregoing excluded classes who are found to be and are certified by the examining surgeon as being mentally or physically defective, such mental or physical defect being of a nature which may affect the ability of such alien to earn a living; [...].18

Während die Gruppe der Geisteskranken oder -schwachen zunächst genauer und differenzierter definiert wurde als in früheren Gesetzen, bleibt der zweite Teil der zitierten Passage definitorisch unbestimmt und in diagnostischer Hinsicht indifferent. Die in dieser Form neue gesetzliche Bestimmung ersetzte nun aber nicht etwa die Kategorie „likely to become a public charge“, sondern war aus ihr quasi herausgelöst worden und markiert damit gegenüber früheren Einwanderungsgesetzen einen wesentlichen Bedeutungszuwachs medizinischer und psychiatrischer Gesichtspunkte und entsprechender Kontrollen und Interventionen. Im überarbeiteten „Book of Instructions“ für die medical officers der US-Grenzstationen aus dem Jahre 1910 wurde an entsprechender Stelle die umstrittene Kategorie „poor phy18 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Immigration Laws 1909, 5; vgl. dazu Bouvé 1912, 170–175; vgl. allgemein zur US-Einwanderungsgesetzgebung: Daniels 2005, 3–26 u. 27–58; Hutchinson 1981, 85–158; Clark 1931, 41–54; Garis 1927, 83–115 wie auch Just 1988, 218–224.

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sique“ gestrichen. Verwiesen wird nun auf „states of permanently defective nutrition and of marked defective skeletal and muscular development“.19 Auffallend ist im vorliegenden Zusammenhang die besondere Symbiose geistiger und körperlicher „Mängel“, wie sie in der Formulierung „mental or physical defect“ in den „Immigration Laws“ von 1907 zum Ausdruck kommt. Die Auflistung der wichtigsten „Defekte“ im Sinne der neuen gesetzlichen Bestimmung im „Book of Instructions“ enthält außer der Kategorie „nervous affections“ allerdings ausschließlich körperliche Auffälligkeiten.20 Während der Begriff „nervous affections“ – wie schon 1903 – in diesem Zusammenhang weitestgehend ohne jede Spezifizierung bleibt, werden die im Gesetz erwähnten Geisteskrankheiten bzw. -störungen eingehend besprochen und gegeneinander abgegrenzt.21 „Nervous affections“ bleibt demgegenüber offen für jede Art von Besetzungen und Zuweisungen. Fedor D. wurde wegen seiner körperlichen Konstitution auf Ellis Island die Einreise verweigert. Seine Reaktion auf diese willkürliche, subjektiv für ihn nicht nachvollziehbare, aber offenbar im Rahmen der amerikanischen Gesetze liegende Entscheidung der US-Beamten bestimmte die Modalitäten seines Rücktransports nach Hamburg und die Einlieferung in die dortige Irrenanstalt. D.s Psychopathologisierung begann, als er von einem Schiff sprang, das ihn gegen seinen Willen wieder zurück nach Europa bringen sollte. D. wird von den US-Behörden nicht nur als „kleines Bürschchen“ stigmatisiert, das man in den USA nicht gebrauchen könne, sondern auch als Verrückter. Bemerkenswert ist das offenbar problemlose Ineinandergreifen von physischer und psychischer „Minderwertigkeit“, gegen die es das Territorium der USA abzuschirmen galt. Betrachtet man im Fall von Fedor D. die Verweigerung der Einreiseerlaubnis im Kontext der zitierten Bestimmung des US-Einwanderungsgesetzes von 1907, in der von „mental or physical defect“ die Rede ist, der unter Umständen die Fähigkeit eines Immigranten beeinflussen könne, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, so ergeben sich interessante Aufschlüsse. Seit 1908 gab es in den Jahresstatistiken der US-Einwanderungsbehörde – dieser gesetzlichen Änderung entsprechend – eine neue Kategorie, die sich auf derartige Abweisungen bezog. Interessanterweise wurde hier nicht zwischen „mental“ und „physical“ unterschieden, sondern nur eine einzige Zahl für beide Faktoren genannt, während ansonsten die einzelnen körperlichen und psychischen Krankheiten, die zu Abweisungen geführt hatten, statistisch differenziert erfasst, also genau unterschieden wurden.22 Die geringe Trennschärfe zwischen körperlichen und psychischen „Defekten“ in der offiziellen US-Statistik korrespondiert in 19 20 21 22

Book of Instructions 1910, 19. Ebenda, 18–20. Ebenda, 9–13. Ann. Rep. Imm. 1911, 78.

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aufschlussreicher Weise mit der pragmatischen Handhabung des Falles Fedor D. durch die US-Behörden, wie er sich auf Grundlage seiner Hamburger Krankenakte für uns darstellt. Die Entscheidung, D. um jeden Preis auszuweisen, bringt ein unspezifisches Symptomkonglomerat hervor, in dem sich die Grenzen zwischen körperlich und seelisch verwischen. Beide Aspekte ergänzen sich in eigentümlicher Weise, die wahrscheinlich mehr über die politische Kultur in den USA aussagt als über die gesundheitliche Verfassung des betroffenen Migranten. D. wird in den USA als körperlich „minderwertig“ eingestuft und sein Fall, als er Schwierigkeiten macht, über die psychiatrische Schiene abgewickelt. Derartige medizinische Begründungen für die Zurückweisung eines Immigranten – man sollte hier nicht von Diagnosen sprechen – waren im Prinzip austauschbar. Sie waren Mittel zum Zweck. So haben etwa Howard Markel und Alexandra Minna Stern „the fluid nature of the exclusionary labels“ hervorgehoben: If one label failed to work in rejecting the most objectionable, a new one […] was soon created, whether of contagion, mental disorder, chronic disability, or physique. Although some medical categories of exclusion were more popular in certain regions of the country, almost all were some­how tainted with the underlying idea that the immigrant group in question threatened the nation in a particular way.23

Im Kontext dieser „fluidity of medical labels“ bezeichnen Markel und Stern gerade die „poor physique“ als „a favorite ‚wastebasket‘ label“.24 Auch „feeble-minded“25 und „nervous affections“ waren im Grunde genommen nichts anderes. Die Eintragungen in D.s Friedrichsberger Krankenakte lassen nicht unbedingt erkennen, dass es sich bei ihm um einen psychisch Kranken oder Gestörten handelte bzw. worin sein unterstelltes gesundheitliches Problem eigentlich bestanden haben soll. Als auffallend wurde in erster Linie vermerkt, dass er viel und heftig weinte und auch oft betete. Dies ist durch D.s konkrete Situation und seine kulturelle Prägung nachvollziehbar. D. wollte nicht zurück nach Galizien, wo er als Landarbeiter und im Bahnbau kaum das verdient hatte, was man zum Leben brauchte, und wo er vor allem von seinem Vater offensichtlich sehr schlecht behandelt worden war. Er war enttäuscht, aus Amerika abgeschoben worden zu sein. Bezeichnend ist ein Akteneintrag vom 26. September 1910: „Will arbeiten, ganz gleich, was und wo.“ Es war der Friedrichsberger Anstaltswärter Krejsa, der hier – wie auch in anderen RückwandererFällen – als Dolmetscher fungierte, denn D. konnte kein Deutsch. Er war lediglich der polnischen Sprache mächtig. Seine Auskünfte an Krejsa wurden in Friedrichsberg offensichtlich 23 Markel/Stern 1999, 1327. 24 Ebenda, 1319. 25 Dolmage 2011, 33f. u. 44–48.

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als geordnet und plausibel empfunden. Denn so wurden sie in seiner Krankenakte – in wörtlicher Rede – wiedergegeben. In der Hamburger Anstalt hielt man dennoch seine Ruhigstellung mittels Morphin und Duboisin sowie durch Dauerbäder für angezeigt. D.s Verzweiflung wurde als störend empfunden. In seiner Akte wurde besonders unterstrichen, dass er lediglich „die Schulkenntnisse eines vielleicht 7-8jähr. Jungen“ besitze. Die Diagnose „Dementia praecox“ wird aber auch dadurch nicht plausibler. Erkennbar werden allenfalls die geringen Bildungschancen in Galizien. Er sei, so D., 6 Jahre auf einer Dorfschule gewesen, habe aber „eigentlich nur religiöse Sachen“ gelernt. Wie ließ sich hier überhaupt eine adäquate Diagnose stellen, wenn der behandelnde Psychiater gar nicht in der Lage war, mit D. ohne Dolmetscher direkt zu kommunizieren? Und in welchem Maße waren die Friedrichsberger Ärzte eigentlich in der Lage, in angemessener Weise zwischen psychischer Devianz und kultureller Eigenart zu unterscheiden? In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Friedrichsberger Rückwanderer-Akten interessant. So liest man über die Patientin Marie C., dass sie einen schwachsinnigen Eindruck mache, allerdings nicht festzustellen sei, „wie weit der Schwachsinn krankhaft ist und in wie weit die Demenz durch die dem Volksstamm eigene Indolenz und Stupidität vorgetäuscht wird“.26 Und in der Akte der russischen Jüdin Suve Sch. heißt es ebenfalls 1908: „Die Demenz scheint nicht pathologisch zu sein sondern dürfte auf die Eigentümlichkeit des Volksstammes zurückzuführen sein, der für jede Bildung unzugänglich ist.“27 Der Friedrichsberger Psychiater Albert Buchholz berichtete im selben Jahr auf dem III. Internationalen Kongress für Irrenpflege in Wien über seine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Er unterstrich vor allem die Schwierigkeit, bei osteuropäischen Patienten in Phasen der Rekonvaleszenz eindeutig zu entscheiden, ob einem bestimmten Verhalten „noch krankhafte Ursachen zu Grunde liegen, oder ob wir in ihm nur eigenartige, uns fremde psychologische Erscheinungen vor uns haben“.28 Für Wilhelm Weygandt, seit 1908 Direktor der Hamburger Anstalt, waren die „geisteskranken Rückwanderer“ lediglich Patienten zweiter Klasse, nämlich „Personen, die kulturell zum grössten Teile auf einer wesentlich tieferen Stufe stehen als die Hamburger Kranken“.29 Dass derartige Klassifikationen und Wertungen auch Auswirkungen auf die Behandlung dieser Menschen in der Hamburger Anstalt hatten, zeigt die Krankenakte der Rückwanderer-Patientin Henni B. aus Russland. Der behandelnde Arzt fühlte sich besonders durch die „jüdisch-polnischen Unarten“ dieser Patientin provoziert: „Vorzüglich wirkt hingegen eine Faradisation des ganzen Körpers bei mittelstarken Strömen. Noch besser und 26 27 28 29

HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 29124. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 28657. Buchholz 1909, 111. Weygandt 1912, 87; vgl. zu Weygandt: Weber-Jasper 1996.

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prompter auch gegen ihre Faulheit, Untätigkeit, Laune und Eigensinn dürfte in diesem Falle die leider nicht anwendbare russische Knute sein.“30 Das Verhältnis der Hamburger Psychiater zu Patienten aus anderen Kulturkreisen war also in erheblichem Maße von Vorurteilen und Abneigung bestimmt. Die kulturelle Andersartigkeit hatte Einfluss sowohl auf die Art der Behandlung dieser Patienten in der Anstalt als auch auf den Interpretationsrahmen bei der Betrachtung psychischer Krankheit. Es ist möglich, dass Fedor D. geisteskrank war, ohne dass seine Krankenakte adäquate Informationen dazu enthält. Doch warum hatte man ihn dann in den USA nicht von Anfang an entsprechend klassifiziert? Was auf Ellis Island und dann in Friedrichsberg möglicherweise vor allem psychopathologisiert wurde, waren D.s Widerstand und Halsstarrigkeit, seine Weigerung, das, was mit ihm geschah, zu akzeptieren. Auf jeden Fall wurde die auf Ellis Island eingeleitete Psychopathologisierung einer in Amerika unerwünschten Person in der Hamburger Irrenanstalt fortgesetzt und erhielt damit eine zusätzliche Legitimation. Mit einer Instruktion vom 20. Juni 1911 – das war kaum ein Jahr nach D.s Sprung aus dem Bullauge des HAPAG-Dampfers im Hafen von New York – machte es die Hamburg–Amerika Linie den Kapitänen ihrer Schiffe zur Pflicht, „die ihnen zur Rückbeförderung übergebenen Einwanderer während des Aufenthalts in den Häfen der Vereinigten Staaten dergestalt bewachen zu lassen, daß jede Möglichkeit des Entweichens ausgeschlossen bleibt“. Wiederholt waren aboder ausgewiesene Migranten, so erfährt man hier, von den Schiffen geflohen, die sie zurück nach Europa befördern sollten, und an Land zurückgekehrt. Die US-Regierung habe deshalb beschlossen, „künftig in solchen Fällen mit der größten Strenge gegen die Reedereien vorzugehen und exorbitant hohe Geldstrafen selbst dann zu verhängen, wenn nicht nachgewiesen ist, daß die Schiffsangestellten irgend ein Verschulden trifft“.31 Fedor D. war also vielleicht wirklich nicht verrückt, sondern nur einer von vielen, die um jeden Preis in den USA arbeiten wollten, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft hatten. Ob und inwieweit wir uns dem Fall Fedor D. entscheidend nähern konnten, muss offen bleiben. Die in D.s Friedrichsberger Akte enthaltenen Informationen über seine Abschiebung aus den USA sind spärlich, lückenhaft und nicht eben präzise. Und doch erschien uns gerade dieser Fall von erheblichem Interesse. Seine Problematisierung ist sehr gut geeignet, die Mechanismen des regulatorischen Schwellenraums Ellis Island hinsichtlich der Bildung einer besonderen Formation des Wahns zu verdeutlichen. Ellis Island32 war ein Ort des Übergangs par excellence, ein liminaler Raum, die unumgängliche Schwelle zum „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. In Anlehnung an Foucault bezeichnete Jay Dolmage Ellis Island 30 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 26050. 31 Zs. d. HAL 10. Jg., Nr. 12, 20. Juni 1911, 1. 32 Fairchild 2003; Lüthi 2009, 147–195.

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unlängst als „heterotopia of deviation“.33 Die streng geregelten und immer nach dem gleichen Muster durchgeführten medizinischen Untersuchungen, in denen der medical gaze der Einwanderungsärzte als zentrales diagnostisches Instrument erkennbar wird, muten fast an wie archaische Übergangsriten, wie „Angliederungsriten“ im Sinne van Genneps.34 Diese medizinischen Kontrollen in der line mit starker sozialer Asymmetrie zwischen den Ärzten des US Public Health Service und den zu untersuchenden Migranten waren eine einschüchternde Machtdemonstration der USA gegenüber den Neuankömmlingen aus Europa. Sie dienten der Rekrutierung produktiver Arbeitskräfte im Sinne eines „Normalisierungsprozesses“35 und zugleich der Selektion des „Minderwertigen“ im Interesse der „Reinhaltung“ des amerikanischen „Volkskörpers“. Die Ärzte auf Ellis Island befanden sich permanent auf einer Gratwanderung zwischen ihrem Anspruch wissenschaftlich-medizinischer Sachbezogenheit und dem nachhaltigen Einfluss kulturell geprägter Wertvorstellungen auf ihre Wahrnehmungen und Entscheidungen. Der „Wahn des Migranten“ als ein weitgehend unspezifisches Konglomerat diverser Devianzen und Alteritäten wurde maßgeblich auf Ellis Island, aber auch im US-amerikanischen Alltag konstruiert, in dem die Wahrnehmungs- und Toleranzschwellen gegenüber auffälligem Verhalten oder besonderen seelischen Stimmungslagen bei Immigranten und Immigrantinnen eher niedrig gesetzt waren.36 Vor der Ausreise nach Amerika spielte der Aspekt Geisteskrankheit oder -schwäche demgegenüber fast gar keine Rolle. An den preußischen Grenzstationen, auf dem Auswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin und in den Hamburger Auswandererhallen37 dienten die Gesundheitskontrollen fast ausschließlich der Selektion von Migranten mit ansteckenden Krankheiten. Diese „points of passage“ des Transits durch Deutschland hatten als regulatorische Schwellen gerade auch zwischen West- und Osteuropa primär die Seuchenabwehr zum Ziel.38 Auf dem Höhepunkt der Rückwanderer-Behandlung in Friedrichsberg im Jahre 1909 – für dieses Jahr allein sind exakt 100 einschlägige Krankenakten überliefert – ging an den preußischen Grenzstationen besonders die Zahl der wegen 33 Dolmage 2011, 26. 34 Der Franzose Arnold van Gennep veröffentlichte bereits 1909 sein Werk „Les Rites de Passages“ („Übergangsriten“). Van Gennep untersuchte rituelle Handlungen und ihre Abfolgeordnungen im Rahmen von Transformationsprozessen (räuml. Übergänge; zeitl. Übergänge: Geburt, Initiation, Verlobung und Heirat etc.). Er unterschied zwischen Trennungsriten, Übergangs- bzw. Schwellenriten und Angliederungsriten. Mit diesen Riten geht jeweils ein sozialer Statuswechsel einher. (Gennep 2005; vgl. Lüthi 2009, 151f.; Fairchild 2003, 65–67). 35 Zum Begriff der „Normalisierung“ vgl. Lüthi 2009, 95–103. 36 Wulf/Schmiedebach 2008. 37 In den Hamburger Auswandererhallen waren die meisten Migranten vor Einschiffung nach Amerika untergebracht. (Wöst 2008; vgl. Die Auswanderer-Hallen 1907). 38 Vgl. Weindling 2000, 49–72; Just 1988, 97–123.

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Trachom39 abgewiesenen osteuropäischen Migranten einerseits in die Tausende. Andererseits wurden lediglich am Grenzübergang Myslowitz gerade einmal zwei Migranten wegen „Geisteskrankheit“ zurückgewiesen. In den Statistiken der anderen Grenzstationen wird diese Kategorie nicht einmal erwähnt.40 Im selben Jahr wurden in Hamburg 1.786 Personen von der Weiterreise nach Übersee (davon 1.783 in die USA) ausgeschlossen. Den zusammen 1.619 Fällen von Trachom standen lediglich sechs Fälle von Nerven- und Geisteskrankheit gegenüber.41 Während insgesamt 446 Friedrichsberger Rückwanderer-Akten aus den Jahren 1900 bis 1914 überliefert sind, konnten demgegenüber nicht einmal 40 Auswanderer-Akten in Hamburg nachgewiesen werden.42 Selektion nach Maßgabe psychischer Devianz fiel also vor der Ausreise in die USA in Deutschland praktisch nicht ins Gewicht. Die Aussonderung des „Unbrauchbaren“ und „Unerwünschten“ brachte auf Ellis Island eine besondere Figuration des (vermeintlichen) Wahns hervor, die in den zahlreichen einschlägigen Krankenakten der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg einen eindrucksvollen Niederschlag gefunden hat. Kaum eine andere Diagnose aber bereitete den amerikanischen Einwanderungsärzten soviel Mühe und Schwierigkeiten wie die Feststellung von geistigen Defiziten und psychischen Erkrankungen. Die Untersuchungs- und psychologischen Testmethoden waren unausgereift und in ihrer Aussagekraft umstritten.43 Falsche oder fragwürdige Diagnosen ergaben sich zudem oftmals aus der Fremdsprachigkeit der Migranten und inadäquaten Übersetzungen sowie unterschiedlichen kulturellen Prägungen. Fiorello H. La Guardia, der spätere Bürgermeister von New York und von 1907 bis 1910 Dolmetscher auf Ellis Island, glaubte, „that over fifty per cent of the deportations for alleged mental disease were unjustified“. Er begründete diese Einschätzung wie folgt: „Many of those classified as mental cases were so classified because of ignorance on the part of the immigrants or the doctors and the inability of the doctors to understand the particular immigrant’s norm, or standard.“44 Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Hamburg hatten die in den USA abgewiesenen Migranten erneut einen regulatorischen Schwellenraum zu durchlaufen, in dem der ihnen zugeschriebene Wahn in den meisten Fällen eine Bestätigung erfuhr, aber auch vielfältigen Modifizierungen unterworfen war und als eine für die norddeutsche Hafenmetropole signifikante Formation des „modernen“ Wahnsinns erkennbar wird.

39 40 41 42 43 44

Vgl. Markel 2000. Preuß. Gesundheitsw. 1909, 41–43. Jahresber. Ausw. 1909, 2f. Vgl. Anm. 5. Kraut 1995, 70–77; vgl. auch Fairchild 2003, 101–104. La Guardia 1948, 65.

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2. Rückwandererhafen Hamburg Zwischen Schiff und Anstalt – Übergänge, Regularien, Institutionen Die regulatorischen Interventionen verschiedener Hamburger Instanzen in den Rückführungsprozess der „verrückten Migranten“ in ihre Herkunftsländer und -gemeinden hatten mehrere Gründe. In Hamburg sollte in erster Linie die Transportfähigkeit festgestellt bzw. durch Versorgung der Betroffenen in der Anstalt erreicht (oder auch abgewartet) werden. Ziel war ein reibungsloser Rücktransport der Migranten und Migrantinnen mit der Eisenbahn zu den entsprechenden Grenzstationen bzw. in ihre jeweiligen Herkunftsländer. Komplikationen, etwa ein Entweichen während der Überführung, sollten unter allen Umständen vermieden werden.45 Etwaige Kosten gingen zu Lasten der Hamburg–Amerika Linie, die bei Zwischenfällen in jedem Fall haftbar gemacht werden konnte. Waren schon der Bewegungsfreiheit „normaler“ (Re-)Migranten in Hamburg erhebliche Grenzen gesetzt 46, war man bei den „geisteskranken Rückwanderern“ in der Regel umso mehr bestrebt, sie zu kontrollieren und möglichst zu internieren, um nicht nur die illegale Einwanderung unerwünschter (und noch dazu psychisch – wie auch immer – auffällig gewordener) Ausländer in das Hamburger Staatsgebiet bzw. nach Deutschland zu verhindern, sondern auch die Hamburger Bevölkerung vor etwaigen Übergriffen durch Geisteskranke bzw. Menschen zu schützen, deren psychische Verfassung man nicht genügend einschätzen zu können glaubte. Es kommt hinzu, dass ein Weitertransport dieser Personen oftmals auch deshalb nicht möglich war, weil die Personalien und die Herkunft überhaupt erst einmal festgestellt werden mussten. Oft war das ein langwieriger Prozess, der die jeweilige Aufenthaltsdauer aus den USA abgeschobener Migranten in der Friedrichsberger Anstalt erheblich mitbestimmen konnte.47 Die „geisteskranken Rückwanderer“ waren nach ihrer Rückkehr aus Amerika in den ersten Jahren zunächst vom Schiff in das neue Hafenkrankenhaus48, das Hamburger Polizeikrankenhaus, gebracht und von dort nach kurzer Zeit – meist nur wenige Tage – zum größten Teil in die Irrenanstalt Friedrichsberg weiterüberwiesen worden. Den Transport übernahm in der Regel die städtische Sanitätskolonne. Vom 15. August 1907 datiert die erste Friedrichsberger Rückwanderer-Akte, durch die ein neues, vereinfachtes Einweisungsverfahren nach Fried45 Weygandt 1912, 86–88. 46 Vgl. Just 1988, 97–123; vgl. zur Rückwanderung aus den USA: Wyman 1996. 47 Weygandt 1912, 86. 48 �������������������������������������������������������������������������������������������� Das Hafenkrankenhaus 1975; Das Hafenkrankenhaus 1904. – Die ersten Friedrichsberger Rückwanderer-Fälle im Jahre 1900 waren nach Landung der Schiffe zunächst noch in das Kurhaus gebracht worden, weil das Hafenkrankenhaus noch nicht ganz fertiggestellt war. Das Kurhaus gehörte zu den Vorläufern des Hafenkrankenhauses. (Das Hafenkrankenhaus 1975, 10f.; vgl. auch Rodegra 1979, 129f.).

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richsberg greifbar wird. Ein Steward der HAPAG bringt an diesem Tag die 16-jährige Polin Maria A.49 direkt vom Schiff in die Irrenanstalt. Fortan wurden die infrage kommenden Personen in der Regel durch Angestellte der Hamburg–Amerika Linie, oftmals (Zwischendeck-) Stewards bzw. Stewardessen, gleich von Bord der eingetroffenen HAPAG-Dampfer in die Anstalt gebracht und aufgrund eines schiffsärztlichen statt wie bisher eines polizeiärztlichen Attests in Friedrichsberg aufgenommen. Ab Frühjahr 1911 (bis zum Ersten Weltkrieg) war dann das Hafenkrankenhaus in den meisten Fällen wieder die erste Station nach Landung der Schiffe in Hamburg. Aus der Phase zwischen Sommer 1907 und Frühjahr 1911, als die „geisteskranken Rückwanderer“ direkt von Bord der Schiffe nach Friedrichsberg gebracht wurden, stammen rund 250 Krankenakten. Das ist mehr als die Hälfte der überlieferten Friedrichsberger Rückwanderer-Akten. Ein kurioser Fall ist der des 31-jährigen Schweizers Paul S.50, der am 26. September 1910 durch einen „betrunkenen Matrosen“ – wie es in seiner Krankenakte wörtlich heißt – von Bord der „Amerika“ nach Friedrichsberg begleitet wurde. Der Übergang zur veränderten Einweisungspraxis 1907 war gekennzeichnet durch eine interessante Besonderheit. Bis zum Ende dieses Jahres trafen die als geisteskrank aus den USA abgeschobenen Personen mehrfach in amerikanischer Begleitung in Friedrichsberg ein. So wurde beispielsweise der „Rückwanderer“ Michaly P.51 am 30. August „von einem Pfleger aus der Irrenanstalt in Chicago gebracht“, direkt von Bord der „Pennsylvania“. Am 16. Oktober wurden zwei Russen52, die mit dem HAPAG-Dampfer „President Grant“ in der Hansestadt eingetroffen waren, „von einem Beamten der amerikanischen Auswanderer-Behörden aus der städt. Irrenanstalt in Newyork gebracht“. (Gemeint war hier die US-Einwanderungsbehörde.) Interessant ist auch ein Beispiel vom 17. Dezember. An diesem Tag wurde der Pole Josef L.53 von Bord der „Blücher“ durch „1 Pfleger aus einer Newyorker Irrenanstalt in Begleitung eines Beamten der H.A.P.A.G.“ nach Friedrichsberg gebracht. Doch dies blieben Ausnahmen. Sowohl der Beginn der veränderten Einweisungspraxis nach Friedrichsberg als auch das Auftreten amerikanischer Begleitpersonen an Bord der HAPAG-Dampfer fällt zeitlich sehr eng zusammen mit dem Inkrafttreten eines neuen Einwanderungsgesetzes in den Vereinigten Staaten, der im letzten Abschnitt bereits erwähnten „Immigration Laws and Regulations of July 1, 1907“.54 Und noch ein weiterer Zusammenhang ist hier zu berücksichtigen. Bereits seit 1904 gab es eine Kontroverse zwischen der Hamburger Polizeibehörde und der Hamburg– 49 50 51 52 53 54

HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 28062. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 32542. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 28108. HKbA Hamburg, Akten Friedrichsberg Nrn. 28303 und 28304. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 28535. Vgl. Anm. 18.

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Amerika Linie um eine angemessene Bezahlung der Behörde für ihre Leistungen bei der Aufnahme, der Versorgung und beim Rücktransport von „Rückwanderern“, die wegen eines seelischen oder körperlichen Leidens in hilfsbedürftigem Zustand waren. Die Zahlungen an die Behörde betrafen auch die Verpflegungssätze in Krankenhäusern oder Irrenanstalt. Während die Polizeibehörde eine Anpassung, d.h. eine Erhöhung des Leistungssatzes forderte und in Rechnung stellte, beharrte die HAPAG auf den 1888 festgelegten Sätzen und zahlte die erhöhten Beträge lediglich unter Vorbehalt. Sowohl das Hanseatische Oberlandesgericht als auch das Reichsgericht entschieden 1909 zugunsten der Reederei.55 Der Aufwand, den ein „geisteskranker Rückwanderer“ für die Polizeibehörde bedeutete, wurde de facto mit der veränderten Einweisungspraxis nach Friedrichsberg seit August 1907 erheblich reduziert. Die HAPAG übernahm quasi staatliche Aufgaben, der Schiffsarzt die Rolle und Funktion des Polizeiarztes. In den Jahresberichten der Hamburger Behörde für das Auswandererwesen ist formal allerdings weiterhin von einer Überweisung nach Friedrichsberg durch die Polizeibehörde die Rede.56 Das Hafenkrankenhaus sah sich jedoch faktisch für einige Jahre nur noch in Ausnahmefällen mit „geisteskranken Rückwanderern“ konfrontiert. Der skizzierte Übergang in der Einweisungspraxis in Hamburg wird nicht nur in den Rückwanderer-Akten, sondern auch auf normativer Ebene greifbar. Nur wenige Tage nach Inkrafttreten des neuen US-Einwanderungsgesetzes, nämlich bereits am 5. Juli 1907, war in der Zeitschrift der Hamburg–Amerika Linie die Instruktion erschienen, dass „geisteskranke Rückwanderer“ fortan nicht mehr dem Hafenkrankenhaus, sondern der Irrenanstalt Friedrichsberg zuzuweisen seien.57 Mit der Umgehung des Polizeikrankenhauses war die Hamburg–Amerika Linie im Umgang mit dieser Gruppe praktisch autark geworden. Ihre Einweisung nach Friedrichsberg war fortan eine Zwangseinweisung durch Angestellte einer privaten Reederei. Doch auch schon vor 1907 hatte die HAPAG erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Polizeiärzte genommen. Greifbar werden in Hamburg primär drei städtische Institutionen, zwischen denen der „Wahn des Migranten“ verhandelt und durch die er gedeutet und modelliert oder auch dekonstruiert wurde. Gemeint ist zum einen die Hamburg–Amerika Linie als privates Unternehmen, zum zweiten das Hafenkrankenhaus und der polizeiärztliche Dienst (im Rahmen städtischer Ordnungsmacht) und zum dritten die Irrenanstalt Friedrichsberg als Hamburgs maßgebliche psychiatrische Versorgungsanstalt (sowie das Hamburger Medizinalamt58 als die zuständige

55 Hamb. Fremdenbl. 23.12.1909 (Fünfte Beilage). 56 Vgl. die jeweiligen Jahresberichte der Hamburger Behörde für das Auswandererwesen (Jahresber. Ausw. 1900–1914). 57 Zs. d. HAL 6. Jg., Nr. 14, 5. Juli 1907, 130. 58 Vgl. hierzu StAHH, 352-3, II L 5, Bd. 2, Bl. 49–62.

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Behörde). Hafen, Polizeikrankenhaus und psychiatrische Anstalt in der Hansestadt repräsentieren im Rahmen der Rückführung der als psychisch krank oder minderwertig aus Amerika abgeschobenen Migranten und Migrantinnen in ihre meist osteuropäischen Herkunftsländer einen mehrstufigen regulatorischen Schwellenraum. Sichtbar werden vielfältige Interdependenzen zwischen diesen drei Stufen sowie spezifische Veränderungen im gegenseitigen Kräftegleichgewicht. Das Hafenkrankenhaus wird in besonderem Maße als eine regulierende Instanz in Bezug auf den „Migranten-Wahn“ greifbar. Es fungierte als eine Art Filter an der Schwelle zur psychiatrischen Anstalt. Lässt sich Ellis Island – zumindest mittelbar und im weitesten Sinne – als ein „Vorraum“ der Hamburger Psychiatrie begreifen, so war es das Hafenkrankenhaus zeitweise in einem sehr viel engeren Sinne. Wir haben die Krankengeschichten des Hafenkrankenhauses für das erste Vierteljahr 1905 exemplarisch ausgewertet.59 Es handelt sich um insgesamt 551 Krankenblätter. Aufgrund der sehr nachlässigen Führung dieser Blätter sind einer genauen Analyse Grenzen gesetzt. Greifbar werden aber insgesamt 13 „Rückwanderer“ aus Amerika, von denen elf als geisteskrank in die Hamburger Klinik eingeliefert wurden. Ein „Rückwanderer“ wurde wegen Delirium tremens im Hafenkrankenhaus aufgenommen. Eine weitere „Rückwanderin“ bedurfte der Wochenbettpflege. Sieht man von diesen beiden Fällen ab, so wurden sieben von elf „Rückwanderern“ als geisteskrank bzw. -gestört in die Friedrichsberger Anstalt weiterüberwiesen. Das sind rund 64 %. Bei allen anderen Patienten des Hafenkrankenhauses ergibt sich für den gegebenen Zeitraum fast exakt der gleiche Wert. Während bei den erwähnten elf Rückwanderer-Patienten der größte Teil aus Osteuropa kam, waren die übrigen wegen psychischer Auffälligkeiten eingewiesenen Patienten zu 95 % Deutsche. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die tatsächliche Zahl der als „geisteskranke Rückwanderer“ 1900 bis 1914 im Hamburger Hafen eingetroffenen Migranten aus den USA deutlich höher gewesen sein dürfte als die Anzahl der einschlägigen Friedrichsberger Krankenakten, die ihrerseits ja auch nur – wenn auch bei durchschnittlich relativ hoher Überlieferungsquote – einen Teil aller ehemals vorhandenen Krankenakten darstellen. Ein Teil der „verrückten Migranten“ aus den Vereinigten Staaten wurde also im Hamburger Hafenkrankenhaus herausgefiltert und nicht der Friedrichsberger Anstalt zugeführt. Verlässt man die rein quantitative Ebene und fragt nach der Anamneseund Diagnosepraxis, so ergeben sich interessante Einblicke in die ärztlichen Praktiken im Umgang mit dem „Wahn des Migranten“.

59 StAHH, 352-8/4, B 1905, Krankenblätter 1–551.

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Die Fälle der Friedrichsberger Patienten Vinzent S. und Mate V. In das von uns untersuchte erste Quartal des Jahres 1905 fällt der sechstägige Aufenthalt des etwa 25-jährigen Russen Vinzent S. im Hamburger Hafenkrankenhaus.60 Auch wenn oder gerade weil die Umstände seiner Rückkehr aus den USA andere waren als bei den meisten seiner Friedrichsberger Mitpatienten, ist dieser Fall hinsichtlich der Aushandlungsprozesse zwischen „verrückt“ und „normal“ – im Kontext transatlantischer Migration – in der norddeutschen Hafenstadt besonders aufschlussreich. S. war mittellos in der Stadt umherirrend von der Polizei aufgegriffen worden und ohne dass sich jemand mit ihm verständigen konnte wegen „Geistesgestörtheit“ von der Polizei ins Hafenkrankenhaus überwiesen worden. Der Hamburger Polizeiarzt Rothfuchs überwies S. am 11. März 1905 wegen „Geistesstörung“ bzw. „Schwachsinn“ vom Hafenkrankenhaus nach Friedrichsberg.61 Dort entließ man den Patienten bald als „geheilt“. „Krankhaftes“, so hieß es nach neuntägiger Beobachtung abschließend in seiner Akte, „war hier nicht zu konstatieren“. Probleme der rein sprachlichen Verständigung hatten aber offensichtlich schon genügt, um einen Prozess der Psychopathologisierung in Gang zu setzen, der erst in Friedrichsberg gestoppt werden konnte. Es scheint letztlich der des Russischen kundige Anstaltswärter Nischik gewesen zu sein, der den Weg wies, wie das Verhalten von S. einzuordnen war. Nach seinem Eindruck gab S. „geordnete Auskunft“. Dies festzustellen, war Rothfuchs offenbar nicht möglich gewesen. Er war kein Psychiater, sondern in Hamburg als hervorragender Unfallchirurg bekannt.62 Vor allem aber sprach er kein Russisch. Rothfuchs überwies S. in die Irrenanstalt – ohne mit ihm gesprochen zu haben. Das überlieferte Krankenblatt des Hafenkrankenhauses vermittelt insgesamt den Eindruck, dass man dort nichts mit dem Patienten anfangen konnte. Immerhin war ein polnisch sprechender Wärter herangezogen worden. Doch S. hatte nicht geantwortet. Stattdessen lache er blöde vor sich hin, bemerkte Rothfuchs: „Es scheint sich bei ihm um Schwachsinn zu handeln.“ Der äußere Eindruck von Armut und kultureller Andersartigkeit, die Unfähigkeit adäquater Artikulation mögen sich bereits bei der Festnahme zu einem Eindruck von psychischer Abnormität verdichtet haben, der zur Einlieferung ins Hafenkrankenhaus – wegen „Geistesgestörtheit“ – geführt hatte und der dann auch dort in einer allerdings eher vagen Diagnose seinen Niederschlag fand. Im Folgenden soll ein Friedrichsberger Rückwanderer-Fall genauer dargestellt werden, bei dem die Konstellationen zwischen dem Anlegen des Schiffes im Hamburger Hafen und der Aufnahme in die Irrenanstalt ebenfalls erheblich vom Normalfall abwichen und der ge60 StAHH, 352-8/4, B 1905, Krankenblatt 378. 61 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 25259. 62 Dr. Rudolf Rothfuchs leitete zwischen 1913 und 1930 das Hafenkrankenhaus. (Das Hafenkrankenhaus 1975, 23f.).

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rade vor dem Hintergrund der oben skizzierten Ereignisse um Vinzent S. ein interessantes Schlaglicht auf die regulatorischen Praktiken der beteiligten Hamburger Instanzen zu werfen vermag. Der 54-jährige ungarische Rechtsanwalt Mate V. wurde am 5. August 1905 in Friedrichsberg eingeliefert.63 Rund eine Woche zuvor, am 28. Juli, war er mit der „Batavia“ nach etwa einem halben Jahr aus Amerika zurückgekehrt. In New York war er offensichtlich bereits im Bellevue Hospital gewesen, d.h. in psychiatrischer Behandlung. Seiner Friedrichsberger Krankenakte sind abschriftlich drei Seiten mit Auszügen aus der „Polizei-Acte“ beigefügt. Unter dem 29. Juli erfährt man, dass V. nach Landung des Schiffes aus New York dem Hafenkrankenhaus zugeführt worden war, da seine „geistige Erregtheit“ eine Weiterbeförderung nicht habe ratsam erscheinen lassen. Die HAPAG stellte – die Gründe bleiben unerwähnt – nun den „Antrag“, „diesen Passagier nicht erst nach dem Eppendf. Krankhs. oder Friedrichsberg überführen zu lassen, sondern einige Tage im Hafenkrankhs. zur Erholung zu halten und dann von dort aus nach der Heimat weiterreisen zu lassen“.64 Unter dem 3. August 1905 erfährt man weiter, dass V. inzwischen aus dem Hafenkrankenhaus abgeholt worden war, um in seine Heimat transportiert zu werden. Auf dem Hannoverschen Bahnhof sei er allerdings sehr aufgeregt gewesen und habe sich geweigert abzureisen: „Da nach ärztl. Gutachten V[...] nicht geisteskrank ist, so wurde derselbe [...] in den Auswandererhallen untergebracht.“ Einen Tag später wurde notiert, dass er wegen seiner Aufgeregtheit aus den Auswandererhallen wieder entlassen worden sei. Er habe im Bureau der Hamburg–Amerika Linie einen Tobsuchtsanfall gehabt, weshalb die Polizei „zur Hülfeleistung ersucht“ werden musste. Man habe ihn zu seiner eigenen Sicherheit wieder ins Hafenkrankenhaus zurückgebracht. Die Hamburg–Amerika Linie werde „weitere Anträge“ stellen. Am 5. August äußerte Polizeiarzt Rothfuchs, dass er über V.s Geisteszustand kein Urteil abgeben könne, da dieser kein Deutsch spreche. Nach Aussage eines HAPAG-Dolmetschers scheine er aber an Verfolgungswahn zu leiden. Er glaube sich von einem Bruder des Kaisers von Österreich verfolgt und befürchte, dass Strychnin in seiner Nahrung sei: „Darnach“, so Rothfuchs, „scheint er in der Tat geistesgestört zu sein. Er bedarf deshalb der Aufnahme in Irrenanstalt Friedrichsberg.“65 Die Vorführung V.s ergab am selben Tag, dass er sich weiterhin entschieden weigerte, nach Ungarn zurückzukehren. Er verlangte seine Entlassung und wollte zurück nach Amerika. Er wolle nicht einsehen, heißt es weiter, dass er dort bereits „zurück63 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 25736. 64 Im entsprechenden Krankenblatt des Hafenkrankenhauses findet sich folgende Eintragung: „H.A.L. wünscht, daß er einige Tage zur Erholung hier bleibt; soll nicht nach Friedrichsberg geschickt werden.“ Aus dem Hafenkrankenhaus entlassen wurde V. am 3. August 1905 als „gesund“. Es seien keine Zeichen von Geistesstörung beobachtet worden. (StAHH, 352-8/4, B 1905, Krankenblatt 1321). 65 Vgl. V.s zweites Krankenblatt aus dem Hafenkrankenhaus (StAHH, 352-8/4, B 1905, Krankenblatt 1374).

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gewiesen“ worden sei. V. wurde noch an diesem Tag nach Friedrichsberg überführt wegen „Geistesstörung“. Rothfuchs gab als Haupterscheinung Verfolgungswahn an. Die Überführung sei erforderlich zum eigenen Schutz des Kranken und zur Abwendung von Gefahren. Die Diagnose in Friedrichsberg: „Paranoia“. V. erscheine „ziemlich dement“ und seine Kleider seien voll Kot, heißt es auf dem Aufnahmebogen in seiner Akte. V. wurde nach dreieinhalb Monaten als „ungeheilt“ entlassen und an die Grenze transportiert. Auf dem Deckel seiner Krankenakte findet sich unter dem Namen zunächst die Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“ und dann erst hinter „Wohnort“ die Bezeichnung „Rückwanderer“. V. war kein normaler Friedrichsberger Rückwanderer-Patient. Das zeigt diese Art der Doppelbenennung auf seiner Akte. Akademiker waren innerhalb dieses Patientenkontingents die absolute Ausnahme. An der Schläfe hatte V. eine Narbe, die nach seiner Aussage ein Säbelschmiss war. Nur wenige andere Mitpatienten in Friedrichsberg dürften überhaupt gewusst haben, was solch eine Mensur ist. Etwas ungläubig notierte man in Friedrichsberg: „Als gewöhnlicher Arbeiter will er dort [in Manhattan, Anm. d. Verf.] beschäftigt gewesen sein.“ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Hamburg–Amerika Linie dem ehemaligen Richter aus Großwardein aufgrund seines sozialen Standes66 zunächst den Aufenthalt in Friedrichsberg ersparen wollte, dann aber doch einsehen musste, dass man ihn nicht sich selbst überlassen konnte. Ohne mit dem Patienten überhaupt gesprochen zu haben, hatte man sich ursprünglich im Hafenkrankenhaus durchaus in der Lage gesehen, den Wünschen der Hamburg– Amerika Linie Genüge zu tun. Der sog. „Antrag“ der HAPAG, V. weder an das Allgemeine Krankenhaus Eppendorf noch nach Friedrichsberg zu überführen, sondern nach einer kurzen Erholungspause nach Hause transportieren zu lassen, war nichts anderes als ein Diagnoseauftrag – ein Auftrag, V. nach ärztlichem Gutachten für „nicht geisteskrank“ zu erklären. Widerspruchslos wurde dieser Auftrag erfüllt. Mit der späteren Feststellung, dass er nichts über den Gesundheitszustand von V. sagen könne, da dieser nicht deutsch spreche, gab Rothfuchs indirekt nichts anderes zu verstehen, als dass die erste „Diagnose“ auf keiner ausreichenden Grundlage basierte – und das, obwohl wenig später explizit der Schutz des Kranken und allgemeine Gefahrenabwehr auf dem Spiel standen.

66 Bezeichnend für die ungleiche Behandlung von Passagieren unterschiedlicher sozialer Schichten, die bei Ankunft in Hamburg (oder Cuxhaven) weiterer ärztlicher oder Hospitalbehandlung bedurften, ist folgende Instruktion für die Schiffsärzte der Hamburg–Amerika Linie von 1906: „Kajütspassagiere werden wohl in der Regel über sich selbst bestimmen; sollten sie das jedoch nicht tun oder nicht können, so wird der erwähnte Vertreter [der Abteilung Personenverkehr der HAPAG, Anm. d. Verf.] angeben, was mit ihnen geschehen soll. Hinsichtlich erkrankter Zwischendeckspassagiere wird dieser Vertreter in jedem Falle anordnen, wohin die Kranken zu verweisen sind.“ (Zs. d. HAL 5. Jg., Nr. 12, 20. Juni 1906, 111).

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Kein Zweifel, die Polizeiärzte hatten ein Handicap. Eine adäquate sprachliche Verständigung mit Mate V. war nicht möglich. Ebensowenig war diese aber auch mit Vinzent S. ein paar Monate zuvor möglich gewesen. Der allerdings war von Rothfuchs zum Schwachsinnigen erklärt worden, was sich in Friedrichsberg als nicht haltbar erwies. Umgekehrt folgte man im Hafenkrankenhaus bei Mate V. den Anweisungen der HAPAG und erklärte V. für „nicht geisteskrank“, was sich kurze Zeit später ebenfalls als nicht haltbar erwies. Nicht eine psychiatrische Ausbildung, sondern die Beherrschung einer Fremdsprache war die Qualifikation derjenigen, die – neben einem Unfallchirurgen – in diesen beiden Fällen den Prozess der Psychopathologisierung in Hamburg entscheidend strukturierten und den „Migranten-Wahn“ de- bzw. rekonstruierten. Bei S. sorgte der russisch sprechende Anstaltswärter Nischik in Friedrichsberg für Aufklärung. Bei V. war ein gewisser Herr Szabow von der HAPAG der ungarischen Sprache mächtig und der Überzeugung, dass V. „geistig nicht normal ist“. Er „diagnostizierte“ Verfolgungswahn. Diese Einschätzung eines medizinischen Laien übernahm der Polizeiarzt. Szabow aber kam nur zum Einsatz, weil der reibungslose Ablauf des Zwischendeck-Geschäfts auf dem Gelände der Auswandererhallen gestört zu werden drohte. V. hatte im Bureau der HAPAG einen Tobsuchtsanfall. Szabow und seine zahlreichen sprachkundigen Kollegen in den Auswandererhallen standen indes – bis auf ganz wenige Ausnahmen – weder im Hafenkrankenhaus noch in Friedrichsberg den Ärzten bei der Exploration der überwiegend ausländischen Rückwanderer-Patienten zur Verfügung.67 Kaum war V. in der Irrenanstalt, war es vorbei mit der Kommunikation. Einen Tag nach seiner Einlieferung findet sich folgender Eintrag in seiner Krankenakte: „Verständigung mangels eines Dolmetschers nur in minimalem Umfang möglich.“ Durch derartige Verständigungsbarrieren war eine adäquate psychiatrische Behandlung des größten Teils der Friedrichsberger Rückwanderer-Patienten, sofern sie überhaupt krank waren, praktisch ausgeschlossen.

3. Fazit Die Hamburger Patientengruppe der „geisteskranken Rückwanderer“ aus Nord-Amerika verweist auf einen vielschichtigen Passageprozess zwischen verschiedenen Kontinenten, Kulturen und Sprachräumen, in dem der Wahnsinn immer wieder neu gedeutet und verhandelt wurde. Im Rahmen der medizinischen Kontrollsysteme werden unterschiedliche Aufmerksamkeitsund Toleranzschwellen in Bezug auf den Wahn sichtbar. An den preußischen Grenzübergängen und im Auswandererhafen Hamburg spielten vor der Ausreise nach New York Geisteskrankheiten bzw. psychisch deviantes Verhalten als Abweisungsgründe praktisch keine Rolle. Die regulatorischen Interventionen in den Migrationsprozess bezogen sich in dieser Phase 67 Vgl. dazu Wulf/Schmiedebach 2010a; Wulf/Schmiedebach 2010b.

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fast ausschließlich auf ansteckende körperliche Erkrankungen. Der Aspekt der Seuchenabwehr stand zwar auch auf Ellis Island im Zentrum der medizinischen Untersuchungen, doch galt der psychischen Verfassung europäischer Migranten und Migrantinnen sowohl hier als auch, nach bereits erfolgter Einwanderung, im US-amerikanischen Alltag immerhin soviel Aufmerksamkeit, dass die Zahl der entsprechend nach Hamburg Zurückgewiesenen um 1910 die Aufnahmekapazität der Irrenanstalt Friedrichsberg deutlich überstieg. Der „MigrantenWahn“ wird in den Quellen als eine für die norddeutsche Hafenmetropole signifikante Formation des Wahnsinns erkennbar, die aufgrund sprachlicher Verständigungsbarrieren und im Spannungsfeld zwischen psychischer Devianz und kultureller Andersartigkeit ein hohes Maß an Unbestimmtheit und Unschärfe aufweisen konnte. Die Auswanderung in die Vereinigten Staaten verlangte von den aus differenten Kulturen stammenden Migranten eine Passage durch unterschiedliche Räume und Kontrollsysteme, die durch fremde Umgebung und nicht sofort verstehbare Regularien gekennzeichnet waren. Die psychischen Reaktionen auf diese oftmals schwierigen Anforderungen und verstörenden Erfahrungen, gerade auf Ellis Island, konnten unterschiedliche, von anderen als fremd und widersinnig empfundene Gestalt annehmen und so den Eindruck psychischer Abnormität erwecken. Mehr noch: Die Ablehnung des körperlich „Unerwünschten“ scheint im Fall des Fedor D. über die psychiatrische Schiene abgewickelt worden zu sein, nachdem D. sich auf Ellis Island gegen seine Zurückweisung aufgrund zu geringer Körpergröße aufgelehnt hatte. Bemerkenswert an diesem Fall ist das anscheinend problemlose Ineinandergreifen von physischer und psychischer „Minderwertigkeit“, gegen die man das Territorium der USA abzuschirmen versuchte. Die Entscheidung, D. um jeden Preis auszuweisen, bringt ein unspezifisches Symptomkonglomerat hervor, in dem sich die Grenzen zwischen körperlich und seelisch verwischen. Der Wahn scheint hier in seiner „nachgeschobenen“ Zuweisung in erster Linie ein Instrument der Abschiebung und ein Mittel der Disziplinierung und Kontrolle zu sein. Die Aushandlungsprozesse zur Grenzziehung zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit wurden im Kontext transatlantischer Migration wesentlich strukturiert durch sprachliche Verständigungsbarrieren und die ungeplanten Abläufe, die sich aus den Versuchen oder auch der Unfähigkeit ihrer Überwindung ergaben. Bi- oder Multilingualität trat neben die Kompetenz des Arztes und Psychiaters. Sprachliche Kompetenz konnte die professionelle Deutungsmacht des Mediziners durchbrechen. Sie wurde zu einer wesentlichen Voraussetzung für die ärztliche bzw. psychiatrische Diagnose und gab diese in Einzelfällen sogar vor. Greifbar wird für Hamburg ein mehrstufiger regulatorischer Schwellenraum, in dem sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure als regulierende Instanzen wirkten. Der Friedrichsberger Fall des Mate V. zeigt eindrucksvoll, dass die medizinische Expertise in Hamburg wesentlich beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt werden konnte durch die jeweiligen Inte-

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ressen oder Wünsche der Hamburg–Amerika Linie. Die Wahrnehmungen, Deutungen und Entscheidungen von Angestellten des Hamburger Unternehmens hatten ein bemerkenswert großes Gewicht. Den Mitarbeitern der Reederei HAPAG wurden außergewöhnliche Kompetenzen in Bezug auf die Grenzziehung zwischen geistig „gesund“ und „krank“ zugestanden. Ihre Meinung war nicht nur in dem beschriebenen Fall maßgebend dafür, wer in die Irrenanstalt kam und wer nicht.

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Sabine Fastert

Antworten auf Max Nordau. Künstlerische Kreativität als Produkt psychischer Schwellenzustände in den Kunstzeitschriften um 1900

Keine Vorstellung hat so nachhaltig das moderne Bild vom Künstler geprägt, wie die prominente Verknüpfung von „Genie“ und „Wahn“.1 Während in Antike und Renaissance die Thematisierung des Künstlers als Melancholiker zwar ambivalent, aber doch überwiegend positiv besetzt blieb, postulierte Arthur Schopenhauer als erster ein Ineinanderübergehen von Genialität und Wahnsinn.2 Dabei wurde dem psychischen Schwellenraum mit seinem Oszillieren zwischen Krankheit und Gesundheit, Kontrolle und Kontrollverlust, Übersinnlichem und Sinnlichem eine besondere ästhetische Potenz zugeschrieben. Im Anschluss an Schopenhauer setzte eine zunehmende Pathologisierung des Künstlers ein, der zum Gegenstand eines virulenten medizinischen Diskurses wurde.3 Ein Höhepunkt in dieser Entwicklung stellte Max Nordaus 1892 erschienene, europaweit erfolgreiche Schmähschrift „Entartung“ dar.4 Darin führte er die Nervosität bzw. „Entartung“ auf die Verstädterung zurück, die den Menschen immer mehr nötige, im „Sumpf“ der Großstädte zu leben: „Er [der Großstadtbewohner] atmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechsels geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte, gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustand ständiger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner einer Sumpfgegend gleichstellen.“5 Mit dem Wachstum der Großstädte ging nach Nordau die Vermehrung der „Entarteten aller Art“ einher, so würden sich neben Verbrechern und Wahnsinnigen auch die kulturell-geistig Degenerierten vermehren. Daher komme es, erklärte Nordau, „daß diese letzteren im Geistesleben eine immer auffälligere Rolle spielen, in Kunst und Schrifttum immer mehr WahnsinnsElemente einzuführen streben“6. Mit nahezu inquisitorischem Eifer verfolgte er deshalb in dem umfangreichen, zweibändigen Werk alles, was ihm als kultureller Auswuchs der geistig Degenerierten erschien.7 Das Profil des Psychiaters skizzierte er dabei wie folgt:

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Maaz 2008 und Brugger 1997. Vgl. Krieger 2007 und Schmidt 1985. Vgl. Gockel 2010 und Neumann 1986. Vgl. Ujvári 2007; Schulte 1997 und Bechtel 1996. Nordau 1893, 1: 65. Nordau 1893, 1: 67. Vgl. Dahmen 2006 und Zudrell 2003.

Sabine Fastert

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Rückenmarkschnitte in Chromsäure härten und mit neutrophiler Lösung färben ist ganz verdienstlich, aber damit sollte die Thätigkeit eines Professors der Irreinheilkunde nicht erschöpft sein. [...] Er spreche zur Masse der Gebildeten, die weder Aerzte noch Rechtskundige sind! [...] Er zeige ihnen die Geistesstörung der entarteten Künstler und Schriftsteller und belehre sie darüber, daß die Modewerke geschriebene und gemalte Delirien sind.8

Auf diese Weise stilisierte Nordau den Entartungsbegriff mit all seinen psychiatrisch-anthropologischen Ätiologien, Diagnosen und Therapievorschlägen zu einem kulturkritischen Instrument ersten Ranges.9 Psychopathologische Kulturkritik im Anschluss an Nordau florierte um 1900 und ganze Generationen von Nervenärzten widmeten sich bekanntermaßen dem Verhältnis von Hirnkonstellation, Geisteskrankheit, Degeneration sowie künstlerischer Moderne. Doch was bislang wenig Beachtung fand, sind die Reaktionen der etablierten bzw. sich etablierenden Kunst- und Kulturzeitschriften auf diese Entwicklung. Zum einen soll die regulatorische Schwelle der kunsthistorischen Fachkritik in den Blick genommen werden, die vor allem gegenüber der Medizin institutionelle und disziplinäre Grenzziehungen unternahm. Zum anderen gilt es aber ebenso die Eigenlogik dieses Feldes zwischen Wahn und Kreativität zu erschließen, das ähnlich wie in der zeitgenössischen Psychiatrie keineswegs in einer klaren Dichotomie von „gesund“ und „krank“ aufgeht. Anhand fünf ausgewählter Journale verschiedenster Ausrichtung („Kunstwart“, „Jugend“, „Zeitschrift für Bildende Kunst“, „Pan“, „Aktion“) wird zu fragen sein, inwiefern die kunsthistorische Fachwelt mit ihren Publikationsorganen an der Auslotung des psychischen Schwellenraumes teilnimmt und in welcher Form sie die Grenzen künstlerischer Kreativität verhandelt. Der Zeitpunkt und der Zusammenhang, in dem einzelne Zeitschriften konkret in die Diskussion eingreifen, variiert stark, ebenso die Entscheidung, welche Autoren sie dafür heranziehen, ob Kunstkritiker, Literaten oder Mediziner. Daran anknüpfend wird der letztlich zentralen Frage nachzugehen sein, welches Interesse die Herausgeber damit verfolgten und wie dies mit der generellen Ausrichtung der jeweiligen Zeitschriften bzw. ihres anvisierten Publikums harmoniert.

„Keine Gestalt, heillose Konfusion“: Moderne im „Kunstwart“ Es erscheint naheliegend, zunächst mit dem „Kunstwart“ zu beginnen, einer sehr konservativen, mit Nordaus Gedankenwelt auf den ersten Blick verwandten Zeitschrift. Hier wäre eine weitgehende Übereinstimmung zu erwarten und in der Tat wurden dort um die Jahrhundertwende Fragen nach dem vermeintlichen Krankheitszustand der Kunst immer wieder thematisiert. Seit 1887 erschien das Kulturblatt zweiwöchentlich in Dresden, einem Zentrum 8 9

Nordau 1893, 2: 557. Vgl. Hagner 2004 und Kaiser 2007.

Antworten auf Max Nordau

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der aufkommenden „Lebensreform“-Bewegung.10 Letztere strebte danach, der industriell entfremdeten Umwelt naturgerechte Möglichkeiten menschlichen Lebens abzutrotzen und diese zugleich zu ästhetisieren. Auch der „Kunstwart“-Gründer Ferdinand Avenarius, ein Neffe Richard Wagners, wandte sich in diesem ganzheitlichen Geist an eine wachsende bildungshungrige, aber unakademische Mittelschicht. Er verstand dabei seine „Rundschau über alle Gebiete des Schönen“ ausdrücklich als moralisch-ästhetische Erziehung. In der bildenden Kunst trat der „Kunstwart“ ein für einen nationalromantischen Konservatismus, eine „echt deutsche“ Ästhetik, wofür eine Mischung aus Realismus und mystischer Innerlichkeit wie bei Arnold Böcklin oder Hans Thoma stand. Das führte zu einer doppelten Distanzierung: von der wilhelminischen Hofkunst einerseits, von der radikalen Modernität der Avantgarde andererseits.11 Durch einen Wechsel zum Münchner Callwey-Verlag konnte Avenarius ab 1894 die anfangs eher magere Auflage deutlich steigern. Bereits 1895 unternahm der Herausgeber eine ganz an Nordaus Argumentationslinie orientierte Beschimpfung der ersten Ausgabe des „Pan“, des zwischen 1895 und 1900 von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe herausgegebenen Organs der zeitgenössischen jungen Kunst in Deutschland.12 Diese in Berlin verlegte Zeitschrift stellt in jeder Hinsicht einen Gegenpol zum „Kunstwart“ dar, denn sie engagierte sich für eine urbane, vielgestaltige Moderne und deren künstlerische Ausdruckformen. Die Herausgeber von „Pan“ waren dabei nicht auf materiellen Gewinn aus, sondern verlegten das Blatt „ohne Rücksicht auf kommerzielle, moralische, persönliche oder polemische Fragen unter einziger Würdigung des rein ästhetischen Gesichtswinkels“13. Damit unterschied schon die finanzielle Ausgestaltung den „Kunstwart“ maßgeblich vom „Pan“. Während der „Kunstwart“ am Markt Erfolg haben musste, sollten durch die Herausgabe von „Pan“ jüngere Künstler unterstützt und das interessierte Publikum informiert werden. So druckte „Pan“ zahlreiche, von bekannten ebenso wie noch unbekannten jungen Künstlern entworfene Illustrationen, daneben verkörperte er mit seinen Erzählungen und Gedichten die Anfänge der literarischen Moderne in ihrer ganzen Vielfalt wie Widersprüchlichkeit.14 Avenarius kam zu einem dementsprechend kritischen Urteil: Dort finde sich „die ganze Mannigfaltigkeit der Symptome seelischer Erkrankungen“15. Im Gegensatz zum konservativen Gedankengut des „Kunstwart“ ermöglichte „Pan“ einen Einblick in neue künstlerische Welten, in der Lesart von Avenarius allerdings ein krauses Wirrwarr: „Diese Herren aber geben uns Sammelsurien von allem Möglichen, was ihnen gerade durch den Kopf läuft, 10 11 12 13 14 15

Vgl. Mylarch 1994. Vgl. Koszinowski 1985 und Kratzsch 1969. Vgl. Thamer 1980 und Henze 1974. Zit. nach Thamer 1974, 21. Vgl. Schulten 2009 und Germanese 2000. Avenarius 1894/95, 245.

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wenn sie wohl- oder mißgelaunt sind, keine Einheit, Stücke, nichts Ganzes, ein Gewirr von Vorstellungen, keine Gestaltung, heillose Konfusion.“16 Damit scheint er der Genievorstellung Nordaus, wie sie 1885 in der „Psycho-Physiologie des Genies und Talents“ formuliert wurde, zu folgen. „Urteil und Wille allein und durch nichts anderes ist das Genie ein Genie“, so Nordau, „die Gesetze, nach denen das Urteil arbeitet, bilden zusammen das, was wir Logik nennen.“17 Nordau zog hier eine scharfe Grenze zur Kunst der Kranken, indem er erklärte: Die Hirntätigkeit der Degenerierten und Hysteriker, nicht überwacht und gezügelt von der Aufmerksamkeit, ist eine willkürliche, plan- und ziellose. Die Vorstellungen werden durch das Spiel der uneingeschränkten Ideen-Assoziation ins Bewußtsein gerufen und können sich frei darin tummeln. Sie erwachen und erlöschen automatisch und der Wille greift nicht ein, um sie zu verstärken oder zu unterdrücken.18

Für ihn musste das Kunstwerk als Ausdruck optischer und emotionaler Wahrheit schön, sittlich und nützlich sein. „Sie wollen Schwelgerei, wir wollen Arbeit“, postulierte er anderer Stelle, „sie wollen das Bewußtsein im Unterbewußtsein ersäufen, wir wollen das Bewußtsein stärken und bereichern.“19 Die Dichotomie von „gesunder“ und „kranker“ Kunst durchzieht viele „Kunstwart“-Artikel der Neunzigerjahre20. Einschränkend ergänzt Avenarius jedoch in Hinblick auf den „Pan“: Ich sage nicht, dass all diese Leute geisteskrank oder nervenkrank wären, ich sage nur, dass sie ein Bemühen zeigen, beim Produzieren ihr Bewusstsein herzurichten, als gehörte es solchen Kranken an. Bei den meisten wird’s unbewusst geschehen, mancher scheint’s beinahe mit Absicht zu tun. In beiden Fällen ist es recht gefährlich, mitzutun.21

„Der subjektive Faktor“: Diskussionen um Genie und Wahn Doch sollte man daraus auch nicht vorschnell auf die grundsätzliche Thematisierung des Wahnsinns als psychischen Schwellenzustand im „Kunstwart“ schließen. So diskutierte Eduard Platzhoff 1902 anlässlich der Neuauflagen von Hermann Türcks „Der geniale Mensch“ (zuerst Berlin 1877) und Karl August Gerhardts „Vom Wesen des Genies“ (zuerst Leipzig

16 17 18 19 20 21

Avenarius 1894/95, 244. Nordau 1885, 166. Nordau 1893, 1: 104. Nordau 1893, 2: 506. Zum Beispiel bei Bie 1895/96 und Bartels 1896/97. Vgl. Kottow 2004. Avenarius 1894/95, 244.

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1897) ausführlicher den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn.22 Dabei wurde besonders der Beitrag des Mediziners Gerhardt gewürdigt. Während Türck im genialen Menschen einen dreistufigen Prozess über Gefühl, Verstand und praktischem Wirken annahm, also wie Nordau eine Verherrlichung des handelnden Menschen betrieb, sah Gerhardt die schöpferische Kraft des Genies im gleichzeitigen und gleichstarken Auftreten von Leidenschaft, Phantasie und Urteilskraft definiert. Damit unterschied er das Genie deutlich vom Durchschnittsmenschen und betonte ausdrücklich die geistige Verwandtschaft mit dem Wahnsinn im Sinne des Denkens neuer Welten. Diese Differenzierung hielt Platzhoff für entscheidend: Er [Gerhardt] leugnet dabei keineswegs den nur relativen Unterschied des genialen von dem ‚normalen‘ Menschen, noch auch – und das scheint mir [Platzhoff] besonders beachtenswert – seine Verwandtschaft mit dem Irrsinnigen, nur daß er dabei gegen Lombroso das Fehlen der Urteilskraft bei diesem als das ihn streng vom Genie unterscheidende Merkmal bezeichnet. Türcks Theorie hat gerade in diesem letzten Punkte völlig versagt.23

Stattdessen fordert sogar der Rezensent Platzhoff im „Kunstwart“ modernen Subjektivismus, der für Türck nur gewollte Beschränkung, Stumpf- und Schwachsinn darstellte. „Ist es die Aufgabe des Individuums wirklich, die Natur zu spiegeln“, erklärte Platzhoff, „so ist die Welt Türcks noch langweiliger als die mathematische Welt Leibnizens.“24 Gerhardt betonte hingegen die Rolle der schöpferischen Phantasie und damit die Verwandtschaft zum Kranken, stellte aber zugleich im Gegensatz zu Lombroso und Nordau konsequent den Unterschied heraus. Dies ist für den konservativen „Kunstwart“ in der Tat eine bemerkenswerte Einschätzung. Platzhoff schließt daran mit Verweis auf die zeitgenössische Experimentalpsychologie ein eindringliches Plädoyer für den „subjektiven Faktor“ an: Verlangen wir vom Einzelnen als Individualisten, er solle uns das geben, was nur er geben kann, so nützen wir diese psychologische Tatsache aufs Beste aus. Muten wir ihm aber wie Türck zu, das Wirkliche objektiv zu erfassen, so leugnen wir das subjektive Zustandekommen unseres Empfindens, Vorstellens und Willens.25

Doch konnte laut Gerhardt auch das Genie durch Überanstrengung krank werden und dieser krankhaft labile Geistzustand würde wiederum die Phantasie befördern: „Genie ist möglich trotz Entartung. Genie mit Entartung ist ein mißlungener Anlauf zum reinen Genie.“26 Das 22 Vgl. Platzhoff 1901/02 und Platzhoff 1902/03. Bei den rezensierten Büchern handelt es sich um Türck 1877 und Gerhardt 1897. Zur Geniefrage vgl. auch Soussloff 1997 und Hall/Metcalf 1994. 23 Platzhoff 1902/03, 31. 24 Platzhoff 1901/02, 101. 25 Platzhoff 1901/02, 102. 26 Zit. nach Lange-Eichbaum 1956, 38.

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tragische Moment wachse mit der Größe, womit das alte Faszinosum des Grenzlandes zwischen Genie und Wahnsinn erneut thematisiert wird; diesmal allerdings durchaus positiv konnotiert. Auch Lombroso sah in dem genial Degenerierten eine treibende Kraft des Fortschritts der Menschheit; eine These, der sich Nordau ausdrücklich nicht anschließen konnte und wollte.

„Das Zerrbild des Normalen“: Stadelmann und die Psychopathologie Für unsere Fragestellung lohnt noch ein weiterer Blick in den „Kunstwart“. Im Jahr 1911 ließ Avenarius den differenzierenden Aufsatz „Das Pathologische im Kunstwerk“ von Heinrich Stadelmann abdrucken, den man in dieser Form auch nicht unbedingt erwarten konnte.27 Der Psychiater Stadelmann hatte 1908 den Band „Psychopathologie und Kunst“ vorgelegt, in dem er die Wissenschaft vom Künstler gerade nicht als Diagnoseverfahren über die Kunst verstand, sondern als Mittel, auch ungewöhnliche und phantastisch anmutende Kunstwerke rational zu erklären.28 Er wollte also diejenige Kunst, die in den Augen Nordaus als degeneriert, als krank angesehen wurde, nachvollziehbar machen ohne dabei unverzüglich eine Ästhetik des Hässlichen zu postulieren. Psychopathologie heißt demnach für Stadelmann, dass starke seelische Äußerungen und ihre symbolischen Formen im Werk einen Erklärungsgrund gewinnen können. Damit kennzeichnet sein Denken keine Diffamierung von Kunst als möglicher psychischer Abart, sondern lässt vielmehr bereits im Ansatz eine positive Bewertung des Krankseins als möglicher Quelle kreativer Äußerungen erkennen. Deshalb erscheint seine Auswahl in Hinblick auf Avenarius und den „Kunstwart“ bemerkenswert, zumal Stadelmann als Freund und Schriftsteller dem Dresdner Expressionisten-Kreis „Die Brücke“ eng verbunden war. Dass der Text Stadelmanns im „Kunstwart“ allerdings etwas anders verstanden und eingesetzt wurde, zeigt bereits die vorangestellte Anmerkung der Redaktion: „Die Wichtigkeit, die das Vorkommen pathologischer Elemente in Kunstwerken nachgerade erhalten hat, rechtfertigt wohl, dass wir zur Aussprache über den Gegenstand hiermit einem Psychiater das Wort geben“.29 Dabei betont Stadelmann gleich zu Beginn des Textes ausdrücklich, dass das Auseinanderfallen von Wahrnehmungserkenntnissen und deren Zusammenfügen als neuer Erfahrung ein Prozess sei, der bei so genannten Durchschnittsmenschen wie beim genialen Künstler festzustellen sei. Immer dann, wenn Dissoziation wieder zu einer Einheit geführt werden könne, so 27 Vgl. Stadelmann 1911. 28 Vgl. Stadelmann 1908. Vgl. Gockel 2010, 55–62. 29 Stadelmann 1911, 166.

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Stadelmann, könne auch nicht von Krankheit und Kranksein gesprochen werden, obgleich das Teilphänomen der Dissoziation zum Merkmal des Psychopathologischen gehöre: Wenn das Leben und Wachsen des geistigen Ichs gestört wird, verändert dieses Ich seine Form; es treten Wucherungen, Verkrümmungen und Verschiebungen auf an den Vorstellungen und an den Gefühlen. Das geistige Ich leidet Einbuße in seiner Einheitlichkeit. Diese Auswüchse, Ausfälle und Verkehrtheiten nennen wir pathologisch, das heißt krank.30

Doch hält er an anderer Stelle auch fest: „Das Pathologische ist nur die Ausartung von dem Gewohnten; das Zerrbild des Normalen. Es treten im Pathologischen nicht neue Wesenszüge der menschlichen Seele auf; es sind die alten in gesteigerter oder in herabgesetzter Form.“ 31 Ganze Kunstwerke würden sich auf den pathologischen Elementen der Illusion und Halluzination aufbauen. Doch wird weniger die Abnormität des Seelenlebens als die biologische Prämisse des Genialen wichtig, schließlich geht es Stadelmann darum zu verstehen, weshalb ein Künstler gewissermaßen normale Dissoziationserfahrungen in gestalterische Prozesse überführen kann. Bereits sein Buch von 1908 ist mit acht Abbildungen von Werken der bildenden Kunst versehen, allerdings geht er im Text vor allem auf Beispiele aus der Literatur ein. Diesen Fokus ändert er jedoch im Aufsatz für den „Kunstwart“. Hier fehlen zwar die Abbildungen, dafür werden aber die künstlerischen Arbeiten von Alfred Kubin und Wilhelm Doms ausführlicher besprochen. Gerade Kubin ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, zu dessen Grafik „Das Grausen“ (Abb. 6.1) aus der berühmten „Weber-Mappe“ (1903) Stadelmann 1911 folgendes bemerkte: Die Bilder Alfred Kubins beispielsweise sind reich an illusionären und halluzinatorischen Gestalten. Aus nächtlichem Dunkel streckt sich ein langer Hals, der einen Totenkopf trägt; dieser Totenkopf hat Augen; das eine ist wie im Sterben geschlossen; aus der andern Augenhöhle ist ein mächtiger Augapfel hervorgequollen. Der Hals mit dem Totenkopf taucht zugleich mit einer Woge empor und symbolisiert das ‚Grauen‘ der Schiffbrüchigen, deren Schiff mit dem abgebrochenen Mast rettungslos dem Untergange verfallen ist.32

An diese kurze Benennung der einzelnen Bildelemente schließt sich eine tiefergehende Betrachtung an, bei der Stadelmann gemäß der Vorüberlegungen nach der Herkunft dieser Motive und ihrer Zusammenstellung bei Kubin fragt: Wollten wir eine kurze Analyse dieses Bildes geben, so müßten wir sagen, daß die einzelnen Teile dieser Vision, der Hals, der Totenkopf, das geschlossene Augenlid, der Augapfel usw. in Wirk30 Stadelmann 1911, 167. 31 Stadelmann 1911, 238. 32 Stadelmann 1911, 237.

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Abb. 6.1: Alfred Kubin, Das Grausen, um 1901/02, Tuschfeder, laviert, 27,3 x 27,3 cm, Privatsammlung lichkeit alle vorkommen; allein nicht in dieser Zusammenstellung. Das Auseinanderlegen von Gruppen seelischer Bilder und ein erneutes Zusammenschließen ihrer Elemente erzeugte diese Vision in der Künstlerseele. Dabei werden die gegenseitigen räumlichen Verhältnisse nicht stets in ein Gleichmaß gebracht. Der aus der Augenhöhle hervorgequollene Augapfel zum Beispiel hätte nicht Platz in der Schädelhöhle. Aber solche Mißverhältnisse dürfen nicht nach der formalen Seite hin beurteilt werden; sie gehören zum Wesen der Sache und erhalten durch dieses ihre Rechtfertigung und Berechtigung.33 33 Stadelmann 1911, 237. Vgl. Cowan 2008 und Geyer 2005.

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„Kunst ist nicht Psychose“: die biologische Erklärung des Genies Das Genie ist bei Stadelmann weder eine Projektionsfigur einer für krank gehaltenen Gesellschaft noch ein erstrebenswertes Ideal leidvoller, aber furchtloser Existenz. Stattdessen wird es als ein Fall besonderer Lebensprozesse angesehen, an denen sich auch diejenigen des Normalen studieren lassen. So könne auch der Durchschnittsmensch die psycho-physischen Zustände des Genialen in spezifischen Ermüdungszuständen erfahren. Auch für die Seele des Künstlers gelten nach Stadelmann die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für den Normalmenschen, nur Unterschiede im Mehr oder Weniger würden ihn abheben: Seine Phantasie schafft reicher; das heißt die geistigen Bilder verweben sich gegenseitig dichter und mannigfaltiger und unter Führung intensiverer Gefühle und Stimmungen. Einzelne von diesen ragen wieder da und dort über und drücken so andere in wechselnder Folge herab. Auch zerlegt sich das seelische Ich des Schaffenden während seines Wachstums mehr; es kommt zu einer größeren Vielgestaltigkeit von einzelnen Gruppen, die sich aus den voneinandergelösten Elementen neu bilden. So treten Vorgänge auf, die allerdings den pathologischen ähneln, bei welchen sich seelische Elemente und Gruppen dissoziierend herausheben aus der Einheit des Ich.34

Schon in „Psychopathologie und Kunst“ heißt es 1908: „Allein die von dem Gewohnten abweichenden seelischen Erscheinungen, Psychose und Kunst, ihrem Wesen nach gleichzusetzen, hieße die beiden Pole des Lebens, Zersetzung und Gestaltung, verkennen.“35 Beim „Kunstwart“ wusste man also, auf wen man sich einließ, als man Stadelmann um einen Text bat. Ebenso deutlich wird Stadelmann denn auch in seinem Aufsatz für den „Kunstwart“: Während aber bei dem Geisteskranken die pathologischen Elemente den Weg zum Ganzen nicht mehr zurückfinden und dadurch eine Urteilslosigkeit entstehen lassen, kehren die Phantasien der Künstlerseele immer wieder zurück zu dem einheitlichen Ich und verhelfen auf diese Weise dem seelischen Organismus gerade zu größerem Ausbau. Deshalb dort Zerfall und hier im Gegenteil umfassenderes Gedeihen der seelischen Einheit.36

Die seelische Einheitlichkeit sei der Boden, auf dem das künstlerische Werk wachse, möge es auch aus Disharmonien seine Nahrung geholt haben. Sogar der „Kunstwart“ ließ den bezeichnenden, zentralen Satz Stadelmanns abdrucken: „Kunst ist nicht Psychose.“37 34 35 36 37

Stadelmann 1911, 240. Stadelmann 1908, 51. Stadelmann 1911, 240. Stadelmann 1911, 241.

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Der Wechsel von gesteigerter zu herabgesetzter Reizbarkeit als Prozess der Entstehung von Dissoziierungsvorgängen, die eine „neue Welt“38 heraufziehen lassen, konnte jedoch auch durch Rauschmittel simuliert werden, wie Alkohol, Opium oder Kokain. Künstler, die sich mit Rauschmitteln anregen würden, hätten nach Stadelmann den Vorgang des Schöpferischen als psycho-physiologischen Prozess begriffen und seien so ebenso wenig wie diejenigen, die aus der Übersensibilität heraus schaffen, für krank zu halten. Damit fügen sich die Überlegungen Stadelmanns in den Trend der Normalisierung des Genies durch seine biologische Erklärbarkeit. „Was einst der göttliche Funke war, der die Künstlerseele entflammte“, so Stadelmann, „das verlegen wir heute in die biologische Betrachtung des künstlerischen Schaffens in den Künstler selbst und suchen nach physikalischen und chemischen Agentien, die als abnorme Gefühle dem Künstler das Schaffen ermöglichen.“39 Im „Kunstwart“ sollte ihm zum Schluss noch eine genaue Bestimmung der Begriffe „pathologisch“ und „krank“ wichtig sein, wohl vor allem auch in Hinblick auf ihre häufige Verwendung in der Zeitschrift: Diese Teile [aus dem Grenzland] erscheinen dann als ‚Pathologisches‘ in der Kunst. Man kann bei solchen Vorkommnissen allerdings nicht mehr von ‚pathologisch‘ im engeren Sinne, das heißt von ‚krank‘ sprechen. Nur die Herkunft dieser Elemente rechtfertigt noch die Bezeichnung ‚pathologisch‘.40

Eine derartige Differenziertheit des Denkens in Hinblick auf Kunst und Wahnsinn ist in Hinblick auf den anvisierten Rezipientenkreis des „Kunstwarts“ wirklich beachtenswert. Und vielleicht zum Erstaunen manches Lesers schließt Stadelmann 1911 mit einer positiven Einschätzung des Pathologischen in der Kunst: In der seelischen Veranlagung schlummert eine Fülle von Möglichkeiten, die durch äußeren Zufall veranlaßt, zu Wirklichkeiten werden können und dann hier in dem besondern Falle als pathologisch-seelische Elemente sich zeigen. Bei der künstlerisch genialen Veranlagung werden diese aus dem tiefsten Grunde seelischen Könnens gelösten Gebilde zu neuen künstlerischen Werten, die den seelischen Besitz eines Schaffenden vergrößern.41

Hier scheint der Psychiater Stadelmann doch etwas andere Wege zu gehen als der konservative Kulturkritiker Avenarius, der einmal bemerkte: „Wir müssen den Blick darüber klar halten, was gesund und was krank, was stark und was schwächlich, was neuschöpferisch und was nur absonderlich ist, sonst verderben wir uns daran die Augen.“42 38 39 40 41 42

Stadelmann 1908, 40. Stadelmann 1908, 39. Stadelmann 1911, 241. Stadelmann 1911, 241. Hervorhebungen im Original. Avenarius 1894/95, 245. Hervorhebungen im Original.

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„Spezialist des Traumes“: Avenarius und Kubin Doch ausgerechnet Avenarius lieferte bereits 1903 das erlösende Stichwort „Träumer“, als er unter dem Titel „Traum-Bildnerei“ die ausgestellten Blätter der ersten Kubin’schen Mappe, der Weber-Mappe, besprach.43 Mit dem Hinweis auf die Arbeiten von Goya, Böcklin und Klinger erklärte er den Zeichner „zum Spezialisten des Traumes“: „Gibt es denn überhaupt eine andere Form des Visionären für die Kunst als den Traum?“44 Kubin selbst sah und inszenierte sich in den Jahren allerdings keineswegs als Träumer, sondern als genialischwahnsinnigen Phantasten: „Sicher ist es die Phantasie, die meinem Dasein den Stempel aufdrückt.“45 Andere Kritiker wurden deshalb auch wesentlich deutlicher, sprechen von „krankhafte[n], perverse[n] Liebhabereien“46. Durch die fahle Härte des Kubinschen Frühwerks „rauscht, flüstert, schwankt, huscht, schleicht, grinst, zappelt, zittert“, so der mit Kubin freundschaftlich verbundene Wiener Dichter Richard Schaukal 1903, ein „Heer von Wahnsinnigen, Mördern, Dirnen und Panthern.“47 Der junge Kubin tat gern dunkel wölfisch, grübelnd, wirkte aber blass, schmächtig, reizbar und närrisch; „Pfaffe des Grauens“48 spottete die Schwabinger Gesellschaft. Kubin beschrieb ihn überfallende „Wunderräusche“, „dabei fortwährend überwältigt, förmlich genotzüchtigt von einer dunklen Kraft, die seltsame Tiere, Häuser, Landschaften, groteske und furchtbare Situationen vor meinen Geist hinzauberte.“49 So lieferten Freunde ihn 1903 mit Krämpfen und Verwirrung bei Professor Gudden ab, der ihn aber am nächsten Tag „als wieder gesund freundlich entließ“50. Auch im 1909 erschienenen Roman „Die andere Seite“ überschreitet Kubin immer wieder die Grenze vom Traumerleben bis hin zu klinischen Formen des Wahnsinns; Neurastheniker, Hypochonder und Hysterikerinnen bevölkern sein Traumreich, in welchem der „Unsinn“51 herrscht. Doch selbst Avenarius sollte sein Interesse an Kubin mit einer gehörigen Portion Skepsis versehen und warnte vor einer „gefährlichen Phantasterei“: „Muß man’s denn darstellen? Soll man’s denn? Gott bewahre uns vor einer Überflutung mit Traumbildern!“52 Ein Suchender wie Kubin verdiene zwar nichts weniger als Spott, sondern aufrichtige Anteil43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. zuletzt Museum der Moderne Salzburg 2009 und Hoberg 2008. Avenarius 1902/03. Kubin 1974, 44. Vgl. Gehrig 2004 und Geyer 1995. Dannegger 1903, 310. Schaukal 1977, 30. Vgl. Pietzcker 1997. Laudenheimer 1995, 27. Kubin 1974, 26. Kubin 1974, 29. Kubin 1984, 200. Avenarius 1898/99, 2. Hervorhebung im Original.

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nahme. Avenarius hütete sich allerdings ausdrücklich davor, Kubin irgendeine Zukunft zu prophezeien. Ob dieses sonderbare Spezialistentalent eine große erreichen wird oder eine kleine, vor allem hängt das wohl davon ab, ob der Mensch, in dem es wohnt, mit der Zeit gesünder wird oder kränker und reicher an geistigem Gut oder ärmer. Einem Schwächling mit dieser Begabung würde aus seinen Träumen geistige Nacht drohn, wenn ihre Gewalt noch wüchse, und genialisches Verrücktspielen, wenn sie nachließe. Ein Starker jedoch, der sich zum Nachtreich das Tagreich in kühner Abreit eroberte, ja freilich, der könnte uns mit Kubins Begabung, zur vollen Reife gelangt, einst Vieles geben.53

An anderer Stelle widmete er sich schließlich ausführlich dem Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit in der Kunst, der einerseits mit seinem Wettern gegen die „ziemlich schwere psychische Seuche“ der Dekadenz seine Nähe, andererseits aber auch seinen deutlichen Abstand zu Nordaus Theorien erkennen lässt: Wissen wir von vorneherein oder merken wir schnell, daß eine Dichtung von einem kranken Geiste geschrieben ist, so ist die Möglichkeit, daß sie uns schädige, daß sie zu vorübergehendem oder gar dauerndem Leiden ‚anstecke‘, wesentlich vermindert. […] Sogar im ernsten Sinne nährenden Genuß könnten uns die Vorstellungen von Geisteskranken vermitteln: locken doch die einseitigen Ueberreizungen des Gehirns Erscheinungen zur Sichtbarkeit hervor, die auch beim Gesunden da sind aber drunten im Unbewußten gehalten bleiben von tausend darüber flutenden Wellen. Sie sind dann aus demselben Grunde und in derselben Weise wertvoll für uns, diese Vorstellungen, wie die des Traumes, des großen Mystikers, der uns in die tieffsten Geheimnisse unseres Seelenlebens hineinahnen läßt. Aber wir dürfen nicht wie der Schläfer oder der Kranke dem Träume oder dem Wahne anheimgegeben sein, wir müssen uns jeden Augenblick im Stande halten, das Goethische ‚verschwinde Traum!‘ zu rufen. Das Bewußtsein, mit eindeutig Krankem zu tun zu haben, sorgt dafür, daß wir’s können.54

„Idealisierung der Sinne“: Georg Hirth und die „Jugend“ Während der „Kunstwart“ vorrangig die Interessen eines konservativen Publikums bediente, war die 1896 von Georg Hirth gegründete Münchner Wochenzeitschrift „Jugend“ in jeder Hinsicht ein prominenter Gegenspieler am Markt.55 Anders als andere Blätter der Zeit hatte sie kein eng profiliertes Programm, neben modernen Illustrationen und Ornamenten 53 Avenarius 1902/03, 596. Hervorhebung im Original. 54 Avenarius 1898/99, 2. 55 Vgl. Danguy 2009 und Weisser 1979.

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spielten auch satirische und kritische Texte eine große Rolle. Ihre eigentliche Stoßrichtung war aber klar definiert, denn sie wandte sich gegen jede Art von spießiger Bürgerlichkeit und damit auch gegen die traditionelle Leserschaft des „Kunstwart“. Es ist nun interessant zu sehen, wie sich diese Zeitschrift bzw. ihr Herausgeber im Feld von Genie und Wahnsinn positionierte. Hirth wartete offensichtlich auf einen konkreten Anlass, der schließlich 1903 mit dem Vortrag des Psychiaters Theodor Lipps in München gegeben war. Darin hatte Lipps „Erschlaffung“ und „Perversität“ als zentrale Merkmale der zeitgenössischen Kultur ausgemacht, was Hirth zu dem kritischen Artikel „Dekadente und sittliche Persönlichkeit“ veranlasste.56 Hirth argumentierte darin auf zwei Ebenen: Zum einen seien kreative Höchstleistungen möglich ohne schädliche Folgen für die Gesundheit, zum anderen dürften aber den Genies keine allzu strengen Kriterien bürgerlicher Tugendhaftigkeit auferlegt werden, denn: Die Organisation unseres Gehirns befähigt uns, jede besondere Begabung zu hoher Entfaltung zu bringen (sei es im Gebiete des Gesichts- oder des Gehörsinns, der Bewegungstriebe oder der mimischen Imitation), ohne Schaden für unsere geistige und leibliche Gesundheit. Sogar eine gewisse psychische Abnormität in diesem oder jenem Sinne ist nicht immer der Größe hinderlich; Michelangelo, Shakespeare, Byron, Kleist, Platen und viele andere, die wir nach der Meinung des Herrn Prof. Lipps doch wohl ‚dekadent‘ nennen müßten, waren weder selber schlaff noch für die Menschheit erschlaffend. Ja, eigentlich ist jeder große Mensch ‚abnorm‘, schon wegen der notwendigen Einseitigkeit seines Trieblebens und Handels, und das an alle offiziellen Gelehrten und Künstler gestellte Verlangen, gleichzeitig abnorm und philiströs zu sein, entbehrt daher nicht eines Zuges ironischer Grausamkeit. Wohin kommen wir, wenn wir die Idealisierung der Sinne, durch die der Mensch sich vom Thiere unterscheidet, in gouvernantenhafter Weise zensuriren wollen?57

Bereits kurz zuvor hatte er sich auch mit den Thesen von Paul Julius Möbius auseinandergesetzt und ausführlicher für die besagte „Idealisierung der Sinne“, wie er es nannte, plädiert. Möbius hatte seinerseits in einer Kritik von Willy Hellpachs einschlägigem Werk „Nervosität und Kultur“ bemerkt: Nun noch ein paar Worte über Kunst. Der Verfasser verdenkt es mir, daß ich [Möbius] von manchen Erscheinungen der modernen Kunst schlecht gesprochen habe. Aber ich habe es einfach deshalb gethan, weil das specifisch Moderne mir widerlich ist, nicht weil ich etwa glaube, die Kunst mache gesund oder krank. Kunst ist immer Oberfläche, Symptom, nicht Ursache. Man spricht immer von den Gedanken der Künstler. Gewiß kann zufällig ein Künstler Denker sein, 56 Hirth 1903a, 852. 57 Hirth 1903a, 852.

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aber im Allgemeinen ist es nicht so, und die Künstler als solche haben gar keine Gedanken. Sie verbreiten nur die vorhandenen Gedanken und bringen sie dem großen Haufen näher.58

Nicht gegen Möbius „als solchen“ will Hirth nach eigenen Angaben an dieser Stelle kämpfen, dessen ganze Entartungspsychologie er im Übrigen als nichts weiter als eine Fahrt auf der Rutschbahn des Pessimismus ansieht, sondern mit Entschiedenheit dem geradezu beleidigenden Vorwurf der „Gedankenlosigkeit“ der Künstler entgegentreten. Für Hirth gibt es nicht nur philosophische und religiöse, sondern auch akustische und optische „Gedanken“, ja sogar derlei Genialitäten. Dabei erkennt er dem innerhalb eines einzigen Sinnesgebietes erwachsenden Gedanken sogar den Rang „exklusiver Vornehmheit“ zu und erklärt weiter: Unter ‚Idealisierung der Sinne‘ verstehe ich [Hirth] ihre Befähigung zur Selbstverwaltung, zu selbständigen Lust- und Unlustgefühlen, zur Entwickelung eigener Phantasien, Ideen und Talente und zur beliebigen Indienststellung anderer Sinnesgebiete und Triebherde, ja des ganzen Individuums zu Zwecken eben jener einsinnlichen Selbstherrlichkeit.59

Aber auch er schränkt ähnlich wie Stadelmann sogleich ein: Ein Mensch, der nur sehen, aber sonst weiter nichts wahrnehmen und begehren würde, wäre trotz bestentwickelter Hinterhauptslappen eben doch nur ein Sehidiot. Das einzelne Organ wird um so mächtiger sich bethätigen können, je reicher und gleichzeitig harmonischer der ganze Mensch entwickelt ist. Zur Entfaltung spezifischer Talente gehört zweifellos immer eine besonders glückliche spezifische Veranlagung, aber wohl ebenso unerläßlich sind die normalen Beziehungen der Theile unter sich, da alle Triebe sich gegenseitig steigern und durch ihre Hemmungen vor Schaden bewahren.60

Bereits in seiner umfangreichen „Kunstphysiologie“ (1891) betonte Hirth, dass geniales Schaffen – ganz im Gegensatz zum Wahn – vielleicht zunächst unerklärlich erscheine, aber sich nur auf der „willkommenen Verknüpfung geordneter, zusammengehöriger Vorstellungen durch offene oder verborgene Aufmerksamkeit“61 verdanke. Jede irgendwie schöpferische Geistesarbeit beruhe nicht nur auf sicher zusammengehaltener Aufmerksamkeit (Geduld, Konsequenz) und überraschender Verknüpfungen nicht ganz nahe beisammen wohnender Vorstellungen (Phantasie, Inspiration), sondern bedürfe auch einer gewissen virtuosen Kritik aller zur engeren Wahl kommenden Vorstellungen (kritisches Urteilen). Lombroso, der geistige 58 59 60 61

Zit. nach Hirth 1903b, 426. Hirth 1903b, 428. Hirth 1903b, 428. Hirth 1891, 2: 550.

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Vater Nordaus, habe hingegen den Begriff des Genialen zu einseitig aus dem Phantastischen, dem Originellen abgeleitet: Gewiß kann ein Mensch mit gesundem, sogar ‚genial‘ arbeitendem Geiste an irgend einem untergeordneten, seine geistige Lebenshaltung nicht gerade in Frage stellenden Gehirndefekt leiden […] Dann aber erscheint die Erkrankung nicht prinzipiell als Ursache, nicht einmal als obligate Begleiterscheinung des Genies; sondern vielmehr als Erkrankung schlechtweg, vielleicht in Folge übertriebener Geistesthätigkeit. Wir können dann in gewissen Fällen das erkrankte Gehirn mit dem in einzelnen Saiten verstimmten Klavier vergleichen.62

Von dem gerne proklamierten Zusammenhang von Genie und Wahnsinn hielt Hirth demnach nur wenig. Er sprach zwar den Arbeiten von psychisch Kranken eine gewisse Originalität nicht ab, wollte aber den Abstand zu künstlerischen Werken doch deutlich gewahrt sehen. Ein wichtiger grundsätzlicher Hinweis zum Umgang mit Geisteskrankheit folgt noch am Schluss des Textes: Die Definition der geistigen Abnormität gehört nach Hirth nicht nur zu den schwierigsten, sondern auch unerquicklichsten Streitfragen, denn selbst dem erfahrenen Psychiater falle es oft schwer zu entscheiden, ob Störung oder nur ungewöhnlich reiche Assoziation vorliege.63

„Merkwürdige Zeichnungen“: Der kranke Ernst Josephson Diskutierten die bislang genannten Zeitschriften die Frage nach Kreativität und Wahn auf einer eher allgemeinen Ebene, wartete die seit 1866 im Seemann’schen Verlag zu Leipzig monatlich erscheinende „Zeitschrift für bildende Kunst“ recht lange, bis sie sich überhaupt in die Debatte einmischte und dann auch nur wegen eines prominenten Einzelfalls. Erst 1910 sah sich dieses grundsolide Fachorgan veranlasst, angesichts der Werke des norwegischen Künstlers Ernst Josephson in der Berliner Sezession die Folgen einer Geisteskrankheit für die Kunst zu diskutieren. Dabei wurde der für die Kunstzeitschrift ungewöhnliche Weg gewählt, zwischen die ausführliche Ausstellungskritik eine Abhandlung des Psychiaters Edmund Forster von der Charité in Berlin zum Thema „Über Josephsons Bilder während der Krankheit“ einzuschalten.64 Von einer allgemeinen Erörterung der Problematik nahm man aber konsequent Abstand und konzentrierte sich ganz auf den schwedischen Künstler. Bereits im Frühjahr 1909 waren sechs Werke von Josephson in der Berliner Sezessionsausstellung zu sehen gewesen, die allerdings alle vor der Erkrankung des Künstlers 1888 entstanden waren. Bereits kurz 62 Hirth 1891, 2: 556. Hervorhebung im Original. 63 Vgl. Hirth 1891, 2: 586. 64 Vgl. Armbruster 2005.

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ging der Grafiker und Mitorganisator Hermann Struck in seiner damaligen Rezension auch auf die späten Zeichnungen ein, die er in Schweden gesehen hatte: Unter der dunklen Asche glomm der Funke des künstlerischen Triebes weiter, und auch während der langen Zeit der Krankheit flackerte ab und zu sein Bewusstsein für kurze Zeit wieder empor. Er machte dann merkwürdige Zeichnungen, die trotz ihres seltsam krankhaften Charakters bei unglaublicher Verzerrung der Proportion doch den Stempel hohen Künstlertums tragen.65

Ernst Josephson (1851–1906) hatte schon mit 16 Jahren eine Ausbildung an der Stockholmer Königlichen Kunstakademie begonnen und erste Erfolge als akademischer Historienmaler gefeiert. Während eines frühen Aufenthaltes in Paris wurde er bereits von Gustave Courbet und Camille Corot beeinflusst, die Übersiedlung dorthin 1879 brachte auch einen endgültigen Wandel in seiner Malweise. Es entstanden Porträts in ungewöhnlich hellen und leuchtenden Farben, in denen er unter anderem Eindrücke der jüngsten Arbeiten von Éduard Manet verarbeitete. Zugleich bestimmte die Neigung zu einer visionären, romantisierenden Kunst besonders seine zahlreichen, dem „Nöck“-Thema gewidmeten Werke. Diese Tendenzen verdichteten sich ab 1888 mit dem Ausbruch einer Geisteskrankheit, in deren Folge Größen- und Verfolgungswahn, Seh- und Gehörhalluzinationen auftraten. Nach einem Hospitalaufenthalt konnte Josephson zwar wieder ein weitgehend normales Leben führen, doch weisen die zahlreichen Zeichnungen, die vom Beginn der Krankheit bis zu seinem Tod entstanden, in der Tat einen deutlichen Stilwandel auf.66 In der 19. Ausstellung der Berliner Sezession an der Jahreswende 1909/10 war dann eine aufsehenerregende Auswahl dieser Zeichnungen zu sehen. Der Katalog vermerkte eigens: „Diese Zeichnungen sind in den Jahren 1888/89, kurz nach der geistigen Erkrankung des Künstlers entstanden.“67 Struck reservierte einer dieser Zeichnungen, „Ein Traum“ betitelt, in der Zeitschrift sogar eine ganzseitige Abbildung (Abb. 6.2). In diesem Blatt greift Josephson auf die vertraute Ikonografie der Erschaffung Adams zurück, wie sie mustergültig von Michelangelo in der Decke der Sixtinischen Kapelle formuliert wurde. Doch scheint der Künstler hier von der besagten Tradition geradezu befreit: Gottvater wird zu einem überdimensionalen, verzerrten Kopf, der melancholisch über die von ihm geschaffene Kreatur hinwegzuschauen scheint. Diese auffallenden Charakteristika bemerkte auch Forster in seiner Beurteilung, die er auf den Fortfall der Hemmungen durch die Krankheit zurückführte: [Es] zeigen sich in einem stark verzeichneten Bilde, in dem ein riesiger Kopf eine liegende Männergestalt unheilbringend anbläst, die Trümmer einer früher aus übergeordneten Gründen fast 65 Struck 1908/09, 246. Vgl. Hofmann/Röske 2003. 66 Vgl. Schmidt 1995 und Mesterton 1979. 67 Katalog der neunzehnten Ausstellung der Berliner Sezession 1909, 30.

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Abb. 6.2: Ernst Josephson, Der Traum, undatiert, Federzeichnung in Tusche, 38,5 x, 24 cm, Nationalmuseum Stockholm

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gänzlich unterdrückten, reichen und tiefen Phantasie – die vielleicht auch zu dieser Zeit den Künstler befähigte, Erlebnisse seiner Geisteskrankheit – Wahnideen oder Halluzinationen erschütternd zu schildern.68

Während Struck 1910 in seiner vorangehenden, recht knappen Kunstkritik etwas „überaus Künstlerisches im Schwunge der ungehemmten Phantasie“69 festzustellen vermochte, kam der Bericht des Psychiaters hingegen zu dem Schluss, dass die psychische Erkrankung des Künstlers zerstörend auf die malerische Intelligenz gewirkt habe: „Durch die schleichende Krankheit verlor sein Blick an Schärfe, die Fähigkeit, das Überflüssige wegzulassen, litt, die sichere Raumeinteilung und Beherrschung der Technik, die Bewältigung der Verkürzungen, die Zusammenstimmung der Proportionen ist dabei verloren gegangen.“ 70 Das Resümee lautet zunächst kurz und knapp: „Der malerische oder zeichnerische Wert dieser Bilder ist gesunken.“71 An anderer Stelle betont Forster hingegen zur gleichen Zeit, dass der Geisteszustand keinen grundsätzlichen Einfluss auf den künstlerischen Wert habe: „Ein gutes Bild bleibt genauso gut, wenn wir erfahren, dass der Verfertiger Cyclothyme, Psychopath oder Alkoholist gewesen ist.“72 1923 erweiterte er diese Aussage noch, indem er bemerkte, „daß die Spießbürger aller Zeiten jede neue Kunstrichtung […] für verrückt erklärt haben.“73 Im Falle von Josephson entsprach der Psychiater 1910 allerdings mit seinem Urteil selbst zunächst ganz den gängigen Kriterien der konservativen Kunstkritik. Der Kunstkritiker Karl Wohlin folgte in der Zeitschrift „Kunst und Künstler“ dieser Einschätzung, wenn auch er konstatierte: Etwas Zerbrochenes, Verschlossenes ist in ihnen, das von einem geschwächten Sinn für Formen und Proportionen herrührt; nichtsdestoweniger tragen sie den Stempel einer außerordentlich phantasiereichen, seelenvollen Auffassung und eines feinfühligen Blicks für Dekoration. Man ahnt in ihnen, was für eine Zukunft hier vernichtet worden ist.74

Noch deutlicher wurde Friedrich von Kraynach, prominenter Vertreter des konservativen Lagers, der in ihnen das Ergebnis einer „Passion für das Fratzenhafte und Widerwärtige“75 sah. Kein Mensch von „normalem Empfinden“ könne diese Zeichnungen schön finden, deshalb fuhr er in der wohl konservativsten Tageszeitung des Deutschen Reiches, der „Neuen Preußi68 69 70 71 72 73 74 75

Forster 1910, 177. Struck 1910, 174. Forster 1910, 177. Forster 1910, 177. Zit. nach Armbruster 2005, 106. Zit. nach Armbruster 2005, 107. Wohlin 1909, 488. Zit. nach Larsson 2000, 169.

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schen (Kreuz)Zeitung“, besorgt fort: „Ein großer Teil des Publikums wird […] abgeschreckt und meidet die Sezession konsequent, der doch die ersten Künstler zugehören und von denen wohl mancher froh wäre, wenn er ohne eine solche Gefolgschaft ausstellen könnte.“76 Allerdings, und das machte Forsters Aufsatz wohl für die „Zeitschrift für Bildende Kunst“ so überaus interessant, war der Psychiater durchaus für die in der Tat ungewohnten ästhetischen Qualitäten der Werke Josephsons offen, wenn er abschließend bemerkte: „Und doch bannen die Bilder uns. Sie enthüllen eine gewaltige Vorstellungskraft, die in der gesunden Periode gebändigt durch die Selbstzucht des Künstlers unter der Realistik seiner Bilder schlummerte.“77 Struck schien sich auf die Wirkung der Werke allein offensichtlich doch nicht verlassen zu wollen und versuchte, durch das Hinzuziehen eines Psychiaters gewisse Widerstände schon im Vorfeld auszuräumen; eine für eine reine Kunstzeitschrift außergewöhnliche Maßnahme. Allerdings mag Forsters Nähe zur Kunst diesen Schritt erleichtert haben, „es steckte ein gut Teil Künstlertum in ihm [Forster]“78, wie Bonhoeffer 1933 rückblickend urteilte. Dagegen zeigte sich der Kunstkritiker Karl Scheffler, gleichfalls in „Kunst und Künstler“, sogleich fasziniert von den Blättern, die er ganz aus der Perspektive expressionistischen Schaffensideals deutete: „Man spürt, wie in ihnen das kontrollierte Bewußtsein abgeirrt ist, während die Empfindung umso heftiger nur emporschnellte, wie eine lebendig sprühende Einbildungskraft im Zaubergarten des Wahns ungeduldig, voll tragischer Unrast herumirrt.“79 Er fasste den Wahnsinn als Befreiung auf, weshalb ihm diese Blätter besonders wertvoll erschienen. „Es überragen in gewisser Weise – schrecklich zu sagen – diese Zeichnungen des Paralytikers, durch die höchstes Leben zuckt,“ so Scheffer, „das ganze und gewiß nicht unbedeutende Lebenswerk Josephsons.“80 Bereits im Herbst 1908 war Emil Nolde während einer Stockholm-Reise voll des Lobes angesichts der „halbirren“81 späten Zeichnungen Josephsons gewesen, die er als „so ganz merkwürdig rein und schön“82 empfunden und umgehend für das eigene Schaffen fruchtbar gemacht hatte. Nolde unternahm 1912 sogar den Versuch, die Anerkennung des Spätwerks von Josephson durch eine Institution der staatlichen Kunstpflege bestätigen zu lassen, allerdings schreckten die Verantwortlichen der Berliner Nationalgalerie letztlich Ende Januar 1913 nach längerer Begutachtung doch vor den zu erwartenden kritischen Reaktionen zurück.83 76 77 78 79 80 81 82 83

Zit. nach Larsson 2000, 169. Forster 1910, 177. Zit. nach Armbruster 2005, 106. Scheffler 1909/10, 192. Scheffler 1909/10, 192. Vgl. Zeising 2006 und Paas 1976. Nolde 1934, 98. Nolde 1934, 98. Vgl. Hofmann 2003.

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„Das dunkle Gebiet des Hellsehens“: Lewin in „Pan“ Das Beispiel Josephsons hat anschaulich gezeigt, wie kontrovers die Arbeiten eines kranken Künstlers um 1910 diskutiert werden konnten. War die Zeitschrift „Pan“ bei ihrer Gründung 1895 von Avenarius selbst als „krank“ eingestuft worden, dauerte es doch recht lange, bis sich schließlich auch ein Artikel im Blatt mit dieser Fragestellung beschäftigte. Um 1900 war die Zeitschrift zunächst aufgrund ihrer großen Exklusivität in der Aufmachung und im Preis sowie der Mischthematik – bildende Kunst, Dichtung, Theater und Musik – eingestellt worden, nach längerer Pause wurde sie 1910 als Halbmonatsschrift unter der Leitung des Berliner Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer neu begründet. 1911 erschien sogleich der Aufsatz „Das Psychopathische der Kunst“ von Robert Lewin, in dem der schwierigen Frage nachgegangen wurde: „Wo ist aber die Grenze zwischen dem, was aus ‚heiligen Wahnsinn‘ geboren wird und dem Produkt einer heillosen Zerrüttung?“84 Der Titel verspricht jedoch mehr, als gehalten werden konnte, denn die wissenschaftliche Allüre täuscht nicht über eine grundsätzliche Unbeholfenheit in der Begrifflichkeit hinweg. Eher assoziativ nähert sich Lewin dem heiklen Grenzland zwischen Psychose und Kunst, trifft dann aber doch wichtige Unterscheidungen. Ähnlich wie in den Diskussionen um die Arbeiten des kranken Josephson betont auch Lewin, dass es einen „Maßstab“ geben müsse, um Kunst vom heillosen Stammeln eines wirren Kopfes zu unterscheiden. „Wenn das Gehirn der Starken die Pfade des ‚Normalen‘ verlässt“, erklärte er, „so wird die technische Fähigkeit niemals ermatten.“85 Hier lohnt noch einmal ein Blick zurück zum Werk von Stadelmann, das bislang vor allem in seiner wissenschaftlich nüchternen Herangehensweise thematisiert wurde. 1911 schenkte er im „Kunstwart“ der besagten Grenze zwischen gesund und krank mit nur wenigen, aber bezeichnenden Sätzen Aufmerksamkeit: Nur wenn die zusammenfassende Kraft des Gefühls nicht mehr ausreicht, dann geht auch im Ich des Schaffenden ein Zerfallen vor sich. Dann treten auch in seiner Seele einzelne pathologische Elemente und Gruppen auf, die sich nicht mehr zu einem einheitlichen Organismus zusammenformen. Einzelne, ganz vereinzelte ‚ungestaltete‘ und ‚herausfallende‘ Elemente bleiben im Ganzen – oder mehr, oder viele, so viele, daß sich das Kunstwerk als solches auflöst … auch hier sind natürlich der Mischungen und Übergänge von genial und pathologisch unzählige. Oft zeigt sich ein Schwanken an dieser Grenze zwischen dem genial Künstlerischen und dem Pathologischen. Manche Menschen verweilen wohl zu lange in diesem Grenzgebiete, retten sich aber noch herüber ins Diesseits und tragen dann einzelne Bilder des Grenzlandes in ihre Kunst hinein. So kann es kommen, daß Werke schaffende Menschen infolge ihrer Veranlagung hart an die Grenze 84 Lewin 1911, 246. 85 Lewin 1911, 247.

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der Psychose rücken und von diesem Grenzlande aus pathologische Elemente herüberziehen in den Kreis ihrer trotzdem als Ganzes geschlossen bleibenden Persönlichkeit.86

In diesem von Stadelmann 1911 nur kurz, aber prägnant umrissenen Grenzland zwischen Psychose und Kunst entdeckt Lewin das eigentlich Kreative, das eigentlich Schöpferische, wenn er festhält: Gerade wo das beschränkte Gehirn den Beginn eines Verrücktseins (eine Zusammenhangslosigkeit) zu erkennen glaubt: gerade dort begibt sich die Künstlerseele in das dunkle Gebiet des Hellsehens. […] Losgelöst von allen fesselnden Hemmungen ist nun die Seele; einer ungeheuren Sammlung fähig. Nicht faulige Stagnation, sondern immer sich steigernde Befreiung.87

Doch selbst ein Stadelmann erlag dem Faszinosum des Andersartigen, wenn er das Grenzland von Psychose und Kunst genauer zu fassen versuchte. 1908 beschreibt er es als „Leichenfeld alter Werte“88, auf dem auch mittels einer Psychose sich Neues in positiver Weise entwickeln kann: Manches Neue mag sich als Irrlicht erweisen, das zum Sumpf den Weg zeigt. Aber Formen entstehen nur, wo Formen zugrunde gegangen sind. Dieses üppig blühende und reich sprießende Wunder- und Zauberland der Dichter und Künstler ist Hölle und Paradies zugleich. Es birgt alle erdenkbaren Qualen und Wonnen, die ein Normalmensch nicht zu fühlen vermag. Menschen, die in diesem Grenzlande wohnen, haben ein ungeheuer reiches Innenleben; sie brauchen nicht viel von äußerer Anregung, sie tragen ihren ganzen künstlerischen und psychotischen Reichtum in sich. Die mächtigen Gefühle sind ihnen starke Quelle für künstlerische Kompositionen.89

Mit dieser höchsten Wertschätzung des Schwellenraumes zwischen Kreativität und Wahn folgen Lewin und Stadelmann ebenso wie Struck und Scheffler letztlich Schopenhauer, der das schöpferische Genie imstande sah, im Wahn das Wesentliche der Dinge und der Welt aufzufassen und wiederzugeben.90 Damit scheint die antike Vorstellung vom Künstlerwahn, dem „Enthusiasmus“ als einem privilegierten Zustand göttlicher Inspiration, in Richtung moderner klinischer Psychologie transformiert. Der Betroffene ist allerdings zugleich ein an sich selbst tief leidendes Geschöpf, das Schopenhauer mit dem Bild des zumeist umwölkten Gipfels des Mont Blanc zu umschreiben versuchte. Ähnliches klingt im Übrigen sogar 86 87 88 89 90

Stadelmann 1911, 241 Lewin 1911, 246–247. Stadelmann 1908, 39. Stadelmann 1908, 39. Vgl. Schopenhauer 1977, Teil 1, 3. Buch, § 36 und Teil 2, Ergänzungen zum 3. Buch, Kapitel 31: Vom Genie.

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bei Avenarius an, wenn er in den Vorstellungen des Wahns wie des Traumes die „tieffsten Geheimnisse unseres Seelenlebens“91 vermutet. Nur blieb er natürlich grundsätzlich der Meinung, dass man sich nicht diesen Ahnungen vollkommen hingeben dürfe, sondern immer den Bezug zur Realität wahren müsse. Doch nun zurück zu Lewins Artikel im „Pan“ 1911. Ihm ging es nämlich nicht nur um die Grenze zwischen gesund und krank, im zweiten Teil seiner Überlegungen fügte er der Diskussion einen neuen Aspekt hinzu und konzentrierte sich ganz auf die zeitgenössische Mode des „wahnsinnigen Genies“ à la van Gogh. Hier fordert er entschiedene Differenzierung zwischen „wahr“ und „falsch“: „Es gibt Menschen, die ein Quentchen künstlerischer Begabung zum Originalen stempeln wollen. Das billigste Mittel hierfür ist, den wilden Mann zu spielen. Vorzugsweise tun es Jünglinge, die einen Künstlerberuf in sich fühlen.“92 Bereits 1904 hatte Julius Meier-Graefe in seiner dreibändigen „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ van Gogh als Prototyp des romantischen Malergenies dargestellt. Er konstruiert darin mit allen Mitteln das Bild eines manisch getriebenen Künstlers, womit aus dem klug die eigene Situation wie die eigene Kunst reflektierenden Künstler ein „rasendes Temperament“, ein „Bewußtloser“ voller „unerschütterlicher Einfalt“ wird. „Bäume schreien, Wolken jagen entsetzt, Sonnen gleißen glühenden Löchern gleich im Chaos“, so Meier-Graefe, „die Bilder sind oft, man weiß es, im wilden Taumel gemalt.“93 Das Kapitel über van Gogh aus dessen „Impressionisten“-Band von 1907, das 1910 zudem fast unverändert als erste Biografie des Künstlers erschien, treibt die Pathologisierung und Dämonisierung weiter voran. „Es war schauerlich anzusehen, wie er [van Gogh] malte“, heißt es dort, „ein Exzess.“94 Selbst die 1914 erscheinende Ausgabe der Briefe konnte nur noch wenig bewirken, denn Meier-Graefe bediente vortrefflich das große Interesse der Expressionisten am Wahnsinn.95 Diesen Aspekt meint Lewin mit seinen Vorbehalten gegenüber der aktuellen „Pseudokunst“, die seines Erachtens weder aus visionärem Erleben noch aus „reellem Wahnsinn“ hervorgegangen sei: Wenn man reife Sicherheit spürt, dann glaubt man Alles. Wir können aber bald hinter gewollten Verzerrungen, hinter absichtlichem Zerfahren die Ohnmacht der Unreife fühlen. Es ist nicht alles Hysterie, was sich so gebärdet. Nervöselndes Herumwirtschaften auf der Fläche in Kohle oder Öl vermag nicht eine Vision vorzutäuschen. Die maniakalische Gebärde bürgt nicht für Künstlertum.96

91 92 93 94 95 96

Avenarius 1898/99, 2. Lewin 1911, 248. Meier-Graefe 1927, 603. Vgl. Koldehoff 2003. Meier-Graefe 1910, 32. Vgl. Dumas 2010 und Bußhoff 2003. Lewin 1911, 248.

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Doch in Hinblick auf van Gogh hält Lewin 1910 mit aller Entschiedenheit fest: Vincent van Gogh hat noch aus der völligen Zerrüttung seines Geistes Zeichnungen hinterlassen, auf denen jeder Strich wie künstlerische Notwendigkeit erscheint. Jeder Strich bedeutet einen Sieg des Genies über den Zerfall. Aber die Mache der falschen Anfängerschlichtheit wirkt ganz und gar nicht auf den, der die Kunst als das einzige Mittel betrachtet, das wir Armen besitzen: um durch die Luke unseres Kerkers einen Blick in den Gnadenhimmel zu tun.97

„Höhere Weltweisheit“: Herzfelde und Meidner in der „Aktion“ In den Debatten um Josephson wie um van Gogh deutet sich bereits die außerordentlich produktive Faszination an, die „Irre“ und „Irrenanstalten“ auf die expressionistische Avantgarde ausgeübt haben. Einen gewissen Kulminationspunkt stellt in unserem Zusammenhang schließlich die Abhandlung „Die Ethik der Geisteskranken“ von Wieland Herzfelde 1914 im führenden Organ der expressionistischen Richtung, in der „Aktion“ dar. Die „Aktion“ war eine wöchentlich erscheinende, von Franz Pfemfert von 1911 bis 1932 herausgegebene literarische und politische Zeitschrift, die dem Expressionismus zum Durchbruch verhalf und für eine undogmatische linke Politik stand. „In den Dingen der Kunst und Literatur sucht ‚Die Aktion‘“, so Pfemfert in der ersten Nummer 1911, „ein Gegengewicht zu bilden zu der traurigen Gewohnheit der pseudoliberalen Presse, neuere Regungen lediglich vom Geschäftsstandpunkt aus zu bewerten, also sie totzuschweigen.“98 Dort feiert auch der Publizist und Autor Wieland Herzfelde mit einem enthusiastischen Text das neue Schaffensideal: „Dem Irren schlägt die Einbildungskraft Brücken von einer Unmöglichkeit nach der andern; zahllose Stege baut sie ihm, er wählt, wie es ihm beliebt, und springt von einem auf den andern. Wieviel ärmer sind wir!“99 Die Expressionisten sahen in psychischer Krankheit den „extremste[n] Kontrast zur Normalität des verhaßten Bürgers“100. Der „Irre“ geriet dabei verklärt zum rauschhaft Glücklichen in seiner Eigenweltlichkeit, zuweilen wurde auch sein Leiden innerhalb einer selbst kranken Gesellschaft betont. „Die Ohnmacht, die wir alle noch gegenüber dem Willkürlichen, Sklavischen in uns empfinden, macht uns alle im Innersten unglücklich“, so Herzfelde weiter, „der Irre kennt nicht die Zerknirschung, die diese Unfreiheit in uns hervorruft.“101

97 98 99 100 101

Lewin 1911, 248. Zit. nach Pfemfert 1985, 21. Vgl. Baumeister 1996. Herzfelde 1914, 300. Vgl. Trepte 1992 und Faure 1992. Anz 2002, 83. Vgl. Röske 2003 und Augat 2003. Herzfelde 1914, 299.

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Er erscheint Herzfelde als der eigentlich psychisch Gesunde, denn er ließ sich von den gesellschaftlichen Zwängen nicht zu Maschinen und Automaten umfunktionieren: „Jetzt ist der Besessenen wahnsinniges Reden die alleinige, ich behaupte höhere Weltweisheit.“102 Deshalb feiert Herzfelde die kreatürliche Vitalität des Irren, doch auch bei ihm kommt das für Stadelmann und Hirth so wichtige Motiv der Regulierung zum Tragen, nun allerdings erstmals auf den Geisteskranken bezogen: „Diese Lebendigkeit der Triebe könnte aber nicht so einflußreich auf sein Handeln sein, wenn nicht eine unbezwingliche Willenskraft damit verbunden wäre. Nur durch sie ist der Irre imstande, sein Gefühl zu der Kraft zu erziehen, die ihn so künstlerisch leben läßt, wie er fühlt.“103 Er parallelisiert die Ausdrucksformen des seelisch Erkrankten mit denen des Künstlers, auch Letzterem gelinge es zuweilen, sich in ähnlicher Weise aus den Fesseln des realen Seins zu befreien. Die Beseitigung des bürgerlichen Vorurteils gegenüber dem psychisch Kranken, seiner Vorstellungs- und Wertewelt ist damit zugleich eine Rechtfertigung des expressionistischen Künstlers. So beschreibt auch Ludwig Meidner die „Nächte des Malers“ in der „Aktion“ 1915 folgendermaßen: Jetzt bin ich zäh, glatzköpfig, stirnzerbeult und wie ein verrückter Mönch. Es ist mitten im Winter. Eisfirmamente bedrohen wüste Häusermassen. Die Fugen der Nacht krachen lautlos. Ich durchtaumle das Atelier und sehne mich nach der Geliebten. […] In Fieber und Einsamkeit verbringe ich meine Nächte und am Tage schlafe ich traumzerrissen und einsam.104

Diese „Ich-Dissoziation“, der Zerfall eines unbeschädigt erlebten Ich-Gefühls reflektiert die Veränderungen einer sich mehr und mehr differenzierenden und zergliedernden Umwelt. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten schränken sich in einer chaotisch empfundenen Großstadtwelt ein und werden durch den expressionistischen Reihungsstil auch formal aufgenommen: „Die Stadt kreischt auf, steilgetürmt und weltenhoch. Sie dehnt sich krododilisch lang und schnellt wie ein Feuerwerk in alle vier Winde. Sie bestürzt mich mit ihren Balkonen. Sie knattert in meinen Eingeweiden.“105 Meidners „Betrunkene Straße mit Selbstbildnis“ von 1913 (Abb. 6.3) ist bildgewordener Ausdruck dieses Erlebens.106 Energetische Liniengruppen, lineare Ausstrahlungen, die abgebrochene heftige kurze Linie, zersplitternde Diagonalen; mit diesen technischen Mittel erfasst Meidner die Diskontinuität, Simultanität und Heterogenität der Großstadterfahrung. Der Himmel senkt sich in düsteren Fetzen auf die Stadt, deren Gebäude zu wanken beginnen und

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Herzfelde 1914, 299. Herzfelde 1914, 299. Meidner 1915, 59–61. Vgl. Natter 2001 und Breuer 1991. Ludwig Meidner: Im Nacken das Sternenmeer (1918), zit. nach Meidner 1991, 2: 309. Vgl. Eliel 1990.

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Abb. 6.3: Ludwig Meidner, Betrunkene Straße mit Selbstbildnis, 1913, Tusche, weiß gehöht, 46 x 58,8 cm, Saarland-Museum Saarbrücken

den Bewohner, in diesem Falle der Maler selbst, erschrecken lässt. Stadelmann sollte angesichts derartiger Großstadtbilder allerdings, ganz gemäß seiner Theorie, weniger die Vorstellungswelt eines Geisteskranken aufrufen, als vielmehr eine rationale Erklärung vorbringen: Ein Gegenstand, der beispielsweise in dem Wagenabteil eines rasch fahrenden Zuges von der Höhe zu Boden fällt, beschreibt für den Standort des Insassen in diesem Wagenabteil eine senkrechte Linie; ein Beschauer, der einen unbeweglichen Standpunkt außerhalb des fahrenden Zuges hat, sieht diesen Gegenstand in einer schrägen Linie fallen. Veränderung des Standpunktes ergibt verändertes Erleben.107

Herzfelde argumentiert hingegen genau entgegengesetzt und betont die Freiheit der Imagination, sowohl beim psychisch Kranken wie auch beim Künstler: „Nun kennt man keine unumstößlichen Gesetze der Materie mehr. […] Man glaubt nur noch an sich selbst. Selbst107 Stadelmann 1916, 19.

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kult, Kultur des ehrlichen, rücksichtslosen Willens ist die Basis der herrschenden Ethik (vgl. unsre heutigen Künstler).“108 Und die Großstadt wurde aufgrund ihrer aufregenden neuen Erfahrungsmöglichkeiten zur „Heimat, […] die wir unendlich lieben“.109

Fazit Grundsätzlich verbindet die hier vorgestellte repräsentative Auswahl an Autoren aus den etablierten bzw. sich etablierenden Kunstzeitschriften die Vorstellung von künstlerischer Kreativität als Produkt psychischer Schwellenzustände. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich die Antwort auf Nordau als komplexes und von Widersprüchen geprägtes Feld pluraler Konzeptionen. In zwei grundsätzlichen Aspekten weicht die Fachkritik entschieden von Nordau ab, wobei hier unabhängig vom Standpunkt der jeweiligen Zeitschrift eine erstaunliche Übereinstimmung zu konstatieren ist. Erstens wird explizit die schöpferische Rolle der Phantasie betont, selbst dem konservativen „Kunstwart“ greift Nordaus Kunstbegriff zu kurz. „Die Malerei hat aber ihrem Wesen nach das Sichtbare, nicht dass Vermuthete“, so Nordau in „Entartung“, „das Wirkliche, nicht das Mögliche und Wahrscheinliche, das Konkrete, nicht das Abstrakte zum Gegenstande.“110 Wo Nordau hingegen nur einen chaotischen Verlauf der Reize entlang der Bahnen der Ideen-Assoziation ausmachen konnte, dessen Ergebnis ein unnützes „verzerrtes und verschwommenes Bild der Außenwelt“111 sei, fängt für die Autoren der Fachzeitschriften ebenso wie bei den von ihnen konsultierten Psychiatern Kreativität überhaupt erst an. Damit folgen sie den Spuren Wilhelm Diltheys, der bereits 1886 die Erforschung der dichterischen Phantasie aus den Fesseln der naturwissenschaftlicherklärenden Psychologie zu lösen suchte und sich Schopenhauers These von der Reizbarkeit des übermächtigen Zerebrallebens des Genies zu eigen machte: „Ich [Dilthey] bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, dem Irren mit dem Künstler oder Dichter gemeinsam ist, als eine freie Gestaltung der Bilder und ihrer Verbindungen, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit“.112 Die dichterische Phantasie wurde bei ihm vom Realitätsprinzip suspendiert, blieb aber als Erlebnisausdruck realitätsgesättigt. Durch Ausschaltung, Steigerung oder Ergänzung verstand er jede Wiedererinnerung als kreativen Prozess, als Metamorphose. „In allen diesen so verschiedenen Fällen muss die freie Gestaltung der Bilder aus der Unabhängigkeit von den Bedingungen erklärt werden“, so Dilthey weiter,

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Herzfelde 1914, 299. Ludwig Meidner: Anleitung zum Malen von Großstadtbildern (1914), zit. nach Meidner 1991, 2: 312. Nordau 1893, 1: 151. Nordau 1893, 1: 104. Dilthey 1886, 12. Vgl. Bube 2007, Rodi 2003 und Thielen 1999.

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„die sonst Vorstellungen reguliren und in klaren richtigen Verhältnissen zur Wirklichkeit erhalten“.113 Zweitens, und das scheint mir fast noch bedeutender zu sein, bleibt es in den Kunstzeitschriften aber nicht bei dieser auch von der Psychopathologie gerne konstatierten Nähe von Genie und Wahn. Zugleich markierten alle Autoren die durchaus vorhandene Grenze, hierin wiederum Dilthey folgend, der an diesem Punkt die Ergebnisse der jüngsten psychiatrischen Forschungen Theodor Meynerts114 einbezog: Ich [Dilthey] behaupte nun, diese einander verwandten Wirkungen werden in dem Träumenden, dem Irren, dem Hypnotischen durch Ursachen ganz anderer Art hervorgebracht als in dem Künstler oder Dichter. Die höchste und schwierigste Leistung des Seelenlebens besteht darin, den erworbenen Zusammenhang desselben auf die gerade im Blickpunkt des Bewusstseins befindlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Zustände wirken zu lassen. Sie versagt im Traum und Wahnsinn; so fällt hier gleichsam der regulirende Apparat weg, welcher die Eindrücke, Vorstellungen und Gefühle in der Anpassung an die Wirklichkeit erhält; und nun entfalten und verknüpfen sich die Bilder in spielender Willkür. Dagegen in der Einbildungskraft des Dichters ist dieser Zusammenhang wirksam und nur die ausnahmsweise Energie des Gefühls, der Affekte, der sinnlichen Organisation hat eine freie Entfaltung der Bilder über die Grenzen des Wirklichen hinaus zur Folge. Das Genie ist keine pathologische Erscheinung, sondern der gesunde, der vollkommene Mensch.115

Wie dieser „große Ordnungs-, Hemmungs- und Regulirungsapparat“116 konkret gedacht wurde, konnte unterschiedlich Formen annehmen, aber selbst Expressionisten wie Wieland Herzfelde sollten bei aller Vorliebe für die Ich-Dissoziation auf einer zugrunde liegenden „Religion des Willens“117 bestehen. Dilthey jedenfalls sah diesen Zusammenhang des Seelenlebens wirken und dennoch nicht bewusst sein. „Dunkel, wie wir ihn besitzen“, wird einmal konstatiert, „regulirt und beherrscht er Affekte und Eindrücke.“118 Dabei erhält der psychische Schwellenraum zwischen Kreativität und Wahn wie bei vielen der hier aufgeführten Autoren auch bei Dilthey eine herausragende ästhetische Potenz, wenn er im Anschluss an Schopenhauer erklärt: Genie ist der Blick für das Wesenhafte, der aus der Vollkommenheit und der Energie dieses Zusammenhangs entspringt. Verglichen mit dieser höchsten und schwierigsten Leistung des Seelen-

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Dilthey 1886, 12. Vgl. Lesky 1978. Dilthey 1886, 12–13. Vgl. Orsucci 1994/95, 92–109 und Kerckhoven/Lessing 1994/95, 66–91. Dilthey 1886, 16. Vgl. Meynert 1884. Herzfelde 1914, 299. Dilthey 1886, 15.

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lebens erfordert das logische Schließen eine viel geringere Energie des Bewusstseins oder auch der Gehirnfunktion. Denn es ist nur die Herstellung einer äußerlichen Vergleichung oder Beziehung zwischen wenigen Begriffen, die sich dazu im Blickpunkte des Bewusstseins befinden.119

Angesichts einer durch Nordaus Ideen aufgeheizten und vom Feuilleton der Tagespresse rege geführten Debatte fanden derart differenziert und sachlich argumentierende Positionen jedoch nur wenig Beachtung, zumal sich die Psychiatrie gleichfalls mit Begeisterung auf dieses neue Forschungsfeld begab. Einige der führenden Kunst- bzw. Kulturzeitschriften sollten sich deshalb diesem heiklen Thema gar nicht erst widmen, wie das „Atelier“, um damit bereits im Vorfeld der Gefahr aus dem Weg zu gehen, eventuell falsch verstanden zu werden.

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Alexander Friedland und Rainer Herrn

Die Einführung der Schizophrenie an der Charité

Ich war gerade bei [Bonhoeffer] [...] in Breslau (1912), als er die Monographie Bleuler’s über die Gruppe der Schizophrenien gelesen hatte, und ich erinnere mich heute noch mit Freude, wie rasch und sicher er die umwälzende Bedeutung, dieser seinem ganzen damaligen Denken so neuen Art der klinischen Betrachtung und Forschung meines verehrten Lehrers erkannte, wie neidlos, ja begeistert er sich über dessen Leistungen aussprach.1

Die Schizophrenie bildet heute eine zentrale diagnostische Kategorie im psychiatrischen Wissenssystem, unabhängig von den unterschiedlichen Differenzierungen in Untergruppen oder verschiedene Formen, die mit der Einführung der Klassifikationssysteme DSM IV und ICD 10 vorgenommen wurden.2 Die Anfänge des heutigen Schizophrenie-Konzepts reichen ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Dabei darf, wie wir im Folgenden zeigen, keineswegs von einem einheitlichen Krankheitsbegriff oder einer konsistenten diagnostischen Krankheitsentität ausgegangen werden. Vielmehr war die Übernahme der neuen diagnostischen Kategorie mit Modifikationen und Anpassungen des ursprünglichen Konzepts verbunden, die sich aus dem lokalen Bezugsrahmen erklären lassen. Als im März 1917 die moderne Diagnose „Schizophrenie“3 an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité das erste Mal von Bonhoeffer4 auf dem Deckel einer Krankenakte ein1 2

3 4

Binswanger 1951, 193. Hervorhebung im Original. Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es keine einheitliche Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen wie in der heutigen International Statistical Classification of Diseases (ICD) oder im Sinne des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). Erst 1933 wurde nach langen und zähen Diskussionen mit der Verabschiedung des so genannten Würzburger Schlüssels vom Deutschen Verein für Psychiatrie (DVfP) eine erste für das Deutsche Reich verbindliche Nomenklatur eingeführt (Dörries, Vollmann, 1997). Der Würzburger Schlüssel, benannt nach dem Ort der Vereinstagung, orientierte sich weitgehend an einer Vorlage Karl Bonhoeffers und damit am Diagnose-Schema der Charité (Herrn, in Vorbereitung). Wie an den Revisionen der ICD und DSM Klassifikationen ersichtlich, hält der Diskussionsprozess um die Zugehörigkeit von Psychopathologien zu den einzelnen Krankheitsgruppen bis heute an. Auch die Unterdiagnosen der Schizophrenie sind nicht unumstritten. Diskutiert wird beispielsweise, die Katatonie als eigenständige Krankheit aus dem schizophrenen Formenkreis herauszulösen. Vgl. Fink/Shorter/Taylor 2010. Zur Beziehung von Schizophrenie und Moderne vgl. z.B. Bernet 2006, Leferink 1997. Das geht aus einer Mitteilung des Bonhoeffer-Schülers, Hanns Schwarz, hervor, der aus dem Ablauf

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getragen wurde,5 war das Krankheitskonzept Eugen Bleulers, Direktor der Nervenheilanstalt Burghölzli und Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich, bereits neun Jahre bekannt. Wenngleich leitende Psychiater der Charité der neuen Diagnosekategorie von Anfang an Aufmerksamkeit schenkten, verging fast eine Dekade, bis ‚Schizophrenie‘ offiziell vergeben wurde, und es dauerte weitere zwei Jahre, bis sie zu einer gängigen Krankheitsbezeichnung wurde. Zu fragen ist, warum sich die Diagnose an dieser Klinik schließlich durchsetzte? Welche Faktoren spielten dabei eine Rolle, und worin bestand ihre Innovation gegenüber den Vorläufer- respektive Unterdiagnosen? Wurde das Bleuler’sche Konzept umstandslos übernommen oder in veränderter Form? Den Einführungsprozess der Schizophrenie-Diagnose an der Charité begreifen wir als einen epistemischen Schwellenraum,6 in dem alte Wissensbestände aufgebrochen und neue eingebracht wurden, um schließlich in einer veränderten, den lokalen Diskurs dominierenden Ordnung aufzugehen.

1. Das „Einweihungssakrament“ Emil Kraepelin,7 seit 1893 Leiter der „Irrenklinik“ in Heidelberg, hatte 1899 in der sechsten Auflage seines Lehrbuchs der Psychiatrie drei Krankheiten, nämlich Hebephrenie, Katatonie und Dementia paranoides, als Unterdiagnosen der eigenständigen Krankheitskategorie ‚Dementia praecox‘ zusammengefasst.8 Die bereits in diesem Namen angelegte Annahme eines zwangsläufigen, unumkehrbaren und nicht aufzuhaltenden Ausgangs des Krankheitsprozesses in der „Verblödung“ widersprach den Erfahrungen vieler Ärzte und weckte zunächst sporadischen Widerspruch, der sich nach 1900 verstärkte. Karl Bonhoeffer, ab 1912 Direktor der

5

6 7 8

des Klinikalltags berichtete: „Das Zentrum der klinischen Zusammenarbeit war die täglich pünktlich 8.30 Uhr stattfindende Konferenz, auf der nicht nur jede Neuaufnahme gemeldet, die Krankenblätter mit den Diagnosen, die er selbst aufschrieb, abgegeben wurden, sondern auch manche allgemeine Fragen unter seiner weisen Leitung besprochen wurden“ (Schwarz 1969, 41). Ein Vergleich der Handschriften der Diagnoseeinträge auf den Aktendeckeln verweist jedoch durchaus auf unterschiedliche Autorenschaften. Es handelt sich um die Akte aus dem Historischen Psychiatriearchiv der Charité (HPAC), F 41/1917, die mit einer „Schizophrenie“ auch im Diagnosebuch Frauen I (April 1912 bis Dezember 1928) steht. In die Diagnosebücher wurden alle in die Psychiatrische Klinik aufgenommenen Patienten, getrennt nach Geschlechtern, chronologisch eingetragen. Neben den Stammdaten wie Namen, Aufnahmeund Entlassungsdatum, Alter und Beruf findet sich auch der Diagnoseeintrag. Die Diagnosebücher wurden zu Verwaltungs- und wissenschaftlichen Zwecken herangezogen. Zum epistemischen Raum vgl. Günzel 2010, 309–321. Einen Überblick über die Literatur zu Emil Kraepelin und dessen Nachwirkung bis in die gegenwärtige Psychiatrie geben Engstrom, Weber 2007, 267–273. Kraepelin, 1899.

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Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, kritisierte, „daß dieser in vieler Beziehung klärende Krankheitsbegriff aber auch vielfach eine Ausdehnung erfahren hat, durch die eine sachlich nicht begründete Vereinfachung der klinischen Diagnostik herbeigeführt worden ist.“9 Später beklagte er außerdem die Blickverengung des psychiatrischen Diskurses durch dieses Konzept, wenn er konstatierte, dass „in neueren Publikationen die Diagnosen des Manisch-depressiven und der Dementia praecox oft mehr als gut die Betrachtungsweise der Untersucher“ beherrschten.10 Diese Kritik an der Diagnostik, Definition und Anwendung der Dementia praecox aufgreifend, präsentierte Eugen Bleuler sein Schizophrenie-Konzept zwischen 1908 und 1911. Bleuler regte die Diskussion seiner Neuinterpretation über die erste ausführliche Präsentation auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie (DVfP) im April 1908 in Berlin hinaus an, wo die Prognose der Dementia praecox als wichtigstes Thema auf der Tagesordnung stand.11 Dazu verteilte er vorab ein mit seinem Marburger Kollegen und CoReferenten Maximilian Jahrmärker verfasstes mehrseitiges Papier mit den entsprechenden Leitsätzen.12 Für die Gebundenheit wissenschaftlicher Überzeugungen, theoretischer Konzepte und Vorstellungen hat Ludwik Fleck in den 1930er-Jahren den Begriff des „Denkstils“ vorgeschlagen, der eine soziale Gemeinschaft – das Denkkollektiv – verbindet und prägt. Auch die Einführung der Schizophrenie lässt sich mit Fleck als Übernahme und Verbreitung eines neuen Denkstils begreifen, der sich in Konkurrenz zum ‚alten‘ Denkstil der Dementia praecox durchsetzte. Fleck nennt diesen Prozess nicht ohne ironischen Unterton „Einweihungssakrament“.13 So ist die Veröffentlichung von Bleulers Vortrag noch deutlich im Duktus relativierender Vorläufigkeit eines Neuentwurfs abgefasst, häufig finden sich Redewendungen wie „vielleicht“ oder „ich habe versucht“.14 Diese Rhetorik charakterisiert das von Ludwik Fleck so benannte „Zeitschriftenstadium“, das am Anfang des Einführungsprozesses neuer Denkstile steht. 15 Sie wird später durch eine Gewissheit ausdrückende Wortwahl ersetzt.

9 10 11 12

Bonhoeffer 1907, 1. Bonhoeffer 1910, 4. Bleuler 1908. Bleuler, Jahrmärker 1908. Jahrmärker hatte seine Kraepelin-Kritik, die sich vor allem auf die Zulässigkeit der Zusammenfassung der Unterdiagnosen unter dem Gesichtspunkt der Prognose richtete, bereits früher in einer Abhandlung (Jahrmärker 1903) veröffentlicht. 13 Fleck 1936, 111. 14 Den zentralen Passus über die „Spaltung der psychischen Funktionen“ Schizophrener leitet er mit der Unsicherheit ausdrückenden Floskel „ich glaube nämlich“ ein (Bleuler 1908, 436). Ähnliche rhetorische Gesten durchziehen den gesamten Vortragstext. Vgl. ebenda, 442, 444, 445, 447, 450, 454 und 460. 15 Fleck 1936, 120.

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Bleuler hatte seine Arbeit nicht als Gegenentwurf zu Kraepelin angelegt. Dieser wiederum lehnte die neue Konzeption nicht rundweg ab.16 Im Wesentlichen übernahm Bleuler Kraepelins Einteilung der Unterdiagnosen.17 Er würdigte ihn sogar im Vorwort seiner Monografie Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, deren Veröffentlichung schon das Fleck’sche „Lehrbuchstadium“ markiert, als Urheber der „ganzen Idee der Dementia praecox“. Als Alternative zu den vielfältigen, nahezu gleichwertig nebeneinander stehenden Symptombeschreibungen Kraepelins schlug Bleuler eine prägnante hierarchische Struktur charakteristischer Symptomgruppen vor. Das waren zunächst eine Reihe von Grundsymptomen, deren Auftreten für die Schizophrenie „charakteristisch“ sei und die akzessorischen Symptome, die auch bei anderen Erkrankungen vorkommen könnten. Weiterhin unterteilte er die Symptome in primäre, die direkt mit der Krankheit in Beziehung stünden und sekundäre, „die erst entstehen aus der Reaktion der kranken Psyche auf irgendwelche inneren und äußeren Vorgänge.“18 In der Rezeption Bleulers bildeten die so genannten vier „A“ die wichtigsten Grundsymptome.19 Das sind Störungen von Affektivität und Assoziationen, die Ambivalenz (von Affekt, Willen und Intellekt) sowie der Autismus, eine „Loslösung von der Wirklichkeit mit dem relativen und absoluten Überwiegen des Binnenlebens“.20 Trotz offensichtlicher Übereinstimmungen beider Krankheitskonzepte gab es deutliche 16 Kraepelin nahm Bleulers Arbeit schon bei der Präsentation im April 1908 anlässlich der Jahrestagung des DVfP zur Kenntnis (vgl. Deutscher Verein für Psychiatrie 1908, 428). Seine späteren Arbeiten belegen, dass er sich weiterhin mit Bleulers Konzept beschäftigte und es zumindest in Teilen für sich nutzbar machte (vgl. Kraepelin 1913, 669ff., sowie Kraepelin 1916, 46, 339, 344). An seinen Vorstellungen zum Verlauf und zur Prognose hielt Kraepelin dennoch weitgehend fest, auch wenn er einräumte, dass „der Heilung gleichende Besserungen“ vorkämen (Kraepelin 1916, 344). 17 Bleuler ergänzte die Unterdiagnosen um eine Schizophrenia simplex sowie einige andere Gruppen. Auch Emil Kraepelin fügte seiner Dementia praecox später weitere „Klinische Formen“ hinzu (vgl. Kraepelin 1913). Arenz erscheint der Krankheitsbegriff der Dementia praecox allerdings in Kraepelins 6. Auflage von 1899 am klarsten, während die später hinzukommenden Untergruppen sie eher verkomplizierten (Arenz 2008, 79). 18 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bleuler 1911a, 284. Zum Verhältnis von Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen vgl. Bleuler 1914, 24. Dort macht er auch auf einen „Fehler“ seiner symptomatischen Einteilung aufmerksam „den aber bis jetzt noch niemand hervorgehoben hat: sie vereinfacht sehr stark. Es gibt gar nicht bloß primäre und sekundäre Symptome, sondern es gibt in Wirklichkeit beliebig lange Kausalketten“ (ebenda, 40). 19 Den rezeptiven Verschiebungen von Bleulers Monografie gehen Moskowitz und Heim (2011) nach, indem sie die verschiedenen Lesarten mit dem Original vergleichen. Insgesamt konstatieren sie „it is clear that loosening of associations and splitting are the most important characteristics in Bleuler’s formulation of schizophrenia, not the 4 A’s” (ebenda, 475). 20 Zu den Grundsymptomen siehe Bleuler 1911a, 10–77. Zum Autismusbegriff vgl. Kumbier et al. 2008, zum Affektbegriff vgl. Lammertink 1996, zur Bedeutung von Affekt und Gefühl in Psychiatrie und Psychologie vgl. Hitzer 2011, insbesondere 135–142.

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Diskongruenzen hinsichtlich der „Grenzbereinigung“21 – auf die Bleuler im Nachhinein aufmerksam machte –, sodass man hier von zwei Denkstilen sprechen muss.22 Wesentliche Differenzen bestehen hinsichtlich der Struktur der Symptomatik, der psychologischen Interpretation des Krankheitskomplexes und der Abgrenzung gegenüber anderen Diagnosen.

2. Methodisches Vorgehen Der Prozess der Anpassung und Umgestaltung lässt sich weniger in den veröffentlichten Texten der Charité-Psychiater oder in den gedruckten Berichten regelmäßiger Treffen psychiatrischer Fachgesellschaften nachzeichnen als vielmehr in Dokumenten aus der Alltagspraxis. Um deren Spuren zu folgen, sollen im Weiteren neben den einschlägigen Veröffentlichungen vor allem die Krankenakten von Patienten23 der Psychiatrischen und Nervenklinik zur Auswertung herangezogen werden, die im Historischen Psychiatriearchiv der Charité überliefert sind.24 Die Analyse der Krankenakten lehnt sich methodisch an die aus der qualitativen Sozialforschung stammende Grounded Theory25 an, bei der im ständigen Wechsel zwischen empirischer und theoretischer Arbeit am Forschungsmaterial Fragestellungen entwickelt werden. Deren Beantwortung erfolgt dann in einem mehrstufigen Auswertungsprozess. So kristallisierte sich erst im Zuge der Auswahl von Textpassagen die herausragende Bedeutung der noch genauer darzustellenden Klinischen Demonstration für den Einführungsprozess heraus. Ebenso erwies sich das Verfahren für die Feinanalyse der Arzt-Patient-Interaktionen bei der Hervorbringung von Symptomen als besonders gut geeignetes Instrument. Die zuerst ausgewählten Texte werden in mehreren Durchgängen analysiert26 und im Untersuchungsverlauf

21 22 23 24 25

Bleuler 1914, 19. Zumindest stellen sie „Stilnuancen“ oder „Stilvarietäten“ dar. Vgl. Fleck 1935, 142. Wenn im Folgenden von Patienten die Rede ist, so bezieht sich diese Nennung auf beide Geschlechter. Zu Aufbau und Bestand des Archivs vgl. Klöppel 2009. Glaser, Strauss 2008. Als Berater bei der Durchführung der Grounded Theory-Analyse wurden Experten hinzugezogen, denen wir an dieser Stelle danken möchten: Atlas.ti: Lars Gerhold (Freie Universität Berlin), Theoretisches Sampling: Simone Kreher (Hochschule Fulda), Sprachanalyse: Holden Härtl (Universität Kassel). Atlas.ti ist ein für diesen Zweck erstelltes leicht handhabbares Computerprogramm, mit dem die Analyseschritte sukzessive abgearbeitet werden können. 26 Die Analyse des Materials erfolgt zu Beginn auf einer textnahen Ebene, dem offenen oder freien Kodieren. Sinneinheiten erhalten assoziative Bedeutungszuschreibungen, so genannte Kodes, die nach mehreren Überarbeitungsdurchläufen entsprechend den Auswertungsinteressen zu Gruppen zusammengefasst werden. Die daraus hervorgehenden Kategorien erlauben es, Annahmen über die beobachteten Phänomene zu formulieren, die an neu erhobenem Material präzisiert und erweitert werden. Der ständige Wechsel zwischen Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung ist charakteristisch für die Methode. Vgl. Berg/Milmeister 2007.

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um weiteres Forschungsmaterial ergänzt. Dies wird aber nicht nach seiner statistischen Repräsentativität ausgesucht, sondern danach, ob es dazu beiträgt, die entwickelte Fragestellung zu erweitern und die Ergebnisse zu sättigen.27 Vorrangiges Auswahlkriterium für die hier ausgewerteten Krankenakten war die Erwähnung des Begriffs ‚Schizophrenie‘ im Zeitraum seiner Einführung zwischen 1908 und 1920. Zum Abgleich der diagnosespezifischen Analyseergebnisse wurden später Krankenakten von Patienten, die zur gleichen Zeit in der Klinik waren, aber andere Diagnosen erhielten, herangezogen.28 Zunächst soll die Übernahme des Schizophrenie-Begriffs in Berlin, seine Verwendung in Veröffentlichungen Karl Bonhoeffers und in den Krankenakten der Nervenklinik aufgezeigt werden. Auf einen Exkurs zur Funktion der so genannten „Klinischen Demonstrationen“ im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb folgt die Darstellung der lokalen Modifikationen des Schizophrenie-Konzepts der Charité anhand differentialdiagnostischer Abgrenzungen und der Unterschiede zu Bleulers Ansatz. Am konkreten Beispiel der Krankenakte einer Patientin wird dann die diagnostische Einübung der Schizophrenie exemplarisch dargestellt sowie der performative Interaktionsprozess zwischen Arzt und Patientin beim Hervorbringen krankheitsrelevanter Symptome analysiert. Eine Diskussion maßgeblicher Aspekte der Einführung des neuen Krankheitskonzepts bildet den Schluss des Beitrags.

3. Die Rezeption an der Charité Die Verbreitung des Schizophrenie-Konzepts – geht man nach der Verwendung des Begriffs in der Fachpresse – gestaltete sich nach der bereits erwähnten Tagung im Jahre 1908 eher zögerlich, obwohl Bleuler seinen Neuentwurf mit weiteren Vorträgen und Veröffentlichungen verbreitete.29 Darauf verweist die Tatsache, dass die neue Krankheitsbezeichnung im psychiatrischen Diskurs nur selten benutzt wurde. Man findet sie zunächst fast ausschließlich in Publikationen aus der Burghölzli-Klinik. Das änderte sich erst nach der Veröffentlichung von Bleulers systematischer Darstellung im Aschaffenburg’schen Handbuch, vor allem mit dessen Rezensionen,30 sowie durch die Aufnahme eines entsprechenden Kapitels in sein Lehrbuch von 1916.31 27 Das beschriebene Verfahren der Aktenauswahl heißt in der Grounded Theory „Theoretisches Sampling“. Vgl. dazu Strübing 2008. 28 Erst in den letzten Jahren wird diese Methode auch zur Analyse von historischen Quellen angewendet, z.B. Braun 2009. 29 Bleuler 1910a. 30 Ein Überblick über die Spannbreite der Rezensionen von Bleulers Monografie in den psychiatrischen Zeitschriften findet sich bei Müller 2001. Darüber hinaus sei verwiesen auf Hübner 1912. Auf die ersten durchaus kritischen Auseinandersetzungen mit seiner Monografie reagierte Bleuler 1914. 31 Bleuler 1916, besonders das Kapitel „IX. Schizophrenien, Dementia praecox“, 277–329.

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Karl Bonhoeffer (damals noch in Breslau bei Carl Wernicke), Ewald Forster, Richard Henneberg und Arnold Kutzinski – allesamt Ärzte der Charité-Klinik, die später an der Einführung des Konzepts mitwirkten – waren bei Bleulers Erst-Präsentation 1908 zugegen. Richard Henneberg32 schrieb 1912 als einziger (vormaliger) Charité-Psychiater33 eine grundsätzlich positive Rezension der Bleuler-Monografie im maßgeblichen Neurologischen Centralblatt, wobei er die Anschlussfähigkeit des Schizophrenie-Konzepts – trotz dessen psychoanalytischer Herleitung – an die etablierten psychiatrischen Positionen betonte: Es sei aber noch einmal hervorgehoben, daß diese psychologischen Ausdeutungen nicht das wesentliche in dem vortrefflichen Werk ausmachen; auch derjenige, der sie völlig ablehnt, wird das Buch nicht ohne großen Nutzen und Genuß lesen. 34

Alois Alzheimer berichtet in seinem Beitrage zur pathologischen Anatomie der Dementia praecox auf der Jahresversammlung des DVfP (13./14. Mai 1913) in Breslau, daß „seit Bleulers interessanter Monographie über die Psychopathologie der Schizophrenie [...] vielfach diskutiert wird.“35 Dennoch konnte sich die Statistische Kommission des DVfP 1913 nicht dazu entschließen, die neue Diagnose statt der Dementia praecox in ihren gerade diskutierten Vor32 Richard Henneberg, bis 1906 als Dozent, danach außerordentlicher Professor mit Lehrauftrag an der Charité bis zu seiner Emeritierung 1933. Er gilt als Nestor der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, in der der Psychoanalytiker Karl Abraham nach seiner Rückkehr nach Berlin 1908 öfter referierte. 33 In der seit Juni 1912 von Karl Bonhoeffer herausgegebenen Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie ist allerdings keine Rezension von Bleulers Monografie nachweisbar. Angesichts des dem Aufsatz vorangestellten Binswanger-Zitats über die geradezu euphorische Bonhoeffer-Rezeption des Bandes überrascht dessen fehlende Besprechung in der Monatsschrift umso mehr: Ziehen, der bis Mai 1912 (Band 31) die Herausgeberschaft inne hatte (vgl. Ziehen 1912), war für seine scharfen Ausfälle gegenüber der Psychoanalyse bekannt. Bonhoeffer war vielleicht zu sehr mit der Übernahme der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité beschäftigt, schließlich hatte er angekündigt, „daß hier fortan ein anderer Wind wehen soll“. Das entnimmt man dem sozialdemokratischen Vorwärts vom Mai des Jahres, der einen mit „Einschneidende Veränderungen in der psychiatrischen Abteilung der Charité“ überschriebenen Bericht enthält. Darin wurden Neuerungen „in der inneren Verwaltung“, hinsichtlich der Erweiterung der Bettenzahl bei gleichzeitiger Verringerung des Wärterpersonals angekündigt, als auch eine Neuregelung der bisherigen Begutachtung und der Überweisungspraxis an öffentliche und private „Irrenanstalten“ (Vorwärts 1912). Vielleicht ging der Auftrag im Herausgeberwechsel unter oder der Band wurde nicht zur Rezension eingereicht. Erst nachdem Bonhoeffer Herausgeber war, findet sich ein Hinweis darauf, welche Veröffentlichungen rezensiert wurden. Denn ab Band 32 (Seite 188) gab es eine Rubrik mit dem Titel: „Zur Besprechung eingesandte Bücher (Besprechung vorbehalten)“. 34 Henneberg 1912, 1268. Hennebergs Rezension umfasst auch die Folgebände des Aschaffenburg’schen Handbuchs, so auch den von Bonhoeffer (1912) über die Psychosen. 35 Alzheimer 1913, 923.

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schlag zur Neugestaltung eines reichseinheitlichen Diagnoseschlüssels aufzunehmen, weil dies „noch verfrüht sein dürfte.“36 Karl Bonhoeffer verwendete den Terminus ‚Schizophrenie‘ 1912 als erster Arzt der CharitéNervenklinik in einer Veröffentlichung, und zwar in dem Band von Aschaffenburgs Handbuch, der auf Bleulers Monografie folgte. Das Manuskript entstand noch während Bonhoeffers Breslauer Zeit. In der Einleitung zu den „Infektionspsychosen“ bezog er sich auf die „im Jahre 1908 abgeschlossene [...] Arbeit über die Schizophrenie“ Bleulers und stellte fest, dass „eine diagnostisch brauchbare Beschreibung dieser Psychosen“ bislang nicht existiere.37 Bonhoeffer erwähnte Bleulers Arbeit erstmals und als einzige an dieser prominenten Stelle, verwendete dessen neuen Krankheitsbegriff aber noch nicht in der später eigenständigen Weise.38 Die von Binswanger eingangs erwähnte zeitnahe Rezeption von Bleulers Schrift ist damit jedoch belegt.39 Das dominierende Thema in der Psychiatrie zwischen 1914 und 1919 waren die Auswirkungen des Krieges auf Zivilbevölkerung und Kriegsteilnehmer in Form von Traumen, Psychosen,

36 Kreuser 1913/1914, 42. Dabei befasste sich Karl Jaspers, der hier eine gewisse Vorreiterrolle spielte, in seinem im selben Jahr erschienenen Lehrbuch (Jaspers 1913) bereits intensiv und produktiv mit Bleulers Schizophrenie-Konzept. Zu Jaspers Kraepelin-Kritik und Bleuler-Rezeption siehe Roelcke 2000, 194. 37 Bonhoeffer 1912, 1. 38 Von Bonhoeffer ist überliefert, dass er bei der Begriffsverwendung die Adjektiv- gegenüber der Substantivform vorgezogen haben soll: „Als dann ‚die Gruppe der Schizophrenien‘ von Eugen Bleuler in den Jahren nach 1911 in der Terminologie aufkam, vermied Bonhoeffer, wenn es nur eben ging, das Wort ‚Schizophrenie‘ oder ‚Schizophrener‘, also den substantivischen Gebrauch des neuen Terminus, und meinte etwas süffisant, bei den einschlägigen Fällen: ‚wohl was Schizophrenes?‘“ (Betzendahl 1969, 49. Hervorhebung im Original). Unter anderen wies der Leipziger Psychiater Adalbert Gregor auf den Unterschied des Gebrauchs von Adjektiv und Subjektiv hin: „Nach dem üblichen psychiatrischen Sprachgebrauch, nach welchen das Adjektivum meist den allgemeineren und unschärferen Begriff enthält [...], kommt dem Substantiv Schizophrenie eine engere Bedeutung zu, die sich mit der der Dementia praecox im Umfange decken dürfte“ (Gregor 1914, 196). Die Möglichkeit der Adjektivbildung war auch für Bleuler ein Motiv mit dem neuen Begriff den der Dementia praecox abzulösen (Bleuler 1911a, 4). 39 Es konnte nicht geklärt werden, ob sich Bonhoeffer hier auf die Erstpräsentation der Schizophrenie Bleulers zur Jahresversammlung des DVfP 1908 in Berlin bezog oder auf eine Vorbemerkung in dessen Monografie: „Die Arbeit ist im Sommer 1908 abgeschlossen worden [...]“ (Bleuler 1911a, VIII). Dass Bonhoeffer Bleulers und Jungs Arbeiten schon vorher zur Kenntnis genommen hatte, belegt eine frühere Veröffentlichung zur Hysterie. Mit besonderem Interesse verfolgte er dabei die von den Autoren eingenommene Haltung in der Ätiologiefrage. Bonhoeffer stellte bereits 1911 heraus, dass die Autoren – wenngleich sie bei den drei Vorläuferdiagnosen der Schizophrenie – Hebephrenie, Katatonie und paranoide Demenz – dem „Ideogenitätsmoment bei diesen Psychosen das Wort reden“, dies nur im Sinne der Ausgestaltung der Krankheit und nicht im Sinne der Ätiologie tun. Diese Einsicht dürfte eine Grundvoraussetzung für die spätere Übernahme des Schizophrenie-Konzeptes an der Charité gewesen sein (Bonhoeffer 1911, 372).

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Neurosen und Hirnverletzungen. Bonhoeffers Interesse galt hier vor allem der Ätiologie40 und der Häufigkeit psychischer Erkrankungen. Dabei vertrat er eine deterministische Position, da er den Krieg zwar als Anlass, nicht aber als Ursache für den Ausbruch von Psychosen betrachtete. Anhand von Krankenstatistiken und Fallvorstellungen von Rekruten wie Kriegsteilnehmern suchte er die zugrunde liegende Krankheitsanlage zu belegen. Seine Aufmerksamkeit galt weiterhin der individual- und massenpsychologischen Dynamik der „Einwirkung des Krieges auf das Affektgleichgewicht“. So charakterisierte er die Kriegseuphorie der deutschen Bevölkerung im August 1914 als „affektive Desequilibrierung“.41 In vier unterschiedlich ausgearbeiteten Versionen eines Vortrags mit dem Titel „Psychosen und Krieg“, den er am 20. Oktober 1914 anlässlich eines der ersten Kriegsärztlichen Abende hielt, variierte Bonhoeffer die Nennung der neuen Krankheitsbezeichnung ‚Schizophrenie‘ – mit oder ohne erläuternden Zusatz – entsprechend der Hörer- bzw. Leserschaft. Daran zeigt sich, dass dieses Konzept in den verschiedenen medizinischen Wissenskulturen noch nicht gleichermaßen eingeführt war.42

4. Die Schizophrenie vor der Schizophrenie Bonhoeffer schrieb 1914, unter hundert im Zuge der Mobilmachung eingelieferten Erkrankten befänden sich zehn Schizophrenien.43 Leider wissen wir nicht, worauf sich diese Angabe stützt. In dieser Zeit wurde auf keiner der überlieferten Krankenakten eine Schizophrenie vermerkt, auch im Diagnosebuch gibt es keine entsprechenden Einträge. Das sind die üblichen Wege zur Identifizierung entsprechender Fälle. Denn die behandelnden Ärzte verwendeten in der fortlaufenden Dokumentation des Krankheitsverlaufs kaum Krankheitsbezeichnungen, sondern trugen diese nur auf dem Aktendeckel und im Diagnosebuch (Abb. 7.1), gele40 Zur Rolle des Krieges für die psychiatrische Ätiologieforschung vgl. Lerner 2003, 43–52. 41 Bonhoeffer 1914a, 436. 42 Bonhoeffer 1914a-c, 1915a. Im Beitrag in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift verwendete Bonhoeffer die Bezeichnung ‚Schizophrenie‘ mit dem in Klammern stehenden Zusatz (Dementia praecox) und unterstrich, „daß der Krieg zahlreiche latente Schizophrene manifest machen wird“. In der Berliner Klinischen Wochenschrift findet sich der Schizophrenie-Begriff als unkommentiert stehendes Substantiv in einer Aufzählung kriegsrelevanter Krankheitskomplexe. In der von ihm herausgegebenen Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, seiner „Hauszeitschrift“, benutzte Bonhoeffer den Terminus schließlich völlig selbstverständlich, ohne erklärenden Zusatz in einer Tabelle zur Einteilung von Kranken. Auch im erläuternden Fließtext setzt er den Begriff mehrfach ein, sodass von seiner Etablierung zumindest in Fachkreisen, besonders in der Charité, ausgegangen werden darf. Im dazu fast wortidentischen Abdruck dieses Beitrages in der Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung ergänzt der in Klammern gesetzte Zusatz „Dementia praecox“ wiederum den Eintrag im Tabellenkopf. 43 Bonhoeffer 1914a, 437. Die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hinzugekommenen Fälle finden sich in der entsprechenden Fußnote.

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Abb. 7.1: Diagnosebuch Frauen (links); Diagnoseeintrag im Mai 1918 (rechts)

gentlich auch auf Attesten und Laborscheinen, Ein- und Überweisungen sowie regelhaft in ausgefertigte Gutachten ein. Nur wenige Krankenakten, meist jene, aus denen ein Gutachten hervorging, enthalten einen mit „Schlußurteil“ überschriebenen Passus, in dem häufig eine Diagnose steht.44 Die weitgehend formalisierten Aufzeichnungen der Krankengeschichten fokussierten und dokumentierten vorwiegend die als relevant erachteten anamnestischen Angaben, Beobachtungen des ärztlichen und pflegerischen Personals, kolportierte oder authentifizierte45 Patientenmitteilungen, therapeutische Interventionen und manchmal prognostische Aspekte: kurz die Primärinformationen zu Symptomatiken und Krankheitsverlauf.46 Obgleich diese Aufzeichnungen vielerlei Wertungen und Interpretationen enthalten, wur44 Gutachten und „Schlußurteile“ waren militär- und versorgungsrechtlich relevant. In ihnen finden sich Aussagen zur Ätiologie und Prognose in komprimierter Form. Sie sollten neben der Verwendungsfähigkeit im Krieg oder für zivile Aufgaben darüber Auskunft geben, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer Störung und einem Ereignis bestand, weil davon die Kostenübernahme und Versorgungsansprüche abhingen. 45 Darunter ist die als Zitat gekennzeichnete „wörtliche Rede“ von PatientInnen zu verstehen. 46 Die Entwicklung der Krankenakten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité von 1866–1950 hat Ole Dohrmann (2011) untersucht. Sophie Ledebur (2011) analysiert die Funktion der Krankenakten im Wissenschaftsbetrieb. Zu den Inhalten von Krankenakten allgemein vgl. Nolte 2003, 22–26; Sammet 2006; Hess 2010.

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den Diagnosen oder differentialdiagnostische Abgrenzungen während des Aufenthalts nicht explizit in den Krankengeschichten vermerkt. Ausnahmen bilden lediglich jene Krankenakten, die so genannte klinische Demonstrationen in verschrifteter Form enthalten. Vier Jahre, bevor die neue Krankheitsbezeichnung erstmals auf dem Aktendeckel oder im Diagnosebuch vermerkt wurde, lässt sich hier ihre Verwendung nachweisen, und zwar zunächst in adjektivischer Form als Bezeichnung entsprechender „schizophrener“ Symptome. Die händische Prüfung aller überlieferten Krankenakten männlicher und weiblicher Patienten der infrage kommenden Jahrgänge zwischen 1912 und 1919 ergab mehrere einschlägige Erwähnungen des Begriffs (vgl. Tab. 7.1). Jahr

1912 KA AD DB Männer Keine Frauen Keine

1913 KA AD DB 1 0 0 0 0 148

1914 KA AD DB keine keine

1915 KA AD DB 3       0    0 0      0     0

1916 KA AD DB 3 0 0 keine

1917 KA AD DB 8 147 0 7 1 1

1918 KA AD DB 11 4 8 5 2 2

1919 KA AD DB 13 5 42 14 1 4

Tabelle 7.1: Gebrauch des Schizophrenie-Begriffs in den Krankenakten 1912 bis 1919.49 Klinische Demonstrationen in den Krankenakten (KA); Aktendeckel (AD); Diagnosebuch (DB)

47 Auf dem Aktendeckel der Krankenakte eines Patienten findet sich der Eintrag „Psychopathie? (Frage der Schizophrenie)“ (HPAC, M 91/1917). Die Krankenakten werden in dieser Arbeit folgendermaßen zitiert: M/F steht für Männer respektive Frauen. Die erste Ziffer bezeichnet den Numerus currens, welcher auf den Aktendeckeln vermerkt ist; die zweite das Jahr der Aufnahme. 48 Im Diagnosebuch der Frauen steht nur 1913 ein entsprechender Eintrag. Die zugehörige Krankenakte ist nicht überliefert. Er lautet: „Manische Erkrankung (Frage d. Schizophrenie oder manisch-depressiv)“, HPAC, Diagnosebuch Frauen 1912–1928, 1913, Lfd.-Nr. 949 49 Zur Erklärung der unterschiedlichen Häufigkeiten ist auf eine generelle Beobachtung zu verweisen: Die Diagnosenennungen in den Krankenakten (Klinische Demonstrationen, Schlussurteile und Gutachten) und auf dem Aktendeckel sind nicht immer konsistent. Außerdem stimmen die auf dem Aktendeckel vermerkten Diagnosen nicht in allen Fällen überein mit denen des Diagnosebuches und des Aktenfindbuches. Letzteres diente der Verwaltung der Krankenakten und enthielt ähnliche Angaben wie das Diagnosebuch. Gelegentlich trug man sogar auf allen Ebenen verschiedene Diagnosen ein, was auch auf die in der Psychiatrie allgemein herrschende unsichere Diagnostik zurückzuführen sein könnte. Der genaue Ablauf und Zeitpunkt der jeweiligen Diagnoseeintragungen ist unbekannt. Lediglich aus einer „Bestimmung“ der Charité-Leitung vom 1. Dezember 1911 „über die Führung und Vorlage der Stationsaufnahmebücher“ zur wöchentlichen „Nachweisung über die Frequenz unserer Krankenanstalt“ an das „Kaiserliche Gesundheitsamt“ und das „Statistische Amt der Stadt Berlin“ geht hervor, dass „insbesondere über die Krankheitsformen der Aufgenommenen berichtet werden muß.“ „Bei Angabe der Krankheit ist die deutsche Bezeichnung anzuwenden“ [Hervorhebung im Original]. Demnach musste für alle Neuzugänge der zurückliegenden Woche zumindest eine vorläufige Aufnahmediagnose gestellt werden, die dann während des Aufenthaltes zu präzisieren war. HPAC, Receptionsbuch 1.4.1908–29.2.1912, Innenseite.

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Die Tabelle ist mit einigen unsystematischen Fehlern behaftet, die auf die Führung der Krankenakten und ihre Überlieferung zurückzuführen sind.50 Zum einen weist der Bestand Lücken auf, deren Gründe wir nicht kennen. So sind aus den Jahren 1911 bis 1917 nur sehr wenige Krankenakten von Frauen überliefert, aber umfangreiche Bestände von Männern. Es können also durchaus Akten relevanter Fälle fehlen. Zum anderen wurden aus nicht bekannten Gründen in den Diagnosebüchern der Männer für die Jahre 1909 bis 1918 keine Diagnoseeinträge vorgenommen. Die Tabelle zeigt insgesamt in allen drei Zählungen ab 1917 einen Anstieg der Diagnosenennung, und zwar bei Frauen und Männern gleichermaßen.51 Die in den klinischen De50 So variieren die Aufzeichnungen der klinischen Demonstrationen ebenso wie die gesamten Krankenakten in Abhängigkeit vom Aufschreibenden und geben die Ausführungen der demonstrierenden Ärzte wahrscheinlich nicht wortgetreu wieder. Manche dieser Aufzeichnungen sind – auch wenn sie nachträglich ergänzt oder korrigiert wurden – stichpunktartig, andere sehr ausführlich, bis hin zur Wiedergabe der wörtlichen Rede. Insofern könnten Erwähnungen des Begriffs vom Aufzeichnenden nicht vermerkt worden sein. Einer von Karl Abraham kolportierten klinischen Demonstration Theodor Ziehens von 1911 ist zu entnehmen, dass er einem Assistenten die Anweisung zum „Protokollieren“ bestimmter Inhalte gab (Falzeder/Hermanns 2009a, 229). Eine etwas andere, auf kollektiver Erinnerung basierende Aufschreibepraxis der klinischen Demonstrationen teilt Karl Wernicke mit, Bonhoeffers Breslauer Lehrer, allerdings zum Zwecke von deren Veröffentlichung: „Das Augenblicksbild, welches die Kranken während der Demonstration darboten, wurde möglichst bald nach der Vorstellung nach den Daten, welche stenographische Aufzeichnungen und die noch frischen Erinnerungen boten, von mir und meinen Assistenten in gemeinschaftlicher Arbeit festgestellt“ (Wernicke 1899, 1). In den veröffentlichten klinischen Demonstrationen Wernickes aus drei Semestern (1898 bis 1900) lässt sich ein systematisches Vorgehen erkennen: An die ausführliche Vorstellung der Patienten schloss sich die Fallbesprechung an, bei der die prominenten Symptome herausgearbeitet wurden, die dann zur Diagnose führten und eine Prognose erlaubten. In einigen Fällen schließen daran katamnestische Informationen an. Am Semesterende folgte eine Schlussbesprechung, in der alle demonstrierten Fälle in die psychiatrische Systematik eingeordnet wurden, vgl. dazu ebenda, zuzüglich der Hefte 2 und 3 derselben Reihe. Ungeachtet der Aufschreibemodi gibt es keine Belege dafür, ob an der Charité alle klinischen Demonstrationen verschriftet wurden. Gerade bei Patienten, die in Fachkreisen außerhalb der Psychiatrischen- und Nervenklinik demonstriert wurden, ist nicht bekannt, ob man die dort gemachten Ausführungen in die Krankenakten nachtrug. Weiterhin ist es aufgrund der häufig wechselnden, oft undeutlichen Handschriften und der großen Zahl gesichteter Krankenakten nicht auszuschließen, dass einzelne Begriffserwähnungen überlesen wurden. 51 Parallel zu den Findmitteln für die Psychiatrische- und Nervenklinik wurden auch jene der Poliklinik ausgewertet, von denen die korrespondierenden Krankenaufzeichnungen aber nicht überliefert sind. Vor 1918 finden sich in den Diagnosebüchern der Poliklinik keine Schizophrenie-Einträge. Erst in dem Jahr erhielten fünf Frauen und drei Männer die Diagnose, bei drei weiteren Frauen wurde sie, mit einem Fragezeichen versehen, in Erwägung gezogen. Im Folgejahr, 1919, betrug die Zahl der Schizophrenien bei Frauen schon 19 Fälle, zusätzlich kam sie bei dreien in Betracht. Demgegenüber erhielten nur sechs Männer diese Diagnose, zwei weitere bekamen sie in Verbindung mit einer „psychopa-

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monstrationen beginnenden Erwähnungen der Krankheitsbezeichnung bringen die übergeordnete Bedeutung dieser Präsentations-Praxis für den Einführungsprozess zum Ausdruck und machen es notwendig, einige Erläuterungen zu deren Funktion im medizinischen Lehrund Wissenschaftsbetrieb einzuschieben.

5. Klinische Demonstrationen als Lehr- und Erkenntnismethode Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts war es üblich, Patienten für die ärztliche Ausbildung heranzuziehen, auch in der Psychiatrie. Die klinische Demonstration galt vielen Lehrenden als unverzichtbarer Bestandteil der Vermittlung von Wissen,52 sie diente der Schulung diagnostischer Fähigkeiten. Johannes Orth, der spätere Nachfolger Rudolf Virchows, schrieb 1898 in Bezug auf die Wichtigkeit von Demonstrationen und klinisch-praktischen Übungen: „Also diagnostiziren, mit der Anwendung aller bekannten Hilfsmittel diagnosticiren [sic], das ist es, was in der Klinik, gleichgültig welche es ist, zunächst gelehrt und gelernt werden muss.“53 An der Charité hatte Carl Wilhelm Ideler, Leiter der „Abtheilung für Geisteskranke“, Anfang der 1830er-Jahre „Klinische Übungen über Geisteskranke“ in der „Irren-Abtheilung“ angeboten.54 Wilhelm Griesinger, einer der Begründer der modernen Psychiatrie im deutschsprachigen Raum, wies 1866 in seiner Antrittsvorlesung auf die Praxis der klinischen Demonstrationen hin.55 Griesingers Nachfolger Carl Westphal, zwischen 1869 und 1889 als

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thischen Konstitution“. Von den insgesamt 30 Frauen und elf Männern mit Schizophrenien der Jahre 1918/19 wurden nur fünf Frauen und zwei Männer also knapp 20 % sofort oder später stationär in die Charité aufgenommen. Lediglich eine Patient und eine Patientin davon erhielten hier wiederum die Schizophrenie, alle anderen eine ihrer Unterdiagnosen. Dies legt nahe, dass die Mehrheit dieser Patienten entweder in anderen Anstalten Aufnahme fand oder in ihrem häuslichen Umfeld verblieb. Im Umkehrschluss verweist dies darauf, dass die in der psychiatrischen Klinik diagnostizierten Schizophrenien primär auf anderen Wegen als den über die Poliklinik kamen. Der Vergleich der Vergabepraxis zwischen Klinik und Poliklinik unterstützt die Annahme, wonach die Schizophrenie-relevanten Symptome erst in klinischen Demonstrationen einzuüben waren, bevor die Krankheitsbezeichnung im poliklinischen Alltag angewendet werden konnte. Dennoch sind die schriftlichen Quellen zur individuellen und didaktischen Umsetzung der klinischen Demonstrationen in der Psychiatrie rar. Eine Sekundärarbeit zur Entwicklung, Funktion und Praxis der klinischen Demonstrationen in der psychiatrischen Lehre findet sich bei Engstrom 2003, 158–163. Orth 1898, 27. Friedrich-Wilhelms-Universität, 1833, 4; 1841 und 1851. Zunächst fand die Veranstaltung sechsmal pro Woche statt, 1841 viermal, 1851 nur noch zweimal. Griesinger 1872, 107. Zum Ablauf und zur Frequenz von Griesingers klinischen Demonstrationen sowie der Auswahl der Krankheitsbilder im Rahmen der Lehre, vgl. Westphal 1868/69.

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dirigierender Arzt an der Charité-Nervenklinik tätig, lehrte bereits seit 1862 „die Psychiatrie in Verbindung mit Demonstrationen und Übungen“.56 Auch später unterstrich er die Bedeutung dieser Methode für die Aus- und Weiterbildung. Er halte, so Westphal 1871, „zweimal wöchentlich eine theoretische Vorlesung über Psychiatrie“, an deren Ende er jeweils einen Patienten vorstelle. Dazu werde der Kranke hereingebracht und durch den Professor oder einen Hörer untersucht. Die Besprechung des Falles erfolge „nach Entfernung des Kranken [...] in Form eines zusammenhängenden klinischen Vortrags“.57 Die Auswahl der Patienten treffe er nach dem Vorlesungsthema, sodass „das Gesagte an dem individuellen Falle erläutert werden kann“.58 Auf diese Weise erkenne der Zuhörer den „Zusammenhang der Thatsachen“ und die „Komplexität des einzelnen Falles“, wobei „die volle klinische Freiheit“ gewahrt bleibe.59 Demnach dienten Westphals klinische Demonstrationen verschiedenen Zwecken: An konkreten Fallbeispielen, von ihm als „Typen“ bezeichnet, vermittelte er Diagnostik und Therapie. Gleichzeitig bemühte er sich, das breite Spektrum psychopathologischer Erscheinungsformen an individuellen Fällen herauszuarbeiten.60 Bei seinem Antritt an der Charité 1912 führte Karl Bonhoeffer die von seinem Vorgänger Theodor Ziehen praktizierten „klinischen Visiten“ nicht fort.61 Dafür nahm die Zahl der kli56 Friedrich-Wilhelms-Universität 1862/63, 4. Zur Lehre bei Westphal, vgl. Dierse 1995, 177–184. 57 Diese Form des Einsatzes von Patienten im Lehrbetrieb wurde als typisch für den deutschsprachigen Raum charakterisiert und unterscheidet sich von der in Frankreich üblichen Klinik. Während dort die Studierenden von Beginn an im Krankenhaus tätig waren und sich ihr Wissen im Umgang mit den Patienten und in gelegentlichen Unterweisungen durch wechselnde Ärzte erwerben mussten, war im deutschsprachigen Raum der klinischen Ausbildung ein systematisch-theoretischer Unterricht vorgeschaltet, der in der Regel durch einen Repräsentanten des Fachs erteilt wurde. Vgl. Flexner 1927, 217f. 58 Als sich Westphal zwei Jahre später beim Ministerium für geistige und Unterrichtsangelegenheiten über den Rückgang der Krankenzahlen und damit eine Gefährdung des Unterrichts beklagte, spricht er von den „gewöhnlichsten Formen des Irresein“, den „Typen, deren Kenntniß [für den Studierenden] unbedingt nothwendig ist“ (Vgl. UAHUB Med. Fak. 238, Blatt 77). Zur psychiatrischen Klinik siehe auch Westphal 1880, insbesondere 22–28. Auch Carl Wernicke, ein ehemaliger Westphal-Mitarbeiter an der Charité, der die Breslauer Klinik leitete, als Bonhoeffer dort arbeitete, äußerte sich in ähnlicher Weise: „Die Auswahl der [...] Fälle geschah lediglich nach dem Lehrzweck, welcher zunächst die Einführung in die Symptomatologie der Geisteskrankheiten zum Gegenstande haben muss, dann aber die Bekanntschaft mit gewissen, häufiger vorkommenden Typen vermitteln soll“ (Wernicke 1899, 1). 59 UAHUB Med. Fak. 238; Blatt 60–61. 60 Wernicke wählte gezielt auch „komplizierte Fälle“ für die studentischen Vorstellungen aus, „wegen des besonderen wissenschaftlichen Interesses, welches sie bieten“ unter der Prämisse, „dass meine Schüler im stande sein würden, selbst in schwierigeren Fällen der klinisch symptomatischen Analyse zu folgen“ (Wernicke 1899, 114). 61 Bonhoeffer 1969, 81. Nachdem Bonhoeffer 1897 bei Wernicke habilitiert hatte und leitender Arzt der „Beobachtungsstation für geisteskranke Gefangene in Breslau“ geworden war, begann er 1898 die

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nischen Demonstrationen deutlich zu.62 Nicht alle standen im Kontext der studentischen Ausbildung,63 sondern fanden häufig auch vor Klinikern und Praktikern statt. Es ist bekannt, dass solche Demonstrationen zu den gängigen medizinischen Präsentationstechniken vor Fach- und manchmal auch vor Laienpublikum gehörten.64 So wurde anlässlich von Weiterbildungen klinisch demonstriert, etwa bei der „Vorstellung im Kurs für Generalärzte“65 und bei fachlichen Zusammenkünften wie den 1914 wieder eingeführten „Kriegsärztlichen Abenden“ und Tagungen der diversen psychiatrischen Gesellschaften.66 Klinische Demonstrationen waren Gelegenheiten, um seltene oder neue Krankheitsbilder, differentialdiagnostische Abgrenzungen oder diagnostische und therapeutische Verfahren vorzustellen und zu diskutieren, und insofern fester Bestandteil der fachwissenschaftlichen Kommunikation. So erinnert sich Bonhoeffers Mitarbeiter Jürg Zutt an deren Bedeutung im Klinikalltag der Charité: „Oft wurden schwierige differentialdiagnostische Erwägungen auf Grund der Vorstellung und Untersuchung im Kolleg entschieden.“67

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„Dozententätigkeit mit einem psychiatrischen Demonstrationskurs“, in dem er die Strafgefangenen seiner Einrichtung „zum akademischen Unterricht“ heranzog (ebenda, 53–54). Otto Binswanger und Theodor Ziehen führten gemeinsam in Jena so genannte „Klinische Visiten“ durch, die im Vorlesungsverzeichnis angekündigt wurden. Zusätzlich bot Binswanger „zwanglose“ Sonntagsvisiten an (Wieczoreck 1988, 74). Wir gehen davon aus, dass die in den Krankenakten enthaltenen „Klinischen Demonstrationen“ und „Klinischen Vorstellungen“ das Gleiche bezeichnen. Dort finden sich gelegentlich auch Verschriftungen so genannter „Vorstellungen im Colleg“, worunter Demonstrationen zu verstehen sind, die „mehr für die Assistenten als für die Studenten bestimmt zu sein“ schienen (Weiteres siehe Fn. 64) (Schwarz 1967, 83). Das zeigt der Abgleich der in den Krankenakten festgehaltenen Termine mit den Semesterdaten. In den Aufzeichnungen sind die jeweiligen Auditorien, die bei den „Klinischen Demonstrationen“ zugegen waren, nicht erwähnt, sodass es im Einzelfall offen bleibt, ob es sich um Lehrveranstaltungen vor Studierenden oder vor Klinik-Mitarbeitern handelt. Dies gilt auch für die „Klinischen Visiten“. Nur sporadisch ist der demonstrierende Arzt vermerkt. Gelegentlich wird dessen Name in Klammer erwähnt oder lässt sich aus einem Dialog oder den Akten beiliegenden Egodokumenten erschließen. (z.B. „Ich muß weg, Herr Geh. Rat“ Krankenakte HPAC, M 325/1915, oder: Brief Eva Arndt an Borchardt F 16/1919.) Im hier betrachteten Zeitraum haben mehrere Charité-Psychiater klinische Demonstrationen durchgeführt. Dazu gehören Karl Bonhoeffer mit seinen Assistenten Ludwig Borchardt, Edmund Forster, Hans Seelert, Franz Kramer und Arnold Kutzinski, deren Namen in den Krankenakten aus der Zeit vermerkt sind. HPAC, M 464/1913. Vgl. zu den „Klinischen Demonstrationen“ bei Kriegsärztlichen Abenden, Großheim 1915, 706. Auch in der Berliner Militärärztlichen Gesellschaft gehörten „Krankenvorstellungen“ zu den regelmäßigen Treffen (vgl. Berliner Militärärztliche Gesellschaft 1914, 26–52). Zahlreiche Nachweise klinischer Demonstrationen vor Fachgesellschaften finden sich in den einschlägigen Zeitschriften. Zutt 1969, 3. Das „Kolleg“ war eine täglich „zu festgelegten Zeiten“ stattfindende, von Bonhoeffer geleitete Zusammenkunft der Klinikärzte, die fünf „Wochenstunden“ in Anspruch nahm (ebenda, 3–4).

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In klinischen Demonstrationen wurden keineswegs nur bekanntes Wissen oder anerkannte Techniken verhandelt, vielmehr bildeten sie ein wichtiges Instrument der diskursiven Auseinandersetzung. So boten die klinischen Demonstrationen eine Bühne für wissenschaftliche Streitfragen, nicht selten wurden sie zum Schauplatz heftiger Dispute.68 Sie stellen somit ein wesentliches Element der Verbreitung und Stabilisierung neuer Wissensbestände dar.

6. Die lokale Ausgestaltung Bei jenen Ersterwähnungen der Schizophrenie in den Archivalien der Charité-Psychiatrie, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen, lassen sich zwei Kontexte von zentraler Bedeutung beschreiben: die differentialdiagnostische Abgrenzung der Schizophrenie zu anderen gängigen Diagnosekategorien und die mit der Modifikation des Krankheitskonzepts einhergehende zunehmende definitorische Präzisierung eines lokalen Schizophrenie-Begriffs. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass weder unter Theodor Ziehen noch unter Karl Bonhoeffer mit dem Kraepelin’schen Konzept der Dementia praecox gearbeitet wurde. Vielmehr hielten beide Charité-Psychiater an den darin zusammengefassten Unterdiagnosen fest.69 Im „Kolleg“ stellte aber nicht nur der Klinikleiter Patienten vor, sondern auch seine Assistenten. „Hier konnte man, außer dem Geheimrat, [Edmund] Forster, [Hans] Seelert, [Richard] Henneberg, [Franz] Kramer, [Rudolf ] Thiele, später [Hans-Gerhardt] Creutzfeld, [Paul] Jossmann, [Kurt] Albrecht genießen, wobei der Hörsaal nicht über Platzmangel zu klagen hatte“ (Schwarz 1968, 25). 68 So wurde die Auseinandersetzung um die traumatische Neurose, bei der sich Oppenheim und Bonhoeffer gegenüberstanden, in den sich an klinische Demonstrationen anschließenden Fall-Diskussionen der Sitzungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten sowie der Kriegsärztlichen Abende der Jahre 1914 bis 1916 ausgetragen. Den Auftakt markiert eine klinische Demonstration Bonhoeffers in der Charité am 14. Dezember 1914 (vgl. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1915, 73–78; Oppenheim 1916a/b). Auf dem „Kriegsärztlichen Abend“ am 29.02.1916 im von Oppenheim geleiteten „Reserve-Lazarett Kunstgewerbeschule“ machte dieser vor den ausführlichen Kranken-Vorstellungen auf eine prinzipielle Schwierigkeit dieser Präsentationsform bei bestimmten Krankheitsbildern aufmerksam: „Es ist freilich eine besonders schwere und gewagte Aufgabe, Kranke, die an Neurosen leiden, einem großen Kreise von Zuhörern zu demonstrieren“ (Oppenheim 1916b, 188), weil deren Symptome starken Schwankungen unterlägen. Als unmittelbaren Zweck seiner Patienten-Präsentation nennt er die „Erläuterung am Objekt zu meinen Veröffentlichungen“ (ebenda, 224). Hier hatten die klinischen Demonstrationen eine Beweisfunktion im Feld konkurrierender Auffassungen. Zum Disput über die traumatischen Neurosen vgl. Lerner, 23–39 und 62–85; ausführlicher zur traumatischen Neurose und den entsprechenden Debatten, Fischer-Homberger 1975; Schmiedebach 1997 und 1999; Holdorf 2008 sowie Kloocke/Schmiedebach/Priebe 2010. 69 Lediglich Ziehens Vorgänger Friedrich Jolly (1890–1904 Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité) wendete ab 1897 die Dementia-praecox-Diagnose an, obgleich auch er sowohl Carl Wernicke als auch Emil Kraepelin „eher ablehnend gegenüber“ gestanden haben soll (Bonhoeffer 1940, 63). Nach den bisher in der Datenbank des Instituts für Geschichte der Medizin erfassten Kran-

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Abb. 7.2: Differentialdiagnostische Abgrenzungen der Schizophrenie 1913–1919

Differentialdiagnostische Abgrenzungen Aus dem Zeitraum zwischen 1913 und 1919 liegen zahlreiche Krankenakten mit klinischen Demonstrationen vor, in denen relevante Kriterien für die Abgrenzung der Schizophrenie gegenüber anderen Krankheiten benannt wurden. Sie betreffen die Unterscheidungsmerkmale zur Psychopathie oder psychopathischen Konstitution, zur Imbezillität, zur Depression (depressive Wahnvorstellungen, manische Depression), zur Paranoia und zur Alkohol-Halluzinose. Krankenakten, die der Unterscheidung zwischen Schizophrenie und Hysterie dienen, waren für diesen Zeitraum nicht auffindbar, jedoch thematisierte Bonhoeffer die entsprekenakten wurde sie bis 1900 insgesamt 22 Mal vergeben. Theodor Ziehen hatte eine eigene Nosologie entwickelt, die bis 1912 an der Charité gültig war. Auf den Krankenakten wurden statt der Dementia praecox als Sammeldiagnose eine Dementia hebephrenica, Dementia katatonica und Dementia paranoides eingetragen. Bonhoeffer benutzte weder Ziehens Krankheitsbezeichnungen noch Kraepelins Konzept, sondern die Begriffe ‚Hebephrenie‘, ‚Katatonie‘ und ‚paranoide Demenz‘. Wenn die Dementia praecox dennoch gelegentlich von Bonhoeffer und seinen Mitarbeitern in externen Schreiben und Gutachten sowie in einigen Veröffentlichungen verwendet wurde, dann nur, um Kollegen und Behörden oder ein fachwissenschaftliches Publikum anhand der ansonsten gebräuchlichen Diagnosebezeichnungen zu instruieren.

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chenden Kriterien in einem 1915 veröffentlichten Vortrag.70 Einen zeitlichen Überblick über diese und die in den Krankenakten gefundenen differentialdiagnostischen Abgrenzungen gibt Abbildung 7.2. Im Folgenden werden einige wenige Auszüge aus klinischen Demonstrationen der in Tabelle 7.1 aufgeführten Krankenakten vorgestellt. Die ausgewählten Passagen enthalten die Abgrenzungskriterien der Schizophrenie zu anderen Diagnosen sowie die für das SchizophrenieKonzept der Charité konstitutiven Merkmale. In der klinischen Demonstration einer Patientin mit der Aktendeckel-Diagnose „Paranoide Demenz“ vom 16. November 1917 erfolgte die Differentialdiagnose aufgrund einer „Schwäche der Affektreaktion“ sowie von Alterationen der Sprache. Durch diese, dem Gebiet der Schizophrenie eigenen Züge, unterscheidet sich das paranoide Zustandsbild von der echten Paranoia. Der Zerfall der Persönlichkeit kann mit dem Fortschreiten der Krankheit deutlicher hervortreten.71

Ein vom Reservelazarett II in Spandau am 3. Mai 1915 an die Nervenklinik der Charité überwiesener Sanitätsvizefeldwebel, dessen Aktendeckel-Diagnose ebenfalls „Paranoide Demenz“ lautet, wurde wenige Wochen nach seiner Einlieferung demonstriert. Zusätzlich zur Sprachstörung, der so genannten „Verbigeration“72, berichtete der Demonstrierende über katatone Symptome. Deshalb sei „die Erkrankung [...] keine Alkohol-Halluzinose, sondern gehört zur Schizophrenie“. Allerdings imponiere die für Schizophrene untypische „gute Affektreaktion“. In dem Fall behalf sich der demonstrierende Arzt mit einer für die Diagnose typischen Prognose: Wir werden jedoch erwarten dürfen, daß Patient nach Abklingen der jetzigen affektvollen Erregung stumpf geworden sein wird. Immerhin zeigt sich schon jetzt innerhalb seines Affektes gelegentlich Nachlassen oder ein inadäquates Überspringen in andere Affektlagen.73

Bei einem anderen Patienten, auf dessen Aktendeckel die Hauptdiagnose „Schizophrenie“ eingetragen ist, fand am 25. März 1919 eine klinische Demonstration statt. Dabei wurden „massenhaft körperliche Sensationen, Gehörs- und Gesichtstäuschungen, krankhafte Eigenbeziehungen“ sowie „schizophrene Assoziationsstörungen“ geltend gemacht. „Der sprachliche 70 Bonhoeffer 1915b. 71 HPAC, F 258/1917, vgl. auch F 52/1919. 72 Der Begriff „Verbigeration“ wurde von Kahlbaum eingeführt und bezeichnet das ständige Wiederholen „sinnloser“ Worte und Wendungen. Bleuler verstand darunter sprachliche „Anomalien“ und „Stereotypien“, die er den akzessorischen Symptomen der Schizophrenie zuordnete (Bleuler 1911a, 123). 73 HPAC, M 212/1915.

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Ausdruck ist maniriert, geziert und gespreizt.“ Das entscheidende differentialdiagnostische Kriterium betraf jedoch wiederum den Affekt: Die bestehenden Wahnbildungen sind im Gegensatz zu depressiven Wahnbildungen, wo alles aus dem Affekt erklärt wird, gekennzeichnet durch die Loslösung vom adäquaten Affekt. Pat. steht allen Gedankengängen gleichgültig gegenüber, es besteht Affektstumpfheit.74

Die Abgrenzung der Schizophrenie von der Psychopathie oder psychopathischen Konstitution stellte nach Bonhoeffer „eine sehr häufig begegnete differentialdiagnostische Schwierigkeit dar“.75 Denn auch bei diesen Diagnosen gehörte die „Affektstumpfheit“ zur Symptomatik. Diese bestehe bei der Psychopathie allerdings durchgehend und trete nicht unvermittelt wie bei der Schizophrenie auf. In solchen Fällen richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Krankheitsverlauf: In der klinischen Demonstration eines Patienten vom 8. Juli 1919 mit der Diagnose „Psychopath. Constitution od. Hebephrenie“ ist dementsprechend zu lesen: „Falls die Angaben der Mutter richtig sind, daß die Affektstumpfheit seit Febr. – also plötzlich verändert – besteht, handelt es sich um den Beginn einer Schizophrenie.“76 Ein erster grundsätzlicher, sich ausdrücklich der Differentialdiagnose der Schizophrenie widmender Beitrag stammt von Karl Bonhoeffer 1915. Am Beispiel von drei CharitéPatienten,77 sämtlich Soldaten, grenzte er die Hysterie, die psychopathische Konstitution und die Hebephrenie aufgrund ihrer Symptomatologie voneinander ab.78 In seinen Ausführungen – die der Rationalisierung der Diagnosefindung dienen sollten – bezog sich Bonhoeffer explizit auf Bleuler und verwendete dessen Schizophrenie-Begriff in vielfältiger Weise und teils synonym mit dem der Hebephrenie oder der Dementia praecox. Obgleich für den geschulten Psychiater eine Verwechslung bei der Zuordnung der Symptome zwischen einer hysterischen79 und einer schizophrenen Störung „nicht möglich ist“, 74 HPAC, M 527a/1918. Eine andere Patientin wurde in der Zeit von 1917 bis 1922 insgesamt 14 Mal von Bonhoeffer und Forster klinisch demonstriert. In der letzten Vorstellung vom 21. November 1921 findet sich eine Abgrenzung des „manisch-depr. Irresein[s]“ von der „manisch-depressiven Verlaufsform einer Erkrankung der Schizophrenengruppe“ (HPAC, F 283/1917). 75 HPAC, F 238/1920. 76 HPAC, M 258/1919. Ähnliche differentialdiagnostische Abgrenzungen der psychopathischen Konstitution finden sich bei: M 91/1917 (Psychopathie? (Frage der Schizophrenie)) und F 238/1920 (Psychopath. Constit. Frage d. Schizophrenie). 77 Die Krankenakten sind nicht überliefert. 78 Bonhoeffer 1915b. Auch nach eingehender Recherche konnten Anlass und Auditorium von Bonhoeffers Referat nicht ermittelt werden. 79 Bonhoeffer hatte 1911 auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Stuttgart einen grundlegenden Beitrag zur Abgrenzung der Symptomatik der Hysterie veröffentlicht. „Was dem hysterischen Typus seine charakteristische Farbe verleiht, ist, daß die Abspaltung der psychi-

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könnten die Unterschiede „im Einzelfalle verwischen“. An seine Zuhörer gerichtet, stellte Bonhoeffer heraus, daß bei allen diesen Fällen der springende Punkt der Differentialdiagnose im Verhalten der Affektreaktion und der damit im engsten Zusammenhang stehenden geistigen Aktivität gelegen ist. [...] Es wäre deshalb für die im Felde wünschenswerte schnelle Sicherung der Diagnose wichtig, objektive Maßstäbe für das Verhalten der Affektivität zu haben.80

Während „die Affektreaktion beim Hysterischen [...] im allgemeinen inhaltlich entsprechend, wenn auch übertrieben“ sei, erscheine sie bei Schizophrenen schwankend, der Situation „inadäquat“ und reiche bis zur „Affektstumpfheit“. Die Affektreaktionen hatten somit bei allen aufgeführten Differentialdiagnosen oberste Priorität, keinem weiteren psychopathologischen Kriterium kam eine vergleichbar entscheidende Rolle zu. Die Fokussierung auf die Affektstörungen als Schlüsselsymptom der Schizophrenie im Krankheitsverständnis der Charité überrascht zunächst nicht, schließlich gehörten sie auch bei Bleuler zu den charakteristischen vier Grundsymptomen.81 In den Krankenakten der Charité hatten jedoch weder die für Bleuler zentralen Assoziationsstörungen – er hob sie als einziges sicher direkt mit dem Krankheitsprozess in Verbindung stehendes Symptom hervor82 – noch die übrigen so genannten „As“ für die Diagnose besondere Relevanz.83

80 81 82 83

schen Komplexe unter dem Einfluß einer inhaltlich bestimmt gearteten inhaltlichen Willensrichtung geschieht. Das Durchscheinen dieser Willensrichtung in der Krankheitsdarstellung ist das, was uns speziell als hysterisch imponiert. Die häufigste Form der hysterischen Willensrichtung ist der Wille zur Krankheit“ (Bonhoeffer 1911, 373. Hervorhebung im Original). Bonhoeffer 1915b, 881. Als Methoden zur Messung der Affektivität schlägt Bonhoeffer die des „Pupillarspiels“ nach Bumke sowie Blutdruckmessungen bei „psychischer Reizung“ vor (ebenda). Darauf weisen Moskowitz und Heim 2011 mit Nachdruck hin. Bleuler 1911a, 285. Bleuler hatte sich bereits vor seinen einschlägigen Veröffentlichungen zur Schizophrenie eingehend mit dem Affekt für die Diagnosestellung beschäftigt (Bleuler 1906). Bestimmte Formen der Assoziationsstörung sahen die Charité-Psychiater dennoch als charakteristisch für die Schizophrenie. Das galt vor allem dann, wenn die Denkabläufe der in Raum und Zeit weitgehend orientierten Patienten dem Arzt beziehungs- und zusammenhanglos erschienen (HPAC, M 16/1915; F 12/1017; M 205/1917; M 527a/1918). Eine Nähe zum Bleulerschen Verständnis der Assoziationsstörungen zeigt sich in der klinischen Demonstration einer Patientin 1917. Dort heißt es: „Gegenstand ihrer lockeren Assoziationen sind meist Wünsche, Befürchtungen“ (F 178/1917). Nach Bleuler seien „Inhalt der Wahnideen [...] Wünsche und Befürchtungen, die aber durch die Assoziationsstörungen oft bis zur Unkenntlichkeit karikiert werden“ (Bleuler 1911a, 290). Gelegentlich wird in der Charité für diese Störungen der Begriff ‚Zerfahrenheit‘ gebraucht (Z.B. M 527a/1918). Die Zerfahrenheit der Denkabläufe wird auch von Kraepelin als symptomatisch für die Dementia praecox beschrieben (vgl. Kraepelin 1899, 140). Passagen, die auf eine Ambivalenz im Bleuler’schen Sinne deuten, finden sich zwar in den Krankengeschichten häufig (F 100/1918 und F 240a/1918). In den klini-

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Symptomatologische Schärfungen Für die Charité-Psychiater war die Schizophrenie eine endogene Psychose. Über deren angenommene Ursache lassen sich in vielen Krankenakten ähnlich lautende Bemerkungen wie die folgende von 1917 finden: „Nach der wissenschaftl. Erfahrung kann äußeren Ursachen bei der Entwicklung der Schizophrenie nicht die Bedeutung einer wesentl. Tatsache zugesprochen werden; es handelt sich vielmehr um eine Psychose endogenen Charakters.“84 Bei den diagnostischen Erwägungen bestand die zentrale Frage darin, ob ein Affekt der Situation oder Wahrnehmung – aus ärztlicher Sicht – angemessen war oder nicht beziehungsweise, ob sich eine Änderung des Affektes in Richtung einer „Indifferenz“ oder „Affektstumpfheit“ konstatieren ließ oder zu erwarten war. So hieß es erstmals 1913 in der klinischen Demonstration eines Patienten: „Affektlage labil, zeitweise ängstlich, dabei oft Schizophrenie, Dissonanz zwischen Äußerung und Affektlage.“85 Hier wird der Schizophrenie-Begriff nicht als Diagnose, sondern als Symptom gebraucht und geradezu mit der Affektstörung identifiziert. Der Verlauf der Krankheit – der 1908 schließlich zu den Gründen für den Neu-Entwurf der Dementia praecox als Schizophrenie gehörte86 – wird entweder als schubweise oder langsam fortschreitend gekennzeichnet.87 Die Krankheit könne bereits in der Kindheit oder mit der Pubertät beginnen und lange unbemerkt bleiben, wofür der Begriff der ‚Latenz‘ Anwendung fand. Entsprechende Frühsymptome beschrieb man etwa wie folgt: „Solche Menschen zeigen schon dann etwas Abgeschlossenes, keine frische kindliche Art, sie sind pedantisch, starr i. Wesen.“88 Im Hinblick auf die Prognose begriffen die Charité-Psychiater die Schizo-

84 85 86

87 88

schen Demonstrationen spielen sie jedoch keine Rolle. Autismus wird nur einmal in einem Gutachten erwähnt. Allerdings steht nur in dessen vorläufiger Version noch gemäß dem Bleuler’schen Wortlaut: „krankhafte Neigung zum Abschließen von der Umwelt (Autismus).“ Dieser Zusatz in Klammern ist in der zweiten Fassung des Gutachtens nicht mehr enthalten (M 359/1918). HPAC, M 106/1917. HPAC, M 43/1913. Erste Kritiken an der im Namen angelegten Finalität der Prognose formulierten bereits 1898 die Psychiater Robert Sommer und Robert Thomsen in der Diskussion zur Kraepelins Vortrag „Zur Diagnose und Prognose der Dementia praecox“ auf der Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte in Heidelberg. Hier präsentierte Kraepelin seine Krankheitskonzeption überhaupt erst der Fachöffentlichkeit, bevor er 1899 in seinem Lehrbuch der Psychiatrie Hebephrenie, Katatonie und Dementia paranoides als Unterformen der eigenständigen Krankheit Dementia praecox zusammenfasste (vgl. Südwestdeutsche Irrenärzte 1899, 262–263). Als Bleuler 1908 sein Schizophrenie-Konzept auf der Jahrestagung des DVfP vorstellte, stand die Prognose der Dementia praecox und ihrer Unterformen auf der Agenda der Auftaktsitzung. Dem in der Diagnosebezeichnung zum Ausdruck kommenden finalen Verlauf des Krankheitsprozesses widersprachen nahezu alle Referenten und Diskutanten (vgl. Deutscher Verein für Psychiatrie 1908, 470–480). HPAC, M 26/1917; M 67a/1917; M 106/1917; F 236/1917; F 300/1918; M 527a/1918; F 16/1919. HPAC, M 16/1915.

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phrenie als eine „allmählich z. Defekt führende Erkrankung“.89 Weitgehende Remissionen betrachtete man aufgrund eigener klinischer Beobachtungen als möglich.90 Auf Bleulers Unterteilung und Gewichtung der Symptome nahm man zwar nicht explizit Bezug, ein Teil seiner so genannten akzessorischen Symptome findet sich dennoch in den klinischen Demonstrationen. Dazu gehören zum Beispiel Sinnestäuschungen91 und Wahnideen.92 Die Bewegungsabläufe mancher Patienten lassen sich mit „Monotonie, Stereotypie, Rhythmizität“93 charakterisieren, dabei nahmen sie „sonderbare Stellungen ein“.94 Das waren bei Bleuler „katatone Symptome“.95 Außerdem gehörten Veränderungen der Sprache dazu. Etwa ein „Rededrang“,96 die Patienten sprechen „maniriert“,97 gebrauchen „zerfahrene geschwülstige Ausdrücke“.98 Diese Auffälligkeiten galten auch im Charité-Konzept nicht als spezifisch für die Schizophrenie, sie fehlen manchmal oder kommen auch bei anderen Erkrankungen vor.99 Die Krankheitseinsicht, deren Fehlen „auf der Höhe der Krankheit“100 nach Bleulers Verständnis als Grundsymptom gilt (Teil der schizophrenen Demenz), war an der Charité offensichtlich ebenfalls nur von untergeordneter Bedeutung für die Diagnose.101 Insgesamt tritt in den die Schizophrenie charakterisierenden wie auch in den differentialdiagnostischen Passagen der Krankenvorstellungen die Konzentration auf das affektive Verhalten der Patienten hervor, weitere Symptomatiken dienten vor allem der Diagnosebestätigung.

7. Ein Fall von Schizophrenie Während des Einführungsprozesses, der sich etwa von 1912 bis 1919 erstreckt, entwickelten die Charité-Psychiater das beschriebene spezifische Schizophrenie-Verständnis, legten die

89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

HPAC, M 16/1915. HPAC, F 12/1917; M 67a/1917; M 106/1917. Z.B. HPAC, M 16/1915; M 95/1917; M 205/1917; F 236/1917; F 300/1918; M 359/1918; M 527a/1918. Z.B. HPAC, M 43/1913; F 236/1917; M 420/1917; F 300/1918; M 359/1918; M 527a/1918. HPAC, M 43/1913. HPAC, M 16/1915. Auch bei HPAC, F 12/1917; F 178/1917; F 236/1917; M 527a/1918. HPAC, M 16/1915. HPAC, F 12/1017. HPAC, M 420/1917, andere: M 212/1915; F 178/1917; F 236/1917; F 300/1918; M 527a/1918. Zu den akzessorischen Symptomen siehe Bleuler 1911a, 78–186. Bleuler 1911a, 70. Erwähnung in der „Klinischen Demonstration“ bei HPAC, F 12/1917; M 67a/1917 und im Schlussurteil bei M 420/1917. In einem Fall wird ein „auffallendes Krankheitsgefühl und Einsicht“ ihrem Zustand gegenüber festgestellt (F 16/1919), in einem anderen ist die Krankheitseinsicht durchgestrichen (F 101/1918).

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Symptomatik fest und übten die differentialdiagnostische Abgrenzung ein. Seine Konsolidierung bildet die Folie, vor deren Hintergrund die Beobachtungen in der nun vorzustellenden Krankenakte gelesen werden können. Die Identifizierbarkeit der diagnoserelevanten Symptome der Schizophrenie gehörte 1919 bereits so weit zum alltäglichen Handwerkszeug, dass die Ärzte sie selbstständig reproduzieren konnten und sogar als Matrix zur nachträglichen Bearbeitung von Krankenakten nutzten. Es handelt sich bei der vorliegenden Akte um die einer der ersten Patientinnen, bei denen eine Schizophrenie auf dem Deckel vermerkt ist.102 Das 27-jährige Dienstmädchen Eva Arndt103 kam, so heißt es im Aufnahmevermerk,104 „von allein“ Anfang Januar 1919 zur Aufnahme in die Klinik, „weil sie nicht schlafen könne“. Seit 1909 hielt sie sich mit Unterbrechungen in psychiatrischen Einrichtungen in Erfurt, AltScherbitz, Eberswalde und Pfaffenrode auf. Sie erhielt dort neun verschiedene Diagnosen, von denen sich auch nach zeitgenössischem differentialdiagnostischen Verständnis einige gegenseitig ausschlossen. Darunter waren Hypomanie, Hysterie und periodisches Irresein sowie manische Depression und Dementia praecox. Besonders prominent sind in dieser Krankengeschichte die zahlreichen Bezüge zum turbulenten realpolitischen Zeitgeschehen zwischen Kaiserzeit, Kriegsereignissen und Revolution.105 Die Akte enthält neben den Explorationsgesprächen und zahlreichen Verhaltensbeobachtungen auch Egodokumente sowie eine kurze klinische Demonstration. Die Aufmerksamkeit soll nun aber nicht auf die semantische Analyse der eindrucksvollen Mitteilungen der Patientin gelenkt werden, sondern auf die zahlreichen Überarbeitungsspuren in der Krankengeschichte. Solche finden sich in Form von verschiedenen, meist am Blattrand vorgenommenen Markierungen sowie primären und sekundären Korrekturen (Streichungen und Einfügungen).106

102 HPAC, F 16/1919 103 Der Name wurde geändert. 104 Form und Inhalt der Aufnahmeeinträge folgen Klinik-internen Vorgaben und Gepflogenheiten. Eine der wenigen Arbeiten, die auf die bedeutsame Funktion des „Erstkontakts“ für den weiteren Umgang mit den PatientInnen eingehen, findet sich – ausgeführt am Beispiel der Hamburger Anstalt Friedrichsberg – bei Sammet 2006, 353–357. Die Aktenführung dort unterscheidet sich jedoch in verschiedener Hinsicht von den Berliner Gepflogenheiten, so werden „differentialdiagnostische Erwägungen [...] nicht explizit gemacht“ (ebenda, 360). 105 Die Akte fasziniert zunächst durch die diversen, anfangs eher spirituellen, später vor allem rassistisch, deutsch-nationalistisch und militaristisch gefärbten Wahnbilder und Patientenmitteilungen. 106 Grundsätzlich können nach dem Zeitpunkt der Überarbeitungen zwei Typen unterschieden werden. Primär, wenn sie während dem Aufschreiben vorgenommen wurden, sekundär, wenn andere Schreibgeräte zum Einsatz kamen, sie also nachträglich erfolgten.

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Spuren nachträglicher Bearbeitung Die violetten Anstreichungen am linken Rand der Journalblätter enden etwa zwei Monate nach der Aufnahme und wurden mit demselben Stift vorgenommen wie der handschriftliche Diagnoseeintrag auf dem Aktendeckel. Markiert wurden jene Stellen, welche die Angst der Patientin vor ihren Verfolgern, ihre wechselnden Interessen, ihre Wahnbilder und Halluzinationen, ihre Affekte sowie Beobachtungen ihres Verhaltens zum Gegenstand haben. Sie stehen im Zusammenhang mit der Diagnosefindung.107 Ein Teil der Korrekturen fand offenbar im Schreibfluss statt und diente der sprachlichen Glättung oder dem Ergänzen von Informationen. Andere sind inhaltlicher Art und wurden nachträglich durch leitende Ärzte wie Karl Bonhoeffer und den Oberarzt der Frauenstation Ludwig Borchardt vorgenommen.108 Korrekturen präzisieren oder interpretieren die Aufzeichnungen: Sie heben bestimmte Krankheitszeichen hervor oder schwächen sie ab, gelegentlich verändern sie sogar die Bedeutung des ursprünglich Geschriebenen. Drei Beispiele sollen die Bedeutung dieser Korrekturen im Prozess der differentialdiagnostischen Abgrenzung zwischen manischer Depression und Schizophrenie illustrieren. In einer markierten Stelle im Fließtext der Krankengeschichte heißt es am Tag nach der Aufnahme: „Häuser kommen auf mich zu, stürzen über mich her“ [I. Einfügung am Blattrand von Borchardt: Meint das nicht symbolisch! Die Häuser fielen auf sie nieder, das merke sie.] {Dann müssen Sie doch tot sein?}109 „Bin ja noch lebendig!“ {Woher merken Sie, dass die Häuser auf Sie zukommen?} „Manchmal schwankt immer alles. Bei uns gibt es Hexen. Es hat jemand erzählt, eine andre Frau hätte gesagt, eine Hexe wäre über mich. Sie [II. Einfügung Borchardt: hört die 107 Die Markierungen stehen häufig im Kontext der Diagnosestellung, um Bedeutsames oder Außergewöhnliches hervorzuheben, oder sie kennzeichnen eine behandlungsrelevante Symptomatik. Speziell die Markierungen vertikal am Blattrand dienen in einigen Fällen auch dem Kennzeichnen von Passagen für Veröffentlichungen, Gutachten oder Abschriften für die Verwaltungsakte. Strukturierende Unterstreichungen im Text finden sich gelegentlich bei Teilüberschriften. 108 Die Führung der Krankenjournale oblag in der Charité in der Regel den Unterärzten. Aufgabe der Assistenten und Oberärzte war deren Kontrolle, damit die Akten „mit Genauigkeit und wissenschaftlichem Ernste“ geführt wurden (UAHUB CD 1237, 65). Durch einen Vergleich mit Schriftproben in autorisierten Archivalien konnte die Urheberschaft vieler Korrekturen geklärt werden. In den frühen Schizophrenie-Krankenakten finden sich zusätzlich viele Tageseinträge leitender Ärzte, die erste mit dieser einschlägigen Aktendeckeldiagnose wurde ausschließlich vom leitenden Arzt der Frauenabteilung Ludwig Borchardt geführt, was auf besonderes Interesse an diesen Fällen deutet, möglicherweise aber auch dem kriegsbedingten Personalmangel geschuldet ist. Insofern können Überarbeitungen aus sehr verschiedenen wissenschaftlichen wie pragmatischen Gründen vorgenommen worden sein. Salina Braun, eine der wenigen AutorInnen, die diese Praxis berücksichtigen, versteht die Überarbeitungsspuren als Ausdruck der Klinikhierarchie (Braun 2009, 37). 109 Anstelle der hier verwendeten geschweiften Klammern stehen in der Krankenakte eckige Klammern, die im vorliegenden Text jedoch den Einfügungen der Autoren vorbehalten sind.

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Stimme einer Hexe die] spricht, dass ich 3 x ja sagen muss, [III. Einfügung Borchardt: dann werde sie krank.] Sie sagen es wäre eine Hexe, die stellt Fragen an mich.“

Abb. 7.3: Anstreichung und sekundäre Korrekturen in der Krankengeschichte Arndt

Während die dritte Einfügung Borchardts vornehmlich dem narrativen Verständnis der Patientenmitteilung dient, charakterisieren die erste und die zweite Einfügung die Aussagen der Patientin als psychiatrische Symptome. In der ersten handelt es sich um die Kennzeichnung einer körperlichen Halluzination. In der zweiten Einfügung wechselt sogar die Referenz des „Sie“. In der ursprünglichen Patientenaussage spricht die Hexe. Durch die ärztliche Interpretation wird daraus das spezifische Symptom: Stimmen hören. Es findet also ein hierarchischer Abgleich der Realitäten von Arzt und Patientin statt, bei der die des Arztes als Korrektiv der Patientenwahrnehmungen dient. Die Einfügung ergänzt das aufgeschriebene Gespräch um eine analytische Ebene und rückt die ärztliche Deutung der Patientenaussage in den Vordergrund der Diagnosekonstruktion. Doch die Überarbeitungen dienten nicht nur dem Herausarbeiten und Schärfen diagnostisch wichtiger Symptome. Gelegentlich verändern sie gezielt Inhalt und Bedeutung des Aufgeschriebenen und eröffnen erst dadurch neue Interpretationsmöglichkeiten. In der folgenden, ebenfalls markierten Textpassage tritt diese Funktion der Korrekturen Ludwig Borchardts besonders deutlich hervor: „Seit etwa 8 Tagen sitzt Pat. manchmal im Bett und lacht laut. Wenn man sie dann ansieht, hört sie auf zu lachen und macht verlegenes Gesicht. Gesichtsausdruck [Einfügung Borchardt: ist jetzt] häufig[er] nicht ganz so depressiv wie früher. Sagte dann auf Befragen, es ginge ihr

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ganz gut. Im allgemeinen jedoch [Einfügung Borchardt: Manchmal wieder] zeigt sie noch den ängstlich-depressiven Affekt, sagt beiläufig [Einfügung Borchardt: dann], sie möchte sterben.“

In der zuerst aufgeschriebenen, interpretativen Verhaltensbeobachtung schwankte der Affekt der Patientin zwischen verschieden starken Graden depressiver Stimmung. Infolge der Korrekturen entsteht nunmehr ein Wechsel von depressiven und nicht-depressiven Phasen. Durch die Streichung und Einfügung wird aus der Grundstimmung eines ängstlich-depressiven Affekts ein Wechsel der Stimmungslagen in die Krankengeschichte eingeschrieben. Die Streichung des Wortes „beiläufig“ verstärkt zudem die symptomatische Bedeutung der Suizidalität. Vor allem in den Einträgen der ersten zwei Monate überarbeitete der leitende Arzt die Affektinterpretation stark. An vielen Stellen finden sich Streichungen von Passagen, die man ursprünglich als Depressivität gedeutet hatte. Einmal war sogar zu lesen, die Affektlage sei angemessen. Das strich Borchardt ganz, nachdem er zunächst versucht hatte, die Aussage zu relativieren: „Ihre Affektlage ist [Einfügung Borchardt: im ganzen] adäquat.“ Die angeführten Überarbeitungen gehören in den Kontext der Diagnosefindung. Dafür sprechen zwei Beobachtungen: Die Mehrzahl der Überarbeitungen wurden zu Beginn des Klinik-Aufenthalts vorgenommen, jenem Zeitraum, in dem auch die Markierungen an den Seitenrändern der Tageseinträge stehen. Außerdem enthält die Akte Verweise auf Differentialdiagnosen, die bei der Patientin mit ihrer reichen Vorgeschichte in der Charité-Nervenklinik im Raum standen.

Abb. 7.4: Überarbeitung der Affektinterpretation durch Borchardt und primäre Korrekturen

Im Hinblick auf die Diagnosestellung in der Poliklinik teilte Ludwig Borchardt mit: „Oft finden sich in einem Journal [d.h. einer Krankenakte] mehrere Diagnosen als fraglich angeführt.“ (Borchardt 1913, 135). Diese Praxis lässt sich auch in Krankenakten stationärer Patienten beobachten. Bei diesen wurden auf den Rückseiten der beigelegten Körpergewichtskurven die fraglichen Diagnosen vermerkt. So auch bei Eva Arndt. Untereinander stehen mit Fragezeichen versehen „Hebephrenie“ und „Manisch-depressiv“. Ein genauerer Blick auf den Aktendeckel lässt schließlich erkennen, dass auch hier nachträglich korrigiert wurde. Mit einem anders-

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Abb. 7.5: Aktendeckel-Diagnose Krankenakte Arndt

farbigen Stift als jenem, mit dem später die Schizophrenie-Diagnose vermerkt ist, scheint der Schriftzug eines zuvor gemachten Eintrags durch, von dem sich einige wenige Buchstaben identifizieren lassen: Diese Diagnose lautete offenbar: „manisch-depressiv“ (vgl. Abb. 7.5).110 Die soeben aufgezeigten Überarbeitungen verweisen auf ein gezieltes Einschreiben der Schizophrenie in die Krankengeschichte von Eva Arndt. Hier veränderten sie den ursprünglichen protokollarischen Charakter der Aufzeichnungen grundlegend und machen ihren vorläufigen Status deutlich. Erst im Laufe des diagnostischen Konstruktionsprozesses verdichteten sich die vielfältigen psychiatrischen Beobachtungen durch die Überarbeitungen zu einem abschließenden medizinischen Urteil. Im Falle der Akte Eva Arndts dokumentieren die Korrekturen die ärztlichen Blickverschiebungen im Zuge von Erkenntnisprozessen. Zwar kann wohl mit Recht von einem Ein- und Umschreiben oder auch Konstruieren einer Diagnose gesprochen werden, ‚Konstruktion‘ soll hier aber nicht im Sinne einer ‚Erfindung‘ von Geisteskrankheit verstanden werden. Die Beobachtungen wurden vielmehr vor dem Hintergrund differentialdiagnostischer Erwägungen relativiert, revidiert und neu interpretiert, wozu man alte Einträge annullierte und Einfügungen im Sinne der neuen Diagnose vornahm. Wenn als Differentialdiagnosen bei der Patientin „Hebephrenie“ und „manisch-depressiv“ zur Diskussion standen, ist zu fragen, warum auf dem Aktendeckel eben nicht die Unterdiagnose, sondern die Sammeldiagnose ‚Schizophrenie‘ vermerkt ist. Im vorliegenden Fall deutet einiges darauf hin, dass eine Abgrenzung der Unterformen bei der Vielzahl an Wahnbildern und Verhaltensauffälligkeiten, die Eva Arndt bot, schwierig war. Eine Unsicherheit, die auch Mitte April 1919 in ihrer klinischen Demonstration zum Ausdruck kam.111 Dort stellte Bonhoeffer die für ihn charakteristische Affektstörung voran: Ihrem Zustand gegenüber verhalte sie sich „nicht ängstlich, auch nicht eigentlich traurig“, sondern sei „ratlos“, um dann abschließend zusam110 Die überschriebene Diagnose ist schwer zu entziffern, durch grafische Bearbeitung konnte lediglich ein Teil des ursprünglichen Eintrags sichtbar gemacht werden. Es ist von den lesbaren Buchstaben her zwar möglich, aber sehr unwahrscheinlich, dass dort „Dementia praecox“ stand, da diese Diagnose an der Charité unter Karl Bonhoeffer nicht vergeben wurde. 111 Diese Demonstration fand außerhalb des Semesters statt. Die Zuhörer waren vermutlich Mitarbeiter der Klinik oder Teilnehmer externer Veranstaltungen.

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menzufassen: „Sinnestäuschungen, Gefühl der Gedankenübertragung machen Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß es sich um periodisch auftretende schizophrene Attacken handelt.“ Am selben Tag wurde eine weitere Patientin klinisch vorgestellt, auf deren Aktendeckel eine „paranoide Demenz“ eingetragen ist. Die 51-jährige „Friseurin“ Käthe Franke112 war zu diesem Zeitpunkt schon fast fünf Monate in der Klinik und bereits kurz nach ihrer Aufnahme ein erstes Mal ‚Gegenstand‘ einer klinischen Demonstration. Ihre Diagnose lautete dort zunächst „Paranoia auf dem Boden der Schizophrenie“. Bonhoeffer präzisierte diesen Eintrag nachträglich zu „paranoider Symptomenkomplex auf dem Boden der Schizophrenie“. In den Verschriftungen der am selben Tag demonstrierten Patientinnen werden explizit keine Querverbindungen hergestellt. Doch bezweckte man mit der doppelten Vorstellung offensichtlich, die Variabilität der Krankheitsbilder der Schizophrenie in Symptomatik und Verlauf aufzuzeigen, gleichzeitig aber ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die sich vor allem in der Störung des Affekts manifestieren.

Zeigen – Schauen – Erkennen oder performative Arzt-Patienten-Interaktionen Am Beispiel der ersten Krankengeschichte lässt sich ein weiterer, von den KrankenaktenÜberarbeitungen unabhängiger Konstruktionsprozess nachzeichnen, der das Hervorbringen relevanter Symptome zum Gegenstand hat. Er basiert auf einer unausgesprochenen Komplizenschaft von Arzt und Patientin. In der klinischen Demonstration Eva Arndts heißt es: „Bei Ausdrucksbewegungen ist etwas Manieriertes auffällig, dabei etwas Theatralisches, wie sie plötzlich Augen aufreißt.“ Diese Beschreibung performativen Verhaltens, das im Krankheitsverständnis Bleulers und Bonhoeffers ebenso von hoher Relevanz ist, und auf weibliche theatrale Darstellungsformen im Stummfilm verweist, gilt als Beleg eines der Situation inadäquaten Affektes. Da es vor der Demonstration keinerlei Hinweise auf ähnliches Verhalten gibt, diese sich danach aber mehrmals in fast wortidentischer Form finden, sind zwei Lesarten zulässig, die sich nicht ausschließen: Zum einen dürfte die von Bonhoeffer durchgeführte klinische Vorstellung die diagnostische Aufmerksamkeit der anwesenden Ärzte auf bisher unbeachtete Verhaltensweisen gelenkt haben. Auch hier wäre mit Ludwik Fleck hinsichtlich der Einübung eines Denkstils innerhalb eines Denkkollektivs zu argumentieren: „Um zu sehen, muss man zuerst wissen, und dann kennen [...]. Man muss eine gerichtete Bereitschaft zum Sehen besitzen.“113 Die Patientin könnte die als Symptome gedeuteten Verhaltensweisen also auch vor diesem Zeitpunkt gezeigt haben, nur wurden sie nicht notiert, weil man ihre Relevanz nicht erkannte.114 Im Hin112 HPAC, F 300/1918. Auch ihr Name wurde geändert. 113 Fleck 1947, 154. 114 Da sich manieriertes Verhalten und Sprechen auch zuvor schon in den Krankheitsbeschreibungen von

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blick auf den „Einfluß der Aufmerksamkeit und des Interesses auf die Beobachtung“ liest sich folgende Passage Bonhoeffers wie eine Paraphrase Flecks: Es ist eine alte Erfahrung, daß [etwas] [...], das man hundertmal gesehen hat und das man genau zu kennen glaubt, unter Umständen einen ganz neuen Aspekt bekommt, wenn man durch irgendeine Erfahrung darauf hingewiesen wird, es unter einem bestimmten neuen Gesichtspunkt zu sehen. [...] In der klinischen Beobachtung ist es nicht anders. Auch hier läßt die Aufmerksamkeitseinstellung unter eine leitende Idee in scheinbar alltäglichen klinischen Erscheinungen Neues, unter Umständen Fruchtbares sehen.115

Es liegt allerdings ebenso nahe, dass die Patientin das ‚theatralische‘ Verhalten während der klinischen Demonstration erstmals an den Tag gelegt hatte und es später wiederholte, weil es vor dem medizinischen Expertenpublikum eine exponierte Bedeutung von Krankheitswert erhielt. Diese Annahme wird durch eine Bemerkung in einem Brief bekräftigt, den die Patientin wenige Tage nach der Veranstaltung an Ludwig Borchardt, den Leiter der Frauenabteilung, schrieb. Darin heißt es: „Dem Geheimrat gebe ich recht, was er feststellte im Hörsaal das letzte mal.“ Die Patientin war demnach während der Besprechung ihres Falles anwesend, sie wurde Zeugin ihrer Krankheitsbeschreibung.116 Dadurch könnte sie indirekt dazu animiert worden sein, ihr Verhalten zu wiederholen, um ihr Kranksein bestätigt zu bekommen. Schon im ersten Eintrag der Krankenakte am 9. Januar 1919 ist ihre Bemerkung kolportiert, sie gelte als Simulantin. Darüber beklagte sie sich des Öfteren. Außerdem betonte sie mit zunehmender Dauer ihres Klinikaufenthalts immer häufiger, nun wirklich geisteskrank zu sein. Das Pflegepersonal beobachtete darüber hinaus, dass sie sich in Gegenwart der Ärzte besonders expressiv verhielt. So heißt es in einem Krankenakteneintrag vom 2. Mai 1919: Auf der Abteilung vielfach wechselndes Verhalten; zeitweise läppisch-euphorischer Stimmung, kreischendes [laut L] Lachen, wirft sich mit heftigsten Körperbewegungen hin und her, tut das nach Bericht der Pflegerin besonders laut, wenn sich Ärzte auf der Abteilung befinden; singt häufig Vaterlandslieder; zuweilen wird sie in jähem Wechsel weinerlich, klagt, wenn man an ihr Bett tritt, daß sie jetzt unheilbar geisteskrank sei.

Dies legt nahe, dass das Hervorbringen der ‚richtigen‘ Symptome im Zusammenhang mit der Anerkennung der Patientin durch die ärztliche Autorität stand. Auf solche und weitere EffekPatienten mit den entsprechenden Diagnosen findet, also als Symptom der Schizophrenie bereits eingeführt ist (z.B. HPAC, F 12/1917; M 527a/1918), verliert diese Interpretation allerdings an Plausibilität. 115 Bonhoeffer 1941a, 69–70. 116 Dieses Vorgehen stellt eher eine Ausnahme bei klinischen Demonstrationen dar. Andere Psychiater, auch Carl Westphal, führten ihre Fallbesprechungen ausdrücklich nur in Abwesenheit der Patienten durch, um Rückwirkungseffekte zu vermeiden.

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te, die sich vor allem aus den Rollenzuweisungen sowie den damit verbundenen Erwartungen ergeben und in den beschriebenen Interaktionen einen Austragungsort gefunden haben, hat bereits Michel Foucault aufmerksam gemacht.117

8. Kontextualisierungen des lokalen Schizophrenie-Konzepts Im Folgenden sollen die für die Modifikation des Schizophrenie-Konzepts in der Charité wesentlichen Zusammenhänge näher dargestellt werden. Dabei geht es einmal um einen methodischen Aspekt, der durch die spezifische Art der Rezeption der Psychoanalyse in der Charité-Nervenklinik charakterisiert ist; des Weiteren um einen zeitökonomischen Aspekt, der durch die spezifischen Bedingungen des Ersten Weltkriegs zum Tragen kommt; und nicht zuletzt um einen praktisch-differentialdiagnostischen Kontext, bei dem die schwierige Abgrenzbarkeit der Unterformen der Schizophrenie im Mittelpunkt steht.

Methodisch: Psychoanalyse Wesentliche Impulse für Bleulers Verständnis des Krankheitskomplexes kamen aus der experimentellen Psychologie und der Psychoanalyse Freuds, mit der er sich noch vor Carl Gustav Jung seit den 1890er-Jahren beschäftige.118 Carl Gustav Jung, von 1900 bis 1909 Mitarbeiter Bleulers am Burghölzli, führte um 1903 Assoziationsexperimente an zahlreichen Patienten mit Dementia praecox durch, die er 1906 veröffentlichte.119 Das Innovative an Jungs Auffassungen bestand darin, dass er mit Freuds analytisch-interpretativem Instrumentarium en 117 Anhand eines historischen Beispiels entfaltet Foucault seine „Theorie der Klinik“ (Foucault 2005, 267). Danach gewinne der Arzt Autorität, indem er Patienten vor Publikum demonstriert. Er beweise dem Patienten weiterhin sein Wissen über die Krankheit und veranlasse ihn dadurch zu verstehen, dass der Arzt eine von allen akzeptierte Wahrheit formuliere. Infolgedessen erkenne der Patient die „durch Krankheit bestimmte Realität“ (ebenda, 268) seines Lebens an. Und schließlich bereite er dem Arzt eine Freude, wenn er auf die Bühne trete, so dass dieser wiederum „ihn bis zu einem gewissen Punkt für die Mühe entlohnt, die er sich gibt“ (ebenda, 269). 118 Möller/Scharfetter/Hell 2003, 86. Zum Verhältnis Bleuler-Freud siehe auch Scharfetter 2001, 101–104. 119 Im einführenden Literaturkapitel konstatierte Jung die bei allen Unterschieden zirkulierender Ansichten und Forschungsarbeiten bestehende Gemeinsamkeit der Idee einer „zentralen Störung“ (Jung 1907, 40). Diese könne auf einer „Fixierung der gefühlsbetonten Vorstellungskomplexe“ (ebenda, 39), also der Affekte, beruhen. Wenngleich Freud das Verdienst zukomme, zum ersten Mal das Prinzip der Konversion verdrängter Komplexe in paranoide Symptomatik bei Dementia praecox nachgewiesen zu haben, reichten seine Darlegungen nicht aus, um zu erklären, warum daraus eine Dementia praecox und keine Hysterie entstehe. Jung vermutete hier die Wirkung von „Toxinen“ (ebenda), die direkt aus dem Affekt der Dementia praecox entstünden und zu einer Fixierung der Komplexe führten. Die Frage, ob diese (Auto-)„Intoxikation“ (ebenda, 41) sekundär aus der Psyche des Kranken oder primär aus somatischen Ursachen erwachse, ließ er unentschieden.

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detail die Assoziationsketten einer Patientin aufdeckte und bis zu einem Ursprungskonflikt zurückverfolgte. Trotz der Kritiken an Kraepelins Konzept lehnte die Mehrzahl der deutschen Psychiater Jungs Neuinterpretation ab,120 weil sie die Anwendung der Psychoanalyse zur Grundlage hatte. Die wurde von führenden Psychiatern um die Jahrhundertwende als unwissenschaftlich, spekulativ und im Hinblick auf die große der Sexualität zugeschriebene Bedeutung in der Krankheitsentstehung121 als gefährliche Irrlehre abqualifiziert, zur bloßen Mode heruntergedrückt und sogar vehement bekämpft. Dennoch beförderte Jungs Aufsatz die Freudrezeption erheblich. Eugen Bleuler legte bei der Verteidigung der Psychoanalyse zwar nicht dieselbe Schärfe an den Tag wie der äußerst aktive Carl Gustav Jung. Er setzte sich aber als einer der ersten Psychiatrieordinarien überhaupt eingehend mit der Methode auseinander.122 In der Folgezeit galt die Zürcher Nervenklinik deshalb allgemein als Freud-nah, neben Wien sogar als zweites Zentrum der Psychoanalyse.123 120 An Freud schrieb Jung am 13. Mai 1907: „Sie werden bald erfahren, daß ein Kraepelinscher Assistent im Gauppschen ‚Zentralblatt‘ mich durch eine Kritik des Dementia-praecox-Buches getötet hat. Sie natürlich inbegriffen. [...] Man schießt jetzt wenigstens mit Kanonen“ (McGuire/Sauerländer 1975, 47). Es handelt sich um Max Isserlin, der sich in der Folgezeit noch häufig stellvertretend für die deutsche Psychiatrie als der Kritiker psychoanalytischer Ansätze zu Wort melden wird und deshalb zum ‚Lieblingsfeind‘ der Psychoanalytiker avancierte (vgl. Isserlin 1907). Schon auf der 1906 stattfindenden 37. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte kam es in der Diskussion von zwei Vorträgen des Burghölzli-Mitarbeiters Ludwig Frank und von Dumeng Bezzola über eine „Modifikation des FreudBreuerschen Verfahrens“ zu einem Wortwechsel zwischen Alfred Hoche, dem es „ganz unerfindlich ist, wie man die dort vorgebrachten Gedankengänge ernst nehmen kann“ (Südwestdeutsche Irrenärzte 1907, 185) und Isserlin, für den „im Sinne der Freud’schen Theorie (sexuelles Trauma) keine Daten zu finden waren“ (ebenda), auf der einen Seite, sowie C.G. Jung als Verteidiger Freuds auf der anderen. 121 Eugen Bleuler schrieb – wie seine Burghölzli-Mitarbeiter Abraham und Jung vor ihm – der Sexualität als determinierendem Bestandteil gerade bei diesem neuen Krankheitskomplex eine bedeutende Rolle zu. „Meine persönliche Erfahrung bei der Schizophrenie gibt Freud in einer Weise recht, die mich selbst höchst überraschte. Von den Hunderten von Patienten, die wir analysieren, war keiner ohne sexuellen Komplex. Bei den meisten war dieser der alleinige Beherrscher der Symptome [...]“ (Bleuler 1911b, 23. Hervorhebung im Original). Bei einem kleinen Rest machte er geschlechtsspezifische Unterschiede aus. Fast ausschließlich bei Männern träten auch andere Komplexe (zum Beispiel intellektuell zu glänzen, Standeserhöhung, Macht) in den Vordergrund. (Vgl. auch Bleuler 1914, 34). Gemeinsamkeiten und Differenzen hinsichtlich der Sexualität und ihrer Entwicklung im Schizophrenie-Verständnis zwischen Bleuler und Freud siehe Dalzell 2007, 473. 122 Darüber hinaus gab er beispielsweise gemeinsam mit Freud zwischen 1909 und 1914 das Jahrbuch für Psychoanalytische und Psychopathologische Forschungen heraus. Ernst Falzeder und Ludger Hermanns meinen: „Die Bedeutung von Bleulers Unterstützung für Freud kann kaum überschätzt werden. Er war der erste Ordinarius, der die Psychoanalyse anerkannte und ihr den Eintritt in die Universität und Anstaltspsychiatrie verschaffte, so daß Freud zeitweise hoffte, mit seiner Hilfe die Psychiatrie zu ‚erobern‘“ (Falzeder/Hermanns 2009a, 15), siehe dazu auch Dalzell 2007, 471–472. 123 Handwerker Küchenhoff 2007, 43.

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Bereits im Vorwort seiner 1911 erschienenen Monografie machte Bleuler auf die psychoanalytisch ausgerichteten Vorstudien seiner Burghölzli-Mitarbeiter, insbesondere Jung,124 aufmerksam. Seine Arbeit sei „nichts als die Anwendung der Ideen Freuds auf die Dementia praecox“,125 so Bleuler demonstrativ bescheiden. Das blieb nicht ohne Wirkung, wie sich bald herausstellte: „In meinem Vorwort weht ein blutrotes Tuch und über manchen Kapiteln des theoretischen Teiles liegt ein Schleier, dessen Farbe von zartem Rosa zu Scharlach wechseln muß“,126 der Name Freud, so Bleuler drei Jahre nach dessen Erscheinen. Noch deutlicher treten seine psychoanalytischen Anleihen in dem ein Jahr vor der Monografie veröffentlichten Aufsatz Die Psychoanalyse Freuds. Verteidigung und kritische Bemerkungen127 hervor. Dort setzte Bleuler sich nicht nur mit den psychiatrischen Kritiken und kursierenden Vorurteilen gegenüber der Psychoanalyse auseinander,128 sondern benannte auch die zentralen Differenzen seines Schizophrenie-Konzepts im Vergleich zu Kraepelins Dementia praecox. Einen Teil der Symptomatiken verstand er analog zu Freuds Hysterie-Konzept als sekundär durch psychische Komplexe und biografische Ereignisse verursacht. Ihre Struktur könne durch die Psychoanalyse aufgedeckt werden.129 Damit gelang es Bleuler, eine Brücke zwischen Psychopathologie und Alltagspsychologie zu schlagen, wobei die bis dahin in der Psychiatrie diffus als Wahnbildungen gedeuteten Träume, Halluzinationen, Eindrücke und Wahrnehmungen der Patienten nun eine semantisch-rationale Bedeutung erhielten. Der Wahn-Sinn wurde so über die Rekonstruktion ihrer bruchstückhaften Mitteilungen als Assoziationszusammenhang in eine sinnhafte biografische Krankheitsnarration übersetzt. Die massiven Ressentiments der Psychiatrie gegenüber der Psychoanalyse bewirkten de-

124 C. G. Jung äußerte sich in einem Brief vom 6. Oktober 1911 allerdings gegenüber Freud recht abfällig über den Bleuler-Band. „Sein großes Buch werden Sie erhalten haben? Dort hat er arge Sachen gemacht, welche die klaren Wasser unserer Dementia praecox-Auffassung zu trüben bestimmt sind“ (McGuire/Sauerländer 1974, 492). 125 Bleuler 1911a, VII. 126 Bleuler 1914, 31–32. 127 Bleuler 1910b sowie als eigenständige Publikation Bleuler 1911b. 128 Als Beispiel sei hier nur auf die scharfe Polemik zwischen Kurt Mendel, dem Herausgeber des Neurologischen Zentralblattes (Mendel 1910) und Bleuler (Bleuler 1911b, 19–20) verwiesen. 129 „Die Psychoanalyse zeigte den logischen, respektive affektiven Zusammenhang des ganzen Kunterbunts. Wie in diesem speziellen Falle [dem von C. G. Jung 1907] werden die Wahnideen der Dementia praecox überhaupt verständlich, und nicht nur das: nach genau den gleichen Gesetzen erklären sich die Träume, die mythologische Symbolik, vieles in der Sage, im Märchen und in der Dichtung“ (Bleuler 1911b, 40). Zur Widerlegung dieses Ansatzes siehe auch Weygandt, 1907, 298. Volker Roelcke nimmt an, dass sich Bleuler gerade deshalb der Analyse bediente, weil er sich davon „Aufklärung über das Wesen der Dementia praecox aus der Analyse der Psychologie einzelner Patienten“ erhoffte (Roelcke 2000, 192).

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ren Thematisierung auf der 1913er-Jahresversammlung des DVfP.130 Bleuler hielt als doppelter Parteigänger ein „Referat über den Wert der Psychoanalyse“. Alfred Hoche übernahm als Exponent des Psychiatrischen Denkkollektivs das entsprechende Co-Referat, in dem er erwartungsgemäß „einen völlig ablehnenden Standpunkt“ zum Ausdruck brachte. Die Psychoanalyse sei „überhaupt keine wissenschaftliche Methode“, ihre Anhänger glichen einer „Sekte“. 131 Bleuler nutzte die Gelegenheit, um die Psychoanalyse als methodisches und interpretatives Verfahren zu verteidigen und zugleich ihre Bedeutung in seinem Schizophrenie-Konzept zu präzisieren. Die Psychoanalyse sei zwar das Instrument zur Deutung der Wahnbildungen Schizophrener und zum Verständnis der Symptomatologie, aber nicht zum Verständnis ihrer Verursachung und Einteilung. Besonders hob er die „organische Grundlage“ der Krankheit hervor, obgleich „psychogene Fälle“ nicht gänzlich auszuschließen seien. Das war eine entscheidende disziplinäre Eingrenzung der Bedeutung der Psychoanalyse und eine Klarstellung gegenüber der Position von Jung, Freud und Abraham, die zur Annahme einer psychischen Ätiologie der Dementia praecox neigten.132 Bleulers Relativierung und seine zunehmende Distanz zur psychoanalytischen Bewegung ab 1908 bis hin zu seinem Rückzug von ihr 1913133 130 „Laut Kraepelin hatte die Diskussion über die Psychoanalyse den Zweck, geschlossen gegen sie aufzutreten und Bleuler die Gelegenheit zu geben, sich öffentlich davon zu distanzieren, da er zu einem großen Teil dafür verantwortlich gemacht wurde, dass die Psychoanalyse noch Einfluss in der Psychiatrie hatte“ (Falzeder/Hermanns, 2009a, 303, Fn. 3). Kraepelin äußerte gegenüber der Psychoanalyse sein Desinteresse und brachte damit seine Ablehnung zum Ausdruck, wie ein Bonmot der Breslauer Jahresversammlung erkennen lässt: „Die Zeit wird über diese Methode hinweggehen, man kann es der Zukunft überlassen, ihren wissenschaftlichen Wert zu beurteilen. Was daran gut ist, ist nicht neu, was neu ist, nicht gut“ (Deutscher Verein für Psychiatrie 1913, 790). Bleuler vermutete, „daß sogar Kraepelin meine prinzipielle Einteilung der Schizophrenen Symptomatologie in primäre und sekundäre nur deshalb ablehne, weil sie mit Freudschen Auffassungen zusammen genannt worden ist.“ (Bleuler 1914, 39–40, Hervorhebung im Original) Auch am Nutzen des psychoanalytischen Ansatzes zur Erklärung der Schizophrenie zweifelte Kraepelin weiterhin. „Bekanntlich behauptet die Psychoanalyse, auf diesem Gebiete Großes geleistet zu haben, und wenn man ihr glauben könnte, [hätten] [...] auch die vielfach so gänzlich unverständlichen seelischen Vorgänge der Schizophrenen [...] auf diesem Wege neue, überraschende Beleuchtung erfahren“ (Kraepelin1920, 4). Des Weiteren werden bei Kraepelin antisemitische Ressentiments – die unter deutschen Akademikern weit verbreitet waren – als Ablehnungsgründe der Psychoanalyse genannt (Krupinski 1991, 96–97). 131 Deutscher Verein für Psychiatrie 1913, 789. 132 Bereits 1908 machten Jung und Bleuler ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Dementia praecox in einer gemeinsamen Arbeit für das Zentralblatt für Neurologie und Psychiatrie öffentlich. Auch hier stand die Rolle des Psychischen in der Ätiologie der Dementia praecox zur Disposition. Während Jung eine psychische Alteration (Affekte) auch ätiologisch für relevant hielt, billigte Bleuler ihnen nur eine Funktion bei der Ausgestaltung der Symptomatologie und als Auslöser der Symptomatik bei latenter Erkrankung zu (Bleuler/Jung 1908). 133 Im Zuge dessen trat dieser Einfluss in Bleulers Folgepublikationen, so dem 1916 veröffentlichten Lehr-

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dürfte der Rezeption seines Schizophrenie-Konzeptes auch außerhalb der analytisch orientierten Psychiater den Weg geebnet haben. Die Charité-Psychiater arbeiteten mit einem breiten Spektrum anamnestischer, klinischdiagnostischer und therapeutischer Methoden.134 Das gilt auch für die Forschung. In dieser Hinsicht herrschte eine, wenn auch relative Freiheit. Bonhoeffer „setzte die gewissenhafte Erfüllung des Dienstes auf den Abteilungen voraus, erlegte jedoch seinen Mitarbeitern keine Verpflichtungen hinsichtlich konkreter wissenschaftlicher Vorhaben auf. Es herrschte völlige Freiheit bei der Wahl wissenschaftlicher Themen“.135 Auch bedingt durch die Übernahme von Mitarbeitern aus der Ära Theodor Ziehen, wie beispielsweise Ludwig Borchardt (Mitarbeiter zwischen 1908 und 1919) und Arnold Kutzinski (Mitarbeiter zwischen 1905 und 1917), lässt sich der Antritt Karl Bonhoeffers als Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité nicht nur – wie bereits erwähnt – als radikaler Bruch,136 sondern auch als fließender Übergang beschreiben. Im Nachklang von Bleulers Präsentation auf der 1913er-Jahresversammlung, bei der von den aktuellen und ehemaligen Charité-Mitarbeitern Karl Bonhoeffer, Franz Kramer und Richard Henneberg anwesend waren, äußerte Arnold Kutzinski zwar die Hoffnung, dass „die Auswüchse der Freud’schen Theorie endgiltig erledigt wären“,137 gleichwohl versuchte er, die Brauchbarkeit der Psychoanalyse an Charité-Patienten zu überprüfen.138 Kutzinski war darum bemüht, am Beispiel einer Patientin „sowohl die theoretischen Gefahren, wie auch einzelne

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buch, in den Hintergrund (Bleuler 1916, besonders das Kapitel „Schizophrenien, Dementia praecox“, 277–330, sowie Falzeder 2004, 97–101 und Küchenhoff 2006). Die Distanzierung von der Psychoanalyse betraf in erster Linie deren Organisationsstrukturen, in theoretischer Hinsicht blieb Bleuler Freud trotz mancher Differenzen auch weiterhin verbunden (vgl. Dalzell, 2007, 474–479). In einem Vergleich der psychiatrischen Entwicklungen der beiden Wernicke-Schüler Karl Bonhoeffer und Robert Gaupp kommen die Autoren nach der Vorstellung ihrer Verdienste zu der Einschätzung: Während Gaupp die „tiefenpsychologische Dimension“ in seine Arbeit integrierte, blieb Bonhoeffer in der Wernicke-Tradition „ein ‚organischer‘ Psychiater. [...] Andere Richtungen der Psychiatrie, auch der Psychotherapie, sparte er aus“ (Schott/Tölle 2006, 228). Schönknecht 1999, 15. Auch im Hinblick auf die Krankheitsbezeichnungen und folglich der ihnen unterliegenden Konzepte ist ein ziemlich abrupter Wechsel zu konstatieren. Kutzinski 1913a, 156. Kutzinski selbst hatte keine psychoanalytische Ausbildung, aber auch kaum theoretische Kenntnisse und keine praktischen Erfahrungen mit der Anwendung dieses Verfahrens, wie er unumwunden zugibt (Kutzinski 1913a, 161). Das führte zu dessen Unterschätzung, denn er benutzte es als einfaches Frage- und Deutungsinstrument. So berichtet er über seinen Versuch an der Patientin: „Am 4.2. wurde mit ihr die Psychoanalyse vorgenommen“ (ebenda, 157). „Da die Analyse zu keinem Resultat führte, wurde von ihr Abstand genommen“ (ebenda, 161). Vgl. zum Verständnis der Psychoanalyse auch Kutzinski 1913b.

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Irrtümer der Freud’schen Theorie zu illustrieren“,139 wobei es ihm besonders um die Widerlegung der angenommenen Schlüsselrolle der Sexualität zum Verständnis des Krankheitsprozesses ging. Bei den diagnostischen Abwägungen zwischen Hysterie und Schizophrenie140 nennt Kutzinski das „Festhalten an der Realität“141 ihrer Halluzinationen bei fehlender Krankheitseinsicht „einen schizophrenen Prozess“. Weil die Patientin gleichzeitig „eine lebhafte und adäquate Affektlage“ zeige, habe er jedoch „keine Berechtigung, eine Dementia praecox anzunehmen“. Kutzinskis Arbeit belegt als frühste Veröffentlichung eine Beschäftigung mit Bleulers Schizophrenie-Konzept unter Bonhoeffers Mitarbeitern. Er übernahm einen Teil von Bleulers Begrifflichkeit und machte auf die Charité-intern diskutierte herausragende differentialdiagnostische Bedeutung der adäquaten Affektlage aufmerksam. Gleichzeitig verwarf er aber die Eignung der Psychoanalyse142 und die ihr immanente Bedeutung der Sexualität,143 um das neue Krankheitskonzept zu erklären. Zwar begann die Rezeption des psychoanalytischen Erklärungsansatzes der Schizophrenie in der Charité mit der Ablehnung der Methode, man nahm ihn aber immerhin zur Kenntnis und eignete sich relevant erscheinende Aspekte des Konzeptes an.144 139 Kutzinski 1913a, 157. Hervorhebung im Original. 140 Karl Abraham nutzte die Verarbeitungen der Sexualität differentialdiagnostisch zur Unterscheidung von Dementia praecox und Hysterie. Er schreibt „Im Autoerotismus liegt der Gegensatz der Dementia praecox auch gegenüber der Hysterie. Hier Abkehr der Libido, dort übermäßige Objektbesetzung, hier Verlust der Sublimierungsfähigkeit, dort gesteigerte Sublimierung“ (Abraham 1908, 531. Hervorhebung im Original). 141 Dieses und die nächsten beiden Zitate sind Kutzinski 1913a, 169 entnommen. Tatsächlich ist im Patienten-Eintrag des Diagnosebuches eine „Hysterie“ vermerkt (HPAC, Diagnosebuch Frauen 1912– 1928). 142 In keiner der aufgefundenen Krankenakten ließen sich Spuren psychoanalytischen Durcharbeitens nachweisen. 143 In Bonhoeffers Überlegungen spielt die Sexualität bei der Abgrenzung der Hysterie- von der Schizophrenie-Diagnose keine nennenswerte Rolle, wie in seinen Arbeiten überhaupt. Insofern dürfte es wenig überraschen, dass er auf keinen der psychoanalytischen Autoren, die bereits zu dieser Differentialdiagnose veröffentlicht hatten (Freud, Jung und Abraham), Bezug nimmt. Vgl. Bonhoeffer 1915b. 144 Unter Bonhoeffers Studenten und Mitarbeitern gab es einige, die von der Psychoanalyse stark beeinflusst waren. So Carl Müller-Braunschweig, der 1909 über seine psychoanalytische Begeisterung zur Psychiatrie fand und zwischen 1912 und 1914 von Bonhoeffer ausgebildet wurde. Müller-Braunschweig gehörte zu den Mitgliedern der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung sowie zu den Mitarbeitern des Berliner Psychoanalytischen Instituts. Später sorgte er für dessen Anschluss im Nationalsozialismus. Bereits seit 1911 in einer Analyse bei Karl Abraham befindlich, promovierte Karen Horney, eine der Wegbereiterinnen der feministischen Psychoanalyse 1914 bei Bonhoeffer (Quindeau 2009, 306). Auch Jürg Zutt, ein langjähriger Mitarbeiter Bonhoeffers zunächst als Volontär-, später als Assistenzarzt (1920–1922, 1923–1937), soll bei Karl Abraham eine zweijährige psychoanalytische Fortbildung

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Karl Bonhoeffer blieb gegenüber der Psychoanalyse abwartend bis reserviert.145 Das zeigte sich, als Karl Abraham146 – der sich vom Wechsel von Ziehen147 zu Bonhoeffer mehr Aufgeabsolviert und eine Lehranalyse durchlaufen haben. 1923 ging er für ein Jahr als Volontär zu Eugen Bleuler an die Burghölzli-Klinik (Schönknecht 1999, 15). Weitere Charité-Mitarbeiter anderer Fachrichtungen, wie der Internist Friedrich Kraus und sein Assistent Theodor Brugsch, interessierten sich ab etwa 1912 für die Psychoanalyse (vgl. Falzeder/Hermanns 2009a, 23 sowie die zahlreichen Einträge zu Kraus und Brugsch im Personenregister 2009b). Inwiefern die psychoanalytisch beeinflussten respektive ausgebildeten Mitarbeiter diese Methode an der Charité tatsächlich einsetzten, ist nicht überliefert. Arnold Kutzinski, der als einziger Klinik-Mitarbeiter in einer Veröffentlichung über die Anwendung berichtete, wurde im Juni 1915 zum Kriegsdienst eingezogen. Erst über die Zeit Mitte der 1920er-Jahre berichtet ein Bonhoeffer-Schüler, dass „selbst durch die Türen einer geschlossenen Abteilung die Freudsche ‚Traumdeutung‘ einsickerte, von der wir jungen Ärzte stark beeinflusst wurden“ (Schwarz 1968, 25). Dies dürfte auch auf Arthur Kronfeld zurückzuführen sein, der 1927 bei Bonhoeffer habilitierte, und sich seit 1912 durchaus kritisch – aber ohne den pauschalen Gestus der Verwerfung – mit der Psychoanalyse auseinandersetzte. Als erfahrener Psychotherapeut nutzte er während seiner Mitarbeit im Institut für Sexualwissenschaft Magnus Hirschfelds (1919–1926) und danach in privater Niederlassung auch die Psychoanalyse (Seeck 2009) Darüber hinaus absolvierte Edith Vowinkel, die von 1924 und 1929 an der Klinik war, bei Karl Müller-Braunschweig eine Lehranalyse. Sie spezialisierte sich auf Kinderpsychiatrie. Auch von Käthe Misch-Frankl (zwischen 1926 und 1930 Volontärarztin), die im Londoner Exil mit Anna Freud zusammen arbeitete, ist eine entsprechende Ausbildung belegt. Zur Psychotherapie siehe Fn. 156 in diesem Beitrag. 145 Zu einer anderen Einschätzung kommt Jürg Zutt, der Bonhoeffers Zurückhaltung im öffentlichen Urteil nicht als Abneigung gegenüber der Psychoanalyse verstanden wissen wollte, sondern nur als dessen persönlichen Ausdruck der Ablehnung ihrer „maßlosen Überschätzung“ (Schönknecht 1999, 16). Robert Gaupp, ein Weggefährte, der durch die Fürsprache Bonhoeffers an die von Karl Wernicke geleitete Breslauer Klinik kam, schrieb in seinem Nachruf 1949 mit Blick auf den „Streit der Geister“ über die Psychoanalyse: „Die verstehende und einfühlende Psychologie übte er aufgrund seiner persönlichen Anlagen und Begabungsrichtung. Die theoretische Deutung dessen, was hinter dem Beobachten im Unbewußten lebte und ins Bewußtsein bisweilen vorstieß, lag seiner Veranlagung nicht“ (Gaupp 1949, 5. Hervorhebung im Original). Siehe auch Fn. 156 in diesem Beitrag. 146 Nachdem Karl Abraham 1908 nach Berlin zurückgekehrt war, organisierte er gemeinsam mit Otto Juliusburger, Heinrich Koerber und Magnus Hirschfeld regelmäßige Treffen psychoanalytisch Interessierter. 1910 ging daraus die erste Ortsgruppe der „Berliner Psychoanalytischen Vereinigung“ hervor, die diese neue Denk- und Therapierichtung in der Reichshauptstadt implementierte. Berlin kann spätestens seit der Eröffnung der ersten „Psychoanalytischen Poliklinik“ im Februar 1920 als Zentrum der Psychoanalyse bezeichnet werden (Falzeder/Hermans 2009a, 21–34). 147 So kolportierte Karl Abraham Sigmund Freud im Februar 1911 süffisant, wie Theodor Ziehen anlässlich der klinischen Demonstration einer Zwangsneurose den ihr unterliegenden sexuellen Aspekt in Abrede stellte, obgleich der Patient überdeutlich Stoff dazu böte (Abraham an Freud vom 11.02.1911, 229). Freud forderte Abraham daraufhin auf, „den köstlichen Bericht über Ziehen für das Zentralblatt freizugeben“, denn „auf Schonung hat Z.[iehen] keinen Anspruch“ (Freud an Abraham vom 13.02.1911, 230). Doch „weil die Publikation in Zürich (d.h. Burghölzli) wohl sicher eine Verstimmung erzeugt hätte, [...] müssen wir die Geschichte mündlich weiter erzählen“ (Abraham an Freud vom

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schlossenheit in dieser Hinsicht versprach – vergeblich versuchte, bei Bonhoeffer zu habilitieren oder eine Dozentur zu bekommen oder später, als es Bestrebungen gab, einen Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Friedrich-Wilhelms-Universität einzurichten.148

Zeitökonomisch: Kriegsbedingungen Die spezifischen Umstände des Zeitabschnitts, in dem die Einführung der SchizophrenieDiagnose an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité stattfand, wurden bisher nicht ausreichend gewürdigt. Es sind die Jahre zwischen 1912 und 1919, also jene unmittelbar vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, den Bonhoeffer als „das große Experiment“149 für die Psychiatrie bezeichnete, weil er „unserem Fachgebiet in mancher Hinsicht und gerade in Fragen, die mich besonders in den Jahren vor dem Krieg beschäftigt hatten, wichtige Belehrungen gebracht“ habe.150 Das betraf besonders die Ätiologie und Diagnostik der Psychosen.151 Die Bedingungen der Kriegs-Psychiatrie sind nicht nur in der Charité durch knappe materielle,152 zeitliche und personelle153 Ressourcen bei gleichzeitig hoher Arbeits- und Lehrbelastung gekennzeichnet, sondern auch durch die Prämisse der Heeresleitung, die Kriegsgeschädigten möglichst rasch wieder diensttauglich zu machen.154 Sowohl im Klinikalltag,

148 149 150 151 152

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9.03.1911, 236). Zu Ziehens äußerst distanziertem Verhältnis und seinen verächtlichen Äußerungen zur Psychoanalyse vgl. weiterhin den Brief Abraham an Freud vom 1.12.1912, 287–288 (Falzeder/Hermanns 2009a). Kaderas 1998. Bonhoeffer 1969, 89. Ebenda, 88. Bonhoeffer 1922, 1. Die Versorgungslage der psychiatrischen Patienten während des Ersten Weltkriegs war katastrophal, sodass in diesen Jahren ungefähr 70.000 Personen in den Anstalten des Deutschen Reiches an Nahrungsmangel starben. Auch in den Jahren danach besserte sich die Situation nur langsam. Für detaillierte Angaben vgl. Faulstich 1998. Die Zahl der Assistenzärzte nahm zwischen 1913 und 1916 von acht auf zwei, die Zahl der Volontärärzte von sieben auf eins ab. 1915 bat Bonhoeffer die Charité-Direktion – angesichts der kriegsbedingten Zunahme des Arbeitspensums (85 Betten der Frauenabteilung wurden als Kriegslazarett umfunktioniert) und gutachterlichen Tätigkeit – dringend um personelle Aufstockung um wenigstens einen Assistenten zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit (UAHUB CD 914, 151). Die personell äußerst prekäre Situation entspannte sich erst gegen Kriegsende, obgleich die Versorgung Kriegsverletzter und -traumatisierter sowie deren Begutachtung – nunmehr unter dem Vorzeichen der Beurteilung geltend zu machender Versorgungsansprüche – nicht nachließ. Das ergibt sich aus einer zum internen Gebrauch erstellten Übersicht „Charité-Psychiater 1870–1930“ von Rainer Herrn. Darin sind die Beschäftigungszeiten und Funktionen der ärztlichen Mitarbeiter in der Psychiatrischen und Nervenklinik aus veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen – insbesondere des Bestandes Charité des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin – erfasst. Vgl. Riedesser/Verderber 2004.

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aber auch beim Einsatz von Psychiatern im Feld wirkten diese Faktoren handlungsleitend. In der Klinik zog dies effiziente (Be-)Handlungsstrategien unter der Maßgabe einer eindeutigen Diagnosestellung nach sich. Die krankheitsspezifischen Prognosen hatten weitreichende Konsequenzen für die Kriegsverwendungsfähigkeit der Patienten oder ihren Einsatz in der nicht weniger kriegswichtigen Landwirtschaft und Industrie.155 Das betraf nach Bonhoeffer insbesondere die Hysterie und die Psychopathie, die im Unterschied zur Schizophrenie als heilbar galten, während bei Letzterer höchstens Remissionen zu erwarten waren.156 Er 155 Vgl. Bonhoeffer 1917, insbesondere das Beispiel des Stirnhirnschussverletzten S. 94, sowie Leppmann 1917. 156 Die Unterscheidung zwischen diesen Diagnosen gestaltete sich auch in der psychoanalytischen Bearbeitung schwierig, was sich an einem Beitrag Sigmund Freuds von 1913 belegen lässt. Er zog, das sei angemerkt, die von ihm geprägte Bezeichnung der „Paraphrenie“ dem Bleuler’schen Schizophreniebegriff vor. Freud schrieb: „Ich bestreite es, daß es immer so leicht möglich ist, diese Unterscheidung zu treffen. Ich weiß, daß es Psychiater gibt, die in der Differentialdiagnose seltener schwanken, aber ich habe mich überzeugt, daß sie ebenso häufig irren. Der Irrtum ist nur für den Psychoanalytiker verhängnisvoller als für den sogenannten klinischen Psychiater. Denn der letztere unternimmt in dem einen Falle sowenig wie in dem anderen etwas Ersprießliches; er läuft nur die Gefahr eines theoretischen Irrtums, und seine Diagnose hat nur akademisches Interesse. Der Psychoanalytiker hat aber im ungünstigen Falle einen praktischen Mißgriff begangen, er hat einen vergeblichen Aufwand verschuldet und sein Heilverfahren diskreditiert. Er kann sein Heilungsversprechen nicht halten, wenn der Kranke nicht an Hysterie oder Zwangsneurose, sondern an einer Paraphrenie leidet, und hat darum besonders starke Motive, den diagnostischen Irrtum zu vermeiden“ (Freud 1913, 184). Der klinische Psychiater Bonhoeffer antwortete 1915 zumindest implizit auf die von Freud seiner Profession unterstellte Reduktion auf ein rein „akademisches Interesse“ ohne therapeutische Relevanz. Vielmehr verwies er eindringlich auf die Konsequenzen dieser Unterscheidung für den psychiatrischen Behandlungserfolg. Retrospektiv billigte Bonhoeffer aufgrund des damals vorherrschenden „therapeutischen Nihilismus“ unter den Psychiatern der „aufkommenden Freudschen Psychoanalyse“ freimütig das „Verdienst“ zu, „daß auch [...] in der Psychiatrie therapeutische Ansätze sich zu zeigen begannen“ (Bonhoeffer 1941b, 7. Hervorhebung im Original). Obwohl Bonhoeffer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Anerkennung von Freuds Leistungen bereits emeritiert war – sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl wurde 1938 der berüchtigte NS-Psychiater Maximinian de Crinis – darf dies angesichts der ‚Arisierung‘ der als ‚jüdisch‘ geltenden Psychoanalyse im Deutschen Reich durchaus nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Andererseits ist Bonhoeffers „grundsätzliche Befürwortung eugenischer Prinzipien“ (Roelcke 2008, 81), die bei der Konzeption und Durchsetzung des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zum Tragen kam, ebenfalls nicht zu vergessen. Schließlich zählte die Schizophrenie als eine der psychiatrischen Hauptdiagnosen aufgrund der ihr unterstellten endogenen Ursachen, ihrer Therapieresistenz und folglich schlechten Prognose zu dessen Indikationen. Doch selbst bei der von Bonhoeffer am Beispiel einiger Patienten diskutierten Möglichkeit exogen verursachter Schizophrenien, würde nach seiner Ansicht „die mit einer Gravidität verbundene Gefahr [...] in allen drei Fällen ohnehin aus rein ärztlicher Indikation die Unfruchtbarmachung rechtfertigen“ (Bonhoeffer 1934b, 215). Insgesamt soll Bonhoeffer wohl „für eine sehr enge Auslegung“ des Gesetzes plädiert (Roelcke 2008, 82) und bei dessen praktischer Durchsetzung im

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bemerkte, die Sicherheit der Diagnosestellung sei von grundsätzlicher Bedeutung für den Therapieerfolg: Praktisch wichtig ist die Stellung der Differentialdiagnose deshalb, weil die Fehldiagnose gerade bei den heilbaren Fällen [...] von oft schwer wieder gutzumachendem Einfluss auf die weitere Entwicklung der Krankheit ist.157

Dieses Argument stammte aus der Auseinandersetzung um die traumatische Neurose mit Herrmann Oppenheim, die zugunsten seiner Gegner ausfiel.158 Insofern wirke sich die Diagnose über die Prognose auf den Heilungsprozess aus und damit auf die zu erwartende Wiederverwendungsfähigkeit für den Kriegs- oder Zivildienst. Als erfahrener Kliniker war Karl Bonhoeffer darum bemüht, das neue Krankheitskonzept unter pragmatischen Gesichtspunkten für die diagnostische Schärfung und Prognose einzusetzen, was mit einer Fokussierung auf wenige maßgebliche Erkennungssymptome einherging. Kennzeichnend für Bonhoeffers Diagnose-Stil war dabei der von ihm selbst so bezeichnete „symptomatologisch-klinische Charakter der Darstellung an Stelle einer ätiologischen“,159 mit dem er sich bewusst von anderen Möglichkeiten der Betrachtung abgrenzte, weil sie „das einzige Einteilungsprinzip [sei], das nichts präjudiziert“.160 Das war insbesondere für die in den Kriegslazaretten tätigen Psychiater wichtig. Die Differentialdiagnostik sei im Felde an sich dieselbe wie zu Hause. Unterschiede bestehen nur insofern, als im Felde die Diagnose meist unter Verzicht auf eine längere eingehende Beobachtung und kompliziertere technische Hilfsmittel und häufig auch ohne eine ausreichende Anamnese gestellt werden muss. Es handelt sich also darum, die Kriterien kennen zu lernen, welche ohne längere Beobachtung die Diagnose ermöglichen.161

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Vergleich zur Mehrzahl deutschen Psychiater „eine gemäßigte Linie“ (ebenda, 83) vertreten haben. Vgl. auch Gerrens 1994. Bonhoeffer 1915b, 877. Bereits in der maßgeblichen Diskussion der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie am 14. Dezember 1914 in der Charité hatte Bonhoeffer im Anschluss „einiger Krankendemonstrationen über Fälle von so genannter Granatexplosionslähmung“ auf die Wichtigkeit der ‚richtigen‘ Diagnosestellung hingewiesen. Denn die Heilungsprognose sei nur dann günstig, „wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt und dementsprechend suggestiv behandelt wird“, sodass die Betroffenen nicht von den „Angehörigen oder im Lazarett unter falscher Flagge [traumatischer Neurose, d. Vf.] als schwere organische Fälle gingen und sich ganz der bemitleidenden Fürsorge ihrer Umgebung hingeben konnten“ (Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1915, 74). Bonhoeffer 1910, 2. Bonhoeffer 1908, 2259. Bonhoeffer 1915b, 877.

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Wie schon aufgezeigt, hatte der Krieg wesentlichen Einfluss auf die Debatten zur Ätiologie psychiatrischer Erkrankungen. Im Unterschied zu den Neurosen, für die eine psychische Ätiologie auch in der Psychiatrie angenommen wurde, schrieb man im Falle der Psychosen exogenen Faktoren allenfalls auslösende, nicht aber eine verursachende Wirkung zu.162 Hier sprachen auch die Charité-Psychiater, bei aller Offenheit psychiatrischer Meinungsbildung und Praxis, mit einer Stimme. In der Psychoanalyse hingegen wird den akzidentellen psychogenen Faktoren prinzipiell eine bedeutende Rolle zugewiesen, eine Auffassung, die gerade Bonhoeffer während des Krieges, als das Schizophrenie-Konzept an der Charité ausgestaltet wurde, zu widerlegen suchte. Rückblickend bemerkte er: „Alles in allem kann man sagen, daß die ätiologische Betrachtung in der Psychiatrie durch die Kriegserfahrungen wesentlich sauberer geworden ist.“163

Praktisch-differentialdiagnostisch: die schwierige Unterscheidbarkeit der Unterformen Angesichts der Charité-spezifischen Modifikationen beim diagnostischen Vorgehen und dem Ausblenden der Breite von Bleulers Symptomstruktur, die in diesem Beitrag herausgearbeitet wurden, soll die eingangs gestellte Frage nach dem Gewinn der neuen Kategorie für die Charité-Psychiatrie aufgegriffen werden. Beide, Emil Kraepelin und Eugen Bleuler, wiesen wiederholt auf die Häufigkeit von Übergängen und Zwischenformen bei den Unterdiagnosen der Dementia praecox respektive der Schizophrenie hin. Bleuler stellte fest: Die „Zerlegung der Schizophrenie in einzelne natürliche Unterabteilungen ist zurzeit noch nicht lösbar.“164 Dieser Sicht schloss sich Bonhoeffer 1912 an.165 Und wie die Krankenakten belegen, erwies sich die Abgrenzung der Unterformen der Schizophrenie auch an der Charité häufig als schwierig. Es konnten keine klaren Kriterien ausgemacht werden, nach denen sich Hebephrenie, Katatonie und paranoide Demenz voneinander unterscheiden ließen. Zwar standen bei der Hebephrenie die „Störungen des affektiven und Willenslebens“166, bei den Katatonien psychomotorische Symptome167 und bei den paranoiden Demenzen die Wahnbildungen und Halluzinationen im Vordergrund,168 die entsprechenden Symptomatiken finden sich aber auch häufig bei den jeweils anderen 162 Zum Beispiel Schlussurteile, HPAC, M 205/1917; M 346/1917; M 420/1917. Seine Position dazu fasste Bonhoeffer 1922 zusammen (vgl. Bonhoeffer 1922). Darin gibt es ein Unterkapitel zu Schizophrenie, 34–38. 163 Bonhoeffer 1934a, 1213. 164 Bleuler 1911a, 187. 165 Bonhoeffer 1912, 1. Vgl. auch die Charité-Veröffentlichung von Grünthal 1919, 211. 166 HPAC, M 420/1917; auch M 26/1917. 167 HPAC, M 43/1913; M 16/1915; F 12/1917; F 178/1917. 168 HPAC, M 95/1917; M 205/1917.

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Diagnosen.169 Es lag also nahe, im Falle des sie kennzeichnenden Symptomkomplexes den Oberbegriff zu gebrauchen. Bleulers Schizophrenie stellte darüber hinaus mit der Berücksichtigung latenter Symptome fließende Übergänge zur normalen, psychiatrisch unauffälligen Persönlichkeit her170 und integrierte mit dem Latenz-Konzept auch unklare Krankheitsbilder, deren Symptomatik zwar noch nicht manifest war, deren Auftreten aber prospektiv erwartet wurde. Ein weiterer Grund für die Etablierung der Schizophrenie-Diagnose dürfte in der Übersichtlichkeit von Bleulers Darstellung zu suchen sein. Kraepelins entsprechende Kapitel in seinen Lehrbüchern 1899 und 1913 sind im Wesentlichen durch eine überbordende Fülle von aneinander gereihten symptomatischen Abhandlungen gekennzeichnet, die in einem Fließtext weitgehend ungewichtet nebeneinander stehen. Diese Krankheitsbeschreibungen wuchsen zwischen den genannten Auflagen von rund 80 Seiten auf über 300 an. Bleulers Monografie hingegen bot eine klare hierarchische Ordnung der Krankheitszeichen, der man zwar nicht zwingend folgen musste, die aber eine Handhabung des Konzepts ungemein erleichterte.

9. Nutzen und Folgen der Modifikation Während Bleuler vor allem die rationale Desorientierung in der Welt und die Unordnung des Denkens (die Assoziationsstörung) zu den prominenten Diagnosekriterien der Schizophrenie zählte, konzentrierte man sich an der Berliner Charité auf die emotionale Inadäquatheit (die Affektstörung) als zentrale diagnostische Kategorie.171 Das unter Bonhoeffer modifizierte Schizophrenie-Konzept definierte sich nicht primär über gestörte Denkvorgänge, sondern über Störungen des reibungslosen und angemessenen Interagierens in den alltäglichen sozialen Prozessen großstädtischen Lebens. Damit avancierte das zwischenmenschliche ‚Funktionieren‘ in der Stadt mit ihren komplexen Interaktionen, der beschleunigten Kommunikation und den differenzierten Produktionsbedingungen zum Prüfstein dieser modernen Diagnose. ‚Emotion‘, ‚Gefühl‘ und ‚Affekt‘ sind Schlüsselbegriffe, die zwar eine lange Vorgeschichte haben, aber im frühen 20. Jahrhundert zu zentralen Kategorien in der Soziologie (Simmel), Psychologie (Wundt), Psychoanalyse (Freud, Jung) und Psychiatrie (Ziehen, Bleuler, Bon169 Zum Beispiel „katatonische Erregung“ bei einer Hebephrenie HPAC, F 236/1917; Wahnbildungen und „Gehörtäuschungen“ bei Hebephrenie M 359/1918 und F 236/1917; Antriebslosigkeit bei einer Katatonie M 16/1915; Katalepsie bei einer paranoiden Demenz M 205/1917. 170 Während Bleulers „dimensionales Modell mit kontinuierlichen Übergängen von krank zu gesund“ operierte, ging Kraepelin eher von einer Dichotomie beider Zustände aus (Scharfetter 2001, 32). 171 Die Durchsicht weiterer Krankenakten aus den frühen 1920er-Jahren, die klinische Demonstrationen enthalten, bestätigen die bisherigen Ergebnisse im Sinne der theoretischen Sättigung.

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hoeffer) wurden, auch weil sie auf kommunikative Fähigkeiten verweisen, die für den modernen Menschen prägend sind.172 Die „Betonung der Affektbeherrschung in der damaligen Gesellschaft“173 ist ein sie charakterisierendes Merkmal, das nicht nur im Ersten Weltkrieg von exponierter Bedeutung war. In unserem konkreten Fall manifestierte sich die Störung des Affekts in der „Unmöglichkeit, mit einem Schizophrenen in gefühlsmäßigen Kontakt zu kommen“.174 Insofern reflektiert das lokale Schizophrenie-Konzept der Charité „die Angst nicht allein vor der Kommunikationslosigkeit durch den erdrückenden Raum der modernen Stadt, [...] sondern vor dem Verlust der Möglichkeit, überhaupt zu kommunizieren“.175 Ob die Charité-Psychiater bei ihrem Entwurf diesen Zusammenhang bedachten, ist derzeit nicht zu beantworten. Dessen ungeachtet verweist die lokale Modifikation darauf, dass es prinzipiell sinnvoll ist, bei den zahlreichen Arbeiten über Schizophrenie genauso wie bei anderen Krankheitsbegriffen zunächst – möglichst auch an Krankenakten – zu prüfen, ob die Autoren abweichende Konzepte vertraten. Denn es ist anzunehmen, dass in anderen Einrichtungen ebenfalls den institutionellen, personellen und zeitgeschichtlichen Bedingungen vor Ort entsprechende Ausgestaltungen vorgenommen wurden.176 Bereits Bonhoeffer wies auf gebräuchliche Unterschiede bei der Abgrenzung der Schizophrenie-Diagnose hin: „Selbst die berufenen Fachvertreter sind sich über das, was noch Schizophrenie genannt werden soll, keineswegs einig. Der Rahmen wird hier enger, dort weiter gesteckt.“177 Daher plädieren wir im Sinne der Mikrohistorie für mehr 172 Zu den Bedeutungen von „Leidenschaften, Affekten, Gefühlen, Empfindungen“ (Frevert 2011, 266) und deren semantischen Verschiebungen in der Moderne finden sich Bezüge in den Beiträgen des Sammelbandes „Gefühlswissen“. „Gefühle sind im Hochkapitalismus zu einer zentralen Ressource individuellen Wohlbefindens und sozialer Kompetenz geworden, um deren Ausrichtung, Balance und Kontrolle sich ein ganzes Heer von Experten und Ratgebern kümmert“ (ebenda, 265). 173 Röske 2003, 12. 174 Prinzhorn 1922, 55. 175 Knoch 2005, 261. 176 Differenzen im Verständnis psychiatrisch-diagnostischer Begriffe (Diagnosen und Symptome) sind bekannt und beschäftigen die Psychiatrie seit Langem. Einen Überblick über entsprechende Unterschiede im internationalen Vergleich und deren historische Herleitung findet sich bei Kendell 1978, 71–86. Auch für die kritische Psychiatrie ist die mangelnde Übereinstimmung der Diagnosen Anlass für Zweifel an deren Zuverlässigkeit. Aus historischer Perspektive geht Klaus Dörner (1975, 140–149) dieser Frage nach. Dennoch fehlt es an Feinanalysen und Vergleichen lokalspezifischer Modifikationen diagnostischer Kategorien, weil entsprechende Differenzen in der Regel nur anhand veröffentlichter Lehrmeinungen wirkungsmächtiger Protagonisten diskursiv untersucht werden. Die Auswertung von Krankenakten als Dokumente des psychiatrischen Alltags bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Genese lokaler Ausgestaltungen nachzuzeichnen sowie Unterschiede zwischen medizinischem Diskurs und lokalen Praktiken aufzuzeigen. Vgl. dazu Quinkert/Rauh/Winkler 2010, 9–28. 177 Bonhoeffer 1941a, 74.

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detaillierte Analysen, um allgemeine Aussagen über die Plastizität und die Anpassungsprozesse von Krankheitskonzepten treffen zu können. Der Gewinn des neuen Begriffs für die Charité-Psychiatrie lag darin, dass die Fokussierung auf die Affektstörung als differentialdiagnostisches Schlüsselsymptom die Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen der Krankheiten, die der Schizophrenie zugeordnet wurden, auf einen gemeinsamen Nenner brachte. Angesichts der Tatsache, dass in der Psychiatrie „eine wirklich sichere Diagnose nicht allzu häufig gestellt wird“,178 war das neue Konzept ein diagnostisches Instrument, das eine Unterscheidung der Unterdiagnosen mit ihren variablen Krankheitszeichen weniger wichtig machte. Zur Erlangung dieser Sicherheit dienten, mehr noch als die Veröffentlichungen in den verschiedensten gedruckten Foren, die klinischen Demonstrationen und andere, teils informelle Zusammenkünfte. Im Rahmen dieser Präsentationsformate erfolgte die Festlegung und Einübung der charakteristischen Symptome sowie deren differentialdiagnostische Abgrenzung zu anderen Krankheiten, sodass sie für Mitarbeiter wie Studenten reproduzierbar wurden. Ihre Verschriftungen belegen zunächst den Vorgang der Wissensimplementierung und -kanonisierung.179 Die Bedeutung der klinischen Demonstrationen für die Lehre ist hinlänglich bekannt. Dass sie auch für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung eine wichtige Methode waren, belegen die in diesem Beitrag vorgestellten Beispiele; sie dokumentieren detailliert die Suchbewegungen und Aushandlungsprozesse dessen, was man an der Charité unter ‚schizophrenen‘ Symptomen und der ‚Schizophrenie‘-Diagnose verstand, und repräsentieren in ihrer konkreten Praxis einen epistemischen Schwellenraum. Einführungsprozesse neuer Denkstile sind nach Fleck häufig mit inhaltlichen Verschiebungen und Veränderungen des ursprünglichen Entwurfs verbunden, die er als Anpassungen an das lokale Denkkollektiv versteht.180 Dies ist auch bei der Übernahme des SchizophrenieKonzepts in der Charité-Psychiatrie zu beobachten, wo in einer mehrjährigen Beschäftigung andere Akzente in der Symptomatik wie auch beim diagnostischen Vorgehen als in der Burghölzli-Klinik gesetzt wurden. Insofern kann man beim Charité-Konzept von einem lokalen Schizophrenie-Verständnis sprechen. Während die Beschäftigung mit dem Schizophrenie-Konzept an der Charité bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, fand dessen lokale Schärfung und Einübung maßgeb178 Borchardt 1913, 135. 179 Jens Lachmund verweist darauf, dass die Stabilisierungsprozesse wissenschaftlicher Erkenntnisse kaum zum Abschluss gebracht werden können. Gerade wenn man von „der lokalen Erzeugtheit von Wirklichkeit“ ausgehe, bleibe die „Realitätskonstruktion eine permanent zu bewältigende Teilnehmerleistung. Es ist daher allein die kontinuierliche Reproduktionsarbeit der Teilnehmer lokaler Praktiken, durch die die Geschlossenheit von Interpretationsspielräumen bzw. die ‚Schwärze‘ der ‚blackbox‘ erzeugt und immer wieder von neuem bestätigt wird“ (Lachmund 1997, 20–21). 180 Fleck 1936, 92–96.

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lich an Rekruten und Kriegsteilnehmern statt. Kennzeichnend für die erfolgreiche Etablierung der Schizophrenie-Diagnose ist die retrospektive Anwendung des Begriffs auf zurückliegende Fälle, die nunmehr neu zugeordnet wurden.181 Zusätzlich versah man individuelle Krankengeschichten nachträglich mit dem neuen Label. In einem 1926 entstandenen Gutachten über einen Patienten, der bereits 1916 in der Charité gewesen war, wurden schließlich sogar Symptomatiken der Schizophrenie-Diagnose zugeordnet, die aus seiner Krankengeschichte während eines Lazarettaufenthaltes und der „Provinzial-Irrenanstalt zu Schleswig“ in den 1890er-Jahren hervorgingen.182 Mit der zunehmenden Sicherheit der Symptom- und Krankheitserkennung folgte ab 1920 eine vermehrte Diagnostizierung der Schizophrenie, die um 1925 zur meistvergebenen Kategorie an der Charité aufstieg. Interessanterweise vergab man die drei Unterdiagnosen, Hebephrenie, Katatonie und paranoide Demenz, auch dann noch, als die Schizophrenie bereits eingeführt war und einen beträchtlichen Teil der Diagnosen ausmachte. Lediglich deren Häufigkeit sank. An Bonhoeffers klinisch-diagnostischen Ansatz erinnernd, resümierte Ludwig Binswanger in einem Nachruf: Es wäre nur zu begrüßen, wenn die hier vorgenommene Scheidung zwischen reinen Wunschpsychosen und, wenn ich so sagen darf, Psychosen auf Grund starker Affekte, mehr berücksichtigt würde; denn in einer nicht-hysterischen ‚Psychogenie‘ ist nicht nur das ganze Problem der heutigen Psychosomatik bereits aufgerollt, sondern auch an besonders krassen Spezialfällen klinisch demonstriert.183

181 In der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie erschien 1919 eine Arbeit von Max Grünthal. Es ist die erste Publikation aus Bonhoeffers Klinik, die den Begriff ‚Schizophrenie‘ im Titel nennt. Der Autor gibt dort für die Jahre 1909–1919 die Zahl Schizophrener mit insgesamt 1203 Fällen an. Es findet sich in der Arbeit aber kein Hinweis, welche der ursprünglich vergebenen Diagnosen er in seine Zählung einbezog. In der Legende einer aus den Fallzahlen entwickelten Grafik (Grünthal 1919, 209) ist zu lesen, dass es sich dabei um „Dementia praecox-Kranke“ handele, eine Diagnose, die, wie erwähnt, aber unter Bonhoeffer nicht vergeben wurde, nicht einmal während des Direktorats von Theodor Ziehen. Es zeigte sich, dass Grünthal die gewöhnlich zur Dementia praecox gerechneten Unterdiagnosen Hebephrenie, Katatonie und paranoide Demenz im Diagnosebuch zählte und unter dem neuen Oberbegriff subsumierte. Dasselbe Verfahren wurde bereits vorher unter Bleuler an Burghölzli-Patienten angewandt. 1908 teilt er bei seiner Erstpräsentation des Schizophreniekonzepts mit, dass zwei Doktorandinnen Krankenakten von Dementia-praecox-Patientinnen der Klinik aus den Jahren 1898–1905 ausgewertet hatten, die Bleuler als Schizophrenien ausgibt (Bleuler 1908, 437). 182 HPAC, M 360/1916. 183 Binswanger 1951, 192–193.

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Armin Schäfer

Franz Biberkopfs Wahnsinn

1. Das sensomotorische Schema Alfred Döblin erfindet für seinen Roman „Berlin Alexanderplatz“ einen doppelten Schluss, in dem sich die „Geschichte vom Franz Biberkopf“ verzweigt.1 Der ehemalige „Zement- und Transportarbeiter“ (BA 11)2, Häftling und Zuhälter Biberkopf gelangt nach „etwas, das von außen kommt, das unberechenbar ist und wie ein Schicksal aussieht“ (ebd.), als Patient in das Feste Haus3 der Irrenanstalt Berlin-Buch. Während ihm in der einen Geschichte ein „katatoner Stupor“ (BA 437) diagnostiziert wird, der zu seinem Tode führt, kann er in der anderen Geschichte, in der sich der Stupor schließlich löst und ihm ein „psychisches Trauma“ (BA 445) diagnostiziert wird, die Anstalt wieder verlassen. Diese Bifurkation verknüpft die Fiktionsbildung mit einer Problematisierung des zeitgenössischen medizinischen bzw. psychia­ trischen Wissens: Einerseits bricht die Erzählung, die ihre alternativen Fortsetzungen ausstellt, mit der Illusion, dass die „Geschichte vom Franz Biberkopf“ die Nachahmung einer einzigen und feststehenden Realität des Krankheitsgeschehens ist. Andererseits erscheint die diegetische Welt selbst als ein kontingentes Geschehen, in dem mehrere mögliche Welten eingeschlossen sind. Insofern wirft die Bifurkation nicht allein die Frage nach Triftigkeit und Irrtum einer Diagnose auf, sondern verweist ebenso auf den hypothetischen Charakter der Krankheit: Sie kann diesen oder jenen Namen tragen, so oder anders verlaufen, tödlich enden oder auch nicht. Die Erkrankung erscheint in einer frei fluktuierenden Zeit, in der Phänomene und Symptome auf der Suche nach ihren Gründen und Ursachen sind und die Entscheidung über Leben und Tod ausgesetzt ist. Biberkopfs Symptome stellen das Rätsel, welche Krankheit überhaupt vorliegt und fordern die Künste der Ärzte heraus, die keine Einigkeit über Ätiologie und therapeutische Maßnahmen erzielen können und den letalen Ausgang bzw. die Genesung hinnehmen müssen.

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„Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ erschien 1929 im Verlag S. Fischer. Der Untertitel wurde laut Döblin auf Wunsch des Verlegers hinzugefügt. Vgl. Sander 2004, 143. Im Folgenden wird mit der Sigle BA und arabischer Seitenzahl zitiert nach der Ausgabe Döblin 2001. Zur Geschichte des Festen Hauses in Berlin-Buch, das als Verwahrungsort für „gemeingefährliche Geisteskranke“ diente, siehe Vanja 2003.

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Die Bifurkation des Schlusses präsentiert jedoch nicht einfach zwei alternative Verläufe eines Krankheitsgeschehens, sondern spannt ein Feld auf, in dem katatoner Stupor und psychisches Trauma zwei Pole markieren. Der Roman spielt nämlich nicht die Diagnose des psychischen Traumas gegen die des katatonen Stupors und die Genesung gegen den letalen Ausgang aus, sondern entwirft mit der Disjunktion seines Geschehens eine Perspektive, in der die Krankheit als ein Schwellenphänomen erscheint: Sei es, dass sie im Zustand einer Art von Krisis präsentiert wird, in der über ihren Ausgang noch nicht entschieden ist; sei es, dass sie mit einer unklaren Ätiologie versehen und die Symptome auf ihre Vieldeutigkeit zurückgeworfen wird; sei es, dass sie sich als unbestimmter Nexus zwischen dem körperlichen Phänomen der Erstarrung und dem psychischen Erleben präsentiert; oder sei es, dass die Krankheit dem Verdacht ihrer Simulation ausgesetzt wird. Döblin verzollt das Krankheitsgeschehen, das er erzählt, mit einer Unsicherheit, die jeden einfach geschnittenen Dualismus von Wirklichkeit und Repräsentation aufkündigt und auch die Geschäftsgrundlage der Psychiatrie ins Wanken bringt. Es gibt für die Psychiatrie auf der einen Seite die verschiedenen Beschreibungen der Krankheit und auf der anderen Seite die Krankheit selbst. Unter dieser Voraussetzung versteht die Psychiatrie ihre Beschreibungen im Wesentlichen als eine Folge von Aussagen, Prädikationen und Referenzakten, und sie sieht ihre Texte in erster Linie als Darstellungen, Schilderungen oder Beschreibungen der Wirklichkeit, nicht aber als Fiktionen an. Auch wenn die Psychiatrie in ihren Texten erzählt, bildet sie dennoch keine Fiktionen aus, sondern nutzt Elemente und Verfahren des Erzählens für eine Organisation von Texten, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollen. Die Psychia­trie zielt mit den rhetorischen Techniken und literarischen Verfahren, die sie in ihren Darstellungen gebraucht, auf Widerspiegelung, Abbildung oder Referentialität und die Sicherung eines prägnanten Gegenstandsbezugs: Aus der Perspektive des klinischen Psychiaters scheint die Sprache ein Medium zu sein, das allenfalls eine Repräsentation eintrüben, nicht aber die angemessene Darstellung vereiteln kann. Mit solch einem strikten Dualismus von Wirklichkeit und Repräsentation sind jedoch weder die spezifische Fiktionsbildung des Romans noch Biberkopfs Wahnsinn zu erfassen. Die diegetische Welt des Romans ist nicht als Widerspiegelung, Abbildung oder Darstellung einer außerliterarischen Wirklichkeit zu begreifen.4 Der Roman ist nicht wie ein Spiegel, den man an der Straße entlangführt, sondern er markiert und stellt aus, dass er sowohl seinen Bezug auf Berlin als auch auf den Wahnsinn mit sprachlichen und literarischen Mitteln konstruiert. Welche Eigentümlichkeit die Fiktionsbildung des Romans kennzeichnet, verdeutlicht nicht zuletzt die Stellung des Erzählers. Wo der Erzähler im Roman sich hervordrängt, präsentiert er die „Geschichte vom Franz Biberkopf“ als eine bündige und nacherzählbare 4

Vgl. Jähner 1984; Scherpe 1988.

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Fabel. Und je mehr diese Geschichte auf eine nacherzählbare Fabel komprimiert wird, desto schärfer treten die referentiellen Bezüge auf eine außerliterarische Wirklichkeit hervor. Umgekehrt verstummt die markante Stimme des Erzählers, wenn sich der Handlungsfaden der moritatenhaften Geschichte vom Franz Biberkopf in den unübersichtlichen Textflächen der Montagen verliert.5 Der Roman ist mithin durch eine Spannung zwischen erzählter Stadt und personaler Geschichte vom Franz Biberkopf gekennzeichnet, die keineswegs in den Gegensatz von Montage und Fabel auseinander zu legen oder gar zugunsten der Fabel aufzulösen ist. Die Figur wird – von einer Grenzüberschreitung nach der Entlassung aus dem Tegeler Gefängnis über ihre Wahrnehmung des großstädtischen Verkehrs bis zu ihrer Territorialisierung der Gegend um den Alexanderplatz – allererst in der Auseinandersetzung mit der Stadt zu einer Subjektivität ausgeformt: Die erzählte Stadt besitzt gegenüber der Geschichte vom Franz Biberkopf ein gewisses Primat.6 Biberkopfs Gänge durch die Stadt sind das Scharnier, das seine Subjektivierung unmittelbar mit der Wahrnehmung der Stadt verbindet. Zumeist erfolgen diese Gänge ohne Absicht oder Ziel und lassen den Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung selbst thematisch werden. Hierbei agiert die Figur in einem sensomotorischen Schema, das schließlich in der Anstalt Berlin-Buch zusammenbrechen wird. Der Begriff des sensomotorischen Schemas, wie ihn Henri Bergson eingeführt und Gilles Deleuze ausgearbeitet hat, bezeichnet einen habituellen Zusammenhang von Wahrnehmung, Bewegung und Subjektivität: Wahrnehmungen finden ihre Fortsetzung in Bewegungen und Bewegungen in Wahrnehmungen – und durch diesen Zirkel konstituiert sich die Subjektivität als ‚gesunde‘, weil geschlossene Einheit.7 Was in der Lebenswelt als sensomotorisches Schema den Zusammenhang von Wahrnehmung, Bewegung und Handeln stiftet, ist in der Erzählliteratur zu einem Schema geworden, das den Effekt eines psychologischen Realismus hervorbringt: Die Figur durchläuft eine Abfolge von Situationen, die sie wahrnimmt, auf die sie reagiert und die sie durch Reden und Handlungen klärt, sodass von ihr insgesamt eine Entwicklung durchlaufen und eine Subjektivität ausgebildet wird. Im Kern beruht das sensomotorische Schema in der Erzählliteratur auf einem Konzept von Darstellung als Repräsentation, die umso besser funktioniert, je mehr die diegetische Welt mit der alltäglichen Welt übereinstimmt und je weniger die Erzählweise die realistische Illusion bricht. Es verdankt seine Plausibilität einer Auffassung, die Fiktion als Schein von Wirklichkeit begreift, und einem Vorverständnis von Wirklichkeit, dem das In-der-Welt-Sein des Subjekts zugrunde liegt.8

5 6 7 8

Jähner 1984, 35. Vgl. Jähner 1984; Leidinger 2010, 16–99. Vgl. Bergson 1991; Deleuze 1991a/b. Zur Fiktion als Schein von Wirklichkeit siehe Hamburger 1987, 57–60; zum In-der-Welt-Sein siehe Heidegger 1984, 52–62; Merleau-Ponty 1966.

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In Döblins Roman hat diese Verknotung von realistischem Erzählen, Subjektivität und sensomotorischem Schema von Anfang an seine Selbstverständlichkeit verloren. Wenn der Roman mit der Entlassung Biberkopfs aus dem Gefängnis und dem elementaren Erzählakt einer Grenzüberschreitung beginnt,9 so resultiert aus dieser initialen Versetzung der Figur über eine physische und semantische Grenze ein Auseinandertreten von Wahrnehmung und Bewegung, das sich im Warten, Zögern und im Handlungsaufschub manifestiert: „Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt. Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß. Dann nahm er einen Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los.“ (BA 15) Die Figur betritt Berlin wie in einer künstlichen, zweiten Geburt und versucht ihre Wahrnehmungen mit ihren Bewegungen zu koordinieren: „Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. »Zwölf Uhr Mittagszeitung«, »B.Z.«, »Die neuste Illustrirte«, »Die Funkstunde neu«, »Noch jemand zugestiegen?« Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen.“ (BA 15) Wenn Biberkopf eine sich selbsttätig bewegende Welt wahrnimmt, auf die er keinen Einfluss nehmen kann, kommt es zu Störungen seines sensomotorischen Schemas, die ihre Fortsetzung in der Verwechslung von Wahrnehmungen und Vorstellungen finden. Die Wahrnehmungen gehen in Halluzinationen über, in denen sich die Objekte selbsttätig zu bewegen scheinen: „Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Wertheim vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sophienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkel ist, wird es besser sein. […] Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen 9

Zur Grenzüberschreitung siehe Lotman 1993, 332.

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irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade.“ (BA 16f.) Die Grenze zwischen Wahrnehmungen und frei flottierenden Objekten, die ins Bewusstsein eindringen, beginnt zu verwischen: „Er bemerkte zufrieden, daß alle Menschen ruhig die Straße entlangzogen, die Kutscher luden ab, die Behörden kümmerten sich um die Häuser, es braust ein Ruf wie Donnerhall, alsdann können auch wir hier gehen. Eine Plakatsäule an der Ecke, auf gelbem Papier stand mit schwarzen lateinischen Buchstaben: »Hast du gelebt am schönen Rhein«, »Der König der Mittelstürmer«. Fünf Mann standen in einer kleinen Runde auf dem Asphalt, schwangen Hämmer, zerspalteten den Asphalt, den in der grünen Wolljacke kennen wir, bestimmt, der hat Arbeit, das können wir auch machen, später mal, man hält mit der rechten Hand, zieht hoch, greift zu, dann runter, hau.“ (BA 131f.) Wie es im Grunde keine scharfe Unterscheidung mehr zwischen Wahrnehmungen und den Beschreibungen der Stadt gibt, so gewinnen in den Beschreibungen der Stadt die Objekte und Orte einen aktiven Status: „Der Rosenthaler Platz unterhält sich“ (BA 51) oder die Dampframme am Alexanderplatz sagt „ich schlage alles“ (BA 167). Döblins Erzählverfahren, das man als Bewusstseinsstrom bezeichnet und auf dessen Eigenständigkeit gegenüber James Joyce Döblin zu Recht bestanden hat,10 geht über die Präsentation eines Bewusstseins hinaus, insofern es nicht die Stadt in einem Bewusstsein spiegelt, sondern Biberkopfs Bewusstsein und die Stadtbeschreibungen füreinander durchlässig sind: Die Stadt ist nicht der ‚Inhalt‘ von Biberkopfs Bewusstsein und die Wahrnehmungen Biberkopfs beschreiben nicht die Stadt, sondern es entsteht eine eigentümliche, allmählich dissoziierende Subjektivität Biberkopfs, durch welche die Stadt hindurchströmt. Die Stadt ist also nicht einer Subjektivität Biberkopfs äußerlich, von der aus sie dann wahrgenommen und angeeignet würde. Der Roman schürzt hierzu den Knoten von Erzählen, Subjektivität und sensomotorischem Schema auf neue Weise. Auch wenn das Erzählen, das eine Figur hinstellt, zwangsläufig einen Subjektivitätseffekt hervorbringt, ist dieser Subjektivitätseffekt den sprachlichen Anordnungen nicht vorgängig. Die ältere Erzähltheorie ging noch davon aus, dass „die epische Fiktion der einzige erkenntnistheoretische Ort [ist], wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann“.11 Allerdings ist dieser Subjektivitätseffekt, den das Erzählen produziert, eben keine Wiedergabe oder Darstellung einer vorsprachlich gegebenen Subjektivität, sondern er stellt sich zwangsläufig durch den bloßen Gebrauch der ersten (oder dritten) Person Singular ein.12 Wie dieser Effekt aber ausgeformt wird, hängt von zusätzlichen Faktoren ab. Das Erzählen kann beispielsweise auf eine Repräsentation zielen und eine realistische Illusion produ10 Füger 2000; Jäger 2009. 11 Hamburger 1987, 79f.; Genette 1998, 137 u.ö. 12 Vgl. Cohn 1978.

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zieren. Oder aber es kann markieren und ausstellen, dass es den Subjektivitätseffekt ausformt und insgesamt die Repräsentationslogik stört. Deshalb hat in Erzähltexten das sensomotorische Schema auch eine zentrale Stellung inne, da es einer Subjektivität den Anschein einer gewissen Kohärenz und Normalität verleiht.

2. Das Ritornell In Biberkopf steigt, sobald sein sensomotorisches Schema gestört wird, ein Affekt auf. Er büßt sein Vermögen ein, eine Handlung zu setzen, wenn sein sensomotorisches Schema gestört wird. Dieser Zusammenhang wird zeitgenössisch wie folgt erklärt: In den höheren Lebenswesen übernehmen die „sensorischen Nerven“ ausschließlich „die Funktion, die Reize nach einer zentralen Region zu leiten“, die sie wiederum in die motorische Nerven umlenken.13 Während also der Organismus selbst sich durch seine Mobilität auszeichnet, sind die sensorischen Organe durch ihre Ausrichtung auf die Rezeption zu einer gewissen Bewegungslosigkeit verurteilt. Wenn nun die Umwandlung des Reizes in eine Reaktion, der Wahrnehmung in eine Bewegung misslingt und es zu einem Zögern oder einer Verzögerung, zu einer Stauung oder Retardation der Reaktion kommt, bildet sich ein Affekt. Es besteht in einem rezeptiven Organ – dem Auge, der Haut, dem Ohr – eine Reizung, die sich nicht motorisch entladen kann und im Organismus umgelenkt wird. Die motorische Strebung findet in einem vergleichsweise unbeweglichen Element ihren Ausdruck. Die reizende Bewegung wird also nicht einfach durchgestellt, sondern sie erfährt im Körper eine Veränderung oder Mutation. Insofern ist der Affekt durch eine grundsätzliche Disproportion und Maßstabsverzerrung gekennzeichnet: Es gibt im Affekt gerade keine leicht erklärbare Gesetzmäßigkeit mehr, die den Zusammenhang von Reiz und Wirkung, von Eindruck und Ausdruck zu erklären vermag. Die Ausdrucksbewegung selbst ist von den sonstigen Bewegungen oder Verlagerungen des Körpers im Raum unterschieden: Sie ist ziel- und richtungslos, nicht mehr raumzeitlich koordiniert und führt wesentlich zur Unterbrechung der Handlung. Die blockierte motorische Strebung geht mit einer gesteigerten Rezeptiviät einher, welche die Sinne denaturiert: Es tauchen optische und akustische Situationen auf, in denen es zu Wahrnehmungen kommt, die von ihrer Fortsetzung in einer Aktion abgetrennt sind. Das raum-zeitliche Gefüge, in dem Biberkopf agiert, verliert seine Kohärenz und Partikel, Fetzen, Bruchstücke, die keineswegs beliebige Phantasien sind, sondern aus früheren Wahrnehmungen und Erlebnissen stammen, fließen mit der gegenwärtigen Wahrnehmung zusammen. 13 Das menschliche Gehirn, erklärt Bergson, sei mit einer „Telephonzentrale“ vergleichbar, die dem „peripherische[n] Reiz“ nichts hinzufügt, sondern ihm lediglich den „Anschluß an diesen oder jenen motorischen Mechanismus“ ermöglicht (Bergson 1991, 14).

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Wenn Biberkopf in der Stadt Angst bekommt, beruhigt er sich, indem er singt. Das Singen hüllt ihn ein und lässt ihn gehen, marschieren oder erlaubt ihm, irgendwo ruhig zu stehen. Wie das funktionierende sensomotorische Schema mit psychischen Zuständen korreliert ist, wird nicht zuletzt an jenen Passagen des Romans deutlich, in denen Biberkopf durch gleichmäßige Bewegungen oder durch einen Gesang eine Konsolidierung seines Zustands herbeizuführen vermag: „Franz ging rascher, stampfte um die Ecke. So, freie Luft. Er ging an den großen Schaufenstern ruhiger. […] Mit Genugtuung wanderte Biberkopf weiter. Er war nur ab und zu genötigt, auf das Trottoir zu blicken. Er prüfte seine Schritte und das schöne, feste, sichere Pflaster. Aber dann glitten seine Blicke im Ruck die Häuserfronten hoch, prüften die Häuserfronten, versicherten sich, daß sie stillstanden und sich nicht regten, trotzdem eigentlich so ein Haus viele Fenster hat und sich leicht vornüber beugen kann. Das kann auf die Dächer übergehen, die Dächer mit sich ziehen; sie können schwanken. Zu schwanken können sie anfangen, zu schaukeln, zu schütteln. Rutschen können die Dächer, wie Sand schräg herunter, wie ein Hut vom Kopf. Sind ja alle, ja alle schräg aufgestellt über den Dachstuhl, die ganze Reihe lang. Aber sie sind angenagelt, starke Balken drunter und dann die Dachpappe, Teer. Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein. Guten Morgen, Herr Biberkopf, wir gehen hier aufrecht, Brust heraus, Rücken steif, alter Junge, die Brunnenstraße lang.“ (BA 130f.) Die Lieder sind wie ein Kokon, der Biberkopf umhüllt und schützt, aber auch seine Wahrnehmungen filtert. Woher Biberkopf die Lieder kennt und wann er sie gelernt hat, bleibt offen, doch ist unschwer zu übersehen, dass die meisten Verse einem militärischen und deutsch-nationalen Zusammenhang entstammen: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ (BA 18, 19, 92, 225 u.ö.), „Ich hatte einen Kameraden“ (BA 91, 425), „Die Wacht am Rhein“ (BA 61, 92, 131), „Die Preußen sind lustig“ (BA 43). An die Stelle des Lieds kann auch ein Abzählvers treten oder ein Schlager („Einmal hin, einmal her, ringsherum, es ist nicht schwer“ (BA 49, 70) oder eine rhythmische Art des Gehens oder Marschierens: „Nichts gesehn auf der Straße, aber hingefunden. Ein bisschen Gesichtszucken, ein bisschen Fingerzucken, da gehen wir hin, rummer die bummer di kieker di nell, rummer di bummer di kieker die nell, rummer di bummer.“ (BA 37) Auch wenn die Herkunft der Verse keineswegs gleichgültig ist, erschließt deren Semantik noch nicht ihre Funktionen: Sie ziehen um Biberkopf einen unsichtbaren Kreis, geben eine räumliche Orientierung und definieren ein Territorium, indem sie Gewohnheiten aufrufen, Routinen des Erlebens bereitstellen und eine Haltung verleihen. Dadurch statten sie das Subjekt mit einem Aktionspotential aus: Es kann einen Schritt über sein angestammtes Territorium hinausgehen oder aber flüchten. Solche Verse können mit einem Begriff, den Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt haben, als Ritornell bezeichnet werden: Das Ritornell ist eine wiederkehrende klangliche Form, die für ein Subjekt räumliche Gefüge organisiert.14 14

Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 424–430.

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Wenn Biberkopf ein Ritornell singt, wird in ihm ein sensomotorisches Schema aufgerufen, das die Hemmungen, Irritationen, Störungen und Ängste, die ihn heimsuchen, zurückdrängt. Es beruhigt, weil es ältere Routinen des Erlebens und Handelns aufruft. Wenn es erfolgreich seine territorialisierende und Haltung verleihende Funktionen ausübt, ist er in der Lage, sich in der Stadt zu bewegen und komplexe Situationen zu bewältigen. Insofern war das Gefängnis durch seine stets wiederkehrenden und strikt zeitlich gegliederten Abläufe ein Ort, der eine dem Ritornell äquivalente Funktion ausübte: „Es ist ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, man weiß, wie der Tag anfängt und wie er weiter geht.“ (BA 19) Umgekehrt verpufft die Funktion des Ritornells, wenn die Bewegungen des Subjekts anderweitig blockiert werden. Das Ritornell schlägt dann in aggressives Brüllen um: „Und er brüllt weiter in einem Grausen, was tut sich da auf, er wehrt es ab, er tritt es runter, es muß gebrüllt werden, niederbrüllen. Das Lokal dröhnt, Henschke [der Wirt, A.S.] steht vor ihm am Tisch, wagt sich nicht ran an ihn, so steht der da, so brüllt das dem aus dem Hals, durcheinander und schäumt: ‚Da habt ihr gar nichts zu sagen zu mir, da kann keiner kommen und mir was sagen, nicht ein einziger, das wissen wir alle besser, dafür sind wir nicht draußen gewesen und haben im Graben gelegen, daß ihr hetzt, ihr Hetzer, Ruhe muß sein, Ruhe sag ich […].‘ Eine Tobsucht, Starre ist Franz Biberkopf. Es kräht blind aus seiner Kehle heraus, sein Blick ist gläsern, sein Gesicht blau, gedunsen, er spuckt, seine Hände glühen, der Mann ist nicht bei sich. […] Achtung, Gefahr in Verzug, Straße frei, Laden, Feuer, Feuer, Feuer. Dabei hört der Mann, der dasteht und brüllt, hört sich selbst, von weitem, sieht sich an.“ (BA 94f.) Sobald das Ritornell seine Funktion nicht mehr ausüben kann und die Routinen nicht mehr greifen, wird mittels physiologischer Vorgänge („sein Blick ist gläsern, sein Gesicht blau, gedunsen, er spuckt seine Hände glühen“) ein Potential aktiviert, dass sowohl die Handlungsbereitschaft erhöht als auch Handlungsmöglichkeiten blockiert: „Und es irrt durch ihn: es wird bald losgehen, ich werde etwas tun, eine Kehle fassen, nein, nein, ich werde bald umkippen, hinschlagen“. (BA 95) Biberkopf gerät dann in einen physiologischen Zustand, der die Merkmale eines Wahnsinns trägt. Wenn das Schema kollabiert, gehen Wahrnehmungen in Halluzinationen über und die Bewegungen setzen aus, wie etwa in der Szene, in der Biberkopf mit dem Betrug seines Kompagnons Lüders konfrontiert wird: „Biberkopf hat sich aufgesetzt, sein Gesicht ist manchmal ganz hart, manchmal zittern kleene Bündelchen in seinem Gesicht. Er zeigt nach der Tür und sagt leise: ‚Raus!‘ […] Da steht Biberkopf ganz auf, im Augenblick rutscht Lüders an die Tür, hat die Hand an der Klinke. Biberkopf aber geht schräg nach hinten an den Waschständer, nimmt die Waschschüssel und – wat sagste – gießt das Wasser in einem Schwung durch die Stube vor Lüders’ Füße. Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden. Lüders reißt die Augen auf, weicht zur Seite, drückt auf die Klinke. Biberkopf nimmt die Waschkanne, es war noch mehr Wasser drin, wir haben noch viel, wir machen reinen Tisch, von Erde bist du genommen. […] Nachher

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warf Biberkopf noch Ladung auf Ladung in die Kammer. Er spritzte mit der Hand durch die Luft: Muß alles sauber werden, muß alles weg; jetzt noch das Fenster auf und pusten; wir haben damit nichts zu tun. (Kein Häusereinstürzen, kein Dächerrutschen, das liegt hinter uns, Ein Für Allemal Hinter Uns.) Er stierte, wie es kalt am Fenster wurde, auf den Boden. […] Schloß das Fenster, legte sich wagerecht auf das Bett (Tot. Von Erde bist du gekommen (!), zu Erde sollst du wieder werden.) Mit den Händchen klapp, klapp, klapp, mit den Füßchen trapp, trapp, trapp. Am Abend wohnte Biberkopf nicht mehr in der Kammer.“ (BA 118f.) In der Konfliktsituation wird zunächst das typische Angstsymptom des Zitterns ausgelöst, das in die Aggressivität eines Angriffs („Ladung auf Ladung“) übergeht. Dann setzt eine Hemmung und Erstarrung ein („Er stierte“), die zu einer Art von Lähmung führt („legte sich wagerecht aufs Bett“, „Tot“), die schließlich mittels eines Ritornells („Mit den Händchen klapp, klapp, klapp, mit den Füßchen trapp, trapp, trapp“) wieder gelöst wird. Das sensomotorische Schema, das durch das Ritornell in Biberkopf aufgerufen wird, ist im Militär und Krieg geformt worden. Er berichtet über den Verlust seines Arms: Reinhold „hat mir unter das Auto geschmissen. Nu könnt ihrs ja wissen, der ist es gewesen, aber schadt nichts, ich bin ihm nicht böse darum. Der Mensch muß wat lernen, wenn er nichts lernt, weiß er nichts. Dann läuft man wie ein Hornochse rum und von der Welt weiß man nichts. Ick bin ihn nicht böse, nee nee.“ (BA 385) Seine Programmierung, so Biberkopf, habe die Freundschaft, die Rivalität und den Konflikt mit Reinhold geprägt: „Darum, ei warum, ei darum. Trommelgerassel, Bataillon marsch, marsch. Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, ei warum, ei darum, ei bloß wegen dem Tschingderada bumderada bum. So bin ich bei ihm einmarschiert, und so hat er geantwortet, und es war verflucht und war falsch, daß ich marschierte. Es war falsch, daß ich marschierte, falsch, falsch. Aber das macht nichts aus, das macht jetzt nichts mehr aus.“ (ebd.) Während das Marschieren die Grundform seines Schemas bildet, sind Erstarrung oder plötzliche Aktion dessen Grenzwerte. Entweder verfällt Biberkopf in eine totengleiche Starre, wenn er mit Situationen konfrontiert wird, in denen seine Routinen des Wahrnehmens und Handelns nicht greifen. Oder aber er versucht durch einen aggressiven Vorstoß die Situation zu klären. Wenn das Ritornell ein sensomotorisches Schema aufruft, ist das Subjekt angriffsbereit und die Angst setzt aus: „Die beginnende Schlacht. Wir fahren in die Hölle mit Pauken und Trompeten“ (BA 396). Die Metapher der Kobraschlange (Vgl. BA 130, 237 u.ö.), die für die Aggressivität Biberkopfs einsteht, projiziert sein Verhalten auf das Register eines Reiz-Reaktions-Mechanismus, in dem Reize nur mehr stereotype Reaktionen auslösen. Das sensomotorische Schema läuft in einem Automatismus der Reaktionen ab, der auch durch die Einsicht des Subjekts, dass eine Programmierung seines Verhaltens besteht, nicht zu neutralisieren oder zu löschen ist; das Ritornell setzt das Schema, das es aufruft, auch gegen Hemmnisse in Gang und sichert dessen Selbstlauf. Allerdings ist das sensomotorische Sche-

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ma, das das Ritornell aufruft, nicht an die moderne Großstadt adaptiert und verhindert ein angemessenes Verhalten im Alltag, da es weder auf komplexe soziale Situationen adäquat zu antworten vermag noch auf die Denaturierung der Wahrnehmung durch technische Medien und den modernen Verkehr eingestellt ist. Die Auflösung des sensomotorischen Schemas bestimmt auch die Symptomatik des erstarrten Patienten Biberkopf: „Die Herren Ärzte ziehen sich im Ordinationszimmer weiße Mäntel an, es sind der Herr Oberarzt, Assistenzarzt, Volontärarzt, Medizinalpraktikant, und sie sagen alle: es ist ein Stuporzustand.“ (BA 425) Die Diagnose ist insofern bemerkenswert, weil „katatonischer Stupor“ keine nosologische Einheit, sondern einen Symptomkomplex bezeichnet. Im 19. Jahrhundert hatte Karl Ludwig Kahlbaum die Katatonie zunächst als eine abgegrenzte klinische Einheit beschrieben.15 Jedoch wurde die Selbständigkeit der Katatonie bestritten und in ihr ein Symptomkomplex erkannt, der gerade keine spezifische Krankheit darstelle, sondern mit unterschiedlichen Erkrankungen einhergehe, wie etwa der Dementia praeceox, der progressiven Paralyse, der Demenz, Hysterie oder dem manisch-depressiven Irresein und sofern die Differentialdiagnose erheblich erschwert.16 In der Beschreibung der Erkrankung vermischen sich also medizinische, psychiatrische, nosologische und semiotische Aspekte und werfen grundlegende Fragen auf: Ist die Lähmung schon die Krankheit oder ist sie nur das Anzeichen einer Krankheit, die sich in der Lähmung ausdrückt? Welches Konzept von Krankheit ist für eine Beschreibung des Phänomens überhaupt geeignet? Welche Ätiologie besitzt die Erkrankung und welche Therapie ist für sie angezeigt? Wie solche Grundfragen anzeigen, kann Biberkopfs Stupor als ein Schwellenphänomen verstanden werden: kein bloß unbekannter Sachverhalt, dessen Ursache zu klären wäre, sondern ein Phänomen, dass je unter dem Zugriff der Psychiatrie in seiner Beschaffenheit und seinem Wesen variiert und abweicht; kein nur rätselhaftes Geschehen, dessen Wahrheit nur noch nicht erkannt wurde, sondern ein Phänomen von einer inneren Unbestimmtheit; kein schwieriger Fall, der das psychiatrische Wissen herausfordert, sondern ein Phänomen, das im Grenzgebiet psychiatrischer Erkenntnisse liegt.

3. Katatoner Stupor und psychisches Trauma Im 19. Jahrhundert entdeckt die Psychiatrie, dass es Alienationen bzw. Geisteskrankheiten gibt, die zwar leicht zu diagnostizieren, aber schwer zu definieren sind: In der französischen und deutschen Debatte über die Formenkreise der Monomanie und der Paranoia wird her15 16

Kahlbaum 1874. Zur Debatte über die „Katatoniefrage“ (vgl. Aschenburg 1898) siehe Feldmann 2005, 26–61; Shorter 2006.

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ausgestellt, dass diese Krankheiten mit keiner größeren Beeinträchtigung des intellektuellen Vermögens, der Wahrnehmung und des Gedächtnisses einhergehen. Vielmehr geben die Erkrankten eine Beschreibung der Wirklichkeit, die in sich logisch, kohärent und plausibel ist, aber dennoch als verrückt, unzutreffend und unverständlich gilt. Die Psychiater stellten fest, dass die Kranken einen Wahn ausbilden, der mit dem kulturellen Referenzsystem nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Auch wenn der Wahn auf einer pragmatischen Grundlage leicht zu diagnostizieren war, war es seiner formalen Schlüssigkeit wegen außerordentlich schwierig, aus ihm ein wissenschaftlich verwertbares diagnostisches Kriterium abzuleiten.17 Die Psychiatrie begann immer mehr von den Wahninhalten zu abstrahieren und beschrieb nur mehr eine allgemeine Semantik des Wahns: Es war gleichgültig, ob sich ein Patient für Napoleon oder den Kaiser von China hält, ausschlaggebend war lediglich, dass ein Größenwahn vorlag. Die Forschung zielte sowohl auf eine Untersuchung der organischen als auch der psychischen Prozesse, die den Wahn hervorbringen, nicht aber auf seine Inhalte. Schließlich begann die Psychiatrie die Logik im Wahn zu untersuchen und stieß auf zahlreiche Beeinträchtigungen der psychischen Prozesse, welche die Beschaffenheit des Wahns erklären sollen: Sie entdeckte zum Beispiel Störungen der Assoziationstätigkeit, einen regellosen oder privatsprachlichen Symbolgebrauch oder Verwechslungen von Vorstellungen mit Wahrnehmungen. Die Psychiatrie schattete also die Wahninhalte ab und erforschte neben den organischen Ursachen insbesondere die formalen Prozesse, die den Wahn kennzeichnen. Auch wenn Patienten einen Wahn ausgebildet hatten, waren die Wahninhalte nicht mehr ausschlaggebend für die Diagnose. Diese Unzugänglichkeit eines Wahns ist die konsequente Zuspitzung einer Entwicklung in der Psychiatrie, die sich seit dem 19. Jahrhundert immer mehr vom Wahn abkehrte und ihre Aufmerksamkeit auf eine Beschreibung anderer Symptome lenkte, die besseren Aufschluss über psychische Störungen versprachen. Biberkopfs Lähmung führt auf zwei Diagnosen und verweist auf eine Vielzahl möglicher Ursachen. Obwohl der Stupor den Ärzten keinen Zugang zu Biberkopfs psychischem Zustand erlaubt, setzen sie voraus, dass sie auf der Grundlage von Äußerungen des Patienten die ‚richtige‘ Diagnose stellen können: „Die jüngeren Herren haben mit Franz Biberkopf ein Locarno im Auge. Von diesen jüngeren Herren, den beiden Volontären und dem Medizinalpraktikanten, kommt nach der Visite vormittags und nachmittags je einer in den kleinen vergitterten Wachsaal zu Franz und versucht, nach besten Kräften mit ihm eine Unterhaltung in die Wege zu setzen. Sie schlagen zum Beispiel die Ignorierungsmethode ein: sie reden ihm so zu, als wenn er alles hört, und das ist auch richtig, und als wenn man ihn verlocken könnte, so aus seiner Isolierung herauszukommen und die Sperre zu durchbrechen. Als das nicht recht geht, setzt ein Volontär es durch, daß man von der Anstalt herüber einen Elektrisierap17 Vgl. Bleuler 1916, 129.

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parat bringt, und daß man Franz Biberkopf faradisiert, und zwar am Oberkörper, und zuletzt den faradischen Strom besonders an die Kiefergegend ansetzt, an den Hals und den Mundboden. Die Partie müßte nun besonders erregt und gereizt werden.“ (BA 425) Wenn der Roman über das Hindernis, dass den Psychiatern entgegentritt, scheinbar hinweggeht, indem er den Wahn Biberkopfs mit literarischen Mitteln präsentiert, spielt er dennoch weniger die spezifische Möglichkeit der Literatur, die das Bewusstsein einer dritten Person fingieren kann, gegen eine Psychiatrie aus, die keinen Zugang zu Biberkopfs Bewusstsein findet. Vielmehr gibt er eine Beschreibung des Wahns, die gerade nicht auf die Darstellung eines Bewusstseinsinhalts oder eines inneren Monologs beschränkt ist. Zwar sind innerer Monolog und Bewusstseinsstrom zentrale Elemente für die Darstellung des Wahns, aber der innere Zustand Biberkopfs ist als eine ganze diegetische Welt gegeben: Die Stimme des Erzählers überlagert sich mit der Stimme Biberkopfs und präsentiert den Wahn in einer Mischung von mittelbarer Darstellung und zitierter Rede. Döblin prägt mit literarischen Mitteln dem Wahn eine Struktur auf, die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist: Der Roman bildet weder ein biografisches Narrativ aus noch spielen Begriffe wie Persönlichkeit, Anlage und Entwicklung, welche die psychiatrische Diagnostik regieren, eine Rolle.18 Wer Biberkopf vor seiner Entlassung aus der Haftanstalt war, welcher Familie er entstammt und welche Vorgeschichte sein Wahnsinn besitzt, taucht im Roman nirgends auf, sodass die Figur, von keinem biografischen Narrativ beschwert, ein untaugliches Objekt für eine psychiatrische Anamnese wäre: Es gibt keinen Lebenslauf des Patienten, in dessen Chronologie von Daten eine Entwicklung hineingetragen würde, die ihr Telos in der Erkrankung fände. Stattdessen wird mit erzählerischen Mitteln ein Spektrum von Symptomen präsentiert, das von Halluzinationen über inadäquate Affekte bis zum autistischen Rückzug reicht. Döblin setzt hierfür ein Erzählverfahren ein, das eine Mitsicht mit der Figur erzeugt: Indem es zwischen der Innenperspektive der Figur und der Außenperspektive auf die Figur oszilliert, teilt es Biberkopf in zwei Hälften oder Teile auf (vgl. BA 15). Er erlebt eine Welt, die an ihm vorbeifließt, obwohl er in sie eingebunden ist. Biberkopf rückt in die Position eines Zuschauers, der zwar selbst keine Handlung setzt, aber auch nicht kategorial vom Geschehen abgetrennt ist: Das Erzählen wird theatral 19 und erzeugt strukturell die Urszene eines passiven, in seiner Motorik blockierten Zuschauers, der einem Geschehen ausgeliefert ist, auf das er mit Zuständen wie Angst, Schrecken, Panik oder Lähmung reagiert. Diese Urszene wird im Roman immer wieder aktualisiert: „Und er kam nicht weg vom Fleck, er war an die Stelle gebannt; seit Reinhold ihn geschlagen hatte, war das, da war er angenagelt. Er wollte, er mochte, aber es ging nicht, es ließ ihn nicht los. Die Welt ist von Eisen, 18 19

Vgl. Schneider 1923; Ziehen 1917; Matz 2000. Zu diesem Begriff siehe Huber 2003.

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man kann nichts machen, sie kommt wie eine Walze an, auf einen zu, da ist nichts zu machen, da kommt sie, da läuft sie, da sitzen sie mittendrin, das ist ein Tank, Teufel mit Hörnern und glühenden Augen drinn, sie zerfleischen einen, sie sitzen da, mit ihren Ketten und Zähnen zerfleischen sie einen. Und das läuft, und da kann keiner ausweichen.“ (BA 210) In dieser Urszene laufen elementare Reiz-Reaktions-Mechanismen ab, welche die Fluchtreflexe blockieren. Sie ist nicht zuletzt mit der Situation eines Tiers vergleichbar, dem seine Schlachtung bevorsteht: Das Tier steht still, „als wäre es einverstanden“ (BA 141), seine „Beinchen“ sind „ganz ganz starr, steif, gestreckt “ (BA 147) oder aber es „zuckt, strampelt, schlägt“ (BA 140) und „quieckt“ (ebd.). Schließlich liefert diese Urszene auch das Modell eines erzählten Wahnsinns. Was im Erzählverfahren als eine Urszene angelegt ist, wird im Rückgriff auf ein literarisches Modell zum Wahnsinn ausgeformt, das Shakespeares King Lear entnommen ist: „Die Anstalt Buch liegt ein Stück hinter dem Dorf, das feste Haus liegt außerhalb der Häuser der andern, die nur krank sind und nichts verbrochen haben. Das feste Haus liegt im freien Gelände, auf dem offenen ganz flachen Land, der Wind, der Regen, der Schnee, die Kälte, der Tag und die Nacht können das Haus umdrängen mit aller Kraft und aller Macht. Keine Straßen halten die Elemente auf […]. Wumm wumm, der Wind macht seine Brust weit, er zieht den Atem ein, dann haucht er aus wie ein Faß, jeder Atem schwer wie ein Berg, der Berg kommt an, kracht, rollt, er gegen das Haus: rollt der Baß. Wumm wumm, die Bäume schwingen, können nicht Takt halten […].“ (BA 419f.) Shakespeare löst die Schwierigkeit, dass auf der Bühne – anders als im Erzählen – ein nur mittelbarer Zugang zu Lears wahnsinnigem Zustand möglich ist, durch eine spezifische Verknüpfung von madness und Sturm. Lear kann an seinen Töchtern keine Rache verüben, gerät hierüber in Raserei und verfällt im Sturm auf der Heide in Wahnsinn. Sein Wahn entspringt einem Affekt, der kein Objekt findet, an dem er sich ausagieren kann, sodass der Affekt, von Lear weiter angefacht, ins Maßlose zu wachsen beginnt. Das Stück setzt mit der wechselseitigen Metaphorisierung von innerer Raserei und äußerem Chaos eine exzessive Bedeutungsproduktion in Gang: Sei es, dass der Sturm Auslöser und zugleich Metapher des Wahnsinns ist; sei es, dass madness und Sturm in Figuren der Steigerung, Selbstverstärkung und Vernichtung, die keinen Haltepunkt mehr besitzen, konvergieren; sei es, dass madness und Sturm über eine negative Korrelation verknüpft werden, in der die in Lear aufsteigende madness ihn gegen den Sturm unempfindlich werden lässt, diese Unempfindlichkeit aber den Sturm erst richtig anzufachen scheint; oder sei es, dass diese Verknüpfung von madness und Sturm mit einer fortgesetzten und ausdrücklichen Reflexion ihres Zusammenhangs einhergeht. Döblin überführt dieses theatrale Modell des Wahnsinns in eine Erzählung, in der Biberkopf zu einem Zuschauer wird, der wie in einem „Theater“ (BA 428) die aufgeführten Szenen betrachtet. Der Modus, in dem Subjekt und Welt gekoppelt sind, ist nicht die Repräsentation der Welt im Subjekt, sondern die Reso-

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nanz20: Jedes äußere Geschehen wirkt auf das Innere ein, wie auch jedes innere Geschehen sich auf die Wahrnehmung des Außen auswirkt. Es ist nicht anzugeben, ob die elliptischen Sätze einen Sachverhalt, die Wahrnehmung eines Sachverhalts oder eine innere Rede anzeigen. Im Sturm, der den Wahnsinn bringt, und im Wahnsinn, der den Sturm herbeiruft, wird das Subjekt, das nur mehr über eine Sensorik verfügt, in ein Ensemble von fluktuierenden Empfindungen aufgelöst, die mit einer Desorganisation räumlicher Gliederung einhergeht. An die Stelle von Reizen, auf die Biberkopf reflektorisch reagiert, tritt eine Empfindung von Resonanzen: Das Subjekt steht nicht einem lokalisierbaren Reiz gegenüber, sondern wird von unkontrollierbaren Reizen angefallen, die ihn ergreifen und besetzen. Der Raum büßt seine Gliederung in Ferne und Nähe, in Innenraum und Außenräume ein und das Subjekt tritt in einen Prozess des Tier-Werdens („Franz ist eine Feldmaus (...). Was in ihm Tier war, läuft auf dem Felde.“ (BA 429)) und des Pflanze-Werdens ein: „Jetzt schleicht etwas aus ihm fort und tastet und sucht und macht sich frei, was er sonst nur selten und dämmernd in sich gefühlt hat. Das schwimmt um die Mauselöcher weg, sucht um die Gräser, tastet in den Boden, wo die Pflanzen ihre Wurzeln und Keime verborgen halten. (...) Franzens Seele gibt ihre Pflanzenkeime zurück.“ (ebd.) Solche Prozesse wurden in der zeitgenössischen Psychologie und Psychiatrie als begleitende Symptome des katatonen Stupors angesehen: „Der Stupor, das motorische Erstarren mit oder ohne sensible Unempfindlichkeit gehört zum festen Bestandteil der katatonischen und hysterischen Bilder. [...] Endlich ist bei ihnen, wie wir das auf den niedrigeren phylogenetischen Stufen überhaupt gesehen haben, Willensausdruck und Affektausdruck noch undifferenziert“.21 Die Psychiater, die den Wahn, der mit der Katatonie einhergeht, zu beschreiben versuchen, gehen davon aus, dass er keine beliebige, sondern spezifische Inhalte produziere, welche die lebensgefährliche Bedrohung, die eine Katatonie für den Patienten darstellt, zum Ausdruck bringen. Der Patient erlebe die tödliche Gefahr in Bildern des Tods und der Apokalypse: „Nicht selten wird der innere Kampf ins Kosmische projiziert, die ganze Welt ist im Aufruhr, Gott und Teufel, Gutes und Böses, letzte Weltprinzipien ringen miteinander, sie kämpfen draußen und drinnen im Kranken, denn Außen und Innen hat aufgehört klar gesondert zu sein.“22 Zwar beschreibt die zeitgenössische psychiatrische Diskussion ein Ensemble von Motiven und Themen, das auch in Biberkopfs Wahn auftaucht. Der Roman verleiht dem Wahninhalt jedoch eine spezifische Struktur und Semantik. So wird das Tier-Werden und Pflanze-Werden des Subjekts durch eine Appellation gestoppt: Während die Sturmgewaltigen das Subjekt auflösen, sammelt die allegorische Figur des Todes, die in ihrem Gefolge auftritt, mit Hilfe eines Ritornells die verstreuten Elemente des Subjekts wie20 Zum Begriff der Resonanz bei Döblin vgl. Schöne 1963; Bühler 2004, 223f. 21 Kretschmer 1922, 101f; Berrios 1966, 391. 22 Storch 1926, 766.

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der ein. So „singt“ der Tod „sein langsames, langsames Lied“ (429) wie auch Biberkopf „langsam“ und „getragen“ das Lied „Ich hatt einen Kameraden“ (BA 91) singt, das ein häufiger Bestandteil des militärischen Begräbnisrituals war.23 Der Tod als Figur ist keine Allegorie einer anthropologischen oder biologischen Tatsache, sondern Allegorie des Kriegs und das Ritornell sein Hilfsmittel für die Programmierung einer Subjektivität. Der Modus, in dem das Ritornell seinen größten Effekt erzielt, ist ein langsames Tempo: „Franz Biberkopf hört den Tod“ (BA 430) und rekomponiert sich hörend zu einem Subjekt, das wieder einen kompakten Körper gewinnt, Befehle ausführt und lageorientiert ist: „‚Komm nähere dich mir‘“, befiehlt der Tod, „‚damit du mich siehst, Franz sieh, wie du unten in einem Abgrund liegst, ich will dir eine Leiter zeigen, da findest du einen neuen Blick. Du wirst jetzt zu mir herübersteigen, ich halt sie dir hin, du hast zwar nur einen einzigen Arm, aber greif fest zu, deine Beine treten fest, greif zu, tritt auf komm heran.‘“ (BA 431) Die Appellation stellt ein Subjekt her, das blickt, orientiert ist, Befehle ausführt und sich auf ein Ziel hin bewegt, an dem ihn ein Beil erwartet, auf das Biberkopf, obwohl es durch die Luft „blitzt“, dennoch weiter zukriecht: „Es schreit Franz, kriecht an und schreit. Er schreit die ganze Nacht. Ist in Marsch gekommen Franz. Er schreit in den Tag hinein. Er schreit in den Vormittag hinein. Schwing fall hack. Schreit in den Mittag hinein. Schreit in den Nachmittag hinein. Schwing fall hack. Schwing, hack, hack, schwing, schwing, hack, hack, hack. Schwing, hack. Schreit in den Abend, in den Abend. Die Nacht kommt. Schreit in die Nacht. Franz in die Nacht. Sein Körper schiebt sich weiter vor. Es werden auf den Block geschlagen von seinem Körper Stück um Stück. Sein Körper schiebt sich automatisch vor, muß sich vorschieben, er kann nicht anders. Das Beil wirbelt in der Luft. Es blitzt und fällt.“ (BA 432) Während Biberkopf im Krieg zusammen mit zwei Kameraden an der Westfront nahe Arras noch desertierte („Ich bin aus dem Graben getürmt und mit und dann noch Öse“ (BA 86)), setzt nunmehr der Selbsterhaltungstrieb aus. Das Rätsel, das die Wahnsinnszene ausstellt, ist der Mechanismus eines Gehorsams, in dem die Fluchtreflexe erloschen sind zugunsten einer 23 Otto/König 1999. Zur Verbreitung des Lieds siehe auch Assel/Jäger 2010.

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Arretierung des Körpers, der zwar schreit, aber nicht mehr wegläuft, und erträgt, was ihm widerfährt. Der Tod, der Biberkopf vorwirft, dass er ihn „für einen Schallplattenapparat hält, fürn Grammophon, das man andreht, wenns einem Spaß macht, dann hab ich zu rufen, und wann du genug hast, stellst du mich ab“ (BA 433), fordert, dass das Subjekt über die Haltung des bloßen Erduldens hinausgelangt. An die Stelle einer äußerlichen Konditionierung (das „Grammophon, das man andreht“) soll eine Ich-lose Subjektivität treten: „‚Nur geklönt‘“, sagt der Tod: „‚Ich‘ und ‚ich‘ und ‚das Unrecht, das ich erleide‘ und wie edel bin ich, wie fein, und man lässt mich nicht zeigen, was für einer ich bin.“ (BA 434) Biberkopf hat, mit anderen Worten, keine volle soldatische Subjektivität ausgebildet oder seine soldatische Subjektivität infrage gestellt: „Sag Schande. Schrei Schande!“ / „Ick weeß ja nich.“ / „Den Krieg haste jetzt verloren, Jungeken. Mein Sohn, mit dir is aus. Kannst einpacken. Laß dir einmotten. Bei mir biste abgemeldet.“ (ebd.) Biberkopf ist in einen Zirkel von soldatischer Konditionierung und habitueller Unfähigkeit zur Wahrnehmung eingeschlossen, aus dem ihn allenfalls die Ausübung von Gewalt oder „Wahnideen“ (ebd.) ausbrechen lassen. In der Bifurkation des Romanschlusses wird die Diagnose „katatoner Stupor“ schließlich durch die Diagnose „psychisches Trauma“ substituiert: „Die Diagnose Katatonie tritt in den Hintergrund. Es war ein psychisches Trauma, anschließend eine Art Dämmerzustand, der Mann ist familiär nicht sauber, daß er mit dem Alkohol auf Duzfuß steht, sieht man ihm an. Schließlich ist der ganze Diagnosenstreit schnurz, simuliert hat der Kerl bestimmt nicht, er hat einen Klaps gehabt, der nicht von schlechten Eltern war, das ist die Hauptsache.“ (BA 445) Biberkopf hat in seiner Biografie die ‚klassischen‘ Situationen einer Traumatisierung durchlaufen: Krieg, Haft, Unfall.24 Dem Arzt und Psychiater Döblin waren die Traumakonzepte selbstverständlich vertraut: „Im Krieg sind viele erkrankt nach Erschütterungen, Granatexplosionen, Bombenabwürfen. In ihren Träumen trat immer diese Situation vor sie. Warum? Es sind keine Mörder. Die Leute sucht im Traum immer wieder dieselbe Situation heim, die sie überrascht hat. Das ist die Gegenreaktion ihrer Seele. Sie ist erkrankt, weil sie sich damals nicht wehren konnte. […] Jetzt zaubert sie sich im Traum die Situation vor, geht sie von neuem an, und allmählich erstarkt sie daran. Der Schock heilt aus, das Gleichgewicht zwischen innerer Kraft und äußerem Stoß wird wieder hergestellt.“25 Dennoch ist der Roman als eine Thematisierung von Traumakonzepten nicht zu begreifen: Die „Geschichte vom Franz Biberkopf“ rekapituliert eine Geschichte psychiatrischer Traumakonzepte, die sich an der Diskussion von Unfall, Haft und Krieg entzündeten und seit dem

24 Die Symptome des psychischen Traumas können Motilitätsstörungen umfassen; siehe Oppenheim 1892, 6 u. 89–91. Zu Biberkopf als Kriegsneurotiker siehe Honold 2003; Schäffner 1995. 25 Döblin 1986, 148f.

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Krieg auch in die Diskussion über Prädisposition und Heredität verstrickt war.26 Während der historische Gang der psychiatrischen Konzeptbildung von der traumatischen Neurose über die Haftpsychosen zu den Kriegsneurosen verläuft, ist in Biberkopfs Krankengeschichte diese historische Abfolge umgekehrt. Haft und Unfall setzen die Traumatisierung durch den Krieg fort und wie auch das Kriegstrauma die Vulnerabilität für künftige Traumata erhöht. Das psychische Trauma ist „nicht das Zeichen der vergangenen Wunde“, sondern „der gegenwärtigen Tatsache, eine Wunde gehabt zu haben“.27 Seine Zeitlogik ist nicht die einer zurücklaufenden Chronologie, sondern einer Kontraktion der Zeiten, die in der Gegenwart die Dimension der Vergangenheit freisetzt. In der Gegenwart taucht eine virtuelle Vergangenheit auf: Biberkopf interpretiert den Verlust seines Arms in eine Kriegsverletzung um und identifiziert sich mit der Rolle des Soldaten: „Für besondere Feierlichkeiten ein eisernes Kreuz links, das trägt er als Legitimation für seinen Arm“ (BA 254). Einerseits kehren in alltäglichen Szenen, in denen sich Biberkopfs sensomotorisches Schema auflöst, vergangene Ereignisse wieder, die Biberkopf wie einen gefechtsbereiten Soldaten agieren lassen. Andererseits kommt es im Wahn selbst zu einer Kontraktion der Zeiten: Das Erzählen treibt in den Wahnsinnsszenen die erzählte Zeit von der chronologischen Zeitordnung weg und erzeugt eine von der Aktionsart des Verbs geprägte Zeitordnung. Zwar gebraucht Döblin das Präsens: „Der Tod hat sein langsames, langsames Lied begonnen, jedes Wort wiederholt er; wenn er einen Vers gesungen hat, wiederholt er den ersten und fängt noch einmal an.“ (BA 429) In der semantischen Markierung des Singens als ein sich wiederholendes Geschehen verfließen jedoch die Aktionsarten: Das Präsens bezeichnet nicht mehr einen punktuellen Gesang, sondern die unbestimmte Dauer eines Singens. Die Tempusmarkierung im Präsens zeigt mit dem Jetzt der Gegenwart zugleich an, dass sich die Gegenwart weitet; die Semantik der Langsamkeit und Wiederholung lässt das Jetzt der Gegenwart mit seinem Vorher und Nachher verfließen: „Er singt, wie eine Säge zieht. Ganz langsam fährt sie an, dann fährt sie tief ins Fleisch, kreischt lauter, heller und höher, dann ist sie mit einem Ton zu Ende und ruht. Dann zieht sie langsam, langsam wieder zurück und knirscht, und höher und fester wird ihr Ton und kreischt, und ins Fleisch fährt sie hinein.“ (BA 429)

4. Die epistemologische Schwelle Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bestand für die moderne Psychiatrie das Problem, wie sie Symptome ordnen und klinische Einheiten definieren sollte: Die Psychiatrie holte die 26 Zur Geschichte der Tramakonzepte siehe Kloocke/Schmiedebach/Priebe 2005 u. 2010; zur Debatte um die Kriegsneurose in Berlin siehe Holdorff 2008. 27 Deleuze 1992, 109.

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Verwissenschaftlichung der somatischen Medizin nach und fasste die Beziehung zwischen Krankheit und Symptom als eine kausale auf. Die prägnanteste Formulierung fand diese Auffassung in Wilhelm Griesingers Lehrsatz, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien.28 Allerdings war in zahlreichen Fällen unklar, wie der Nexus zwischen dem Gehirn und der Krankheit beschaffen war. Der Nachweis der Ursache oblag der pathologischen Anatomie: Sie sollte nachträglich an der sezierten Leiche aufzeigen, welche Veränderungen im Gehirn des Erkrankten stattgefunden hatten. Welche herausgehobene Stellung der pathologische Befund in der psychiatrischen und neurologischen Forschung innehatte, dokumentieren nicht zuletzt zahlreiche klinische Publikationen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Man konnte über einen Fall nur dann berichten, wenn ein Sektionsbericht vorlag. Ohne abschließenden Sektionsbericht schien der Bericht über einen Krankheitsfall wertlos. „Wenn die einzige Ueberzeugung“, schreibt Emil Kraepelin, „welche heute wohl von allen Irrenärzten rückhaltlos geteilt wird, richtig ist, wenn wirklich alle Psychosen an krankhafte Prozesse in der Hirnsubstanz gebunden sind, dann dürfen wir den Nachweis pathologischer Spuren daselbst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einer besser gerüsteten näheren oder ferneren Zukunft erwarten.“29 Allerdings führte die Konzeption des Krankheitsprozesses als ein kausales Geschehen zu zahlreichen Schwierigkeiten. Die Psychiatrie vermochte die Glieder einer Kausalkette nicht in gleicher Weise zu verfolgen, wie es das kausale Modell der Allgemeinmedizin vorsah. Die Pathologie konnte die erwarteten empirischen Befunde nicht liefern. Man erkannte, dass der Nexus von körperlichen Ursachen und psychischen Wirkungen eine zu einfach geschnittene Lösung der kausalen Krankheitskonzeption war und die eigentlichen Probleme der Psychiatrie dort begannen, wo die kausale Krankheitskonzeption nicht mehr greift und aussetzt. Die Hypothese der biologischen Ursache übernahm eine regulative Funktion für Klinik und Forschung: Weil pathologische Anatomie und Physiologie eine Klärung der Ursachen der meisten psychischen Krankheiten schuldig blieben, stellte sich die Psychiatrie auf die klinische Forschung um. Einerseits postulierte sie, dass die Ursachen der meisten Geistesstörungen im Gehirn zu finden seien. Andererseits fand sich die Psychiatrie auf eine bloße Beobachtung der Symptome zurückgeworfen. Deshalb begann Kraepelin „ausser den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die psychischen Erscheinungen gesondert zu erforschen. Wir erhalten auf die Weise zwei Reihen innig mit einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus den gesetzmässigen Beziehungen beider zu einander geht das klinische Krankheitsbild hervor.“30 Die Psychiatrie konnte einzig an den vieldeutigen Symptomen ansetzen. Die Di28 29 30

Siehe hierzu Wahrig-Schmidt 1985, 125–128. Vgl. Kraepelin 2003, 59f. Kraepelin 1896, 6f.

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agnosestellung wurde auch dadurch erschwert, dass nicht nur kein Schluss von den Krankheiten auf ihre Ursachen, sondern auch kein unmittelbarer Schluss von den Symptomen auf Krankheitseinheiten möglich war. Diese erkenntnistheoretische Lage kehrt im Fall Biberkopf in einer gewissen Verkomplizierung wieder, die aus der Einführung psychodynamischer Krankheitsmodelle resultiert. Während die älteren Psychiater der Hypothese anhängen, dass der Stupor eine organische Ursache besitze, verfolgen die jüngeren Ärzte die Hypothese, dass es sich um einen psychogenen Zustand handle: „Die jüngeren Herren haben eine besondere Auffassung von diesem Zustand: sie sind geneigt, das Leiden von Franz Biberkopf für psychogen zu halten, also seine Starre nimmt von der Seele ihren Ausgang, es ist ein krankhafter Zustand von Hemmung und Gebundenheit, den eine Analyse schon klären würde, vielleicht als Rückgang auf älteste Seelenstufen, wenn – das große Wenn, das sehr bedauerliche Wenn, schade, dies Wenn stört erheblich – wenn Franz Biberkopf sprechen würde und sich mit ihnen am Versammlungstisch niederlassen würde, um gemeinsam mit ihnen den Konflikt zu liquidieren. […] »Also was soll man tun in diesem Fall Biberkopf, was meinen Herr Oberarzt?« »Die richtige Diagnose stellen. Die heißt hier, nach meiner freilich längst überlebten Diagnostik, katatoner Stupor. Übrigens, falls sich nicht sogar ein ganz grober organischer Befund dahinter versteckt, etwas im Gehirn, eine Geschwulst, etwas im Mittelhirn, Sie wissen, was wir bei der sogenannten Kopfgrippe gelernt haben, wenigstens wir Älteren. Vielleicht erleben wir noch ne Sensation im Sektionssaal, war nicht zum erstenmal.«“ (BA 422–427) Biberkopfs Zustand stellt die psychoanalytisch orientierten jüngeren Ärzte auf eine Geduldsprobe.31 Auch wenn die Psychoanalyse eine elaborierte Theorie der Katatonie aufgestellt hat,32 besteht kaum eine Möglichkeit ihrer therapeutischen Anwendung. Otto Fenichel bilanziert 1931 die Chancen einer Therapie noch wie folgt: „Daß man mit dem Stupor nichts anderes anfangen kann als in unendlicher Geduld durch liebevolles Benehmen einen wenn auch noch so flüchtigen Kontakt zu suchen, und daß alle Bemühungen umsonst sind, wenn dieser Kontakt nicht gefunden wird, ist selbstverständlich. Aber nicht alle Fälle sind Stuporen. Aber immerhin versteht man, welch ungeheure Schwierigkeiten einem solchen Unternehmen im Gegensatz zur Analyse von Neurotikern entgegenstehen.“33 Was ältere und jüngere Psychiater ungeachtet ihrer gegensätzlichen Auffassungen über die vermutete Ätiologie der Krankheit eint, ist der Versuch den Kranken zu adressieren. Entweder soll, noch vor jeder Befragung, der Körper zu Reaktionen provoziert werden, die dann auch auf der Ebene der Körpers deutbar sind, eine Differentialdiagnose erlauben und einen Täuschungsversuch entlarven würden. Oder der Patient soll durch elektrische Reizungen angeregt, 31 32 33

Zu Döblins Verhältnis zur Psychoanalyse siehe Anz 1997; Füchtner 2004 und 2000. Siehe Nunberg 1920. Fenichel 1931, 102.

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zum Sprechen gebracht und einer Befragung zugänglich gemacht werden.34 Die Mediziner und Psychiater ziehen aus derselben epistemologischen Lage zwei gegensätzliche Schlussfolgerungen. Die älteren Ärzte werfen ihren Anker im Begriff des Körpers. Man kann nämlich aus dem Gewebe der Welt und dem unendlichen Geflecht der Kausalität eine beobachtbare Einheit herausschneiden: Der (menschliche) Körper ist ein privilegierter Schauplatz der Kausalität, da er eine natürliche Einheit bildet, die dem Denken einen Anhaltspunkt bietet.35 Jede Wirkung, die in einem Körper statthat, besitzt eine Ursache und eine Quasi-Ursache. Was in einem Körper geschieht, verweist auf eine Ursache im Körper und auf eine weitere Ursache, die sich über den Körper ins Gewebe der Welt verstreut. Hierbei kommt der Ursache im Körper jedoch gegenüber der Quasi-Ursache ein Primat zu, weil sie eine einfache Ableitung der Wirkung erlaubt und keinen Rückgriff auf eine doppelte Ableitung erfordert, wie sie im Begriff der Quasi-Ursache impliziert ist. Der Begriff der körperlichen Ursache kapselt also eine Unschärfe ein, insofern er einen Bereich von klaren und distinkten Ursachen gegenüber den Quasi-Ursachen abgrenzt: Man kann deren Nexus beschreiben, ohne das gesamte Geflecht der Kausalität nachzuzeichnen. Wenn den Symptomen aber keine körperliche Ursache verliehen werden kann, sind sie nicht nur eine Herausforderung medizinischer Erkenntnis, sondern sie unterstehen auch dem Verdacht, dass sie willentlich oder unbewusst simuliert seien. Der Stupor wird von den älteren Ärzten auf einer Schwelle situiert, in der Epistemologie und Moralität ineinander übergehen und die psychische Krankheit zugleich auf eine moralische Verfehlung verweist: Das Gebiet der psychischen Krankheiten besitzt für sie entweder organische Ursachen, die in einer Differentialdiagnose geklärt werden können, oder die Krankheit ist die Spielart eines Wahnsinns, der beliebige Ursachen besitzen kann, die mit allgemeinen Dispositionen, anderweitigen Läsionen und Vulnerabilitäten zusammenfließen. 34 „»Sehen Sie, Elektrizität ist schon gut, schon besser wie das Gequatsche. Aber nehmen Sie einen schwachen Strom, so nützt der nichts. […]« »Wissen Sie übrigens, worauf ich nu meine Diagnose eisern stützen werde? Sehen Sie, jetzt hab ichs. Der hätte doch längst zugegriffen, Menschenskind, wenn es bei dem die sogenannte Seele wäre. Wenn so ein ausgekochter Zuchthäusler sieht, da kommen so junge Herren an, die natürlich nen Dreck von mir wissen – verzeihen Sie, wir sind ja unter uns – , die wollen mir gesund beten, für so einen Jungen sind Sie ein gefundenes Fressen. Das kann er brauchen. Und was er dann tut, schon längst getan hätte? Sehen Sie, Kollege, hätte der Junge Verstand und Berechnung – Quatsch, seelische Momente. Dann würde er eben andere seelische Momente haben. Dann hört er auf mit der Sperre und der Hemmung. Die schenkt er Ihnen beiden als Weihnachtsgeschenk. In einer Woche steht er auf mit Ihrer Hilfe, Gott, was sind Sie für ein großer Gesundbeter, gepriesen die neue Therapie, Sie schicken ein Huldigungstelegramm an Freud nach Wien, die Woche drauf geht der Junge mit Ihrer Unterstützung aufm Korridor spazieren, Wunder, Wunder, halleluja; noch ne Woche, dann kennt er sich aufm Hof aus, und noch ne Woche, ist er mit Ihrer wohlwollenden Hilfe hinter Ihrem Rücken halleluja heidi und davon.«“ (BA 427f.) 35 Zum Kausalitätsbegriff in der Psychiatrie siehe Kronfeld 1920, 142–179.

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Die jüngeren Ärzte hingegen situieren den Stupor auf einer epistemologischen Schwelle, die in das Gewebe der Welt ausfranst: Man sucht nach zureichenden Gründen und nimmt eine Heterogenität von Ursachen und Wirkungen in den Blick. Hierbei wird die epistemologische Schwelle um den Preis abgesenkt, dass sie unkenntlich zu werden droht und die Kategorie eines Nexus von Ursachen und Wirkungen selbst fragwürdig wird. Während diese Auffassung vor der Schwierigkeit steht, überhaupt einen Zugang zum Erleben des Patienten zu finden, spielt für jene das Erleben des Patienten keine Rolle. Mit den zwei Generationen der Ärzte stehen also zwei gegensätzliche Auffassungen einander gegenüber. Während die ältere, biologisch orientierte Auffassung eine binäre Aufteilung der Krankheiten vornimmt und Fälle, denen sie keine organischen Ursachen zuschreiben kann, einem Gebiet zuschlägt, das man als den ‚eigentlichen‘ Wahnsinn bezeichnen könnte, transformiert die Auffassung der jüngeren Ärzte, die auch psychische Ursachen in Betracht zieht, das medizinische Wissen und bringt eine Disziplin hervor, die ihr ‚eigentliches‘ Objekt in psychischen und physischen Störungen besitzt, deren Ätiologien noch zu finden sind. Die Behandlung, die Biberkopf in Berlin-Buch erfährt, demonstriert nicht allein eine Debatte über die Ätiologie, eine Erprobung therapeutischer Maßnahmen und die Konkurrenz medizinisch-psychiatrischer Schulen, sondern wirft ebenso die Frage auf, was der Stupor überhaupt ist. Weil man nicht weiß, worin seine Ursache liegt und ob sie in der Seele oder im Körper zu finden sei, bedarf es der methodischen Fiktion einer möglichen Ursache, die dem Geschehen die Wirklichkeit einer Krankheit verleihen. Aber weil der Stupor den Patienten verstummen lässt und die Ärzte vom Zugang zum inneren Erleben Biberkopfs abschneidet, fällt die Wirklichkeit der Krankheit gänzlich mit ihren Beschreibungen zusammen. Die Psychiatrie besitzt in dem Wahn ein phänomenotechnisches Objekt36, das mit seiner Darstellung verschmilzt: Der Wahn ist der Psychiatrie nicht als eine vorhandene ‚Wirklichkeit‘ gegeben, sondern existiert einzig als ein sprachlich (und durch Körperzeichen) konstituiertes Phänomen, insofern der Zugang zum Wahn nur über die Sprache (und die Körperzeichen) erfolgen kann. Döblins Kunstgriff einer Bifurkation der Geschichte stellt nicht nur die Vorläufigkeit medizinischen und psychiatrischen Wissens aus, sondern die innere Unbestimmtheit des Phänomens katatoner Stupor wird zum Spieleinsatz der Fiktionsbildung: Das Krankheitsgeschehen kann so oder so verlaufen, diese oder jene Ursache besitzen und ist unter den wechselnden Beschreibungen jeweils etwas anderes. Der Roman gibt nicht zwei mögliche Darstellungen oder Verläufe ein- und desselben Krankheitsgeschehens, sondern stößt zu einer Kontingenz der Krankheit selbst vor, die eine noch unbestimmte Mannigfaltigkeit ist. Der Roman situiert den Wahnsinn auf einer anderen epistemologischen Schwelle als die Psychiatrie: Der Wahn 36 Zum Begriff der Phänomenotechnik, der von Gaston Bachelard stammt, siehe Rheinberger 2006.

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wird einzig in seinen Beschreibungen zu einem Gegenstand der Erkenntnis. Diese epistemologische Schwelle, die der Roman impliziert, ebnet den Unterschied zwischen Literatur und Psychiatrie keineswegs ein. Jedoch erfährt diese Schwelle ihre Rechtfertigung nicht mehr in einer dichotomischen Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Repräsentation. Denn auch in der Psychiatrie sind die Darstellungen des Wahns an seiner Konstitution als Erkenntnisobjekt beteiligt. Allerdings setzt die Psychiatrie voraus, dass es einen vom Erzählen unabhängigen Gegenstand oder Sachverhalt gibt, der vom Erzählen scheinbar losgelöst werden kann und deshalb als präexistent gilt. So wenig die Patientenäußerungen aber schon der Wahn sind und die psychiatrischen Beschreibungen des Wahns in einer unbearbeiteten Wiedergabe der Patientenäußerungen aufgehen, so fraglich ist die strikte Scheidung des Wahns von seiner Darstellung.

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Gabriele Dietze

Skandal als Strategie – Wahn als Gehäuse. Weibliche Boheme und Sexuelle Moderne um die Jahrhundertwende

Vorspiel Am 6. Juli 1910 erschien in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung ohne Abdruckgenehmigung Else Lasker-Schülers Gedicht „Leise Sagen“: Du nahmst dir alle Sterne Über meinem Herzen. Meine Gedanken kräuseln sich, Ich muss tanzen. Immer tust du das, was mich aufschauen lässt, Mein Leben zu müden. Ich kann den Abend nicht mehr Über die Hecken tragen. Im Spiegel der Bäche Finde ich mein Bild nicht mehr.1

Unter dem Gedicht steht ohne weiteren Kommentar: „Vollständige Gehirnerweichung, hören wir den Leser – leise sagen“.2 Else Lasker-Schüler revanchiert sich ironisch gegen die beleidigende Kritik, ‚unfreiwillig komisch‘ zu dichten, mit einem Essay, das sie im Sturm veröffentlicht: Ich habe kein Gedächtnis mehr, seit bei mir Gehirnerweichung in Frage gekommen ist [...] ist mein Psychiater nicht bei mir, fahr’ ich zu ihm raus und bring ihm einen Kloß meines Gehirns [...] Wenn der Psychiater nicht eindringlicher mich beobachtet, werde ich es der Redaktion der Zeitung mitteilen, die mich bei der Gehirnerweichung ertappten; sie haben ihn doch für mich engagiert, und er muß seine Pflicht tun.3 1 Lasker-Schüler 1996b, 127. 2 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Else Lasker-Schülers Ehemann, Herwarth Walden, verklagt die Zeitung auf Beleidigung und Honorar. Zunächst wurde die Klage abgewiesen, da man bei der Zitation von ‚Stilblüten‘ nicht verpflichtet sei, das abgedruckte Original zu honorieren. Im dritten Prozess obsiegte man schließlich und bekam rückwirkend ein Honorar von 20 Mark und die Prozesskosten ersetzt (Bauschinger 2004, 181–182). 3 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Lasker-Schüler 1996a, 177f. Der Essay heißt „Contra B. und Genossen“. B. ist die Abkürzung des Richters Braun, der zwei Mal die Klage Herwarth Waldens zugunsten Lasker-Schülers abgewiesen hat.

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Gabriele Dietze

Else Lasker-Schülers Geste, eine Wahnsinns-Etikettierung mit der Affirmation und dem Weiterspinnen der Beleidigung anzunehmen, bildet das Motto folgender Erkundung. Wenn ihre Lyrik als ‚verrückt‘ skandalisiert wird, richtet sie sich im Skandal ein und baut eine Beziehung mit ihrem Psychiater auf. Das allerdings unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Denn sie glaubt nicht an die Existenz eines psychiatrischen Wahnsinns. In dem wenig später erschienenen Text „Sterndeuterei´“ schreibt sie: „Es gibt keinen Irrsinn im Sinne der Eisenbärte, aber wer wird mich nicht verspotten, wenn ich behaupte, es gibt eine Veränderung im Chaos der Menschen“.4 Die sterndeutende Icherzählerin denkt also, dass das, was noch als Wahnsinn verstanden wird, eine bislang unerkannte, aber schon vorhandene Veränderung signalisiert. Ich nehme mir hier die Freiheit, diese ‚Veränderung‘ als einen Prozess des Re-Arrangements der Geschlechterbeziehungen zu lesen und im Weiteren die Figuration der Bohemienne für dieses Argument in Anspruch zu nehmen.

Bühnenbild – „Meine Branche sind mit Gehirnerweichung“ 5

wir geschichten

Gegenstand der folgenden Überlegungen sind Lebenswelten, Lebenswerke und Lebensarrangements von vier exzeptionellen Bohemiennes: Dichterin Else Lasker-Schüler, Romancière und Feuilletonistin Franziska Reventlow, Essayistin und Psychoanalytikerin Lou AndreasSalomé und Performance-Künstlerin und Malermodell Elsa Freytag-Loringhoven. Die Zusammenstellung scheint zunächst heterodox. Zum einen wurden die Protagonistinnen in den Referenzdisziplinen Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie als unterschiedlich bedeutend eingeschätzt. Zum anderen wurden sie bislang in keiner Zusammenschau betrachtet.6 Lasker-Schüler ist als Hochliteratur kanonisiert, Reventlow gilt als leichte Muse, das Werk von Andreas-Salomé ist inzwischen ganz hinter der Spektakularität ihres Lebensstils und ihrer Nähe zu männlichen Genies der Epoche verschwunden und von Freytag-Loringhoven existiert kein Œvre im klassischen Sinne, und auch ihr eindrückliches Lebenskunst4

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Lasker-Schüler 1996b, 145. Sylke Kirschnik hat für diese Verfremdungs-Technik Else Lasker-Schülers folgende schöne Formulierung gefunden. Diese habe „nicht die realen Darsteller einer Schaustellung fiktionalisiert, sondern den fiktionalen Status einer realen Schaustellung akzentuiert“ (Kirschnick 2007, 20 (meine Kursivierung)). Franziska zu Reventlow, Brief an Franz Hessel vom 26.12.1911 (Reventlow 2004a, 575). Am häufigsten findet man Andreas-Salomé und Reventlow in Sammelbänden zu ‚Frauenliteratur‘ der Jahrhundertwende zusammen erwähnt, die sich als Re-Kanonisierung vergessener Texte verstehen und deshalb Lasker-Schüler als anerkannte Dichterin nicht mit berücksichtigen, siehe Gnüg 1985 und Hollmer 2009. Eine einzige vergleichende Behandlung von Reventlow und Lasker-Schüler findet sich in einer recht deskriptiven Arbeit zur französischen und deutschen Boheme (Meyer 2001).

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werk wird erst wieder entdeckt.7 Ungeachtet der idiosynkratischen Selektion soll behauptet werden, dass die Auswahl der vier Protagonistinnen eine exemplarische Diskurs-Formation zusammenfügt, die eine dichte Beschreibung einer bisher von der Forschung vernachlässigten deutschen weiblichen Sexuellen Moderne ermöglicht, in der die beschriebenen Figurationen in Werk und Lebenskunst als eine Art von Lebensstil-Rebellinnen betrachtet werden. Gemeinsame Elemente ergeben sich über die Einzelstellung der Protagonistinnen in bestimmten städtischen Boheme-Kulturen in Berlin und München, ihre von der Boheme bewunderte und vom bürgerlichen Publikum als ‚skandalös‘ angesehene Experimentierlust im Feld der Erotik und ihre mehrdimensionale Teilhabe an Diskursen, die Wahnsinn ins Zentrum stellen. Das betrifft erstens die Tatsache, dass ihr ‚abweichendes Verhalten‘ von Kritik und häufig auch Kollegen als ‚wahnsinnig‘ und abgestempelt wird. Z.B. schreibt Walter Benjamin zu Lasker-Schüler: „Sie ist im Umgang leer und krank [...] hysterisch“.8 Eine Besonderung der hier untersuchten Formation ist zudem zweitens, dass die Protagonistinnen das Stigma Wahnsinn in ein Ehrenzeichen umwandeln. Ver-rücktheit wird als kreativ, aggressiv und produktiv exterritorial resignifiziert. Das wiederum korrespondiert drittens mit einer Epochenwahrnehmung, die von sich selbst und von anderen als ekstatisch und verrückt qualifiziert wird, wie man vielen Manifestationen des Expressionismus und Ästhetizismus entnehmen kann.9 Viertens kommt es zu einer zunehmenden Durchsetzung des Alltagsselbstverständnisses mit psychiatrischen Diskursen und psychopathologisierendem Vokabular.10 Und fünftens fällt schließlich auf, dass alle Protagonistinnen in der einen oder anderen Weise direkten Kontakt mit der zeitgenössischen Psychiatrie haben.11 Man kann also sagen, dass sich in den zu untersuchenden Figurationen kulturelle, performative (im Sinne von Provokation) und klinische Felder von Wahnsinn gegenseitig durchwirken und für die Protagonistinnen 7

Siehe die Monografie Baroness Elsa. Gender, Dada, and Everyday Modernity (Gammel 2002), die auf der Ausstellung New York DADA und der Herausgabe einer englisch geschriebenen Autobiografie der Baroness durch Paul Hjartarson und Douglas Spettigue aus dem Jahre 1992 basiert. Zur Diskussion Freytag-Loringhovens in Bezug auf eine Epistemologie des Wahnsinns siehe das Kapitel „The Baroness: An Neurasthenic Art History“ (Jones 2004, 2–34). 8 Walter Benjamin, Briefe (Herbert Belmore) 6. Juli 1914 (Kraft 1995, 62). 9 Vgl. Lange 1992 und Anz 1980. 10 Vgl. Roelcke 1999 und Radkau 1998. 11 So waren die hier untersuchten Protagonistinnen z.B. als Patientinnen in der Massenpsychiatrie (Freytag-Loringhoven in Eberswalde), als Patientinnen in Nervensanatorien (Lasker-Schüler im ‚Haus Agnes‘ in Swinemünde, Reventlow in Montreux), in helfender Intervention mit der ‚Rettung‘ psychiatrischer Patienten beschäftigt (Reventlow und Lasker-Schüler gegen die Zwangseinweisung und Entmündigung von Otto Gross, Lasker-Schüler für Senna Hoy in der russischen Psychiatrie und für eine entfernte Freundin Elise Bambus in Wittenau (Höfert 2009)), oder hatten beruflich mit Fragen der Therapie zu tun (Lou Andreas-Salomé als Psychoanalytikerin).

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eine Art von (Un)Sinn(s)raster bilden, in denen Epochen-, Fremd- und Selbstbeurteilungen changieren.12 Es soll hier also nicht in erster Linie um Kritik an der Psychopathologisierung kultureller Praxen gehen, sondern um das Herauspräparieren einer resignifizierenden Rhetorik des Wahnsinns als Vehikel von lustvollem Normbruch und der Erschließung erotischer und kreativer Quellen. Die Bohemiennes unterscheiden sich von ihren männlichen Contreparts über die ablehnende gesellschaftliche Rezeption ihrer Exzentrizität, und die Tatsache, dass diese sich auf ihren Bruch mit den herrschenden Moralvorstellungen konzentriert. Der moderne männliche Libertin konnte durchaus mit allgemeinen Vorstellungen von Sittlichkeit und auch mit Gesetzen in Konflikt kommen, wie es z.B. Frank Wedekind mit seinen Lulu-Dramen widerfuhr. Er wurde aber ob seiner Freizügigkeit von bürgerlichen Geschlechtsgenossen eher beneidet als abgelehnt. Im herrschenden Doppelstandard war der Libertin die offene Variante eines verdeckten Systems männlicher sexueller Privilegien, der ‚Kavaliersdelikte‘ wie Nötigung von Domestiken, Genuss von Prostitution, Verführung und Ehebruch unsanktioniert ließ. Manche Varianten der Libertinage, wie z.B. das Maler/Modell-System der frühen Brücke Maler unterschied sich kaum von der (verdeckt akzeptierten) Prostitution. Die weibliche Libertine dagegen war um die Jahrhundertwende eine von beiden Geschlechtern verworfene Figuration. Von den meisten Frauen verachtet, da sie ihr eigenes symbolisches Kapital, die Reputation traditioneller Weiblichkeit, zu entwerten drohten, wurde sie von den meisten Männern entweder als kastrierendes Ungeheuer dämonisiert und/oder als das fundamental ‚Andere‘ pathologisiert.13 Die Boheme war also für Außenseiterinnen nicht nur Freistatt. Emotionale, sexuelle und materielle Ausbeutungsverhältnisse waren nicht unbedingt seltener als in der ‚anständigen Gesellschaft‘, sie wurden nur anders interpretiert.14 Diese Zusammenhänge werden hier allerdings nur der Fairness und Vollständigkeit halber protokolliert. Denn diese Untersuchung versteht sich nicht nur als sozial- oder kulturhistorische Kritik an androzentrischer Geschichtsschreibung oder als Rekanonisierungsversuch zu Unrecht vergessener weiblicher Leistung. Vielmehr sollen hier hauptsächlich „soziale Di12 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Michael Wimmers bei der Untersuchung von Grenzauflösung zwischen Wahn und Wissen aus poststrukturalistischer Perspektive: „So kann man für die Grenzerosion zwischen Wissen und Wahn einige Prozesse verantwortlich machen, die auch eine Neueinschätzung der Statusqualität der Grenze selbst ermöglichen. Dazu gehören sicher die epistemologischen Grenzen des ‚linguistic turn‘ [und] die Entsicherung des ontologischen Wahrheitsbegriffs “ (Wimmer 2005, 64). 13 Zur Dämonisierung vgl. Dijkstra 1999, und zur Pathologisierung (Hellduser 2005). 14 Die Tagebücher der Reventlow zeigen die Nachtseite ihres leichtfüßigen Boheme-Lebens, Armut, Nervenkrisen, Fehlgeburten, gebrochene Hilfsversprechen. Lasker-Schüler und Freytag-Loringhofen wurden mehrfach mittellos verlassen. Lediglich Andreas-Salomé konnte sich bis zur russischen Revolution mit einer kleinen Apanage ihrer Familie aus Petersburg eigenständig erhalten.

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mensionen von textlichen Selbstkonstruktionen und die Möglichkeiten von ‚agency‘ trotz Ausgrenzung“ untersucht werden.15 Um den Fallen von gesellschaftskritischer Verengung oder biografisch-anekdotischer Analysen von ‚Einzelschicksalen‘ zu entgehen, möchte ich im Weiteren die heuristischen Bezeichnungspraxen ‚exzeptionelle‘- oder ‚Ausnahme‘-Frauen durch eine Auffassung von je unterschiedlichen Figurationen von Weiblichkeit in doppelter Hinsicht präzisieren: Einmal in der klassischen Tradition von Norbert Elias, der damit eine unproduktive methodische Trennung von Individuum und Gesellschaft zu überwinden sucht: Der Begriff der ‚Figuration‘ dient dazu, ein einfaches Werkzeug zu schaffen, mit dessen Hilfe man den gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und zu denken, als ob ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren seien, zu lockern. [...] Mit dem Begriff Figuration lenkt man die Aufmerksamkeit auf Interdependenzen von Menschen.16

Eine weitere freiere Auslegung des Figurationsbegriffs bezieht sich auf Besonderheit der untersuchten Ausnahme-Frauen, dass „der Text des Lebens und das verschriftete zum Text gewordene Leben [...] sich gegenseitig“ bedingen.17 Das Verhältnis zwischen Text (oder Körpertextualität) und Leben ist hier durchlässig. Man könnte auch sagen, dass das Leben wie ein Text gestaltet wird. Zu den Lebensgestaltungsmitteln gehört neben zahlreichen programmatischen Essays zur Lage der ‚Frau‘, dem Geschlechterverhältnis und der Liebe, wie sie etwa Reventlow und Andreas-Salomé verfasst haben, auch die Neigung – etwa von Else LaskerSchüler – literarische Gestalten wie Prinz Jussuf von Theben zu Alter Egos im wirklichen Leben zu machen oder, wie weiter unten an Freytag-Loringhoven entwickelt werden wird, ihren Körper als DADA-Kunstwerk in ihren Lebensunterhalt als Malermodell einzubringen. Mit der Konzentration der Untersuchung auf die erwähnten vier Frauen-Figurationen sind dabei äußerst verschiedenartige Verkörperungen und Textualitäten gewählt, die im gesellschaftlichen Feld Boheme ‚figurieren‘: eine kontinuierlich liebestrunkene Dichter-Seherin (Lasker-Schüler), ein(e) ‚Femme-Dandy‘18 (Reventlow), ein Lebenskunstwerk und Nacktmo15 Hammerstein 2007, 195. 16 Elias 1970, 141, 144. 17 Hollmer 2009, 84. Katharina von Hammerstein weist darauf hin, dass die Überführung des radikalen Selbstentwurfs aus dem Bereich des Privaten in den des kollektiven Öffentlichen bei Frauen eine normative Kontrolle des öffentlichen Sprechens aufrufe, und damit – unabhängig von der inhaltlichen Aussage – eine implizite Politisierung darstelle (Hammerstein 1999, 295). 18 Stauffer 2008, 148. Isabelle Stauffers Neologismus beschreibt eine Variation des Dandy-Modus, der sich nach ihr durch ‚Genussorientiertheit und Affektkontrolle‘ (ebenda 164) auszeichne, den es im weiblichen Rollenrepertoire „eigentlich gar nicht geben sollte“ (ebenda 148).

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dell (Freytag-Loringhoven) und ein undomestizierbarer Freigeist (Andreas-Salomé). Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Werke, ihr Auftreten/Performance und ihre ‚Existenzweise‘19 skandalisiert werden.20 Im Rahmen des in diesem Band entfalteten Forschungsprojekts ‚Kulturen des Wahnsinns als Schwellenphänomen der urbanen Moderne‘ eröffnete sich hier die Möglichkeit, Skandal als Schwellenraum exzessiver und ‚ver-rückter‘ weiblicher Normwidrigkeit zu betrachten. Ein in jüngerer Zeit entstandener kleinerer Forschungsfokus zum Modus Skandal ist strikt auf die Männer betreffende Hoch- und Staatsskandale der Jahrhundertwende ausgerichtet wie die Affären um Oscar Wilde, Dreyfuss und den deutschen Kaiser und Fürst Eulenburg.21 Mein Bemühen ist es dagegen, die Phänomenologie von Skandal-Modi und ihren Besonderheiten bei weiblicher Besetzung zu skizzieren und in diesem Zusammenhang dem Skandalon der sexuellen Modernisierung um die Jahrhundertwende näherzukommen. Dabei sind zum einen Arrangements weiblicher Existenzweisen wie Ehe, Mutterschaft, Konkubinate und zum anderen Arrangements der Libido wie Sexualität, Liebe und Reproduktion von Bedeutung. Da die betrachteten Figurationen alle in der einen oder anderen Weise ‚gestalten‘, werden Inszenierungspraxen zentral. Zum einen betrifft das Embodiment: Auftritt, Körpersprache, Kostüm, Maskerade und Geschlechtsperformance. Zum anderen geht es um Textualität. Hier gilt das Augenmerk Verfahren der Ironie, Selbstironie, Parodie, Rolleninversion, Farce und Groteske. 19 Ich beziehe mich hier auf Andrea Maihofers Ansatz von ‚Geschlecht als Existenzweise‘: „‚Geschlecht‘ als gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise zu begreifen, stellt folglich den Versuch dar, erstens gegenüber dem Verständnis von ‚Geschlecht‘ als bloßem Bewusstseinsphänomen, [...] überhaupt auf die ‚materielle Existenz‘ des Geschlechts zu verweisen; zweitens gegenüber der Vorstellung von ‚Geschlecht‘ als Effekt von Darstellungen und Wahrnehmungen, Rollen, etc., [...] auf der ‚Konsistenz‘ des Geschlechts als einer historisch entstandenen, aber doch gelebten ‚körperlichen und seelischen Materialität‘ zu beharren; und drittens gegenüber der Auffassung von ‚Geschlecht‘ als Geschlechtsidentität, -charakter etc., [...] sowohl die historisch entstandene ‚körperliche als auch überhaupt gesellschaftlichkulturelle Materialität‘ des Geschlechts zu betonen, ohne auf eine natürliche Basis von Geschlecht rekurrieren zu müssen. [...] ‚Geschlecht‘ ist nun eine komplexe Verbindung verschiedener historisch entstandener Denk- und Gefühlsweisen, Körperpraxen und -formen sowie gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen, eben eine historische bestimmte Art und Weise zu existieren“ (Maihofer 1995, 84f ). 20 Diesen vier Beispielen könnten andere Skandal-suchende und -trächtige Figurationen, insbesondere in der Weimarer Republik, hinzugefügt werden, etwa Anita Berber mit ihren „Tänzen des Lasters, des Grauens und der der Ekstase“ (1923), (Hales 2010, 326–328). Ein weiteres Beispiel wäre die Kabarettistin Erika Mann. Eine solche Ausarbeitung bleibt aber einer späteren im Rahmen des Forschungsprojekts entstehenden Monografie zur deutschen sexuellen Moderne überlassen. 21 Vgl. Bösch 2009, der sich auf deutsche und britische Staatsaffären bis 1914 konzentriert, oder die sich mit Kaiserskandalen beschäftigen, und Adut 2009, der zwar bis zum Monica-Lewinsky-Skandal fortschreitet, aber sich nur mit der Entmythologisierung von Mächtigen beschäftigt.

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1. Aufzug: Der Skandal – „Der schlechte Ruf verpflichtet“ 22 Der Modus ‚Skandal‘ ist ein eigenartiges und sehr unordentliches Verfahren der Ermittlung, Diskussion und Veränderung kultureller Normen. Er besitzt Ereignischarakter. Er berührt, verletzt und erregt vielerlei Gefühle und ist schlecht steuerbar. In der neusten Monografie zum Thema spricht Frank Bösch von Skandalen als „Knotenpunkten in Schwellenzeiten“.23 Im kleinen Korpus der Skandalforschung, die immer wieder beklagt, dass es sich um ein wenig beackertes und untertheoretisiertes Feld handelt,24 herrschen drei Beschreibungsmodelle vor: Ein temporales Schema, das sich auf die Entwicklungsphasen und die Ablaufslogiken von Skandalen konzentriert (Burkhardt 2006, 19f ), ein personales Schema, das die Interaktionen von unterschiedlichen Akteuren betrachtet (Kohlrausch 2005) und ein funktionalistischer Ansatz, der sich dafür interessiert, was der Skandal macht und welchen Interessen er dient.25 Im Rahmen dieser Untersuchung wird ein topologisches Modell vorgezogen, d.h. der Skandal wird als ‚Schwellenraum‘ verstanden, in dem Normtransgressionen der herrschenden Geschlechterordnung ausagiert, fixiert und verhandelt werden.26 Die Schwellenraum-Metapher – oder anders ausgedrückt, der Zustand der Liminalität – entlehnte der Kulturanthropologe Victor Turner der ethnologischen Forschung Arnold van Genneps. Dieser hatte Initiationsriten vorstaatlicher Gesellschaften ins Erwachsensein als radikalen Nicht-Ort und Zustand der Desorientierung, des Exzesses, der Todessimulation und der Wiedergeburt beschrieben. Turner adaptierte den Begriff der Liminalität für die Beschreibung von Modi der Krisenbewältigung in modernen Gesellschaften. Für einen Blick auf weibliche Skandalmodi scheint diese Fokussierung besonders geeignet. Denn hier kann die Frage der ‚Schwelle‘ in besonderer Weise spezifisch gemacht werden. Die Schwelle, die in jeder Figuration übertreten wird, ist der Verlust der Reputation, oder, um es aktiver im Sinne 22 Reventlow 2004c, 201. 23 Bösch 2009, 83. 24 Die Klage beginnt mit der ersten deutschsprachigen Studie Die Kunst des Skandals. Über die Gesetzmäßigkeit übler und nützlicher Ärgernisse: „Wer [...] in systematischer Absicht über den Skandal schreibt, kann fast nichts abschreiben, und er kann auch nur wenig zitieren, denn die Wissenschaft hat zu diesem Gegenstand keine Schätze angehäuft“ (Schütze 1967, 10) und endet mit einer amerikanischen Studie von 2005 „a general model of scandal, however, remains a an unrealized desideratum“ (Adut 2005, 213), die zu einer Monografie ausgeweitet wurde (Adut 2009). 25 Vgl. Hondrich 2002, 40f und Schmitz 1981, 111f. 26 Foucaults Vorstellung von Heterotopien oder ‚Gegenorten‘ bieten einen verwandten ebenfalls topologischen Ansatz: Heterotopien sind „reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, in denen die realen Orte […] die man in einer Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“ (Foucault 2006, 320).

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von agency auszudrücken, die Aufgabe oder das ostentative Ablehnen des Regulativs eines ‚Guten Rufs‘. In der herrschenden Geschlechterordnung der Jahrhundertwende ist der ‚Gute Ruf‘ einer Frau ihr zentraler Zugang zu gesellschaftlichem Kapital. Die Reputation ist, um mit Bourdieu zu argumentieren, ökonomisch gesehen das Eintrittsbillet der Frau in die Versorgungsehe, kulturell betrachtet die Voraussetzung für gesellschaftliche und bürgerliche klassenspezifische Akzeptanz, und symbolisch ihre Unschuld, die mental und physisch die Voraussetzung für eine Verbindung mit dem vorgesehenen einzigen Nutzer-Ehemann darstellt. Die Modi des Ausstiegs aus dem Rahmen weiblicher Sittlichkeit konnten sehr unterschiedlich ausfallen. Und es mag zu Beginn auch nicht immer freiwillig gewesen sein, wie z.B. die überstürzten Fluchten von Franziska Reventlow oder Elsa Freytag-Loringhoven aus häuslicher Repression, was erstere mittellos nach Berlin verschlug, wo sie sich als Demi-Nude in einer Revue im Wintergarten verdingte27 und letztere zwischenzeitlich unter Kuratel stellte und in eine Versorgungsehe zwang, bevor sie mit einem Geständnis ihrer erotischen Eskapaden diesen Schutz vorsätzlich aufgab. Entscheidend war und ist auch bei anderen Bohemienne-Figurationen, dass der Schwellenübertritt irreversibel ist. Denn die in ihrer Geschlechterordnung provozierte Gesellschaft erlaubt keine weibliche Re-Migration. Sie besteht auf dem Skandal. Womit zur sprachlichen Quelle des Wortes zurückzukommen ist: Im Sinne der etymologischen Wurzel des Wortes ‚Scandalon‘ – das zuschnappende Stellholz einer Tierfalle28 – wird hier der Skandal als eine Art von Container verstanden, in dem Skandalisierte (und auch Skandalisiererinnen) ‚gefangen‘ sind, wo Schlachten ausgetragen werden, oder in dem sie, so paradox es klingen mag, ‚Schutz‘ suchen. Für die hier betrachteten Figurationen ist der Schwellenraum Skandal, aber auch ein Topos der Exterritorialität, des ‚Dazwischen‘-Seins, der eine Attraktivität in sich selbst hat. Franziska Reventlow bietet in ironischer Verfremdung eine interessante Version der Existenzweise des ‚Einen-schlechten-Ruf-Habens‘ an: Der schlechte Ruf verpflichtet. Man kann sich so vieles nicht leisten, was eine unbescholtene Frau ruhig tun darf. Jedes männliche Wesen, mit dem man über die Straße oder ins Restaurant geht, wird einem aufgerechnet [...] Folglich ist es peinlich, wenn man mit einem alten Professor oder mit drei grünen Jungen gesehen wird oder wenn ein Jugendfreund in Velvethosen uns anspricht. Man dürfte sich nur mit solchen sehen lassen, die einem stehen oder die man sich gerne nachsagen lässt. [...] Ich würde heute jedem blutjungen Mädel, das leben und kompromittieren verwechselt, aufs dringendste raten, seinen Ruf zu wahren, bis es in dieser oder jener Welt – ich 27 Zur Biografie von Freytag-Loringhoven Gammel 2002. 28 Zur Erforschung des Wortfeldes ‚Skandal‘ siehe Schmitz 1981 und insbesondere den Aufsatz „Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals“ Neckel 1986.

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meine in Lebenskreisen oder in der Gesellschaft – eine feste Position hat. Die Ausnahmestellung zwischen beiden Welten ist vom Übel, außer wenn sie ungemein glänzend finanziert ist.29

Reventlows rhetorische Strategie bedient sich hier in den ‚Amoresken‘ Pedro und Paul (1912) des Genres der „Hetärengespräche“,30 um in ironischer Paradoxierung den Verlust des ‚Rufes‘ als Faktum voraussetzend die optimale Strategie des Lebens (und sich Reproduzierens) im Skandal zu diskutieren. Dabei resignifiziert die Erzählerin eine Beleidigung zu einer ästhetischen Lebensstrategie. Aus dem Vorwurf eine Hure zu sein31 macht sie eine Weltanschauung eines neuheidnischen Hetärentums, das die Autorin auch unter eigenem Namen offensiv im Essay „Viragines und Hetären“ (1899) vertritt. Ähnlich sieht man es im Vorspiel bei Else Lasker-Schüler, die den Gehirnerweichungs-Vorwurf adaptiert. Man könnte auch von einer Strategie der Immunisierung sprechen, die über demonstrativen Exzess funktioniert.32 Elsa Freytag-Loringhoven schockierte, wie weiter unten entwickelt, durch eine bis dahin unbekannte sexuelle Explizitheit, die sie unter bisweilen großem Entsetzen ihres Umfelds unbeeindruckt verfolgte,33 und auch die damals knapp zwanzigjährige Lou Andreas-Salomé beharrte darauf, ihre Liebesordnungen in Lebensordnungen zu verwandeln und plante entschlossen und öffentlich an einer Ménage-à-trois mit Nietzsche und Paul Rée. Dabei, und das ist wichtig festzuhalten, ist die Traumsicherheit, sich selbstbestimmte Lebensarrangements zu suchen, durchaus nicht als Avantgarde der politischen Frauenbewegung misszuverstehen. Zwei der geschilderten Figurationen (Reventlow und Andreas-Salomé) waren bekennende Antifeministinnen. An irgendeinen Ethos finanzieller Selbstständigkeit, wie sie August Bebel in Die Frau und der Sozialismus bereits 1879 für unabdingbar für die Frauenemanzipation gehalten hatte, glaubte keine – Freytag-Loringhoven und Reventlow hielten ‚Sex for Money‘ für einen legitimen Deal, Lasker-Schüler bestritt ihren Lebensunterhalt teilweise über in Bettel-Kampagnen eingeworbene Geldspenden. Fast alle, mit Ausnahme 29 Reventlow 2004c, 202. 30 Das Textgenre steht in der Nachfolge von Lukians „Hetärengesprächen“ (160 n.Chr.) oder Pietro Aretinos „Kurtisanengespräche“ (1454–56). 31 Reventlow hat sich gelegentlich in Zeiten äußerster Geldnot prostituiert, gibt aber davon lediglich beiläufig, ohne Schuldrhetorik und mit einem gewissen Trotz Zeugnis: „Dort trinke ich Sekt, wenn ich will und lebe jeden Abend im Schlaraffenland und amüsiere mich.“ Tagebucheintrag von der Neujahrsnacht 1896/97 (Reventlow 2004d); vgl. auch die Erörterung dieser Lebensphase (Kubitschek 1998, 311f ). 32 Ich verwende hier den Begriff der Immunisierung gegenläufig zu Isabell Lorey, die ihn als Strategie des Ausschlusses und der Herrschaftssicherung in ein diskursanalytisches politisches Vokabular eingeführt hat (Lorey 2010). Mit ‚strategische Immunisierung‘ meine ich ein Sich-Vorsätzlich-UnempfindlichMachen gegenüber einer beleidigenden und erniedrigenden Zuschreibung. 33 Gammel 1999.

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von Lasker-Schüler, hielten Männer für die originäreren Geister und eigentlich kreativeren Elemente. Und alle fokussierten sich auf eine Variation von Männlichkeit als Fixstern(e), als zu inspirierende und zu interpretierende Genies (Andreas-Salomé), als zu erobernde Prinzen und Könige großer metaphysischer Lieben (Lasker-Schüler), als Vehikel sexueller Extasen (Freytag-Loringhoven) und als Bewunderer-Reservoir flüchtiger Neigungen einer Femme Dandy (Reventlow). Die Bewegungsräume der Bohemienne entfalteten sich also nicht in der Binarität von ‚männlichem Privileg‘ versus versagte Frauenrechte. Das war das Terrain des frühen Feminismus. Da sich dieser als politischer Diskurs verstand, der sich um Anerkennung bemühte, war man in dieser Formation stark auf Reputation bedacht.34 Die Bohemiennes dagegen besetzten das Zwischenreich einer noch unkartografierten Sexuellen Moderne. Hier waren die Protokolle eines angemessenen, geschlechtsspezifischen Verhaltens noch nicht geschrieben. Der Schwellenraum ‚Skandal‘ fungierte als Probebühne möglicher neuer Beziehungsmuster.

2. Aufzug: Sexuelle Moderne – Von Bleisoldaten und Peitschen Franziska Reventlows Hetärenmodell war eine Ausformulierung eines möglichen weiblichen Programms einer Sexuellen Moderne. Sie wünschte sich eine neue Frauenbewegung, „die das Weib als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Freiheit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper, die uns das Hetärentum wiederbringt.“35 Die real existierende Frauenbewegung dagegen sah sie, wie bereits angedeutet, als „Feindin aller erotischen Kultur“.36 Reventlows Version hat sich im kulturhistorischen Anekdotenschatz als besonders ‚skandalös‘ abgespeichert, weil sie die Regulative weiblicher Verhaltensanforderungen auf mehrfacher Ebene herausfordert. Die Gräfin spricht sich gegen Monogamie aus, wenngleich sie gegen Versorgungs- und Scheinehen nichts einzuwenden hatte, wie sie am eigenen Beispiel mit ihrer kurzlebigen Flucht- und Scheinehe zur Erlangung einer Erbschaft demonstriert. Sie votiert für die Legitimität und Notwendigkeit von erotischem Vergnügen und sinnlicher Lust. So schrieb sie: „Sehen Sie, bei mir steht und fällt alles mit dem Erotischen; ich fühle mich nur normal und daseinsberechtigt, wenn das mein Leben erfüllt.“37 Als provokant wird empfunden, dass sie sich für das Recht auf und das Bedürfnis

34 Einige wenige Frauenrechtlerinnen pflegten Verbindungen zu Boheme. Am bekanntesten darunter die offen lesbische Anita Augspurg (Schröder 2005). 35 Reventlow 1899. 36 Ebenda. 37 Brief an Klages vom 28.10.1901 (Reventlow 2004a, 348).

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nach unehelicher Mutterschaft ausspricht.38 Sie verfolgt dieses Programm in einer Geschlechterordnung, die uneheliche Mütter doppelt abstraft, indem sie sie der Schande anheimgibt und damit (meist) der Armut überantwortet. Für ihr Recht auf ein Kind außerhalb der Konvention ist Reventlow weite Wege gegangen. Sie hatte sogar einen Meineid geschworen, indem sie einen erfundenen, ihr angeblich bekannten aber unbekannt verzogenen, Vater angab, um ihren Sohn staatlicher Vormundschaft entziehen zu können.39 Auch Else Lasker-Schüler verschwieg den Vater ihres zwar noch formal in der Ehe, aber von einem Dritten empfangenen Sohnes und feierte ebenfalls das Recht auf ein Kind der Liebe. Ihre Beziehungs-Arrangements unterschieden sich aber deutlich von denen der Femme Dandy Figuration Reventlow. Letztere basierte auf erotischem ‚Naturalismus‘ einer angeblich ursprünglichen Vitalität sexueller Impulse.40 Die Dichter-Seherin-Figuration Lasker-Schüler dagegen propagierte eine Art Liebesmetaphysik großer Leidenschaften und öffentlicher hymnisch zelebrierter Liebesqualen, die eine Spur anekdotischer Süffisanz durch die Literaturgeschichte gezogen haben, ob sie sich nun dem jüngeren Benn (Giselher) lyrisch ‚an den Wegrand‘41 warf oder sich nachts vor Frank Werfels Türschwelle Schlafen legte, um die Tiefe ihres Sehnens zu dokumentieren. Die Lasker-Schüler Figuration zeichnet sich durch grenzenlose Externalisierung von norm-sprengendem weiblichen Begehren, auch ohne Rücksicht auf das männliche Gegenüber, aus. Bislang unübertroffen hat Dichterkollege Per Klabund diese Liebesmetaphysik beschrieben: Else Lasker-Schüler trägt ihr Herz an einer goldenen Kette um den Hals. Sie ist ohne Scham, jeder darf es betrachten (aber sie fühlt nicht, wenn es wer betrachtet. Und es ist ihr gleichgültig). 38 Reventlow begründet das durchaus essentialistisch, wenn sie sich dabei auf Nietzsches Diktum „Alles am Weibe ist ein Rätsel und alles am Weibe hat eine Lösung, die Schwangerschaft“ (Nietzsche 1954, 428) bezieht und Mutterschaft als ein Institution preist, „die alle Funktionen [des] Geschlechtslebens zum Ausdruck bringt“. Vgl. „Das Männerphantom der Frau“ Züricher Diskußionen, 1.Jg. 1897/98 Nr. 6. Für eine genauere Erkundung der Romantisierung unehelicher Mutterschaft siehe Kanz 2000, die auch von einem ‚misogynen Mutterschaftsideal‘ der männlichen literarischen Moderne spricht. 39 Zur Auswertung der Gerichtsakten zur Feststellung der Vaterschaft Hammerstein 1999, 301f. Katharina Hammerstein hat an anderer Stelle für eine extensive Nutzung von ‚Ego-Dokumenten‘ (neben gestalteter Autobiografik, Briefen, Tagebüchern, und autobiografisch durchsetzter Essayistik und Literatur auch die Sichtung von Gerichts- und Krankenakten) in Boheme-Figurationen votiert, um deren ‚politischen‘ Charakter auch jenseits von expliziten Äußerungen herauszuarbeiten. Aus dem Studium von Ego-Dokumenten von Luise Aston, Hedwig Dohm und Franziska Reventlow kristallisiert sie drei Kernelemente heraus: Das inhaltliche Bestehen auf Individualität, eine Schreibweise der Dialogizität und (obwohl noch vor jedem Stimmrecht) eine praktische Inanspruchnahme der Partizipation am öffentlichen Diskurs (Hammerstein 2007, 207). 40 Zum erotischen ‚Naturalismus‘ von Reventlow Rantzau 1974. 41 Siehe das Gedicht „Höre“ Lasker-Schüler 1996b, 172.

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Sie liebt nur sich und weiß nur von sich. Die Objekte ihres Herzens [...] sind Bleisoldaten, mit denen sie spielt. Aber sie leidet an den Bleisoldaten, und wenn sie von ihnen spricht, bluten die Worte aus ihr heraus.42

Während Lasker-Schülers Liebeskonzept Körper und Geist holistisch zusammensieht, wie in ihren frühen stark erotischen Liebesgedichten (beispielsweise im Band Styx (1901) nachvollziehbar), trennt Andreas-Salomé das physische vom meta-physischen und entmystifiziert den Geschlechtsakt zu einem simplen körperlichen Grundbedürfnis: „Die Sexualität als eine Form der Notdurft gleich Hunger, Durst oder sonstigen Äußerungen unsres Körperlebens wird auch für die Einsicht in ihr weiteres Wesen und Wirken erst zugänglich auf solcher Grundlage“.43 An diesem Knotenpunkt schlägt Andreas-Salomé eine andere Richtung ein als beispielsweise Reventlow, die ebenfalls ein ‚naturalistisches‘ Konzept von Sexualität vertrat. Sie nutzt die in ihrer Perspektive relative Unabhängigkeit „von der nackten Notdurft des Triebhaften“, um Macht über Männer zu exekutieren. Trickreich argumentiert sie, dass die „zwingende sexuelle Zucht“ der Frauen zur Sittsamkeit zu einer „natürlichen Unabhängigkeit“ geworden ist, und warnt davor, „die schon fast mühelos in den Schoß [ge]fallene Frucht langen harten Kulturringens sich wieder entgleiten [...] zu lassen für moderne Liebesfreiheit“.44 Diese Übertragung von Keuschheit aus einem Register der Unterdrückung (geschlechtsspezifisch disziplinierter Triebverzicht) in ein Register der Autorisierung hat Andreas-Salomé zu einer für die Zeit ungewöhnlichen Handlungsfreiheit verholfen. Bis zu ihrer Begegnung mit Rainer Maria Rilke verweigerte sie ihren Geistes- und Liebeskameraden Paul Rée und Friedrich Nietzsche jegliche Intimität und verpflichtete ihren Mann zu lebenslanger Josefsehe, die sie später als soziale Basis für körperliche Beziehungen mit anderen Männern nutzte. Von außen gesehen war zwar ihre geplante und weit publizierte Ménage-à-trois mit Nietzsche und Paul Rée ungeheuer skandalös,45 in der Binnenperspektive hingegen eine beunruhigend keusche Angelegenheit, die Energien und Arbeitskraft freisetzen sollte.46 42 43 44 45

Revolution 1. Jg, Nr. 1, 1913, 3f (Kraft 1995, 113). Andreas-Salomé 1910, 8. Andreas-Salomé 1910, 8, meine Kursivierung. Nach Andreas-Salomés eigenem Zeugnis basierte diese Idee auf einem nächtlichen Traum von ihr: „Da erblickt ich nämlich eine angenehme Arbeitsstube voller Bücher und Blumen, flankiert von zwei Schlafstuben und, zwischen uns hin und hergehen, Arbeitskameraden, zu heiterem und ernstem Kreis geschlossen“ (Andreas-Salomé 1974, 76). 46 Siehe die Analyse des philosophierenden Trios (Decker 2010, 86–117). Die Biografin Kirsten Decker konzentriert sich auf ‚narzisstische‘ und ‚egoistische‘ Elemente in Andreas-Salomés Charakter, um ihre für eine Frau außergewöhnliche geistige und physische Unabhängigkeit zu deuten. In Anlehnung an

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Friedrich Nietzsche hat die Macht, die von Andreas-Salomé über den durchgesetzten männlichen Triebverzicht ausgeübt werden konnte, deutlich ins Bild gesetzt, als er sie in einem von ihm arrangierten Foto mit einer Peitsche ausstattete und einen Karren dirigieren ließ, den er und sein Konkurrent Paul Reé ziehen. Der (kurzfristig) gezähmte Nietzsche ‚vergaß‘ in dieser Inszenierung nicht nur buchstäblich die berüchtigte Peitsche, sondern überantworte sie dem weiblichen Contrepart. Konträr zu Andreas-Salomés strategischer Keuschheit war Elsa FreytagLoringhovens expressives Credo, über den Weg einer souverän angesteuerten und intensiv genossenen Sexualität zum Kern ihrer ‚Lebenskunst‘47 vorzustoßen. Nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit ihrem Vater, die sie fast das Leben gekostet hätte, kam sie 1894 nach Berlin und stürzte sich – kaum zwanzig Jahre alt – ins Vergnügen: „I had become mensick up to my eartips – no over the top of my head – permeating my brain stabbing out of my eyballs.“48 Ein paar Monate später beschrieb sie ihr mentales Setting wie folgt: „[...] now I began to know what ‚life‘ meant – every night another man. So – now the contents of my vague

Nietzsches ‚Übermensch‘ bezeichnet sie sie als ‚Übermädchen‘, das Nietzsche zu seinem Zarathustra inspiriert habe (Kapitel „Der Übermensch als Übermädchen. Zarathustras Nachtgedanken oder die Dialektik des Mitleids“, ebenda 86f ). 47 Nach Schutte/Sprengel ist ‚Lebenskunst‘ ein wichtiges Kennzeichen der ‚Berliner Moderne‘: „Neben oder an die Stelle der Kunst tritt die Lebenskunst, die Lebenspraxis und Lebensreform“ (Schutte und Sprengel 1987). 48 Autobiography Baroness Elsa, herausgegeben von Paul Hjatarson und Donald Spettigue, Ottawa, Oberon Press 1992, S. 44f. (Gammel 2002, 60). Der Umstand, dass die Memoiren einer deutschen Bohemienne in Englisch vorliegen, verdankt sich ihrer späteren Auswanderung in die USA, wo sie in der New Yorker DADA-Szene um Marchel Duchamp und Man Ray und durch ihre Freundschaft mit Djuna Barnes Notorität erlangte. An letztere war ihre Autobiografie adressiert.

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homedreams came true. I was intoxinated”.49 Wie übrigens auch Andreas-Salomé, die sich aus Gründen künstlerischen Freiraums „die Mutterschaft versagt“ hat,50 hält sie die Idee eines eigenen Kindes für „sheer madness [...] for I did not acknowledge children“51. Alle hier beschriebenen Arrangements stehen im Zusammenhang mit einer ‚Modernisierung der Sexualität‘. Ein solches Programm konnte erst dann in Aussicht genommen werden, nachdem es zu einer Entkoppelung von Sexualität und Reproduktion und im Gefolge auch zu einer Problematisierung von Liebe gekommen war. Nach Christina von Braun hatte der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende medizinische Kenntniszuwachs über die Zeugungsvorgänge einerseits die Eugenik, nämlich die Vorstellung einer gesteuerten Reproduktion, und andererseits die Sexualwissenschaften hervorgebracht, die Sexualität als eigenmächtigen Trieb begriffen, der auch jenseits der Fortpflanzung aktiv werde.52 In der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung gilt diese Zeit als Epoche der „Entdeckung der Sexualität“, die sich in Wissensformationen wie den erwähnten Sexualwissenschaften, in der Psychoanalyse äußerte, und künstlerische Manifestationen und auch neue lebensweltliche Sphären wie Boheme-Kulturen und Reformbewegungen hervorbrachte. Peter Gay spricht gar von einer ‚Sexualisierung der Moderne‘, andere weisen auf die „zunehmende Diskursivierung von Sexualität“ hin und diagnostizieren eine Omnipräsenz von Sexualitätsdiskursen.53 Man kann deshalb, wie in den angloamerikanischen Cultural Studies-Zusammenhängen üblich, 49 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Gammel 2002, 63. Freytag-Loringhovens „Parading Sexuality“ (Gammel 1999) ist in ihrer Direktheit für eine weibliche Stimme, die nicht in der Absicht pornografischer Produktion geschrieben ist, äußerst ungewöhnlich. Man muss allerdings ihren Aufenthalt in den USA berücksichtigen, wo in der Boheme des Greenwich Village weiblicher Selbstäußerung als ‚sexueller Moderne‘ eine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Siehe das Kapitel „Sexual Modernism“ (Stansell 2009, 235–272). 50 Siehe Briefwechsel von Lou Andreas-Salomé mit Rainer Maria Rilke, Pfeiffer 1989, 100. 51 Gammel 2002, 67. Den Hinweis auf diese für Überlegungen zur weiblichen sexuellen Moderne so aussagekräftige Figuration Freytag-Loringhoven verdanke ich Katrin Hoffmann-Curtius. Frühe Veröffentlichungen von Paul Hjartarson 1986 und 1988 und im letzten Jahrzehnt Auseinandersetzungen von E. Kuenzli (Kuenzli 1998), Irene Gammel (Gammel 2002), Amelia Jones (Jones 2004) haben Elsa Freytag-Loringhoven für ein englischsprachiges Publikum zugänglich gemacht. Irene Gammels Monografie liegt nun auch in deutscher Sprache vor (Gammel 2005). Allerdings behandeln sie auch neuste Monografien zu Frauen im DaDa als Randfigur, wie zuletzt Ruth Remus, der sie zwei Erwähnungen wert war (Remus 2009, 3, 5). Obwohl die DADA-Baroness, wie sie in New York genannt wurde, immer wieder heute meist verschollene eigene Kunst-Objekte hergestellt hatte, verstand sie sich selbst als Modell und Arrangeurin von Kunst am Körper. Man könnte ihre Körper-Inszenierungen, auf die weiter unten zurückgekommen wird, auch als Performance Art vor der Etablierung des Genres verstehen. 52 Braun 2004, 258f. 53 Gay und Fließbach 1987, Scheuer 1999 und Schmerl 2000.

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auch für die deutschen Verhältnisse von einer ‚Sexuellen Moderne‘ sprechen, wobei die hier vorgelegten Erkundungen erstmals den Versuch unternehmen, in den Bohemienne-Figurationen eine weibliche sexuelle Moderne zu identifizieren, die sich im deutschen Diskursraum entfaltet hat.54 Es scheint jedoch sinnvoll, sich dem – zweifellos von Foucault inspirierten – Medizin- und Wissenschaftshistoriker Harry Oosterhuis anzuschließen, diesen Diskurs nicht gradlinig als Kampf gegen Repression zu lesen: „Whereas other scholars have defined sexual modernism mainly as an reaction against Victorian prohibitions, in my view it is not only an ideology of sexual liberation, but even more an epistemological transformation, an individualization and psychologization of sexuality”.55 In dem hier entwickelten Beispielen verläuft diese ,epistemologische Transformation‘ jedoch nicht als Individualisierung und Psychologisierung der Sexualität parallel oder in gleicher Art und Weise. Man könnte eher von einer Matrix sprechen, in der unterschiedliche Akteurinnen an unterschiedlichen Stellschrauben die zuvor austarierten Spannungsverhältnisse verschieben. Eine (unverheiratete) Mutterschaft konnte genauso norm-sprengend sein wie eine (kinderlose) Ehe, Sexualität mit vielen aufeinanderfolgenden Partnern ebenso wie eine Liebe ohne Rücksicht auf bestehende Bindungen. Gewissermaßen unerhört war in allen diesen Fällen die Inanspruchnahme souveräner Handlungsfreiheit. Zum Skandal kam es, wenn eine bestimmte Dimension an Publizität überschritten wurde. Dann aber führte der damit einhergehende Reputationsverlust nicht zu einem Zurückweichen (der Protagonistinnen), sondern zur Instrumentalisierung des Skandals als Strategie des ‚Self-Fashioning‘.

3. Aufzug: Inszenierungspraxen – von „wirklich lebenden Menschen“ Auftritt 1 Als sie mich in ihrer barschen deutschen Art fragte, ob ich ein Modell benötige, antwortete ich, dass ich sie erst nackt sehen müsse. Mit einer königlichen Geste öffnete sie ihren scharlachroten Regenmantel. Da stand sie vor mir, völlig nackt – oder fast. Auf ihren Brustwarzen befanden sich zwei kleine Tomatenmarkdöschen, die mit grüner Schnur auf ihrem Rücken festgebunden waren. Und zwischen den Tomatendöschen hing ein kleiner Vogelkäfig, in dem ein ausgestopfter Kanarienvogel lag. Ein Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter mit Vorhangringen aus Zellu-

54 In den angloamerikanischen Cultural Studies wird das Zeitphänomen der ‚Modernization of Sex‘, Robinson 1976, auch ‚modernist sexuality‘, Stevens und Howlett 2000, oder ‚Sexual Modernism‘ genannt. Z.B. überschreibt Irene Gammel in ihrer „Cultural Biography‘ über Elsa Freytag-Loringhoven das zweite Kapitel mit „Sexual Modernities in Berlin and Munich“ (Gammel 2002, 56–156). 55 Oosterhuis 2009, 9.

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loid bedeckt, die sie – wie sie später eingestand – von einer Möbelausstellung bei Wannemakers gestohlen hatte. Sie nahm ihren Hut vom Kopf, der geschmackvoll und dezent mit vergoldeten Karotten und Rüben und anderem Gemüse verziert war. Zum Vorschein kam ihr kurz geschorenes Haar, das zinnoberrot gefärbt war.56

Auftritt 2 [H]inter dem Pult stand sie, die Sechsunddreißigjährige in der Nacht ihres Kleides und strähnigen Kurzhaaren. Ihr Gesicht war von einer orientalischen Sinnlichkeit, ihr Körper hatte etwas Schlangenhaftes. Und nun las sie: ihr eigentümliches, schwebendes, monoton in gleicher Tonhöhe schwebendes Organ füllte den nur halbbesetzten Saal. Grelle Verzückungslaute durchschnitten hier und da den eintönigen Fluß ihrer Rede, und oft mündete er in einen schrillen Trompetenstoß, der ein Gedicht jäh und unerwartet abschloss.57

56 Georg Briddle, An American Artist’s Story, Boston: Little Brown, 1939, zitiert und übersetzt von Irene Gammel (Gammel 2008, 85). 57 Bericht einer Lesung in Wupperthal in: Täglicher Anzeiger für Berg und Mark Nr. 247, 20.10.1902 (Kraft 1995, 96).

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Siehe eine Dichterin! Anbetend läßt sie so etwas Wertloses, wie der Sand ist, durch die Spalten ihrer Finger rinnen, jene Frau, die eng eingedreht in schwarze Seide, vier knabenhafte junge Menschen um sich, vor dem weißen Lärm des Meeres sitzt.58

Der erste Auftritt gibt Zeugnis von Elsa Freytag-Loringhoven, wie sie im Frühling 1917 einem amerikanischen Maler in New York erschien. Im zweiten Auftritt wird Else Lasker-Schüler bei einer Lesung in Wuppertal 1902 und im zweiten Zitat bei einer privaten Szene im Urlaub auf Hiddensee 1924 geschildert. Beiden Zeugnissen ist der dezidierte Inszenierungswille ihrer Protagonistinnen zu entnehmen. Sie scheinen sich nicht als Medien (für ein Bild oder für Lyrik) zu verstehen, sondern sie sehen sich selbst als das Ereignis, ein Ereignis freilich, das von seiner Normsprengkraft lebt. Lasker-Schüler löste mit ihren Performances die Kunst-Leben-Dichotomie immer weiter auf. Sie hatte dichterische Alter-Egos oder Spielfiguren wie Prinzessin Timo und Prinz Jussuf von Theben ins wirkliche Leben herübergezogen, deren Märchengewänder im Alltag getragen, ihre Privatbriefe mit deren Namen gezeichnet und hat sich von der Dienerschaft ihrer Herrscher-Figuren, ‚meinen Negern‘, ins Kaffeehaus begleiten lassen.59 Diese Durchlässigkeit zwischen Kunst und Leben, oder im Sinne von Norbert Elias Figurationsbegriff von Individuum und Gesellschaft, wird in der Sekundärliteratur konsequenterweise „Ich-Figuration“ genannt.60 Die provokative Inszenierung als Kunst-Ich als einer Art von Selbstbefremdung enthebt die Akteurin der Verantwortung für ihre Handlungen. Die Ich-Figuration kann skandalös sein ohne Else Lasker-Schüler zu beschädigen. Ihre Rolle einzunehmen ist damit eine Strategie, im Schwellenraum Skandal zu bleiben. Es ist sinnlos, eine solche Inszenierung mit ‚Realitäten‘ zu konfrontieren. Die Dichterin verschwindet hinter ihrer Personifikation oder besser: Sie geht in ihr auf. Sie fordert aber auch zur Zuschreibung eines klinischen Wahnsinns auf. Der Figuration Lasker-Schüler sind alle nur denkbaren Diagnosen populären Wissens über Wahnsinn angeheftet worden. Die Schöne Literatur befand 1907, einer Lesung der Dichterin beizuwohnen sei wie „einem ‚Irren‘ beim Reden zu[zu]hören“. Es wurden die „Perversitäten des Sprachgebrauchs“ beklagt und prophezeit: „Dieses bewusste und hypernervöse Umgehen aller Natürlichkeit ist eine schriftstellerische Manie, die zur Krankheit wie zum Laster ausarten kann“.61 Das Literaturlexikon von Kurt Martens sprach 1921 gar von „hysterischen Ausbrüchen“ in der Dichtung, Kolle58 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Bericht des Dramaturgen Wilhelm Schmidtborn über Lasker-Schüler von einer Urlaubsreise in Hiddensee, Sommer 1924 (Kraft 1995, 174). 59 Siehe ausführlicher dazu meinem Aufsatz „Imaginary Negros. Primitivismusdiskurs der weiblichen Boheme nach der Jahrhundertwende“ (Dietze 2011a). 60 Feßmann 1992. 61 Meine Kursivierung.

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ge Ernst Hardt bezeichnete die Poetin als „neurasthenische Sappho“ und der Autor bayrischer Volkszenen, Ludwig Thoma, attestierte ihr in einer wüsten antisemitischen Suada die „Sprachsyphillis“.62 Davon offenbar unangefochten anverwandelt Lasker-Schüler sich das Stigma zum Charakteristikum: „Ein Säufer muß in seine Kneipe, ein Spieler in die Hölle, nur ich bin abnorm“.63 Eine der interessantesten Re-Figurationen bohemehafter Verrücktheiten unternimmt Franziska Reventlow. Wie alle Protagonisten und Protagonistinnen dieser Art von Lebensstilrevolten litt sie an chronischer Geldknappheit. Dagegen anschreibend – anders als LaskerSchüler sah sie sich wie Andreas-Salomé eher als Lohnschreiberin und achtete sich als Autorin gering64 – verfasst sie den Roman Der Geldkomplex (1916). Wieder einmal pleite traf die Erzählerin einen Psychoanalytiker,65 der ihr auseinandersetzt, dass es sich bei ihrer manischen Fixierung auf Geld um einen Komplex handele, und ihr anbot, diesen in einem Sanatorium kurieren zu lassen.66 Der Umzug in die Klinik behob auf wunderbarerweise die drohende Obdachlosigkeit nach Zwangsräumung – dank dem vagen Versprechen, über eine sich demnächst eröffnende Geldquelle (die literarische Verarbeitung einer im wirklichen Leben geschlossenen Scheinehe, die Reventlow zum Erbe eines sehr alten Mannes verhelfen sollte) die Kur zu erstatten. Die Erzählung arbeitet mehrdimensional: Neben einer Satire auf die Psychoanalyse präsentiert sie auch ein Soziogramm des libertären Lebensstils: Zur Teestunde werden die Liebhaberanwärter um sich versammelt, eine Farce der realen Lebenssituation. Der ‚wirkliche‘ pekuniäre Mangel wird in eine psychische Kondition re-arrangiert, die in einer psychiatrischen Klinik geheilt werden soll, in der die inneren durch die äußeren Lebensverhältnisse disidentifiziert werden.67 62 Alle Quellen zitiert nach Kraft 1995, 56,163,135, 166. 63 Lasker-Schüler 1996c, 250. 64 Im Geldkomplex streitet sich die Erzählerin mit einer Psychiaterin über den Wert schriftstellerischer Arbeit. Während die Patientin darauf besteht, ausschließlich für das Honorar zu arbeiten, sieht die Analytikerin das weibliche Gehirn zu Höchstleistungen berufen. Dagegen hält die Patientin, das Gehirn „leidet unendlich darunter. Es gibt doch sowas wie Gehirnwindungen, und ich fühle tatsächlich bei jeder Anstrengung, wie mein Gehirn sich darunter windet“ (Reventlow 2004b, 124). 65 Der Psychoanalytiker ist deutlich nach dem Apologeten sexueller Libertinage Otto Gross gezeichnet (Kanz 2000, 113). 66 Hedwig Dohm hatte den Roman Werde wie du bist (1894) ebenfalls in die Psychiatrie verlegt, um den ‚Liebeswahn‘ einer alternden Frau zu beschreiben. 67 Unter der Kategorie der ‚Disidentifikation‘ wird nach Jose Esteban Muños ein verschiebendes (im Sinne einer psychoanalytischen Verschiebung) und maskierendes Nachahmen verstanden, das gleichzeitig auch ein kritischer und ironischer Modus herrschender Verhältnisse ist. José Esteban Muños definiert: „Disidentifikation bedeutet ein Recycling oder Umarbeiten von kodierter Bedeutungsproduktion. Der Prozess der Disidentifikation durchmischt und rekonstruiert vorkodierte Bedeutungen von kulturellen Texten. Es werden dabei einerseits universalisierende und ausschließende Mechanismen frei-

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Inszenierungspraxen betreffen nicht nur die Erschaffung von Kunst-Figuren, die Leben und Text wechselseitig durchdringen, sondern sie betreffen auch Genre und Modi von Text. Alle hier Vorgestellten parodierten ihr unmittelbares Lebensumfeld in ihren Texten. Mit Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913) ironisierte Franziska Reventlow die Schwabinger Dichterrunde um Stefan George, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages als eine Absonderlichkeit von Wahnmoching (i.e. Schwabing), wobei sie sich einer erzählerischen Hosenrolle, nämlich des unwissenden ‚Herrn Dame‘ bedient, dessen Name jedoch das ‚wahre‘ Geschlecht der Autorin verrät.68 Elsa Freytag-Loringhoven schrieb mit ihrem zweiten Ehemann Felix Paul Greve gemeinsam einen auf ihrem Leben basierenden Schlüsselroman, Fanny Essler (1905), wobei sie gleichfalls das Münchner Milieu persiflierte,69 und Else Lasker-Schüler schließlich parodierte in ihrem „Boheme-Roman“ Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen (1912) die Künstlerklientel (sich eingeschlossen) im Café des Westens, genannt das Café Größenwahn. Auf diese Weise eigneten sich alle diese Autorinnen schreibend Handlungsmacht (agency) über ihr unmittelbares Lebensumfeld an. Lou Andreas-Salomé war der ironische Modus nicht gegeben. Als Interpretin ‚großer Geister‘ nahm sie sich zu ‚ernst‘ und wurde als Ausnahmefigur auch zu ernst genommen, um die Waffe der Lächerlichkeit zu benötigen. Allerdings ist auch hier der kühne Zugriff auf Deutung (und damit Macht über die Sphäre ihrer intellektuellen Beeinflussung) unübersehbar. Ihre Studie Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) gehörte zu den ersten umfassenden Würdigungen des dem breiten Publikum bis dahin unbekannten Philosophen. Auch Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud unterwarf sie ihrer tiefenhermeneutischen Interpretation. Womit zu einem letzten Strategem der Inszenierung und damit der Handlungsmacht (agency) zu kommen ist, nämlich dem der Selbsterhebung durch Adel oder Nobilitierung. gelegt. Andererseits werden genau diese Mechanismen dafür in Anspruch genommen, Identitäten und Identifikationen von Minderheiten vom Ausschluss zu befreien und zu ermächtigen“ (Muñoz 1999, 31); (meine Übersetzung). 68 Isabell Stauffer weist drauf hin, dass sie sich hier gleichzeitig der ironischen Modi der Dissimilatio und Simulatio bedient – beide Termini sind entwickelt bei Müller 1995, 11–14 –, wobei er als erstes das ‚Unwissend Stellen‘ meint (Herr Dame weiß nichts über Wahnmoching und nimmt somit die Position eines Ethnologen ein) und als zweites, die Simulatio, das ‚anspielend Zitieren‘, was bedeutet den Romanfiguren Ideologeme und Idées Fixes der Schwabinger Boheme in den Mund zu legen (Stauffer 2008, 15). 69 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Elsa Freytag-Loringhoven fungiert nicht als Autorin, obwohl alles Material und wohl viele Formulierungen nur von ihr stammen können. Der Titel ist ein Zusammenschieben von ‚Elsa‘ mit Reventlow, deren Geburtsname Fanny hier Pate gestanden hat. Für eine Entschlüsselung der Schwabinger Passagen siehe z.B. ‚Atelier Lesbos‘ für Atelier Elvira oder die Kommentare zu Ludwig Klages’ Antisemitismus’, der mit einer Droge ‚Phil-Ayran‘ dafür sorgt, dass alle Manuskripte eine Dosis Antisemitismus mitbekommen (Gammel 2002, 140).

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Am leichtesten auf diesem Feld hatte es Franziska Gräfin zu Reventlow, die ihrem alten Schleswig Holsteinischen Adel gewiss einige Sonderstellungen verdankte, insbesondere dem Skandalon der scheinbaren ‚Selbsterniedrigung‘ in die Boheme, die ihrer Umgebung einen gewissen Kontaktglanz verlieh. Elsa Freytag-Loringhoven erwarb ein Adelsprädikat durch die kurze Ehe mit einem Baron, genoss jedoch – als ‚DADA-Baroness‘ tituliert – gleichfalls die Aura der ‚gefallenen‘ Bohemienne. Lou Andreas-Salomé, ebenfalls adeliger Herkunft und in Russland als ‚Exzellenz‘ tituliert, erhob gleich das ganze weibliche Geschlecht in den Adelsstand. In dem Aufsatz „Der Mensch als Weib“ unterschied sie männliche (aktive) Parvenus und weibliche Ur-Aristokratie, die Schloss und Land besitze, und damit auch Schönheit und Vollständigkeit.70 Die grandioseste Strategie der Nobilitierung inszeniert Else Lasker-Schüler: Beginnend mit der Prinzessin Tino von Bagdad verwandelten sich ihre Erzählfiguren (und Alter-Egos) zunächst zum Prinzen von Theben, den die Bevölkerung schließlich in Der Malik (1916) zum Kaiser erhob. Die Selbstnobilitierung hat immer auch den Aspekt eines ‚Double Entendre‘, der Dekonstruktion von männlichem Machtanspruch. Die notorisch respektlose Else Lasker-Schüler griff sehr hoch. Wenn Prinz Jussuf (ihr Alter Ego im Malik) mit Pomp und Bevölkerungsfesten zum Kaiser ausgerufen wird, kommt dies nicht nur einer Selbstermächtigung der IchErzählerin in Form einer ‚Ethnic Drag‘ gleich,71 sondern, wie Siegrid Bauschinger herausarbeitet, gleichzeitig eine Parodie auf die hohle Fest- und Huldigungskultur des Kaiserreichs.72 Malik ist als imaginärer Dialog mit dem ‚Blauen Reiter‘-Maler Franz Marc konzipiert – und ihm gewidmet. Als Lasker-Schüler den Text niederschrieb, war Krieg. Der Adressierte selbst gab – noch einige Monate nach seinem freiwilligen Eintritt in die Armee – zu Papier: „Laßt uns Soldaten bleiben auch nach dem Kriege. [...] Dieser Krieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes.“73 Der Malik hingegen ließ verlauten, er sei „feste entschlossen, unter keinen Bedingungen sich an dieser Menschenschlacht zu beteiligen.“74 70 Andreas-Salomé 1899. Vgl. auch Martin 1991, 151. 71 Kategorie für die theatralische oder literarische Verkleidung in die Figur eines ethnisch Fremden bei gleichzeitigem Geschlechtswechsel (allerdings am westdeutschen Beispiel, vgl. Sieg 2009). 72 Bauschinger 2009, vgl. auch Sösemann 2003. Zum Zusammenhang von Malik und Kaiserkritik siehe auch Kirschnick 2007, 20 und Dietze 2011b. 73 Franz Marc „Das Geheime Europa“ (Ecksteins 1990, 128). 74 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Lasker-Schüler 1996c, 483. Diese Grundüberzeugung zeichnet auch die konkrete Person Lasker-Schüler aus. Ein anonymer Briefeschreiber meldete am 2. Dezember 1917 dem Berliner Kriegspresseamt aus Davos, dass Else Lasker-Schüler (mit u.a. Franz Werfel und Albert Ehrenstein) schon zu den „Nachmittagsthees“ ihre Wut gegen Deutschland „wie keifende Marktweiber vor den [sozialistischen] Jungbursch“ ausgelassen hätten (Höfert 2009, X). Auch Reventlow war, ähnlich wie Lasker-Schüler, nicht an den Niederungen politischer Auseinandersetzungen beteiligt. Sie war aber „erklärte Pazifi-

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Mit dem Ersten Weltkrieg verschob sich der Wahnsinnsdiskurs auf neue Figuren des Außenseiters. Während in der deutschen Mehrheitsmeinung Friedensaktivisten während der ersten beiden Kriegsjahre als ‚verrückt‘ im Sinne einer ‚moral insanity‘ (Prichard) oder eines antisozialen, gesellschaftsschädlichen Verhaltens galten, fanden sich in der Schweiz hilfreiche Psychiater wie das Ehepaar Strasser und Ludwig Binswanger, die Künstler wie die Dadaisten Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck mit psychiatrischen Gutachten vom Wehrdienst befreiten.75 In der Folge bezeugten Hunderttausende von Kriegsneurotikern einen epochenspezifischen Wahn-Sinn, der, zunächst zögerlich, dann aber immer intensiver, die Psychiatrie beschäftigte, das erste große Feld von Traumaforschung bei männlichen Patienten wurde – nach der weiblichen Hysterie. Und so kann man in neueren historischen Werken lesen: „Der erste Weltkrieg war ein kollektiver Wahnsinn ohnegleichen, der alle beteiligten Nationen erfasste.“76

Nachspiel: Traurige Impotenz 1896 übertitelte die satirische Zeitschrift Simplicissimus ihre Nummer vom 16. Mai mit ‚Wahnsinn‘. Das Cover zeigt die Rückenansicht eines Mannes auf einer Balustrade, der mit verkrampft ausgestreckten Händen auf eine große weiße ‚Erscheinung‘ deutet, auf der schwach das Gesicht einer Frau mit geschlossenen Augen zu erkennen ist. Die Bedeutung der rätselhaften Zeichnung erschließt sich mit der Lektüre einer Kurzprosa von Franziska Reventlow, ebenfalls ‚Wahnsinn‘ getitelt: Der Maler Gerd Sievers wollte „etwas Neues nie dagewesenes schaffen“, nämlich Eva vor dem Sündenfall, „mit vollen, noch unschuldigen Formen“, die „verlangend der Erkenntnis entgegen schnellen“.77 Der Maler suchte lange nach dem geeigneten jugendlichen Modell, versündigte sich aber im Laufe des Schaffensprozesses an der Unschuld und ‚verdarb‘ somit Motiv wie Bild. Er verfuhr mit mehstin“ (Stauffer 2007, 100) und unterstützte 1917 ihren Sohn Rolf, sich dem Gestellungsbefehl durch eine abenteuerliche Bootsfahrt über den Bodensee in die neutrale Schweiz zu entziehen (Hammerstein 1999, 302). 75 Höfert 2009, 63. 76 Hürter und Rusconi 2007, 17. 77 Reventlow 1896, 2.

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reren Modellen gleichermaßen, was Reventlow paradoxerweise mit den Worten beschrieb: „Es war eine traurige Impotenz in ihm, der er unterlag“. Schließlich wurde er irrsinnig und wegen Tobsuchtsanfällen hospitalisiert. Ein Jahr später als geheilt entlassen, suchte der Maler sein erstes Modell auf: „[E]s war herabgekommen und schlecht geworden wie die anderen“. Aufgeregt eilt er in einen nächtlichen Park. Doch anstatt sich zu beruhigen, sieht er in der „weiße[n] Springsäule“ eines Brunnes „ein Weib sich“ bemühen, „Gestalt zu gewinnen“ (was das Titelbild des Simplicissimus zeigt). Der Künstler schreit auf: „Gerd Sievers war wieder wahnsinnig geworden und diesmal endgültig“.78 Auf den ersten Blick gleicht die Prosa einem Genrestück in der schwarz-romantischen Tradition eines Nathanael Hawthorne oder Edgar Allan Poe, in dem die Künstler, wie Elizabeth Bronfen überzeugend argumentiert, dann zur Vollendung ihrer Vision kommen, wenn das weibliche Objekt ihrer Begierde tot ist.79 Reventlows Geschichte läuft jedoch anders. In ihr scheitert der Künstler. Sein Modell entspricht auch nicht einer beseelten Angebeteten, sondern bleibt ein künstlerisch zu beseelendes ‚süßes Mädel‘, das an der irdischen Begierde des Malers zugrunde geht. Nun fragt sich, was in diesem Fall den ‚Wahnsinn‘ auslöst. Eingedenk der Tatsache, dass der Text von einer Bohemienne und bekennenden Libertine verfasst ist, soll hier behauptet werden, dass der Wahnsinn nicht im Künstler, sondern im Wandel des Geschlechterverhältnisses und dessen ungleicher sexueller Ökonomie zu suchen ist. Diese bestand darin, dass zeitgenössische Maskulinität in die Dichotomie von Heilige und Hure gezwungen war (wie oben gezeigt hat Reventlow das in das Gegenprogramm von Hetäre und heidnische Madonna transferiert) und damit, radikal zugespitzt, die sexuell angeeignete Frau nicht lieben konnte und die geliebte Frau nicht begehren durfte. ‚Normalerweise‘ wurde nicht der Mann ‚irre‘ an einer Geschlechterordnung, von der er profitierte, sondern ,Gretchen‘ zahlte den Preis allein. In ihrem Essay „Das Männerphantom der Frau“ 1997/98 protokolliert Reventlow aber eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse: „Im Allgemeinen hat die Frau von heutzutage es aufgegeben das ‚Gretchen‘ zu mimen.“80 Der Künstler scheitert so gesehen an dem Versuch, die Heilige im ‚chronischen Gretchen‘ zu finden. Die Replik von Else Lasker-Schüler an der Polemik gegen ihr Gedicht, die den Ausgang meiner Überlegengen bildet, erlaubt also auch eine umgekehrte Lesart: Nicht der Irrsinn bestimmt mehr und mehr die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst ist der Irrsinn. Und dieser ist für alle Beteiligte entlang des Abgrunds, der die Geschlechter trennt, gleichermaßen unkontrollierbar und nicht zu beherrschen. Eine solche Normalität des Wahnsinns beschreibt Reventlow folgendermaßen: „Ich 78 Ebenda 3. 79 Siehe den sprechenden Titel Nur über ihre Leiche (Bronfen 1996). 80 Reventlow 1896/1897.

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denke viel über mich selbst nach. Alles ist immer quer gegangen in meinem Leben, zu Hause und später, das wahnsinnige Übermaß an Lebenskraft und die Gefangenschaft daheim. Das hat mich aus allem Gleichmaß gebracht, immer ist es übergeschlagen mit mir. Ich war jemand, der nicht normal seinen Weg gehen konnte, immer in Purzelbäumen.“81

Postscript – ‚Figuration im Skandal‘ Die hier angestellten Überlegungen sollten eine zeitspezifische Durchlässigkeit von Kunst und Leben einerseits und Individuum und Gesellschaft andererseits zeigen, die sich mit den Figurationen weiblicher Boheme im frühen 20. Jahrhundert artikuliert. Sexueller Nonkonformismus wurde in den Modi Skandal und Wahnsinn verhandelt. Die Arbeitsergebnisse bilanzierend ist eine nochmalige Präzisierung und Adaption des Begriffs der Figuration angebracht. Die bisherige binäre Konzeptionalisierung Kunst/Leben, Individuum/Gesellschaft scheint in der Rückschau etwas zu begrenzt und soll in der Zusammenschau in eine trianguläre Modellierung Kunst (Performance)/Individualität (Leben) als ‚Sexuelle Moderne‘ und bürgerliche Gesellschaft aufgelöst werden. Letztere wertet als Beurteilungsinstanz die verdächtigen Boheme-Vermischungen und gibt damit, wie oben vorgeführt, die Transgressorin dem Wahnsinnsstigma anheim. Damit ist allerdings nur die Rezeptionsseite beschrieben. Wie die Analyse von Reventlows Erzählsettings im Geldkomplex und die geschilderten Strategien der ernst/ ironischen Nobilitierung samt parodistischer Rückspiegelung der Lebensstilrevolten durch Literatur zeigen, betrifft der Figurationsbegriff auch die produktive Seite. Auch die literarische Form und der ironische und parodistische Erzählgestus produzieren Durchlässigkeiten auf dem Dreieck Kunst/Leben/Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Die Abwesenheit von Trennschärfe ermöglichte einerseits den Wahn und gab andererseits den Figurationen Sinn. Mit ‚Sinn‘ meine ich die Weise, in der sich eine Vor- oder vielleicht am besten Unzeitigkeit von libertären weiblichen Verhaltensmodi manifestierte, für die es keinen zeitgenössischen gesellschaftlichen Rahmen gab. Sie machten auf den vorhandenen Bühnen ‚keinen Sinn‘ und wurden deshalb auch als ‚Wahnsinn‘ apostrophiert. Im Schwellenraum Skandal konnten Ausdrucksformen einer Sexuellen Moderne jedoch er- und geprobt werden. Wenn man den Skandal als einen Zwischen-, Transfer- oder Grenzraum begreift, dann fokussiert diese analytische Perspektivierung nicht das Ergebnis (das für verschiedene Parteien durchaus unterschiedlich sein kann), sondern den Tumult und die Vielstimmigkeit, bevor der Skandal gelöst oder befriedet wurde und der Normbruch sanktioniert oder in einem neuen Normengefüge aufgegangen war.82 Bei einer solchen Perspek81 Tagebucheintrag von 28.04.1897 (Reventlow 2004d, 54f ). 82 Klaus Laermann spricht von Skandalen als „primitive[n] Normenkontrollklagen“ (Laermann 1984,

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tivierung geraten auch jene Kräfte in den Blick und es kommen jene Stimmen zu Wort, die seinerzeit nicht gewonnen haben. Eine solche Perspektive eröffnet dem hier vorgestellten Unternehmen einen heuristischen Vorteil. Sie zeigt, was hätte anders sein können (nostalgische Dimension) oder was anders sein könnte (utopische Dimension). Sie legt die Formation einer frühen Sexuellen Moderne frei, mit der Modelle weiblicher agency erprobt wurden. ‚Wahnsinn‘ wurde dabei, um den Titel des Aufsatzes aufzunehmen, zu einem ‚Gehäuse‘ für Exzentrizität. Als ‚ver-rückt‘, oder als jenseits des Zentrums befindlich angesehen zu werden, wurde zu einer Plattform, sich der Beurteilung zu entziehen oder sich gegen Stigmatisierung strategisch zu immunisieren. Das Wahnsinnsetikett zu akzeptieren machte so lange ‚Sinn‘, wie wichtige Akteure einer sich liberalisierenden Öffentlichkeit (z.B. später in der Weimarer Republik) die Boheme als antibürgerlichen ‚Exzess‘ romantisierten. Diese Entwicklung wurde im Faschismus erstickt und erst wieder zur ‚Zweiten Sexuellen Revolution‘ in den Sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts wieder aufgenommen. Auch hier spielten die Wissensformationen Psychoanalyse (Wilhelm Reich), Sexologie und (Anti-)Psychiatrie eine entscheidende Rolle für die Herausbildung ‚ver-ückter‘ Handlungsmacht.

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Sophia Könemann und Benjamin A. Marcus

„Einunddreißig Zöpfe? Wahnsinnstaten“ – Ein Haarfetischist im öffentlichen Diskurs

Der endlich gefasste Zopfabschneider. Schrecklich wütete ein Zopfabschneider Alle lebten schon in Angst und Graus, Und er trieb es allzulange leider, Jetzo fing man ihn am Opernhaus. Sah er wo zwei blonde dicke Zöpfe, Nahte er in lautlos stillem Trab. Manchem jugendweiblichen Geschöpfe, Schnitt der Unhold hinten etwas ab. Nie bemerkt von allen Polizisten, Stahl er Mädchenzöpfe früh bis spat, Und er schwelgte in geheimen Lüsten, Wenn er sie in seinen Schreibtisch tat. Wer versteht dies seltsame Gebahren, Und wer macht sich darauf einen Vers? Alle, die in diesem Fach erfahren, Äußerten: der Jüngling sei pervers. Einunddreißig Zöpfe? Wahnsinnstaten Ohne Zweck beging der junge Mann, Weh, – den Zopf von Preußens Bureaukraten, Diesen allerdicksten ließ er dran... Gottlieb.1

Im Jahr 1905 führen ungewöhnliche Vorfälle zu einer „gewaltige[n] Aufregung“ der Berliner Öffentlichkeit: Es werden mehrere Fälle bekannt, in denen Mädchen im Gedränge die Haare abgeschnitten wurden – ein Zopfabschneider geht um, „keine Dame fühlte sich auf der 1

Der Tag, 30.01.1906. Zu „Gottlieb” (Alfred Kerr) siehe weiter unten.

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Straße ihres Zopfes mehr sicher“. „An jedem Tage fast wurde gemeldet, daß bald da, bald dort einem Mädchen ihr schöner, langer Zopf mit einer scharfen Schere glatt abgeschnitten worden sei, ohne daß die auf solche Weise ihres stolzesten Schmuckes Beraubte etwas davon gemerkt hätte.“2 Entsprechend groß ist das öffentliche Interesse, als im Januar 1906 der Schiffbaustudent Robert Stoß auf frischer Tat ertappt und kurze Zeit später vor Gericht gestellt wird. Der Fall des Zopfabschneiders Stoß bietet in seiner Spezifik einen Ausgangspunkt, von dem aus das Verhältnis von „Wahnsinn“ und Öffentlichkeit untersucht werden kann: Er bewegt sich im Schwellenraum zwischen Justiz und Psychiatrie, zwischen Geisteskrankheit und Verbrechen, er affiziert verschiedene Formen von Öffentlichkeit, indem er dem städtischen Leben und der Zeitungsberichterstattung als diffuse Bedrohung erscheint. Die Stadt ist nicht bloß Schauplatz der Taten, ihre Menschenmengen sind Orte der Versuchung und Voraussetzung für das Gelingen. Gegenstand des folgenden Beitrags ist die Berichterstattung in unterschiedlichen Zeitungen über den Fall des Berliner Zopfabschneiders. Nach einer einführenden Verortung des Zopfabschneiders im öffentlichen und sexualwissenschaftlichen Diskurs und einem kurzen Abriss der Stationen im Leben von Robert Stoß stehen die Stadt als konstitutives Umfeld der Taten, die publizistische Darstellung des Täters und der Gerichtsverhandlung sowie die öffentliche Konstruktion einer pathologischen Persönlichkeit im Zentrum unserer Analyse. Neben Artikeln aus der Tagespresse fließen auch weitere literarische und bildliche Darstellungen in unsere Untersuchung mit ein, anhand derer das ausgeprägte Interesse der städtischen Öffentlichkeit an Stoß’ „Wahnsinnstaten“ deutlich wird.3

„Der Zopfabschneider (Coupeur de nattes oder Hair-Despoiler) findet sich in jedem zivilisierten Lande ...“ 4 – Das Phänomen im öffentlichen und sexualwissenschaftlichen Diskurs Die Taten Robert Stoß’ stellen an sich kein Novum dar. Das Grimm’sche Wörterbuch führt einen Beleg von 1866 an und definiert Zopfabschneider als „männer, welche aus krankhaftem triebe jungen mädchen die zöpfe abschneiden“5. Auch auf der Bühne fallen in der Mitte des 2 Wulffen 1921, 536. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������� Entsprechend wird Stoß’ umfangreiche Patientenakte nur am Rande berücksichtigt. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 29087. 4 Moll 1921, 635. 5 Grimm 1845–1960. Der dieser allgemeinen Definition vorausgehende Verweis auf die Augsburger allgemeine Zeitung von 1866 „die groszen zopfabschneider der menschheit haben zu allen zeiten, auch wenn an den zöpfen gelegentlich einige köpfe hängen geblieben sind, zu ihren wohlthätern gehört“,

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19. Jahrhunderts die Zöpfe: Die allgemeine Aufregung, die mit dem unerkannten Agieren von Zopfabschneidern in München einhergeht, hat Ferdinand Fränkel in seinem Lustspiel Ein Zopfabschneider. Gelegenheits-Schwank in Szene gesetzt: „Zittert, wenn einer zu Euch schleicht, / Es könnte sein nur gar zu leicht / A Zopfabschneider! Zopfabschneider“6. Weitere volkstümliche Stücke und Operetten haben Zopfabschneider zum Gegenstand.7 Im Französischen ist der Begriff „coupeur de nattes“ geläufig, zumal in Paris in den 1890erJahren einige ähnliche Fälle publik werden. Während im englischen Fachdiskurs die Bezeichnungen „hair-despoiler“, „braid-cutter“ und selten „capillary kleptomaniac“ gebraucht werden, etabliert sich in der Chicagoer Presse „Jack the Clipper“, als mehrfach Zopfabschneider die Öffentlichkeit verunsichern – die Täter werden personalisiert und in die Nähe von Mädchenmördern gerückt. In der sexualpathologischen Literatur fehlen Beispiele von Zopfabschneidern in kaum einer Darstellung. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing hebt sie in seiner „Psychopathia sexualis“ als „forensisch wichtige Categorie“ hervor, da nicht selten „der zum übermächtigen Impuls gewordene Haarfetischismus dergleichen Individuen zu Delicten hinreisst.“8 Albert Moll berichtet ausführlich über einen jugendlichen Zopfabschneider, der aufgrund seines Gerichtsgutachtens als „zurechnungsunfähig“ freigesprochen wurde, da seine „gesetzeswidrigen Handlungen“ „perverser Natur“ gewesen seien.9 Robert Stoß selbst geht bald nach seiner Verurteilung in die Fachliteratur ein. Bereits 1907 zitiert der Arzt und Sexualforscher Iwan Bloch ausführlich die Berichterstattung über die Gerichtsverhandlung, ergab sie doch „so interessante Aufschlüsse über die Entwicklung, Psychologie und Betätigung des Zopffetischismus, daß sie der Erinnerung wert ist“.10 Die ironische Feststellung, „[a]lle, die in diesem Fach erfahren, äußerten: der Jüngling sei pervers“11, sollte sich als nahezu prophetisch erweisen: Kaum eine deutschsprachige Fallsammlung zum Haarfetischismus erscheint in den folgenden Jahren, in der sein Fall nicht erwähnt würde. Magnus rekurriert höchstwahrscheinlich auf die symbolische Bedeutung des Zopfes, die im Zusammenhang mit den Zopfabschneider-Karikaturen weiter unten diskutiert wird. 6 Fränkel 1858, 34. 7 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Floto 1858; Genée 1866. Auch in der modernen Literatur wurde das Motiv des Zopfabschneiders kürzlich wieder aufgegriffen. In Jean-Pierre Kellers „La Solitude du coupeur de nattes“ (Keller 2003) treibt es einen Studenten im Paris der Achtzigerjahre um: „Zopfabschneider = archaischer Jäger. Die Stadt ist sein Wald. Die Straße seine Pirsch. Die Frau, sein Wild. Der Zopf, seine Trophäe.“ [Übersetzung BAM] 8 Krafft-Ebing 1894, 168. In einer Fußnote nimmt Krafft-Ebing die sehr seltenen Fälle aus, in denen „der geraubte Zopf Waare, nicht Fetisch ist.“ 9 Moll 1898, 774ff. 10 Bloch 1907, 677. 11 Der Tag, 30.01.1906.

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Hirschfeld, Gründer des ersten Instituts für Sexualwissenschaft, beschreibt Robert Stoß’ wiederholte Taten ausführlich im Kapitel zum Fetischismus und leitet die Ausführungen mit folgenden Worten ein: „Ich hatte Gelegenheit, einen der bekanntesten Zopfabschneider unserer Zeit, den von verschiedenen Koryphäen begutachteten Studenten St. persönlich kennen zu lernen.“12 Diesem Einzelfall kommt also für die sexualpathologische Eingrenzung und Definition der wohl manifestesten Form des Haarfetischismus eine herausragende Bedeutung zu. Das fachliche Interesse führender Vertreter der aufkommenden Sexualwissenschaft war dabei nicht zuletzt der enormen Publizität des Falles geschuldet. Als Robert Stoß’ Taten Furore machen, dürften sich viele Berliner ZeitungsleserInnen an Berichte erinnert fühlen, die ein paar Jahre zuvor kursierten: Bereits 1895 hatte ein jugendlicher Zopfabschneider in der Stadt die Runde gemacht und für Aufsehen gesorgt, wenn auch in geringerem Maße.13

„Der Angeklagte war bei seinen Taten sicher gemütskrank und ist auch jetzt noch krank.“ 14 – Die Dokumentation des Berliner Zopfabschneiders Über den Prozess gegen Robert Stoß im März 1906 wird in Berliner Zeitungen jeder Couleur15 breit berichtet, wobei die gesteigerte Aufmerksamkeit für Strafprozesse auch in seriösen 12 Hirschfeld 1920, 37. 13 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Moll 1898, 775: „Mitte Dezember 1895 ging durch die Berliner Blätter folgende Notiz. ,In die Zöpfe kleiner und mittelgroßer Mädchen hatte sich ein fünfzehnjähriger Bursche, Realschüler, verliebt. Kriminalbeamte, die am Mittwoch Abend auf der Strasse auf Taschendiebe fahndeten, bemerkten einen jungen, schlanken Menschen, […] der sich in auffälliger Weise an halbwüchsige Mädchen drängte. Hierbei bemerkten die Beamten, dass der Junge die Zöpfe der Mädchen befühlte, eine Schere aus der Tasche zog und in vorsichtiger Weise den Zopf mit Haarschleife abschnitt. Am Mittwoch Abend sind dem Burschen sechs Zöpfe zum Opfer gefallen. Eine Untersuchung der elterlichen Wohnung des Thäters förderte eine ganze Zahl von Zöpfen zu Tage. Sogar die Zöpfe der Wachsfiguren in den Panoptiken waren vor der Schere des Burschen nicht sicher gewesen. Als Ursache zu den Zopfräubereien gab der Knabe an, dass er gern Haar kämme und streiche.‘“ In der Zeitung Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg wird über einen Zopfabschneider in einer Pesther Kirche berichtet, vgl. Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg, 29.12.1865 (http://wafr.lbmv.de/wafr_org.php?action=1865-12-29&nr=100&s=2, letzter Zugriff am 20.05.2011). 14 Vossische Zeitung, 06.03.1906. 15 Zur politischen Einordnung s. Stöber 2000. In den von uns für den Tatzeitpunkt und den Prozess systematisch durchgesehenen Berliner Tages- und Wochenzeitungen waren jedoch keine Hinweise auf eine politisch motivierte Nuancierung der Darstellung des Tatgeschehens, des Prozesses und des Angeklagten erkennbar. Die meisten Meldungen beschränken sich im Wesentlichen auf die mehr

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Tageszeitungen um die Jahrhundertwende durchaus charakteristisch ist.16 In der Berichterstattung werden sowohl Stoß’ voller Name als auch in der Verhandlung dargelegte Details aus den forensisch-psychiatrischen Gutachten der Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Es wird deutlich, dass die plastische Beschreibung seiner Lebensgeschichte und damit die öffentliche Charakterisierung eines als deviant verstandenen Individuums für die Dokumentation des Falls eine besondere Rolle spielt. Der in Valparaíso geborene, aber bereits 1888 mit den Eltern nach Norddeutschland zurückgekehrte Stoß habe schon als Jugendlicher heimlich seiner älteren Schwester Haarsträhnen abgeschnitten. Nach dem Abitur in Hamburg und einem Studienaufenthalt in München wechselte er an die Technische Hochschule in Charlottenburg, um Schiffbau zu studieren. Nachdem er von einer längeren Schiffsreise als Maschinenvolontär nach Berlin zurückgekehrt war, habe er sich immer stärker von den herunterhängenden Zöpfen junger Mädchen angezogen gefühlt, er habe ihnen heimlich nachgestellt und dann dem „unwiderstehlichen Trieb“ nachgegeben, in ihren Besitz zu gelangen. Die Presse berichtet, er habe die 31 bei ihm sichergestellten Zöpfe in einem Erinnerungskästchen aufbewahrt, sie aber oft hervorgeholt, um sich damit „wonnige Träume“ zu verschaffen. Sexuelle Kontakte zu Frauen hatte er als Mitglied eines Keuschheitsvereins jedoch keine. Das Gericht folgt den Ausführungen des Sachverständigen Medizinalrats Arthur Leppmann, der eine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 des Strafgesetzes ausschließt und spricht Stoß frei, „in der Erwartung, dass er sofort durch die Familie einer Anstalt zugewiesen wird“17. Der Dokumentation des Falls ist zu entnehmen, dass Stoß in der Schöneberger Maison de Santé behandelt wird, worauf ein längerer Aufenthalt im Sanatorium Buchheide in Stettin folgt. Anschließend setzt er sein Studium in Braunschweig fort. Bei einem Besuch seiner Mutter in Hamburg wird er, wie die Presse berichtet, im April 1908 erneut beim Zopfabschneiden verhaftet und verbringt nach neuerlicher forensischer Begutachtung mehrere Monate in der Irrenanstalt Friedrichsberg. Sein Studium kann er nach einem Aufenthalt in den Kuranstalten Westend dann in Braunschweig 1910 abschließen und tritt als Schiffsingenieur eine Reise nach Südamerika an. In Buenos Aires wird er wieder ertappt, als er eine Diplomatentochter ihrer Zöpfe beraubt, und in das Hospicio de las Mercedes eingewiesen.18 Er kehrt oder weniger ausführliche Wiedergabe der Angaben aus dem Polizeibericht bzw. der in der Verhandlung vorgebrachten Argumente und sind teilweise nahezu identisch in ihren Formulierungen. Darin unterscheidet sich der Fall Stoß durchaus von noch breiter „skandalisierten“ Fällen, s. z.B. Bösch 2009 oder Siemens 2006. 16 Siemens 2007, 62. 17 Vossische Zeitung, 06.03.1906. 18 Tägliche Rundschau, 29.10.1912. Der Zeitungsausschnitt ist in Stoß’ Friedrichsberger Krankenakte eingeklebt.

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zurück nach Deutschland, um im Weltkrieg „seine Kräfte in den Dienst des Vaterlandes zu stellen“, und kann danach anscheinend eine Zeit lang in ständiger Begleitung durch seine Ehefrau von weiteren Taten abgehalten werden.19 Dass dies aber nur von kurzer Dauer ist, belegt die letzte seiner Friedrichsberger Akte beigefügte Abschrift einer Zeitungsnotiz: Im August 1920 wird er beim Taschendiebstahl verhaftet, und die Durchsuchung seiner Wohnung fördert neben Wertgegenständen auch 150 Zöpfe junger Mädchen zu Tage. „Er benutzte jede Ansammlung und jedes Gedränge auf der Untergrundbahn, der Stadtbahn usw., um in die Nähe junger Mädchen zu gelangen und sie ihres Haarschmuckes zu berauben.“20

„... ganze Städte werden ausgeraubt, Berlin, Hamburg, Braunschweig, London, Stockholm, und immer nur schöne Zöpfe ...“ 21 – Der Zopfabschneider und die Stadt Der städtische Raum scheint für das Phänomen des Zopfabschneidens konstitutiv zu sein. Die Unüberschaubarkeit der städtischen Menschenmenge erlaubt es, in aller Öffentlichkeit unbemerkt Zöpfe abzuschneiden. So äußert Robert Stoß, nachdem er in Braunschweig einigen Mädchen im Gedränge die Zöpfe abgeschnitten hat, „er habe geahnt, daß er bei dem Trubel aus Anlaß des Einzuges des Herzog-Regenten leicht wieder einige Zöpfe abschneiden könne, das hätte ihn schon Wochen vorher beschäftigt und gequält“22. Bis auf Braunschweig sind es bei ihm große Städte wie Berlin und Hamburg, später Buenos Aires, deren Menschenansammlungen Schauplatz und Bedingungen seines Begehrens werden. Weitere um die Jahrhundertwende bekannt gewordene Fälle aus Paris und Chicago bestätigen, dass der Zopfabschneider ein Phänomen der Großstadt ist.23 Gelegenheiten, Haare abzuschneiden, bieten in Berlin vor allem Ereignisse mit großem Publikumsaufkommen auf den Straßen wie der Einzug der Kronprinzessin oder des Königs von Spanien.24 Am 28. Januar 1906 wird Robert Stoß festgenommen, als er erneut versucht, während der Feierlichkeiten zum Geburtstag des Kaisers, als die zentralen Straßen von einer prachtvollen Installation elektrischen Lichts erleuchtet werden, einem Mädchen den Zopf abzuschneiden. Obwohl Robert Stoß während 19 20 21 22 23

Hirschfeld 1926, 117. BZ am Mittag, 25.08.1920. Buchholz 1908, 423. Buchholz 1908, 422. „Chicago’s ,Jack the Clipper’“, New York Times, 12.02.1898; vgl. auch: Chicago Daily Tribune, 22.01.1896. 24 „Zum ersten Mal habe ich am Tage des Einzuges der Kronprinzessin einem Mädchen einige Haare abgeschnitten […] Im November bei dem Einzug des Königs von Spanien. Da habe ich beim Opernplatz einem Kinde den Zopf abgeschnitten“, Berliner Intelligenz-Blatt, 06.03.1906.

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der Illumination verhaftet wird, scheint dieses öffentliche Spektakel sein Tätigwerden zu begünstigen. „Zum Geburtstag des Kaisers war er besonders von Charlottenburg nach Berlin gekommen, um in dem Gedränge eine Gelegenheit zum Zopfabschneiden zu suchen“25. Die Aufmerksamkeit der Menge ist auf die Lichtinstallationen gerichtet, die sich, wie vom Berliner Lokal-Anzeiger beschrieben, vor allem Unter den Linden und in den angrenzenden Straßen befinden. Der Lokal-Anzeiger berichtet hierzu: Die Illumination an Kaisers Geburtstag bleibt immer ein gewaltiger Anziehungspunkt für die große Menge, die mit Kind und Kegel nach den Linden und der Friedrichstadt zieht, wo Tausende und Abertausende farbiger Lichter ein herrliches Schauspiel bieten. [Das schlechte Wetter] erwies sich für die Schaulustigen so wenig als ein Hinderungsgrund, daß die Hauptstraßen dicht gefüllt waren und die Polizei oft Mühe hatte, den Verkehr in die richtige Bahn zu lenken26.

Die Lichtinstallation auf den Straßen und an den Kaufhäusern ruft also die Schaulust des Publikums und die Ansammlung einer Menschenmenge hervor. Berlin wird als „Lichtmeer“27 inszeniert und als Bühne der Moderne, des Luxus und Glamours präsentiert – in der Weimarer Republik entwickelt sich die von elektrischem Licht erstrahlende Stadt zum Emblem der ‚goldenen Zwanziger‘.28 Öffentliche Spektakel, bei denen die Aufmerksamkeit der Menge vollständig gebannt ist, scheinen eine ideale Konstellation zu sein, in der ein Zopfabschneider tätig werden kann. Der Zopfabschneider erscheint damit als Figur des städtischen Lebensraums. Er bewegt sich innerhalb spezifischer örtlicher Begebenheiten, die sein Tätigwerden bedingen. Zugleich fügt er sich in Imaginationsmuster des großstädtischen Lebens ein: Die in Kunst und Literatur der Jahrhundertwende immer wieder heraufbeschworene Imagination der Großstadt Berlin als „Hure Babylon“, als Sündenpfuhl und Ort, an dem sich sinnliche Verlockungen und Gefährdungen an jeder Ecke finden29, erweist sich auch für die Berichterstattung über den Berliner Zopfabschneider als prägend. Neben der Möglichkeit, in der Menge unbemerkt unterzutauchen, kann die Ansammlung von Menschen auf engstem Raum auch als Situation verstanden werden, die das Begehren erst hervorruft. Robert Walser schildert in seinem Aufsatz Friedrichstraße, der im August 1909 in der Neuen Rundschau erschienen ist, die Ambivalenz von Verlockung durch die Menschenmenge der Großstadt Berlin und der Notwendigkeit, Begierden, die zwischen den dicht gedrängten Körpern aufkommen, zu mäßigen: 25 26 27 28

Berliner Morgenpost, 30.01.1906. Berliner Lokal-Anzeiger, 28.01.1906. Bergius 1986, 116. Ein Zopfabschneider in Chicago wird ebenfalls gefasst, als er versucht Zöpfe abzuschneiden, während die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf ein brennendes Haus und die Löscharbeiten gerichtet ist. Vgl. Anonym 1889, 327; Krafft-Ebing 1894, 169, 171. 29 Vgl. Bergius 1986.

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„Eine Fessel ohnegleichen bändigt und sänftigt hier die Leidenschaften, und Verlockungen ohne Zahl führen zugleich in die begehrlichen Versuchungen, derart, daß die Entsagung mit dem Rockärmel den Rücken der befriedigten Begierde streifen […] muß“30. Sobald es dunkel werde, beginne aber die „Sirene Vergnügen […] in himmlisch lockenden und anmutenden Tönen zu singen“31. Die Sirene als Bild der Verführung in der Stadt lässt einerseits die Verlockungen der Großstadt als weiblich erscheinen und verweist zugleich auf das von Robert Stoß begehrte Haar. Das Begehren des Haarfetischisten richtet sich nicht auf die Sirene als betörend singende Chimäre, sondern auf das wallende Haar, das in vielen Sirenen-Darstellungen bis hin zur Lorelei als sichtbares Attribut weiblicher Schönheit hervortritt.

„Hoffentlich gelingt bald die Festnahme des Unholds.“ 32 – Szenarien der Bedrohung Die Aufregung, die der plötzliche Verlust von Zöpfen in der Stadt auslösen kann, schildert J.S. Loewenstein in der psychiatrischen Monats-Schrift Der Irrenfreund und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Geistesepidemie“33: Ein panischer Schrecken hatte sich im November des Jahres 1859 der gesammten jungen Mädchenwelt und deren Angehörigen in Frankfurt a/O. bemächtigt, denn vom 2. bis zum 22. desselben Monats wurden in hiesiger Stadt fast täglich, meistens in den Abendstunden, junge Frauenzimmer [...] nach ihrer Aussage von einem oder mehreren ihnen völlig unbekannten Männern plötzlich angehalten und mit roher Gewalt ihrer Haarzöpfe durch Abschneiden beraubt.34

Das Rätsel um den Verlust der Zöpfe löste sich allerdings in dem von Loewenstein geschilderten Fall in ungewöhnlicher Weise. Es habe sich schließlich herausgestellt, dass die betroffenen Mädchen und Frauen sich selber die Zöpfe abgeschnitten und jeweils nur vorgegeben hätten, überfallen worden zu sein. Loewensteins Darstellung demonstriert das öffentliche Interesse und die Faszination, die von unerkannt agierenden Tätern ausgeht, zumal in Frankfurt die Sicherheitsvorkehrungen intensiviert und vermeintliche Täter öffentlich bezichtigt wurden. Nach den Geständnissen der Betroffenen sei es zu keinen weiteren Verlusten von Zöpfen gekommen. Loewenstein führt das darauf zurück, „dass das mystische, gleichsam poetische Dunkel, welches die Haarplünderung umgeben hatte, plötzlich des geheimnisvollen

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Walser 1985, 76f. Ebenda, S. 79. Berliner Lokal-Anzeiger, 29.11.1905. Loewenstein 1864, 129. Ebenda, 130f. Hervorhebungen im Original.

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Zaubers entkleidet, und dass die heroische Handlung der jungen Verirrten aus der Sphäre des Schauerlich-Mystischen ins Gebiet des Lächerlichen verwiesen war“35. Mit der Rede von „Geistes-Epidemien“ pathologisiert der Autor sowohl die vorgeblichen Opfer als auch die Öffentlichkeit: „Was jedoch die Verirrung zum Irrthum, den Irrthum zum Wahn, den Wahn zum Wahnwitz in schreckhaft wachsender Progression steigert, das ist der Umstand, dass das Volk stets von allem Mysteriösen, Wunderbaren, Ungeheuerlichen mit gleichsam magnetischer Kraft angezogen wird“36. Der Fall des Berliner Zopfabschneiders nimmt mit der Festnahme des Studenten Robert Stoß einen gänzlich anderen Verlauf. Seine Ergreifung im dichtesten Gedränge hängt jedoch mit den Sicherheitsvorkehrungen zusammen, mit denen am Kaisergeburtstag der unüberschaubar gewordenen Menschenmasse aufgrund der ihr zugeschriebenen diffusen Bedrohung begegnet wird. Die Überwachung durch die Polizei ist an diesem Tag intensiviert: Es gibt eine „Sonderpatrouille“, die beobachtet, wie ein junger Mann sich auffallend in der Nähe eines kleinen Mädchens, das das Haar in einem langen Zopf geflochten trug, herandrängte. Die Beamten beobachteten den Mann eine Weile und griffen zu, als er gerade im Begriffe stand, den Zopf abzuschneiden37.

Nach seiner Ergreifung wandelt sich die Berichterstattung der Zeitungen über die vom Zopfabschneider ausgehende Gefährdung: Die bis dahin diffuse Bedrohung durch den „mysteriöse[n] Zopfabschneider“38 wird in der Person Robert Stoß greifbar.39 Am 18. Dezember 1905 berichtet der Berliner Lokal-Anzeiger noch im Plural über „Die Zopfabschneider“, nimmt aber bereits vorweg: „Vielleicht handelt es sich um einen Geisteskranken“40 und am 29. November 1905 spricht der Lokalanzeiger von einem „unnützen Bursche[n]“, der „in den belebten Straßen Berlins sein Unwesen“ treibt und Zöpfe abschneidet, „ohne daß er von dem Mädchen oder ihren Begleitern bemerkt worden wäre“41. Der schon vorab unterstellte Wahnsinn lässt sich auf eine Person fokussieren: In das Zentrum der Berichterstattung rückt ein Individuum mit „perverse[r] Neigung“, ein „22 Jahre alter Student der Schiffsbaukunde“, der „schon als Knabe seiner Schwester den Zopf abgeschnitten und seit dem November sich gezwungen gefühlt habe, die Zöpfe junger Mädchen abzuschneiden“42. In nahezu jeder Berliner 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebenda, 133. Ebenda, 135. Berliner Tageblatt, 29.01.1906. National-Zeitung, 07.03.1906. Zur Spezifikation von Gefahr vgl. Foucault 2003a; Krasmann 2010. Berliner Lokal-Anzeiger, 18.12.1905. Berliner Lokal-Anzeiger, 29.11.1905. National-Zeitung, 30.01.1906.

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Zeitung wird neben dem Bericht über die Festnahme durch die Polizei die Lebensgeschichte, soweit zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, dargestellt. Auch auf die vermutete pathologische Sexualität, die Zahl der in der Wohnung gefundenen Zöpfe und die Schwärmerei Robert Stoß’ wird eingegangen. Betroffene werden gebeten, sich bei der Polizei zu melden. Detaillierter fallen die Reportagen über den Prozess aus, indem sie die Vernehmung des Angeklagten durch den vorsitzenden Richter teilweise im Wortlaut wiedergeben; die psychiatrischen Gutachten, die zu Robert Stoß’ Freispruch wegen mangelnder Schuldfähigkeit führen, werden zitiert. Diese Zitate vermitteln das Bild eines geisteskranken Individuums, eine erbliche Belastung, Tagträumereien und auftretende Wahnzustände werden hervorgehoben und seine Unzurechnungsfähigkeit festgestellt.43 Es wird nach dem Beginn seiner Neigung, nach deren Motiven gefragt und geschildert, wie Robert Stoß die Zöpfe aufbewahrt und seine Lust ausgelebt habe. Die Verwendung des Begriffs der „perversen Neigung“ in der Presse zeugt von der Popularität, die die Terminologie der Sexualpathologie bereits kurz nach der Jahrhundertwende erfahren hatte.44 Die Sensationslust, mit der sich die Menge der Darstellung der Lüste und der Geschichte eines Individuums in der Massenpresse zuwendet, ähnelt der Schaulust, die das Spektakel der Illumination auf den Straßen der Stadt begleitete. Nachdem er im Schatten der Illumination agiert hat, tritt er mit der Darstellung seines Prozesses in der Presse in das Licht der Öffentlichkeit. Die Presseberichte eröffnen die Möglichkeit, voyeuristisch an den Lüsten des Zopfabschneiders teilzuhaben, wenn Details aus dem Sexualleben Robert Stoß’ bekanntgeben werden: „Die abgeschnittenen Haare habe er sich auch öfter auf die Brust und auf das Herz gelegt und dabei wonnige Träume gehabt“45.

„Während der Verhandlung wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse aber der Zutritt gestattet.“ 46 – Die Berichterstattung über Robert Stoss Da der Prozess gegen Robert Stoß unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, war das Berliner Publikum auf die Berichterstattung der Presse angewiesen. Die Presse erfüllte dabei die Funktion, die Öffentlichkeit des Prozesses herzustellen und war damit auch eine Kontrollinstanz der

43 Berliner Lokal-Anzeiger, 06.03.1906. Auch Zeitungen anderer Städte berichten über den Prozess. Vgl. Prager Tagblatt, 07.03.1906. 44 Zum Begriff der Perversion, der von Valentin Magnan 1885 aus dem religiösen Diskurs in die Sexualpathologie übertragen wurde, vgl. Oosterhuis 2000, 45. 45 Berliner Intelligenz-Blatt, 06.03.1906. 46 Vossische Zeitung, 06.03.1906.

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Rechtsprechung.47 Die Gerichtsreportage etablierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem wachsenden Berliner Zeitungsmarkt als ein Genre, das sich die dokumentarische Information und den genauen Bericht zum Ziel setzte. Hugo von Kupffer, Chefredakteur des Berliner Lokal-Anzeiger, vergleicht die Reportage mit einer „unretouchierten Momentfotografie“48, die er explizit vom Feuilleton als Genre, das am „bequemen Schreibtische des phantasiereichen Feuilletonisten“ entstehe, abgrenzt. Demgegenüber verzichte die Reportage auf die ästhetischen Maßstäbe des Feuilletons, indem sie, was geschieht, „nach der Natur“49 zeichne. Trotz dieser Betonung des dokumentarisch sachlichen Charakters der Reportage kann die Gerichtsberichterstattung nicht auf ihre informative Funktion reduziert werden. Angesichts des boomenden Zeitungsmarkts in Berlin war jede Zeitung darauf angewiesen, über die bloße Information hinaus LeserInnen zu unterhalten und zu fesseln, um sich eine Position auf dem Markt zu sichern. Die notwendige Voraussetzung war eine Verwandlung von Information in News. Der Journalist hatte seiner Aufgabe nachzukommen, die human interest story in den nackten Tatsachen zu ermitteln, um ihr jenen affizierten Gehalt zu verleihen, der zur Unterhaltung der Leser beitrug. Das sensationelle Konnotat der Berichterstattung implizierte den Zugriff auf ein Themenspektrum, das mit Vorliebe ,das Atypische, Unerwartete und Regelwidrige‘ abdeckte. Kriminalität war hierfür ein dankbares Sujet und garantierte in der profitorientierten Logik des new journalism sensationelle und gern gekaufte journalistische Waren.50

Es kommt so zu einem Transfer von psychiatrisch erfassten Beobachtungen und Berichten, die Robert Stoß gegenüber dem Psychiater bezüglich seines Begehrens abgelegt hat, über die Gerichtsverhandlung und die dort vorgetragene Stellungnahme des Gutachters hin zum öffentlichen Diskurs der Presse. Die Angaben, die Robert Stoß bezüglich seines Begehrens macht, werden vom psychiatrisch-kriminologischen Spezialdiskurs erfasst und gelangen über die Gerichtsreportage in den öffentlichen Diskurs.51 Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeit des Angeklagten, um die es bei der psychiatrischen 47 „In der Gerichtsberichterstattung verschränkte sich ein bestimmter gesellschaftlicher Auftrag mit der journalistischen Darstellung eines Prozesses. Die Gerichtsberichterstattung war keine unabhängige journalistische Praxis, sondern nahm innerhalb der Rechtsprechung einen spezifischen Ort ein. Die berichtende Tätigkeit der Presse garantierte die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, indem sie über die kleine Gruppe unmittelbarer Beobachter hinaus den Verlauf des Prozesses publik machte und den von den Verhandlungen Ausgeschlossenen die Möglichkeit verschaffte, in den Blättern davon Kenntnis zu nehmen.“, Müller 2005, 73. 48 Kupffer 1889, 3, zitiert nach Müller 2005, 49. 49 Ebenda. 50 Müller 2005, 56. 51 Vgl. Siebenpfeiffer 2005, 81.

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Begutachtung geht, vermengt sich mit dem öffentlichen Interesse an Enthüllungen und News. In der Berichterstattung über Stoß können mehrere Elemente ausgemacht werden, die das Sensationelle dieses Falles konstituieren. Zunächst scheint das große öffentliche Interesse am Fall Stoß mit der Bedrohung zusammenzuhängen, die von einem unerkannt im städtischen Raum sich aufhaltenden Zopfabschneider ausgeht. Das Zopfabschneiden stellt zwar eine vergleichsweise harmlose Gefahr dar, doch mussten alle zöpfetragenden Mädchen, sobald sie sich an belebten Orten der Stadt aufhielten, fürchten, Opfer eines körperlichen Übergriffs zu werden. Umso stärker tritt das Ereignis der Festnahme von Robert Stoß als der Moment hervor, in dem die Schwelle von einer diffusen Bedrohung zu einem personalisierten Täter überschritten wird. Das Interesse wendet sich daraufhin mit voyeuristischer Schaulust den Enthüllungen, Vernehmungen und Begutachtungen des Täters zu. Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass bei der Verurteilung von VerbrecherInnen seit Beginn des 19. Jahrhunderts für die Rechtsprechung die Frage „,Wer sind Sie?‘“ und damit „ein Bekenntnis, eine Gewissenserforschung, eine Selbsterklärung“52 der Angeklagten verlangt werde. Dies geht einher mit der zunehmend größeren Rolle, die die psychiatrische Begutachtung im Verlauf des 19. Jahrhunderts für die Rechtsprechung gewinnt53, indem die/der VerbrecherIn als potentiell wahnsinnig gilt. Am Fall Robert Stoß lässt sich beobachten, dass das von Arthur Leppmann erstellte Gutachten als „Ursache der Straftaten […] Abweichungen vom normalen Geschlechtstriebe“ anführt. Der Ausschluss der „freie[n] Willensbestimmung“, den das Gutachten konstatiert, wird jedoch mit einer „krankhafte[n] Störung seiner Geistestätigkeit“54 begründet. Die ‚Bekenntnisse‘, die Robert Stoß in der Befragung durch den Richter und gegenüber den ärztlichen Gutachtern abgelegt hat, werden über die Presse einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Anhand dieser Äußerungen und mit Verweis auf seine „erbliche Belastung“ und „eine Reihe von Entartungszeichen“55 wird der Angeklagte als „geisteskrank“ und „gemeingefährlich“ eingestuft.56 Der Zopfabschneider lässt sich damit als „gefährlicher Mensch“57 verstehen, obwohl eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie unterbleibt. Die Entscheidung über seinen Verbleib wird seiner Familie überlassen, die ihn in einer privaten Heilanstalt unterbringt. Er erscheint nicht als das von Foucault für den Beginn des 19. Jahrhunderts beschriebene „große Monster“, sondern als Prototyp des „kleinen Perversen“58. 52 53 54 55 56 57 58

Foucault 2003b, 592. Vgl. Müller 2004, 24f. Leppmann 1906, 107f. Vorwärts, 06.03.1906. Berliner Morgenpost, 07.03.1906. Foucault 2003b, 587. Foucault 2003a, 174.

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Wie die sich auf einen Zopfabschneider in Chicago beziehende Zeitungsüberschrift „Jack the Clipper“59 demonstriert, weist derjenige, der sich mit Gewalt das Haar ahnungsloser Frauen aneignet, durchaus die Assoziation zu einem Sexualstraftäter als Serienmörder und damit einer Bedrohung für Leben und körperliche Unversehrtheit auf. Die Konzeption von Männlichkeit, die in den Berichten über den Zopfabschneider entworfen wird, scheint dem Bild des Lustmörders aber gerade entgegengesetzt zu sein: Wird der Lustmörder als Übersteigerung einer aktiven brutalen männlichen Sexualität wahrgenommen60, so wird die männliche Sexualität beim Zopfabschneider infrage gestellt. Er ist, wie immer wieder betont wird, Mitglied eines studentischen Keuschheitsbunds61, hat kein Interesse an Frauen und richtet sein Begehren auf ein Partial. Durch die vergleichsweise Geringfügigkeit der Tat eignet sich die Figur des Haarabschneiders hervorragend dafür, die Bedrohung durch einen Triebtäter ins Komische zu ziehen.62 Das Lustspiel Ein Zopfabschneider. Gelegenheits-Schwank von Ferdinand Fränkel oder die Operette Die Zopfabschneider von Richard Genée, beide in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben, zeigen das Motiv des Zopfabschneidens als das Spiel im Grenzgebiet von Bedrohung und Komik.

„Weh, – den Zopf von Preussens Bureaukraten, / Diesen allerdicksten liess er dran ...“ 63 – Das satirische Potential des Zopfabschneiders Der Prozess gegen Robert Stoß schlägt sich nicht nur in den Tageszeitungen und im Feuilleton nieder, das satirische Potential des Falles wird auch von der Wochenschrift Kladderadatsch aufgegriffen. In den „Illustrierten Rückblicken“ auf das erste Jahresviertel erscheint zwischen anderen Darstellungen, die sich auf politische und gesellschaftliche Ereignisse beziehen, im April 1906 eine Karikatur des Berliner Zopfabschneiders (Abb. 10.1): „Der Zopfabschneider wird freigesprochen; als Hauptmilderungsgrund kommt dabei in Betracht, daß er nicht auch versucht hat, Dame Bureaukratie ihres schönsten Schmuckes zu berauben.“64 In der im Hintergrund vorgenommenen Darstellung der Tat fliehen zwei Schülerinnen mit wehenden Zöpfen vor dem mit der Schere bewaffneten Studenten. Dabei werden die Vorgänge eindeutig anders 59 60 61 62

Chicago Daily Tribune, 18.03.1895. Vgl. Siebenpfeiffer 2005, 228. Berliner Intelligenz-Blatt, 06.03.1906. Die Komiktheorie durchzieht seit Aristoteles die Annahme, dass nur über dasjenige, was niemandem einen ernsten Schaden zufüge, gelacht werden könne, das sogenannte Unschädlichkeitspostulat. Vgl. Horn 1988. 63 Der Tag, 30.01.1906 64 Kladderadatsch, 01.04.1906, 191.

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gezeichnet, als sie der Berichterstattung zu entnehmen waren. Der heimliche Aspekt von Stoß’ Taten wird nicht aufgegriffen, die diffuse Angst vor dem Zopfabschneider wird hier in die Flucht vor einem herannahenden, komisch überzeichneten Verfolger umgedeutet. Auch Darstellungen des Chicagoer „Jack the Clipper“ unterstreichen das Bedrohliche, Aggressive der Tat. Während in der Artikelillustration (Abb. 10.2)65 die von einem noch unbekannten Täter ausgehende, verdeckte Gefahr transportiert wird, agiert der hegemoniale „International and All-Around ‚Jack-the-Clipper‘“ (Abb. 10.3)66 offen, gewaltsam und furchteinflößend. Die eigentliche Tat des Zopfabschneiders bleibt allerdings in beiden Karikaturen (Abb. 10.1 und 10.3) im Hintergrund, sie ist nur das Vehikel, um die kritische politische Aussage der Zeichnungen zu vermitteln. Diese lediglich „lockeren Bindungen an Realität und Wahrheit“67 sind charakteristisch für die politische Karikatur, welche ihren besonderen Reiz aus Bedeutungsambivalenzen bezieht.68 „Mittels Verfremdung werden tradierte Symbole, Allegorien und Leitfiguren um- oder neubewertet und damit bestehende Standards irritiert“ 69, die Analyse von Karikaturen verweist auf „den Gebrauch von Symbolen in einem fest umschriebenen Zusammenhang.“70 Karikaturen sind „manifest gewordener Ausdruck kollektiver emotionaler Haltungen und Mentalitäten“71. Die Zopfabschneider-Karikaturen können also nur deshalb die gewünschte Wirkung bei den BetrachterInnen erzielen, weil die Figur des Zopfabschneiders im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs geläufig ist. Die Verwendung im Rahmen der politischen Karikatur verdeutlicht so die Aufmerksamkeit, die dem Fall Robert Stoß (ebenso wie dem Chicagoer „Jack the Clipper“) in der Öffentlichkeit zuteilwurde. Die Tat des „International and All-Around ‚Jack-the-Clipper‘“ wird im Vordergrund dargestellt, der Akt des Zopfabschneidens selbst als Allegorie auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die beraubten Länder erscheinen hier in Gestalt junger Mädchen und sind damit als weibliche Figuren verbildlicht. Der als Zopfabschneider dargestellte männliche Eroberer bemächtigt sich mit Gewalt der Schätze dieser Länder. Im Kladderadatsch hingegen bleibt der Zopf der im Vordergrund dargestellten „Dame Bureaukratie“ verschont. Mit mahnend erhobenem Zeigefinger, dem Gesetzbuch sowie einer Robe und einem Zopf aus Paragrafenzeichen ist hier stellvertretend für die Bürokratie die Justiz gezeichnet – allerdings mit deutlich männ65 66 67 68 69 70 71

Chicago Daily Tribune, 30.01.1896. Chicago Daily Tribune, 31.01.1896. Lammel 1995, 2. Jones 2009, 34. Harms 1993, 10. Gombrich 1978, 223. Heinisch 1988, 32, zitiert nach Lammel 1995.

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Abb. 10.1: Der Zopfabschneider wird freigesprochen...

lichen Gesichtszügen. Der schelmische Gesichtsausdruck des Studenten und die übergroße Darstellung seiner Schere unterstreichen den komischen Charakter dieser Karikatur. Neben diesem komischen Potential macht die Charakteristik als nur mäßig ernst zu nehmende Bedrohung den Zopfabschneider auch zu einer Möglichkeit, Fragen der Sicherung der Bevölkerung und der Verwahrung von Triebtätern zu diskutieren. Er erscheint als interessanter Fall, an dem sich, ohne allzu polarisierend zu wirken, Fragen von Gefährlichkeit, Entmündigung und Verwahrung verhandeln lassen. Die Frage nach seiner Unterbringung und der Gefährdung der Bevölkerung wird in der publizistischen Berichterstattung thematisiert. In der Berliner Morgenpost heißt es: „Wenn es sich um Jack den Aufschlitzer gehandelt hätte so würde man den Angeklagten nach erfolgter Freisprechung voraussichtlich nicht wieder auf die Menschheit losgelassen haben“72. Gegenüber der Sicherheit der Bevölkerung wird jedoch die Freiheit des Individuums, das nur nach begründeter Entmündigung zwangsinterniert werden dürfe, hervorgehoben. 72 Berliner Morgenpost, 07.03.1906.

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Abb. 10.2: Who is Jack the Clipper

Entsprechend können sowohl der Titel der Kladderadatsch-Zeichnung als auch die Hervorhebung der dem Geschehen abgewandten, nach veraltetem „Schema F“ agierenden Justiz als Kritik am Freispruch von Robert Stoß gedeutet werden. Der Kladderadatsch rekurriert hier, ebenso wie das eingangs angeführte Kerr-Gedicht mit dem „Zopf von Preußens Bureaukraten“73 auf den Topos des „alten Zopfes“. Dabei ist das Abschneiden von Zöpfen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein beliebtes Motiv, um revolutionäre Umbrüche zu markieren.74 „Der Zopf als Symbol der – wie auch immer gearteten – ‚Gestrigkeit‘ ist anscheinend ein dankbares Gestaltungsmittel literarischer Texte, kann man doch beispielsweise mit Hilfe eines einzigen Dingsymbols einen ganzen politisch-zeitkriti73 Der Tag, 30.01.1906. 74 Harms 1993, 123–132.

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Abb. 10.3: The International and All-Around „Jack-the-Clipper.”

schen Zusammenhang benennen.“75 In der Zeitung Der Tag erscheinen unter dem Pseudonym „Gottlieb“ zwei Gedichte Alfred Kerrs, die sich mit dem Haarfetischisten beschäftigen. Kerr schreibt von 1900 bis 1919 für diese Zeitung vor allem als Theaterkritiker.76

75 Füllmann 2008, 97. 76 Die Zuschreibung des Pseudonyms „Gottlieb“ an den Feuilletonisten Alfred Kerr geht auf Karl Kraus zurück, der Kerr 1928 bezichtigte, kriegsverherrlichende Gedichte unter diesem Namen geschrieben zu haben. Kerr hat gegen diese Zuschreibung geklagt, seine Klage jedoch zeitgleich mit der Gegenklage von Kraus zurückgezogen. Vgl. Alda 2002, 18, 74; Esterhammer 2005, 291.

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Der Zopfabschneider. Er war im Keuschheitsbunde Einer der sanftesten Herrn; Die Weiber kunnt er nicht leiden, Ihre Haare hatte er gern. Oft träumt er von einem Schlosse Die Wände mit Haaren geziert, Von einem Harem von Haaren, Von Polstern, mit Zöpfen garniert. War ihm recht haarig zumute, Wie selig er dann war! Wie tat er sich was zugute, fand er in der Suppe ein Haar. Wohlan, man schaff‘ ihn nach Marsberg*) Im alten Westfalengau! Dort liegt ihm vom Morgen bis Abend Das Rothaargebirge zur Schau. Auf Haarstrang sieht er und Haarweg, Und ringsum spielen im Licht Haarmücken in Schwärmen, auch fehlt es Zum Frühstück an Harung nicht. Nur verhüte man, daß der Haarling Ins nahe Rheinland entweicht, Er fände sonst bald die Wege, Die man zur Lurlei schleicht. Und eines Tags sähe die Nixe Sich ohne ihr goldenes Haar, Weil Robert Stoß mit der Schere Auf dem Lurleifelsen war. *) Das westfälische Dalldorf 77 77 Der Tag, 08.03.1906. Anmerkung im Original.

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Das Gedicht „Der Zopfabschneider“ vom 8. März 1906 geht den reichen sprachlichen Assoziationen, die sich an das Haar knüpfen, nach. Vom Haar „in der Suppe“, über das „Rothaargebirge“, die Pflanze „Haarstrang“, den „Harung“ (Hering), „haarige“ Gemütszustände bis zu gleichklingenden Worten wie „Harem“ schöpft der Autor das sprachliche Potential des Haares aus. Wenn das Gedicht mit dem Haar in Verbindung stehende Bezeichnungen noch für die entlegensten Gegenstände entdeckt, imitiert es sprachlich die Phantasien des Zopfabschneiders, dem „während seiner Arbeit oftmals plötzlich Zöpfe vor seinem Auge zu schwirren schienen“78. Wenn es schließlich davor warnt, dass Robert Stoß der Lorelei auf ihrem Felsen das Haar abschneiden könne, stellt es die Verbindung zur kulturell-literarischen Tradition der Haare als Verlockung und gleichzeitiger Bedrohung her. Das Gedicht hat nicht nur thematische Anklänge an Heinrich Heines Lorelei-Gedicht von 1824, auch in Strophenform, Metrik und Reimschema lehnt es sich an den Prototyp der lyrischen Haardarstellung an.79

„Oft träumt er von einem Schlosse – Die Wände mit Haaren geziert“ 80 – Die kulturelle Tradition des Haares Über das Motiv der Lorelei wird die Verbindung zu den bereits erwähnten Sirenendarstellungen seit der Antike und das Bild langen weiblichen Haares als Bedrohung wie Verlockung hergestellt. Stehen die Sirenen und die Schlangenhaare der Gorgo-Medusa besonders für den Schrecken und die Gefahr für das männliche Subjekt, sich zu verlieren, kann dagegen im Märchen das Haar wie im Fall von Rapunzel zur Rettung dienen.81 Auch in den Phantasien, die Robert Stoß dem Gutachter Leppmann gegenüber schildert, erscheinen die Haare wie ein Märchenmotiv: „Er habe sich in die Idee eingeträumt, d. h. bei wachen Sinnen, er sei ein mächtiger Mann, der ein kostbares Schloß auf einer Insel besitze. Er habe auch die Gabe, sich unsichtbar zu machen, und könne sich auf diese Weise aus allen Ländern Mädchen mit schönen, d. h. namentlich mit blonden, trocknen Haaren, auf sein Schloß holen. Diese müßten ihn bei Tisch bedienen, und dann schnitt er ihnen die Haare ab und ließe sie ziehen“82. Das Haar als in Mythos, Literatur und Ikonografie mit Sexualität verknüpfter Teil des weiblichen Körpers, ist auch einer der häufigsten von Sexualwissenschaftlern beschriebenen Fetische. Dabei nimmt es eine Zwischenstellung zwischen Körperteil- und Kleidungsfeti-

78 79 80 81 82

Berliner Intelligenz-Blatt, 06.03.1906. Vgl. Heine 1975, 886. Der Tag, 08.03.1906. Stephan 2001, 30. Leppmann 1906, 107.

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schismus ein, da es einerseits zum Körper gehört, andererseits von ihm abgetrennt werden kann. Als toter Teil des lebendigen Körpers, der jedoch auch nach dem Tod am längsten erhalten bleibt, markiert es zugleich die Grenze zwischen Leben und Tod. Das Abschneiden der Haare ist im Alten Testament bei Simson mit dem Verlust seiner Kräfte verbunden und auch im 20. Jahrhundert stellt das gewaltsame Scheren oder Schneiden der Haare ein Ritual der Erniedrigung dar.83 Ein Blick in das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens gibt Aufschluss über die Vielzahl von Zuschreibungen an das Haar, insbesondere im magischen Denken. Das Handwörterbuch geht auf Traditionen von Frisuren ein und beschreibt die rituelle Bedeutung, die dem Schneiden der Haare zukommen kann. Das Tragen von Zöpfen wird mit jugendlichen Lebensphasen verbunden, wohingegen hochgestecktes Haar verheirateten Frauen zugeordnet wird. „Langes, nicht in die Höhe gebundenes Haar war bei den Germanen ein Attribut der unverheirateten Mädchen. Das aufgebundene H. ist das Zeichen der Verheirateten. […] Wenn aber in Schwaben Mädchen nachts mit losgebundenen Zöpfen aus dem Hause gehen, haben die Hexen über sie Gewalt.“ Von Bedeutung für den Akt des Haarabschneidens ist auch die Annahme, dass eine Person, deren Haar geschnitten wird, „in die Gewalt (Obhut) desjenigen, der in den Besitz des H[aar]es gelangt“, gerät.84 In den unterschiedlichen mit dem Haar verbundenen Überzeugungen äußert sich vor allem die Annahme, dass mit dem Abschneiden der Haare ein Verlust von Kraft verbunden ist und die Inbesitznahme fremder Haare die Verfügungsgewalt über die Person, der das Haar abgeschnitten wird, mit sich bringt. Das Schneiden von Haaren wird daher im Allgemeinen als ein Akt verstanden, der für die aktive, abschneidende und die Haare in Besitz nehmende Person mit einem Machtgewinn verbunden ist, während die Person, deren Haare abgetrennt und jemand anderem übereignet werden, eine Einbuße an Souveränität erleidet. Neben dem Aspekt des Verfügens über eine Person mit dem Abschneiden ihres Haares muss auch die Praxis, Haare als Andenken etwa an eine verstorbene Person zu bewahren, berücksichtigt werden. So war es besonders im 19. Jahrhundert verbreitet, aus den Haaren von Verstorbenen Trauerschmuck wie Armbänder oder Ketten herzustellen oder die Haare in Ringen und Amuletten bei sich zu tragen. Isabel Richter weist auch darauf hin, dass das Haar als bereits zu Lebzeiten toter Teil des menschlichen Körpers, besonders mit Imaginationen der Verwandlung und der Passage zwischen Leben und Tod verbunden ist.85 Als Trauerschmuck vergegenwärtigt es die verstorbene Person. In diesem Punkt unterscheidet sich die Funktion 83 Stephan 2001, 31. 84 Bächtold-Stäubli 1930/1931, Bd. 3, Sp. 1258, 1259. 85 Vgl. Richter 2010, 151.

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des Trauerschmucks vom Haar als Fetisch. Wie der Fall Robert Stoß verdeutlicht, wird das fetischisierte Haar unabhängig von der Person, die es getragen hat, begehrt. Indem das Begehren ausschließlich auf den Gegenstand, nicht aber auf dessen Trägerin und den Vollzug des Koitus gerichtet ist, gilt der Fetischismus im Anschluss an Krafft-Ebings Definition als pathologisch. Die pathologischen Fetischisten zeichneten sich dadurch aus, „dass sie als eigentümliches Ziel ihrer geschlechtlichen Befriedigung nicht den Coitus betrachten, sondern irgend eine Manipulation an dem betreffenden, als Fetisch wirksamen Körpertheil.“86 Das Haar wird als Partial, unabhängig vom Körper, begehrt. Durch das Abschneiden wird ein Akt der Loslösung aus dem Ganzen eines Körpers und damit eine Dekontextualisierung vollzogen. Dieses Herauslösen aus einem Zusammenhang, das Begehren unabhängig von einem Körper oder einer Person, macht das Haar zum Fetisch und bedingt die grenzenlosen Möglichkeiten seiner Rekontextualisierung.87 Die Fantasien des Zopfabschneiders verorten das Haar in der märchenhaften Umgebung eines Schlosses oder lassen es zu jeder Tageszeit vor seinen Augen auftauchen, im zitierten Gedicht wird dieses Assoziationspotential poetisch ausgeformt. Den Karikaturen wiederum erlaubt eben dieser fetischisierte Gegenstand, der Zopf, ihn als Motiv in unterschiedlichste Kontexte zu übertragen. Die verschiedenen Darstellungen des Zopfabschneiders in Karikatur und Gedichten setzen bei den AdressatInnen eine Kenntnis der Umstände der Taten und des Prozesses voraus und beziehen sich damit implizit auf die vorhergegangene Berichterstattung in der Tagespresse.

„Haben Sie denn nie gelesen, dass die Berliner Bürgerschaft über das Zopfabschneiden sehr beunruhigt war?“ 88 – Das Wechselverhältnis von Tat, Berichterstattung und Fachdiskurs In den zeitgenössischen Debatten wird die Darstellung von Sexualverbrechen in der Presse in einem Wechselverhältnis mit den Taten selbst gesehen. Der Kriminologe Erich Wulffen deutet im Anschluss an seine Ausführungen zu Robert Stoß ein mögliches Kausalverhältnis zwischen Presseberichterstattung und dem Auftreten von Zopfabschneidern an: Hierzu werden sie teils aus ihrem inneren Triebe, teils durch die ihnen aus den Zeitungen bekannt werdende öffentliche Aufregung und durch Sensationslust verleitet. Andererseits wirkt die öffentliche Erregung leicht suggestiv auf andere, die teils mit ähnlichem Triebe behaftet sind und nun aus solchem Anlaß diese Anreize auszukosten verleitet werden89. 86 87 88 89

Krafft-Ebing 1894, 158. Böhme 2005, 165. National-Zeitung, 07.03.1906. Wulffen 1921, 540f.

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Polemisch wendet sich in der Zukunft Maximilian Harden gegen sensationslustige Berichterstattung der Massenpresse über Sexualverbrecher, indem er das Tätigwerden eines Lustmörders mit dessen Verlangen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen, in Verbindung bringt: Er überfällt ein argloses Mädchen und schlachtet die Aermste, die er ohne Genuß, nur in dem triumphierenden Gefühl, ein interessanter Verbrecher geworden zu sein, besitzt, denn davon hat er irgendwo einmal Etwas gelesen […] dann kriecht er in seine Schlafstelle zurück, verfolgt mit schmunzelnder Gier, wie das Ding das er in seiner Beschränktheit für die öffentliche Meinung der Hauptstadt hält, eine Woche lang sich mit dem Geheimnis seines Vollbringens beschäftigt, liest eifrig, was darüber gedruckt wird […] jedenfalls aber wird er ein besonders interessanter Verbrecher sein und alle Zeitungen werden von ihm berichten.90

Auch der Richter im Prozess gegen Robert Stoß scheint davon auszugehen, dass dieser das Echo seiner Taten in der Tagespresse bereits verfolgt habe, wenn er Stoß fragt, ob er nicht in den Zeitungen gelesen habe, wie sehr sein Tun die Berliner Bevölkerung beunruhigt habe. Stoß selbst gibt jedoch an, von diesen Berichten nichts mitbekommen zu haben.91 Leppmann leitet die Publikation seines Gutachtens über Stoß mit dem Hinweis auf die Presseberichterstattung ein und bedauert einerseits die Kenntlichmachung der Person in den Tageszeitungen, andererseits gäben die Berichte „keinen genügenden Einblick in den seelischen Mechanismus der Tat“92. Als Rechtfertigung der Publikation des Gutachtens führt er die ungenügende Berichterstattung der Presse über den Fall an, zudem nennt er die „allgemeine Beunruhigung“ der Öffentlichkeit als erschwerenden Faktor bei der Erstellung des Gutachtens. Krafft-Ebing thematisiert bereits 1894 das Aufsehen und die Beunruhigung der Öffentlichkeit, die sich dem Verlust von Zöpfen anschließen: Derartige Fälle von Zopffetischismus, der zu Attentaten auf Frauenzöpfe führt, scheinen von Zeit zu Zeit allerorten vorzukommen. Im November 1890 wurden nach amerikanischen Zeitungsberichten ganze Städte in den Ver. Staaten durch einen solchen Zopfabschneider beunruhigt.93

Sein Verweis auf die Zeitungsberichterstattung belegt, dass auch die fachmedizinische Beschäftigung mit dem Zopfabschneiden sich der öffentlichen Wahrnehmung dieser Form des Fetischismus nicht gänzlich entzieht. Bemerkenswert ist die spätere Betonung der Gefährlich-

90 Harden 1894, 145. 91 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. z.B. National-Zeitung, 07.03.1906: „Vors.: Haben Sie denn nie gelesen, daß die Berliner Bürgerschaft über das Zopfabschneiden sehr beunruhigt war? Angekl.: Ich hatte nichts gelesen“. 92 Leppmann 1906, 105. 93 Krafft-Ebing 1894, 172.

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keit von Zopfabschneidern in der 1924 von Albert Moll redigierten Auflage der Psychopathia sexualis: Im allgemeinen möchte ich bemerken, daß, wenn Zopfabschneider und Personen mit ähnlichen perversen Neigungen vom Gerichte freigesprochen werden, ihre dauernde Verwahrung in der Irrenanstalt oder in einer ähnlichen Anstalt im allgemeinen geboten ist. Die Gemeingefährlichkeit solcher an sich bedauernswerter Personen ist groß genug, um sie nicht frei herumlaufen zu lassen, da der schöne Haarschmuck zahlloser Mädchen auf Grund des Freibriefes, denen [!] ihnen der § 51 gewährt, dauernd gefährdet ist. Es ist bei allem Mitleid mit dem Angeklagten, wenn er krank ist, nicht zu vergessen, daß auch die Bevölkerung ein Recht auf Schutz hat.94

Ähnlich wie in den Zeitungsdarstellungen des Falls Robert Stoß ist hier von einer Gefährdung der Bevölkerung die Rede, der an dieser Stelle der Schutz eines „kranken“ Individuums nachgeordnet wird. In seinem Essay über den Masochismus zitiert Gilles Deleuze die genannte Passage aus der Psychopathia sexualis und hebt hervor, dass angesichts der vielen in den Fallgeschichten dargestellten Mordfälle und Gewalttätigkeiten, dem Psychiater gerade gegenüber der „gutartigen Perversion“ des Zopfabschneidens „die Nerven durchgegangen“95 seien. Die Erregung des Psychiaters ausgerechnet über diesen Fall könne weder mit der tatsächlich kaum vorhandenen Gefährdung noch durch eine besondere Abscheulichkeit der Handlungen erklärt werden, zumal die sonstigen Ausführungen des Psychiaters über Lustmord bis hin zur Anthropophagie von wissenschaftlicher Distanz und professioneller Unbeteiligtheit gekennzeichnet seien. Michel Foucault äußert sich in einer seiner Vorlesungen Die Anormalen belustigt über eine psychiatrische Publikation, die „eine der schlimmsten sexuellen Verirrungen darin erkannte, daß es Leute gäbe, die mit einer Schere bewaffnet auf der Straße kleinen Mädchen die Zöpfe abschnitten. Also wenn das keine Obsession ist!“96 Die Widersprüchlichkeit von Harmlosigkeit und Gefahr durchzieht so nicht nur die Berichterstattung der Presse, sondern lässt sich auch in der Fachdebatte beobachten. Der Zopfabschneider scheint auch deshalb Anstoß zu erregen, weil er sich in einem irritierenden Schwellenbereich bewegt, der einerseits durch Assoziationen zu Gewalttätern, andererseits aber durch die Schwierigkeit charakterisiert ist, eine zwangsweise Unterbringung aufgrund der Gutartigkeit der Tat zu rechtfertigen. Wenn die mäßige Gefahr, dass Mädchen ihrer Haare beraubt werden könnten, nicht ausreicht, eine Sicherungsverwahrung zu begründen, führt der Mangel an überzeugenden Argumenten möglicherweise nicht nur zu „grotesken“ 94 Krafft-Ebing 1924, 299. 95 Deleuze 1980, 279, Endnote 5. 96 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Foucault 2003a, 366. Die Herausgeber der Vorlesungen Francois Ewald und Alessandro Fontana geben als Quelle Voisin/Socquet/Motet 1890, 331–340 an.

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Gutachten97, die Robert Stoß nahelegen, wieder nach Argentinien auszuwandern, um vor dem Anblick und der Versuchung blonder Zöpfe in deutschen Großstädten sicher zu sein98, sondern auch zu einer Erregung, die von der Öffentlichkeit auf die Fachdebatte übergreift.

Fazit Im Fall des Berliner Zopfabschneiders Robert Stoß treffen Stadt, Öffentlichkeit und Wahnsinn in besonderer Weise aufeinander: Das städtische Umfeld, die Menschenmenge – gerade dann, wenn ihre Aufmerksamkeit auf ein Ereignis des städtischen Lebens hin gebündelt ist – ermöglicht erst das heimliche Abschneiden von Zöpfen. Die Masse von Menschen auf der Straße ist nicht nur unübersichtlich, sondern auch verlockend: Die Taten des Zopfabschneiders bewegen sich im Schwellenraum von Intimität und Öffentlichkeit. Indem er sich im städtischen Raum das Haar fremder Frauen aneignet, gelingt es ihm, diskret die Grenzen der Intimität zu überschreiten. Sobald aber die Tat als deviantes Verhalten thematisiert und öffentlich verhandelt wird, geht diese Diskretion zugunsten eines Voyeurismus der Öffentlichkeit verloren. Als Kehrseite der Zurückhaltung, als Postulat des städtischen Zusammenlebens, erscheint das Bestreben, denjenigen, der dagegen verstößt, öffentlich auszustellen und den eigenen Mangel an erfülltem Begehren auf den Ertappten zu projizieren. Die angesichts dieses Normbruchs entstandene Aufregung macht deutlich, welche Verhaltensweisen innerhalb eines städtischen Umfeldes nicht toleriert werden. Bereits zu einem Zeitpunkt, als die Bedrohung durch den immer wieder zuschlagenden Zopfabschneider diffus ist, beginnt die öffentliche Konstruktion eines pathologischen Individuums. Mit der Ergreifung des Täters konkretisiert sich das in der Presse bereits vorgezeichnete Bild, der „perverse Trieb“ eines Einzelnen rückt in den Vordergrund. Die Zeitungen schöpfen aus den intimen Details der gerichtlichen Begutachtung, der Wahnsinn wird so personalisiert und über den Prozess und die Berichterstattung der Zeitungen in den öffentlichen Diskurs transferiert. Fetisch, Perversion, Fantasien und Taten Stoß’ werden in den Reportagen über die Gerichtsverhandlung ausgebreitet, als Ausdruck von Geisteskrankheit debattiert und in Zusammenhang mit der Frage nach der freien Willensbestimmung gerückt. Selbst die psychiatrisch-juristische Auseinandersetzung über Stoß’ Zurechnungsfähigkeit erregt das Interesse der ZeitungsleserInnen. 97 Foucault 2003a, 27. 98 Vgl. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 29087, Gutachtliche Äußerung auf Veranlassung von Clara Stoss.

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Obwohl Stoß als „gemeingefährlich“ wahrgenommen wird, überschreitet die Darstellung seiner Person und seiner Taten die Grenze zum Komischen. In den lyrischen und bildlichen Schilderungen werden die Handlungen vom Täter gelöst und als Symbole in einen anderen Kontext übertragen. Das Haar als Fetisch, als Partial und dekontextualisierte Figur erlaubt diese Übertragung in verschiedenste Bereiche. Die Karikaturen und Gedichte verdanken ihre Wirkung der Popularität des Falles, versinnbildlichen aber auch, dass die „Wahnsinnstaten“ des Robert Stoß mit einer Mischung aus Schrecken und Amüsement aufgenommen werden. Dabei tut die vermeintliche Geringfügigkeit des Zopfabschneidens der Aufmerksamkeit, mit der die Taten und der Prozess begleitet werden, keinen Abbruch, für diese Formen der Darstellung könnte sie sogar konstitutiv gewesen sein. Berichterstattung und Fachdiskussion sind wechselseitig aufeinander bezogen: Die Zeitungen popularisieren die Terminologie der Sexualwissenschaft, indem sie in ihren Darstellungen wiederholt von „perverser Neigung“, „Perversität“ und „krankhaftem Trieb“ sprechen, in die Schriften der Psychiater und Sexualwissenschaftler fließen populäre Darstellungen des Phänomens ein. Die Aufmerksamkeit, die dem Zopfabschneider Robert Stoß in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, ließ ihn eine Zeit lang geradezu zum Referenzfall für den Haarfetischismus werden.

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Dorothea Dornhof

„Gaukler und Fälscher, halbtolle Frauenzimmer und anspruchsvolle Wirrköpfe“1 – Okkultismus, Medien und psychotischer Wahn. Okkulte Schauplätze als Schwellenraum zwischen Wissenschaft und Spektakel

‚Occultismus‘ umfasst alle nicht offenkundig zu Tage liegenden Äußerungen, Kräfte und Beziehungen der menschlichen Seele. Und diese steht mitten im Tages-Interesse. (Oskar Panizza)2

Mit ihren ersten Darbietungen auf Jahrmärkten und in medizinischen Laboren zogen okkulte Medien ein massenkulturelles Publikum ebenso in ihren Bann wie eine heterogene wissenschaftliche Fachwelt. Als Vermittler zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt galten sie als mit außergewöhnlichen, ja magischen Fähigkeiten und Kräften ausgestattet. Die attestierte mediumistische Sensitivität als Voraussetzung für die Erzeugung unerwarteter Präsenzen ging einher mit der apparativen und medialen Störanfälligkeit der fotografischen Platte,3 die im 19. Jahrhundert als Gespensteraufzeichnungstechnik moderne magische Formen des Verschwindens und der Präsenz hervorbrachte.4 Überliefert sind zahlreiche Fotoserien, in denen weibliche Medien aus Körperöffnungen Phänomene unterschiedlicher Konsistenz heraustreten lassen, die nur für den Augenblick der fotografischen Aufzeichnung produziert wurden und in ihrem Verschwinden paradoxerweise dazu führten, das Wahnhafte und Deviante seriell zu verbreiten und zu kultivieren. Reiz und Suggestion, Experiment und wissenschaftliche Aufklärung gingen in den viel beachteten Phänomenen des „Mediumismus“ ineinander über. Gegenstand der folgenden Untersuchung sind performative und epistemologische Figurationen des Wahnsinns am Schnittpunkt von medialer Vergnügungskultur 1 Dessoir 1931, 1. 2 Panizza 1891, 857. 3 Schüttpelz 2002, 68. 4 ����������������������������������������������������������������������������������������������� So schreibt Walter Benjamin in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“: „Hat man sich lange genug in so ein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr die Gegensätze sich auch hier berühren; die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann“ (Benjamin 1980, 371). Jonathan Crary konstatiert für das 19. Jahrhundert in Fotografie und Geld homogene Instanzen gesellschaftlicher Macht, die als magische Formen eine Menge abstrakter Beziehungen zwischen Individuen und Dingen schaffen und diese Beziehungen als das Wirkliche darstellen (Crary 1996, 24).

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und wissenschaftlichem Okkultismus um 1900. Den Erkundungen unerwarteter Präsenz und verborgener Dimensionen der Psyche und des Wissen soll an der nicht mehr klar zu scheidenden Grenze zwischen Science und Séance nachgegangen werden.

1. Okkulte Psychen und magische Dimensionen moderner Wahrnehmung Am Ende des 19. Jahrhunderts setzte eine umfangreiche historiografische Selbstreflexion okkulten Wissens ein, zu jenem historischen Zeitpunkt, an dem die experimentelle Erforschung unsichtbarer Kräfte in Natur und Psyche begann, sich mit naturwissenschaftlich-empirischen Methoden als moderner Okkultismus vom „spekulativen Okkultismus“ abzugrenzen.5 Die Erscheinungswelt der Magie6 löste umfangreiche Sammlungen und Beschreibungen aus, die eine modernen Geheimwissenschaft etablierten, in der Okkultismus und Parapsychologie um 1900 als Sammelbegriff unterschiedlicher Strömungen galten, die sich mit der Erklärung und mehr noch mit der Anerkennung der Existenz anormaler Phänomene beschäftigten. Sachlich kann der Spiritismus nur richtig verstanden werden, wenn man ihn als eine Provenienz des großen Gebietes der occulten Erscheinungen des Seelenlebens betrachtet. Theoretisch und kulturgeschichtlich versteht man ihn aber erst dann, wenn man ihn als einen der vielen Versuche auffaßt, welche seit vier Jahrhunderten gemacht wurden, um mit Hilfe der occulten Erscheinun5

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Carl Kiesewetter war der erste Historiograf des Okkultismus. Er fasst okkulte Vorgänge als „all jene von der offiziellen Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannte Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens, … deren Ursachen den Sinnen verborgene, occulte sind. Unter Occultismus verstehen wir die theoretische und praktische Beschäftigung mit diesen Tatsachen, respektive deren allseitige Erforschung“ (Kiesewetter 1909, VII). Der Berliner Psychologe und Philosoph Max Dessoir hatte 1889 den Begriff „Parapsychologie“ als Wissenschaft von den okkulten Erscheinungen vorgeschlagen, der international angenommen wurde und die Bezeichnungen „Psychical Research“ und „Metapsychologie“ ersetzte. Dessoir verwies darauf, dass die Parapsychologie keineswegs eine Erklärung psychischer oder psychopathologischer Phänomene zum Ziel haben sollte, sondern jene menschlichen Fähigkeiten untersuchen müsse, die zwar den Bereich des Normalen verlassen, jedoch nicht als krankhaft zu bezeichnen sind. Damit werden psychische Erscheinungen, die neben den normalen alltäglichen Erscheinungen auftreten, in Abgrenzung zur Psychopathologie bestimmt (Dessoir 1889, 342). Vgl. auch Bender 1980. Dessoir betonte, dass in der modernen Geheimwissenschaft uralte Vorstellungsformen weiterleben: „Gerade, wenn wir am weitesten in die Zukunft zu schauen meinen, sind wir am engsten mit der Vergangenheit verbunden. Das ist der unbestimmt gefühlte Zauber dieser Sphäre, daß sie die Gegensätze wirklich eint. Der Ekstatiker erlebt im Bild kommender Vollendung die Wünsche der Primitiven, wie er die höchsten Strebungen in schmerzhaft schöner Verschmelzung mit fleischlichen Instinkten erlebt. Zwar scheint dies – in logischer Erstarrung – ein unerträglicher Widerspruch. Aber der wirkliche Mensch lebt da am intensivsten, wo er sich am stärksten widerspricht“ (Dessoir 1931, 12/13).

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gen des Seelenlebens eine übersinnliche Weltanschauung zu konstruieren und ein ungefähres Bild des Lebens nach dem Tode zu entwerfen.7

Der Psychiater und Parapsychologe Albert Freiherr von Schrenck-Notzing,8 der 1886 gemeinsam mit Carl du Prel die Münchener „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“ gründete, hatte sich bis zu seinem Tode 1929 praktisch und theoretisch der experimentellen Erkundung medialer Phänomene verschrieben. In den Münchener und Berliner Bohemezirkeln galt der „magische Kreis dieses modernen Zauberers“9 als schillernder Ort, und die von ihm veranstalteten okkulten Séancen faszinierten Maler, wie Gabriel von Max, Albert von Keller, Franz von Stuck, Schriftsteller wie Thomas Mann und zahlreiche medizinische Kollegen gleichermaßen. Schrenck-Notzing gehörte um 1900 zu den einflussreichsten Parapsychologen Deutschlands, der in internationalen okkultistischen Netzwerken10 agierte und wie kaum ein anderer der öffentlichen Kritik ausgesetzt war. Ärzte wie Albert Moll und Psychologen wie Max Dessoir, die mit ihm gemeinsam den experimentellen Einsatz der Hypnose als Zugang zu verborgenen Aspekten des mentalen Lebens, wie Schlaf, Traum und dem Unbewussten teilten, gingen aus professionellen und epistemologischen Gründen auf Abstand zu den okkulten TranceExperimenten, obwohl ein anhaltendes kritisches Interesse an der Parapsychologie ihre Arbeit

7 Kiesewetter 1909, VII. 8 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Zum Verhältnis von psychiatrischer Forschung und Parapsychologie in Deutschland, siehe die umfangreiche Studie von Wolffram „The Stepchildren of Science“ 2009. 9 Mann 1983, 60. Thomas Mann nahm 1924 an mehreren Sitzungen im Hause Schrenck-Notzings teil und fasste seine „Okkulten Erlebnisse“ wie folgt zusammen: „Ganz unbelehrterweise und auf eigene Hand habe ich mir die telekinetischen Vorgänge als magisch objektivierte Traumvorstellungen des Mediums gedeutet. Die gelehrte Literatur gibt mir recht, indem sie mit einer ehrfuchtgebietenden Häufung von Kunstausdrücken erklärt, die Idee der Phänomens, lebendig im somnambulen Unterbewusstsein, mit dem sich übrigens dasjenige der sonst Anwesenden vermische, werde mit Hilfe psychophysischer Energie durch eine biopsychische Projektion ektoplastisch auf eine gewisse Entfernung hin umgesetzt und ausgeprägt, d.h. ‚objektiviert‘. Man ruft, … eine unerforschte ideoplastische Fähigkeit der medialen Konstitution zur Hilfe, […] ein Wort, einen Begriff bei alldem von genau so trüber Tiefe, wie der von mir vorhin angezogene der ‚Gaukelei‘, und kraft seiner foppenden Mischung aus Elementen des Traums und der Realität direkt ins krankhaft Widersinnige führend“ (Mann 2002, 650). 10 Von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Magie und ihre internationale Vernetzung war die Gründung der „Society for Psychical Research“ im Jahre 1882 in London, der bereits im Jahr 1900 1500 Mitglieder angehörten. Sie setzte sich zur Aufgabe, alle vom Normalen abweichenden und über dasselbe hinausgehenden Vorgänge physischer und psychischer Natur zu erforschen, die Ergebnisse wurden in fortlaufenden Bänden, den „Proceedings of Society for Psychical Research“ publiziert. Der Okkultismus wurde seit 1900 selbst zum Gegenstand wissenschaftskritischer Untersuchungen, wie die von Max Dessoir herausgegebene Schriftenreihe: „Der Okkultismus in Urkunden“. Vgl. hierzu GulatWellenburg/Klinckowstroem 1925, Rosenbusch 1925, Baerwald 1925, Moll 1925.

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weiterhin begleitete.11 Im Schatten seiner medizinischen Kollegen und trotz zahlreicher Rückschläge durch aufgedeckte Täuschungsmanöver fast aller bekannten okkulten Medien schien Schrenck-Notzing besessen zu sein, mit Hilfe verschiedener fotografischer Verfahren die Existenz der rätselhaften Phänomene in umfangreichem Bildmaterial zu fixieren, und ihnen qua Fotografie Präsenz und wissenschaftliche Geltung zu verschaffen. Albert von Schrenck-Netzing experimentierte gemeinsam mit der Parapsychologin und Bildhauerin Juliette Bisson von 1909 bis 1913 in Paris und München mit dem Medium Eva C. und hielt die Aufzeichnungen mit 109 Tafeln und 172 Abbildungen in dem Buch „Materialisierungsphänomene mit Eva C. 1909–1914“ fest. Durch die Vermittlung des Herausgebers der „Revue scientifique et morale du spiritism“, Gabriel Delanne, nahm Schrenck-Notzing 1909 Kontakt mit dem Ehepaar Alexandre und Juliette Bisson auf. Die Familie hatte im selben Jahr das 23-jährige Medium Eva C. (Marte Béraud) nach Paris eingeladen, das zuvor bereits durch Sitzungen mit dem Pariser Neurologen und Nobelpreisträger für Medizin (1913) Charles Richet in Algier bekannt geworden war. Durch Veröffentlichungen Richets sah sich SchrenckNotzing mit Tatsachen konfrontiert, die klar bewiesen, dass es sich bei der in den Séancen mit Eva C. auftretenden „Transfiguration Bien Boa“ in Algier um das Medium selbst handelte.12 Für Juliette Bisson wie auch für Schrenck-Notzing hatten diese Enthüllungen scheinbar kaum Bedeutung, denn mit großem Beharrungsvermögen setzten sie die Experimente mit dem Medium Eva C. über vier Jahre fort. Sie teilten sich das Publikationsrecht und veröffentlichten 1914 die Protokolle und Fotografien der Séancen jeweils in eigenen Sammlungen.13 Schrenck-Notzing betonte im Vorwort des Buches von Madame Bisson die „merveilleux résultats“ der gemeinsamen Arbeit, mit denen er auf das unerklärliche Erscheinen von Phänomenen und Substanzen verwies, die sich in einem Schwellenraum von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bewegten: Nous avons très souvent pu etablir que, par un processus biologique inconnu, il se dégage du corps du medium une matière, toute d’abord à demin liquide, qui poss`de certaines des proprié11 Seit Ende des 19. Jahrhunderts bemühten sich hypnotisch arbeitende Ärzte, wie Albert Moll, August Forel, Albert von Schrenck-Notzing oder der Psychologe und Philosoph Max Dessoir um das therapeutische und epistemologische Monopol über die Hypnose. Sie waren dabei in komplexe Formen von „boundary-work“ verwickelt, denn einerseits wollten sie die medizinische Community von der Legitimität und Effizienz der Hypnose überzeugen und mussten gleichzeitig ihre Praktiken der Suggestion von Bühnen-Hypnotiseuren, magnetischen Heilern und bestimmten Formen des Okkultismus abgrenzen. Vgl. Wolffram 2012, S. 149-176. Max Dessoir stellte bereits in seiner „Bibliographie des Modernen Hypnotismus“ für den Zeitraum 1855-1890, mehr als 1180 Publikationen zusammen. (Dessoir 1888, 1890) 12 Schrenck-Notzing 1914a, 37. 13 Alexandre-Bisson 1914.

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tés d’une substance vivante, notamment celle du changement de consiance, du mouvement et de la prise d’une forme définie.14

Die Versuche fanden in der Pariser Wohnung des Ehepaars Bisson und in Schrenck-Notzings Privatlabor am Karolinenplatz in München statt, wo er darüber hinaus das polnische Medium Stanislava P. in die mediumistischen Experimente einbezog. Es ging eine sonderbare Faszination von den weiblichen Medien aus, die nicht nur als Objektivierungs- und Registrierungsapparate dienten, sondern es vermochten, Tricks und Täuschungen darzubieten, die nun vom städtischen Raum mit seiner Vergnügungs- und Unterhaltungskultur in den intimen Raum des (Privat) Labors übertragen wurden. Im Kontrast zu den „Geisterfotografien“, in denen die Phänomene ihre Präsenz nur auf dem Foto zeitigten und für die ZuschauerInnen unsichtbar blieben, waren die physikalischen Materialisationen für die ZuschauerInnen sichtbar und konnten von den SéanceteilnehmerInnen (kurzfristig) berührt werden. Der bekannte Physiker Sir William Crookes (1832–1919) war der erste Fotograf von Materialisierungen, die sein Medium Florence Cook in Form der Erscheinung des „Geistes“ von „Katie King“ hervorbrachte.15 Die entdeckten Täuschungsmanöver des Mediums und seiner Trancepersönlichkeit hatten jedoch auf den Ruf des Mitglieds der British Royal Society, deren Präsident er zeitweise war, keinen nachhaltigen Einfluss. Unter Materialisation wurde vor allem eine sichtbare, fotografierbare Masse unterschiedlicher Konsistenz bezeichnet, die in häufigen Fällen Eigenbewegung besaß und sich aus amorphen Stadien zu prägnanteren Umrissen zu formen vermochte. Bei älteren Spiritisten konnte die Materialisation nur unter Mitwirkung von Geistern erklärt werden (spiritistische Hypothese), wohingegen Vertreter des modernen wissenschaftlichen Okkultismus die Materialisationserscheinungen als ein psychisches Vermögen des Mediums und der Sitzungsteilneh14 Schrenck-Notzing in Alexandre-Bisson, I. 15 William Crookes fertigte vierundzwanzig Fotos an, auf denen er mit „Katie King“ zu sehen war, blieb jedoch sehr zurückhaltend mit der Veröffentlichung der Fotos, da auch ihm eine gewisse Ähnlichkeit des „Geistes“ mit seinem Medium aufgefallen war (vgl. Fischer 2005, Weisberg 2004, Hüsch 2005). Zu dem britischen Geisterfotografen John Beattie und seiner Serien von Geisterfotografien (1872) als einem Pendant der fotografischen Aufnahmetechnik oder als Double der Fotografie selbst: „Es war Beattie, der die radikalste Konsequenz aus dieser Zweideutigkeit und aus seiner eigenen Entlarvung von Verstorbenenfotos zog und das Fotografieren einer Materialisation ganz konsequent als ‚das Photographieren eines unsichtbaren Bildes‘ begriff – eines Bildes, das zwar durch Geister verursacht wurde, aber keineswegs die Behauptung zwingend machte, die Fotografie würde (Toten)Geister abbilden. Der Riß zwischen Auge und Apparat, der in Beatties fotografischen Séancen mit der Trance und Dissoziation eines fotografischen Mediums synchronisiert wurde, war zugleich ein ganz explizierter Riß zwischen einer (dem Auge weiterhin unzugänglichen) Verursachung und ihrer (dem Auge zugänglich gemachten) Bildherstellung“ (Schüttpelz 2002, 66).

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merInnen im Sinne einer magnetischen Kraft (animistische Hypothese)16 ansahen; also keine von außen kommende Instanz, sondern eine vitale Kraft des Organismus, die unter bisher noch ungenügend geklärten, vom Normalwachzustand abweichenden Bewusstseinszustand des Mediums sich abspalten und herausprojiziert werden konnte. Das Zustandekommen der Materialisierung, seine Sichtbarkeit war nun entscheidend geprägt von der Modellierungsarbeit des Mediums (Erinnerungsbilder, Traumbilder) und von den Willensakten des Experimentators.17 Dass hier die technische Apparatur der Fotografie entscheidenden Anteil an dem Zustandekommen des Sichtbaren hatte, basierte letztendlich auf einem allen Strömungen des Okkultismus zugrunde liegenden frühen Medien-Apriori, der Erfindung der Telegrafie durch Samuel B. Morse 1838: Genau an dieser Stelle artikuliert sich (neben allen technikgeschichtlich reellen Wirkungen) zunächst der spiritistische Diskurs. Am Ort der Geburt der Telegrafie (durch Hydesville sollen die ersten Telegrafenleitungen Amerikas gegangen sein) entsteht das historisch erste Medien-Apriori der Elektrizität und klappt sofort spiritistisch um, spaltet und entfaltet die Geschichte des Okkultismus in eine ‚ältere‘ (geistesoffenbarende) und ‚neuere‘ (geisterkommunizierende) Epoche. Es gibt keine Chronik des Okkultismus, die diesen Epochenwechsel nicht mit den ‚Fox-Raps‘ datiert; wir datieren sie, korrekter, mit dem dahinter- und etwas früher implementierten MedienApriori der Telegrafie. 18

Statt Geister ließen die Trance- Medien amorphe Masse aus Körperöffnungen hervortreten, die Charles Richet zunächst als „Ektoplasma“ bezeichnete.19 Schrenck-Notzing wandelte den aus der Biologie kommenden Begriff in Anpassung an die „Telekinese“ in „Teleplasma“ um. Aus der verdichteten Substanz von weißlich-grauer Farbe konnte das Medium angeblich via Gedankenkraft „ideoplastische“ Gliedmaßen und auch Köpfe formen, deren Materie nicht dauerhaft, sondern phantomartig hervortrat. „Die Erscheinung verschwand so blitzartig und 16 Pytlik 2006, 24. 17 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Der russische Spiritist Alexander Aksakow, der die Realität mediumistischer Materialisationen untersuchte, nannte die mit der Person des Mediums verknüpften Kräfte „animistisch“, als eine unbewusste psychische Tätigkeit, die auch die Grenzen des Körpers überschreiten und sowohl auf eine physische als auch plastische Weise wirksam werden kann (Aksakow 1919, XXIX), vgl. auch Gulat-Wellenberg: „Später erfand jeder Forscher und jede Forschungsepoche ihre eigenen Bezeichnungen, die alle dasselbe meinen, schon deshalb, weil keiner etwas Genaues weiß und vorweisen kann. In diesem Sinne sind also Worte wie „psychophysische Energie“, „supranormale Phänomene“, „parapsychologische„ und „paraphysiologische“ Erscheinung, „exteriorisierte Kraft“ und wenn es sich um Fernbewegungsphänomene handelt, auch „rigide Strahlen“ und ähnliche Begriffsbildungen einander nahe und verwandt und im Grunde dasselbe“ (Gulat-Wellenberg 1925, 2). 18 Hagen 1999, 346. 19 Richet 1906, 82–152.

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geräuschlos, wie sie kam“.20 Zu der Existenz der flüchtigen Phänomene betonte der französische Parapsychologe und Psychiater Joseph Maxwell in einem zweiten Vorwort (neben dem von Schrenck-Notzing) des Buches von Juliette Bisson, das damit einer doppelten wissenschaftlichen Legitimierung unterlag, die zeugende Beweiskraft der Fotografie: „1. Il y a un phénomène objectif, susceptible d’être photographié: donc il n’y a ni hallucination, ni illusion. 2. Le phénomène est distinct du médium, qui ne le personnifie pas”.21

Es ging allerdings weniger um die Erklärung dieser Phänomene, die nun nicht mehr wie im Spiritismus aus dem Jenseits hervortraten. Das AutorInnenpaar Schrenck-Noting/Bisson war in detaillierten Beobachtungsprotokollen darum bemüht, mit Hilfe der Fotografie die Sichtbarkeit von kurzer Dauer und damit zunächst die Existenz der Phänomene zu demonstrieren, denn „das Dasein des Mediums ist im Gegensatz zu dem ‚Geist‘ unleugbar“.22 Damit erzeugten die Figurationen des okkulten Mediums eine spezifische Form medialer Performativität, mit der gleichsam durch Wiederholung von diskursiven und medialen Praktiken und Bildern aus der Tradition experimenteller Erforschung der Seele23 ein Schwellenraum für die Verhandlung des Außergewöhnlichen entstanden war, in dem sich diese Praktiken zu einem „Realisierungsüberschuss“ 24 verschränkten und damit besondere Formen von theatraler Evidenz hervorbrachten. Wenn unter Okkultismus allgemein die Lehre und der Erkenntnisversuch des Verborgenen verstanden wurde, so kann das Labor als ein okkulter Schauplatz betrachtet werden, dem als Ensemble von Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Versuchsleiter, Zuschauern, Gesten, Stimmen und Körpern eine besondere Präsenz zukommt. Denn die okkulte Szene und das Wissen der Materialisierungsphänomene entstehen nicht in vorgeschriebenen Skripts durch eine Aktualisierung von Diskursen. Sie konstituieren sich als Ereignis der spezifischen Konfiguration ihrer Momente im Spannungsfeld zwischen Medium, Forscher, der fotografischen Apparatur und den räumlichen Anordnungen in der Verhandlung des paranoiden Wahns.25 Als rationales technisches Medium ist die besondere Störanfälligkeit 20 Schrenck-Notzing 1914a, 107. 21 Maxwell in Alexandre-Bisson 1914, IX, vgl. auch Maxwell 1903, 1928. 22 Schrenck-Notzing 1914a, 40. 23 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. zur Kontroverse Aksakow und von Hartmann hinsichtlich Ursachen und Bewertungen spiritueller Erscheinungen Hüsch 2005, Dornhof 2005. 24 Seier 2007, 63. 25 Moll 1929, 113. Bereits 1901 hatte der Berliner Psychiater Richard Henneberg anhand reichhaltigen Materials von neun Fällen aus der Berliner Charité die Rolle „übersinnlicher“ Phänomene in der Psychopathologie behandelt. Vgl. Henneberg 1901 und 1903. In einem Aufsatz in der Berliner Klinischen Wochenschrift prägte Henneberg 1919 den Begriff „mediumistische Psychose“, weil die Störung zuerst bei „spiritistischen Medien“ beobachtet wurde. Vgl. Henneberg 1919, 873, Kehrer 1922, Jacob/Meyer sprechen von einer „pathoplastischen Kraft“ der als latent schizophren Bezeichneten, die in okkul-

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der fotografischen Kamera geeignet, Geister und Phantome als magische Objekte zu produzieren, die spezifische Handlungsmacht über die Akteure gewinnen können.26 Die wissenschaftlichen und populären Wahrnehmungen okkulter Praktiken sind darüber hinaus vergleichbar mit dem Bedürfnis, das irrationale geheimnisvolle Andere zu erkennen und zu zügeln. Da sich die okkulten (in der Mehrzahl weiblichen) Medien nicht den Ordnungsparametern wissenschaftlichen Experimentierens unterwarfen und die produzierten Phänomene den Status des Einmaligen/Singulären besaßen, ist die Fixierung in umfangreichen Fotoserien als Versuch zu betrachten, diesen singulären performativen Ereignissen mit einem an den modernen Naturwissenschaften orientierten Beweisverfahren wissenschaftliche Anerkennung zu verleihen. Die Medien mit ihrer gesteigerten Produktivität stehen jedoch im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkundung von Wirklichkeit, da diese in den Experimenten nicht auf das Einmalige und Flüchtige sondern auf Allgemeines und Wiederholbarkeit setzt. Indem das Medium sich der wissenschaftlichen Logik entzieht, hält es den Prozess in der Schwebe und es entsteht, wie Natascha Adamowsky treffend formuliert, die paradoxe Situation, dass das Hindernis einer Verifizierung okkulter Phänomene gleichzeitig die Bedingung ihres Erscheinens ist.27 Diesem Schwebezustand versuchte Schrenck-Notzing mit der Foto-Kamera und den zahlreichen Bildern auf die Spur zu kommen. In dem Augenblick, in welchem ich die weiße Masse mit den Fingern etwa in Halshöhe des Mediums erblickte, entzündete ich durch Druck auf den Knopf des elektrischen Kontakts das Blitzlicht. Die Platten wurden von mir in ihren Kassetten herausgenommen, aufbewahrt und vor meinen Augen am folgenden Tage entwickelt. Die Wiedergabe bestätigte den optischen Eindruck vollkommen und bewies, dass wir richtig beobachtet hatten. Vergrößerung und Übertragung der stereoskopischen Aufnahme auf Glas ermöglichte ein genaues Studium des Gebildes.28

Das Erscheinen amorpher Masse während einer mediumistischen Séance in Paris im November 1910 in Anwesenheit von Juliette Bisson, Albert von Schrenck-Notzing und Gästen zeigte sich

ten Séancen eine Form gefunden hätten, ihre Wünsche in die Außenwelt zu projizieren, „wodurch eine gewisse Abreaktion des krankhaften Affektes hervorgerufen wird.“ Die AutorInnen verweisen in diesem Zusammenhang auf die Beziehungen zwischen kulturellen Einflüssen und Geisteskrankheit und darauf, dass symptomatologisch und strukturell zwischen einfachen mediumistischen Trancezuständen und entsprechenden schizophrenen Prozessen größte Ähnlichkeit, ja Identität bestehen kann (Jacob/Meyer 1924, 220). 26 Zur Fotomagie vgl. Behrend 2002, 3: „Auch in der westlichen Moderne wird also die Kamera nicht nur als entzauberter, technisch-rationaler Apparat gesehen, sondern auch (bis heute) als Instrument der Magie, der Verzauberung.“ 27 Adamowsky, 2007, 111. 28 Schrenck-Notzing 1914a, 104.

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zunächst in weißen Flecken von unregelmäßiger Gestalt, die sich unter starken körperlichen und Willensanstrengungen des somnambulen Mediums langsam zu verdichteten Substanzen aus Stoff und Papier entwickelten, aus denen das Medium angeblich „ideoplastische“ Gliedmaßen und Köpfe zu formen vermochte. Wie bei den Medien für mentale Kundgebungen (telekinetischer Mediumismus – Bewegen von Tischen, Levitationen von Gegenständen) hatte auch hier der „hysterohypnotische Systemkomplex“29 für das Zustandekommen der physikalischen Manifestationen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Und da sich die Phänomene nur für Augenblicke zeigten, galten fotografische Aufnahmen der ideoplastischen Formen in den verschiedenen Stadien der zunächst für das menschliche Auge noch nicht sichtbaren Entwicklung als Beweis für die mediumistische Fähigkeit, aus unbewussten Vorstellungsbildern materielle Erscheinungen zu produzieren. Zugleich galt die fotografische Fixierung als Ergänzung der protokollierten Berichte der TeilnehmerInnen und als wichtiges Aufzeichnungsinstrument für die Überprüfung von Täuschungsmanövern und war somit ein konstitutives Element der experimentellen Anordnung. Die mediumistische Fotografie hatte die Rolle der visuellen Kronzeugenschaft für die dem menschlichen Auge nicht direkt zugänglichen und unerklärlichen Phänomene und machte eine paradoxe Situation sinnlich erfahrbar; die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. In vielen Fällen wurden die Phänomene in den Versuchsräumen in Paris und München direkt für die Fotografie produziert und anschließend arrangiert: Die Erscheinung war links am Medium. Auf unsere Anregung hin veranlasste Eva, die selbst eine gute Photographie wünschte, das Phänomen, auf ihrer rechten Kopfseite Stellung zu nehmen, dass es von den verschiedenen Apparaten gleichzeitig aufgenommen werden konnte bzw. innerhalb ihres Gesichtsfeldes lag. Ich bat sie nun, auch selbst den Moment der Photographie nach ihrem eigenen Gefühl zu bestimmen durch weiteres Öffnen des Vorhangs.30

Mit medialen Experimenten dieser Art hatte sich Schrenck-Notzing – jenseits eines naiven Abbildungsglaubens – in seiner fast 40 Jahre währenden Forschertätigkeit von 1886 bis zu seinem Tod 1929 der Erklärung, Prüfung und Kontrolle okkulter Medien verschrieben. Die überlieferten Beobachtungsprotokolle und fotografischen Serien sind von besonderem Interesse, weil sich in ihnen zentrale Dimensionen der Erforschung anormaler Erscheinungen und deren Wirkungen bündelten und in den breiten Diskussionen zum ungeklärten Verhältnis von Geist und Materie einen zentralen Platz einnahmen. Bedeutsam ist auch das Beharrungsvermögen auf einem Forschungsgebiet, das durch Täuschung und Betrug stets dem Verdacht ausgesetzt war, die gesuchte Nähe zur Naturwissenschaft immer wieder zu verfehlen. So begleitete Schrenck-Notzing das italienische Medium Eusapia Paladino in seiner Entwicklung 29 Ebenda, 19. 30 Ebenda, 187.

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mehr als sechzehn Jahre. Gemeinsam mit Physiologen wie Charles Richet, Kriminalanthroplogen wie Cesare Lombroso und Physikern wie Oliver Lodge, Frederic Myers nahm er an Untersuchungen und Komitees zu Prüfungen des Mediums teil: in Paris, Rom (1896) in Neapel (1898, 1902), sowie in Genua und Nizza (1906). Die Realität medialer Phänomene wurde von den wissenschaftlichen Kommissionen immer wieder positiv bestätigt. Auch wenn bei früheren Medien wie Eusapia Paladino31 (1854–1918) Schwindel und Betrug aufgedeckt werden konnten, wie 1898 in München durch Theodor Lipps, so war dies für Schrenck-Notzing eine höchst geschickt improvisierte Schwindelei durch Anpassung an die jeweilige Situation mit einfachsten Mitteln, und für ihn der einzige Fall in einer langen Reihe von Jahren. Die vielfachen Beobachtungen der geschilderten mechanischen Inszenierung mediumistischer Vorgänge gaben ihm keine hinreichenden Anhaltspunkte für fremde Apparate.32 Um die Echtheit (oder Geschicklichkeit) des Mediums zu autorisieren, führte er international anerkannte Taschenspieler an, wie den amerikanischen Prestidigitateur M. Howard: Ich war mein ganzes Leben lang Taschenspieler und habe bis jetzt zahlreiche Medien entlarvt, welche physikalische Phänomene erzeugten, jedoch bin ich überzeugt, dass dieses Medium (nämlich Eusapia) wirklich Tischerhebungen zustande bringt, und ich verpflichte mich, 1000 Dollar einer Wohltätigkeitsstiftung zu zahlen, wenn man mir beweisen kann, dass Eusapia nicht fähig ist, ohne Tricks, ohne Betrug und ohne Hilfe einen Tisch in die Luft zu erheben – und zwar mit Ausschluß betrügerischer Hilfsmittel, der Knie, die Füße, sowie anderer Körperteile und Hilfsmittel.33

Da der okkultistische Diskurs vor allem ein Diskurs der Illusionsmöglichkeiten und des Betrugs war, konzentrierte sich Schrenck-Notzing in seinem Buch auf die psychischen Besonderheiten des Mediums, um diese Form der Täuschung vom professionellen Schwindel abzugrenzen. 31 Eusapia Paladino (1854–1918) war weltweit das bekannteste weibliche Medium und stand mehr als zwanzig Jahre im Kreuzfeuer wissenschaftlicher Debatten. Geboren in Minervino Murge bei Bari in Apulien, wuchs sie in armen Verhältnissen auf. Schon in ihrer Kindheit traten erstaunliche Phänomene auf, die das einstige Armenkind zum weltberühmten Star machen sollten: geheimnisvolle Klopf- und Poltergeräusche, die von nirgendwo zu kommen schienen, Phänomene wie Menschen in ihrer Umgebung wurden von unsichtbaren „Händen“ berührt, Gegenstände begannen zu schweben, als wären sie ohne jedes Gewicht. 1874 kam sie als Dienstmädchen in eine spiritistisch inspirierte Familie nach Neapel und alsbald wurde der Arzt Dr. Ercole Chiaia auf die die unerklärlichen seltsamen Phänomene in ihrer Umgebung aufmerksam und vermittelte sie an Cesare Lombroso, der sich gegen die als Wahnsinn bezeichneten spiritistischen Medien wandte und mit Paladino zu experimentieren begann. Vgl. Fodor 1966, 271–275. 32 Schrenck-Notzing 1914a, 12. 33 Annales des sciences psychiques 1910, 316, zitiert nach Schrenck-Notzing 1914a, 13.

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Aber so häufig auch die Täuschungen bei Eusapia sein mögen, so wenig sind sie imstande, irgend eine Erklärung für unter schärfster Kontrolle einwandfrei beobachteten echten medialen Vorgänge bei dieser merkwürdigen Frau zu bieten, wie sie der Verfasser in zahlreichen Fällen feststellen konnte.34

Die Absetzung von professionellen Tricks wurde damit begründet, dass die Schwindelphänomene im Trancezustand als hysterischer Somnambulismus, Halluzinationen oder Delirien auftraten, und sich daher nicht absichtlich einstellen könnten. Täuschung und Betrug der okkulten Medien sollten also nicht mit professionellem Schwindel verwechselt werden. Um die Medien als wissenschaftliches Forschungsinstrument zu legitimieren, bemühte sich SchrenckNotzing, die Hysterie zu entpathologisieren, gleichzeitig hefteten sich hysterische Zuschreibungen an die okkulten Medien und letztendlich an die Psychiater selbst. Mit der besonderen Medialität okkulter Medien entstand für einen relativ kurzen historischen Zeitraum eine performative Form wissenschaftlicher Evidenz, die mit modernen Verzauberungstechniken35 einherging und zwischen Verbergen und Enthüllen einen Schwellenraum zwischen Wissenschaft und Entertainment entstehen ließ, in dem kollektive Performanz und moderne Medientechnologien gleichzeitig die Hysterisierung und ihre Entpathologisierung betrieben und damit wirksame Epistemologien unerwarteter Präsenzen produzierten.36 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren mit der Mobilisierung des Sehens durch technische Apparate und die Schaulust und Sensationsfreudigkeit des metropolitanen Publikums neue Formen moderner Magie entstanden. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden dem breiten Publikum zwei technische Wunder nicht nur als Innovationen sondern auch als Spektakel präsentiert: die Projektion „bewegter“ Bilder und Röntgenaufnahmen.37 Veränderte Raum-Zeiterfahrungen durch technische Apparaturen hatten nicht nur Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Konzept des subjektiven Sehens, das mit der Produktivität des Betrachters38 einherging, sie führten mit der Faszination für Hysterie, Traum, Tanz und Ekstase zu Wahrnehmungsmodellen, mit denen intensives sinnliches Erleben und lustvolle Kreativität freigesetzt wurden. So ermöglichte die Inszenierung technologischen Wissens in Vergnügungsparks vielfältige Transformation von sich verselbständigenden Objekten. Bühnenillusionen, die visuellen Effekte der Geisterfotografie, Méliès Zauberkino oder der „hyp-

34 Ebenda. 35 Zglinicki 1986, Gunning 1995, Castle 1988, Nadis 2005. 36 Zur Intersektion von technischer Innovation und Epistemologie, die auf Effekten des Scheins basiert, siehe Baer 1994. 37 Gunning 2009, 52. 38 Crary 1996, 21.

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notische“ Stummfilm figurierten um 1900 einen Schwellenraum säkularer Magie39, dem die Faszination am Sehen/der Verblendung in doppelter Hinsicht eingeschrieben war. Okkulte Medien dienten als Experimentalapparatur für wissenschaftliche Aufzeichnungen unerklärlicher Phänomene,40 ihrer teleplasmatischen Sichtbarkeit, und zugleich gingen mit den technischen Medien neue Formen unterhaltsamer Verbreitung okkulten Wissens und seiner medialen Zirkulation in der Öffentlichkeit einher. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts erforschte bildgebende Verfahren und Fotografie als visualisierendes Werkzeug. Das Ergebnis waren mikroskopische und teleskopische Aufnahmen, in denen Elektrizität und Magnetismus sichtbar wurden. Der Kino- und Fotohistoriker Tom Gunning beschreibt diese fotografischen Visualisierungen in ihren Auswirkungen wie folgt: „Die begrenzte sichtbare und greifbare Welt materieller Dinge wurde zur bloßen Oberfläche eines unbegrenzten Universums: Mikroskop und Teleskop enthüllten einen unendlichen, sich ausdehnenden Raum ohne Zentrum, in dem Stille herrschte.“41 Die mit modernen Medien einhergehende Sehnsucht nach Verkörperung und spektakulärer Erfahrung spiegelte sich in der magischen Kraft von Bildern.42 Die Bildmedien ermöglichten es, die physiologischen Dimensionen moderner Lebenswelt, die mit dem bloßen Auge nicht zu fassen sind, über die technische Apparatur erfahrbar zu machen. So betont der Theoretiker und Verteidiger mediumistischer Tatsachen, Alexander Aksakow: Viele Dinge sind des Photographiertwerdens fähig, welche dem leiblichen Auge ganz unsichtbar sind. Deshalb kann aus diesem Grunde ein Zimmer voll ultravioletter Strahlen des Spektrums sein und dennoch eine Photographie vermittelst dieses ‚dunklen Lichtes‘ aufgenommen werden. Gegenstände werden in einem so beleuchteten Zimmer für die Linse der Kamera deutlich sichtbar sein; auf jeden Fall können sie auf der sensitiven Platte erzeugt werden, während zu gleicher Zeit nicht ein Atom von Helligkeit in dem Zimmer von einer gewöhnliche Sehkraft besitzenden Person wahrgenommen werden könnte. Deshalb ist das Photographieren eines unsichtbaren Bildes, ob dieses Bild nun ein Geist oder ein Stoffklumpen ist, wissenschaftlich nicht unmöglich.43

39 Mark 1993, Schneider 1993, Schwartz 1998, Moore 2000, During 2002, Meyer/Pels 2003, Partridge 2004, Saler 2006. 40 Geppert/Braidt 2003, 12. 41 Gunning 2009, 53. 42 In den Diskursen über Fotografie wurde zwar seit ihren Anfängen Objektivität, Existenzbeweis und die Wahrheit betont, zeitgleich verwiesen Autoren immer auch auf das Magische, Unheimliche und Wahnhafte der Fotografien. Vgl. Behrend 2002, 10. 43 Aksakow 1919, 88.

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In den Naturwissenschaften – anders als in der Ethnologie – wurde der Begriff der Magie als eine provisorische Bezeichnung für unerforschte menschliche Fähigkeiten verwendet, die auf noch unbekannten Naturwissenschaften beruhen. „Daraus folgt aber mit logischer Notwendigkeit, dass unsere Wissenschaft vermöge ihrer spontanen Entwicklung schließlich bei der Magie einmünden, ja selbst Magie in dem Maße werden muss, als sie von der Untersuchung des Sichtbaren, Greifbaren, Wägbaren zu der des Unsichtbaren, Ungreifbaren, Unwägbaren fortschreitet.“44 Mittler in diesem Szenario waren die anormalen Medien, deren sensitive psychische Disposition die supranormalen Vorgänge zu erfassen vermochte. Aus der Geisterhypothese des Spiritismus wurden im wissenschaftlichen Okkultismus die psychologischen Produktionen des Mediums selbst, die „Phantasiegeschöpfe seines Unterbewusstseins“.45 Der Okkultismus wurde zum Knotenpunkt vielfältiger Grenzüberschreitungen in den Wissenschaften. So summierte Prof. Hans Driesch, ein Vorkämpfer für die vitalistische Biologie: „Auf der Grundlage der modernen Biologie und Psychologie hören die neu entdeckten Phänomene auf etwas zu sein, was sich unserer ganzen Auffassung der Wirklichkeit völlig entgegenstellt.“46 Nach zeitgenössischen Erklärungsmodellen verhielten sich die Kräfte der Seele kongruent zu Elektrizität oder Teilchenstrahlung. In den wissenschaftlichen Anspruch gingen dabei exakte Wissenschaften, Esoterik47 und religiöse Elemente ein, und gleichzeitig war man bemüht, Okkultismus und theoretische Physik mit der Kunst in Einklang zu bringen. Für den Kunsthistoriker Beat Wyss zählt die Kunst zum „geistigen Dreieck“ von Atomphysik, Psychologie und Theosophie in der Hervorbringung einer „Ikonologie des Unsichtbaren“, zu denen Charcots Experimente mit Hypnose ebenso gehörten, wie die okkulten Phänomene. Die Rollen blieben sich gleich, nur die Bezeichnungen änderten sich: Aus Nervenärzten wurden Hellseher, aus der Hysterikerin das lallende Medium. Die Psychiatrie war gleichsam die positivistische Larve, aus welcher der Spiritismus schlüpfen sollte, genährt im Geist der Lebensphilosophie. […] Gemäß der spirituellen Physik ist die Materie eine Verdickung des Geistfluidums, die Erfindung körperlicher Dichte somit pure Sinnestäuschung: Die harte Rinde des Wahns, die in sich zerfällt, wenn sie dem Teleskop, dem Mikroskop oder dem künstlerischen Blick ausgesetzt 44 Du Prel 1899, ii, vgl. auch: Staudenmaier 1922. 45 Flournoy 1911, 5, vgl. Schrenck-Notzing 1914a, 41, von Hartmann 1885, dazu Didi-Huberman 1997. 46 Driesch hielt seine Rede „Psychische Forschung und akademische Wissenschaft“ am 18. März 1926 beim Antritt der Präsidentschaft der Society for Psychical Research in London (Driesch 1926, 609). 47 1908 erschien in deutscher Übersetzung das Buch „Thought-Forms“ von Annie Besant und C.W. Leadbeater, das zum populären Standardwerk okkultistischer Ästhetik wurde (Leadbeater/Besant 1987).

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wird. Die Welt löst sich auf in Protonen, Elektronen, Neuronen, die wiederum nur ein Anschauungsmodell darstellen für die Existenz unsichtbarer Kraftströme. 48

Der Wahn löste sich technisch auf und wurde gleichzeitig instrumentalisiert für die Visualisierung unsichtbarer Ströme, die schon Friedrich Nietzsche in Begleitung von Lou AndreasSalomé bei einer Séance mit dem Medium Madame de Espérance als eine psychotische Spur ausmachte und zugleich den spektakulären Charakter der Performance hervorhob. Ein Theil der intellektuellen Funktionen des Mediums verlaufen ihm unbewusst: sein Zustand ist darin hypnotisch […]. Auf diesen unbewussten Theil konzentriert sich die Nervenkraft. – Es muß zwischen den durch die Hände verbundenen Personen eine elektrische Leitung nach dem Medium zu stattfinden, vermöge dessen G e d a n k e n einer jeden Person in das Medium übergehen. Eine solche Leitung von Gedanken ist nicht wunderbarer als die Leitung vom Gehirn zum Fuße, […] wobei das Gedächtnis etwas leistet und bietet, was f ü r g e w ö h n l i c h vergessen scheint. Folge der nervösen Emotion. – Es gibt kein Vergessen. – Auch unbewusster Betrug ist möglich: ich meine, ein betrügerisches Medium fungiert mit allerlei betrügerischen Manipulationen, ohne darum zu wissen. […] E l e k r i z i t ä t s – Erscheinungen, kalte Ströme, Funken sind möglich dabei. Gefühle, Angefaßt-werden können die Sache der Täuschung sein, Halluziationen der Sinne: wobei möglich ist, dass es für mehrere Personen Halluziations-Einheit giebt (Wie bei den alten orgiastischen Culten).49

Die Darstellung psychisch-physikalischer Phänomene in okkulten Séancen ist in einer doppelten Bewegung von Interesse. Die performative Figur des okkulten Mediums und deren fotografische Fixierung zog psychiatrische Nosologie in ihren Bann und diente dazu, psychopathologische Phänomene genauer beschreiben und illustrieren zu können (Hysterie, mediumistische Delirien, Irrsinn).50 In einer anderen Spur führten die spektakulären Experimente in einen performativen und räumlichen Schwellenraum, in dem die okkulten Medien als Techniken des Wahnsinns betrachtet werden und damit paradoxerweise als Instrumente ihrer Entpathologisierung. In dem Raum der experimentellen Entgrenzung sinnlicher Erfahrung schien für einen kurzen Augenblick der Zeit- und Handlungsfluss suspendiert zu sein, es konstituierten sich Übergangszeiten und Zwischenräume, in denen die okkulten Medien als Mittler des Unbekannten/Unsichtbaren zur Überführung in neue Wissensformen agierten. Die performative Figuration des okkulten Mediums kristallisierte sich auf einer Schwelle zwischen Science und Séance, „in der Evidenzstrategien einer anderen Experimentalwissenschaft als thea48 Wyss 1993, 21. 49 Nietzsche 1999, 16/17. 50 Le Maléfan 1999.

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trale Formen des Singulären aufscheinen.“51 Dabei wurden außergewöhnliche psychische Phänomene jenseits des Normalen verortet, die zunächst nicht der Psychopathologie zuzuordnen waren. In diesem Prozess des Wissenschaft-Werdens einer Grenzwissenschaft52 entstanden mit den Séancen umfangreiche Datensätze. Vergleichbar mit den Sexualwissenschaften brachte die Suche nach den Darstellungsmöglichkeiten des Unbekannten eine unübersehbare Anzahl von Fallgeschichten hervor, die neue Formen der Archivierung erforderlich machten, in denen vor allem die Fotografie als Beweismaterial aufgestellt, kritisiert und auch wieder kritisch verworfen wurde. Die Figur des okkulten Mediums ist dabei in seiner Doppelfunktion als wissenschaftliches Forschungsinstrument und als visuelles Spektakel von Bedeutung.

2. Der Zauber der Medien als idiosynkratisches Forschungsinstrument – simulierte Schlaftrunkenheit und unfreiwillige Täuschung Als Spezialist für die therapeutische Anwendung der Hypnose, für Sexual- und Kriminalpathologie und Mitbegründer der 1886 ins Leben gerufenen Gesellschaft für experimentelle Psychologie begann Schrenck-Notzing im Jahre 1904 mediumistische Experimente mit der Pariser Trance-Tänzerin Magdeleine Guipet.53 Bereits die ersten Auftritte vor Mitgliedern des Münchner Ärztlichen Vereins riefen eine kontroverse Debatte hervor, an der sich Ärzte und Psychologen, Künstler, Kritiker und Maler beteiligten. In diesen Experimenten interessieren Schrenck-Notzing vor allem die Herleitungen des Ekstatischen aus der Hysterie, insbesondere aber der Ausdruck des Seelischen im Körperlichen und die künstlerische Bedeutung der Ausdrucksbewegungen in Hysterie und Hypnose.54 Die Trancemedien waren für ihn Mittler, die dynamischen Modelle des Bewusstseins, wie sie in der französischen Psychiatrie vor allem durch Alfred Binet und Pierre Janet entwickelt waren, außerhalb pathologischer Deutungen der Psychiatrie zu studieren. Als Vertreter des Okkultismus als experimenteller Naturwissenschaft distanzierte er sich von der spiritistischen Auffassung der Geisterkommunikation und führte die Vorkommnisse in somnambuler Trance auf psychologische Erklärungen zurück, die er mit der Fotografie zu bannen suchte. Bereits in seiner Dissertation hatte er sich mit der „Therapeutischen Verwertung des Hypnotismus“ auseinandergesetzt und die Bühnen- und Laienmagnetiseure einer scharfen Kritik unterzogen.

51 52 53 54

Adamowsky 2007, 115. Birven 1928, 28. Schrenck-Notzing 1904. Schrenck-Notzing 1899, 1895, 1898.

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Eine grosse Gefahr bieten heute noch immer die planlosen hypnotischen Experimente, welche zur Befriedigung einer schaulustigen Menge in öffentlichen Localen, oder wie einfach in Deutschland üblich, in geschlossenen Gesellschaften, spiritisitischen Vereinen, Somnambulencabinets oder auch in Salons vorgenommen werden. Hinreichend bekannt sind auf solche Anregungen hin entstandene hypnotische Epidemien (z.B. in Breslau, Pforzheim, Mailand, in Kasernen, Knabenschulen, Pensionaten etc.).55

Die seit dem späten 19. Jahrhundert auftretende enge Verbindung zwischen medizinischen und Laienhypnotiseuren und Okkultismus hatten anhaltende Kampagnen seitens der Mediziner gegen die Hypnose (1903 Gründung der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums) hervorgerufen. Schrenck-Notzing war also durch langjährige Beobachtungen mit den Tricks und Täuschungen durch Medien vertraut und hatte zum Zeitpunkt des Beginns seiner Pariser und Münchner Experimente mit Eva C. bereits Erfahrungen mit der Verwendung des fotografischen Mediums in experimentellen Versuchsanordnungen gesammelt: Hält man es a priori für unmöglich, sich gegen Prestidigitationen und auch sonstige Betrügerei der Medien zu sichern, dann erklärt man die menschlichen Sinne überhaupt für unfähig zu wissenschaftlichen Fragestellungen aller Art; man müsste dann auf jede Forschung und speziell auf die psychologische Analyse von Geisteskranken, Verbrechern und Simulanten ganz verzichten. … Ein ernsteres Interesse an diesem Gegenstand bedeutet allerdings in den weiten Kreisen der Gelehrten und Aufgeklärten immer noch für den betreffenden Forscher ein Martyrium und die Gefahr, als geistig minderwertig angesehen zu werden.56

Für die okkultistische Forschung war somit die Bewertung der mediumistischen Fähigkeiten57 und die damit einhergehende Stellung des Mediums im Experiment eine der zentralen Fragen. „Man muss die naturwissenschaftliche Denkweise auf dieses Gebiet anzuwenden bestrebt sein.“58 Während in der französischen Psychiatrie die mediumistischen Fähigkeiten 55 Schrenck-Notzing 1900, 7. 56 Schrenck-Notzing 1914a, 22/23. 57 Die okkulten Medien waren nicht nur für die parapsychologische Forschung von Interesse. Barbara Hales weist nach, dass mit der Figur der okkulten Frau Leistungen und Grenzen der Emanzipation in der Weimarer Republik am Status des Zwischenwesens „Neue Frau“ verhandelt wurden, deren Macht einerseits respektiert und zugleich gefürchtet war. Das Okkulte war somit eine Projektion der Neuen Frau, deren ambivalenter Status in den öffentlichen Debatten über weibliche Medien und die okkulte Frau geführt wurde, die als Prophetin und als Dämon an der männlichen Ordnung teilnahm und dennoch als Außenseiterin in den dominanten Diskursen verblieb. Vgl. Hales 2001, 317. 58 Schrenck-Notzing 1914a, 38.

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von Anfang an in eine Reihe mit anderen Psychopathologien gestellt und vor den nervenzerrüttenden Gefahren gewarnt wurde,59 waren in der deutschen Forschung die okkulten Experimente zunächst in ihrem performativen Charakter von Interesse. Im Mittelpunkt standen bei den Beobachtungen Schrenck-Notzings die Aufführung und ihre Kontrolle, die leibliche Kopräsenz von Akteuren und ZuschauerInnen sowie die psychische Verfassung des Mediums. Schrenck-Notzing nahm damit in dem umstrittenen Feld um die okkulten Medien eine Zwischenstellung ein, die ihn von Max Dessoir und Wilhelm Wundt ebenso abgrenzte, wie von Carl du Prel und Eduard von Hartmann.60 Andere Forscher wie Frederic Myers erklärten mediumistische Phänomene sogar für progenerativ: The abnormal phenomena are degenerativ, the phenomena of mediumship are developmental, they show the promise of powers as yet unknown whereas the abnormal phenomena, like hysteria or epilepsy, show the degeneration of powers already acquired.61

Mit der Hypnose als anerkannter Experimentaltechnik, wurde der hysterische Körper zu einem „Schalt-Körper“62, der ein umfangreiches Archiv gestischer, physiognomischer und psychischer Ausdrucksformen zu entbergen vermochte. Die Tradition der experimentellen Erforschung der Seele, wie sie der französische Arzt Guillaume-Benjamin de la Boulogne mit dem therapeutischen Einsatz der Elektrizität zum Zwecke einer „Orthographie der bewegten Physiognomie“63 praktizierte, und die „expressiven Statuen“64 Jean-Martin Charcots gingen in die psychotechnischen Szenarien der okkultistischen Versuchsreihen ein, in deren Kontext der Begriff des Mediumismus geprägt wurde. Damit bezeichnete man das Auftreten von ungewöhnlich veranlagten Menschen, die in hochgespannten seelischen Zuständen, in der Hypnose, im Affekt oder in der Ekstase physikalische Manifestationen wie Ektoplasma oder andere Materialisationen sowie psychische Phänomene hervorzubringen vermochten, wie Hellsehen, Psychometrie oder Telepathie. Als Mittler im Experiment wurde ihr Körper einer Hysterisierung unterzogen, die jedoch notwendig war, um bisher unbekannte Naturgesetze 59 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Ballet beschrieb 1903 in „Traité de pathologie mentale“ die Störung psychose hallucinatoire chronique, chronic hallucinatory psychosis (CHP) in Verbindung mit mediumistischen Phänomenen als chronisches Delirium, das auf Halluzinationen beruht (Ballet 1903, 24). Für den Physiologen und Freund Schrenck-Notzings, Charles Richet, waren Medien Neuropathen. Zu den unterschiedlichen Strömungen und Positionen zu den „phénomènes supranormaux“ in der französischen Psychiatrie, vgl. Le Malefan 1999. Zur psychiatrischen Beurteilung spiritistischer Medien in der deutschen Forschung, siehe Henneberg 1901, 1903, Kehrer 1922, Jacob/Meyer 1924. 60 Vgl. Schrenck-Notzing 1926. 61 Meyers 1903, zitiert nach Fodor 1966, 233. 62 Didi-Huberman 1997, 221. 63 Duchenne de Boulogne 1862, V–VI. 64 Charcot, zitiert nach Didi-Huberman 1997, 327.

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der Wissenschaft zugänglich zu machen. „Das setzt ein feines Verständnis für die sensitive und abnorme Natur solcher Personen voraus.“65 Der Berliner Ingenieur und Parapsychologe Fritz Grunewald (1885–1925), verwies auf diesen Moment des Anormalen, das das unberechenbare Forschungsinstrument notwendigerweise erfüllen muss: Das Wesen der besonderen Veranlagung der Medien, der sogenannten Medialität, lässt sich, soweit man das mit wenigen Worten sagen kann, in einer gewissen Labilität der psychischen und physiologischen Konstitution dieser Menschen erblicken, … In seelischer Beziehung neigen die meisten von ihnen in mehr oder weniger ausgeprägter Weise zu Bewusstseinsspaltungen, und eine ganze Anzahl besitzt Erkenntnisfähigkeiten, die über die Leistungen der normalen Sinne hinausreichen.66

Da nun die mediumistischen Erscheinungen von den spezifischen Fähigkeiten der Medien abhängig waren und diese die Grundlage der Parapsychologie und den Gegenstand ihrer Untersuchungen bildeten, bedurfte es nur einer „bewussten Selbsterziehung“ um „diese unterbewussten Prozesse in unsere Gewalt zu bekommen.“ Wenn wir nun schon an uns selbst eine derartige eigentümliche Sensibilität feststellen können, dann kann es nicht verwunderlich sein, wenn die sämtlich tief im Unterbewussten wurzelnden mediumistischen Erscheinungen in fast gänzlich unberechenbarer Weise auftreten, und wenn die Medien selbst gewöhnlich so gut wie gar keine Herrschaft über diese Vorgänge besitzen. Hierin liegt nach meiner Auffassung die ganze Erklärung der bekannten gesteigerten Sensibilität und der Unzuverlässigkeit der Medien.67

Mit dem Verweis auf die anormale Psyche der Medien und deren Einfluss auf den Charakter der zu produzierenden Vorgänge waren sie für die Versuchsleiter ein unberechenbares Geschenk, das sie veranlasste, zahlreiche Kontroll- und Beobachtungsmechanismen einzuführen, um die Bedeutung des Mediums in seiner Eigenschaft als „ideosynkratisches Forschungsinstrument“68 zu optimieren. So schlug der Vorsitzende der „Society of Psychical Research“, der Physiker und Begleiter Schrenck-Notzings bei mediumistischen Experimenten mit Eusapia Paladino, Sir Oliver Logde, vor, die Medien nicht wie Kranke zu behandeln, sondern wie ein delicate piece of apparatus wherewith we are making an investigation. The medium is an instrument whose ways and idiosyncrasies must be learnt, and to certain extent humoured, just as one 65 66 67 68

Schrenck-Notzing 1914a, 38. Grunewald 1925, 10. Ebenda, 19. Schrenck-Notzing 1914a, 31.

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studies and humours the ways of some much less delicate piece of psychical apparatus turned out by a skilled instrument maker.69

Schrenck-Notzing war bemüht, dass Spektrum seiner Handlungsfähigkeit offen zu halten und erklärte stets, dass die mediumistischen Phänomene, ob nun verschiedenen oder eines gemeinsamen Ursprungs, bisher in keiner Weise zu erklären sind, denn eine Entdeckung war für ihn charakterisiert als das Unvorhergesehene, Unerwartete und Neue. „Nur eine ungewöhnliche Erscheinung setzt uns in Erstaunen. Eine Sache scheint wahr, weil wir sie oft gesehen, aber keineswegs, weil wir sie verstanden haben.“70 Die Abweichungen von den normalen Vorgängen des psychischen Geschehens bei den Medien hielt er jedoch für unabdingbar für das experimentelle Studium der Phänomene. Wie bei den Medien für mentale Kundgebungen, spielt auch der hysterohypnotische Symptomenkomplex beim Zustandekommen der physikalischen Manifestationen eine große Rolle. Denn die stärksten Phänomene verlangen in der Regel das Bestehen eines tiefen Trancezustandes.71

Aspekte des Wahnsinns werden hier in unterschiedlicher Abstufung als dynamisches Moment einer Grenz-Wissenschaft beschrieben, deren Existenz an den Rändern der etablierten Disziplinen mehr und mehr ins Zentrum drängte. Im Unterscheid zur hysterischen Ekstase etwa der Traumtänzerin Magdeleine Guipet, mit deren Körper die Transkription der Seele in ihrer Unmittelbarkeit im Medium erschien, ist es nun die Inszenierung selbst, die die Phänomene hervorbringt. Erst durch die mediale Anordnung der Überprüfung und der absoluten Kontrolle wird die Existenz der Phänomene ermöglicht. So ist es nicht verwunderlich, dass der psychische Zustand des Mediums, seine Stimmung und sein Körperbefinden und besonders die Erschöpfung des medialen Status gesteigerter Aufmerksamkeit unterliegen, denn das „ökonomische Prinzip im Kräftehaushalt der Natur“ und die physiologischen Begleiterscheinungen des Mediums entscheiden über Erfolg oder Misserfolg des Experiments. Die Teilnahme der willkürlichen Muskulatur konnte auch regelmäßig beim Zustandekommen der Materialisationen der Eva C. konstatiert werden. Sowohl bei Eusapia Paladino wie bei Eva C. erinnert die heftige, mit Schmerzen, Stöhnen und Pressen verbundene Muskelaktion an die Wehentätigkeit Gebährender. Vielleicht bezeichnet der Ausdruck ‚mediumistische Wehen‘ ganz bestimmte, häufig zu beobachtende physiologische Begleiterscheinungen der telekinetischen und teleplastischen Leistungen.72 69 70 71 72

Zitiert nach Fodor 1966, 234. Schrenck-Notzing 1914a, 23/24. Ebenda, 19/20. Ebenda, 20/21.

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Dem Medium Eva C. wurden in den Untersuchungen Eigenschaften verliehen, die ihr eine gesteigerte Phantasietätigkeit bei gleichzeitig labiler Stimmung attestierten. Sie hängt von ihren Affekten und Stimmungen in hohem Grade ab und bei den intermittierend auftretenden Anfällen von Verstimmung und übler Laune ist sie irgend welchem erzieherischen Zuspruch unzugänglich. Man muss in solchen Fällen entweder den Ablauf der Krise, welche bis zu mehreren Tagen dauern kann, abwarten oder durch Hypnotisierung, mit Hilfe der suggestiven Faszinationsmethode einen Umschwung erzeugen.73

Konstitutionelle Erregungsmomente, jähe Stimmungswechsel und eine lebhafte erotische Phantasietätigkeit74 erschwerten den Umgang mit Eva C. und versetzten den Forscher in eine spezifische Abhängigkeit von seinem Medium. Der Experimentator müsse sich, um überhaupt Resultate erzielen zu können, den „dramatisierten Personifikationen“, in denen die somnambulen Medien ihre Leistungen vollbringen, für die Dauer der Sitzung anpassen, bei der späteren psychologischen Analyse und Erklärung obliege ihm dafür die Deutungshoheit.75 „Sie weiß daher niemals, ob sie produzieren kann oder nicht; sie betrachtet sich lediglich als Maschine.“76 Willensschwach passe sie sich an vorhandene Umstände an, sodass Schrenck-Notzing ihr Verhältnis zu Madame Bisson mit demjenigen eines treuen Hundes zu seinem Herrn verglich.77 In dieser Äußerung kommt das ambivalente Verhältnis zu Eva C.s „Beschützerin“, Madame Bisson zum Ausdruck. Sie war es, die Eva C. im Herbst in das Pariser Haus der Familie Bisson aufgenommen hatte und nach dem Tode ihres Mannes 1912 mit ihr eine gemeinsame Wohnung teilte, um das Medium unter fortwährende Kontrolle zu halten. Das eher freundschaftliche, von erotischem Begehren gezeichnete Verhältnis zwischen den beiden Frauen wurde in den Kommentaren von Schrenck-Notzing deutlich, der sich immer wieder veranlasst sah, das gesteigerte Interesse Juliette Bissons als reinen Dienst an der Sache, an der wissenschaftlichen Erforschung des mediumistischen Phänomens zu beschreiben. In den Aufzeichnungen der Juliette Bisson fehlen jedoch all die Erläuterungen zur physischen und psychischen Konstitution des Mediums, sie sind weniger umfangreich und deskriptiv auf die „Produktionen“ gerichtet, ohne ihre Entstehungsbedingungen zu reflektieren. Wie aus den Protokollen zu entnehmen ist, war es auch Bisson, die Eva C. in den Pariser Versuchen zuvor kontrollierte, das Medium in ein trikotartiges Gewand kleidete, es am Körper vernähte und

73 74 75 76 77

Ebenda, 53. Ebenda, 53/54. Ebenda, 41. Ebenda, 160. Ebenda, 55.

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dann das Medium in Trance versetzte. In den Sitzungen, die Juliette Bisson mit Eva C. allein abhielt, war diese fast immer nackt oder war nur mit einem offenen Morgenrock bekleidet. Schrenck-Notzing schien von seinem Fixierungswahn so besessen, dass er auch Protokolle von den Sitzungen Bissons in sein Buch aufnahm, die sie ihm zuvor geschickt hatte, wie folgenden Bericht vom 23. März 1913: Ich ergriff ihre Hände und suggerierte ihr: ‚Schlaf rasch ein.‘ Sie fiel sofort in ihren Stuhl zurück, erhob sich aber bereits im Trancezustand unmittelbar darauf und sagte: ‚Er ist da, er ist da, entkleide mich rasch;‘ sie riß sich förmlich ihre Sachen vom Leibe, ich half ihr, bis sie vollständig ausgezogen war. Hierauf ergriff sie meine Hände und presste sie gewaltsam mit den Worten: ‚Sieh doch, sieh doch, er formt sich, er ist da.‘ Ich glaubte etwas Großes auf der Rückwand im Kabinett links von mir zu sehen. Eva bleibt stehen, an mich gelehnt, presst meine Hände, tritt einen Schritt zurück und schreit vor Schmerz auf, während ihr ganzer Körper von Krämpfen erschüttert wird. Sie ruft gleichzeitig: ,Berühre die Schnur auf meinem Rücken.‘ Ich fasse hin und fühle in der Steißbeingegend ein feuchtes, schnurartiges Gebilde, welches Eva mit dem Phantom verband. Der Faden löste sich los, während Eva sich gegen mich stemmte. Ich sah immer das Phantom beleuchtet, d.h. dasselbe bestand in einem langen, breiten, senkrecht auf dem Boden stehenden Streifen, an dessen Spitze ich eine Gesichtsbildung erkennen konnte. Eva streckte den Arm zurück, hierauf schlang sich das breite Band einmal um den Oberarm derselben, in dem der Kopfteil senkrecht in die Höhe ragte. Nachdem sich das Gebilde wieder gelöst hatte, rief die Kleine wieder: ‚Sieh, wie er sich formt, drücke meine Hände fest, um mir Kraft zu geben.‘ Ich sah nun mit eigenen Augen, wie das Phantom sich verbreiterte, wie sich die Form der Schultern bildete und benützte diesen Moment, um eine Blitzlichtaufnahme zu machen.78

Die ostentative Sexualisierung des Mediums79 wurde von Schrenck-Notzing noch verstärkt, wenn er von „Entladungen“ sprach, mit denen „Entspannungen“ eintraten, die nach Beendigung der Sitzungen erfolgten, tagsüber im Halbdunkel oder während des Nachtschlafes in Form von Materialisationen. Um die zuvor geschilderten psychischen Wahnzustände aus der hysterischen Disposition zu relativieren und sie dem übergeordneten Anliegen einer aktiven 78 Ebenda, 404. In dieser deutschen Übersetzung geht ein wesentliches formales Merkmal des Berichts im französischen Original verloren. Hier beschreibt sich Juliette Bisson stets in der dritten Person, z.B. „elle serre les mains de Mme B., qu’elle a prises depuis qu’elle est déhabillée; elle a des contorsions de tout le corps, semblables à celles observées le 23 février. A un moment donné, elle crie et supplie Mme B. de la secourir“ (Bisson 1914, 190). 79 So betont auch Freimark in seiner kulturgeschichtlichen Studie über „Okkultismus und Sexualität“, dass im Okkultismus sexuelle Varianten überwiegen, die zu einem Ausleben im Schatten des Okkultismus führen, und dass die besondere sexuelle Veranlagung des Mediums als Vorbedingung seiner Medialität zu betrachten sei (Freimark 1909, 7/8).

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Produktion von Phänomenen beizuordnen, unterteilte er die Stimmungen des Mediums in drei Phasen und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei diesem Medium um den dauerhaften Spannungszustand einer Doppelpersönlichkeit handele. Der beschriebene somnambule Zustand könne in die eine oder andere Richtung kippen, denn es handele sich um eine höher stehende, ausgeglichene und feinsinnigere Frau, deren Potenzial sich nur über die Versuchsleiter und vor allem durch den Ansporn ihrer „Beschützerin“ entfaltete. Man ist wohl berechtigt, bei Eva von einer doppelten Persönlichkeit zu sprechen, wenn es sich auch nur um eine freiere Entfaltung ihrer Psyche im Trancezustand handeln würde. Ihre Ausdrucksweise im Somnambulismus ist eine bessere, sie begreift die Wichtigkeit ihrer mediumistischen Leistungen und ist (allerdings nicht immer) bestrebt, eine für das Zustandekommen der Phänomene günstige Gefühlslage durch passives Verhalten herzustellen; sie zeigt in der Regel eine gewisse emotive Weichheit und liest instinktiv die Wünsche und Gedanken der Anwesenden. Daneben steht gesteigerte Suggestibilität und lebhaftere Phantasietätigkeit. Während der Phänomene selbst ist ihr ganzes Streben darauf gerichtet, dieselben so überzeugend wie möglich zu gestalten, genau kontrolliert zu werden; ja, nicht selten erhebt sie sich unmittelbar nach dem Ablauf einer Erscheinung von ihrem Sitz, tritt aus dem Vorhang und verlangt Untersuchung des Körpers und des Kleides; oder sie lässt sich eine rote oder weiße elektrische Laterne geben, um die Phänomene zu beleuchten, wenn dieselben nicht deutlich genug für uns sichtbar sind.80

So charakterisierte Schrenck-Notzing des Verhältnis des Mediums zu Madame Bisson im Somnambulismus als das der Liebe, Anhänglichkeit und Dankbarkeit, die ihre Protektorin im Wachzustand respektvoll mit „Sie“ anspreche, diese jedoch im Somnambulismus duzte und sie meist „ma petite Juliette“ nenne. In Verkennung und Abwehr des erotischen Begehrens vergleicht er das Verhältnis Eva C. zu Bisson mit dem einer Mutter zu ihrem Kinde, das bei Ermüdung der Beschützerin stets liebenswürdige Trostworte findet und ihre Stimme zu hören wünscht.81 Schrenck-Notzing unterschied nun drei Klassen für das Zustandekommen der medialen Vorgänge: 1. die unbewusst betrügerische Darstellung mediumistischer Leistungen im wachen und somnambulen Zustand; 2. die gemischten (mit automatischen reflektorischen Bewegungen) verknüpften Phänomene; 3. die reinen unverfälschten Erscheinungen der Medialität.82

80 Schrenck-Notzing 1914a, 256/257. 81 Ebenda, 258. 82 Ebenda.

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Die Anerkennung der Materialisation rührte an grundlegende Fragen der bildenden Kraft der Psyche und des Verständnisses von Materie. Besonders die Materialisationshypothese verwies auf Aporien modernen Denkens, auf ein Nicht-Wissen im Wissen, weil hier zwischen dem Beobachter und dem Vorgang ein zweiter Beobachter, ein Medium, geschaltet ist, mit all den Täuschungsmöglichkeiten, an die der Forscher als Beobachter von täuschungsresistenten Naturvorgängen nicht gewöhnt war.83 So bestand das Problem des Mediumismus in der Medialität des Mediums selbst, in seiner Dopplung als Instrument und Potenzial der performativen Strategien. Die Beobachtung als die Lenkung der konzentrierten Sinnestätigkeit auf ein zu beobachtendes Objekt oder den zu beobachtenden Vorgang, war generell von dem Sinnesvermögen und von Instrumenten und Apparaturen abhängig, die die Sinne ergänzten oder ersetzten. Bei den okkulten Phänomenen wurden die Beobachtungshemmungen in zwei große Gruppen getrennt; die eine ist die subjektive, vom Medium und der mediumistischen Disposition ausgehende, die andere ist gleichsam die objektive, die in den nötigen physikalischen Versuchsbedingungen gelegene, wie die Verdunkelung oder die Rotbeleuchtung. Trance und Somnambulismus waren notwendige Dispositionen des Mediums, die conditio sine qua non, „wenn supranormale Mechanisierungen im physischen Organismus eingeleitet werden sollen.“84 Mit der performativen Figuration des Mediums ging es um die Produktion der Phänomene selbst und den damit verbundenen Beweis ihrer Existenz in einem Schwellenraum, der die Spannung zwischen wissenschaftlichen Anstrengungen nach Objektivität und Respektabilität und mediumistischen Phänomenen als spontaner flüchtiger Natur sowie Wahrheit und bewusster oder unbewusster Täuschung in der Schwebe hielt. Die Séance war gleichsam die urbane psychologische Experimentalform einer „geselligen Wissenschaft, die die Produktion einer gemeinsamen, dem Augenblick verhafteten Erfahrung vor jede objektivierbare Generalisierung setzt.“ 85 Denn das paranormale Ereignis wurde in seiner Singularität erst in einer kollektiven Performance durch das Zusammenspiel von Experimentator, Medium und Audienz hervorgebracht. Für eine Atmosphäre, in der die erhofften Resultate entstehen konnten, musste den Idiosynkrasien des Mediums ebenso Rechnung getragen werden, wie der experimentellen Anordnung des Sitzungsraumes mit den größtmöglichen Kontrollbedingungen, die allein über Betrug und Täuschung entscheiden konnten.

83 Vgl. Dornhof 2005, 191. 84 Gulat-Wellenburg 1925, 19. 85 Adamowsky 2007, 113.

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3. Das okkulte Labor im urbanen Raum – Anordnungen, Arrangements und kollektive Performance Über die wissenschaftlichen und künstlerischen Vereinnahmungen der Fotos hinaus war die fotografische Kamera nicht nur ein wichtiges Instrument der Beweiskraft mediumistischer Phänomene, sondern ein immerwährendes Moment der Störung. Der sensitive Körper des Mediums und die Sensitivität der fotografischen Platte bedingten einander und konstituierten ein unsicheres Experimentierfeld. Da die Täuschung des Mediums zum zentralen Thema okkultistischer Experimente avancierte, wurden die Kontrollbedingungen individueller und technischer Art ständig erhöht. Aber auch die Kunstfertigkeit der Medien, die Gewandtheit ihrer Glieder und die geschickte Verwendung von Trickapparaten wurde durch ihre Vertrautheit mit den exakten Kontrollen und dem Wissen von sich bietenden Möglichkeiten, die Kontrollbedingungen zu umgehen, gesteigert. So unterlag zunächst das Medium vor jeder Sitzung einer genauen Leibesvisitation. Eva C. wurde von Juliette Bisson, mitunter auch von Schrenck-Notzing, anwesenden Ärzten oder einer Hebamme vor und nach jeder Sitzung gynäkologisch untersucht. Dabei entkleidete sich Eva C. bis auf die Haut und musste die von den Anwesenden gelieferten und genau geprüften Kleidungsstücke anlegen; eine schwarze Wolltrikothose mit Strumpf und ein schwarzes Gewand, dass an den Hüften mit der Hose vernäht wurde, ebenso am Hals und an den Ärmeln. Dann erst konnte sie das mit schwarzem Stoff ausgekleidete Kabinett betreten, wo sie von unterschiedlichen Personen, in der Regel jedoch von Madame Bisson hypnotisiert wurde. „Vorher wurde noch einmal die unmittelbar unter dem dünnen Gewand fühlbare Körperoberfläche von mir abgetastet. Untersuchung der Achselhöhlen, der Haare und Füße, ebenfalls mit negativem Resultat.“86 Der technische Standard der Vorführungen in den Sitzungsräumen von Madame Bisson und Schrenck-Notzing in Paris und München erhöhte sich im Laufe der vier Jahre ständig, sodass die Zahl der Fotoapparate mit Magnesiumblitzen in dem Zeitraum von drei auf zehn erweitert wurde, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Medium im Kabinett richteten. Ebenso wurde die Anzahl der roten elektrischen Lampen von drei auf sechs erhöht, mit 16 bzw. 26 Kerzen.87 Im Oktober 2009 hatte Schrenck-Notzing ein anderes Kabinett im Pariser Haus Bisson eingerichtet, das überall mit Stoffbespannung ausgestaltet war und keine Heizkörper oder Kamine besaß. Das Blitzlicht wurde mit Kontaktbirnen versehen, sodass überraschend fotografiert werden konnte. Außerdem wurde die Beleuchtung auf 3–4 Rotlichtbirnen à 20 Kerzen verbessert und verschärfte Kontrollmaßnahmen getroffen. 86 Schrenck-Notzing 1914a, 58. 87 Vgl. Bisson 1914, XVII.

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Die Arrangements der experimentellen Räume in Paris und München waren nun identisch; das schwarz ausgekleidete Kabinett (1,35 x 1,30 m) befand sind am Ende des Raumes, es war mit einem Stoff verhangen, hinter dem das Medium die teleplastischen Phänomene produzierte. Zunächst trat Eva C. nur kurz aus dem Kabinett heraus vor die SitzungsteilnehmerInnen, um die blitzartig erscheinenden und in wenigen Sekunden wieder verschwindenden Materialisationen zu zeigen und fotografieren zu lassen. Ab dem Jahr 1910 blieb der Stoffvorhang während der gesamten Séance offen. Die TeilnehmerInnen, meist Bisson, Schrenck-Notzing, Pariser Ärzte und Intellektuelle,88 saßen im Abstand von einem halben Meter vor dem Kabinett in einem von mehr als zehn elektrischen Lampen rot ausgeleuchteten Raum. Die fotografischen Apparate, darunter mehrere stereoskopische, standen hinter den SitzungsteilnehmerInnen zur „objektiven Registrierung“ bereit, verbunden mit Magnesiumblitzen, die per Fernauslösen von Schrenck-Notzing oder dem Maler M. Crevreuil bedient wurden. Die Ausgestaltung des Münchener Privatlabors erfolgte nach dem Modell des Grunewald’schen Laboratoriums in Berlin. Der Berliner Ingenieur Fritz Grunewald hatte in Anlehnung an die Ausrüstung des experimental-psychologischen Labors von Wilhelm Wundt in Leipzig verschiedene Meß- und Registrierungsverfahren konstruiert,89 so eine Phantomwaage, um Gewichtsveränderungen von Medien während ihrer Produktionen zu messen. So übernahm Schrenck-Notzing eine elektrisch illuminierte Uhr, um die Zeit der Erscheinungen im Raum zu registrieren.90 Von den idealen Vorstellungen Schrenck-Notzings für die Ausgestaltung des Labors waren seine Münchener Privateinrichtung und der Pariser Versuchsraum von Juliette Bisson jedoch weit entfernt, wie er selbst einräumte. Man müsste, wie Prof. Lodge es vorschlägt, eine Art psychisches Laboratorium, welches für alle Arten experimenteller Psychologie und Psychophysik angepaßt ist, einrichten. Die Registrierungen sollten von den zur Täuschung neigenden Sinnesorganen unabhängig gemacht und auf physikalische Apparate möglichst übertragen werden. Selbstregistrierende Waagen, ausgiebige Benützung der photographischen und elektrischen Hilfsmittel (so Photographien bei ultraviolettem Licht), Anwendung der verschiedenen Helligkeitsgrade des Lichtes und der Spektralfarben, Temperaturmesser sowie sonstige sinnreich konstruierte Instrumente könnten in einem solchen Institut ihren Platz finden.91

88 Im Münchner Labor von Schrenck-Notzing waren als Séanceteilnehmer u.a. dabei: Hans Driesch, Thomas Mann, Ludwig Klages, Ernst von Keller, Gustav Meyrink, Graf Hermann Keyserling, Georg Groddek, Gustav Wyneken, W. von Gulat-Wellenburg. 89 Grunewald 1920, 34–37. 90 Vgl. Schrenck-Notzing 1926. 91 Schrenck-Notzing 1914a, 29.

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Obwohl die technische Ausrüstung der Räume in München und Paris eine gewisse Nähe zu den etablierten psychologischen Laboren aufwies92, gab es doch gravierende Unterschiede, wie der kettenbildende Zirkel der Séance, das eingenähte Medium, das dunkle Kabinett und vor allem die psychische Konstitution des Mediums selbst, das technische Apparate häufig als Störung für die Erscheinungen bemängelte. Da sich die Versuchsleiter in einer ungewöhnlichen Abhängigkeit von dem Medium befanden, musste der experimentelle Raum auch nach dessen Wünschen gestaltet sein. Ort und Ambiente des Versuchsablaufs waren in der ersten Zeit noch stark der „spiritistischen“ Tradition verhaftet, wie Schrenck-Notzing selbst bedauernd feststellte. Das Medium saß nach den Prüfungen des Körpers und der Räumlichkeit in seinem Kabinett, wo es zunächst hinter geschlossenem Vorhang die teleplastischen Phänomene produzierte. Das Medium verlangte nach kurzer Zeit, dass der Zirkel singen sollte. „So stimmten die Anwesenden im Chor alle möglichen Melodien an, wobei die weniger Musikalischen nur im Takt mitsummten.“ Nach einer halben Stunde wurde der Vorhang 10–15 cm für die Dauer von 2–3 Sekunden geöffnet. Ich erblickte die Umrisse und das Profil einer weißbekleideten Figur von der Größe eines Erwachsenen, welches sich dann etwa sechsmal hintereinander, teilweise im Profil, teilweise en face zeigte. Deutlich konnte man eine mittelgroße, weißbekleidete Figur bemerken, mit scharf ausgeprägten Gesichtszügen, ohne aber zu erkennen, ob dieselben weiblich oder männlich waren. Auf dem Kopf war ein festverschlungener Turban aus weißem Stoff zu sehen, der die Stirn ziemlich tief bedeckte und an die Bandagierung von Operierten erinnerte. Das Medium war hierbei nicht gleichzeitig zu sehen.93

Schrenck-Notzing als auch Bisson gaben an, dass die Zeitdauer der Beobachtung zu kurz und auch die Beleuchtung zu dunkel waren, um Unterschiede zwischen dem Phantom und dem Medium festzustellen. In den darauf folgenden Untersuchungen des Mediums und des Kabinetts konnten keinerlei verdächtige Spuren gefunden werden. Nach einigen Monaten verlegte Madame Bisson die Experimente in einen anderen Raum, in dem das Kabinett vergrößert und der Vorhang entfernt wurde, dass nun die klare Trennung zwischen Zuschauerraum und Kabinett aufgehoben war. Durch das Anbringen von weiteren Fotoapparaten und einer stereoskopischen Kamera an der Decke des Kabinetts vollzog sich eine gravierende Raumveränderung, mit der Medium und TeilnehmerInnen von einem Ring aus Fotokameras eingeschlossen waren. Durch den während des gesamten Verlaufs offen bleibenden Vorhang war es Schrenck-Notzing möglich, hinter dem Medium im Kabinett Platz zu nehmen und 92 Nicolas/Ferrand 1999. 93 Schrenck-Notzing 1914a, 58.

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die Entstehung der Materialisation zu beobachten. In den Sitzungen zeigten sich nun wiederholt an verschiedenen Stellen und meist in Verbindung mit dem Körper des Mediums schleier- und wolkenartige Gewebe in Form von Streifen, Fäden, Fetzen, die sich zu menschlichen Gliedmaßen zu formen begannen. So eine Beobachtung vom 30. Dezember 1911: Unmittelbar nach dem Verlöschen des weißen Lichtes und dem Eintritt des somnambulen Zustandes ließ Eva das bekannte Geräusch der langgezogenen Expirationen, des Röchelns, Stöhnens und Pressens hören. Kaum hatte ich meinen Platz rechts vom Medium eingenommen, als schon eine weiße, doppelt handgroße Masse auf ihrem Schoß sichtbar wurde. Während der nun folgenden 20 Minuten dauerten die psychophysischen Anstrengungen fort. Die Substanz änderte ihren Platz und wir erblickten sie bei der nächsten Exposition auf Evas Kopf. Ich bat, sie möge jenes von uns photographierte weibliche Angesicht, das nach Angabe der Somnambulen einer Entité „Estelle“ angehöre, zur Erscheinung bringen, was zugesagt wurde. …. Ich sah nun dasselbe hübsche Frauenantlitz ganz deutlich und war über die natürliche Gesichtsfarbe und den Ausdruck des Lebens derart überrascht, dass mein erster Gedanke war, es könne der (gleichzeitig nicht sichtbar gewordene) mit Stoffen eingebundene Kopf des Mediums sein (Transfiguration).94

Abb. 11.1: Transfiguration der Eva C. Blitzlichtaufnahme von A. v. SchrenckNotzing am 30. Dezember 1911 94 Ebenda, 226. 95 Ebenda, 111.

Bei weiteren Versuchen saß diese Erscheinung stielartig auf der Haut Evas in Kopfhöhe, wodurch das Bild den Charakter eines janusartigen Doppelkopfes bekam, den Schrenck-Notzing begeistert als hervorragendes Kunstwerk beschrieb, da es dem klassischen Profil entsprach und an Köpfe auf etruskischen und griechischen Vasen erinnerte (Abb. 11.1). Neben verschleierten Figuren, Schleim und Stoffen konnte das Medium auf Zurufe der SéanceteilnehmerInnen Hände und andere Gliedmaßen materialisieren. Mit der veränderten Raumsituation ging ab 1910 auch ein enger seelischer Rapport zwischen dem Medium und den ZuschauerInnen einher, die nun in das Kabinett gerufen wurden, die Phänomene berühren konnten und auch bestimmte Formen wie Arme oder Beine sehen wollten. „Es ist noch zu erwähnen, dass wir Hände sehen wollten und das Medium darum ersucht hatten.“95

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Die Anordnungen über das Verhalten der SitzungsteilnehmerInnen wurden von der Hypnotisierten mit Flüsterstimme erteilt. So wurden regelmäßig Fragen gestellt, ob genügend Kraft zur Hervorbringung der gewünschten Manifestationen vorhanden, ob der Zirkel singen oder Ketten bilden soll oder ob die Sitzung zu beenden sei. Es ist außerdem zu erfahren, dass oft TeilnehmerInnen dem Medium durch Berührung Kraft spenden mussten. Dadurch wurden die SéanceteilnehmerInnen zu einem konstitutiven Moment des Experiments. Und obwohl die Erscheinungen einmalig und unvorhersehbar waren, gingen die Versuchsleiter dazu über, bestimmte Geschehnisse wiederholen zu lassen, um die Dynamik zu steigern. Beim nächsten Versuch hielt Richet Evas Linke, ich ihre Rechte mit meiner Linken. Wir wünschten den letzten Versuch zu wiederholen; ich nehme das bereits früher erwähnte Metallkästchen aus der Tasche, öffne dasselbe und halte es in die Nähe des Vorhangs dorthin, wo in der Regel die Gebilde sich zu zeigen pflegen, mit der Bitte, mir wiederum ein Teilchen des teleplastischen Aggregates hineinzugeben. Plötzlich wird die von mir festgehaltene Schachtel von den stumpfartigen Fingeransätzen ergriffen in der Weise, dass einer dieser Ansätze die Schachtel mit dem Porzellaneinsatz von innen, der andere dieselbe nach außen nahm, und damit mit einem heftigen Druck kräftig heruntergestoßen, so dass meine Hand trotz des geleisteten Widerstands mit heruntergedrückt wurde und nachgeben musste. Hierbei erblickte ich das Gliedfragment; beim Ergreifen und Herunterdrücken des Kastens klapperte die fest an die Metallwand gedrückte Porzellanschale. Auch dieser Versuch wurde ziemlich langsam zweimal wiederholt (Dauer 3-4 Sekunden). Der Kopf des Mediums war als heller Fleck sichtbar, ihre Hände wurden von uns gehalten. Wiederum großer Energieaufwand und begleitende Muskelkontraktionen Evas. Die Konstatierung des Phänomens geschah also gleichzeitig durch Gesicht, Gehör und Tastsinn. Darauf Schluß der Sitzung. Nachkontrolle negativ.96

Die gesteigerte Interaktion zwischen den TeilnehmerInnen und der Materie, dem Medium und den Versuchsleitern zu einer kollektiven Performance ließen den ständig unter Täuschungsverdacht stehenden Körper des Mediums ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Der aktive Anteil des Mediums an der Produktion der monströsen Gebilde und die Störanfälligkeit seiner Medialität erregten mehr Aufsehen, als die Echtheit der Phänomene, die Evas Körper aus Mund, Brustwarzen und Genitalien gebar. Aber auch die SitzungsteilnehmerInnen waren durch Selbstkontrollen, gemeinsames Singen und Händehalten daran beteiligt, dass die aus dem Mesmerismus bekannte Vorstellung des Fließens der fluidalen Energien zwischen dem Medium und den ZuschauerInnen zum Erfolg führte. So betonte SchrenckNotzing häufig vor den Sitzungen, wie Voreingenommenheit und Zweifel der Anwesenden und deren Beobachtungsgabe das Geschehen zu beeinflussen vermochten. Vor allem die Vor96 Ebenda, 124.

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stellungstätigkeit der Anwesenden hielt er für den Inhalt der Phänomene entscheidend: Letzten Endes muss die einmal gefaßte Idee des Phänomens im Unterbewusstsein des somnambulen Mediums verarbeitet werden [...], um sich dann, wenn genügend psychophysische Energie im Körper angesammelt ist, durch eine biopsychische Projektion ektoplastisch auf eine gewisse gesetzmäßig beschränkte Entfernung hin umzusetzen und auszuprägen, d.h. zu objektivieren. Die Phänomene bei Eva C. lassen sich im Sinne einer bis dato unerforschten ideoplastischen Fähigkeit der medialen Konstitution auffassen.97

Die Spannung vor der Ankunft des Außergewöhnlichen wies allen Beteiligten im Raumgefüge eine spezifische Funktion für die Produktion der Phänomene zu, die das Medium nicht nur auf rätselhafte Weise hervorbrachte. Eva C. trat vor, während und nach der kollektiven Performance aktiv auf, ließ sich auf ihren eigenen Wunsch von Schrenck-Notzing und Madame Bisson am Körper berühren und sorgte mit ihrem medialen Körper für unerwartete Unterbrechungen, wie auf einer Sitzung im Dezember 1910, auf der sie Madame Bisson aufforderte, ihre Hände zu halten. Plötzlich wurde ein kräftig und völlig entwickelter offenbar männlicher Vorderarm mit Hand sichtbar, ergriff das junge Mädchen brutal an der Brust und schleuderte es mit Gewalt in den Fonds des Sessels zurück. Eva stieß heftig erschrocken einen Schrei aus und war derart erregt, dass man die Sitzung abbrechen musste. Sie konnte sich mehrere Wochen von dem Nervenschock nicht erholen.98

Vielfach wurde der interaktionistische Schöpfungsakt der mediumistischen Phänomene und das Verschwinden derselben in wenigen Sekunden mit „sexuelle Eskapaden“99 des Mediums in Verbindung gebracht oder das Medium selbst wurde als „Projektionsfläche neurotischer Vorstellungen der vorwiegend männlichen Beobachter und Kontrolleure“ bezeichnet, 100 die ihr Vorgehen unter Berufung auf die rein wissenschaftlichen Absichten rechtfertigen konnten. Für den Historiker Ulrich Linse waren innerhalb der okkultistischen Bewegung sogar emanzipatorische Trends abzulesen, wenn die weiblichen Medien „ungestraft durch soziale Sanktionen“ neue Geschlechterrollen einüben können.101

97 98 99 100 101

Ebenda, 519. Ebenda, 125. Walter 2004, 8. Pytlik 2005, 76. Linse 1996, 19.

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Es ist sicher nicht zu leugnen, dass vor allem Schrenck-Notzings Protokolle exzessive Sexualisierungen enthielten, doch blieben diese seinem experimentell-wissenschaftlichen Anspruch untergeordnet. Im Vordergrund standen die Effizienz der Kontrollmaßnahmen zur Täuschungsabwehr und vor allem die Präsenz der ausgewürgten Materialien, wie Schleier, Schleim und amorphe Stoffe, deren Herkunft immer wieder in den Körperöffnungen des Mediums vermutet wurde. Die ostentativen Sexualisierungen, die weit über zeitgenössische pornografische Darstellungen hinausgingen, verliefen eher en passant, um dem Risikofaktor Medium zu begegnen und Täuschungen auszuschließen. Als Eva C. vor der Sitzung die Trikothose anzog, führte Mad. Bisson vor meinen Augen ihren Finger in die Scheidenöffnung Evas. Außerdem wurde sie von Prof. B. und Verfasser durch die Trikothose nochmals exploriert mit negativem Erfolg. Angenommen, ein weibliches Medium würde sich ihrer Vagina als eines Verstecks für ein zusammengeballtes Paket, z.B. von Chiffongaze bedienen, so müsste sie, um dasselbe zum Vorschein zu bringen, doch an das Paket vorher eine Schnur oder ein Band befestigt haben zum Herausziehen des Tampons. Dieses Band müsste am Scheideneingang bei der Exploration entdeckt werden; endlich würde der in die Scheide eindringende Finger den Fremdkörper fühlen. Bei Personen mit sehr weitem Scheideneingang wäre es vielleicht auch möglich, solche Pakete mit Hilfe der tief eingeführten eigenen Finger herauszubringen. Die Ausführung einer derartigen Manipulation setzt aber voraus, dass die Genitalien nicht durch eine wenn auch Trikotstoff gefertigte Scheidewand von der berührenden Hand getrennt sind, und dass die Versuchsperson in stehender oder liegender Stellung sich befindet. Wohl hätte sie durch den Stoff der Hose, in welche sie eingenäht war, die äußeren Genitalien berühren, niemals aber tiefer eindringen können.102

Die geschilderten sexuell aufgeladenen Untersuchungsverfahren gehörten zu dem Ensemble von Maßnahmen des experimentellen Arrangements, die alle darauf gerichtet waren, die schwankenden Gefühlslagen des Mediums zu stabilisieren. Denn diese waren geneigt, „wie mit einem Zauberschlage die teleplastischen Gebilde zu zerstören“. 103 Alles konzentrierte sich darauf, Mut und Zutrauen der Hypnotisierten zu stärken, damit sie durch Übung und Anpassung an die Wünsche der TeilnehmerInnen ihre Erzeugnisse schärfer und plastischer auszubilden vermochte, womit den ZuschauerInnen ein ebenso aktiver Part zukam, wie dem Medium selbst. Das treibende voyeuristische Moment des sexuell spannungsgeladenen Mitwirkens an dieser kollektiven Performance ließ das Spiel der weißlich scheinenden Stoff­ aggregate und anderer Materialien an und aus verschiedenen Körperteilen und -öffnungen des Mediums zu einem Schwellenraum für die Erfahrung des Außergewöhnlichen werden, 102 Schrenck-Notzing 1914a, 128. 103 Ebenda, 98.

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mit dem die Grenzen zwischen Geist und Körper, privat und öffentlich, Trick und Wahrheit, Materiellem und Immateriellem fließend zu werden schienen. Dieser Effekt des „Dazwischenhaltens“ entstand aus der performativen Figuration des Mediums sowie aus dem Vergnügen eines erkenntnisoffenen Spielverlaufs,104 mit denen die Differenz zwischen Fiktion und Realität im Moment des Erlebens vergleichgültigt wurde: Man hat es mit einem aisthetischen Projekt zu tun, das die Paradoxie aus dem rationalen Primat einer konsistenten Wirklichkeit einerseits und der stets gegebenen Möglichkeit zur Erfahrung eines Außergewöhnlichen andererseits in dem spielerischen Entwurf einer Natur unbegrenzter Geschmeidigkeit auflöst. Realität selbst erweist sich im Moment des Geschehens als plastisches Medium.105

Die Momente des Experiments waren jeweils Teil der performativen Figuration und blieben an Erfahrung und Singularität gebunden. Sie bildeten eine Kette von Ereignissen, die im Experiment nicht verifizierbar waren. Alle Bemühungen von Schrenck-Notzing und Juliette Bisson um wissenschaftliche Evidenz blieben spektakulären Realitäten verhaftet sowie einer Schaulust des Publikums, das mit der Erfahrung ein ko-produzierender Teil seiner Hervorbringung zu sein, der Faszination des Spektakels unterlag. Und so ist die Präsenz der Materialisation letztendlich in einer unendlichen Zirkulation von Bildern zu sehen, die auf die verrückte Medialität106 des Mediums selbst verwiesen.

4. Fotowahn – die Realität der Phantasmen im Labor Um dem performativen Charakter der Séance dennoch wissenschaftliche Beweiskraft zu verleihen, wurden neben den umfangreichen Protokollen auch Gipsabdrücke von den Materialisierungen oder Gussformen aus Paraffin angefertigt, um beispielsweise bei den Gliedmaßen ihre Nichtübereinstimmung mit denen des Mediums zu belegen. Auch Bilder des Malers Karl Gampenrieder, der diese nach den Protokollen malte, wurden angefertigt, wenn die Kameras nicht funktionstüchtig waren. Vor allem aber war die Fotografie ein methodisches Verfahren zur Dokumentation des Beob104 Vgl. Pfeiffer 1999. 105 Adamowsky 2007, 115. 106 ������������������������������������������������������������������������������������������ Der Neurologe und Psychiater W.v. Gulat-Wellenburg führte im Zusammenhang mit dem physikalischen Mediumismus Automatismen und Zwangshandlungen an. „Die Persönlichkeitsspaltung (der Zustand der double conscience, second personality, subliminal personality), in der das Bewusstsein des eigenen Ich ganz verloren geht, und die selbst Ichcharakter trägt, ist ein Automatismus stärksten Grades und streift das Pathologische im Geistesleben“ (Gulat-Wellenburg in: Klinkowstroem/Rosenbusch v. 1925, 10).

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achteten, als Ergänzung der protokollierten Berichte der TeilnehmerInnen und als wichtigstes Aufzeichnungsinstrument zur Untersuchungen von Täuschungsmöglichkeiten. Schrenck-Notzing wusste um die Wirkungsweise von Bildern, davon zeugt die reichhaltige Fotosammlung seines Buches, 109 Tafeln mit 172 Abbildungen finden sich auf den 523 Seiten. Zu Werbezwecken für das Erscheinen seines Buches ließ er halb München mit Fotos von Eva C. plakatieren.107 Neben dem Wissen um die spektakuläre Wirkung von Bildern basierte für Schrenck-Notzing die Überzeugungskraft des Visuellen nur auf der Kenntnis des Zustandekommens der Fotografie und der dabei verwendeten Kontrollbedingungen.108 Mit den Fotos unternahmen Schrenck-Notzing und Juliette Bisson den Versuch, die sich zeigende und nach wenigen Sekunden wieder schwindende Materie dennoch visuell zu fixieren. So produzierte Eva C. in den Jahren 1912 und 1913 zunehmend aus weißer Masse flächige Gesichter von Verstorbenen vor allem der Familie Bisson und flächige Ganzkörperphantome, wie zum Beispiel das des 1912 verstorbenen Monsieur Bisson. Die monströsen Erscheinungen verwirrten die Wahrnehmung der TeilnehmerInnen und waren letztendlich nur in der Fotografie zu fassen, die jedoch die Verstörungen nur weiter vervielfältigte. Denn entscheidend für die Bewertung dessen, was auf den Fotografien sichtbar ist, war die Einstellung der TeilnehmerInnen und diese war auch vom Wissen um technische Aspekte der Fotografie abhängig. Denn gerade im Umgang mit dem okkultistischen Bildmaterial und seiner Erzeugung wurde der fotografische Blick trainiert für Tricks und Täuschungen, für Doppelbelichtungen oder Blendenspiegelungen. Die in den Materialisationen zum Ausdruck kommenden Techniken der okkulten Medien, mit denen zunächst die „unheimliche“ Macht der Hypnose mit Merkmalen des Wahns und pathologischer Wahrnehmungstäuschung analogisiert wurde,109 verwiesen somit auf ein weiteres instabiles Terrain. Am 10. September 1912 waren im Münchener Labor Dr. Kafka und Graf Pappenheim anwesend, als Eva C. ein lebensgroßes Phantom mit männlichen Gesichtszügen hervorbrachte. 107 Vgl. Pytlik 2005, 77. 108 „Der Anblick eines Bildes allein, ohne Kenntnis des Protokolls und der Versuchsbedingungen, muß notwendigerweise einen unrichtigen und ungünstigen Eindruck erwecken“ (Schrenck-Notzing 1914, 318). 109 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Der Hamburger Arzt Christian Bruhns hatte in seiner Schrift „Gelehrte in Hypnose“ zahlreiche Wissenschaftler und Schriftsteller wie Thomas Mann an den „Abgrund des Wahnsinns“ verbannt, da sie „Zaubertheater als wissenschaftliche Versuche“ betrachten. Aufgrund einer „hypnotischen Zaubertheorie“ sei vor allem Schrenck-Notzing in einem autosuggerierten Wahnsystem befangen und zum Führer der okkulten Bewegung avanciert: „Das verführerische Selbstbewußtsein eines Aristokraten und angesehenen Wissenschaftlers, sein Tun und Versprechen haben Unvorsichtige, verlangend nach dem Wunderbaren, in einen hypnotischen Zustand versetzt, in dem sie der Kraft und des Verlangens, sich ein Urteil zu bilden, beraubt erscheinen. […] Er ist der unbeirrte siegreiche Hypnotiseur, weil er selber seit vielen Jahren einer Hypnotisch aufgenommenen Überzeugung erlegen ist“ (Bruhns 1926, 22, 14).

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Die mehrmals nacheinander auftretenden Expositionen erfolgten mit so viel Geschwindigkeit, dass der optische Eindruck zu flüchtig war, um irgendetwas Näheres, betreffend Form und Aussehen wahrnehmen zu können. Auf mein Befragen gaben beide männliche Beobachter an, das Gebilde scheine ihnen armartig zu sein. Obwohl Verfasser fürchtete, mit der Auslösung des Blitzlichts zu spät zu kommen, so beschloß er doch, bei der nächsten Exposition so rasch wie möglich den elektrischen Strom einzuschalten. Das geschah, die Platten wurden versorgt, und ich war vollständig im unklaren, was photographiert war; nur das eine stand für mich fest, dass dieser weiße Gegenstand im Augenblick raschester Bewegung (also unabhängig vom Körper des Mediums) aufgenommen war.110

Es war nicht zu übersehen, dass die Phantomarrangements wiederum Bilder aus dem Medienmaterial der Fotografiegeschichte zitierten, wie die spiritistischen Geisterfotografien oder die Psycho- und Gedankenfotografie des Hippolyt Baraduc111, einer Technik des direkten Belichtens von fotografischen Platten mit so genannter „psychikonischer“ Seelenstrahlung.112 Im klinischen und medialen Kontext war die Fotografie zum wichtigen Instrument für die Methoden des klinischen Blicks geworden, zur Symptomerkennung neurologischer Deformationen an der Körperoberfläche, der Geisteskrankheiten,113 sowie für den Zustand der Seele.114 „La photographie est la retina de savant“, stellte bereits 1880 der Leiter der fotografischen Klinik an der Salpêtrière, Albert Londes fest.115 In den Herstellungsverfahren von Sichtbarkeit imaginierte sich das fotografische Auge als 110 Schrenck-Notzing 1914a, 337/338. 111 Baraduc 1896. 112 Vgl. Didi-Huberman 1997, 110ff. Der Pariser Wissenschaftler und Spezialist für Nervenkrankheiten an der Salpêtrière, Dr. Hippolyte Baraduc entwickelte auf experimenteller Basis eine „Ikonografie des Unsichtbaren“, denn für ihn waren alle Kräfte der Natur – das Leben, die Elektrizität, die Strahlung, die Schwerkraft – Emanationen der einen Grundkraft, deren Wellen fotomechanisch nachweisbar sind. Zur zeitgenössischen Diskussion um „Transzendental-Photographie“, so der umfassende Begriff für die Aufnahmen unsichtbarer, paranormaler Phänomene, wie die „Lebensstrahlung“ von Menschen, Tieren und Pflanzen, spiritistische Geister und Medien in Trance beim Auswürgen des Ektoplasmas, siehe Peter 1909, 1918. Zur Zweiteilung der fotografischen Gegenstandswelt in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil, die sich um 1900 zu einer Systematik verdichtete, mit der man zwei Ordnungen der Repräsentation grundsätzlich voneinander unterscheiden wollte, zur Fragwürdigkeit dieser Zweiteilung und zur Geschichte der okkulten fotografischen Entbergungskunst im Kontext der physikalischen Forschung der Zeit, siehe Geimer 2010, 262 ff: „Zweifellos erzeugt die Fotografie einen optischen Mehrwert, eine Information, die außerhalb der fotografischen Platte nicht zu haben war. Aber wie genau hat man sich dessen Zustandekommen vorzustellen?“ 113 Vgl. Diamont 1856. 114 Vgl. Baer 1994. 115 Zitiert nach Fischer 2001, 521.

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Erzeuger und die zeugende Macht des Blicks war gleichzeitig magisch aufgeladen.116 In zeitgenössischen Untersuchungen zur Rolle von Fotografien im okkulten Experiment wurde zwischen „Forschungsfotografie“ (Gedanken- und Fluidalfotografien) und „Kontrollfotografie“ (Fotografien sichtbarer Phänomene wie der Materialisationen) unterschieden. Guillaume de Fontenay, Autor der Publikation „La photographie et l’étude des phénomènes psychiques“ gehörte als „gläubiger“ Beobachter und zeitweise auch als Fotograf zu den Séancen mit Eva C. in Paris. Er entwickelte ausführlich Parameter für die „Forschungsfotografie“ und ihre Fehlerquellen, für die „Beobachtungsfotografie“ wird nur kurz und lakonisch festgestellt: „La photographie de controle vise un but simple: vérifier matériellement que ce que nous voyons est réel.“117 Doch die Fotografie in den Pariser und Münchener Séancen hatte eine darüber hinausgehende Bedeutung. Wie bei allen exzellenten Täuschungen auf Varietébühnen, wo die ZuschauerInnen durch das Eintauchen in den Illusionismus realistische Gespenster wahrnahmen, wurde zwar die „wahre“ Existenz der okkulten Phänomene diskutiert, diese aber eher offen gelassen und auch konnte das Medium Eva C. während der vier Jahre nicht nachweislich entlarvt werden.118 Die Fotografie war ebenso wie die TeilnehmerInnen und die Raumanordnung mit den neuesten technischen Ausstattungen (Stereoskopfotografien, Magnesiumblitzlichtkameras)119 ein wesentlicher Teil der experimentellen Anordnung und verschob sich noch einmal vom reinen Kontrollbild zum Untersuchungsgegenstand. Sie sollte dazu beitragen, der Genese der 116 von Braun 2001, 224. 117 Fontenay de 1912, 26. 118 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Die Versuche mit Eva C. sollten unter besonderer Berücksichtigung aller Einwände mit erneuter Intensität fortgesetzt werden, doch verhinderte der Ausbruch des ersten Weltkriegs alle weiteren gemeinsamen Experimente Schrenck-Notzings und Madame Bissons. Die Bildhauerin setze in Paris und in ihrem Landhaus La Boule bei Bordeaux das Studium mit dem Medium fort. Aus dem Collège de France veröffentlichte das Institut Physiologique in seinem Bulletin vom Januar bis Juni 1918 einen Vortrag von Dr. med. G. Geley „La physiologie dites supranormale“, in dem er über die gemeinsam mit Madame Bisson in den Jahren 1917/18 in seinem Laboratorium unter Teilnahme von etwa 150 Gelehrten angestellten Versuche mit Eva C. berichtete. 1920 trat Madame Bisson mit Eva C. in den Räumen der Londoner „Society for Psychical Research“ innerhalb von zwei Monaten in 40 Sitzungen auf, in denen sich jedoch keine oder nur schwache Phänomene zeigten. Auch in den 1922 abgehaltenen Sitzungen an der Pariser Sorbonne verliefen die Experimente negativ, sodass sich die Veranstalter nicht zu einer Anerkennung der Phänomene veranlasst sahen. Da man Eva C. nie des Betruges überführen konnte, gingen die Gegner dazu über, vor allem nach dem Tod von Schrenck-Notzing 1929, ihre „mütterliche Beschützerin“ zu verdächtigen. Siehe Schrenck-Notzing (1929) 1985, 22ff. 119 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Um retroaktive Erinnerungstäuschungen auszuschließen, empfiehlt Schrenck-Notzing für die sorgfältige Protokollierung jeder einzelnen Beobachtung den Roneograph der Fima Pathé (Paris), eine Art Phonograph, dessen Wachsplatten das während der Sitzung diktierte Protokoll aufnehmen und nach derselben memorieren (Schrenck-Notzing 1914a, 25).

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Phänomene nachzugehen und zugleich stellte sich eine Diskussion um die Herstellung von Sichtbarkeit ein. Als Teil der Versuchsprotokolle wurde auf den Fotos das beschrieben, was die von den Versuchsleitern und dem Publikum gemachten Beobachtungen immer wieder bestätigte. Damit verstärkte die Fotografie die teilnehmende Erfahrbarkeit außergewöhnlicher Phänomene und bildete die Grundlage für Schrenck-Notzings persuasives Verfahren. Der Medienwechsel von der Sprache zum Bild markiert zwar eine zentrale Schwelle in der Performativität des Wissens, doch wurden die Bilder wieder zu Texten gemacht. Den Protokollen war stets eine erzählende Bildbeschreibung beigegeben, bei der sich jedoch auch Unbestimmtheiten abzeichneten, denn nicht alle sichtbaren Details ließen sich zweifelsfrei zuordnen. Schrenck-Notzing war sich bei manchen Phänomenen mitunter nicht sicher, ob es sich tatsächlich um Emanationen des Mediums oder nicht eher um Störungen der fotografischen Platte handelte. Die durch den im Kabinett aufgestellten Apparat gewonnene Photographie zeigt uns das Medium im Profil. Das Gewebe macht hier den Eindruck einer sich stark nach von vorwölbenden Materie, deren unterer Teil eine scharfe Kante besitzt; wie wenn es sich um eine Gipsmasse handeln würde. Man erkennt auch die Form einer Fingerspitze. Der obere Teil des Gewebes wird von einer strahlenartigen Aura umgeben. Ob dieselbe lediglich eine Wirkung der leuchtenden weißen Farbe auf der photographischen Platte oder durch die Komposition des Gewebes bedingt ist, lässt sich schwer entscheiden.120

Oder die im Protokoll verzeichnete Sichtbarkeit eines Kopfphantoms verschwand im Foto: „Die Entwicklung der Negative bot insofern eine Überraschung, als dieselbe uns lediglich eine schleierartige, scheibenförmige Materie enthüllte, ohne Kopfzeichnung.“121 Die Fotografie war in dem Prozess des Aushandelns von Wahnsinn zugleich Teil eines umfassenden Systems visueller Kommunikation, Medium wie Agens empirischer Beweise und visueller Wahrheiten und vor allem als ein Zeichensystem mit einem Vorrat von symbolischen Codierungen zu betrachten, die seine Rezeptions- und Gebrauchsweisen bestimmten.122 Das Gespenstische des Mediums Fotografie123 wurde in den Versuchsreihen stets als Zeu-

120 Ebenda, 155. 121 Ebenda, 369 122 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Solomon-Godeau 2003, 55. Vilém Flusser betont, dass die technischen Bilder im 19. Jahrhundert erfunden wurden, als die Textolatrie ein kritisches Stadium erreicht hatte. Bilder sollten Texte, vor allem wissenschaftliche und philosophische wieder vorstellbar machen und sie dadurch magisch aufladen (Flusser 1992, 12). 123 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Phänomenen des Unsichtbaren und okkultistischer Fotografie, Krauss 1992, Fischer/Loers 1997, Schüttpelz 2005.

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genschaft, als „Symbol der Wahrheit“124 eines Sachverhalts oder Gegenstands gedeutet, da sich die Phänomene des Unsichtbaren mit dem zunehmenden Begehren nach Sichtbarkeit durch die Fotografie vervielfältigten. Die Geister der Fotografie sind in die Medien eingezogen und so spiegelte sich der Wahn des Mediums im Gespenstischen des Mediums Fotografie. Mit immer komplizierteren Aufzeichnungssystemen waren Schrenck-Notzing und Juliette Bisson bestrebt, das Unsichtbare zu bergen und der Fotografie dabei eine privilegierte Position im Zugang zu den unsichtbaren und unbewussten Phänomenen des Körpers zu erteilen, was den zeitgenössischen Wahrnehmungsmodi und deren Verhältnis zum Wissen entsprach.125 Mit der Erforschung des Unsichtbaren und den Visualisierungsstrategien der Materialisationen nahmen – wie bereits bei Duchennes Elektrizitätsexperimenten – lebende Körper den Platz der Leichen ein und wurden ebenso wie die Kamera zur produktiven Instanz der performativen Hervorbringung von Materialität. Trotz aller Irregularität und Störungen der technischen Apparatur war Schrenck-Notzing davon überzeugt, dass sich Bilder und Wahrnehmungen der flüchtigen Ereignisse gegenseitig legitimierten. So konnte Madame Bisson im Jahre 1913 zwei Mal die männliche Personifikation „Dorsmica“ (flächig aus Papier) fotografieren. „Das Resultat des Verfassers vom 19. Mai 1913 bestätigt die Wahrnehmungen und photographischen Reproduktionen der Madame Bisson am 23. Februar und 24. März und ist schon aus diesem Grunde für die Beweiskraft der Phantomfrage von nicht zu unterschätzenden Wert.“126 Die Aufnahmen von Phantomen mit dem Medium auf einer fotografischen Platte gehörten für Schrenck-Notzing zu den größten Seltenheiten, „das nackte Medium aber – dem jede Möglichkeit des Verbergens von Stoffen für die künstliche Inszenierung der ErscheiAbb. 11.2: Ganzes Phantom mit unbekleidetem Medium. Blitzlichtaufnah- nungen genommen ist – mit dem Phantom auf demselben Negativ bedeutet ein Novum“127 (Abb. 11.2). me von J. Bisson am 13. Februar 1913 124 Hoffmann 2002, 369. 125 Vgl. Baxmann 2002, Holl 2002, Hahn/Person 2002, Reichert 2007, Bitsch 2009, Hahn/Schüttpelz 2009. 126 Schrenck-Notzing 1914a, 431. 127 Ebenda, 392.

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Doch die Kamera konnte nur die „Objektivität“ der Tatsachen verbürgen, nicht aber ihre Authentizität. „La photographie à elle seule, prise indépendamment du témoignage des contrôleurs, ne prouve donc l’authenticité du phénomène. Elle a du moins le grand avantage d’en garantir la réalité materérielle, et, en jargon philosophique, l’objectivité.”128 Es sind vor allem die Fotos mit den sog. Transfigurationen, die zwar erkennen ließen, dass es sich um das Medium selbst handelte, mit deren genauer Beschreibung im Text die gemeinschaftsbildende Kraft in Abgrenzung zum Schwindel aufgerufen wurde. Bei Transfigurationen „übernimmt das Medium die Rolle des Geistes, indem es, mit den materialisierten Stoffen bekleidet, den Charakter der jeweils in Betracht kommenden Persönlichkeit schauspielerisch darzustellen sucht.“129 In einer Sitzung am 24. Juni 1911 machte der Fotograf Fontenay Blitzlichtaufnahmen (Abb. 11.3) einer dieser Transfigurationen, auf denen das Medium zu sehen ist, den Kopf in Tücher gehüllt und die Augen mit einer helmartigen glänzenden Binde umgeben, von Evas Gesicht ist nur die Nase, ein Teil der Wangen und des Mundes zu sehen. Zuvor war es ihm gelungen, eine auf der Scheitelgegend des Mediums sich strahlenförmig ausbreitende Materie aufzunehmen, aus der sich offensichtlich die Stoffe materialisierten. Denn auch ein zweites größeres Stoffpaket hielt das Medium mit ihrem Munde, das bis zu ihrem Schoß reichte. Die Hände des Mediums – auch auf der Fotografie sichtbar – werden von Madame Bisson gehalten. Und da zur Inszenierung dieser Verkleidung eine erhebliche Menge Stoff notwendig wäre, alle Vor- und Nachuntersuchungen aber negativ waren, blieb die Abb. 11.3: Transfigurative Performance der Eva C. Blitzlichtaufnahme von de Fontenay am 24. Juni 1911 128 Fontenay 1912, 13. 129 Schrenck-Notzing 1914a, 157.

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Täuschung für Schrenck-Notzing ausgeschlossen. Die Münchener Nervenärzte und Séancebeobachter Dr. Kafka und Dr. von Gulat-Wellenburg stellten die Ruminationshypothese auf, mit der sie behaupteten, dass die sichtbaren flächenartigen Figuren, Maskierungen und Substanzen betrügerisch eingeschmuggelt seien, und dass der Magen bzw. die Speiseröhre des medialen Organismus das Versteck für die vorgezeigten Bilder und Gegenstände sein müsse, die vorher und nachher verschluckt werden. In Bauchfellnetzen oder aufblasbaren Darmschlingen von Katzen oder Lämmern könnten die Substanzen im Kabinett geräuschlos ausgewürgt werden. Gullat-Wellenburg hatte sogar im Vergleich der Fotos von „Bien Boa“130 und von Evas transfiguriertem Geist nachgewiesen, dass beide Erscheinungen identisch sind in der Konstruktion der Kostümierung, in der Unkenntlichmachung des Gesichts durch den Turban und den in den Mund geklemmten Bart aus Stofffetzen, und dass es sich der deutlich erkennbaren Nase wegen in beiden Fällen nur um das Medium selbst handeln müsste.131 Die Identität beider Figuren konnte Schrenck-Notzing nicht abstreiten, nur versuchte er noch im selben Jahr des Erscheinens seiner und der Juliette Bissons Versuchsprotokolle in einer Verteidigungsschrift „Der Kampf um die Materialisationsphänome“ alle Betrugsvorwürfe gegen Eva C. zu widerlegen. So z.B. hätte die Untersuchung des Mageninhalts ergeben, dass keine Chiffongaze oder Goldschlägerhaut enthalten waren. „Auch die kühnsten, auf mechanische Inszenierung der Phänomene gerichteten Hypothesen haben sich bei erneuter Prüfung der Tatsachen unter Abänderung der speziell diese Möglichkeit berücksichtigenden Versuchsbedingungen immer wieder als nicht stichhaltig erwiesen.“132 Doch wurden gerade die Fotos verhängnisvoll für die Glaubwürdigkeit der vom Medium angeblich materialisierten Gebilde. Die Angriffe aus der Fachwelt und eine breite öffentliche Medienkampagne in europäischen Metropolen richteten sich gegen Betrug und Täuschung, denn in einigen auf den Fotos zu sehenden Materialisationen Eva C.s zeigten sich auffällige Ähnlichkeiten mit Titelbildern verschiedener Zeitschriften. Die in Paris lebenden Gebrüder Durville, Gründer einer Anstalt für animalischen Magnetismus, hatten in dem von ihnen am 1. Januar 1914 gegründeten Journal „Psychic Magazin“ eine Artikelserie gegen die Fotos in dem Buch der Madam Bisson133 publiziert. Eine Mitarbeiterin der Zeitschrift, Miss B. Barkley, bestritt die Materialisationen und wies die bildlichen Darstellungen von Kopffragmenten und Gesichtern aus Titelbildern der Pariser Zeitung „Le Miroir“ nach, denn die Inschrift „Miroir“ konnten auf den Fotos nachgewie130 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Bien Boa nannte die damalige Marthe Béraud (jetzt Eva C.) ihre Transfiguration bei der Experimenten mit Charles Richet in Algier, die als Betrug entlarvt wurden. Vgl. Schrenck-Notzing 1926. 131 Gulat-Wellenburg 1925, 321, vgl. auch den Kommentar von Gulat-Wellenburg in: Dr. v. Kemnitz. Moderne Mediumforschung 1914, S. 84/85. 132 Schrenck-Notzing 1914b, 1. 133 �������������������������������������������������������������������������������������������������� In der französischen und deutschen Ausgabe finden sich bis auf wenige Ausnahmen dieselben fotografischen Reproduktionen.

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Abb. 11.4: Heraustretendes Gebilde, das die Schauspielerin Monna Delza zeigt. Blitzlichtaufnahme von A. v. Schrenck-Notzing am 30. November 1912

Abb. 11.5: Männliches Porträt auf stofflichem Hintergrund. Blitzlichtaufnahme von A. v. SchreckNotzing am 6. März 1913

Abb. 11.6: Männliches Porträt in seitlicher Ansicht und vergrößert. Blitzlichtaufnahme von A. v. Schrenck-Notzing am 6. März 1913

Abb. 11.7: Männliches Porträt auf dem nackten Körper Eva C.s. Blitzlichtaufnahme von J. Bisson am 19. Januar 1913

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sen werden. Es waren Titelbilder von Schauspielerinnen aus der „Opéra Comique“ wie Monna Delza (Abb. 11.4), deren Porträt 1912 im Magazin „Femina“ abgebildet war oder von politischen Persönlichkeiten wie der Präsidenten Poincaré (Abb. 11.5, 11.6) oder Woodrow Wilson (Abb. 11.7), die vom Medium durch Retuschen geringförmig verändert wurden. Die Veröffentlichungen der Fotos aus den Versuchsreihen und die Miroir-Köpfe in Paris, Wien und München gerieten zum Medienskandal, dem Schrenck-Notzing nun wiederum in seiner Streitschrift ein ganzes Kapitel der Widerlegung widmete. Die Angriffe richteten sich vor allem gegen Madame Bisson, hinter der eine heimliche Komplizin vermutet wurde. SchrenckNotzing wies all die Vorwürfe zurück, betonte, dass Madame Bisson in ihrer Publikation bereits auf die Buchstaben im Foto und die Existenz zweier Zeitungen wie „Le Miroir“ und „Le Miroir des Modes“ hingewiesen hatte.134 Er zitierte detaillierte Protokollbeobachtungen und verwies immer wieder darauf, dass die Hände des Mediums stets von ihm oder Madame Bisson während der Séance gehalten wurden, und dass die fotografischen Vorlagen andere Maße hätten, als die der Phänomene, und diese aufgrund der Kontrollbedingungen niemals hätten eingeschmuggelt werden können. Auch zeigten die Porträtaufnahmen, die innerhalb von wenigen Minuten gemacht wurden, Unterschiede auf, die mit einer zu betrügerischen Zwecken hergestellten Bildschablone nicht möglich gewesen wären. Als Erklärung führt er nun die Theorie der Gedankenfotografie an, nach der ein Gedankenbild die Fähigkeit zur Exteriorisation gewinnt und ein objektives Bild zu erzeugen vermag, die sog. materielle Ideoplastik. Jedenfalls könnte man mit Hilfe dieser Gegenstände ähnliche Eindrücke vortäuschen: Andererseits besteht gerade der mysteriöse Charakter der psychodynamischen Phänomene darin, dass sie die verschiedensten Möglichkeiten und Kausalbeziehungen bieten, dass sie uns also auch solche visuellen Eindrücke zu erzeugen vermögen, welche die größte Ähnlichkeit mit Dingen aus der uns bekannten Welt besitzen. Die unbekannte, vielleicht psychisch bedingte Kraft bedient sich, sobald sie sich für unsere Sinne realisiert, einer uns bekannten Bildsprache, um überhaupt für uns verständlich zu sein.135

Während der Séancen revisualisiere das Medium die Bilder und bringe sie als Erinnerungsbilder136 in einem ideoplastischen Akt zum Entstehen. Das Medium, einer fotografischen Platte vergleichbar, wird so zur Verkörperung des fotografischen Prozesses, zu einem „unheimlichen Photomat“137, dem es gelingt, Bilder durch seine Körperöffnungen zu produzieren.

134 Bisson 1914, 280: „Les charaktères sont semblable à ceux de la photographie, mais ne sont pas disposés de même façon.” 135 Schrenck-Notzing 1914b, 77. 136 Schrenck-Notzing 1914a, 481. 137 Gunning 1995, 58.

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Und so ist die Präsenz der Materialisation in einem dynamischen Wechselspiel zwischen Kontrollkomitees, Medien und geschickter Täuschung138 zu sehen, vor allem aber in einer unendlichen Performanz von Bildern, die in ihrer Zirkulation immer wieder auf andere Bilder verweisen und letztendlich auf die Medialität des Mediums selbst. Die Fotos wurden berühmt, sie erschienen nicht nur in großer Anzahl in den Büchern Schrenck-Notzings und Bissons, sondern auch in verschiedenen Zeitschriften sowie im Ausstellungskatalog des Werkbundes 1929. Wie bereits in anderen Serien von Experimenten, die Schrenck-Notzing mit den Medien Lina M. oder Magdeleine Guipet139 unter Hypnose im Somnambulismus oder im kataleptischen Zustand aufgezeichnet hatte, überlagerten sich auf der Schwelle von Wissenschaft und Entertainment Techniken des Wahnsinns, die das Medium, die Audienz und letztendlich die Versuchsleiter selbst ergriffen. Die Resultate der Ideoplastik waren in engster Weise abhängig vom Seelenleben der Versuchsperson und ihren Gedächtnisbildern, die gerade bei Hysterischen140 zu abnormer Steigerung (Hypermnesie) führen kann, wobei die Schärfe des Erinnerungsvermögens mit der Schärfe der fotografischen Platte verglichen wurde.141 Es war vor allem die Kombination von Kryptomnesie, als Bewusstwerden eines Gedächtnisbildes, das nicht primär, sondern auf dem Wege der nachträglichen Wiedererkennung erst als solches erkannt wird, mit Hypermnesie und Ideoplastik, die bei dem Medium das kreative Vermögen hervorzubringen vermochte. „Reminiszenzen einmal aufgenommener Gesichtseindrücke, Fragmente aus Traumbildern verschmelzen unbewusst mit den ideoplastischen Schöpfungen zu einer einheitlichen Darstellung und können in irrtümlicher Deutung zu Verdacht Anlass geben.“142 Wissenschaftlicher Reinlichkeitssinn – so der einstige Mitstreiter in Sachen experimenteller Psychologie und Kritiker der Geheimwissenschaften, Max Dessoir – meidet die Berührung mit jenem Dunstkreis, in dem „Gaukler und Fälscher, halbtolle Frauenzimmer und

138 Im Anhang der Streitschrift „Der Kampf um die Materialisationsphänomene“ finden sich Berichte von Nachprüfungen unabhängiger Kommissionen, wie der von Prof. Boirac, Direktor der Akademie in Dijon, der in den „Annales des sciences psychique“ März 1914 publiziert wurde und der mit dem Satz endete, „Die bei Madmlle Eva C. beobachteten Phänomene existieren“, 147. SchrenckNotzing ließ auch in den Séancen produziertes Ektoplasma in einem „Öffentlichen Laboratorium zu medizinisch-diagnostischen und technischen Zwecken“ untersuchen, wie aus einer Korrespondenz eines Mitarbeiters dieses Laboratoriums Dr. A. Schwalm hervorgeht, die sich im Nachlaß Albert von Schrenck-Notzing am IGPP befindet, siehe Wolffram 2009, 138. 139 Schrenck-Notzing 1904. 140 Vgl. Ferenczi 1919. 141 Schrenck-Notzing 1914b, 115. 142 Schrenck-Notzing 1914a, 126.

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anspruchsvolle Wirrköpfe ihr Wesen treiben.“143 In diesen Dunstkreis war Schrenck-Notzing mit seinem beharrlichen Einsatz für die Echtheit der okkulten Erscheinungen geraten und mehr noch, sein ehemaliger Kollege Albert Moll attestierte ihm paranoiden Wahn als Erklärung für das Entstehen von „Wahngebilden.“ Vieles lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bei den Okkultisten eine Psyche annimmt, die ihre Besonderheit hat. In neuester Zeit spricht man häufig von Komplexen. Graf Klinckow­ stroem hat vom okkultistischen Komplex gesprochen, d.h. einer Gruppe zusammengehöriger, affektbetonter oder überwertiger Vorstellungselemente, wobei der Affekt sich in dem Wunsch zeigt, unter allen Umständen Okkultes zu beweisen. Wenn solche Komplexe bestehen, handelt es sich um einen Zustand, der gewisse Ähnlichkeiten mit paranoiden Wahngebilden zeigt. 144

Vergleichbar dem Paranoiker konnten Okkultisten wie Schrenck-Notzing weder durch Geständnisse noch durch Entlarvungen von ihren Irrtümern abgebracht werden. Aber es ging ja auch weniger um die Echtheit oder Unechtheit der Phänomene, sondern um weitestgehende Kontrolle mit exzessiver fotografischer Beobachtungsfähigkeit, mit denen das Wissen um die Materialisierungsphänomene in einer leiblichen Kopräsenz von Medium, Versuchsleiter und Audienz entstehen konnte. Mit der performativen Hervorbringung von Materialität wurde den wundersamen Erscheinungen in den Wissenschaften eine gewisse Normalisierung und Anerkennung zuteil. Die experimentellen Naturwissenschaften wiederum nahmen die Materialisierungen und Visualisierungen von Botschaften aus unfassbaren Räumen zum Anlass, über die Magie des Unbewussten oder des Doppelbewusstseins zu reflektieren.145 Als Varianten des Bildzaubers entstanden ‚Widergänger‘ und ‚Phantome‘ als künstliche Präsenzen zwischen psychischem und fotografischem Apparat. Sie sind zeit- und ortlose Begleiterscheinungen der technischen Medien und erhalten Gestalt erst in der Übertragung, wenn sie optisch, halluzinatorisch, nicht aber körperlich den Raum erfüllen. In dem WederNoch, der Unentscheidbarkeit sind die Phantome für Medienwissenschaftler wie Hubertus von Amelunxen autokommunizierende Systeme, Medienschaltungen. Das Geisterwesen bestünde in einem unfassbaren Oszillieren zwischen Erscheinung und Verschwinden, An- und Abwesenheit, Sichtbar- und Unsichtbarsein, Nähe und Ferne, der Welt gegenüber immanent und transzendent, folglich kommunikabel und inkommunikabel.146

Die Phantome korrespondierten mit dem mediumistischen Durchdringen der Materie durch 143 144 145 146

Dessoir 1931,VII. Moll 1929, 112/113. du Prel 1899, Staudenmaier 1922, Danzel 1924. von Amelunxen 1995, 214.

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die X-Strahlen, der drahtlosen Telegrafie und der Grammofonplatte. In den magnetischen Experimenten des Schwebens und Aufhebens von Gewichten, in Telepathie und der Kommunikation mit Verstorbenen wurden dazu äußerliche Analogien gesehen. So konnten die außergewöhnlichen Phantome von den Okkultisten als materialisierte Form immaterieller Ideen oder supranormale psychische Funktionen wahrgenommen werden, vergleichbar mit der Fotografie als das sich selbst materialisierende Bild einer momentanen Belichtung. In diesem Schwellenraum moderner Magie wurde somit Wahnsinn mit unterschiedlichen Vektoren produziert, der sich einmal an die okkulten Medien, an die Audienz und letztendlich an die Versuchsleiter heftete.

Conclusio Der Okkultismus war um 1900 ein umkämpftes und in sich zersplittertes Feld, auf dem wissenschaftliche Autoritäten verschiedenster Disziplinen um Anerkennung und Professionalisierung stritten. Zu den Befürwortern der Parapsychologie gehörten internationale Forscher wie der englische Physiker und Chemiker William Crookes und der deutsche Astrophysiker Friedrich Zöllner, die Ende des 19. Jahrhunderts über ihre Versuche mit den Medien Daniel Dunglas Home, Florence Cook und Slade aufsehenerregende Fallstudien veröffentlichten.147 Auch der russische Reflexologe Wladimir Michailowitsch Bechterew, der amerikanische Psychologe William James oder der österreichische Biologe Hans Driesch überschritten die Grenzen ihres Faches und erkundeten ebenso wie der deutsche Psychiater Baron Albert von Schrenck-Notzing das unbekannte Terrain der Materialisationen. Die Gegner, wie der Wundt-Schüler und nach Amerika emigrierte Psychologe Hugo Münsterberg oder der Begründer der Berliner Gesellschaft für experimentelle Psychologie Max Dessoir, analysierten die Phänomene der okkulten Medien hingegen als Betrug und Manipulation. Jenseits dieser Differenzen ging es allerdings nicht um Wahrheit oder Täuschung. Vielmehr wurde die Wahrnehmung von Täuschungen selbst verhandelt. Mit den großen Magie-Shows im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden neue Illusionstechniken, mit denen sich auch der Status von Täuschung veränderte. Die in den okkulten Wissenschaften produzierten einmaligen Ereignisse bildeten eine „Kette des Wahrsprechens eines Singulären“,148 das naturwissenschaftliche Evidenz beanspruchte, obwohl es sich anerkannten wissenschaftlichen Kriterien widersetzte. Die Abwehrrhetoriken gegenüber dem Unverständlichen als Täuschung und Betrug zogen somit immer wieder klare Grenzen, die der Markierung eigener Territorien dienten. „Macht diese Einsicht etwa das Rätselhafte verständlich? Im Gegenteil, sie macht viel147 Vgl. Schrenck-Notzing 1926, Dessoir 1931. 148 Adamowsy 2007, 113.

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mehr das Alltägliche rätselhaft. Die ganze Welt des Psychischen ist, vom Standpunkt unserer gewohnten Begriffe betrachtet, unverständlich.“149 So wie der Philosoph und Schriftsteller Hermann Graf Keyserling hier betont, unterschied die Wissenschaft strikt zwischen dem Verständlichen und dem Unverständlichen, um die tatsächlichen Übergangszonen zwischen der als real erkannten Sphäre und dem Okkultismus nicht betreten zu müssen. Deshalb muss anerkannt werden, dass die Forscher aus dem Kreis der Okkultisten der hintersinnlichen Wirklichkeit gegenüber insofern richtiger eingestellt sind als die aus dem Reich der Zunft, als sie wenigstens von der richtigen Voraussetzung ausgehen, dass jene besondere Begriffsmittel erfordert zu ihrer Bewältigung.150

Die Erfassung dieser hintersinnlichen Wirklichkeit vollzog sich in einem Schwellenraum säkularer Magie, dem die Faszination am Sehen und der Verblendung in doppelter Hinsicht eingeschrieben ist; als lustvolles Spiel mit Ver- und Entzauberung fanden moderne Magie151 und neue visuelle Medien auf wahrnehmungstheoretischer und psychischer Ebene zusammen und formierten Sphären einer modernen Spektakelkultur. Der unbestimmte Status der okkulten Medien erzeugte in den hypnotischen Experimenten eine immersive Dynamik, eine Grauzone zwischen science und séance, in der performative Evidenzstrategien einer anderen Experimentalwissenschaft aufscheinen. Mit der Psychotechnik der Hypnose wurden über die Hysterisierung nicht nur die okkulten Medien, die in Trance physikalisch unerklärliche Materialisationen hervorbrachten, zur unheimlichen Verkörperung des experimentellen Vorgangs. Das Zusammenwirken von technischen und okkulten Medien verwies auf Effekte technologischer Bilderzeugung. Denn die sexuell ekstatische, hysterische Frau wurde in dieser Kette zum Signifikanten für die Apparatur – die reproduzierende Apparatur – und sie repräsentierte zugleich auch das Produkt, das die Registratur hervorbrachte, das Bild. Die hysterischen Medien standen somit zugleich in funktionalem Zusammenhang mit dem Medium als Bild- und textproduzierender Maschine. Da die technologischen Verfahren selbst Auslöser für hysterische Inszenierungen waren, wurden die Hysterikerinnen als Darstellerinnen ihres eigenen Wahnsinns eine aktive Instanz, die den wissenschaftlichen und künstlerischen Prozess stimulierten und zugleich auf eine Hysterisierung der Form als Effekt der technologischen Bilderzeugung verwiesen,152 wie es die ektoplastischen Phänomene der okkulten Medien bezeugten, die als singuläre Ereignisse erst 149 150 151 152

Keyserling 1923, 24. Ebenda, 26. Vgl. Willmann 1891. Eiblmayr 2000, 17.

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in der fotografischen Bildgebung und als kollektive Performanz ver/rückte Formen wissenschaftlicher Evidenz erlangten. Wenn hier von einem Schwellenraum moderner Magie als Verhandlungsort des Wahnsinns gesprochen wird, so sind damit vor allem Ereignisse und Phänomene technisch produzierter Magie im Visier. Ähnlich der Magie der Zaubershows des 19. Jahrhunderts konnten mit Einsichten und Vergnügen gleichermaßen reflexive Illusionen vermittelt werden, die sich aus der Faszinationskraft neuer technischer Medien um 1900 und aus dem zunehmend visuellen und spektakulären Charakter okkulter Phänomene ergaben. Eine Perspektive auf moderne Magie als Schwellenraum verweist auf instabile Grenzen fragwürdig gewordener Hierarchien von Seele/Geist, Körper/Materie, Krankheit/Gesundheit, Individuum/Gemeinschaft oder zwischen Wissen und Wahn.153 Auch in den Experimenten mit okkulten Medien wurde das Publikum in die Rationalität der Phänomene eingeführt, was Skeptizismus erforderte und permanente Überprüfbarkeit. ZuschauerInnen in den Erkenntnisprozess einzubinden, bedeutete ein konsequentes Wahrnehmungstraining für die Unterschiede zwischen dem Realen und dem Imaginären, das sich gegen die Favorisierung von Wahrheit und Authentizität im massenkulturellen Kontext richtete. Jede Entlarvung eines Mediums führte beispielsweise dazu, dass die verwendeten fototechnischen Verfahren und die Tricks für weitere Aufführungen ungeeignet wurden, was strengere Überprüfungsmaßnahmen, technische Verbesserungen der Kameras, neue Kombinationen von Linsen und Glasplatten und immer neue Täuschungsmöglichkeiten zur Folge hatte. Doch die Verfahren, auch wenn von Kontrollkommissionen als betrügerisch entlarvt, konnten nun vom Publikum erkannt und selbst angewandt werden. Mit zunehmenden Forderungen nach Überprüfung der Phänomene in den okkulten Séancen erhöhte sich die wissenschaftliche Autorität der SitzungsteilnehmerInnen. Gleichzeitig zeichnete sich aber auch eine grundlegende Verschiebung in der Betrachtungsweise der Experimente an, bei der die ‚Echtheit‘ der Phänomene letztlich nebensächlich wurde.154 Mit der performativen Figuration okkulter Medien hatte sich um 1900 ein Publikum mit der Fähigkeit gebildet, simultan der Ver- und Entzauberungen zu verfallen und mit dieser Verführung reflexiv umzugehen, weil bisher unbekannte Bildwelten, wie Traum und unbewusste psychische Zustände, bereits zu kollektiven sinnlichen Erfahrungen geworden sind. Der Reiz an magisch geltenden Kulturtechniken zielte vor allem darauf, dass eine Welt mit scheinbar festgelegten, unüberwindbaren Grenzen zwischen Geist und Körper, Materiellem und Immateriellem sowie zwischen Wissen und Nichtwissen zugunsten eines Schwellenraums verlassen werden konnte, in dem konventionelle Gegensätze in Bewegung geraten und 153 Hahn 2002, Pazzini 2005. 154 Vgl. Haas 1923, 16, Bruhn 1926, 15.

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lustvolle Spannungen gerade durch technisch erzeugte Illusionen entstanden. Diese Übertragungen und Spiegelungen medialer Techniken und okkulter Phänomene brachten Unsichtbares, Wahnhaftes hervor und ermöglichten Seh- und Wahrnehmungserfahrungen in einer imaginär gewordenen massenkulturellen Realität, in der Illusionen eben auch als Illusionen wahrgenommen werden konnten.

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Kurzbiografien der Autoren

Thomas Beddies ist Privatdozent für Geschichte der Medizin an der Charité Berlin und leitet ein Forschungsprojekt zu den „Breiten des Normalen“ am Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Weimarer Republik. Beate Binder ist Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterforschung an der HU Berlin und arbeitet im Rahmen der Forschergruppe zum Verhältnis von Raum, Geschlecht und Sexualität. Gabriele Dietze ist Privatdozentin und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet in dem Projekt „Sexuelle Moderne. Die Figur der ver-rückten Frau in der urbanen Boheme“ in der Forschergruppe Kulturen des Wahnsinns an der Charité, Berlin. Dorothea Dornhof lehrt als Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ zu „Schauplätzen des Okkulten“. Sabine Fastert ist Privatdozentin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Künstlertum als paradigmatisches Schwellenphänomen“ an der Technischen Universität Berlin. Alexander Friedland ist Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Entwicklung psychiatrischer Diagnosen und die Begutachtung psychiatrischer Patienten. Petra Fuchs ist Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ an der Charité Berlin. Rainer Herrn ist Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin und beschäftigt im Forschungsprojekt „Kulturen des Wahnsinns“ mit „Psychopathologischen Grenzzuständen als kulturellem Schwellenraum“.

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kurzbiografien der Autorinnen

Volker Hess lehrt und forscht an der Charité Berlin zur Geschichte des Wahnsinns, medizinischen Praktiken und kulturellen Techniken. Er leitet die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“. Sophia Könemann promoviert im PhD-Netzwerk „Das Wissen der Literatur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Wissenschaftliche Hilfskraft der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“. Sophie Ledebur ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ an der Charité Berlin. Dort arbeitet sie zu „psychopathologischen Grenzzuständen als kulturelle Schwellenräume“. Benjamin Marcus ist Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ an der Charité Berlin. Wolfgang Rose ist Historiker und Mitarbeiter des Projektes „Die Breite des Normalen“ am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Armin Schäfer ist Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen an der FernUniversität in Hagen und hat in der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ das Projekt „Narrative des Wahnsinns im großstädtischen Raum, 1900–1930“ bearbeitet. Heinz-Peter Schmiedebach forscht seit 25 Jahren zur Geschichte der Psychiatrie und ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Hamburg. Er leitet das Forschungsprojekt „Irre“ in Hamburg – psychische Devianz auf See und in den Kolonien (1880–1920). Stefan Wulf ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Er bearbeitet im Rahmen der Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ das Hamburger Projekt zum Wahn auf See und in den Kolonien.